Baltische
Monatsschrift
Ißrintetou Inibjeraitg.
Baltische
Monatsschrift,
Herausgegeben
von
obert Weiss.
XXXIV. Band.
Reval, 1888.
In C o m m i s s i o n bei F. Klage.
: A. Stieda. L,|pzlB . Rud. Hartmann.
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Aojiwueiio unuypoiu. I'cim-ji., 2.'*-ro Mapra 1888 r.
Gedruckt bei MnJfon' Erben iu Koval.
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Inhalt.
Seite
Die Eigenthumsfrage der Neuzeit. I.II. Von Frof. Dr. Schmidt«
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Ein Jugendlebeii aus Alt-Kurlands Tagen. Von Peter Baron Drachen-
f«> 1 * ~~ 32
uie eisiv l niver.sirar in KnMinna. \ nn .1 n n. h f. k h r n 1
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Rückblick auf die Agrargesetzgebung für die baltischen Kroudoinancu.
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Beitruge zur Bevölkerungsstatistik Estlands. 1. II. \ ou J. Nieländer
223
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Die (tegenreforinatinn und die ngasche Domschnlo. Von Fr. Holl mann
279
Die Lepra und i.:re Gefahr für Riga. Von Dr. A. Bergmann . . .
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Kevals Garmsonstrciiieit im ( ontlict mit de* BCb wetf lachen Regierung.
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144
Richard Baron Wulff +
448
451
Kine Nachlese zur deutschen Mundart in Estland. Von Dr. K.Salliuaun
4M
Am Sarge Ferdinand Bergs. Von Dr. Gustav P << e 1 c h a u ....
472
Deutsche Sehrift- und rmgangssoraehe. Von Oberlehrer E. West er ma n n
480
Zur inneren Colonisation in l'reussen. Von Dr. Ludwig Fuld
492
öl i
Knustgeschichtlichea aus Narva. Von W. Naumann
524
Notizen. Von S.. C. F.. Fr. B. und Dr. A. B
Uo
Binshof Dr. Johannes Riidberkins und die, erste eritliindische Proviuzial-
637
Die sibirisch uralische Ausstellung in Jekaterinburg. Von Alex. Simonson
588
tMM
629
Polnische Wirthachaft in Livland I II. Von \V. (i r e i f f e n h a g e n 669
721
Taras Grigorje witsch Schewtachenko. Biogr kritische Skizze eines klein
russisc len Dichterlebens. I. IL Von Woldemar Fischer 684
740
Heiniatsbrief ans der Fremd«. Von r.
707
Notizen. Von J. Lenz und F r. B
714
Eine Universität auf tatarischem Boden Von Johannes Eckard t
757
Bericht über eiu alte« Tagebuch. Von x ....
778
Notizen Von Fr. B
78t;
An die Leser
71*5
500983
Seite
B v s ji r o e h «• n c B ii «• Ii «• r.
Alfred Fonillee, Lcs Hudes riceutes rar Ut proprüU. Revue des deux
motule*. Juin 1884 7
(iraf D. A. Tolstoi, Das akadem. Gymnasium und die akademische
Universität im XVIII. Jahrb. Aus dem Rtias. von P. v. Kttgelgea
St. Petersburg I886 81
A. K. Borosdin, Di«< akadem. Cnivcrsität im XVIII. Jahrh. Hit. Bt.CTii.
April 18MU 81
N. Carlberg, Sammlung statistischer Naelirichten über IJvland. Riga 1886 92
F. Nerling, Die Bibel als die Hcilsoncnbariing Gottes ist auch für den
Einzelnen Gnadenmittel und Quelle des Glaubens. Keval 1886 . . 170
Fried r. Biene mann, Conrad von Scharfenberg. Strasburg 1886 . . 2H9
J. T h. Helmsing, Leitfaden der Kirchengesehiehte. 3. Aull. Dresden 1887 272
Konat. Höh lbauin , Hansisches Urknndenbuch. Bd. III. Halle 1882 86 273
Carl Hunnius, Luther, der Schopfer der protestantischen Schule, als
Knabe und Schüler. Riga 1887 278
Jul. Hasselblatt, Hist. Ucberblick der Entwicklung der kais. russ.
Akademie der Künste. St, Petersburg 1886 380
Herin. Hildebrand, Livonica. vornehmlich aus «lein 13. Jahrhundert, im
Vaticanischen Archiv. Riga 1887 454
Russisches Novellen buch, P ebersetzt von C o u s t. J ü r
gen s. 1. Bd. Mitau 1886 . . . .' 456
B. II. Iie30GpaaOBV Hnpnjuioe xo:wficTBO Poccifi Cnö. 1882. 85 . . . 514
A. v. Bulmcrincq, C'onsularrecht. Hamburg 1887 540
Axel Harnack, Leibniz Bedeutung in der Geschichte der Mathematik.
Dresden 18S7 .541
W. Neumann, Grumlriss einer Geschichte der bildenden Künste und des
Kunstgewerbes in Liv , Est- und Kurland. Reval 1887 .... 542
G. Th. II o f f h e i n z , Eine Wanderung durch Königsberg vor 280 Jahren.
Königsberg 1887 545
B. Cordt, Philipp f'rnsius v. Kruseustiern. Ein rehabilitirter baltischer
Dichter. Dorpat 1887 545
Dr. O. Chomse, Ein Beitrag zur Casuistik der Lepra in den Ostsee
Provinzen Mitau 1887 546
BtcrmiKT. KnpoiiH, 22. roju. 1 H87> RH. 3. 4. 5 606
(!raf Leo X. T ol s t o i , Wovon die Leute leben. Das Märchen von Iwan
«lein Narren. Aus «lern Russ. von Eugenie Wieland. Bern 1887 . 629
W. O a r s c h i n , Pessimistische Erzählungen. P. Kruachewan,
Sie ging nicht zu Grunde. Aus dem Russ. von Wilh. Heuckel.
München 1887 62«
B«»l. Prus, Stas und Jas. Deutwh von Wilh. Heuckel. München 1887 629
Dan. Sanders. Zeitschrift für deutsche Sprache. Jahrg. 1. Hamburg 1887 633
Prof. Gustav Ki e s e r i t z k y , Die Entstehung des halt. Polytechni
kums und die ersten 25 Jahre seines Bestehens. Riga 1887 . . . 716
Dr. 0. Hey fei der, Transkaspien und seine Eisenbahn. Hannover 18*8 717
Tante Alice, Im Morgensoiincuschein. Dorpat 1887 720
Deu t sch e Pos t. Berlin 1887 . . 720
O. Hoffmann, Herders Briefwechsel mit Xicolai. Berlin 1887 . . . 786
Graf D. A. Tolstoi, Die Stadtschulen unter Kaiserin Katharina II.
Uebersetzt von P. v. Kügelgen 788
Zur Geschichte der Petris«hule in St. Petersburg 790
M. v. Brondsted, Die russische Kirche in Livlaud unter Xikolaus I. 791
31. C h a r u s i n . Die Baltische Constitution 793
M. K., Oesel einst und jetzt 794
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«
Die Eigenthumsfrage der Neuzeit.
Vom sociologi sch eri Gesichtspunkte.
ie Ueberschrift bezeichnet den stofflichen Gegenstand vor-
liegender Erörterungen, aber dieser Gegenstand ist nicht
Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck. Der eigentliche Zweck
dieser Erörterungen ist nicht sowol die Eigenthumsfrage als viel-
mehr die Beleuchtung sociologischer Principe, bezw. die mass-
gebende Bedeutung derselben in der weitschichtigen Materie, welche
unter der Bezeichnung c sociale Idee oder sociale Frage > wol schon
vielfältigst berufen worden ist, aber ungeachtet dessen noch durch-
aus den Charakter eines ungelösten Problems an sich trägt.
So verschwommen jedoch diese Materie noch zur Zeit er-
scheint, was Schwerpunkt und Umgrenzung derselben betrifft, so
ist es gleichwol nicht zweifelhaft, dass die Eigenthumsfrage in
Dingen socialen Wesens am Volks- nnd Staatskörper eine der
ersten Rollen spielt. In der Eigen thumsfrage ge-
winnen persönliche, gesellschaftliche und staat-
liche Interessen einen solidarischen Angel-
punkt. Ein solcher Angelpunkt ist nun wesent-
lich sociologischer Natur, wenigstens nach den wissen-
schaftlichen Axiomen, welche wir, für unsere Person und Be-
strebungen, zum Zwecke einer rationell zu entwickelnden Socio-
1 o g i e zur wissenschaftlichen Grundlegung derselben nehmen.
Darum soll uns die sociologische Beleuchtung der Eigenthumsfrage
dazu dienen, auf die hohe praktische Bedeutung der Sociologie ein
Streiflicht zu werfen.
Baltische Mi>natx*rt>rift. B4, XU IV. H.-ft 1. 1
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Die Eigenthumsfrage der Neuzeit.
Was wir Sociologie nennen, ist freilich eine erst im Ent-
stehen begriffene Wissenschaft der Zukunft und sie kann als solche
liier nicht einmal in nuce dargelegt werden. An dieser Stelle
haben wir nur einen Punkt, als vorläufige Hauptsache, im Auge.
Die sociologische Beleuchtung einer so vitalen Angelegenheit, wie
es die Eigenthumsfrage für die Neuzeit ist, soll massgebende An-
haltspunkte zur allgemeinen Beurtheilung dessen bieten, wie viel
für Staat und Gesellschaft von dieser Wissenschaft der Zukunft
schon gegenwärtig in allen Dingen der laufenden Zeitpolitik ab-
hängt, und wie wenig von einer socialen Reform staatlicherseits
im einzelnen die Rede sein kann, bevor nicht im grossen Ganzen
über das, was man sociale Grundnormen zu nennen berechtigt wäre,
eine rationelle Vorverständigung stattgefunden hat. Ohne Social-
normen bleiben alle Social reformen ein Tappen im Dunkeln —
«zuerst Nasen, dann Brillen », sagt der Volksmund.
Namentlich in Deutschland kann sich die politische Intelli-
genz der Landesvertretung und die staatsmännische Einsicht regie-
rungsseitiger Initiative in der Socialpolitik nicht mehr der Wahr-
nehmung verschliessen, dass die in Angriff genommene sociale Re-
form von Tag zu Tag für den Staat eine nutzlosere Sisyphusarbeit
wird, so lange der Volksunverstand die schiefe Ebene bleibt, welche
jeden socialen Baustein zurückrollen macht. Mit welchem Rechte
will man aber über den Volksunverstand den Stab brechen, wenn
man den radicalen Theorien der Volksverführung nicht rationelle
Principe des Volkswohles entgegen zu stellen sich bestrebt? Mit
welchem Rechte verurtheilt man das kritiklose Urtheil der Massen
und schliesst auf deren bösen Willen, wenn man ihnen die Mittel
einer vernünftigen Kritik nicht bietet und ihnen die Möglichkeit,
guten Willen zu zeigen, gar nicht zur Disposition stellt? Mit
welchem Vertrauen sollen denn die Massen sich der social reforma-
torischen Initiative des Staates hingeben, wenn sie sogar in den
gebildeten Kreisen und allen Pressorganen den erbittertsten Kampf
entgegengesetzter Meinungen und mit jeder neuen Parlamentssaison
selbst an den Regierungsvorlagen nur das widerspruchsvollste Spiel
wechselnder Standpunkte wahrnehmen müssen ?
Von Volksbeglückung ist den Massen nun schon ein rundes
Jahrhundert lang vorgesprochen worden, anfangs vom Liberalismus
mit rettender Protectormiene gegenüber dem reservirten Staat, jetzt
vom Staat mit herablassender Patronisirung der socialen Idee
gegenüber dem offenen Anarchismus. Die Massen sind mistrauisch
Die Eigenthumsfrage der Neuzeit. 8
geworden, und jedes einzelne Glied dieser ungeduldigen Millionen-
majorität zählt sich jetzt zum < attimal hipes, qui non vult cogi sed
persuadcri. » Die rechtspolitischen Errungenschaften der
vom niederen Parlamentsstaat cultivirten Freiheits- und Gleichheits-
idee haben die erträumte Volksbeglückung nicht gebracht. Um
dieser Errungenschaften willen begeistern sich die Massen nicht
mehr für den modernen Staat, welcher den greif- und fühlbaren
Forderungen des wirklichen Lebens, den Tagesausprüchen auf
Essen und Trinken, auf Kleidung und Wohnuug so wenig gerecht
geworden ist. Trotz der theoretischen Rechtsgleichheit hat die
gesellschaftliche Ungleichheit hinsichtlich aller praktischen Vor-
theile fürs Leben zu einem täglich unerträglicheren Gegensatz sich
aufgebauscht. Der durch Masseuverarmung entstandene und pro-
gressiv anschwellende Stand des Proletarierthums ist eine Er-
scheinung und Folgewirkung des modernen Staates und bekundet
dessen raubwirthschaftlichen Charakter socialer Natur mit den er-
schreckendsten Belegen von Krafterschöpfung im breiten Schosse
der Nation nach jeder Richtung hin, wie der sittlichen so der
materiellen und physischen.
Will nun der moderne Staat in diesem Stück nicht die Pflicht
einer gutzumachenden Verschuldung erkennen ; will er nicht wahr-
haben, dass es sich hier um weit mehr als um Palliativmittel vom
Standpunkt herablassender Gnade handelt ; will er nicht vorbehalt-
los seine naturgemässe und unaufschiebbare Aufgabe darin sehen,
das berufene Volkswohl auf der ganzen Linie des socialen Gebietes
mittelst Um- und Neugestaltung aller hier im Spiel befindlichen Ver-
hältnisse zu begründen ; will er nicht sociale Hebelkräfte
herstellen, welche selbstwirkend eben so r e -
generirend den Volks - und Staatsorganismus
beleben, wie die bisherigen Verhältnisse
mit degenerirendem Drucke sich geltend
machten: so sagen sich die Massen überhaupt vom Staats-
patronate los und werfen sich dem Socialismus in die Arme,
welcher - der Volksbeglückung eine doppelte Gewähr in Aussicht
stellt : die politische Stellung persönlichen Gleichseins alier und
die sociale Stellung besitzlichen Gleichhabens mit allen.
Wenn aber ungeachtet dieser Lockstimmen die grossen Massen
vorläufig noch nicht, einmüthig wie ein Mann, mit dem historischen
Staatspatronat gänzlich schon brechen wollen, so ist aus diesem
Umstände mit Recht zu schliessen, dass für die Majorität der
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Die Eigenthumsfrage der Neuzeit.
Wunsch zu einer Verständigung mit dem Staat noch obwaltet.
Haben die Stöckerschen Erfolge auf socialsittlichem und nationalem
Gebiete den schlagenden Thatbeweis für die vorhandene Möglichkeit
einer Verständigung mit den Massen erhärtet, so ist in noch höhe-
rem Grade für das concretere Gebiet der socialpolitischen Fragen
die Möglichkeit einer Volksverständigung erwiesen. Nur m u s 8
der Mittelsmann selbst glauben, was er sagt.
Wer jedoch daraufhin meinen wollte, so lange eine solche Dis-
position der Massen noch bestehe, läge für den Staat keine Gefahr
im Verzuge, begeht einen gewaltigen Fehlschluss. Wünschen und
Warten sind zwei durchaus verschiedene Dinge, schon bei Indi-
viduen, erst recht bei den Massen. Die Energie des Wünschens
steht meist im umgekehrten Verhältnis zur Ausdauer des Wartens
— die Geduld reisst bekanntlich plötzlich, und keine Löwin kann
für ihr Junges sich wüthender in den Kampf stürzen als die Masse
für eine fixe Idee, die ihr im Lichte eines Nothrechts erscheint.
Spielt aber efst die Masse in dieser Stimmung den Trumpf : fiat
justitia, pereat mundus gegen den Staat aus, dann verschlingt als-
bald der Anarchismus die moderne Oulturwelt auf Jahrhunderte.
Dann handelt es sich nicht mehr um gewöhnliche Revolutionen zum
Zwecke grösserer oder geringerer Staatsumwälzungen, sondern um
den Verwüstungskampf bis aufs Messer gegen den Staat selbst
und gegen jeden, der einen Staat will. Die grosse Masse der
kleinen Leute muss den Staat lieben lernen, hat schon der grosse
Kanzler gesagt : die Massen unserer jüngsten Zeit sind nicht mehr
die undisciplinirteu Rotten von früher. Zwar laufen die verschiede-
nen Interessen der einzelnen Massengruppen noch gar weit aus
einander, und die Skala des Radicalismus weist noch gewaltige
Abstufungen auf. Aber wer überhaupt ein Auge für dergleichen
Dinge besitzt, überdies die nothwendigen Schritte zu wiederholter
persönlicher Fühlungnahme nicht gescheut hat und schliesslich die
richtige Endsumme zu ziehen versteht, der wird nicht in Abrede
stellen, dass trotz aller ßuntscheckigkeit der Massen eine phalanx-
artige Kampfstellung, wenn nicht schon vorhanden, unter der fasci-
nirenden Einwirkung besonderer Umstände jeden Augenblick
gegen die bestehende Ordnung sich zuspitzen kann. Und ist in
diesem Sinne den Massen nicht mehr die Solidarität einer ge-
schlossenen Millionenmajorität abzusprechen, dann hat man es eben
schon mit einer elementaren Macht zu thun, weiche im Zustande
der Ruhe, ebenso wie der Firnschnee der Alpen, dem Auge des
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Die Eigenthumsfrage der Neuzeit.
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Nichtkenners nichts verräth, aber, einmal im lavinenhaften Absturz
begriffen, jeder Culturmacht spottet. Hier hilft kein gebieterisches
Halt im letzten Augenblick, sondern nur die vernünftige Vorsorge
rationeller Arbeit bei Zeiten.
Der hier vorzunehmenden Arbeit des Staates können wir,
für unsere Person, aber nur dann Namen und Werth einer tsocial-
politischen Reform» zuerkennen, wenn die principiellen Gesichts-
punkte derselben jene wissenschaftliche Ergründung und Begrün-
dung gefunden haben, welche einzig und allein nur die massgebende
Gruudlage zu praktischem Vorgehen und zu durchschlagenden Er-
folgen gewährleisten. Hierzu bedarf es der Entwickelung einer
neuen Wissenschaft, welche wir mit Herbert Spencer cSociologie»
nennen.
Will der moderne Staat die unveräusserlichen Grundlagen
seiner Ordnung nicht auf dem rationellen Beweis wege der Socio-
logie als vernünftig rechtfertigen, beziehungsweise reformiren, so
ist es um ihn geschehen, und der Socialismus wird - sich mit dem
Commnnismus in die Beute theilen, dem Anarchismus die Nachlese
überlasseud. Leugnen wollen, dass alles mensch liehe Ge-
meinschaftswesen und Leben auf letzte gemein-
giltige Grundgesetze sachlicher Not h wendig-
keiten, so wol materieller wie ethischer Art,
zü rück zuführen ist und im normirten Staats-
organismus seine nachweisbar beste Ausge-
staltung findet, heisst in unseren Tagen den Volksverführeru
die Noten zum Text setzen, heisst Ausnutzung des Machtgenusses
zur höchsten Kunst der Politik erheben, heisst den Massen die
Revolution als kürzesten Weg zu diesem Ziel empfehlen. Wer
die Rettung des Staates durch die Sociologie, bezw. durch die von
ihr normirte Socialreform nicht sieht und nicht sucht, der kann
in der That mit Johannes Scherr nur die <communistische Sint-
flut» kommen und den tStaatssocialismus» nur tals Linienbestimmer,
Bahnbauer, Brückenschlager und Tunnelbohrer für den anarchischen
Communismus arbeiten» sehen.
Der Staatspolitiker hat keine Wahl mehr; will er in der
socialen Frage nicht länger die klägliche Rolle eines bliuden Blinden-
führers spielen, der rathlos hin und her tappt, so muss er vor dem
Socialismus kehrt machen und Sociolog werden. Socialismus bleibt
Socialismus in jeder Gestalt und Form, wie Unrath eben Unrath
bleibt im Schweinestall und im Salon ; und wie der Salon nicht mehr
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Die Eigenthumsfrage der Neuzeit.
Salon bleibt, wenn Unrath darin geduldet wird, eben so wenig kann
der Staat noch Staat bleiben, wenn er sich mit dem Socialismus
einlässt. Nicht das quantitative Mehr oder Weniger, noch auch
die qualitative Verdichtung oder Verdünnung macht den Socialis-
mus zum Socialismus, sondern die ihm zu Grunde liegende Unver-
nunft der Monomanie. Der Socialismus mit seinem anarchischen
Hintergrunde ist nichts anderes als das miasmatische Product des
versumpften Gesellschaftsbodens moderner Zeit. Diesen Sumpf-
boden darf der Staat durch seine Enthaltsamkeit in Dingen des
Gemeinwesens nicht länger einer inneren Selbstzersetzung über-
lassen, welche unter der verschimmelten Schablone des Gehen-
lassens den Untergrund sittlicher und materieller Volkskraft durch
und durch faul gemacht hat. Diesen Sumpfboden muss der Staat
mittelst sociologischer Canalisation in gründliche Bearbeitung-
nehmen, um ihn zu entsäuern und dadurch das socialistische
Miasma mit der Gefahr anarchischer Pestilenz von selber schwinden
zu machen.
Nur ein sehr entschiedenes und entscheidendes Aber bleibt
bei der Sache. Kein Staatspolitiker wird rationeller Sociolog
werdeu, so lange er mit der intuitiven Staatsweisheit seitheriger
Diplomatenkunst in Dingen innerer Politik nicht voll-
ständig brechen will. cEs kann,> sagt Spencer1, c keine vollständige
Annahme der Sociologie als Wissenschaft geben, so lange der Glaube
an eine nicht dem Naturgesetz sich anschliessende gesellschaftliche
Ordnung noch seine Herrschaft behauptet.»
Keine Zeit ist so unwiderruflich für immer dahin als die Zeit
der politischen Hexenmeister». Die politische Intelligenz des sich
anbahnenden nationalen Staatsbürgerthums will rationelle Wahrheit
in reiner Sache und klarer Sprache und wirft die Unaussprechlich-
keiten der sogenanuten chöheren Politik» alter Schule zum Humbng
politischer Spiritisterei.
Bevor wir nun an die Beleuchtung unserer sociologischeu
Gesichtspunkte in der speciellen Beziehung zur Eigenthumsfrage
gehen, glauben wir in sachlichem Interesse zuerst eine Umschau
über die verschiedenen Urtheile der Neuzeit in der Eigenthums-
frage bieten zu müssen. Und diesem Zwecke meinen wir die beste
*
1 Einleitung in da« Studium der Sociologie, Tbl. 2, S. 246, deutsch von
Marquardnen.
• Vgl. unsere Schrift «Notwendigkeit einer soeialpolitiachen Propädeutik»
S. 191 u. 209.
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Die Eigenthumsfrage der Neuzeit. 7
Folge zu geben, wenn wir — theils in wörtlicher Uebersetzung, theils
in freier Wiedergabe des Gedankenganges — die Arbeit eines
beachteuswerthen Sachverständigen des Auslandes verwerthen.
I.
Urtheile hervorragender Zeitgenossen in der
Eigen thu ras frage1.
cDie Solidarität, welche alle Theile des socialen Körpers
verbindet, ist so stramm, dass man keinen Punkt berühren kann,
ohne die Mitleidenschaft aller zu bewirken. Die Revolutionäre,
welche den socialen Organismus von heute auf morgen umgestalten
wollen, gleichen nach dem Ausspruche Spencers denjenigen, die
den Fischen ihre Kiemenhäute nehmen möchten, unter dem Vor-
wande, dass die Lungen ein höheres Organ sind, oder die sie
ausserhalb des Wassers möchten leben lassen, weil das Leben auf
trockener Erde ein höheres als das im Wasser sei. Darwin lehrt,
dass lediglich durch langsame Zuchtwahl, die Lebewesen sich
änderten. Streng genommen, kann man kein Räderwerk eines
politischen Mechanismus ohne grosse Gefahr plötzlich umgestalten,
um wie viel weniger mit derselben Geschwindigkeit die Lebensorgane
einer Nation umbilden ! Namentlich ist die Bedeutung bezw. das
Wesen des Eigenthums so wenig oberflächlicher Art, dass dasselbe
sogar tiefere Lebenswurzeln hat als diese oder jene Regierungs-
form und selbst die Gesetzgebung. Das Eigenthum ist eine wesent-
liche Subsistenz- und Lebensfrage ; Schäffle, seinerzeit österreichi-
scher Minister, sagt: <es ist eine Magenfrage»*. Die Schwierig-
keit, das materielle Leben einer Nation umzuwandeln, ist eben so
1 *Les Hudes ricentcs sur ta propriete par Alfred Fouillie.»
Rev. d. d. m. Juin 1884: 1. PaulLeroy-Beauliou, Essai über die
Vertheilung der Reichthümer, 2. Aufl. — 2. E. de L a v e 1 e y e , Das Eigen-
thum und seine ursprünglichen Formen, 3. Aufl. Der zeitgenössische Sozialis-
mus. — 3. Stuart Mill, Fragmeute über Socialiumus. — 4. Herbert
Spencer, Sociologie t. III. — 5. Faul Janet, Anfänge des zeitgenössischen
Socialismus. — 6. Henry George, Fortechritt uud Armuth. — 7. Schäffle,
Quintessenz des Socialismus. — 8. Charles Grad, Die Arbeiterassociationeu in
Deutschland. — 9. Leon Say, Der Staatssocialismus.
1 «Schäffle ist der Verfasser eines gelehrten Werkes über Bau und Leben
des socialen Körpers; ein Auszug ist die Quintessenz des Socialismus. Wie
Lilienfeld und Spencer ist Schäffle einer der Philosophen, die zur Feststellung
der Wahrheit beigetragen haben, dass die Gesellschaft ein lebendiger, den Ge-
setzen der Biologie unterworfener Organismus ist.»
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8
Die Eigenthumsfrage der Neuzeit.
gross wie die Umgestaltung ihres moralischen Lebens, und die
Statistik lehrt, mit welcher Langsamkeit sich letzteres bessert.
Alle Machtsprüche des menschlichen Willens und alle jähen Re-
volutionen werden in einer Nation eben so wenig die Zahl der Ver-
brechen unmittelbar verändern wie die der Sterbefälle und Geburten ;
nur in einem längeren Zeitverlaufe verschieben sich die mittleren
Summen, und das geschieht nicht sowol in Folge von Gesetzen als
vielmehr durch fortschreitende Besserung der Sitten und der Einsicht.»
Dennoch dürfe man der Lösung des socialen Problems nicht
mit eioein fatalistischen Quietismus aus dem Wege gehen und dem
laissez tout faire, laisscs tont passer huldigen. Es gebe vielmehr
zwei vernünftige Wahlsprüche, von denen dereine: ändern, der
andere: erhalten heisse. Ebenso wie zu jähe Umwälzungen
gefährlich seien, eben so schade zu geringe Beweglichkeit gegenüber
neuen Zeiterfordernissen, welche Herstellung eines Gleichgewichtes
uöthig machten.
«Die Besitz- und Subsistenzmittel sind für den socialen Körper
das, was das Blut für den leiblichen Organismus ist : es kann an
der einen Stelle nicht Blutmangel, an der anderen Blutstauung
sein, ohne dass Fieber und Gefahr die Folge davon ist. Die
Massenverarmung ist durch eine Art von Stockung erzeugt, welcher
die unteren Klassen in materieller und geistiger Hinsicht unter-
liegen : das führt zum Siechthum eines Volkes und zur Gefahr
seiner Auflösung. Progressive Reformen sind darum nöthig, um
zu verhindern, dass die unteren Schichten am socialen Körper,
d. h. die Arbeiterklassen, welche dessen überwiegend grösseren
Theil bilden, nicht stets im Rückstände und daher immer im Nach-
theile bleiben . . . Man kann von der Humanität behaupten, was
Bacon hinsichtlich der Natur sagt: «Man muss ihr zu folgen ver-
stehen, um sie handhaben zu können,» und mit der Politik verhält
es sich wie mit der Wissenschaft: parendo imperat.»
Stuart Mill kämpfe ebensowol gegen revolutionären Soeialis-
mus wie- gegen absoluten Stabilismus, der iu Dingen des Eigen-
thums jede Reformbedürftigkeit bestleite. Jedenfalls wäre der
Socialismus nicht die letzte Aushilfe, wenn das Princip des zur
Zeit geltenden Systems, welches das des individuellen Eigentumes
ist, noch nicht endgiltig unanfechtbare Resultate geliefert habe.
AVenn die gegenwärtigen Grundsätze, sage Mill, in Wahrheit unter
den Gesichtspunkt des Individualismus im guten Sinne des Wortes
fielen, also Grundsätze wären, welche eine entsprechende Lohn-
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Die Eigenthums frage der Neuzeit.
9
vertheiluug aller Individuen für ihre Leistungen je nach ihrer
Fähigkeit zu bewerkstelligen vermöchten, sollte dann diese Art
von Individualismus so verächtlich sein? Spencer glaube für die
Zukunft an eine Art von Weltkirche, welche wie für religiöse so
für sociale Fragen eine Summe wissenschaftlicher Wahrheiten zur
allgemeinen Glaubensgrundlage haben werde. Auch in Frankreich
beginne man die Theorien wissenschaftlich zu prüfen, statt sich
gegen Menschen zu erbittern. Paul Leroy-Beaulieu und Gesinnungs-
genossen suchten lieber zu einen als zu trennen. Leroy-Beaulieu
versucht den Nachweis zu liefern, dass mit Hilfe nationalökonomi-
scher Grundsätze eine weniger grosse Ungleichheit der Verhältnisse
zu erzielen sei. Wie Sumner Maine so habe auch v. Laveleye die
veränderlichen und progressiven Elemente einer Idee zeigen wollen,
welche man nur zu oft als eine im Principe unwandelbare Sache
hingestellt habe. Die Wissenschaften verdankten ihren Erfolg
nicht absoluten Behauptungen, sondern relativen Wahrheiten, in
deren massvoller Beschränkung das Wesen der Gründlichkeit
(Vcxactitudc) liege.
Den Zweck vorliegender Studie setzt Fouillöe darin, eben«
sowol die rationelle Grundlage wie auch die Begrenzung des
Eigenthumsrechtes zu erforschen. Drei Fragen kämen in Betracht.
Erstens, kann man auf philosophischer Basis ein absolut indivi-
duelles Eigentumsrecht erweisen als Stütze für den exclusiven
Individualisinus; zweitens, ist ein absolut sociales Recht zulässig,
wie es der Socialismus fordert ; drittens, nach welchen allgemeinen
Gesichtspunkten lässt sich ebeusowol dem Individuum wie auch
der Gesellschaft ein verhältnismässiger Autheil zuweisen, zunächst
in der Theorie und sodann in der Praxis ? Um diese Fragen handele
es sich, wenn man als höchstes Princip aller socialen Reformen
den Gesichtspunkt der Gerechtigkeit hinstelle. Auf Principe
zurückzugehen, sei aber in dieser kritischen
Zeit mit ihren praktischen Schwierigkeiten
unerUsslich, wäre es auch nur zur Beseitigung der
Sophismen gewisser Theoretiker. Ueberdies sei die Herrschaft des
Eigenthums zu allen Zeiten der materielle Ausdruck der Gerechtig-
keit gewesen, wenugleich das positive Recht mehr oder weniger
auch der Ungerechtigkeit gedient habe'.
1 Le regime de la propriite, a toutes les cpoques de Vhistoirc, est Tex-
pression materielle de la justice plus ou moins inelec d'injustice qui regne ä
Vinterieur des conscicnces: c'est Je droit realise et devenu visible.
10 Die Eigenthumsfrage der Neuzeit.
A.
«Beschäftigen wir uns zuerst mit der individualistischen
Schule. Die Philosophen dieser Schule haben die Grundlage des
Eigenthums in dem menschlichen Willen und dessen Beziehung zu
den äusseren Objecten gesucht. Hierin haben sie Recht gehabt.
Aber im allgemeinen haben sie, mit Victor Cousin und Genossen,
dem Glauben gehuldigt, dass dieser Wille ein absolut freier Wille
ist, folglich völlig individuell und gleichsam über den Rest : impc-
rium in impcrio erhaben ist; dieser freie Wille dient ihnen sogar
zur Begründung ihres absoluten Rechtes von Eigenthum1. Durch
die Arbeit, sagen sie, setzt der freie Wille des Menschen in die
äussere Welt irgend ein Ding von absolut neuer Art, was als die
noch in Handlung sich befindende Freiheit selbst betrachtet werden
kann, die .Fortsetzung der Freiheit' ; dem Individuum kommt das
Eigenthumsrecht in Bezug auf die äusseren Objecte nach demselben
Vernunftgesetze zu wie das Besitzrecht auf die eigene Person. »
Die Theorie biete vielen metaphysischen Schwierigkeiten
Raum, obschon sie nicht ohue Wahrheit sei. Man müsse Victor
Cousin, ebenso wie Turgot, Smith, Say, Bastiat, Thiers, Paul Janet
einräumen : wenn ein neuer Werth so vollständig von einem Indi-
viduum geschaffen werden könnte, dass er ohne ihn gar nicht vor-
handen wäre, so gehörte er von rechtswegen dem Individuum.
Aber dieser Satz sei unabhängig von den metaphysischen Systemen
über den freien Willen. Die Erzeugnisse einer Thätigkeit, welche
nothwendigen Gesetzen unterworfen ist, stellten sich als eine « Fort-
setzung > ihrer selbst gerade ebenso dar wie bei einer freien Thä-
tigkeit. Mag der Wille frei sein oder nicht, die Arbeit und ihre
Kraftanstrengung lägen immer in der Handlung des Willens, welche
in dessen Werken Bewegung hervorbringt und aufspeichert. «Wenn
ich denke, so .verwandle4 ich nach der Lehre der Physiologen
gewissermassen Bewegung in einen Gedanken, sodann diesen in
eine Bewegung mittelst Gehirn und Muskeln. Wenn ich ein
äusseres Object bearbeite, so übertrage ich auf dasselbe die Be-
wegung, welche ich durch meine Anstrengung entwickele; ich
speichere darin die Kraft meiner Muskeln und meines Gehirns auf :
die Idee. Mit anderen Worten, das Erzeugnis der Arbeit ist die
Umsetzung oder, wenn man lieber will, der äussere Ersatzwerth
• G est wcme sur ce Hbrc arbitre qu'ih ont fondc hur droit absohl de
proprUU.
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Die Eigenthuinsfrage der Neuzeit.
11
meiner inneren Kraft, meiner Tliätigkeit und meines Gedankens.»
Mit Recht hätten daher deutsche Nationalökonomen jedes Erzeug-
nis ,krystallisirte Arbeit' genannt.
Demnach habe das Eigenthum zu seiner Grundlage nicht aus-
schliesslich den Nutzen, wie Leroy-Beaulieu anzunehmen scheint,
und auch nicht das Gesetz, wie Laveleye mit Laboulaye
voraussetzt. Es sei gewiss nützlich, dass die Nutzniessung des
Erzeugnisses dem Erzeuger zu statten komme, und dass das Ge-
setz diesen Nutzen sicherstelle. Aber e3 handle sich ausserdem
um die von Montesquieu geforderte Beziehungsseite : das Erzeugnis
ist bis zu einem gewissen Grade noch der Erzeuger selbst. In-
dessen liesse sich von diesem allgemeinen Principe kein exclusiver
Individualismus herleiten. Jules Simon mache es sich leicht mit
seinem Ausspruche : ,Ich nehme wildwachsendes Getreide in meiue
Hand, ich säe es . . . Ist die zu erwartende Ernte mein Gut? Wo
wäre sie ohne mich? Ich habe sie geschaffen. Wer will das ver-
neinen ?k Diese Schöpfung liesse sich doch noch bestreiten, so lange
der Mensch nicht Schöpfer der Natur- und Weltgesetze sei, welche
zu jedem materiellen Eigenthum den Stoff schaffen. Der Mensch
habe daher nur die Form, nicht den Grund seiner Erzeugnisse in
der Hand. «Die Philosophen der individualistischen Schule sollten
also nicht, wie sie oft thun, lediglich das Eigenthum der Form
vertreten, sondern ausserdem das des Grundes. Die Form ist
einObject der Erzeugung, der Grund ist ein
Object der Besitzergreifung; und in diesem
Beziehungsverhältnis zwischen Form und
Grund liegt hier wesentlich das grosse philo-
sophische Problem.»1
Nach Fouillee stellten sich nun zwei Rechte heraus : das eine,
von dem alle Philosophen und Juristen geredet und das sie das
Recht des ersten Besitznehme rs genannt haben ; und
das andere, welches fast von allen übersehen sei und das Recht des
Letztgekommenen oder des letzten Besitz nehmers zu
nennen wäre. Das Vorrecht, welches sich durch die erste Besitz-
nahme überträgt, habe einen rationellen Grund, aber zugleich auch
eine rationelle Begrenzung. Seine Begründung sei nichts anderes
als das Recht der Arbeit. Wenn ein Individuum oder eine
1 La forme est un objet de production; U fonä est un objet d' o ccu-
pation ; et (fest prcciscment le rapport de la forme au fond qui est »et k
grand problcme philosophique.
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12
Die Eigenthurasfrage der Neuzeit.
Familie ein Stück Landes oder Objecte, die noch niemand gehören,
sich aneignet, so wird durch die Kratläusserung des Willens die
Besitznahme selbst theil weise in Arbeit umgesetzt, deren erlangter
Erfolg demnach innerhalb gewisser Grenzen anerkannt werden
müsse. Diese Grenzen lägen in der Natur der Arbeit. An gewissen
Objecten sei die Form fast alles, und der Stoff, welcher der Erde
entnommen ist, habe einen nebensächlichen Werth, weil er in
grosser Masse vorhandeu sei, und die Schwierigkeit in seiner Ver-
wendung und nicht in seiner Erlangung liege. Der erste Wilde,
der sein Recht der Besitzergreifung an einem Stein ausübte, um
ihn zu spalten und daraus ein Werkzeug zu machen, habe gewiss
nur die neue Form geschaffen, welche er dem Steine gab ; aber in
anbetracht dessen, dass der Stein in Folge seines Ueberflusses
damals von keinem Wertlie an sich war und zur Verfügung der
neuen Besitzergreifer stand, ferner in Berücksichtigung dessen,
dass die Form nicht von dem Grunde zu trennen war, entsprach
es dem Begriffe der Rechtmässigkeit, dass das Eigenthum der Form
auch das des Grundes in sich schloss. Oder wollte in unseren
Tagen ein Coinmunist auf ein Thermometer, welches ich angefertigt
habe, einen Anspruch erheben, weil der das Glas bildende Saud
nicht mein Werk sei? Eine Menge von Objecten sei von dieser
Eigenthümlichkeit, dass sie nur mittelst der ihnen verliehenen Form
eineu dieulichen Zweck erhielten. Hier hätten die neuen Besitz-
nehmer nichts zu fordern. Aber eine Anzahl Nationalökonomen.
wie Bastiat«, Carey und Leroy-Beaulieu, haben voreilig von dieser
Art Eigeuthum auf alle Arten Schlüsse gezogen, ohne sich um die
Zuletztgekommenen zu bekümmern, welche heute die ganze Erde
eingenommen und von Schranken umgrenzt fiuden. Diese Auf-
fassungsweise verkenne nothwendige Unterscheidungen. Zunächst
stehe fest, dass jetzt der Stoff sogar an Objecten, wo er in un-
gleichem Verhältnisse zur Form steht, nichtsdestoweniger einen
Werth bei den civilisirten Nationen besitzt, weil es liier keinen
Erdenfleck mehr giebt, welcher nicht seinen Besitzer hätte ; selbst
Sand und Stein haben einen verhältnismässigen Werth, je nach dem
Werthe des Bodens, dem man sie entnimmt. Welcher Anstrengun-
gen* bedürfe es für den Menscheji der Gegenwart, sich den Unter-
' Vgl. les Harmomes i-conomiques de litistiat, welche Leroy-Beaulieu in
übertriebener Weise ein» der bedeutendsten philosophischen Werke des Jahr-
hunderts nennt, S. 90. Nach Laveleye soll dagegen Bastiat keine neue Idee ge-
funden, vielmehr viele vor ihm geklärte Ideen verdunkelt haben.
Die Eigenthumsfrage der Neuzeit.
13
halt seines Lebens zu schaffen ! Die Natur, was darüber auch
Bastiat, Jules Simon und Leroy-Beaulieu reden mögen, besorge
in diesem Falle den allerwesentlichsten Antheil der Arbeit, ein
Vortheil, der fast ausschliesslich den Landbesitzenden, zum Nach-
theile der Besitzlosen, zu gut komme. Der Erdboden sei eben
noch heute das grosse Schlachtfeld widerstreitender Ansprüche
zwischen den ersten Besitznehmern und den Nachgeborenen, welche
ihren Antheil an dem natürlichen Grunde forderten.
€ Daher bestreiten wir durchaus die Geltung jener Argumente,
mittelst welcher viele Nationalökonomeu sich bemühen, den Antheil
der Natur und des Bodens an dem Gewinn der menschlichen Arbeit
fast bis zur Verneinung herabzusetzen. Leroy-Beaulieu z. B. wird
nicht müde, ebenso wie Bastiat, uns zu sagen, dass die Erde
durchaus nicht ,einen natürlichen Werth unabhängig von der
menschlichen Arbeit1 habe. Zwischen Orenbutg und Orsk könne
man achtzig Acres Land für ü Francs kaufen ; in Yarkand koste
ein fetter Hammel 40 oder (50 Centimes <fcc. Freilich fügt Leroy-
Beaulieu hinzu, dass ,der steigende Werth jedes Landstückes nicht
im entsprechenden Verhältnisse zur Arbeit steht, welche demselben
zugewandt worden ist/sei es seitens der Eigenthümer, sei es seitens
der Gesellschaft'. . . Diese Sätze dürften schwer vereinbar sein.
Wenn das Land seinen ganzen Werth ,der menschlichen Arbeit1
entlehnt, warum steht dann dieser Werth in keinem Verhältnisse
zu dieser Arbeit? . . . Leroy-Beaulieu lehrt, dass die Colonisten,
welche jungfräuliche Landstriche in Cultur zu nehmen suchen, oft
durch das Fieber decimirt worden sind : es ist also doch ein Unter-
schied zwischen den Ländereien, je nach den mehr oder weniger
günstigen Bedingungen in Hinsicht auf Cultur, Hygieine, Lage &c.
Wollte man dem Lande seinen Eigenwerth nehmen, so wäre es
unerlässlich, dass dasselbe überall in übereinstimmender Beziehung
zur Gesundheitsfrage, der Lage, der menschlichen Arbeit, den
Absatzquellen stände, eine Voraussetzung, die unhaltbar ist.»
Selbst wenn man von diesen Widersprüchen absehen und
Leroy-Beaulieu einräumen wollte, dass Land an sich ohne mensch-
liche Arbeit an demselben keinen Werth habe, so wäre damit, wie
Fouillee ausführt, noch keineswegs der Satz der Nationalökonomen
von dem individuellen Charakter des Eigenthums zugestanden.
Denn es gebe zwei Arten menschlicher Arbeit, die
des Individuums und die der ganzen Gesellschaft. Zu Winnebayo,
wo die Eisenbahn des meridionalen Minnesota eine ihrer Stationen
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*
14 Die Eigenthumsfrage der Neuzeit.
besitzt, galt einige Jahre vorher das schon ausgenutzte Land nicht
mehr als 87 bis 125 Francs den Hectar und stieg 1879 bis auf
500 oder 575 Francs. Es sei sociale Arbeit, welche die Werth-
steigerung bewirkt. Aehnlich verhalte es sich mit dem Capitale,
welches in der modernen Gesellschaft ein Schlachtfeld neuer Art
ist und Macht besitzt, erstens in Folge der Hilfsmittel und des
Nutzens, welche es gewährt, und zweitens wegen des socialen Ein-
flusses, der damit verbunden ist. Für dasjenige Individuum, welches
sich im Besitze des (Kapitals befindet, spiegele es die Verschmelzung
von einem Theil natürlichen Fonds mit einem Theile socialen
m
Fonds ab.
«Sind die Nationalökonomen nicht unsere ersten Lehrmeister,
dass seit Organisation der Gesellschalt jeder Arbeiter tausend un-
bekannte Mitgenossen hat, theils todte, theils lebende? Der, welcher
den Pflug erfunden hat, ackert noch immer unsichtbar an der Seite
des Ackerbauers ; Gutenberg druckt noch immer alle Bücher, welche
die ganze Welt liest. Keine schöpferische Idee erstirbt im Schosse
der Gesellschaft. Was besitzen wir also im absoluten Sinne als
unser wirkliches Eigenthum im einzelnen und ganzen, vom abstracten
Gesichtspunkte der reinen Wissenschaft V Recht wenig. Betrachten
wir an erster Stelle unser materielles Dasein. Biologie und Socio-
logie lehren uns: unser Dasein besteht nur durch Gegenseitigkeit
unter einander, nur durch die Familie, diese kleine Gesellschaft,
welche sich selbst in die grosse umwaudelt, nachdem sie ihren
Antheil zu deren Bildung abgestattet hat. Die Gesellschaft
ist ein richtiger Organismus, dessen lebendige
Zellen wir sind. — An zweiter Stelle zeigt uns die Psycho-
logie, dass wir geistig, auch nur durch die Gesellschaft bestehen :
das Denken ist eine Sprache und die Sprache ist die Gesellschaft
selbst in ihrer Einwirkung auf uns, wodurch das Individuum ihr
Ebenbild wird, dem gegenseitigen Interesse entsprechend. Jedes
Wort einer Sprache, jeder Ausdruck einer Idee, ist das collective
Eigenthum der ganzen Race, von einer Generation der anderen
wie ein Goldstück überliefert, welchem Jahrhunderte nicht das
Gepräge nehmen konnten. Selbst die Werke eines individuellen
Geistes sind gleichzeitig die der Race; die Blüthe könnte sich
nicht erschliessen ohne den Saft des Baumes, dessen Wurzeln ihn
dienstbefliessen aus dem Erdboden schöpfen. ,Der grösste Geist,'
sagt Goethe, ,schafft nichts Gutes, wenn er nur im eigenen Lebens-
grunde wurzelt. Jede meiner Schriften ist mir eingegeben worden
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Die Eigeuthumsfrage der Neuzeit.
durch Tausende von Personen, durch Tausende von verschiedenen
Dingen: der Gebildete und Einfaltige, der Weise und Held, das
Kind und der Greis haben an ineinen Werken mitgearbeitet.
Meine Arbeit bewirkt nur. dass die vielfachen Elemente
sich zusammenschliessen , welche sämmtlich der Wirklichkeit
entnommen sind : das Gesammtergebnis davon trägt den Namen
Goethe/ Stets hat man auch Anstand genommen, wissenschaft-
liches, künstlerisches, literarisches und industrielles Eigenthum
als rein individuell zu betrachten : man huldigt der Autfassung,
dass dasselbe eine sociale Einlage in sich schliesst,
worauf die Gesellschaft nicht völlig verzichten kann. — An
dritter Stelle zeigt uns die Sittenlehre ihrerseits, dass wir auch
moralisch nur durch die Gesellschaft gedeihen: Gesetze und Sitten
bedingen den Bestand der Gesellschaft selbst. Fordert nicht jeder
Moralist, wenn er als solcher nicht ausschliesslich Individualist
ist, Entsagung vom Individuum, (Jneigennützigkeit, im Nothfalle
Opfer zum Besten der gesammten Gesellschaft, kurz gesagt, das,
was die neuesten englischen Moralisten die «sociale Pietät» nennen?
Verpflichtet der Moralist nicht das Individuum, in Rücksicht auf
das Ganze und nicht in lediger Rücksichtnahme auf sich selbst
zu handeln? Das Vergessen seiner selbst ist eine Art
moralischer Gemeinschaft. Zugleich verurtheilt die positive
Sittenlehre die herbe Rache der Individuen an der Gesellschaft,
das beständige Vergessen der geschichtlichen Solidarität, diesen
socialen Atomismus, welcher den Staat in ein Aggregat von Indi-
viduen ohne organisches Band auflösen will, mit einem Wort, die
Anarchie und den Nihilismus derjenigen, welche die Gesetze der
socialen Organisation verkennen. Die Socialisten berufen sich in
ihren Declamationen auf die Solidarität in ihrem Interesse und
sehen nicht, dass man die Solidarität gegen ihre revolutionären
Ideen wenden und ihnen sagen kann : die Gesellschaft fordert allem
zuvor, dass ihr deren Gesetze achtet und euch nicht herausnehmt,
die allgemeine Entwickelung im Namen eures Sonderinteresses zu
stören. Die Gesellschaft ist nicht ein Nebeneinander von so und
so viel abgesonderten Eigennutzeinheiten im Leeren, es verhält
sich damit nicht wie mit einein Archipel, der aus einer Menge von
Inseln mit je einem Robinson besteht, Selbst auf betreffender
Insel fühlte sich Robinsou in Freitags Gesellschaft sehr viel wohler
als allein, und deren zwanzig oder dreissig Nachfolger lebten noch
behaglicher als Robinson und Freitag. Gleicherweise zeigt es sich
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10
Die Eigenthumsfrage der Neuzeit.
von jedem Gesichtspunkte aus, dass die Idee der Solida-
rität1 ergänzend zum Begriff der indivi-
duellen Freiheit hinzutritt.»
Das Eigenthum sei also nicht absolut zu nennen, weil es
mehrere Bestandtheile in sich schliesse, welche der Theorie nach
mehrere Urheber beanspruchen könnten, wenn es ein Mittel gäbe,
jedem genau zuzumessen, was ihm gebührt. Zu unserem persön-
lichen Verdienst hinsichtlich der Form, die wir erfunden, komme
das Verdienst der Natur hinsichtlich der von uns in Besitz ge-
nommenen Materie. Die Natur schaffe das Keimen, Wachsen und
Fruchtbringen der Saat durch die Feuchtigkeit des Bodens und die
Wärme der Sonnenstrahlen &c, wenngleich dieser Beihilfe zur
menschlichen Arbeit sich nur ein Theil der Menschen unmittelbar
erfreue. Dieser Antheil der Natur gestalte sich also zu einem
Ansprüche dritter Art, welchen das ganze Menschen-
geschlecht geltend machen könne. So gewiss nach dieser Analyse
alles Eigenthum vom philosophischen Gesichtspunkte gewissermassen
zwei Pole hat, besitzt es auch eine individuelle und sociale Seite.
Aller absoluten Ansprüche habe man sich zu entschlagen, der
Dogmatismus der traditionellen Metaphysik ist ebenso verkehrt
wie die Schule der revolutionären. Dasselbe Princip, welches die
Begründung des Eigenthums in sich schliesse, zeige auch die uner-
lässliche Grenze, ebenso wie in der Geometrie die Bewegung einer
Kreislinie um ihren Diameter die betreffende Sphäre erzeugt und
zugleich begrenzt,
B.
Ist der absolute Individualismus unhaltbar, der im Eigenthum
neben dem individuellen Element nicht das sociale erkennt, so er-
wiesen sich die absoluten Theorien des Socialismus noch hinfälliger.
Sumner Maine, v. Laveleye, Spencer haben die historische Ent-
wicklung des Eigenthums vollständig dargelegt. Im ursprüng-
lichen Naturzustande ist das Verlangen, sich ein Ding anzueignen
und als seines zu betrachten, ein Instinct, welchen der Mensch mit
den Thieren theilt: ein Hund kämpft zur Verteidigung des ver-
grabenen Knochens oder der Kleider, deren Bewachung sein Herr
ihm übergeben hat. Im Kampfe ums Dasein bildet dieser Instinct
1 La socielc n'est jias une juxtaposition d'egoisntes scpares les uns des
autres par un vide; ce n'est pas commc un archipel composi d une multihidc
d'itcs ayant chacitne un Robinson . . . Ainsi, ä tous hs points de vue, Vidie de
solidarite vient compUter celfe de liberte individuelle.
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Die Eigenthumsfrage der Neuzeit.
17
eine Bedingung der Ueberlegenheit und des ,Ueberlebens\ wie
Darwin sagt. Es entsprach dem menschlichen Interesse , an
Stelle der gegenseitigen Befeindung und Ausrottung jedem den
Besitz desjenigen zu lassen, was er durch seine Arbeit zu erzeugen
oder zu erlangen vermag. Auch ist ein solcher Besitz bezüglich
beweglicher Dinge, z. B. was Jagdbeute betrifft, zu allen Zeiten
anerkannt worden. Es ist auch sehr wahrscheinlich, dass der Besitz
von Höhlen und Nachtlagern ursprünglich ein individueller oder
familienhafter war. Aber das Land wurde bald gemeinschaftlicher
Stammbesitz. Das von Jagd Völkern oder nomadisirenden Truppen
durchstreifte Gebiet ist stets als Gemeingut desjenigen Stammes
betrachtet worden, welcher im übrigen nur die Kraft der Ver-
teidigung besass Selbst nachdem sich die Herrschaft des Acker-
baues herausgebildet hatte, bewahrt das Gebiet, welches der Stamm
bewohnt, oft den Charakter eines ungeteilten Eigenthums: man
bebaut gemeinschaftlich das Ackerland, wie man gemeinschaftlich
die Weide und den Wald nutzt. Später wurde das Culturland
durch das Loos getheilt und nach der Stimme des Schicksals unter
die Familien vertheilt. Man tibergab den Individuen die zeitweilige
Nutzniessung, aber der Bodengrund verbleibt Gemeingut des Stammes
oder der Gemeinde, an welche er nach einer gewissen Frist zurück-
fällt, damit eine neue Theilung vorgenommen werden kann. Dies
ist bekanntlich das noch heute unter dem Nameu cMir» in Kraft
stehende System der russischen Gemeinden und das unter dem
Namen f Allmend» geltende Recht in den Waldcantonen der Schweiz
(vergl. ausser der Schrift von Laveleye das Werk von M. Mackenzie
Wallace über Russland. Ueber analoge Einrichtungen Indiens:
Sumner Maine, VÜlages Communities in (he East and West). ... Es
war Rom, welches durch die Entwickelung des absoluten Grund-
besitzes in seinem ganzen Umfange das quirile Dominium aufhören
machte. Und nach Mommsen war noch ,bei den Römern die Idee
des Eigenthums ursprünglich nicht mit unbeweglichem Eigenthum
verbunden, sondern nur mit dem Besitz von Sclaven und Vieh1.
Zwei wesentliche Ursachen haben das individuelle JMgenthum aus-
gebildet : zunächst die Militärherrschaft und sodann die Macht
der Industrie. Die Militärherrschaft schuf . . . den Unterschied
von Eroberern und Unterworfenen. Das Land wird, wie jeder
andere Raub, eine Beute, welche getheilt wird. Die Eroberung
beginnt . . . das Eigenthum zu ,individualisiren\ Aber dieses
Eigen thumsrecht wird vollständig individuell erst mit einer neuen
Baltische M>n»t«8rhrifl Bd XXXIV, Heft I. 2
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t
18 Die Eigen thumsfrage der Neuzeit.
Periode menschlicher Entwickelung : der industriellen Periode. Die
Arbeit schafft thatsäehlieh erst den wahren Massstab fttr Werth
und Eigenthuni ; indem der Austausch die Actionsfreiheit unter
den Individuen begründet, gestaltet er allmählich das Recht immer
individueller hinsichtlich aller tauschbaren Gegenstände, selbst hin-
sichtlich des Landes. Wenn demnach Mass und Geld zum Kauf
und Verkauf des Landes dienen, so tritt das Land bei diesem Vor-
gange unter den Gesichtspunkt des persönlich durch Arbeit er-
langten Besitzes und verschmilzt schliesslich allgemein mit letzte-
rem. Das ist das Stadium der EntWickelung, in welches die civili-
sirten Gesellschaften gelangt sind und welches eine Periode des
Individualismus darstellt. In allen muselmännischen Ländern wird
indessen das Land noch als dem Staate gehörig betrachtet, der es
erlangt hat. Es ist ein Axiom des englischen Rechts, dass alles
Land von England das Eigenthura der Krone ist, d. h. der Eroberer,
und dass die Besitzer w'en sont que les concessionaircs ä titre gra-
cieux. (Comment. of Blakstone, Hv. II. c. 5.)»
Wenn also von Historikern, wie Sumner Maine und v. Lave-
leye das Vorhandensein social istischer Institutionen als die roheste
Form von Organisationsanfängen nachgewiesen worden , so sei
doch die Frage, ob der Socialismus sich mit der Tendenz der
zukünftigen Gesellschaft verträgt, ein Problem, welches nicht aus
der Geschichte erschlossen werden könne. Zunächst käme die
Rechtshypothese in Betracht, welche die Vertreter des Gemein-
besitzes verfechten. Nach dieser Hypothese, welche bis auf die
Kirchenväter zurückgreift, würde das Land und alles, was es ent-
hält, dem Rechte nach der Gesellschaft gehören, bevor der Einzel-
besitz an das Individuum gelangen könnte. Es verbliebe demnach
der Gesellschaft die Oberhoheit, tdomaine eminent*, ein Eigenthums-
recht über das Land, dessen Früchte sich im untergeordneten
Besitzrechte des Individuums befänden. Solcher Art sei das Recht,
welches die englische Krone sich noch heute zuspräche, und das sei
der zur Theorie erhobene primitive Communismus.
Vom humanitären Standpunkte könne man nur sagen, dass das
Eigenthuni eine individuelle und collective Seite hat und dass das
sociale Problem darin bestehe, das Recht des Einzelnen durch das Recht
aller zu bestimmen. Da endlich der letzte Rechtsboden für alle diese Ge-
sichtspunkte im Staate zu suchen sei, so ergebe sich als positive Frage
die Bestimmung darüber, wie es sich vom Gesichtspunkte des Rechtes
und Nutzens mit den ökonomischen Prärogativen des Staates verhalte.
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Die Eigenthumsfrage der Neuzeit.
19
Der Staat besorge bekanntlich drei grosse ökonomische Func-
tionen: Gütererzeugung, Vertheilung und Verbranch. «Man kann
die socialistischen Systeme nach demjenigen Antheil klassificiren,
welchen dieselben dem Staat hinsichtlich jeder dieser Haupt-
operatiouen anzuweisen suchen.» Zunächst der absolute Socialismus,
welcher alle drei Operationen social isiren möchte : gemeinsam wäre
aller Reichthnm zu erzeugen, gemeinsam fände der Verbrauch statt,
und der Staat vollzöge die Vertheilung. Ein solcher Oommunis-
mus, sagt Proudhon, wäre der «Ekel der Arbeit, der Feind des
Lebens, die Vernichtung des Denkens, der Tod des Ich». Sodann
der gemässigte Socialismus (Schaffte) , welcher die Gütererzeugung
socialisiren möchte mittelst eines Gemeinschaftsbesitzes von Land
und Capital. «Aber zunächst will die Gerechtigkeit, dass alle
Vereinigung eine freie sei und dass der Einzel wille der sich Ver-
bindenden seine Unabhängigkeit behalte, statt dass derselbe gänz-
lich in einer despotischen Massenherrschaft untergeht.» Auch vom
Gesichtspunkte des Nutzens sei die Sache nicht stichhaltig. Im
kleineren Kreise genossenschaftlichen Zusammenwirkens für einen
bestimmten Zweck könne freilich mehr geleistet werden, als es
Einzelarbeit für Tageslohn vermag. «Aber wenn man nur an
einer Gemeinschaft von 40 Millionen mitwirken kann, wenn man
nichts weiter als eine Nummer in einer gewaltigen Totalsumme ist,
dann verliert sich die Wirkung in der Masse und das Individuum
im Staat. Die productiven Kräfte verzehnfachen sich dann nicht,
sondern werden decimirt ... das wäre das Ende alles industriellen
Fortschrittes, denn: ,wer hätte ein .Interesse,4 fragt mit Recht
Laveleye, ,das Verfahren der Fabrication zu verbessern, wenn der
Lohn getheilt wird ?' Den durch Interessenconcurrenz genährten
Wetteifer der Arbeit hätte der Socialismus durch irgend eine
utopistische Rivalität von Tugenden zu ersetzen.»
Ausserdem sei gegen Handhabung der Gütererzeugung durch
den Staat ein schwerwiegender Einwurf zu erheben. «Der Staat
kann nur da mit Vortheil eingreifen, wo es Functionen gilt, welche
erstens allgemein und beständig, zweitens bis zu einem gewissen
Grade mechanisch zu verrichten sind. Der Staat eignet sich übel
für alles, was fliessend, veränderlich ist, was praktische Intelligenz,
Tact und geistige Anschlussfühlung für die Umstände erfordert.
Ein administrativer Körper ist meist ohne Initiative, ohne Inter-
esse, ohne moralische Verantwortlichkeit ; er kann nicht wahrhaft
schöpferisch sein.»
2*
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20
Die Eigenthumsfrage der Neuzeit.
Endlich werde von den Socialisten und «Collectivisten» die
Existenz von anderen rivalisirenden Staaten und die Nothwendig-
keit industriellen Ringens mit denselben völlig übersehen. Gegen
die ausländische Concurrenz hätte der Socialismus eine chinesische
Mauer nöthig.
Was die dritte ökonomische Staatsoperation, die Güter-
vertheilung, beträfe, so handelt es sich um einen Punkt, der ein
gewisses Einschreiten des Staates sehr wohl zuliesse. c Sind Güter-
erzeugung und Verbrauch ihrem Wesen nach individueller Natur,
so tragen Wechsel und Umlauf der Werthe, desgleichen die Ver-
theilung der Arbeitsmittel thatsächlich schon in ihrer Bestimmung
den Charakter socialer Beziehungen, bei welchen stets das Inter-
esse von Dritten ins Spiel kommt : daher man hier besser
das Eingreifen einer regelnden Macht begreift.» Aber deshalb
habe man aus dem Staate noch nicht eine Art von Vorsehung zu
machen, welche die Erzeugnisse nach Würdigung der Arbeit ver-
theile und den Werth der Dinge bestimme. Wo sollen die Mass-
stäbe für die verschiedenen Abschätzungen herkommen, wenn von
Angebot und Nachfrage oder freiem Contract nicht mehr die Rede
sein soll ? Der heutige Socialismus schlage als absoluten Massstab
des Werthes zwar Zeiteinheiten der Arbeit vor, aber ein unge-
schickterer Massstab Hesse sich kaum denken als dieser, in welchem
Schäffle ,die wahre Gruudtheorie des Socialismus4 sehe. Zwar
hebe schon Schäffle hervor, dass diese Theorie einer Zurecht-
stellung bedürfe, sofern der Werth der Güter nicht nur von den
Herstellungskosten, sondern auch von dem Bedürfnisse abhänge.
Aber noch weit unzulässiger sei der Massstab der Zeit bei Ab-
schätzung der Arbeit in Dingen der Qualität, des moralischen
Werthes oder des Talentes. Ein Newton könne in einer Minute
eine grössere intellectuelle oder moralische Kraftwirkung entfalten
und damit für die Menschheit mehr leisten als ein Handlanger in
einem ganzen Tage.
Es sei also nöthig sich dem praktischeren Ideal der Gerechtig-
keitsordnung in Handel und Wandel (justice commutative) oder der
Vertragsgerechtigkeit zuzuwenden, wo die Autorität
des Staates im Dienste der gleichen Freiheit für alle steht, cühue
in die Anmassung zu fallen, jedem nach seinen Werken zumessen
zu wollen, stellt der Staat die allgemeine Billigkeit in Hinsicht
auf die Wahrnehmung und Rechtskraft der Contractu sicher. . . .
Er ist der Vermittler zwischen einem Bürger und dem anderen,
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Die Eigen thumsfrage der Neuzeit.
21
zwischen dem Einzelbürger und einer Gesellschaft, zwischen Gesell-
schaft und Gesellschaft, zwischen Privatpersonen und der Nation,
zwischen einzelnen Gesellschaften und der gesammten Gesellschaft,
zwischen den gegenwärtigen und künftigen Geschlechtern. Mit
einem Worte, er ist der Bürge für alle Rechte und der Bevoll-
mächtigte für alle wahren Gemeininteressen.»
Auch auf diese Grenzen zurückgeführt, bleibe die juridische
und ökonomische Rolle des Staates eine bedeutende. Die National-
ökonomen, u. a. Leroy-Beaulieu, befänden sich durchaus im Unrecht
mit der besonderen Annahme, dass der Staat weder die Pflicht
noch das Recht habe, Opfer zu bringen, um die menschlichen Ver-
hältnisse weniger ungleich zu machen. Die gesammte Gesellschaft
habe Pflichten der Theilnahme und Unterstützung in Bezug auf
die c letzten Besitznehmer» der Erde, und es handle sich hier nicht
sowol um Barmherzigkeit als um ausgleichende Gerechtigkeit.
Dieser habe der Staat als Repräsentant der Gerechtigkeit nachzu-
kommen, indem er die Erlangung von Eigenthum neuen Besitz-
nehmeru möglichst erleichtert. Denn «das Eigenthum be-
deutet in unserer modernen Gesellschaft die
persönliche Unabhängigkeit: es steckt in demselben
eine gewisse Gleichgewichts vermittelung von persönlicher Habe und
Macht, welche für die wirkliche Gleichheit der bürgerlichen und
politischen Rechte erforderlich ist1.» Es giebt, sage Guizot, kein
wahres Recht ohne das Vermögen sich desselben zu bedienen und
kein wahres Vermögen ohne Sicherstellung, deren beste die durch
Besitz gewährleistete Unabhängigkeit sei. Der Staat könne gewiss
nicht allen thatsächlichen Besitz gewährleisten, aber er müsse Um-
lauf und Vertheilung der ersten Arbeitsmittel unter allen begünsti-
gen, sei es materieller oder intellectueller Art. Bei aller Aner-
kennung des individuellen Charakters, welchen Gütererzeugung und
Verbrauch an sich tragen, habe daher der Staat unbedingt die
Pflicht und das Recht der Einwirkung auf den socialen Factor
(le phinomtme social) des Güterumlaufes. Diese Einwirkung habe
er zu bewerkstelligen, indem er Hemmnisse des Gesetzes beseitigt,
Aufschwung befördert und Regelmässigkeit mit nachhaltigen Mitteln
sichert. « Was die Nationalökonomen unter den Gesichtspunkt des
Möglichen und Zulässigen stellen, halten wir im Principe für
1 La propriiU reprisente, dans nos societen modernes, l'indcpcndance per-
sonelle ; il y a un certain equilibre des possessio™ et des pouvoirs personeis
necessaire ä legalite rielle des droits civiles oh politique*.
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22
Die Eigenthumsfrage der Neuzeit.
nothwendige und schuldige Wahrnehmung. > Aus diesem Grunde
hat der Staat für Communieationsmittel zu sorgen, eventuell in
allen Angelegenheiten, wie Strassen, Post, Münze &c, welche das
öffentliche Verkehrswesen betreffen, energisch zu interveniren ; des-
gleichen sich des Unterrichts anzunehmen, welcher sich dem neuen
Geschlecht (nouveau-venuesi als erstes sociales Capital, als erste
sociale Grundlage darbiete &c. »
Wenn sich auch die Sphäre des Staates nicht mit der Genauig-
keit eines Geometers begreuzen lasse, so hätten doch die National-
ökonomen Unrecht, wenn sie den Staat fast von allem fernhalten
wollen, während die Sotialisten dem Staat die Aufgabe zuweisen,
sich in alles zu mischen. Das System des Ausgleiches und der
Ergänzung, welches dem Staate obliege, könne, bei der Beweglich-
keit und Veränderlichkeit der Gesellschaft und ihrer Bedürfnisse,
nur allgemeine Gesichtspunkte festhalten. <Hüten wir uns also vor
den einfachen und absoluten Systemen, vor den Lösungen, welche
gewisse Politiker ,in einer Viertelstunde' fertig bringen wollen.»
In Nachfolgendem sollen praktische Reformen zur Beseitigung der
durch die Herrschaft des Eigenthums geursachten Misstände an-
gedeutet werden.
C.
Zunächst wären die Hauptursachen zur Anhäufuug von Reich-
thum zu untersuchen, wodurch, nach dem Urtheile des herrschenden
Zeitgeistes, die überwiegende Mehrheit der Menschen zum Vortheil
der Privilegirten hintangesetzt sei.
Die erste Ursache der Anhäufung — gegen welche Stuart
Mill bis zum Uebermass sich ereifert und auch Laveleye sich er-
hitzt — sei der Factor der Grundrente oder *la phis-value> . Nach
Ricardo erhöhe diese plus-vnlue unaufhörlich den Bodenwerth, wie
auf dem Lande so in der Stadt, ohne neue Arbeit des Eigenthümers.
Durch den Eiufluss der Rente fliesst dem Eigenthümer, abgesehen
von dem, was ihm rechtmässig für seine Arbeit oder für die Ver-
werthung seiner Capitalien zukommt, nach Ricardo und Stuart
Mill noch ein Extravortheil in Folge von zwei äusseren Ursachen
zu : erstens von dem immer zunehmenden Werth des Bodens und
zweitens von dem neuen Werthe, welchen die socialen Verhältnisse
den Erzeugnissen verschaffen, sei es durch Steigerung der Nach-
frage, sei es durch ein Anwachsen der Bevölkerung an einem
Punkt, sei es durch nene Absatzwege. Man hat berechnet, dass
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Die Eigenthumsfrage der Neuzeit.
23
jeder Auswanderer, welcher sich in den Vereinsstaaten ausschifft,
ungefähr um 400 Dollars den Werth des Landes erhöht : cjedes
Kind, das zur Welt kommt, bringt dieselbe Wirkung hervor wie
dort der Emigrant ; durch die blosse Thatsache seines Daseins fügt
es einen Mehrwerth von einigen Centimen zu jeder Landeshectare
seiues Vaterlandes hinzu1 >.
Noch auffälliger zeige sicli der Factor der Rente oder des
wachsenden Mehrwerthes an städtischem Grundeigenthum, wie
Leroy-ßeaulieu und Henri George vortrefflich nachgewiesen hätten.
In 30 Jahren hat sich im Seine-Departement der Wertli des unbe-
bauten Landes mehr als verzehnfacht. Im Centrum der Städte
ist es bis zum Preise von 1000 bis 3000 Francs den Meter ge-
kommen, d. h. zu einem Preise, welcher dreissig tausend mal den
Werth eines Ackerstückes übersteigt. <Was hat der Eigenthümer
gethan,» fragt Leroy-Beaulieu, cum sich die ganze Summe dieses
Socialwerthes anzueignen ? Denn ein Socialwerth liegt hier in der
That vor in der ganzen Geltung des Wortes, ein Werth, der auf
die Thätigkeit der Gemeinschaft und deren Wohlfahrt zurückzu-
führen ist. Was hat der Grundeigenthümer gethan, ausser dass
er abwartete und sich des ßebauens» enthielt ?> c Befragt einen
praktischen Geldmacher, > sagt Henri George. cSagt ihm : hier ist
eine kleine Stadt, die sich erweitert ; in zehn Jahren ist hier eine
1 Vgl. die ausgezeichnete Studie von Charles Gide über (irundeigenthum,
Auszug aus dem «Journal des ecotiomistes*. Lavergne schützt in seiner -Eco-
nomic rurale de VAnghterre» das Anwachsen des jährlichen Mehrwerthes von
England zn 1 auf 100; der Bodenwerth dürfte sich in der Periode von 00 Jahren
ungefähr verdoppeln. In Frankreich hält der langsame Zuwachs der Bevölkerung
das Anwachsen des Mehrwerthes zurück.
* Leroy-Beaulieu fügt mit Recht hinzu, daas dieses Abwarten und diese
Enthaltsamkeit, weit davon entfernt, unter den verdienstlichen Gesichtspunkt des
Sparens zu fallen, sich einzig und allein nur als Hemmnis der socialen Wohlfahrt
erweise. Jahrzehnte hindurch hat der Landspeculant, wohl oder übel von seiner
Berechnung oder seinem Institut geleitet, leere Landstücke sich angeeignet und
sie der Ausnutzung entzogen. Dadurch hat er arme Leute verhindert, sich dar
auf Hütten oder bescheidene Häuser zu erbauen. Er hat den Arbeiter, ih n
kleinen Bürger genüthigt, in noch grosserer Entfernung ein Unterkommen zu
find' n. Er hat sie der Wohlthat beraubt, einen (Jarteu zu besitzen. Er hat
Hindemisse für das Bewohnen der Stadt geschaffen occ. Hat er für dieses eigen-
tümliche Verfahren die ausserordentliche Vergütung verdient? Ganz ungeheure
Bereicherungen sind auf diesem Wege gemacht worden, im Schlaf, blos durch
die Erwerbung freien Landes in der Umgebung grosser Städte, durch die allei-
nige Macht der Trägheit . . .
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24
Die Eigenthumsfrage der Neuzeit.
Grossstadt; Eisenbahnen werden die Diligencen verdrängt haben
und Edisonsche Lampen werden sie erhellen. Ich möchte hier mein
Glück machen : glauben Sie, dass in zehn Jahren sich der Zinsfuss
gehoben haben wird?» — «Keineswegs,» wird der .Rathgeber ant-
worten. — «Glaubeu Sie, dass der Tageslohn der Arbeit gestiegen
sein wird ?» — «Weit davon entfernt : die Noth nach Arbeiterhänden
wird nicht grösser, sondern geringer sein.» — «Was soll ich dem-
nach thun, um mein Glück zu machen?» — «Kaufen Sie einfach
dieses Landstück und nehmen. Sie es in Besitz Sie können sich
sofort auf ihrem Landstücke betten und nach Belieben entweder
über demselben in einem Luftballon oder unter demselben in einem
Loche schlafen und, ohne einen Finger gerührt oder ein Jota zum
allgemeinen Reichthum beigetragen zu haben, werden Sie in zehn
Jahren reich geworden sein. In der neuen Grossstadt wird sich
für Sie ein Palais befinden, aber es unterliegt keinem Zweifel,
dass daneben auch ein Asyl voll Bettler vorhanden sein wird.»
Die Folge der ßodenspeculation sei namentlich die steigende Theue-
rung des Miethzinses, welcher für die Arbeiter zu einer stetig
schweren Bürde werde. Man habe zur Beseitigung der Noth dem
Staate das Hecht der Expropriation im öffentlichen Interesse zuge-
sprochen. Aber Leroy-Beaulieu rathe zu einem Abwege, wenn er
vorschlage, dass Staat und Städte in Besitz genommenes Land
wieder parcellenweise verkaufen sollen Dieser Weg führt« zum
alten Uebelstande. Empfehlenswerther sei Verpachtung auf (K),
100 und 120 Jahre. Der Staat und die Gemeinde genössen dann
den Vortheil des Ueberwerthes, welchen sie in gemeinnütziger
Weise hauptsächlich zum Vortheil der Bedürftigen verwenden
könnten, wie Laveleye vorschlage.
Unter anderen von Staat und Gemeinde zu ergreifenden Mass-
nahmen habe Leroy-Beaulieu auch vorgeschlagen, dass Land im
Werthe von 1000 Francs der Meter die Steuer für eine Einnahme
von 30 oder 40 Francs entrichten müsse ; sodann sei die Ent-
wicklung aller Communicationswege zu befördern ; Steuern auf
Transport, Viehfutter, Materialien wären aufzuheben ; die Eisen-
bahnen bis in den Mittelpunkt der Stadt zu verlängern, damit
sich Arbeitercolonien nach dem Vorbilde von Mühlhausen bilden
könnten &c. Diese Reformen griffen in die Kategorie der Umlauf-
mittel hinein, wo. wie schon nachgewiesen, das Eingreifen des
Staates angezeigt erscheiue.
Die Frage nach den Rechten und Pflichten des Staates in
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Die Eigenthumsfrage der Neuzeit.
25
Bezog auf die ländliche Grundrente sei weit verwickelter als hin-
sichtlich der städtischen Rente. Nach dem Vorgange von Carey
verirrten sich viele Nationalökonomen so weit, den Factor einer
Ackerbaurente gänzlich in Abrede zu stellen. Hier seien Mis-
verständnisse zu beseitigen. Die Hauptfrage liege nicht in der
Fruchtbarkeit oder Unfruchtbarkeit des Bodens. «In jedem Falle
macht sich geltend : l) ein Unterschied der Bodenbeschaffenheit ;
2) ein Unterschied der Lage und der Marktbeziehungen ; 3) eine
steigende Nachfrage nach Land in jedem prosperirenden Gebiete.
Der Preis aller unentbehrlichen Existenzmittel des Menschen-
geschlechts befindet sich im Zuge des Steigens mit der Mehrung
des allgemeinen Reichthums und der Bevölkerung, während der
Preis der Manufacturerzeugnisse im Zuge des Sinkens liegt in
Folge der Coucurrenz, welche die Arbeiter sich unter einander
durch ihre anwachsende Zahl machen.» Daher die steigende Rente,
aus welcher Stuart Mill ein Steuerobject zum Nutzen der Arbeiter
machen wolle, ähnlich wie Henri George.
Gegen Stuart Mill und Henri George sei vortrefflich einge-
wandt worden: «Wenn ihr es zulassen wollt, dass die Gesellschaft
das Recht der Aneignung von allem Ueberwerthe hat lediglich
darum, weit derselbe nicht vom Eigenthümer hervorgebracht ist,
so müsst ihr mit gutem Rechte bestimmen, dass die Gesellschaft
auch zur Entschädigung an den Eigenthümer verpflichtet wird für
jeden Unterwerth, der nicht durch seine Schuld, sondern durch die
socialen Beziehungen ihm erwächst ; die Gesellschaft soll ohne
weiteres alles Geld reclamiren, welches vom Glück dem Eigen-
thümer bescheert wird, und wenn umgekehrt ihn Verlust trifft,
soll es heissen: um so schlimmer für ihn 1> Wie sollte wol die
laufende Rechnung über Soll und Haben zwischen Eigenthümer und
Gesellschaft geführt, und wie sollte die Grenzlinie festgestellt
werden, wo die individuelle Arbeit aufhört, die sociale anfängt,
wo die Genialität des erwerbenden Eigenthümers, wo das Glück
die Hand im Spiel habe.
In England, wo der Landbesitz gewissermassen ein in die
Länge gezogener Raub der normannischen Eroberung sei, habe die
Theorie Mills eine gewisse Haltbarkeit, sofern dort mit diesem
Besitz überdies die hervorragendsten Rechte verbunden seien.
Anders verhalte es sich in Ländern, wo dieser Gesichtspunkt
nicht zutreffe, wie in Frankreich. Die Vortheile des Landbesitzes
würden hier schon durch die Goncurrenz neuer und fruchtbarer
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X
20 Die Eigenthumsfrage der Neuzeit.
Länder Amerikas, Asiens, Australiens wesentlich reducirt &c.
Ausserdem sei gegen Mill uoch zu bemerken : wollte man, mit
ihm, Landbesitz belasten, so würde man einerseits wol der Er-
weiterung des Besitzes vorbeugen, aber andererseits den Besitz-
losen nicht den Erwerb erleichtern.
Ausser der unhandlichen Besteuerung der Grundrente zum
Zweck der Abführung allen Ueberwerthes an den Staat hat man
auch den Rückkauf des Bodens durch den Staat vorgeschlagen in
theil weiser Analogie mit dem Rückkauf der Eisenbahnen. Allein die
staatliche Ausbeute des Eisenbahnbetriebes Hesse sich durchaus
nicht mit den Schwierigkeiten landwirtschaftlicher Ausbeute ver-
gleichen.
Einige Gesichtspunkte Stuart Mills und Laveleyes seien
jedoch beachtenswerth. Was Staat und Gemeinden schon gehört,
wie die Forste, Communalgüter oder Domänen, öffentliche Einrich-
tungen, Strassen &c, hätte eiuer solchen Behandlung zu unter-
liegen, dass für Staat und Gemeinden sich dieselben Vortheile
steigender Rente ergäben, wie für den städtischen Grundbesitzer,
damit dann der Ueberwerth vom Staat zur Minderung der Abgaben
verwandt werden könnte.
t Der Factor der Rente macht sich übrigens nicht ausschliess-
lich am Grundeigenthum, ländlichen und städtischen, geltend. Es
giebt noch andere Werthe, welche gleichfalls nicht sowol durch
die persönliche Arbeit ihrer Inhaber steigen als vielmehr durch
den Einfluss socialer Beziehungen, durch neue Mittel, neue Er-
fordernisse der Industrie, sogar durch einfache Moden und die
Willkür der allgemeinen Stimme. Es ist nicht blos die Grund-
rente, welche in der Theorie einen der Gesellschaft zuzuweisenden
Antheil einschliesst ; es ist jede Reineinnahme, welche über die-
selbe hinaus bezw. mehr als die Entschädigung für Capital und
Arbeit einträgt . . . WTelche Utopie, wollte mau in menschlichen
Unternehmungen den Antheil des Wagnisses, des Glückes und Zu-
falles nicht gelten lassen 1 Selbst die Arbeiter profitiren oft von
den Umständen . . . Sind die Gärtner, welche in ihren Gärten
Regen gehabt und gute Ernten gemacht haben, zu einer Repara-
tion an diejenigen verpflichtet, welche durch Dürre Schaden er-
litten haben ? Freilich handelt es sich in diesen Stücken nur um
vorübergehende Facto ren, während die bewegliche oder unbeweg-
liche Rente den dauernden Charakter von Privilegien an sich trägt.
Aber andererseits neigt die bewegliche Rente von selbst zur Ver-
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I
Die Eigenthumsfrage der Neuzeit. 27
minderung : der Zinsfnss sinkt auf natürlichem Wege, wie Leroy-
Beaulieu gezeigt hat. Gründung von Credkanstalten . . . bessere
Schätzung und entsprechendere Vertheilung der Steuern . . . wären
die geeignetsten Mittel, um bis zu einem gewissen Masse den
socialen Antheil des Einkommens an die ganze Gesellschaft zurück-
Üiessen zu machen.»
Die Erbschaft wäre in gewisser Hinsicht als dritte Ursache
der Anhäufung von Reichthum namhaft zu machen. Ungeachtet
der socialistischen Bekämpfung sei die Rechtmässigkeit des Elbens
unanfechtbar sowol vom Gesichtspunkt des Rechts als auch des
socialen Interesses s des Rechts, sofern Nutzung des Eigenthums
Sparen und Gebeu in sich schliesst ; des socialen Interesses, soferu
Capitalisiren des Individuums die natürlichsten Bedingungen des
socialen Fortschrittes mehrt. Aber andererseits habe hier der
Staat unbedingt das Recht des Eingreifens und Einschränkens.
Der Testator nehme nicht nur die Gegenwart, sondern auch eine
unbegrenzte Zukunft in Anspruch mit allen Vortheilen derselben
in Bezug auf den steigenden Mehrwerth der Erbschaft. Dadurch
übe der Testator einen Terrorismus auf die Lage der Drit-
ten, la Situation des tiers, in der zukünftigen Gesellschaft aus.
Dans tout contrat dont Veflct lointain doit se developper au sein de
la societe. future il y a evidemment un tiers inte r esse , quoique
absent encore, ä savoir la societe future elle-meme, qui a son repre-
sentant aciuel dans la societe presente. Diese Mitwirkung der zu-
künftigen Gesellschaft, deren Repräsentanten die gegenwärtige auf-
weise, mache das Testament zu einem dreiseitigen Contract, der
eine uneingeschränkte Freiheit einseitiger Verfügung paradox er-
scheinen lasse. Das Princip rechtlichen Vorbehaltes zum Nutzen
der Kinder, der Eltern und des tiberlebenden Gatten sei gerecht.
Der Staat habe um seinetwillen ein Interesse, hierdurch die Er-
haltung dessen zu begünstigen, was Le-Play den Familienstamm
mit seinem Familiengut nenne. Aber der Staat erweise sich viel-
leicht zu freigebig, wenn er das natürliche Erbrecht, falls kein
Testament vorhanden ist, bis zu den entferntesten Verwandten aus-
dehnt, wo schliesslich das Familienband einen geringeren Grad von
Zugehörigkeit aufweise als das grosse Gesellschaftsband. Weil
sich an der Erbschaft eine noch socialere Seite als am Eigenthum
kund thue, sei fast allgemein auch schon eine Besteuerung der
Erbnehmer eingeführt ; der gegenwärtige Modus sei nur zu un-
günstig für kleine Erbschaften, welche er aufzehre.
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28
Die Eigenthumsfrage der Neuzeit.
c Ausser der Grundrente, der beweglichen Rente und der
übermässigen Anhäufung von Erbschaften giebt es noch eine vierte
Ursache, welche das Eigenthum in denselben Händen immobilisiren
kann, nämlich die Stiftungen unveräusserlichen Besitzes, associa-
tions ä patrimoine itialienable, ein nicht geringerer Widerspruch
gegenüber dem öffentlichen Recht als die .Substitutionen4 des alten
Regimes.» Die Ueberwachung des Staates müsse sich unbedingt
auf die Genossenschaften industriellen Capitals erstrecken, damit
diese nicht die Wirkungen des Monopols hervorbringen, was leicht
geschehen könne, da ein solcher Capitalverband stark genug sei,
um der Concurrenz Trotz zu bieten.
Ungeachtet der Uebel, welche heutigen Tages aus dem Kampfe
zwischen Capital und Arbeit hervorgingen, sei dieser Kampf doch
nur provisorisch. Die beiden Feldlager, welche sich scheinbar unver-
söhnlich gegenüber ständen, schliessen nichtsdestoweniger Menschen
in sich, welche ohne einander nichts vermögen. Das schliessliche
Paiticipireu der Arbeiter an dem Capitale je nach Massgabe ihrer
Arbeit sei nur eine Frage der Zeit. <Die Verallgemeine-
rung des Eigenthums ist der Folgesatz des all-
gemeinen Stimmrechtes, denn das Sein, welches
genug besitzt, um sich zu erhalten, besitzt
allein sich selbst und ist im Durchschnitt
allein wahrhaft Herr seiner Stimme1. . . . Wir
für unsere Person glauben, dass die Zukunft dem raschen Umlaufe
allen Capitales entgegengeht, desgleichen der Leichtigkeit jedweden
Umtausches, wie es mit Eisenbahnen und Telegraphen der Fall
ist. Ein Privilegium, welches ungebunden und in beständigem Um-
laufe sich befindet, ist in Wahrheit kein Privilegium mehr, und das
Capital wird damit enden, dass es seine Beweglichkeit dem Boden
selbst übertragen wird, welcher auf diesem Wege den Charakter
des Monopols verlieren muss.»
Zu den Dingen, welche der Staat von sich aus zur Unter-
stützung der Arbeiter unternehmen könnte, wäre auch das zu be-
schaffende System einer allgemeinen Versicherung zu zählen. fDas,
worin die Macht des Capitals in der modernen Gesellschaft steckt,
1 La proprieti univcrsalisie est le coroUaire du suffrage universel, rar l'etre
qni po8sr.de assrz pour sc suffire se possi'de s<ul lui-mcme et, en moyenne, est
seid vraiment maitre de son tote . . . Pour nous, nous croyons que l'avenir
est ä la circulation rapide de tous les capitcaux ... Un privilege mobilisi et
cireulant »ans cesse nest plus vraiment un privilege.
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Die Eigenthumsfrage der Neuzeit.
29
ist die Einheit und ßerechnungsmögliclikeit desselben; für den
Chemiker besitzt isolirte Salpetersäure und isolirte Baumwolle keine
Macht, aber ihre Verbindung sprengt Felsenwände und ebnet Ge-
birge. Gegenüber dem verbündeten Capital müssen die Arbeiter
ihre Zukunft und ihre Ersparnisse versichern, um deren Bedeutung
durch das Walten der Versicherung hundertfach zu erhöhen. >
Brentano habe nachgewiesen, dass der Arbeiter zu seiner
Sicherstellung vier Versicherungen schliessen müsste: 1) eine Ver-
sicherung, deren Zweck eine Rente zur Ernährung und Erziehung
der Kinder für den vorzeitigen Todesfall des Arbeiters wäre —
wie L(V*h Say sagt, die Sicherstellung für die Regeneration der
Arbeiterklasse ; 2) eine Versicherungsrente für das Alter ; 3) eine
Unglücks- und Krankheitsversicherung; 4) eine Versicherung für
Brachliegen aus Arbeitsmangel. In Folge wachsender Solidarität,
welche in unserer modernen Gesellschaft zwischen eiuem Bürger
und den anderen sich geltend macht, gestalte sich Fahrlässigkeit
des einen zu um so grosserer Belastung der anderen. Von diesem
Principe aus zwinge man zum Anzünden der Wagen laternen wäh-
rend der Nacht, zum Fegen der Schornsteine &c, und könne dem-
nach die Versicherungen eben so befehlen wie diese Vorsichts-
massregeln, iltn Interesse intellectueller und mo-
ralischer Ordnung hat der Staat das Recht, ein
Minimum nothwendiger Unterweisung in der
bürgerlichen Rechtsverfassung zu befehlen,
besonders hinsichtlich des Stimmrechtes;
denn wir alle haben ein Interesse daran, dass
alle, welche mit uns die Aufgabe theilen, die
Regierung zu unterstützen, nicht im Zustande
der Abhängigkeit und Unfähigkeit sich be-
finden. Im Interesse desselben Princips kann der Staat, ohne
die Gerechtigkeit zu verletzen, ja im Namen der Gerechtigkeit, die
Arbeiter zu einem Minimum von Vorsorge und Sicherstellung der
Zukunft anhalten«. Denn diese Sicherstellung menschlichen Capi-
1 Dans Vordre in teile et uel et mural, l'etat a le droit d'exiger le minimum
d ' Instruction necessaire ä l'exercice des droits de
c i t o y e n , s u r t o u t du droit de suffrage, car nous sontmes
tous interesscs ä cc que ceux qui partagent aeec nous le pouvoir du contrihuer
au gouvernewent ne soieni pas datts un etat de servitude et d'incapncite reelle.
En vertu du meine principe, litat peut, Sans rioler la justice et au nom de la
justice memc, exiger des travailleurs un Minimum de precogance et de garanties
pour l acenir.
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30
»
Die Eigenthumsfrage der Neuzeit.
tales, welche als Minimalersatz wirklichen Eigenthumes wahrhaft
freier und gleicher Bürger zu betrachten ist, wird mehr und mehr
nothwendig, um das Entstehen einer Proletarierklasse zu verhindern,
welche durch das Geschick zur Knechtschaft oder zum Aufruhr
getrieben werde. > Der Staat und die Gemeinden hätten unbedingt
das Recht, im Namen aller schon im voraus Vorkehrungen gegen
eine Last zu ergreifen, welche schliesslich auf alle fiele. Im
Namen der Gerechtigkeit, Freiheit und Gleichheit müsse dem Indi-
viduum eine Verpflichtung auferlegt werden, in seiner Person das
menschliche Capital durch ein Minimum von Gewahrleistung sicher
zu stellen. Hierin läge kein ,Staatssocialismus', was auch L6on Say
reden mag ; die Interessen sind in diesem Stücke ebenso überein-
stimmend wie die Rechte.
Die Einwürfe der Nationalökonomen, namentlich Leroy-Beau-
lieus, gegen das Project einer allgemeinen obligatorischen Ver-
sicherung unter Mithilfe des Staates seien nicht stichhaltig. Das
angebliche Anwachsen der Steuern zur Herstellung der staatlichen
Mitarbeit brauche nicht einzutreten, wenn man die Möglichkeit
neuer Hilfsquellen gewinnt oder dafür sorgt, dass der Arbeiter
durch die Sicherstellung vor Schaden mehr als den für die Ver-
sicherung bestimmten Steuerbetrag vortheilt. Preissteigerung seitens
der Industriellen zum Zweck der Schadloshaltung für eventuelle
Selbstbesteuerung im Interesse der Arbeiter sei nicht zu erwarten,
weil die einsichtigeren Industriellen nicht verkennen könnten, dass
sie selbst an der besseren Lage der Arbeiter ein Interesse haben,
um für die Vortheile Opfer zu bringen.
Als Resultat dieser Studie stelle sich heraus, dass der abso-
lute Individualismus eben so falsch ist wie der absolute Socialismus,
weil alles Eigenthum eine individuelle und eine sociale Seite hat,
und dass man für die Praxis, wegen der Unmöglichkeit einer
exacten Abwägung dieser Seiten, zu einem üebereinkommen auf
Grundlage mittlerer Durchschnitte genöthigt sei. Zu diesem Zwecke
habe der Staat, ohne sich die unmögliche Aufgabe einer absoluten
Theilungsgerechtigkeit anzulassen, den besonderen Beruf, in den
Umlauf der Güter einzugreifen.
«Der Staat hat ausser der negativen und repressiven Gerech-
tigkeit noch die Obliegenheit einer positiven und aus-
gleichenden Gerechtigkeit, welche es ihm gestattet,
die Handhabung von Massnahmen, Hilfsquellen, Capitalien sich
vorzubehalten, um sie im Interesse der Arbeitsmittel, der allgemeinen
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Die Eigenthumsfrage der Neuzeit.
31
und professionellen Bildung, zur Schöpfung und Förderung von
philanthropischen Einrichtungen zu verwerthen. Die Principien der
Nationalökonomie nöthigeti den Staat keineswegs sich dessen zu
entäussern, was er besitzt oder besitzen kann ; vielmehr ermächti-
gen sie denselben, gegenüber dem stets unantastbaren Privateigen-
thum, ein coJlectives Eigenthum zu begründen, um es zum Nutzen
der Mehrzahl zu vergrössern und zu verwenden. Der Staat könne
auf diese Weise, an Stelle der vornehmlich die Masse drückenden
Steuern, ueue Hilfsquellen setzen, welche ihm entweder freiwillig
geboten würden oder welche natürliche Einkünfte des öftentlichen
Vermögens wären ... Es giebt zwei Mittel, um zum Vortheile
der ganzen Gesellschaft einen Mehrwerth zu schaffen, welcher den
socialen Beziehungen nützt. Das erste besteht darin, den Nutzen
unter den Individuen möglichst in Umlauf zu setzen: zu diesem
Zwecke muss das Eigenthum mehr und mehr mobilisirt werden, um
seine Vertheilung an alle und die Sammlung von Eigenthuin seitens
der Genossenschaften zu ermöglichen. Das zweite Mittel besteht
darin, neben dem Privateigenthum ein collectives und sociales
Eigenthum zu gewinnen, als Quelle einer Collectiveinnahme. Da-
durch erlangte man, wie selbst die Nationalökonomen erkennen
würden, das vortreffliche Resultat, dass man allmählich die Lasten
aller durch den Vortheil aller begleichen, an Stelle der öffentlichen
Schuld einen öffentlichen Schatz schaffen und endlich die ungeheuren
Budgets gänzlich beseitigen könnte, welche die Ursache steigender
Beunruhigung sind. Es ist verständige Liberalität, welche die
beste philosophische Lösung des Problems bietet ; sie gewährt gutes
Recht und freien Spielraum allen drei Arten von gleichberechtigtem
Besitz: dem individuellen Einzeleigeuthum, dem individuellen Ge-
nossenschaftseigenthum und endlich dem öffentlichen und nationalen
Eigenthuin. Man könnte den nationalökonomischen Liberalismus
in die Formel bringen : die Individuen freie Eigenthümer im Staat,
der freier Eigenthümer ist.»
Prof. Dr. Schmidt-Warnec k.
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Ein Jugendleben aus Alt-Kurlands Tagen.
Tempi pasmti !
\
rer hätte in Kurland nicht vom alten Grausdenscuen
jbVSb^t Drachenfels gehört , sich nicht an den zahlreichen
Scherzen und Anekdoten ergötzt, die dem mit seltenem Humor be-
gabten Manne nacherzählt werden 1 So manchem, der ihn einst
persönlich kannte, steht er gewiss noch lebhaft vor Augen, der
alte, eigenartige Herr mit dem tippigen, krausen Haare, der breiten
Stirn, den schelmisch blickenden Augen, dem zusammengekniffenen
Munde, wie er die lange Tabakspfeife stets zur Hand, den grauen
Papagei neben sich, auf seinem Lehnstuhl im Kreise der Seinen
sitzend, die lieben Freunde so oft mit heiterem Scherzworte zu
empfangen pflegte. Er galt und gilt für den Typus eines Kur-
länders der alten guten Zeit mit ihren Licht- und Schattenseiten,
einer Zeit, die den heutigen Kurländer wie ein Traum, wie ein
uraltes Märchen anmuthet und doch in Wirklichkeit gar nicht so
fern ab liegt.
Sie hat ihre Phasen, ihre Perioden, diese alte Zeit. In den
nachstehenden c Erinnerungen» führt uns der Freiherr Peter
Philipp v o n Dracheufela in die uuserem ßewusstsein ent-
legenste zurück ; sie umfasst sein eigenes Kindheitsalter und seine
Jugendjahre, an welche das Gedächtnis nur der wenigsten unter
den Lebenden hinanreicht und in welcher die sich erst entwickelnde
Persönlichkeit noch keine tieferen Spuren ihres Daseins der
fortschreitenden Generation einzuprägen vermochte. Ulme die
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Ein Jagendleben aus Alt-Kurlands Tagen. 33
Blatter, die dem Leser hier vorgelegt werden, würde der Mann,
der noch heute in seiner Heimat im besten Andenken fortlebt,
unvermittelt in die Erscheinung treten. So redet er denn selbst
über die Jahre; in denen noch kein beobachtendes Auge auf ihm
ruhte. Aus der Erinnerung aber der Genossen seines männlichen
Wirkens seien in kurzen Strichen die Hauptzüge seines reichen
Lebens hier hervorgehoben.
Von den Studien im Auslande heimgekehrt, diente er einige
Jahre bei den kurländischen Dragonern, trat hierauf sein Gut
Grausden an und vermählte sich 1820 mit Friederike von Orgies-
Rutenberg aus dem Hause Neu-Autz. Zeitweilig übernahm er da-
neben auch die Verwaltung der grossen Kreutzburgschen Güter
und widmete alsdann seine Kraft dem Heimatlande, dem er bis in
das hohe Alter hinein in den verschiedensten Vertrauensposten treu
gedient hat.
Im Jahre 1827 zum örtlichen Kreismarschall für Mit au ge-
wählt, vertrauten ihm seine Mitbrüder auf den Landtagen 1833
und 1836 den Stab des Landbotenmarschalls an und wählten ihn
im Mai 1840 zum residirenden Kreismarschall, welche Würde er
bis zum Jahre 1866 inne hatte.
Gleichzeitig ward Peter von Drachenfels noch das Amt eines
ßankrathes des kurländischen Creditvereines übertragen, und er
verwaltete dasselbe mit der ihm eigenen Genauigkeit und Treue
vom September 1846 bis zum Convent des Jahres 1876.
Siebenundzwanzig Jahre hindurch war er auch Curator des
von der Generalin Katharina von Bismarck, der Schwägerin des
Herzogs Ernst Johann, gegründeten adeligen Fräuleinstiftes in Mi tau.
Mit besonderem Interesse und seltener Energie jedoch wirkte
Peter von Drachenfels — unter der Leitung des hochverdienten
Landesbevollmächtigten Theodor Baron Hahn — mit zur Errich-
tung des lettischen Schullehrerseminars in Irmlau. Die erste An-
regung zur Heranbildung junger Letten für das Volksschulwesen
war in Kurland von dem Pastor Wolter zu Zirau ausgegangen.
Schon zu Anfang der dreissiger Jahre war darauf Freiherr v. Hahn-
Postenden auf dem Landtage, wenn auch leider vergeblich, für die
Durchführung dieser Idee eingetreten. Da arbeitete dann Wolter
unverdrossen, von gleichgesinnten Männern, den Freiherren v. Man-
teuffel-Zirau, Fircks-Dubenalken, Dorthesen-Melsern u. a. unter-
stützt, in privaten Kreisen für die Verwirklichung dieses schönen
Planes weiter, v. Manteuffel-Zirau und v. Fircks-Dubenalken schickten
B»UUche MonaLacorift. M. XXXIV. lief* 1. 3
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34 Ein Jugendleben aas Alt-Kurlands Tagen.
einen jungen Letten. Andreas Bergmann, auf ihre Kosten auf das
Seminar bei Königsberg und v. Dorthesen bot Wolter die Mittel,
um auch seinerseits junge Letten zu Lehrern heranzubilden. Uud
nicht vergeblich waren diese edlen und patriotischen Männer selbst-
los und opferfreudig für die Errichtung eines lettischen Volks-
schullehrerseminars eingetreten, denn auf dem Landtage des Jahres
183G kam diese Angelegenheit abermals zum Vortrag und zur Ab-
stimmung und drang dieses Mal — wenn auch mit geringer Majo-
rität — siegreich durch, besonders auch dank den Bemühungen des
Baron Hahn-Postenden uud uuseres Baron Drachenfels.
Pastor Wolter erhielt hierauf den Auftrag, eine passende
Lehrkraft für diese Anstalt zu besorgen, und auf die Empfehlung
des Directors des königsberger Seminars, Preuss, hin ward der
Cand. Sadowsky bewogen , die Leitung des neuen Seminars zu
Inn lau bei Tuckum zu übernehmen. Sadowsky kam 1837 nach
Kurland und erzog sich bis zum Jahre 1839 seiue Hilfslehrer
selbst im Hause des Pastor Wolter. Im Jahre 1840 ward alsdann
das Seminar eröffnet und am 21. Jauuar 1841 feierlich eingeweiht.
Zum Präsidenten aber des von der Ritterschaft ernannten Ourato-
riums dieser Anstalt wurde der Kreismarschall Peter von Drachen-
fels erwählt. In dieser Stellung trat Drachenfels der Anstalt und
dem Director derselben mit warmer Freundschaft und vollstem
Vertrauen entgegen, verfolgte mit lebhaftester Theilnahme das Ge-
deihen und Aufblühen des Seminars, trat mit schneidigem Eifer
und feurigem Sinn allen Anfeindungen und Angriffen entgegen
und sorgte mit Umsicht und redlichem Willen dafür, dass die gegen
eine derartige Anstalt weitverbreiteten Vorurtheile mehr und mehr
schwanden und derselben stets neue Freunde und Gönner gewonnen
und zugeführt wurden. So wirkte und kämpfte er, stets im besten
Einvernehmen mit dem ihm im Laufe der Jahre befreundeten Director.
viele Jahre hindurch unermüdet und unentwegt für <sein liebes
Irmlau» und erwarb sich die Liebe und Verehrung aller, die mit
ihm hier in Berührung kamen. So erschien er denn auch dort
alljährlich zur Freude aller zum Stift ungstage, von 1841 bis 1876,
wo er, vom Alter gebeugt und fast gänzlich erblindet, sein Amt
als Präses des Curatoriums niederlegte und die Leitung desselben
jüngeren Kräften überliess. Den Sturm der Zeiten hatte die An-
stalt unter der Leitung treuer und ehrenfester Männer überwunden
und überdauert.
Die letzten Tage seines Lebens verbrachte Peter v. Drachen-
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Ein Jagendleben aus Alt-Kurlands Tagen.
3f>
fels auf Grausden, um, wie er hoffte, dort bald zu sterben und
dann endlich mit seiner ihm früh vorangegangenen Gattin vereint
zu werden. Er sehnte sich nach dem Heimgang, besonders nach-
dem in den letzten sechs Jahren sein Augenlicht immer schwächer
geworden war.
In seiner Landeinsamkeit ward er wiederholt von den Seinigen
gebeten, ihnen von seiner Jugend, den vergangenen Zeiten, dem
alten Kurland zu erzählen. Diese seine Erinnerungen und Berichte
wurden von den Anwesenden niedergeschrieben und sind in den
folgenden Blättern enthalten. Leider brechen dieselben bei der
Schilderung seiner Studentenzeit plötzlich ab. Die Angehörigen
des Verewigten gestatteten freundlichst die Veröffentlichung jener
Erinnerungen , an deren Wortlaut so wenig wie möglich ge-
ändert wurde.
Am 10. Juli 1879 ging Peter von Drachenfels lebensmüde
nach kurzer Krankheit in die ewige Heimat ein. Und wie er sein
Leben hindurch stets für sein Land und viele seiner Landsleute
gearbeitet und gewirkt, so füllten auch selbst seine letzten Tage
und Stunden Gedanken der Liebe und der Sorge für andere und
für seine theure Heimat aus.
0 . . . y.
Ich bin am 9. Februar 1795 geboren. Meine Eltern lebten
damals nicht auf unserem Erbgute Grausden, sondern auf dem
Kronsgute Schlampen, welches sie in Arrende hatten. Die Land-
strasse, welche von Mitau nach Tuckum führt, ging früher etwa
eine Werst an Schlampen vorüber. Diese Strasse Hess mein Vater,
der ein sehr gastfreier Mann war, auf seine Kosten durch den Guts-
hof selbst führen, welchen sie noch jetzt durchschneidet. Am Pferde-
stall war nun ein Schlagbaum und eine Wache, die jede vorüber-
fahrende herrschaftliche Equipage anhalten und — wenn es Be-
kannte meiner Eltern waren — nicht ohne die zuvor eingeholte
Erlaubnis meines Vaters passiren lassen durfte. Daher war natür-
lich immer sehr viel Besuch in Schlampen, wo gewöhnlich, wenn
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Ein Jugendleben aus Alt-Kurlands Tagen.
wir viele Gäste hatten, zwei grosse Zimmer für dieselben abge-
geben wurden. Das eine Zimmer war für die Damen, das andere
für Herren bestimmt, welche dort einfach auf Heu schlafen mussten.
So wie unser Haus waren in damaliger Zeit fast alle herr-
schaftlichen Wohnhäuser erbaut. Ein jedes, auf dem Laude wie
in der Stadt, hatte einen überaus grossen Flur. So war der in
Schlampen, so viel ich mich erinnere, wenigstens vier Faden lang
und zwei und einhalb Faden breit. An der äusseren Wand befand
sich die Eingangsthür, auf jeder Seite derselben waren zwei grosse
Fenster. An den anderen Wänden standen mächtig grosse und
auch kleinere ßettzeugkasten, mit welchen ein grosser Luxus ge-
trieben wurde. Einige derselben waren so hoch, dass ein Mensch
von mittlerer Grösse kaum anreichen konnte, um den Deckel auf-
zuschliessen. Diese waren in der Regel mit rother Oel färbe an-
gestrichen und stark mit Eisen beschlagen ; die kleineren Kasten,
etwa 3—4 Fuss hoch und im Verhältnis lang und breit, waren
von Eichen- oder Eschenholz und sehr reich und bunt mit Messing-
beschlägen versehen. Auf der grossen Platte des Schlosses, welches
mit vielen Zickzacken verziert war, prangte die Jahreszahl. Alles
Messing wurde jeden Sonnabend geputzt und alles Holzwerk mit
Wachs gebohnt. Diese Kasten waren mit Leinewand, die grossen
mit Bettzeug gefüllt und machten den Stolz der Hausfrau aus.
Die lange Wand war eine der vier Wände, welche der
Küchenschornstein bildete. Dieser war ca. vier Faden lang und
ca. drei Faden breit, nnd verengte sich sehr allmählich, bis er
als gewöhnlicher Schornstein zum Dach hinauskam. In diesem
grossen Raum war die Küche ; in der Mitte desselben stand ein
grosser, aus Ziegeln aufgeführter Herd, auf diesem, in der ganzen
Länge desselben, ein Rost, d. h. zwei gerade laufende eiserne
Stangen auf acht oder mehr Füssen, auf welchem alle Kochgeschirre
aufgestellt waren und unter welchem das Feuer angemacht wurde.
Nie ist ein Braten damals anders als am Spiesse bereitet worden.
Dieser Spiess wurde durch das zu bratende Stück der Länge nach
durchgesteckt und der Länge nach an die eine Seite des Rostes auf
zwei dazu gemachten Gestellen aufgestellt, An dem einen Ende drehte
ein Mensch fortwährend diesen Spiess, während ein anderer den Braten
mit der Sauce begiessen musste, damit er durch das grosse Feuer, wel-
ches nur von einer Seite flammte, nicht verbrenne. Unter dem Braten
stand eine lange eiserne Pfanne, in welcher die Sauce befindlich war.
Es existirten damals keine andere Oefen als solche, die von
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Ein Jugendleben ans Alt-Knrlands Tagen.
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der Küche aus — wie man sie jetzt noch in den Bauergesinden
findet — oder von einem eigens dazu erbauten Räume zu heizen
waren. Ein solcher sieben oder auch mehr Fuss langer Ofen be-
stand, ganz ohne Züge, aus einem leeren Raum, welcher mit Holz
von ein Faden Länge gefüllt und so geheizt wurde. War der
Ofen ausgeheizt, so wurde, damit die Wärme nicht entweiche, eine
Thür oder, wenn sie vorräthig war, eine alte eiserne Platte vor-
gestellt und der Spalt mit einem Ziegel verstopft. Waren alle
Kohlen in demselben verlöscht, so wurde der ganze Ofen mit Holz
vollgesteckt, um zum anderen Tage — besonders zum Backen —
trockenes Holz zu haben. Holzschuppen — ausser einzelnen in
der Stadt — existirten eben so wenig wie vorräthiges trockenes
Holz. Kein Ofen heizte mehr als ein Zimmer, obgleich er so
fürchterlich gross war.
Das alte Herrenhaus in Grausden hatte zwei Stockwerke,
das untere von Feldstein, das obere von Holz. In der ganzen
unteren Etage war an jedem Ende, in der Ecke nach der vorderen
Seite, nur ein Wohnzimmer. Alles andere war nur Küche, vorderes
und hinteres Vorhaus, ein paar kleine Handkammern und ein Raum
mit einer steinernen Treppe, die hinauf in einen grossen gewölbten
Raum führte, welcher mehr als den vierten Theil eines oberen
Wohnzimmers einnahm und aus welchem die drei Oefen der drei
anstossenden Zimmer geheizt wurden.
Ich komme auf den früheren grossen alten Feuerherd zurück.
Wenn das Kochen und Braten aufhörte, so musste das Feuer doch
bis spät abends erhalten werden, bis endlich — wenn alles schlafen
ging, die Hausmagd das Feuer auf einen Haufen zusammenschürte,
und sorgfältig mit Asche behäufte, um es auf diese Art bis zum
anderen Morgen zu bewahren. Wenn dennoch alle Kohlen er-
loschen, so holte sich die Hausmagd in einem eisernen Grapen die
Kohlen aus der Herberge, der Branntweinsküche oder wo sie die-
selben sonst bekommen konnte, um wieder Feuer anmachen zu
können. Oder wenn nirgend glühende Kohlen zu haben waren, so
musste mit Stahl und Stein ein Haufen Zunder angezündet, dieser
alsdann in ein Bund Langstroh eingestellt und mit Geschwindig-
keit hin und her geschwungen werden, bis er sich in Flammen ent-
zündete und man so in Stand gesetzt war, ordentliches Feuer auf
dem Herde anmachen zu können. Es gab nämlich sonst gar keine
andere Art von Feuerzeug, als Stahl, Stein und Schwamm oder zu
Zunder gebrannte Leinewand. Das war eine Noth, wenn man
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38 Ein Jngendleben aus Alt-Kurlands Tagen.
man nachts nach Hause kam, bis man ein Licht angezündet
bekam 1
Doppelfenster oder mit Oel färbe gestrichene Dielen gab es
damals in ganz Kurland nicht. Man fand Überall nur weisse
Dielen, die jeden Sonnabend rein gewaschen und gescheuert und
darauf täglich mit weissem Sande bestreut wurden. Das Ausstreuen
dieses Sandes war eine grosse Kunst des Stubenmädchens, denn
wenn das Zimmer nicht ganz gleichmässig ausgestreut war, so
musste das Mädchen denselben sogleich wieder auffegen und aufs
neue ausstreuen, oder bekam härtere Strafe und wurde ins Gesinde
zurückgegeben, weil sie zum Stubenmädchen kein Talent habe.
Am Sonntage wurde die Diele ausser mit diesem Sande auch noch
mit Gränenzweigen (Skuijen) oder mit durchaus ganz gleich lang
geschnittenen Kalmusblättern bestreut. Alle Möbel waren ent-
weder mit Oelfarbe gestrichen oder es war das natürliche unge-
färbte Holz. Wo es irgend möglich war, waren messingene Be-
schläge und Verzierungen angebracht. Die Möbel waren alle
dauerhaft gemacht ; gepolsterte und solche mit Stahlfedern kannte
man nicht. Die Ueberzüge auf Stühlen und Sophas waren rund-
herum mit dicht neben einander stehenden Nägeln mit runden
messingenen Knöpfen angenagelt. Auch alle diese Nägel mussten
jeden Sonnabend geputzt werden, sowie auch alle Leuchter und
die Löffel für die sogenannten deutschen Leute.
Um alle diese Arbeiten gebührend zu verrichten, bedurfte es
vieler Dienstboten. So viel ich mich erinnere, hatte meine Mutter
ein sog. Handmädchen und für diese eine Gehilfiu und ausserdem
noch vier Stubenmädchen und eine oder zwei Skullen, d. h. Mädchen
von 12—14 Jahren, die zu Stubenmädchen herangebildet wurden.
Ausser diesen waren hier auf allen Gütern Spinnmädchen, die jeder
Wirth, je nach seinem Gehorch, mit seinem Brod stellen musste.
Diener hatte mein Vater vier. Der eine war der Jäger, welcher
immer in grünem Ueberrock mit kleinen hellgrünen Schnüren auf
den Schultern ging ; musste er in besonderer Gala erscheinen, so
legte er seine hell und dunkelgrün gemischten Achselbänder au
und schnallte sich seinen grünen Gurt um, welcher vorn mit einer
bedeutend grossen silbernen Schnalle, auf welcher das Drachenfelssche
Wappen sich befand, festgehalten wurde. An der Seite trug er
einen Hirschfänger. Der zweite war meines Vaters Kammerdiener,
putzte seine Kleider und bediente nur ihn. Der dritte war der
Tateidecker, der alles zum Tisch besorgte und das, was zu putzen
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Ein Jugendleben aus Alt-Kurlands Tagen.
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war, von einem vierten (Jungen) machen Hess. Alle Dienstleute
waren Leibeigene bis zum Jahre 1818. Man nahm einen Jungen
oder ein Mädehen in sehr jugendlichem Alter aus dem Gesinde in
den Hof. Hess sie von der älteren Dienerschaft unterrichten und,
wenn sie gut waren, bei eintretender Vacanz immer höher avan-
ciren, zum Jager oder Kammerdiener des Herrn, oder zum Hand-
mädchen der Frau. Taugten sie nichts, so wurden sie ins Gesinde
zurückgeschickt. Der Jäger bediente nur dem Scheine nach bei
Tisch und hatte das Privilegium an der Tischconversation theil-
zunehmen, sogar auch einen Tischgast, wenn er auf der Jagd ein
Versehen begangen hatte, zu necken. Nur ausnahmsweise wurden
freie Leute als Diener oder Dienerinnen gehalten, die, wenn es
auch Polen waren, Deutsche genannt wurden und an einem be-
sonderen Tische assen ; unter keiner Bedingung hätte einer oder
eine von diesen mit einem < Erbmenschen > an einem Tische gegessen.
Die Hofesleute waren nach Art der Deutschen gekleidet, aber
durchaus nur in Zeugen, die auf dem Gute selbst fabricirt und
gemacht wurden. Daher standen in der Spinnstube, wo die Mädchen
spannen, auch immer ein Webstuhl oder mehrere, auf welchen Lein-
wand von der gröbsten bis zur feinsten Gattung, Halbwand und
Wand von allen Qualitäten gewebt wurde. Die Gutsbauern hatten
fast auf jedem Gute, in jeder Hauptmannschaft gewiss, eine be-
sondere Tracht. Die in der Siuxtschen Gegend hat mir am besten
gefallen, besonders die der Mädchen. Sie trugen Pasteln, weisse
Strümpfe, einen dunkelbraunen Rock, welcher sehr breit und in
vielen, vielen kleinen, sehr regelmässig zusammengelegten Falten
über die Hüften angelegt wurde. Nach unten reichte er bis zum
Fussknöchel und war mit fingerbreitem, hellblauem Bande in 8—10
Reihen bis zur Hälfte hinauf besetzt. Ueber dem Hemde trugen
sie noch ein kleines Hemdchen von feinster Leinwand, welches nur
bis etwas über die Hüfte reichte und ganz lose um den Rand des
hier befestigten Rockes flatterte. Die Aermel waren wie am
Mannshemd, eben so auch ein solcher Kragen, welcher mit einer
ganz einfachen kleinen silbernen Schnalle zusammen gehalten wurde.
Alles Haar, zusammengeflochten mit eben solchem Bande, wie der
Rock besetzt war, hing in zwei Zöpfen herunter; auf dem
Kopfe ein neuer runder schwarzer Männerfllzhut, in der Hand
eine Harke, so sah man sie im Sommer beim Heumachen, oder
auch bei der Düngerfuhr, welches ein grosses Fest bei den Bauern
war und Suhdu-Jcahsas genannt wurde. Bei kaltem Wetter zogen
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40 Ein Jugendleben aus Alt-Kurlands Tagen.
die Mädchen ein kleines Camisol von demselben Zeuge wie der Rock
über, welches sehr eng mit langen Aermeln gemacht war, und knöpften
dieses, welches von oben bis unten dicht mit kleinen kugelrunden
silbernen Knöpfen besetzt war, entweder ganz fest, oder trugen es
auch, je nach der Witterung, ganz offen. Die Weiber kleideten sich
eben so, nur trugen sie das Haar nicht in hinunterhängenden Flechten,
sondern aufgebunden. Dieselben trugen auch zuweilen ein Camisol
ganz ohne Aermel ; warum ? das weiss ich nicht, vielleicht um die
feine weisse Leinwand ihres Oberhemdes zu zeigen. Die Männer
trugen Pasteln, hellblaue wollene Strümpfe, kurze dunkelblaue
Bosen bis über das Knie ; dieselben wurden hier aber nicht zuge-
knöpft, sondern ganz lose getragen obgleich sie hier drei kugei-
runde silberne Knöpfe hatten ; ein Camisol von demselben Zeuge,
von oben bis unten dicht (aber nicht so dicht wie bei den
Frauen) mit silbernen Knöpfen besetzt und einen runden Filzhut.
Mit der Freiheit der Bauern, als diese von einem Gebiete zum
anderen zu wandern anfingen, hörten auch die Nationaltrachten
auf und wurden im ganzen Lande gleichförmiger. Nationaltracht
ist wol keine richtige Bezeichnung, da in dem kleinen Kurland
wenigstens zwauzig verschiedene Trachten existirten, von welchen
sich die in der windauschen und goldingenschen Gegend zum Theil
bis jetzt noch erhalten haben. — Familiennamen hatten die Bauern
nicht, erst im Jahre 1826 mussten sie auf höheren Befehl sich
Namen wählen.
Die Haupttendenz aller Gutsherren war, aus ihren Gütern
alle ihre Bedürfnisse selbst zu erzeugen ; aus deu Erzeugnissen
Geld zu machen, war weniger Zweck. Auf jedem Gute war daher
Branntweiubrand, aber nicht grösser, als um den eigenen Bedarf
für Hof und Krüge zu decken. Eben so war es mit den Bier-
brauereien, die auch ganz ohne Ausnahme auf jedem Gute waren,
bestellt. Alle Krüge waren auf Hofeswaare gesetzt, d. h. Bier
Uttd Branntwein, in manchen Krügen auch andere Dinge, wie Tabak,
Salz, Heringe &c, durfte der Krüger nicht für eigene Rechnung
sich verschaffen, sondern er erhielt dieses alles vom Hofe geliefert,
musste es für einen gewissen Preis verkaufen und erhielt als Lohn
für seine Mühe den sogeuannten zehnten Groschen. Natürlich
trugen die Krüge unverhältnismässig weniger ein als jetzt. Früher
musste man sich auf die Ehrlichkeit des Krügers verlassen, daher
setzte man in der Regel alte anerkannte Diener als Krüger ein,
und weil diese wussten, dass sie iür die geringste Veruntreuung
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Ein Jugendleben aus AlkKurlands Tagen. 41
ohne weiteres wieder als Knechte ins Gesinde gegeben werden
konnten, waren sie auch ehrlich und treu. — Die Hofesleute be-
kamen täglich zu Mittag und zum Abendessen jeder ein Stof ßier.
Ich glaube, es existirt jetzt im ganzen Lande kein solches Stof
mehr, wie sie damals zum Biertrinken ganz allgemein gebräuchlich
waren, sowol in den Häusern wie in den Krügen. Dieselben waren
aus Holz vom Böttcher gemachte Krüge mit Henkel und Deckel, ent-
hielten ca. V» Stof unseres jetzigen gesetzlichen Masses. Auch viele
Herren tranken ßier aus solchen Gefässen, welche natürlich hübscher
und s&uberer aus verschiedenfarbigem Holz gearbeitet waren.
Eine eben so gearbeitete Riesenkanne, Piepkanne genannt,
diente zum Herauftragen des Bieres aus dem Keller. Diese war
einer Gartengiesskanne ähnlich, hatte ungefähr dieselbe Grosse
und von unten an ein Rohr zum bequemen Aus- und Eingiessen
des Bieres.
Der Eingang in den Keller war in allen Häusern, die ich
gesehen habe, aus der Ecke der Stube (jetzt Saal genannt) oder
aus der Kammer, was jedoch seltener vorkam. Die Thür, die in
den Keller hinabführte, war mit einem ca. vier Fuss hohen Kasten
von Brettern mit einer Eingangsthür überbaut und mit Oelfarbe
angestrichen. Wenn die Hausfrau in der Stube sass, konnte sie
jeden, der in den Keller ging oder aus demselben kam, controliren.
Die mit Bier für die Leute heraufgebrachte gefüllte Piepkanne
wurde oben auf diesen Ueberbau hingestellt und so oft ein Stof
oder eine Kanne Bier für die Leute nöthig war, durfte das Hand-
mädchen der gnädigen Frau dieselbe aus der Piepkanne füllen.
Ausser Talglichten, und nur in den reichsten Häusern, und
auch da nur bei ausserordentlichen Gelegenheiten, Wachsiichten,
existirten in der ganzen Welt keine anderen Lichte. Und zwar
wurden die Talglichte auf jedem Gute selbst gezogen oder gegossen.
Die gezogenen Lichte waren für die Leute bestimmt. Für die Herr-
schaften wurden Formlichte in eigens dazu gemachten Formen von
Blech gegossen. Auch alle im Hause nöthige Seife wurde dortselbst
gekocht. Nur für Colonialwaaren und für die Kleidung der Herr-
schaften musste Geld ausgegeben werden. Das erste Anschaffen
der Kleider mag t heuer gewesen sein, dafür waren aber die Stoffe
besser und die Moden wechselten nicht so rasch. Ich erinnere mich
sehr wohl, wie meine Mutter meiner Schwester antwortete : tMein
Kind, wie oft soll ichs dir wiederholen ? zu einem Kleide brauchst
du 7, und zu einem Schlafrock 9 rigasche Ellen.»
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42 Ein Jugendleben aus Alt-Kurlands Tagen.
Die Herren trugen nur eng anschliessende Hosen in hohen
Stiefeln ; die Schächte des Stiefels reichten hinten bis drei Viertel
über die Wade ; vorn waren sie etwas höher, aber in Herzform aus-
geschnitten, mit schwarzseidener Rundschnur besetzt und vorn
hing eine bis 2 Zoll lange Troddel von schwarzer Seiden rundschnur.
Nach der Farbe der Hose richtete sich der Frack ; bei blauer
Hose musste der ebenfalls blaue Frack durchaus blanke Knöpfe
haben ; nur so durfte man bei allen freudigen Begebenheiten, wie
Hochzeiten, Taufen &c, erscheinen. Zu gewöhnlichen Diners und der-
gleichen trug man einen braunen Frack und Hose. Auf Bällen durfte
man nie anders als in Schuhen erscheinen und musste kurze Hose
und weisse oder schwarzseidene Strümpfe haben. Man trug die
Hose von verschiedener Farbe ; bei hellfarbenen Hosen immer weisse
Strümpfe, schwarze Hose bei schwarzen Strümpfen, aber auch bei
weissen. Die Hose musste durchaus eng, wie aufgegossen ans
Bein schliessen. Nur die ganz alten Männer erschienen in Sammt-
stiefeln und legten ihren runden Filzhut nur aus der Hand, wenn
sie sich zur Partie setzten. Handschuhe wurden von allen Farben
getragen, jedoch nicht lederne, sondern seidene. Die Damen trugen
eng anschliessende Kleider mit sehr kurzen Taillen. Der Rock
war so kurz, dass immer der Fuss zu sehen war.
Die Vergnügungen der Herren auf dem Lande bestanden in
meiner Jugend in gegenseitigem Besuchen, Kartenspiel, Jagd und
Bärenhetzen. Zur Jagdzeit versammelte sich alles auf eine bis
zwei Wochen bei einem guten Freunde und zog von diesem wieder
zu einem anderen guten Freunde und so fort die ganze Jagdzeit
hindurch. Die Aufnahme war überall sehr einfach. Früh morgens
ritt man zur Jagd ; wenn mittags die Hunde aufgekoppelt wurden,
ass jeder sein mitgenommenes Butterbrod und jagte darauf weiter
bis zur einbrechenden Dunkelheit. Nach Hause zurückgekehrt,
wurde Kaffee gereicht und um halb acht, spätestens acht Uhr zu
Abend gegessen. Bei Tische machte der Jäger seine Bemerkungen
über den von dem einen oder anderen Herrn auf der Jagd be-
gangenen Fehler und nach dem Essen trat der Piqueur herein und
klagte den einen oder anderen an, nachdem er zuvor sein <Herr-
wat> geblasen, worauf die Beklagten zu einer Geldstrafe zum
Besten des Piqueurs verurtheilt wurden, wobei es viel Scherz und
Spass gab.
So ungefähr sah es in meiner Jugend in Kurland aus, so
etwa lebte man bei uns überall auf dem Lande. Manche Erinue-
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Ein Jugendlebeu aus Alt-Kurlands Tagen. 43
rung an Erlebnisse und so manche Bindrücke aus meiner ersten
Jugendzeit sind mir noch immer sehr lebhaft gegenwärtig. So
weiss ich noch ganz genau, dass, da ich ein Knabe von etwa vier
Jahren war, der eine unserer Diener (der sogenannte Junge) mich
in der Schieblade eines Tisches herumziehen musste und nicht im
Galopp laufen wollte, was ich durchaus verlangte. Ich ärgerte
mich darüber und klagte bei meiuem Vater, dass der Junge mich
geschlagen habe, wofür er von meinem Vater zwei bis drei Ohr-
feigen bekam, was mir mehr wehe that als ihm. Daher gestand
ich meine Lüge meiner Mutter ein und bat sie, es auf irgend eine
Art gut zu machen, schenkte ihm alle Augenblicke etwas von
meinen Spielsachen und bat ihn, er solle es mir vergeben ; nachher
war er Barbier und Haarschneider in Mitau, wo er von mir, da
ich noch immer seiner unschuldigerweise erhaltenen Ohrfeigen ge-
dachte, auch ferner Geschenke erhielt. — Ein anderes Mal, ich
weiss nicht mehr, was ich gethan, sollte ich von meinem Vater
Prügel bekommen ; ich sagte aber, dass ich weglaufen würde und
lief auch wirklich fort, pleine carriere über den Hof, ging lang-
samer, als ich auf die grosse Strasse gelangte und immer lang-
samer, je weiter ich kam, zugleich mich immer umsehend, ob mir
nicht jemand nachkomme mich zurückzurufeu, denn mir wurde
bange. So war ich ungefähr eine halbe Werst gegangen, als
Bauern gefahren kamen und einer von ihnen mich mitnehmen wollte.
Da wurde mir erst recht bange, ich sprang in den Graben, blieb
da sitzen und weinte bittere Thränen. Darauf wurde ich des
Jägers Fritz auf der Strasse gewahr, der mir wahrscheinlich nach-
kam ; da wurde ich trotzig und dachte bei mir : ich werde auf
keinen Fall mitgehen, und je näher er kam, desto trotziger wurde
ich. Er ging hart am Graben nahe an mir vorbei, ohne mich be-
merken zu wollen ; doch je mehr er sich von mir entfernte, ging
mir der Trotz aus und ich hätte wol gewünscht, dass er mich an-
geredet und zurückgebracht hätte. Ich rief ihn und rief immer
lauter, schrie endlich aus vollem Halse, aber er stellte sich, als ob
er es nicht hörte; ich lief ihm nach, weinte und schrie, bis ich ihn
festbekam und ihn bat, mich nach Hause zurückzubringen. tNein,
Kundsinsch, das darf ich nicht, das hat Papachen mir streng ver-
boten. Sie haben selbst weglaufen wollen, zurück darf ich Sie
nicht bringen ! Er hat mir nur befohlen, dass, wenn ich Sie finde
und Sie den Weg nicht wissen, ich Sie bis zum Walde begleiten
solle, da aber solle ich Sie allein lassen, umkehren und ganz
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44 Eid Jugendleben aus Alt-Kurland9 Tagen.
schnell wieder nach Hause kommen!» Ich weinte und bat nun
jämmerlich, wollte ihm Hände und Füsse küssen ; er blieb aber
streng dabei : er dürfe mich nicht nach Hause bringen, er würde
sonst selbst von Papachen Prügel kriegen ! Endlich, endlich liess
er sich doch erbitten, führte und trug mich nach Hause, wo mein
Vater mich erwartete und mir das Versprochene aufzählte ! — Wieder
einmal waren Knaben aus Wiexeln und Erwachsene zum Besuch
und uns war verboten, in den Garten zu gehen. Mein Vater sagte,
dass er dem Jurre, dem Gartenwächter, anbefohlen, dass, wenn er
einen von uns dort festkriegte, er ihn tüchtig auspeitschte. Nach-
dem er uns das in sehr barschem Tone gesagt, wandte er sich noch
an die anderen Gäste und sagte absichtlich halblaut zu ihnen, so
dass wir es aber hören konnten, dass am Ende des Stalles im
Zaun ein Loch sei, durch das die Kinder der Hofmutter immer in
den Garten schlichen ; aber, fügte er hinzu, sie sind sehr klug, sie
kriechen nicht eher hinein, als bis es anfängt dunkel zu werden,
wenn die Schlafmütze, der Jurre, schon eingeschlafen ist. Das
hatten wir Knaben gehört und uns gemerkt ; nach dem Abendessen
wiederholte mein Vater halblaut meiner Mutter und den Gästen
gegenüber, dass der Jurre jetzt gewiss schon eingeschlafen sei.
Ein "Weilchen darauf machten wir drei uns auf den Weg zum Loch
im Zaun und als wir eben durchkrochen, wurden wir empfangen —
aber nicht von Jurre, sondern von meinem Vater und von drei
oder vier der Gäste, die uns mit grossem Gelächter an den Kragen
fassten und uns wol tüchtig durchgeprügelt hätten, wenn meine
Mutter nicht herzugekommen wäre und für uns gebeten hätte. —
Einmal, das ist mir noch sehr erinnerlich, war meine Mutter mit
mir ins Pastorat Siuxt gefahren und als wir spät abends zurück-
kamen, fanden wir das ganze Haus erleuchtet, hörten Musik und
sahen durch das Fenster tanzen! Die vier Diener waren näm-
lich alle auch Musikanten ; der Jäger blies das Waldhorn, der
Kammerdiener spielte das Violoncello und die anderen beiden
Clarinette und Violine! Als wir in das Vorhaus traten, kam mein
Vater uns entgegen und erzählte meiner Mutter, dass eine polnische
Gräfin mit ihren Töchtern und ihrem Gefolge angekommen und er
auch noch anderen Besuch erhalten hätte, dass namentlich auch junge
Herren da wären, und nannte mehrerer Namen, die nun da mit den
jungen Damen tanzen sollten. Die polnische Gräfin spreche aber
kein Wort deutsch, verstehe jedoch lettisch — meine Mutter müsste
sich mit ihr lettisch unterhalten. Meine Mutter wollte erst eine
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Ein Jugendleben aus Alt-Kurlands Tagen.
45
andere Toilette machen, das Hess mein Vater aber nicht zu —
sondern führte sie zur Gräfin, die auf dem Sopha sass, stellte
meine Mutter vor, die nun ueben ihr Platz nahm, mit ihr zu
sprechen anfing, aber keine Antwort erhielt. Meine Mutter fragte
wieder etwas — bekam aber wieder keine Antwort, bis endlich
mein Vater der Gräfin lettisch zurief: cNu, du dumme Person,
antworte, wie ich dir gesagt habe — das ist eine dumme Trine!»
Was war nur überhaupt geschehen? Mein Vater hatte alle Kleider-
schränke und Kommoden, weil meine Mutter die Schlüssel mitzu-
nehmen vergessen hatte, geplüudert und mit ihren Kleidern alle
Viehmädchen und die Hofmutter verkleidet und sie da tanzen
lassen, um so meine Mutter dafür zu bestrafen, dass sie die
Schlüssel nicht mitgenommen ; es waren wirklich auch noch andere
Fremde da und wurde bis tief in die Nacht hinein getanzt. Spässe
dieser und anderer Art hat mein Vater sich oft erlaubt, bei welchen
meine Schwester, wenn sie nicht die Hauptrolle dabei spielte, doch
niemals fehlte.
Sechs oder sieben Jahre alt, ich erinnere mich nicht mehr
genau, vielleicht war ich auch älter, wurde ich ins Pastorat Siuxt
in die 8chule gegeben, nachdem ich vorher vom Schreiber Kieser
lesen und schreiben gelernt hatte, welcher dafür alle Jahre ein
Paar neue Stiefel und alle zwei Jahre einen neuen Pelz bekommen
hatte. Aus dem Pastorate erinnere ich mich eigentlich sehr wenig.
Ich weiss nur, dass ich sehr stark werden wollte und meiue Kräfte,
was ich in Schlampen auch schon gethan hatte, mit Steineheben
u. dgl. übte. Ich wollte ein Spartaner werden, schlief daher auch
eine oder zwei Nächte in der Woche ohne Kopfkissen oder irgend
welche Unterlage auf der blossen Diele, einmal habe ich sogar
den Unsinn begangen, wozu ich von den anderen Jungen aufgehetzt
wurde, dass ich eines Abends, es war im Februar bei Thauwetter,
nur im Hemde mit blossen Füssen hinauslief und mich in den
Schnee legte, um die Nacht so zu verbringen. Als aber nach
einigen Minuten mein Hemd ganz nass geworden war und ich
etwas stark zu frieren anfing, hielt ich es doch für gerathener,
wieder ins Haus hineinzulaufen. Ein Hauptvergnügen machte es
mir, mit einem eigens dazu gemachten Knüttel mich gegen böse
Hunde, die ich in den Gesinden aufsuchte, zu verteidigen. Dadurch
wurde meiue Kraft auch sehr gestärkt, die mir auch, sowie mein
Umgang mit Hunden, sehr zu statten kam. Die grosse Dogge
im Pastorate war toll geworden und war, um sich ihrer zu ver-
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46 Ein .Jugendleben aus Alt- Kurlands Tagen.
sichern, im Stalle eingesperrt ; es war Winter, ich hatte meinen
Pelz an und ging vom grossen Hause nach der Herberge, wo wir
wohnten. Die Dogge, die losgekommen war, rannte wie eine
Furie auf mich zu, ich fuhr ihr mit dem linken Arme entgegen
und fasste mit der rechten Hand, nachdem ich meine Schulbücher,
die ich überhaupt nicht leiden konnte, weggeworfen, sie hinten am
Kragen nnd führte sie so halb tragend, halb schleppend bis zur
Hausthür, in welche ich mich rückwärts hineinzog und sie so von
mir abstreifen wollte. Unterdessen waren aber Leute heran-
gekommen und erschlugen sie auf meinem Arme. Ungeachtet ich
einen Pelz anhatte, waren doch blaue Flecken auf meinem Arme
sichtbar. Ein anderes Mal machte ich einen grossen bösen Hund,
der an der Kette lag, »o wüthend. dass er auf mich losstürzen
wollte ; ich fuhr fort, ihn noch mehr zu reizeu, bis die Kette riss
und er mir am Halse gesessen hätte, wenn ich nicht geschickter
gewesen wäre und ihn unter dem Kopfe so kräftig an die Gurgel
gepackt hätte, dass ich ihn erwürgt haben würde, wenn nicht der
Kutscher und andere Leute hinzugekommen wären, die nicht mich,
sondern ihn retteten.
Von der Schule weiss ich wenig zu erzählen, ich kann mich
kaum einer Stunde, die ich gehabt, erinnern. Mamsell P. war
unsere Lehrerin — ich sage « Mamsell », denn zu damaliger Zeit
wurde ein grosser Unterschied zwischen Mamsell und Mademoiselle
gemacht ; Mademoiselle wurden nur die Töchter von Predigern oder
überhaupt aus dem Literatenstande, — die aus dem Handwerker-
stande < Mamsell» titulirt. Ich erinnere mich, dass diese Mamsell P.
uns in der Schule erklärte : dass ein Gegenstand, wenn er schnell
durch die Luft geschleudert wird, sich erhitzt. Ich wollte dass
nicht zugeben und sie suchte es mir zu beweisen, indem sie be-
hauptete, dass, wenn das nicht so wäre, man ja keine Hasen oder
ein anderes Thier schiessen könnte, denn die Schrote erhitzten sich
durch die Schnelligkeit, mit der sie durch die Luft flögen, so stark,
dass, wenn sie den Hasen treffen, sie ihn verbrennen! — «Ach,
wie ist die Mamsell dumm ! > rief ich aus. als ich hinter mir rufen
hörte: «Peter, Peter ! wie unterstellst du dich das? !> — Ich hatte
keine Courage mich umzusehen, ich glaube, es war der alte Pastor,
und war sehr froh, dass ich nicht weiter darüber sprechen hörte.
— Ciavier spielen musste ich auch lernen, hatte alle Vormittage
eine Stunde, fünf Jahre hindurch, und musste am Nachmittage
gleich unmittelbar nach dem Essen eine Stunde mich üben. Das
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Ein Jugendleben aus Alt-Kurlands Tagen. 47
Zimmer, wo das Ciavier zum Ueben stand, war zum Glück so weit
abgelegen, dass man nicht hören konnte, ob ich übte oder nicht.
Nachdem ich erst alle Ritzen zwischen den Tasten vollgespuckt,
schlief ich sanft ein und schlief, bis ich zufällig gerufen wurde.
Mein Klavierlehrer war der Organist, der bei meiner Fiugersetzung
gar nicht darauf Rücksicht nehmen wollte, dass ich Frostbeulen
hatte ; und als er mir auch wieder einmal den vierten Finger über
den ersten setzen wollte und dieselben dabei so stark anfasste,
dass ich vor Schmerz und Bosheit nach seiner Hand griff und ihm
wirklich dabei seinen vierten Finger ausrenkte, da schrie er nun
auch auf und jammerte, dass er nun ein Krüppel geworden sei,
nicht mehr würde die Orgel spielen können, was aus ihm werden
solle und wovon Frau und Kinder leben würden, und weinte bitter-
lich dabei ! Ich weinte mit ihm und versprach ihm, wenn er seinen
Posten verlieren und wirklich Krüppel bleiben sollte, ich ihm
c Philippshof i schenken würde! Der Arzt aus Doblen, zu dem er
gleich geschickt wurde, hat ihm den Finger glücklich wieder ein-
gerenkt. So behielt er seinen vierten Finger und ich mein
Philippshof!
All mein Bitten und Flehen, dass man mir das Clavierspielen
erlassen sollte — half nichts, bis es mir doch einmal glückte, durch
einen schlechten Witz davon loszukommen. Der alte Pastor er-
zählte bei Tisch, dass die Leute, die den Diebstahl in Pönau aus-
geführt, dieselben seien, die auch schon im vorigen Jahre gestohlen
hätten und bestraft seien und ihm auf seine Ermahnungen das
Versprechen gegeben, nicht mehr zu stehlen. cFür solche Leute, >
sagte er, «sind die bestehenden gesetzlichen Strafen viel zu gering,
es müsste eine besondere Strafe für sie erdacht werden 1» «Kann
man sie nicht lassen «Olavier spielen» lernen? Ii fiel ich ein.
Unter dem Gelächter der ganzen Tischgesellschaft sagte mir der
alte Pastor: «Nun, Peter, ist dir denn das Clavierspielen wirklich
so sehr unangenehm ?» «Ja, sehr !> erwiderte ich. «Nun, dann
wollen wir es sein lassen !> antwortete mir der Pastor und ich
war glücklich vom Spielen frei, machte den Pastor jedoch darauf
aufmerksam, dass die Tasten des Claviers sich gar nicht recht be-
wegen Hessen, so, als ob sie weiss Gott wovon verquollen wären
nnd wol reparirt werden müssten ; dass das von meinem Spucken
hergekommen, sagte ich natürlich nicht. . . .
Meine Mutter starb im Jahre 1806 in Mitau. Ich wurde
dahin abgeholt, kann mich aber durchaus nicht erinnern, ob ich
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Ein Jugendleben aus Alt-Kurlands Tagen.
sie noch am Leben fand oder nicht, so wie ich mich ihrer Beerdi-
gung auch nicht erinnere. Auch von der wirklichen Beerdigung
meines Vaters, der im Jahre 1807 starb und wie meine Mutter
in Grausden bestattet ist, habe ich ebenfalls keine Erinnerung.
Von seiner Beerdigung aber, die mein Vater noch lebend selbst
ausrichtete (neun Tage vor seinem wirklichen Tode), erinnere ich
mich sehr genau. Er Hatte eine Menge von Trauergästen einge-
laden, sass selbst altersschwach und krank auf einem Schaukel-
stuhle in einer Ecke des Zimmers und bat seine Freunde und
Gäste, die an zwei grossen Tischen speisten, überzeugt sein zu
wollen, dass er schon todt sei ; auch sollten sie recht viel über
ihn sprechen, da er gern hören wolle, was man nach seinem Tode
von ihm sagen werde. Seine Beerdigung hatte er zuvor selbst
genau angeordnet und den Kostenanschlag dazu selbst dictirt.
Man solle ihm nicht, wie damals Sitte war, eine neue Adelsuniform
anlegen, einen neuen Hut und Degen, neue Handschuhe und
Stiefel &c. anziehen. Auch sollte der Sarg nicht, wie es sich für
einen alten Edelmann gebühre, von Eichenholz mit schwarzem
Sammet beschlagen, mit silbernen Füsseu und Klammern versehen
werden, denn das mache in Summa so und so viel Thaler aus !
Statt dessen wolle er nur einen ganz einfachen, aus Brettern zu-
sammengeschlagenen Sarg haben, solle nur in ein weisses Laken
gewickelt in den Sarg gelegt, nach Grausden gebracht und da be-
graben werden. Für das hierdurch ersparte Geld solle aber den
Bauern in Grausden ein Ball gegeben werden, auf dem sie lustig
tanzen und sich mit ihm freuen sollten, dass er in ein besseres
Leben übergegangen seil
Zu meinen Vormündern hatte er ernannt seinen Schwager,
den Bruder meiner Mutter, Stromberg aus Wirben und den Advo-
caten Bienemann (v. Bienenstamm). Stromberg hatte bei sich einen
Hauslehrer gehabt, der zu dieser Zeit Notarius in Hasenpot war.
Zu diesem gab er mich in die Schule, nachdem er mich von Siuxt
fortgenommen.
Um drei Uhr morgens kam ich in Hasenpot bei F. an und
fand ihn schon auf, worauf er mir auch sofort Schulstunden gab.
Ich erschrak darüber sehr und dachte, wenn das so fortgeht,
werde ich das nicht lange aushalten 1 Meine Befürchtung war aber
unnütz, denn am anderen Tage und später hatte ich gar keinen
Unterricht mehr. Ich bin ein Jahr und neun Monate bei ihm im
Hause gewesen und habe in dieser ganzen Zeit buchstäblich nicht
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Ein Jugendleben aas Alt-Kurlands Tagen. 49
mehr als drei Tage Schule gehabt Ich vertrieb mir die Zeit mit
meinen Tauben. Weisskopf-Mütterchen und Braunscheck-Väterchen
waren davon die besten Werfer in ganz Haseupot. Prügeleien
mit Gassenbuben, bei welchen letztere immer den kürzeren zogen,
blieben nicht aus. F. war wirklich ein ganz überspannter Mensch.
Manchmal schloss er sich auf mehrere Tage auf seinem Zimmer
ein, ohne das geringste zu geniessen. Die Frau konnte es ihm
nie nach dem Sinn machen. Zweimal habe ich es erlebt, dass er,
weil die Suppe ihm nicht schmeckte, die vier Ecken des Tischtuchs
zusammennahm und es mit allem, was darauf war, Schüsseln,
Glasern &c. durch die Scheiben hinaus auf die Strasse warf! —
Mir erlaubte er, mit seiner Büchse und seinem Pulver und Blei
die Krähen zu schiessen, die merkwürdigerweise sehr viel auf den
paar Bäumen im Garten sassen. Schoss ich eine mit der Kugel,
so war es gut ; pudelte ich aber, was natürlich, da ich nur mit
der Kugel schiessen durfte, sehr oft vorkam, so musste ich einen
Sechser für jeden Schuss bezahlen, wodurch ich mein Taschengeld,
das in zwei Thalern monatlich bestand und das er in seiner Ver-
wahrung hatte, in einigen Wochen verschossen hatte.
Das eine Zimmer auf dem Boden seines Hauses hatte ich
inne und es war angefüllt mit Vögeln, für die ich eine grosse
Passion hatte. Eines Tages aber fuhr F. wüthend auf mich los
und befahl mir mit groben Worten, allen Vögeln sofort die Frei-
heit zu schenken, weil sie soviel Mäuse ins Haus brächten. Ich
antwortete ihm ebenso grob, dass ich es nicht thun würde. Da
gab es eine sehr heftige Scene. Hernach ging er selbst auf mein
Zimmer und Hess doch alle meine Vögel hinaus. Nun nahm ich
meine leeren Vogelbauer und ging auf ein benachbartes Gut, wo
gerade Getreidekujen eingeführt wurden, fing da so viel Mäuse als
nur irgend möglich, steckte damit die Bauer voll, brachte sie nach
Hause und Hess sie alle unten in seiner Wohnung los ; amüsirte
mich auch darüber, wie er und die Frau jammerten, dass jetzt noch
viel mehr Mäuse da seien, als bisher gewesen.
Jetzt war ich vierzehn Jahre alt und mir selbst bewusst ge-
worden, dass es so nicht weiter gehen könne, packte meine Sieben-
sachen und lief in der Nacht fort, nach der Schloss- Hasen potschen
Rije, wo ich Bauern aus Degahlen fand, die Roggen in Hasenpot
verkauft hatten, und fuhr nun mit denen nach Degahlen, welches
Gut mein Schwager Oelsen damals in Arrende hatte. Mein Schwager
brachte mich in die Schule zum Hotrath Döllen nach Mitau. Er
IUHUche MoMtMobrift Bd. XXXIV. Heft I. 4
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50 Ein .Tugendleben aus Alt-Kurlands Tagen.
erzählte diesem, wie sehr verwahrlost ieh sei, wie wenig ich gelernt,
und dass er, um überhaupt noch etwas aus mir zu machen, sehr
streng gegen mich sein müsse. <Nein,> sagte ich zum Hofrath,
cdas thun Sie nicht ! In Güte können Sie mit mir machen, was
Sie wollen ; mit Strenge aber werden Sie nichts bei mir ausrichten,
das versichere ich Sie I » Der Hofrath reichte mir die Hand und
sagte: «Braver junger Mann, ich halte Sie beim Wort und ver-
sichere Sie meinerseits, dass, wenn Sie immer offen und wahr gegen
mich sind, ich keinen Grund zur Unzufriedenheit geben werde. >
Mein Schwager sagte ijim lachend: «Das ist ein infamer Junge,
wie untersteht er sich, so etwas zu sagen I» Döllen aber ant-
wortete : «Nein, das gefällt mir gerade von ihm, > und sich zu mir
wendend, sagte er: «Bleiben Sie nur dabei: immer die Wahrheit
rein heraus 1»
Vier Jahre bin ich bei J *öllen und während dieser Zeit wirk-
lich sehr fleissig gewesen, so dass, was ich überhaupt weiss und
geworden bin, ich einzig und allein dem alten Hofrath und seiner
Schule zu verdanken habe. Döllen hatte eine vortreffliche Art,
mit seinen Schülern umzugehen. Alle fürchteten, aber liebten
ihn auch.
Wir wohnten damals an der «Grossen Strasse», im Hause
des Bäcker Feierabend, welches jetzt Derschau-Garrosen gehört.
Auf dem Boden, an einem Ende, war ein Zimmer, das mir und unter
meiner speciellen Aufsicht Ernst S. abgegeben war; die anderen
sechs Pensionäre, von denen jeder 300 Thaler =. 400 Rbl. Schul-
und Pensionsgeld zahlte, wohnten in den unteren Räumen. S. war
ein sehr wenig begabter Knabe und wurde von seiner Mutter sehr
verwöhnt. Bei jeder Gelegenheit schickte sie ihm Näschereien,
gelben Kringel, Säfte, Obst &c. Er war aber entsetzlich geizig,
hielt alles fest verschlossen und gab niemals etwas ab. Ich konnte
den Jungen überhaupt nicht leiden und litt ihn jetzt noch desto
weniger. Zum Glück war er sehr furchtsam, besonders vor Ge-
spenstern und ging über den Boden, wenigstens im Dunkeln, unter
keiner Bedingung allein. Auf einem Streckbalken dieses Bodens
hatte ich ein grosses schwarzes Kreuz hingemalt. Nun kaufte ich
Rosinen oder Schmandkuchen, stieg auf einen Stuhl und legte die
Hälfte davon über das Kreuz auf den Balken, alles in seiner
Gegenwart. «Warum thun Sie das?» fragteer. Ich sagte: «Um
in der Nacht Ruhe zu haben, denn da, wo das Kreuz ist, da hat
ein ungeheuer geiziger Kerl Harpax sich aufgehängt und der macht,
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Rin Jugendleben' aus Alt-Kurlands Tagen. öl
wenn ich ihm nichts von meinen Näschereien abgebe, immer in der
Nacht einen furchtbaren Lärm !> Es hatte nämlich einige Nächte
vorher ein anderer Pensionär heraufkommen und auf dem Boden
Lärm machen müssen, um ihn gehörig einzuängstigen. Das half
aber doch wenig. Da übernahm es ein Schüler, Ernst P., am
Abend hinzukommen, kletterte auf die Bretter, die über dem obersten
Querbalken lagen und liess, wenn ich mit S. zur bestimmten Stunde
hinaufkam, durch eine Ritze zwischen zwei Brettern ein weisses
Bettlaken heruntergleiten und zog dasselbe schnell wieder hinauf,
so dass S. dasselbe durchaus für einen Geist hielt. Hiernach gab
er mir jedes Mal etwas von seinem Obst oder anderem Naschwerk
und bat mich, das für Harpax da hinaufzulegen, er hätte Angst,
selbst hinaufzusteigen. Natürlich that ich es. Aber ich kann
nicht behaupten, immer die ganze Hälfte hinaufgelegt zu haben.
Es war ja auch dunkel 1 — Dieses Kunststück musste aber oft
wiederholt werden, um S. etwas freigebiger zu machen, denn er
fing an, allmählich kleinere Portionen zu geben. Eines Tages, als
ich dort nichts fand, musste in der Nacht wieder ein Pensionär
auf den Boden hinauf und Lärm machen. S. war ausser sich und
versicherte hoch und theuer, schon am Tage, als er hinuntergegangen,
mehreres hingelegt zu haben, er habe also seine Pflicht gethan,
aber Harpax rumore dennoch. Wahrheitsliebend war er, daher
glaubte ich ihm und kam auf die Vermuthung, dass ein anderer
Pensionär das Hingelegte aufgegessen hätte, und ich entdeckte
auch bald, dass es unser B. gewesen war. B. war eine ganz
eigene Persönlichkeit ; er lernte eifrig und hatte viel Kenutnisse,
aber für das gewöhnliche Leben war er sehr dumm ; man konnte
ihm die unwahrscheinlichsten Geschichten einbilden. — Gleich wurde
wegen dieses von ihm begangenen Diebstahls über ihn von uns
anderen sieben Pensionären Gericht gehalten und einstimmig be-
schlossen, dass ein solcher Fall die Competenz dieses Gerichts
übersteige, B. müsse auf die Polizei geführt und dort bestraft
werden. Um das Aufsehen in der Stadt zu vermeiden, solle das
in der Dunkelheit sieben Öhr abends geschehen. Um sieben Uhr
wurde er nun ergriffen und scheinbar abgeführt. Er bat jetzt
himmelhoch, ihm diese Schande nicht anzuthun, er weide nie mehr
stehlen ! Da wurde ihm proponirt, ein höheres Gericht, aus anderen
Schülern bestehend, zusammenzusetzen, an das er nun appelliren
könne. Er müsse aber durch sein Wort sich verpflichten, blind-
lings ohne Widerrede sich dem Urtheil dieses Obergerichts zu
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52 Ein Jugendleben aus Alt-Kurlands Tagen.
fügen ; nur unter dieser Bedingung wurde er von der Polizei frei-
gegeben. Er ging auf alles ein. Als er nun nach einigen Tagen
vor das Obergericht, das sich unterdessen constituirt hatte, vorge-
laden ward, wurde ihm das Urtheil desselben publicirt : am nächsten
Sonntage, wenn gutes Wetter sei, solle er in Ledding erschossen
werden ! Vom Wetter sehr begünstigt, gingen wir, eine Menge
Döllianer, am Sonntag mit ihm nach Ledding hinaus. Mit eiuem
Handtuch über die Brust und unter die Arme genommen, wurde
er an einen Baum gebunden, die Augen ihm mit einem weissen
Tuch verbunden und in dem Augenblicke, wo P. die Flinte neben
ihm in die Luft abschoss, warf ein anderer ihm eine Handvoll Strick-
beersaft mit aller Kraft ins Gesicht. Welch ein Schreck aber für
uns alle, als er plötzlich den Kopf sinken Hess und selbst zusammeu-
sank, so weit das Handtuch es ermöglichte. ! Wir stürzten auf ihn
zu, um ihn loszubinden, der Knoten war aber durch sein eigenes
Gewicht so festgezogen, dass es uns gar nicht so schnell gelingen
wollte, ihn zu lösen. Als es endlich gelang und wir auch die
Binde entfernten, sahen wir eine Leiche — wobei wir natürlich
auch mehr Leichen als lebenden Menschen ähnlich waren. Wir
glaubten nämlich, was doch auch nicht unmöglich war, dass er
vor Schreck gestorben sei. Nachdem er nun mit kaltem Wasser
(mit mehr, als nöthig war) bespritzt und begossen worden und end-
lich zu sich gekommen war, erkannten wir doch alle, wenn auch nicht
alle es aussprachen, dass das ein sehr dummer Scherz gewesen war.
Wie waren damals die Verhältnisse so ganz anders ! Und
wie anders sah es in jenen Zeiten auch in dem alten Mitau aus 1
Die Strassen waren nur zum Theil und mit den grössten Steinen
gepflastert. Das Fahren war geradezu eine Strafe. Die meisten
Häuser waren aus Holz und hatten vor der Hausthür nach der
Strasse zu eine geräumige Treppe, welche zu beiden Seiten von
Bäumen beschattet wurde. Hier auf der Treppe waren Bänke an-
gebracht und dort fanden sich in den Erhol ungs- und Abendstunden
oftmals die Hausbewohner und lieben Nachbarn zu einer Tasse
Kaffee oder zu gemüthlicher Besprechung der neuesten Begeben-
heiten zusammen. Zwar nahmen diese Treppen viel Raum in An-
spruch, sie beeinträchtigten jedoch weder die Fahrenden, noch die
Fussgänger, denn in der Mitte der Strasse war die Grenze jedes
Grundstückes von dem gegenüberliegenden durch besonders grosse
Feldsteine markirt, welche die Fahrenden zu vermeiden suchten,
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Ein Jugendleben aus Alt-Kurlands Tagen.
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die von den Fussgängern aber gerade bevorzugt wurden, ja es
galt für unhöflich, wenn jemand auf der Seite der Strasse, unter
den Fenstern, ging. Bürgersteige resp. Trottoirs gab es noch
nicht. Es wäre bei Regenwetter ja auch nicht möglich gewesen,
an der Seite der Häuser zu gehen, denn die Dachrinnen liefen
nicht bis nach unten, sondern spritzten das Regenwasser von hoch
oben herab. Die kurze Abzugsröhre pflegte in einen sehr bunt
gearbeiteten Drachenkopf zu enden, welcher das Wasser aus seinem
Rachen weit hinausspie. Zum Gehen waren die Strassen damals
oft trockener als heute, weil das Wasser von den grossen Steinen
rascher ablief, und wenn es sich auch in den Zwischenräumen etwas
sammelte, so konnte man doch immer von einem grossen Stein
zum anderen springen. Eine Wasserleitung aus dem Canai existirte
nicht, jedes Haus musste sich das Wasser für Geld aus der Drixe
oder der Aa holen lassen. Daher war angeordnet, dass jedes
Haus unter seiuer Dachrinne ein grosses Holzgefäss hatte, um in
dieses das Regen wasser aufzufangen, damit bei etwa ausbrechendem
Feuer Wasser vorhanden sei. Alsdann wurden dieselben auf
Schleifen, die sowol vorn als hinten eiserne Haken hatten, ange-
schmiedet. Brach Feuer aus, so wurde an diese Haken ein Pferd
gespannt und das Wasser auf solche Weise zum Brandplatze
geschafft.
Ueber jeder Haustliür war ein Fenster und in diesem eine
zur Hälfte ins Vorhaus, zur Hälfte in die Strasse hervorragende
Laterne angebracht, in welcher mit Beginn der Dunkelheit jeder
Hausbesitzer verpflichtet war, ein Licht brennen zu lassen. Dieses
Licht war gewöhnlich nur eine sogenannte Wasserkerze, welche schon
au und für sich dunkel brannte, durch das Prasselu aber die Scheiben
mit Talg bespritzte und dadurch noch weniger leuchtete. Das
war die ganze Strassenbeleuchtung, die auch nur bis zehn Uhr
abends dauern durfte, denn dann schnarrte der Nachtwächter ein
Mal und sang darauf «Hört, ihr Herren, lasst euch sagen, uns're
Glock' hat zehn geschlagen, bewahret euer Feuer und Licht, auf
dass euerm Nachbar und euch kein Schade geschieht !» und schnarrte
nun zehnmal. Bei jedem Stundenschlage sang er ein anderes Lied.
Um eine Feuersbrunst anzuzeigen, schnarrte er ununterbrochen.
Galloschen existirten nicht und Fuhrleute waren, wenn ich
nicht sehr irre, zwei oder drei in ganz Mitau, mit ganz abscheu-
lichen Droschken, mit denen kein anständiger Mensch zu fahren
wagte. So ging ich denn auch stets — selbst zum Balle, in
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Ein Jugendleben aus Alt-Kurlands Tagen.
kurzen Hosen, seidenen Strümpfen und Schuhen, deren Sohleu von
sämischeni Leder waren, weil in solchen sich leichter tanzen lässt,
zum Club, oder wo es gerade zu tanzen gab ; auch zum Casino,
und kam stets rein an ! Wie ich das angefangen, begreife und er-
innere ich mich nicht. Nur einmal entsinne ich mich unterwegs
der Dunkelheit wegen so verunglückt zu sein, dass ich zum Um-
kleiden nach Hause eilen musste. — Man tanzte damals, beiläufig
bemerkt, sehr viel und sehr gern. Vor sieben Uhr abends begann
der Ball und dauerte bis spätestens um Mitternacht. Ein wie
grosser Unterschied zwischen soust und jetzt vorhanden ist, sieht
man am deutlichsten daraus, dass damals sich die jungen Herreu
auf jeden in Aussicht stehenden Ball freuten. Man machte damals
auch weit geringere Ansprüche und war trotzdem viel fröhlicher.
War abends Gesellschaft, so wurde selbst in den reichsten Häusern
den Gästen nie etwas anderes gereicht als auf zwei Theebrettern
Butterbrode, mit Kalbsbraten und mit Salzfleisch belegt. Ein
dritter Diener brachte noch eine Platte mit schon gefüllten Wein-
gläsern. Man trank stets Pontac. Alles war also sehr einfach,
aber das Haus dennoch voll von Gästeu und jedermann fröhlich
und guter Dinge.
Ueber Mitau führte in jenen Zeiten die Hauptstrasse vom
Auslande nach Petersburg, aber trotzdem war es besondere im
Herbst und Frühling wie eine Insel fast gänzlich ohne Verbindung,
weil die Wege in Kurland und besondere in der Nähe Mitaus ganz
ausserordentlich schlecht waren. An vielen Stellen waren die Wege
durch nichts markirt. Jeder fuhr links oder rechts, wo er glaubte
besser fahren zu können. Ich erinnere mich, dass, als ich im
Pastorat Siuxt in der Schule war. der Pastor seine Gemeinde von
der Kanzel herab bat, aus Rücksichten für ihn, da er so oft nach
Mitau fahren müsse, doch die grossen Steine von der grossen Land-
strasse wegzuräumen. Bei Klein-Buschhof unweit Mitaus war tiefer
Sand und eine Masse grosser Steine; da der Weg nicht durch
Gräben begrenzt war, so waren dort in einer Breite von gewiss
über 100 Faden mehrere Wege zu gehen. So war es auch an
mehreren anderen Stellen, ganz besondere zwischen Mitau und dem
Griwenschen Kruge. Da waren wirklich unzählige Wege in dem
schrecklich tiefen Sande zu sehen. Auf der ganzen Fläche
zwischen den beiden Wäldern waren durch Sturm und Wind zu-
sammengewellte Sandhügel, zwischen welchen die vielen Wege
neben einander führten.
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Im Frühjahr war bei Mit au nach der Tuckumsohen Seite bis
zu dem von dort aus rechts an der Strasse gelegenen Gesinde
alles überschwemmt. Kam man von Tuckum aus, so musste man,
je nachdem das Wasser tief war, durch das Gesinde selbst oder
über dessen Felder bis auf die Doblensche Strasse hinausfahren.
Es war dies die Hauptstrasse, die ins Ausland führte, auf welcher
man sich so durchmanövriren musste. Grösste Schwierigkeit bot
hier das Uebersetzflöss über die Griwe. Da dieses nur zum Ge-
brauch für den Herbst und das Frühjahr nöthig war, so war es
auch ganz ohne besondere Sorgfalt gebaut und sehr klein. Ich
habe es nie anders getroffen, als dass, wenn ich bis zu dieser
Stelle gekommen war, schon viele Equipagen und Fuhren warteten
und also auch früher als ich expedirt wurden. Oder das Floss
stand beim Griwenkruge, die Leute waren im Kruge, und nun
musste man auf eine Entfernung von ca. '/t Werst schreien und
rufen, bis die Leute uns endlich abholten. Dann begab man sich
auf das wirklich in vieler Beziehung gefahrvolle Floss, welches
mit langen Stangen bis auf die Griwebrücke gefahren wurde. Es
ist öfter vorgekommen, dass durch Sturm und die starke Strömung
des Wassers das Floss mit allem, was darauf war, der Brücke
vorbei den Fluss hin untergetrieben wurde. Auf der Mitte der
Brücke, welche aus dem Wasser hervorragte, wurde man abgesetzt
und musste hier warten, bis die Leute vom Rathskruge aus den
Reisenden mit einem ebenso jämmerlichen Floss abholten und beim
Rathskruge absetzten. Von hier suchte man nun von den vielen
schon erwähnten Wegen sich den besseren aus bis zu den Monu-
menten von Tetsch und Schwander bei Mitau. Wie der Weg hier
und zwischen den Häusern der Vorstadt bis zur Stadt beschaffen
war, ist wirklich nicht zu beschreiben. Man denke sich den ganzen
Weg, welcher ca. sechs Fuss niedriger war als die von beiden Seiten
gelegenen Heuschläge, von einem Ende bis zum anderen wie dünne
Dickegrütze, und wenn die Frühjahrssonne ihn schon trocknete,
wie dicke Dickegrütze. Im Frühjahr war er daher am schlechte-
sten. Grosse Wagen, d. h. Wagen mit sehr hohen Rädern, sanken
bis zur Achse hinein, Bauerwagen aber noch weit tiefer. Mit den
kräftigsten Pferden konnte man nicht, ohne mehrere Male anzu-
halten und sie sich erholen zu lassen, in einem Zuge von dem
einen Ende bis zum anderen fahren. Ehe man sich in diese Grütze
begab, hielt jeder schon gewitzigte Kutscher, ohne dass man es
ihm befahl, an, übersah seinen Anspann, ob auch alles fest und
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Ein Jugendleben aus Alt-Kurlands Tagen.
gut gebuuden war, um diese Passage aushalten zu können. Jeder
russische Kutscher bekreuzigte sich zuvor dreimal. Dessen unge-
achtet sah man jedes Mal mehrere Equipagen, denen ein Unglück
passirt war. Man kann sich denken, wie viel Zeit man brauchte,
bis man diese ganze Strecke mit dem zweimaligen Uebersetzen &c.
zurücklegte. Und alles dieses ist nichts im Vergleich zur Passage
im Spätherbst. Unter ein paar Stunden konnte ein Bauer mit
seinem schwachen Pferde die Strecke von der Stadt bis zu den
Monumenten, ca. 2 Werst, nicht zurücklegen, der Koth fror in
dieser Zeit an seine Räder fest, und er hätte nicht weiter fahren
können, wenn er für solchen Fall nicht schon ein Beil mitgenommen
hätte ! Mit grossen Equipagen war es wirklich halsbrechend, in-
dem an manchen Stellen die Kruste so festgefroren war, dass der
Wagen darüber hinwegging, plötzlich aber die Räder der einen
Seite durchbrachen und nun der Wagen umfallen rausste. Der
Weg von Mi tau nach Riga sah diesem eben geschilderten sehr
ähnlich. Im Sommer tiefer Sand, im Herbst und Frühjahr fürchter-
licher Koth. Man fuhr nach Riga nie, ohne wenigstens einmal
seine Pferde zu füttern, in der Regel aber nächtigte man. Wer
diese Wege von damals nicht gekannt hat, wird sich kaum eine
Vorstellung von der Beschaffenheit derselben machen können und
meine Beschreibung für übertrieben halten.
Es ist vielleicht nicht überflüssig, auch an die vielen Münz-
sorten zu erinnern, die in meiner Jugend bei uns sämmtlich im Gange
waren. Ich will versuchen sie herzuzählen. In Gold gab es Dublo-
nen, Louis- und Friedrichsd'ors, holländische, Kremmnitz- und italie-
nische Ducaten, auch spanische Goldmünzen, alle von verschiedenem
Werth. In Silber und sog. Silber : neue rändige holländische Thaler
(gerade so wurden sie zum Unterschiede von den anderen Thaleru
benannt) = 1 Rbl. 33'/, Kop. S., alte Thaler = l Rbl. 20 Kop., Ort
oder Guldenstücke =30 Kop., Fünfer (die sächsischen 2 gute Groschen-
stücke und diesen ähnliche Geldstücke anderer Staaten) = 7 >/a Kop. ;
Fünfmarkstücke sahen ganz wie ein Füufer aus, nur waren sie etwas
grösser und dicker, waren krumm gebogen und galten 2 Fünfer.
Der Sechser war eigentlich eine polnische Münze, mit dem Bilde
des Königs von Polen ; jeder Fünfer aber, der kahl geworden, an
dem das Gepräge nicht mehr sichtbar war, galt auch nur einen
Sechser = 6 Kop. ; ein Dütchen oder Mark = 3 Kop. oder 2 Fer-
ding, denn 1 Ferding galt 1% Kop. Eine Münze, die in Wirk-
lichkeit gar nicht eiistirte, aber beim Handeln mit Bauern und
Ein Jugeadlebeu aus Alt- Kurlands Tageu.
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Juden gebräuchlich war, hiess Timpf und galt 3 Sechser oder
18 Kop. und ebenso war Flor eine ganz imaginäre Münze, galt
44 Kop. ; 3 Flor = l Thaler neu Albertus = 1 Rbl. 33% Kop.
und war in Obligation und Schuldverschreibungen gebräuchlicher
als Thaler. Ausser den genannten gab es auch verschiedene Kupfer-
münzen und russ. ßank-Assignationen von verschiedener Grösse,
50, 100, 1000 Rbl. Ursprünglich sollte jeder ßancorubel einen
Silberrubel gelten, variirte aber sehr bald im Course. So lange
ich zurückdenken kann, wechselte der Cours täglich zwischen
350 und 375 Rbl. ßanco = 100 Rbl. S. Da alle Kronsabgaben
nach dem Course, den der Staat für die Zeit festsetzte, mit Bank-
noten bezahlt werden mussten und diese im gewöhnlichen Gesehäfts-
leben nicht gebräuchlich waren, man sie also immer, wenn man
ihrer bedurfte, einwechseln musste, so gab es eine, Menge jüdischer
Wechsler, die sich hierdurch grossen Vortheil machten. Zwischen
je zwei Pfeilern der ganzen ßudenreihe und ausserdem an den
Ecken der Hauptstrassen Mitaus standen Wechselbanken. Das
waren grosse Tische, auf der Mitte derselben ein von Eisendraht
geflochtener ca. vier Qu.-Fuss grosser und etwa sechs Zoll hoher
Kasten, welcher an den Tisch angeschlossen stand, wenn hier im
Augenblick nicht Geld gewechselt wurde. In oder vielmehr uuter
diesem durchsichtigen Kasten standen die verschiedenen Münz-
sorten, die man hier einwechseln konnte. Natürlich musste mau,
was man auch wechselte, dem Wechsler immer Agio (oder, wie es
damals hiess, Lage) zahlen. Während der Johanniszeit hatten
diese einen unglaublichen Gewinn. Musste z. B. jemand Thaler
empfangen, hatte aber seinen ausgestellten Schuldschein mit einer
anderen Münzsorte einzulösen, so war er genöthigt, diese einzu-
wechseln. Diese Wechseltische waren daher den ganzen Tag so
stark besetzt, dass man kaum ankommen konnte, dem Juden seine
Wechselprocente zukommen zu lassen. Auch deshalb war immer
viel Geld zu wechseln, weil jeder Mensch seine jährliche Einnahme
in den Geldsorten, wie sie eingekommen waren, bis zum Johannis-
geschäft baar bei sich in der Chatoulle aufbewahrte.
Kamen die Gutsbesitzer zu Johannis nach Mitau eingefahren,
so folgte ihrer Equipage auf einem besonderen Wagen der Geld-
kasten, den zwei oder vier mit Flinten und Hirschfängern bewaffnete
Leute zu Pferde begleiteten. Diesem folgten ein paar Fuder Heu
und Hafer, dann wieder eine Fuhre mit allerlei Victualien für
Herrschaften und Leute für die Johauniszeit ; denn jede Familie
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Ein Jugendleben aus Alt-Kurlands Tagen.
Hess zu Hause kochen. Wer in der Stadt kein eigenes Haus oder
kein Quartier für die Winterzeit hatte, schleppte auch alles Küchen-
geräth, Bettstellen und Bettzeug für die Zeit seines Aufenthalts
mit. Zu Johannis kam alles nach Mitau, denn alle Geldzahlungen,
Contracte, Dienstverträge &c. wurden immer nur zu Johannis ge-
macht. Und zu sehen und zu hören gab es hier wie in der grössten
Stadt. Denn alles, was von Berlin &c. nach Petersburg und
Moskau reiste, musste über Memel und Mitau dahin. Alle be-
rühmten Schauspieler, Virtuosen, Seiltänzer, Jongleurs und was
dergleichen richtete sich immer so ein, dass sie auf ihrer Durch-
reise die Johannissaison hier mitnahmen. Das war für Kurlands
Söhne und Töchter von grosser Wichtigkeit ; sie bekamen die aus-
gezeichnetsten Künstler hier alle zu sehen und zu hören, ohne
deshalb mit grossen Kosten Reisen ins Ausland machen zu müssen.
Das Theater war stets ausverkauft. Hierzu waren mehrere Gründe.
Es war mit guten Schauspielern besetzt, welche die vom Lande
eingekommenen Eltern selbst sehen und ihren Kindern zeigen
wollten. Und sehr viele andere, die gar nicht in der Absicht, ins
Theater zu gehen, bis dahin gegangen waren, gingen auch hinein,
wenn da noch so viel Platz war. Es war nämlich hier auch eine
grosse Liebhaberei für schöne Pferde und Equipagen, um mit diesen
zum Theater zu fahren und sie dort bewundern zu lassen. Alles
fuhr mit vier Pferden lang gespannt und einem Vorreiter. Der
Kutscher auf dem Bock musste durchaus einen schönen langen
Bart haben, der Vorreiter auf dem rechten Vorderpferde ein mög-
lichst kleiner Junge sein und wenn die Equipage fuhr, sehr laut
schreien: «Pagi, pagi 1 Hee !> Dieses «Hee!» musste er mög-
lichst lang dehnen, je länger er das ausdehnte, desto schöner
war es. Mit solchen Equipagen fuhr man die Damen zum Theater ;
wenn diese auch nicht hätten hin wollen, so mussten sie, denn
man wollte seine Pferde zeigen. Am Theater stieg man aus, die
Damen gingen hinein, die Herren aber blieben draussen stehen,
um die anderen Equipagen zu sehen, sie zu bewundern oder zu
tadeln — und erst wenn alles angekommen und hineingegangen
war. gingen sie, weil sie nicht wussten, wo sonst hinzugehen, auch
hinein. Zum Wegfahren versammelten sich wieder die nachkommen-
den Wagen, die nach der Zeit, wie sie angekommen waren, einer
hinter dem anderen halten mussten. Sehr oft habe ich gesehen,
dass auf diese Art der erste Wagen an der Theaterthür hielt und
der letzte Wagen auf dem Markte ganz in der Nähe der Mühle
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Ein Jugendleben aus Alt-Kurlands Tagen.
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stand. Die Reihe, in der sie standen, ging nämlich vom Theater
längs der Manege zur Strasse an der Drixe und diese entlang bis
zur Schlossstrasse, dann rechts durch die ganze Schlossstrasse über
den Markt bis zur Mühle, oder wieder bis zum Theater ! Es
dauerte immer Stunden, bis alle weggefahren waren ; denn wenn
ein Wagen vorgefahren war und die Polizei die Herrschaften drei-
mal abgerufen hatte, so musste er wieder fort und der folgende
vorfahren. Vom Theater fuhr alles zum einzigen öffentlichen
Garten, dem Offenbergschen in der Schreiberstrasse. Der Garten
war recht gross, aber nur der einzige grosse Gang wurde von den
anstandigen Leuten besucht, daher war dieser so gedrängt voll,
dass zwei Menschen nicht Arm in Arm, sondern nur einer hinter
dem anderen sich von einem Ende bis zum anderen durchdrängen
konnten, und wenn sie dieses einmal hin und zurück gethan hatten,
so war es unterdessen sinkende Nacht geworden und alles fuhr
nach Hause. — Im Laufe der drei Johannistage machte alles seine
Geschäfte, d. h. Geldzahlungen &c. Am ersten Tage weniger, weil
niemand sich zu sehr von Geld entblössen wollte, daher nicht eher
auszahlte, als bis er das, was er zu bekommen, eingenommen hatte.
Deshalb entstanden — so lange ich denken kann — immer Stockungen
im Geschäft; immer hörte man darüber klagen, dass der und der .
noch nicht zahle ! Hatte jemand eine Capitalkündigung bekommen,
so suchte er bei dem oder jenem Geld aufzunehmen ; entweder wurde
es ihm ganz abgeschlagen, oder er bekam zur Antwort : tWenn
ich mein Geld einbekomme, so werde ich es Ihnen geben.» Der
die Aufsage bekommen, zahlte aus Aerger, wenn er das Geld auch
flüssig hatte, gewiss nicht vor dem letzten Termin, d. h. am dritten
Johannistage vor Sonnenuntergang ; und hatte er es nicht, so
konnte er es natürlich gar nicht zahlen — was jeden Johannis mit
einzelnen Personen geschah ; dann cedirte er bonis. Wenn nun
solche Stockungen im Geschäft eintraten, so war es ein allgemeiner
Jubel, wenn man hörte, dass N. N. zu zahlen angefangen habe !
Von dem Moment an sah man die Leute mit Geldsäcken die
Strassen hin und her laufen ; auch Fuhrleute auf Fuhrwagen Geld
in Säcken, auch in kleinen Fässchen von Haus zu Haus führen.
Am dritten Johannistage, also am 14. (26.) Juni vor Sonnenunter-
gang, mussten alle Zahlungen — bis auf Budenrechnungen, die
erst am vierten Tage bezahlt wurden — gemacht sein, oder der
säumige Zahler wurde sofort ausgeklagt und über sein Vermögen
wurde der Concurs verhängt. Solche Fälle kamen jeden Johannis
60
Ein Jugendleben aus Alt-Kurlands Tagen.
vor. Wirklich reiche Leute kamen ohne ihr Verschulden iu Con-
curs. Das ging sehr natürlich zu. Bekam jemand Aufsage, d. U.
wurde ihm ein Capital, gross oder klein, gekündigt, und es war bei
aller Sicherheit, die er bieten konnte, ihm nicht möglich, die ihm
gekündigte Summe dargeliehen zu erhalten, so musste er falliren.
Und sehr oft fallirte deshalb auch sein Gläubiger, weil er dadurch
ausser Stande gesetzt wurde, seinen Zahlungsverbindlichkeiten nach-
zukommen. Die Advocateu wurden dadurch wohlhabend !
Doch ich kehre nach diesen Excursen zu den Erlebnissen
meiner Jugend, zur weiteren Schilderung meiner Schuljahre zurück.
Da erinnere ich mich besonders lebhaft eines Geburtstages des
Hofraths Döllen. Als derselbe heranrückte, traten die Schüler zu-
sammen und beriethen, was man ihm diesmal schenken sollte, da
er in früheren Jahren schon Tisch- und Theeservice, und was man
sonst nur erdenken konnte, erhalteu hatte. Im hohen Rathe wurde
beschlossen, ihm ein Reitpferd zu schenken mit Sattel und Zeug,
und mir wurde der Auftrag, das alles zu kaufen, was ich natürlich
denn auch gethan. An dem Geburtstage war nach anhaltendem
Regen schönes Wetter. Die ganze Schule zog in Procession an
Döllen heran, gratulirte ihm und bat ihn, das Pferd mit Sattel
und Zeug als Geschenk der Schüler entgegenzunehmen und gleich
bei diesem schönen Wetter mit uns und den Lehrern zusammen
einen Spazierritt nach Ledding zu machen. Als es nun dazu kam,
dass Döllen das Pferd besteigen sollte, sagte er sehr verlegen, dass
er eigentlich noch nie auf einem Pferde gesessen hätte und diese
Tour lieber zu Fuss machen möchte. Der Dr. ß. würde statt
seiner gewiss sehr gern das Pferd versuchen. Das that nun B.
auch. Ausserhalb der Stadt aber war vom Tage zuvor eine grosse
Pfütze auf der Landstrasse, und als das Pferd in der Mitte der-
selben war, kratzte es erst mit dem einen, dann mit dem anderen
Fusse und legte sich plötzlich mitten hinein 1 ß., der nicht zur
rechten Zeit vom Pferde herabsprang, wurde nun mit dem einen
Bein vom Pferde angedrückt und zu allgemeinem Bedauern auch
stark durchnässt. Döllen meinte, dieses Gebahren des Pferdes
müsse doch eine Untugend desselben sein und bat mich, der ich
vier Stunden in der Woche iu der Manege Unterricht im Reiten
nahm, das Pferd mit mir in die Manege zu nehmen, um es da wie
gehörig zu dressiren. Der Stallmeister aber meinte, dass das Thier
krank sei und frisches Gras sehr wohlthuend wirken würde. Wor-
auf Döllen mich aufforderte, da ich zu den Pfingstferien nach
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Ein Jugendleben aus Alt-Kurlands Tagen. 61
Wilxaln zu meiner Schwester fahren sollte, es mitzunehmen und
dort auszucuriren. Pfingsten war da, ich sattelte das Pferd, ritt
den ersten Tag bis Grausden zu meinem Onkel, der das Pferd
auch für krank erklärte, uud am nächsten Tage bis Wilxaln, wo
das Thier durch Gras gesund werden sollte ; aber schon am anderen
Tage hatte, es «ins Gras gebissen», d. h. es war crepirt!
In dieser Zeit waren mehrere Rekruten in Mitau entsprungen
und zogen unter Anführung des Maurers Jurre, welcher von meinem
Schwager aus Wilxaln zum Soldaten abgegeben worden war, als
Räuber von Wald zu Wald im Lande umher. So waren sie auch
zum Neumokschen Walde gezogen, von wo aus der Jurre in
den Hof Wilxaln gekommen war und einen Faden Holz, der am
Ende der Herberge aulgestapelt lag, schon angezündet hatte, als
er zum Glück von drei herankommenden Leuten verjagt und das
Feuer noch rechtzeitig gelöscht wurde. Unter diesen drei Leuten
war auch der riesengrosse und starke Kutscher, der, als mein
Schwager ihn am anderen Morgen fragte, warum er den Jurre
nicht ergriffen, da sie doch drei waren, antwortete: «Wer darf
einen Solchen wol anfassen?!» Mein Schwager war wüthend auf
ihn und sagte, indem er sich zu mir wandte: «Du, Peter, hättest
ihn gewiss angefasst und wärst auch allein mit ihm fertig ge-
worden?!» — An demselbeu Tage wollte ich Fels besuchen (den
früheren Jäger meines Vaters, dem er bei seinem Ableben den
Namen Fels beigelegt und ihm die Freiheit geschenkt hatte), der
hatte den an der Tuckum-Talsenschen Strasse belegenen Wilxaln-
schen Krug in Arrende. Die beiden Bruderssöhne meines Schwagers,
Emst und Karl, ungefähr 10 und 12 Jahre alt, kamen mit mir.
Als wir durch den Wald, schon ganz nahe am Kruge waren, sprang
Jurre, uns freundlich zurufend: «Guten Tag, Jungherrchen!» aus
dem Walde heraus und fragte nach dem Herrn, nämlich meinem
Schwager 0., ob der zu Hause sei. Er. der Jurre, würde nicht
mehr so dumm sein, allein in den Hof zu gehen, er würde mit
seinen Leuten, die er hier im Walde habe, nach Wilxaln gehen
und dem alten Herrn das Haus über dem Kopf abbrennen ! Ich,
in dem Augenblick der Worte gedenkend, die mein Schwager zu
mir sprach, als der Kutscher antwortete: «Wer darf einen Solchen
anfassen?!» fasste im selben Augenblick ihn mit einer Hand hinter
die Halsbinde, warf ihn zu Boden und schnürte ihm den Hals,
damit er nicht schreien könne, so fest, dass er seine Zunge buch-
stäblich blau aus dem Halse herausstreckte und ich mit dem Würgen
02 Ein Jugendleben aus Alt-Kurlands Tagen.
etwas nachlassen musste, um ihn nicht vollständig zu erdrosseln.
Die beiden Kinder schickte ich eiligst in den Krug, um Hilfe her-
bei zu rufen; aber sie hatten sich fest an meine Kleider ange-
klammert, weinten bitterlich, gingen nicht von der Stelle und liessen
mich auch nicht los. Zum Glück kam ein Bauer gefahren, der
mir helfen wollte ; ich aber, mich auf mich salbst verlassend, bat
ihn, rasch zum Kruge zu fahren, um von dort Hilfe zu schaffen.
Gleich darauf kam auch Fels mit vier Knechten angefahren, diese
packten und hoben den wirklich halbtodten Kerl in den Wagen
und brachten Um direct zum Hauptmannsgericht nach Tuckum.
Zu Hause angekommen, erzählte ich den ganzen Vorfall meinem
Schwager. Er und meine Schwester fuhren sofort nach Tuckum
und ich musste mit, um dort genau den Hergang zu erzählen und
die allseitigen Belobigungen über meine Heldenthat entgegen zu
nehmen. Ganz Tuckum und die Umgegend waren darüber er-
freut, dass der berüchtigte Jurre endlich festbekommen war.
Nach Mitau zurückgekehrt empfing mich mein alter Hof-
rath, der auch schon von dieser Geschichte gehört hatte, mit vielen
Lobsprüchen über meinen Mnth und machte mich dadurch in der
Rede, die ich mir ausgedacht hatte, um ihm den Todesfall seines
Pferdes beizubringen, ganz confus. Ich fing an, räusperte mich
erst, hustete dazwischen etwas und sagte ihm, dass das Pferd
offenbar schon hier krank gewesen sein müsse, ich es mit der
grössten Vorsicht geritten, es aber doch am nächsten Tage schon
crepirt sei. Worauf Döllen mit einem sehr erfreuten Gesicht ant-
wortete : cSie konnten mir keine erfreulichere Nachricht bringen !
Der Besitz des Thieres hat mich nur in grosse Verlegenheit ge-
setzt; denn weder habe ich Stallraum noch Futter fürs Pferd,
noch einen Knecht zur Pflege des Thieres. Auch das Reiten ist
mir unangenehm, ich weiss nicht, ob ich in meinem ganzen Leben
zwei bis drei Mal ein Pferd bestiegen. Gottlob, dass es todt ist! 9 So
sehr ich mich auch freute, dass Döllen die Todesnachricht so freudig
aufnahm, so sehr schämte ich mich auch, nicht früher daran ge- •
dacht zu haben, ob ein solches Geschenk, wie ein Pferd (welche
Idee von mir ausgegangen war), ihm auch angenehm sein würde.
Die Pfingstferien waren vorüber und die Schule nahm wieder
ihren Anfang. In der Schule waren als Lehrer angestellt: Pro-
fessor und Director des Gymnasiums Libau ; Professor Groschke,
Professor Perlmann, Professor Bilterling und Professor Trautvetter ;
ausser diesen die beiden Gebrüder Bieleustein, der französische
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Ein Jugendleben aus Alt-Kurlands Tagen. 03
Sprachlehrer Toury, der russische Sprachlehrer Wolochotzki, der
Singlehrer Conrector Kahn, der Zeichenlehrer Knebusch und der
Tanzlehrer Iwensen. Alle Jahre war ein vierzehn Tage andauern-
des öffentliches Examen, dem immer sehr viele Damen und Herren
beiwohnten. Toury wollte mit seinem französischen Unterricht
brilliren und sagte daher schon im voraus jedem Schüler, welchen
Act aus der Maria Stuart er ihn werde übersetzen lassen. So
hatte sich ein jeder von uns auf den Act, aber auch nur auf diesen
einen Act, prftparirt. Mich konnte er nicht leiden, und als eines
Tages recht viel Zuhörer, namentlich Damen da waren Hess er
meinen Vormann nur den halben Act übersetzen und rief nun mir
zu: t Draehenfels, übersetzen Sie weiter !> Ich liess mich nicht
decontenenciren, übersetzte nicht weiter von da an, wo mein Vor-
mann stehen geblieben war, sondern fing gleich mit dem fünften
Acte an und als er mir das verwies und verlangte, dass ich an
der bezeichneten Stelle fortfahren solle, antwortete ich ihm, so
schwer es mir auch wurde, mit einem sehr dummen unschuldigen
Gesichte: «Sie haben ja, Herr Toury, einem jeden vorher gesagt,
zu welchem Acte er sich zum heutigen Tage zu präpariren habe und
mir namentlich gesagt, dass ich die drei ersten Scenen des fünften
Actes würde zu übersetzen haben ; daher habe ich auch mit dem
fünften Acte angefangen ! Es ist ja heute nicht anders geschehen
als wie im vorigen Jahre und wie immer.» Nun wurde er erst
recht boshaft auf mich ; aber vom Hofrath Döllen hat er dafür zu
hören bekommen!
In der ersten Klasse war eines Tages, als die Uhr schon ge-
schlagen hatte, der Professor Perlmann noch nicht gekommen ; ich
spielte mit dem Katheder, bog es von der einen Seite zur anderen
und rief nun ganz plötzlich dem Mitschüler B. zu: < Rasch, rasch,
kriechen Sie hier unter !> «Warum ?» fragte er. «Das wird ja sehr
komisch sein,» antwortete ich, «wenn der Professor kommt und Sie
unter dem Katheder liegen.» In dem Augenblick war B. unter-
gekrochen. Als ich das Katheder über ihn zurechtstellte, fiel mir
ein, dass er doch so ersticken könnte ; es wurde also ein Stück
Holz untergeschoben, damit er mehr Luft habe. In diesem Augen-
blick kam Perlmann herein, fand die ganze Klasse lachend und
fragte, wozu das Holz da untergelegt sei, es solle gleich heraus-
genommen werden. Ich sagte ihm: «Herr Professor, man kann
das Holz nicht herausnehmen.» «Wie so, warum nicht?» fragte
er. «Weil der, der da unten liegt, ersticken könnte!» — «Da
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04 Ein .Tugendleben ans Alt-Kurlands Tagen.
unten liegt? Wer liegt denn da unten?» den werde Ihnen gleich
zeigen, Herr Professor,» sagte ich und bog das Katheder zur Seite ;
da guckte Perlmann hin und rief ganz erstaunt: «B., B., was
machen Sie da?» Nachdem der nun herausgekrochen war, fragte
er ihn nochmals: «Wozu waren Sie untergekrochen? Was wollten
Sie da?» Da antwortete dieser: «Ja, Drachenfels sagte, es würde
sehr komisch sein, wenn Sie kommen und ich unterm Katheder
liege!» «Ja,» sagte Perlmann, «da hat Drachenfels wol ganz
Recht, ich finde es auch sehr komisch und finde auch, dass Ihr
Onkel, der Advocat M., wie- er mir vor einigen Tagen sagte, sehr
recht daran thut, Sie von hier herauszunehmen, weil Sie hier sehr
gemopst werden !> Das war derselbe B., welchen wir einige
Wochen vorher in Ledding todtgeschossen und durch kalte Waschun-
gen wieder ins Leben zurückgerufen hatten!
Der polnische Edelmann Ignatzki war mit seiner Räuberbande
eingefangen und sass in Mitau im Gefängnis.
Der Krieg war ausgebrochen. Als der Feind sich schon der
Stadt genähert, flüchtete eine Menge Familien aus Riga und Mitau
aufs Land und vom Lande wieder eben so viele in die Stadt. Alle
Archive aus den Behörden, sowie die Kronscassen wurden nach
Riga geschafft. Als der Gouverneur Sivers mit dem letzten Train
der Garnison und den Gefangenen aus den Gefängnissen aus Mitau
nach Riga abzog, wurde er von einer Menge Volks, zu dein auch
ich gehörte, bis über die Brücke hinausbegleitet. Einige hundert
Schritte hinter der Brücke blieb der Zug plötzlich stehen, man
sah eine grosse Bewegung, mehrere Menschen sprangen von der
Strasse über den Graben auf die Wiese und ebenso wieder zurück
auf die Strasse; plötzlich knallten Schüsse aus allen Flinten der
Soldaten und der ganze Zug bewegte sich nun weiter fort nach
Riga. «Was ist da geschehen?!» «Was bedeutet das?!» so
fragte einer den anderen im Volke, bis wir endlich erfuhren, dass
der Gouverneur den Ignatzki mit seinen fünf Hauptmitschuldigen
dort auf der Wiese an sechs dazu eingerammte Pfosten habe binden
und erschiessen lassen. — Dass der Gouverneur Sivers, ohne höheren
Befehl, sechs überführte Mörder und Räuber lieber erschiessen
Hess, als sie, als unnütze Esser, in die von Feinden belagerte Stadt
Riga einzuführen, wird er gewiss vor Gott verantworten können,
wie aber der General Essen, der damalige Kriegsgouverneur von
Riga, es vor Gott verantworten wird, dass er damals, als der
Feind noch entfernt, nicht einmal in Mitau war. ganz ohne Grund
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Ein Jugendleben aus Alt-Kurlands Tagen. 65
die Mitausche Vorstadt abbrennen liess und dadurch tausende von
Menschen um ihr Hab und Gut brachte, weiss ich nicht!1
Nach Mitau kam nun der Feind :.Preussen, Bayern, Franzosen
und Italiener. Ein paar Wochen darauf bemerkte man plötzlich
eine grosse Unruhe in der Stadt, Trommeln wurden gerührt, Trom-
peten geblasen, — mein Hauswirth und ich standen vor der Thür
und sprachen, was das zu bedeuten habe? als in dem Augenblicke
ein Kosak, dann ein zweiter und dritter an uns vorübersprengten. Ich
eilte auf die Strasse, mir den Spectakel näher anzusehen. In der
Poststrasse holte ein Kosak einen flüchtigen preussischen Obristen
ein, während ein russischer Ulan ihm entgegengeritten kam und
mit seiner Lanze dem Obristen so nahe an der Nase herumspielte,
dass dieser, um ihm zu entgehen, sich so weit auf den Sattel
zurückbog, bis er vom Pferde auf die Strasse hinabfiel. In dem
Augenblicke war der Ulan von seinem Pferde gesprungen und
hatte dem Obristen seine Uhr aus der Tasche gezogen, während
der Kosak des Obristen Pferd ergriffen hatte und davongeritten
war. Der Ulan setzte sich nun wieder auf sein Pferd und trieb
den gefangenen Obristen mit seiner Lanze vor sich her durch die
grosse Strasse nach dem Hotel Stein, wo ein russischer Obrist ab-
gestiegen war. Vor der Thür war eine Menge Volks, gefangene
feindliche Soldaten, Kosaken und Ulanen. Als der Kosak in meiner
Gegenwart das dem Obristen abgenommene Pferd mit Sattel und
Zeug einem Juden für zwei Thaler verkaufte und die empfangenen
Thaler in die Tasche gesteckt hatte, trat ein russischer Officier
aus der Hausthür uud befahl, die dem Obristen entrissene Uhr und
das Pferd gleich wieder zurückzugeben. Sofort ward das Pferd
dem Juden wieder abgenommen, welchem derselbe mit offenem
Munde nachsah, vom umstehenden Publicum gehörig verlacht. —
Drei Marketenderwagen waren dort auch vorgefahren. Auf dem
einen stand eine offene Tine mit Franzbröden, die die Kosaken,
auf ihren Pferden sitzend, mit den Piken sich herausholten, was
wirklich amüsant war. — Am anderen Tage war weder ein Russe
noch ein feindlicher Soldat in der Stadt zu sehen. Die Russen,
die aus Riga über Schlock den Ausfall gemacht hatten, waren mit
ca. 400 Gefangenen wieder nach Riga zurückgekehrt ; die Preussen
und die anderen feindlichen Truppen hatten sich durch die Elens-
pforte (jetzt Annenpforte) und durch die kleine Pforte zurück-
1 Vgl. für das Tliat«iichliche Dr. \V. v. Hutzelt in «Mitth. an* der livl.
«euch.* Bd. 13, Heft 2, besonder« p. 175, 193 n. 22!» ff. T>. Red.
Balti.rh» Monat-M-brill. B,1. XXXIV. Urft I. '»
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Ein Jugendleben aus Alt-Korlands Tagen.
gezogen und wagten es erst am dritten Tage, wieder mit Musik
in die Stadt einzuziehen. Am 12. December 1812 zog der Feind
für immer ab.
Im Januar 1813 verliess ich die Döllensche Schule, bezog
das Gymnasium und kam nach der Selecta. Hier aber hatte ich
das Unglück, mir schon im folgenden Monat das consiUum abeundi
in Folge eines unbedachten Jugendstreiches zuzuziehen. Ich hatte
mit einem meiner Kameraden verabredet, einem sehr anmassenden
und bei uns durchaus unbeliebten Professor einen Schabernack zu
spielen. Unser Vorhaben gelang zwar vollkommen, trug uns aber
schlimme Früchte ein. Wir wurden relegirt und zwar tauf 99 Jahre
vom Gymnasioplatze». — Im Januar 1813 war ich hingekommen
und Ende Februar war ich weggejagt!
Wenn ich nicht sehr ine, so war es der 14. März, als ich
mit dem festen Vorsatze, dort ernstlich zu studiren, zur Universität
nach Berlin reiste. Meine Freunde, Hauptmannsgerichtsassessor
W. Heyking, Peter Medem und ein Herr ßadendick, ein wissenschaft-
lich sehr gebildeter, mit Witz und Verstand begabter Mann, be-
gleiteten mich; zum Diener nahm ich den Jungen Ernst aus
Grausden mit, welcher schon einige Jahre Diener bei meinem Onkel
S. gewesen war ; da die Leibeigenen keine Familiennamen hatten,
gab ich ihm den Namen cKoch». Dieser wurde vorausgeschickt
bis zum Baecker-Kruge, um für uns das Nachtquartier zu be-
stellen. Wir fuhren am ersten Tage also nur bis dahin — 12
Werst von Mitau. Am anderen Tage wurde Ernst Koch nach
Doblen (IC Werst vom B-Kruge) vorausgesandt, da nächtigten
wir wieder. Am dritten Tage ging es bis Frauenburg (53 Werst).
Wir beschlossen gleich, weil wir eine so starke Tour gemacht
hatten, zwei Nächte da zu schlafen, was wir denn auch thaten.
Hier nahmen wir nun zärtlichen Abschied von einander, meine
drei Freunde reisten nach Mitau und ich mit meinem Ernst Koch
nach Berlin. . . .
Zunächst gelangte ich aber nur bis Memel, denn da ange-
kommen, hatte ich von den 100 Ducaten, die mein Vormund mir
zur Reise nach Berlin gegeben hatte, keinen Kopeken mehr übrig.
Was nun anfangen ? Da fiel mir plötzlich ein, bei Bienemann von
einem Hofrath Parthey, der in Memel wohne, gehört zu haben.
Im Hotel, wo ich abgestiegen war, versicherte man mich, dass
kein Mann solchen Namens in Memel wohne ; dass aber ein Hof-
rath Parthey ganz in der Nähe der Stadt ein Gut besitze, auf
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Ein Jugendleben aus Alt-Kurlands Tagen.
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dem er wohne, zuweilen nach Memel komme und in keinem
Hotel, aber bei einem oder dem anderen guten Freunde absteige.
Was sollte ich nun in meiner Geldverlegenheit beginnen ? Ich bat
den Wirth, mir einiges Geld zu leihen, er schlug es mir aber rund
ab.- Nun schickte ich meinen Ernst mit dem Befehle, nachzu-
forschen, ob Parthey da sei oder wo er zu finden wäre, und nicht
eher zurückzukommen, als bis er ihn gefunden. — Erst gegen
Abend kehrte er jubelnd zurück : er habe ihn zwar gefunden,
er werde aber gleich aufs Land zurückfahren ; sein Wagen stehe
schon vor der Thür. <Ich bat aber den Kutscher,» sagte Erust,
cseinen Herrn, wenn er herauskomme, zu ersuchen, einen Augen-
blick noch zu warten, es sei hier ein Herr aus Kurland ange-
kommen, der ihn durchaus zu sprechen wünsche ; er gehe gleich
den Herrn benachrichtigen.» <Goldjunge, der du bist.» rief ich
aus, e führe mich gleich dahin!» — Als ich mich Parthey vorge-
stellt nnd ihm einen Gruss von Bienemann gebracht, begrüsste er
mich sehr freundlich, machte aber gleich ein sehr ernstes und be-
denkliches Gesicht, als ich ihn um Geld bat, wozu mich Bienemann
autorisire. <Ich bin ganz erstaunt,» sagte er, «dass Bienemann
mich um Geld bitten lässt, ohne mir darüber geschrieben zu haben ;
ich kann Ihnen dalier keins geben !» «Ich bitte um Entschuldigung,»
sagte ich, «ich habe mich falsch ausgedrückt; ich bin von Biene-
mann nicht beauftragt worden, Sie um Geld zu bitten, glaubte
aber, da ich von ihm und in seinem Hause so freundlich von Ihnen
sprechen gehört hatte, mich mit einer solchen Bitte an Sie wenden
zu dürfen, die Sie mir aus Freundschaft für meinen Vormund nicht
abschlagen würden.» Eben so hartnäckig, wie er mir das Darlehen
abschlug, blieb ich bei meiner Bitte und Darstellung meiner Ver-
legenheit, bis er mir endlich zehn Louisd'or lieh, nachdem ich zu-
vor bei ihm selbst einen Brief an Bienemann mit der Bitte ge-
schrieben hatte, die zehn Tjouisd'or, die ich von Parthey geliehen,
zu bezahlen. Wer war nun glücklicher als ich und mein Ernst !
Nachdem wir noch eine Nacht in Memel geblieben, bezahlten wir
unsere Wohnung im Hotel und fuhren mit einem Schackner über
die Kurische Nehrung nach Königsberg. Von dieser Fahrt habe
ich nichts weiter zu erzählen, als dass wir des schrecklich tiefen
Sandes wegen eben so viel zu Fuss gegangen sind, als wir fuhren,
und in Bauerkiffen entsetzliche Nachtquartiere hatten. Von Königs-
berg fuhren wir sieben Tage und sieben Nächte bis Berlin in der
Diligence, die dort aber mit dem Namen «rothe Tortur» richtiger
5*
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68 Bin Jugendleben aus Alt-Kurlands Tagen.
benannt wird. Es sind grosse Fuhrwagen, die aussen und innen
roth angestrichen sind. Im Inneren haben sie vier Reihen Bänke
ohne Lehnen. Die Bank ist ein am federlosen Wagen angebrachtes
Brett, welches ebenfalls mit rothem Leder ohne Polster überzogen
und durch das Hin- und Herrutschen der Reisenden wie geglättet
war, so dass es, selbst wenn der Wagen stillstand, schwer war,
sich darauf sitzend zu erhalten. Er wurde von vier Pferden, lang
gespannt, gefahren ; der Postillon kutschte vom Sattel, setzte sich
aber nur dann auf denselben, wenn er vom Gehen müde war, denn
meistentheils ging er nebenbei. Die Reisegesellschaft bestand ausser
uns aus sieben langweiligen Personen, die aber doch manchmal
recht herzlich zu lachen gaben, namentlich die einzige Dame, eine
alte, sehr lange und hagere Person, die wegen ihrer Leichtigkeit,
worüber sie alle Augenblicke sich selbst beklagte, sobald der
Wagen nur etwas rüttelte, bald dem einen oder anderen Nachbar
auf den Schoss zu sitzen kam. — Zwei Franzosen in Civil k leidern,
die aber ihren Degen angeschnallt trugen und spinnefeind gegen
einander waren, sassen entfernt von einander und schimpften sich
greulich, was drei bis vier Mal auf dieser Tour geschah. Sehr
amüsant und komisch war es, wie sie, als wir auf einer Station
aussteigen mussten, beide blank vom Leder zogen und schwuren
einander zu erstechen. Es blieb aber nur bei dieser guten Absicht,
erstochen wurde keiner ! — Die ersten zweimal 24 Stunden waren
wirklich kaum zu ertragen, bis die Wagen gegen ganz eben solche,
aber mit Lehuen versehene, gewechselt wurden ; wofür man jedoch
den Platz mit einigen Groschen mehr bezahlen musste.
. Endlich waren wir in Berlin angekommen, wo ich mich durch
sieben Tage und sieben Nächte Schlaf entschädigte. Die Brüder
Kleist aus Zehrxten, die einige Tage vor mir angelangt, fand ich
hier vor und auch die Brüder Kleist aus Leegen und Th. Roenne.
Nach drei Wochen reisten wir alle ohne besondere Erlebnisse nach
Heidelberg ab und placirten uns da alle im Hause von Frau
v. Faber, welches am Universitfttsplatze gelegen war. Der Ein-
gang war durch eine grosse Pforte, die am Ende der Facade des
Hauses sich befand. In der unteren Etage war ein grosser Saal
und am Ende ein Zimmer, welche Räume ich für mich genommen
hatte. Im oberen Stock dieselbe Einrichtung, nur dass an jedem
Ende des Saales zwei Zimmer waren. Die beiden Zimmer des einen
Endes hatten die Kleists-Leegen, die des anderen die beiden Kleist
von Zehrxten inne ; den Saal aber bewohnte Frau v. Faber selbst.
>
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Ein Jugend leben aus Alt-Kurlands Tagen.
Ich war mit dem festen Vorsatze, in dem mich die Kleists
uoch bestärkten, die selbst fleissig waren, nach Heidelberg ge-
kommen, «dort wirklich sehr fleissig» zu sein, belegte anch Collegia
und besuchte sie regelmässig, bis eines Tages mir Gideon Stempel
und Urban begegneten, als ich eben ins Collegium gehen wollte
und mir einen «Gelehrten» stürzten. Natürlich setzte ich mich in
Avantage und stürzte ihnen einen «Doctor», darauf natürlich sie
wieder mir und ich ihnen, bis wir zum «Papst» kamen und den
wir nur, weil ich kein Bier trank, mit Schnaps ausmachen mussten.
(Wenn nämlich ein Student dem anderen zuruft, er sei ein Ge-
lehrter, so muss er mit ihm einen Schoppen Bier austrinken. Setzt
der andere sich in Avantage und nennt ihn «Doctor», so muss ein
jeder zwei Schoppen trinken &c. bis zum «Papst», was der höchste
Tusch im Biercomment ist, da muss ein jeder, ich weiss nicht
mehr wie viel Schoppen Bier austrinken.) Wir setzten uns also
an einen kleinen Tisch bei mir im Zimmer. Jeder hatte eine ganze
Flasche Schnaps vor sich. Wie viel ein jeder davon ausgetrunken
hat, kann ich wenigstens nicht sagen, denn ich bekam erst am
anderen Tage etwas Besinnung wieder und hatte noch die nächst-
folgenden Tage einen so starken Katzenjammer, dass ich auch
nicht mehr daran dachte, Collegia zu besuchen. Ich philosophirte:
«Wozu auch? was nützt einem grosse Gelehrsamkeit, wenn man
durchs viele Studiren und Arbeiten seine Gesundheit einbüssen
muss V Wenn man letztere pflegen will, was doch die erste Pflicht
des Menschen ist. so kommt man wirklich gar nicht zum Studiren.
Zur Gesundheitspflege ist unentbehrlich Motion!» Reitstunden
und Spazierenreiten, auf dem Fechtboden Pariren und Rapierjungen
ausmachen, Spazierengehen und Feusterparade machen, Baden und
Tanzen ; wo soll da zum Studiren noch Zeit übrig bleiben, wenn
man noch wie ich ausserdem Kraftvorstellungen geben musste!
Eines Tages war ich mit mehrereu Studenten im Schlossgarten, wo
wir etwas gekneipt hatten. Zu Aufsehern im Schlossgarten sind
ausgediente alte Soldaten, sog. graue Krieger angestellt und haben
hin und wieder im Garten Schilderhäuser für sich zum Schutz
gegen den Regen. Wir spazierten im Garten umher, als mich
einer meiner Freunde fragte : «Sage mir, was ist das stärkste
Kraftstück, das Du ausführen kannst?» «Nun,» sagte ich, indem
ich mich dabei umsah und wir uns eben in der Nähe eines solchen
8childerhäuschens befanden, «wenn ich mich in solch ein Ding
hineinstelle und gähne, so muss das Ding platzen!» Ich stellte
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Ein .Fugendleben aus Alt-Kurland« Tagen.
mich sofort mit dem Rücken hinein, gähnte, reckte meine Glieder,
das Ding platzte wirklich und fiel rückwärts, mich mit sich zieheud.
Die Bursche, die zusahen, krümmten sich vor Lachen und lachten
immer lauter, als ich nicht aufzustehen vermochte, obgleich ich
alle meine Kräfte zusammennahm und die Entdeckung machte, dass
ich in meinem Rausch nicht bemerkt hatte, wie ein solcher grauer
Krieger hinter mir im Häuschen gestanden, als ich mich hinein-
stellte und dass er es war, - der mich jetzt festhielt, als ich auf
ihm lag ! Auf das laute Lachen der Bursclieu war noch eine
Menge anderer Personen herbeigekommen, die mit einstimmten, uud
auch ich hätte wol herzlich mitgelacht, hätte mir nicht der graue
Krieger ein Schmerzensgeld von 12 Gulden abverlangt, und wenu
ich nicht schon vorausgesehen (was auch wirklich eintraf), dass ich
dem Garteneomite das Häuschen ersetzen musste.
Ein anderer Abend, oder vielmehr eine Nacht, welche wir,
ein paar hundert Studenten, im Schlossgarten zubrachteu, war
amüsanter. Ich proponirte und mit grossem Jubel wurde es von
allen aufgenommen, in die Stadt hinunterzugehen, von den Fenstern
aller Häuser die Blumen wegzustehlen, auf andere Fenster um-
zustellen und so in der ganzen Stadt die Blumen zu verwechseln.
Gesagt, gethan. Alle rannten wir sofort hinunter, zogen alle
Nachtwächter in unseren Bund, die uns gern dazu hilfreiche Hand
leisteten und uns die nöthigeu Treppen verschafften ; denn die
Blumen wurden meistenteils in der zweiten Etage auf kleinen
Balcons, die vor jedem Fenster waren, gehalten. Nun ging der
Spectakel los, wobei natürlich auch einige Töpfe zerbrachen. Aus
manchen Fenstern hörte man lautes Lachen, aus den meisten
aber schelten und schimpfen. Amüsant war es anderen Tages, zu
sehen, wie die Eigenthümerinnen lachend oder schmollend durch
die Strassen eilten, ihre lieben Blumen wieder auszutauschen —
überhaupt wurde der Scherz von der ganzen Stadt gut aufgenommen
und belacht.
Wieder ein Spass, den ich hatte, als ich auf der Mannheimer
Chaussee mit einigen Studenten spazieren ging. Ueber diese
Blumenaustauschung sprechend, beschlossen wir, wieder einmal etwas
ausgehen zu lassen. Da kam ein ganz gedeckter Wagen gefahren,
in dem drei Damen sassen, zwei im Rücksitz und eine vorn, wo
also für eine Person noch Platz war. Mit dem Rufe: «Halt,
Kutscher !> eilte ich auf den Wagen zu, riss die Thür auf und
sprang mit den Worten : «Tantchen Wieser, wie freue ich mich, Sie
Ein Jagendleben aus Alt-Kurlands Tagen. 71
wiederzusehen!» hinein. Die Dame sah mich erstaunt an und
sagte: cSie irren sich, ich heisse gar nicht so.» « Tantchen,» sagte
ich, «Sie erkennen mich nicht wieder? Ich bin der Peter Drachen-
fels!» «Nein,» antwortete sie, «ich kenne Sie nicht und bitte Sie,
meinen Wagen sofort zu verlassen !» wobei sie dem Kutscher zurief,
zu fahren. Ich bat nun sehr um Entschuldigung, sie verkannt und
die Damen durch mein Hineinspringen vielleicht erschreckt zu
haben und verliess die Kutsche, die auch sofort weiter fuhr.
Einige Tage darauf machte ich bei Frau v. Leoprechting Visite.
Nachdem ich mich hatte melden lassen, öffnete sie mir lächelnd
selbst die Thür und sagte, indem sie mich einzutreten bat und
mich den anderen Damen vorstellte: «Es ist nicht die Gräfin
Wieser, die Sie hier sehen, sondern Frau von Degenfeld mit ihren
Töchtern.» - Ich dachte: «Lass dich nicht verblüffen!» stutzte
und fand nnn gleich eine auffallende Aehnlichkeit zwischen ihr
und meiner Tante, äusserte, dass meine Tante mir geschrieben
hätte, au dem Tage in Heidelberg sein zu wollen, also das Ver-
kennen und mein unüberlegter Sprung iu ihren Wagen dadurch
zu entschuldigen seien, und dass ich die Damen deshalb nochmals
und wegen des ihnen dadurch bereiteten Schreckes um Entschuldi-
gung bäte. Frau von Degenfeld aber antwortete mir: «Ich bin
mit einer Gräfin Wieser, die aber vor acht Jahren schon gestorben
ist, sehr bekannt und befreundet gewesen und glaube damals von
ihr gehört zu haben, dass sie die einzige noch Lebende dieses
Namens sei ; jetzt höre ich aber von Ihnen, dass noch eine Gräfin
Wieser, Ihre Tante, am Leben und, wenn ich Sie richtig verstanden
habe, jetzt in Heidelberg sei?» Das wurde alles im Lächeln ge-
sprochen, bis die Leoprechting mir sagte: «Wenn ich Sie nicht
als einen sehr wahrheitsliebenden Mann kennen würde, daher glauben
muss, dass Sie einen Brief von Ihrer Tante, der Gräfin Wieser,
jetzt erhalten haben, so müsste ich glauben, dass es ein harmloser
Scherz von Ihnen gewesen, wie Sie schon manchen in Heidelberg
ausgeführt haben. Gestehen Sie die Wahrheit r» fügte sie lächelnd
hinzu. «Unter der Bedingung, dass Sie, gnädige Frau, mir ver-
geben,» sagte ich, indem ich auf die Degenfeld zutrat und ihre
Hand ktisste, «will ich gestehen, dass ich gelogen habe und weder
eine Tante Wieser besitze, noch ejaen Brief von derselben erhalten
habe.» — Die Damen und ich lachten und scherzten und nachdem
ich noch einige angenehme Stunden in ihrer Gesellschaft verbracht,
verliess ich das Haus.
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72 Ein Jugcndleben aus Alt-Kurlands Tagen.
Wir waren unser 25 Ouronen ; ich werde suchen, ob mein
Gedächtnis noch so weit reicht, sie alle hier namentlich herzuzählen.
Nr. 1. ich. 2 — 5. die Kleists aus Zehrxten und Leegen, 6. Th. Roeune,
7. Gerzimsky, 8. Gideon Stempel, 9. Urban, 10. Kolbe, 11. Gustav
Wilpert, 12. Karl Nolde, 13. Feierabend, 14. Gohr. Als letzterer nach
Heidelberg kam. hatte er einen Speisepaudel aus Kurland mit einem
ganzen und einem halben Knappkäse mitgebracht. Diesem kurischen
Knappkäse zu Ehren wurde ein grosses Fest arrangirt. bei welchem
der heile Knappkäse, auf ein hohes Gestell gelegt, mitten auf dem
Tische stand, der halbe Knappkäse in so viel Stücke, als wir
Curonen an diesem Feste theilnahmen, zerstückelt, von uns aufge-
gessen und des «heilen» Wohlergehen so viel betrunken wurde,
bis er selbst und einige Bursche in Folge allzu vielen Trinkens
von Tisch und Stuhl herunterfielen. — Die beiden Estländer Ge-
brüder Riesemann, Nr. 15 und 16, ein paar tüchtige Jungen, und
17. ein Livländer Wagner gehörten auch zur Curonia. Nr. 18
Teichert. Die anderen habe ich augenblicklich vergessen.
Eines Tages, beim Mittagessen im < blauen Stern >, wo wir
Landsleute stets speisten, sagte Teichert, der mit einem Freunde
am Nachmittage nach Rom reisen wollte, zu mir: « Drachenfels,
Du bist doch immer ein fixer Kerl ! wir fahren mit der Diligence
bis Basel, begleite uns, fahre bis Basel mit!» Ich bog mich vor
und sagte zu Gideon Stempel, der entfernt von mir sass : tWenn
Du mitfährst, fahre ich auch !> «Hast du Geld?» fragte er; und
die berühmte bucklige Christine, die uns bediente, rief mir zu:
«Wenn der Baron selbst kein Geld hat, wird sein Ernst Koch es
ihm geben 1» — So geschah es denn auch wirklich. Ernst Koch
schallte für uns beide zusammen 72 oder 74 Gulden, mehr war es
nicht, dessen entsinne ich mich ganz genau. Hiervon musste er
für uns Pässe und die Plätze in der Diligence bezahlen. Um
5 Uhr fuhren wir nach Basel ab, wo wir die Nacht blieben.
Nachdem am anderen Morgen Teichert mit seinen Kameraden nach
Rom abgereist war und wir unsere Rechnung im Hotel bezahlt hat-
ten, die ganz unglaublich gepfeffert war, proponirte mir Stempel, den
Rest unserer Kasse zwischen uns zu theilen und von nun an nicht
mehr auf gemeinschaftliche Kosten, sondern auf eigene Rechnung
zu reisen und zwar über Schaafhausen nach Heidelberg zu Fuss
zurückzukehren. Wir kauften sogleich die zur Reise nöthigen
Schuhe und Ranzen, eine Karte von der Schweiz und einen Bädeker,
der aber damals nicht so hiess. Wir marschirten also nun ab
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Ein Jugendleben aus Alt-Kurlands Tagen.
73
nach Schaffhausen, bis wir an den Wegweiser kamen, der uns auch
den Weg nach Zürich zeigte — wir sahen einander an. verstanden
uns. ohne ein Wort zu sprechen, und gingen nach Zürich. Hier
wollten wir das weltberühmte Hotel, das «Schwert», besehen,
gingen hinein, wurden aber noch rascher, als wir hineingekommen,
von den Kellnern hinausgeworfen. — Zufällig fanden wir eine
Gelegenheit, über den See nach Kaspers wyl oder Küssnach zu fahren.
Wir bestiegen den Rigi und schliefen die Nacht unter freiem
Himmel auf dem Culm, wo jetzt ein grosses Gasthaus stehen soll,
damals aber keine Spur von einer menschlichen Wohnung zu sehen
war. Nachdem wir in der Nacht dort schändlich gefroren hatten,
waren wir so glücklich, die Sonne sehr schön aufgehen zu sehen, ein
Glück, das nicht allen Reisenden zu Theil wird. Die schöne Morgen-
röthe, oder die schöne Abendröthe; oder die schönen Gegenden der
Schweiz zu beschreiben, darauf lasse ich mich nicht ein. Das haben
viele andere vor und nach mir gethan und besser, als ich es im Stande
wäre. Von hier durchstreiften wir so ziemlich die ganze deutsche
Schweiz. Es ist unglaublich, wie man sich an Fussreisen gewöhnen
kann. Ich kann versichern, dass, wenn wir uns in den ersten Tagen
schon nach vier oder fünf Meilen Weges sehr erschöpft hinlegten, wir
später vom frühen Morgen bis zum späten Abend gingen, ohne die ge-
ringste Ermüdung zu fühlen. In grösseren Städten, wie in Bern,
Luzern &c, schlugen wir uns mit Betteln oder wie sonst jeder es
konnte, durch. An einem Bäckerladen, wo Stempel ohne weiteres
einen Kringel bekam, wurde ich mit Schimpf und Spott weggejagt,
indem die Bäckermamsell zu mir sagte : « Verkaufe Er seine silberne
Weste, so braucht Er nicht zu betteln !> Ich hatte nämlich eine
blautnchene Weste, die sehr bunt mit Silberrundschnur benäht
war ; natürlich trennte ich nun die Schnur gleich ab, wodurch
meine Weste aber ein sehr schlechtes Aussehen bekam, weil sie
ganz abgeblasst war. Zur Nacht kehrten wir nur in Sennhütten
ein, wo wir den Sennen sehr viel von Russland, von den schwarzen
und weissen Bären, von Wölfen und anderen reissenden Thieren
erzählen mussten, wobei natürlich fürchterlich viel gelogen wurde,
wir aber dafür Brod und Käse so viel zu essen bekamen, dass wir
uns für den ganzen Tag gesättigt fühlten ; und niemals nahmen
sie die von uns angebotene Bezahlung an. Da es uns so gut ging,
beschlossen wir, als wir auf dem St. Gotthard waren, noch weiter
bis nach Rom zu gehen. — Vorher muss ich noch eine Scene, die
ich an der Jungfrau erlebte, erzählen. Hier trafen wir mit einer
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74
Ein Jugendleben aus Alt- Kurlands Tageu.
Mutter, ihrer Tochter und ihrem zukünftigen Schwiegersohne zu-
sammen und sprachen davon, dass die c Jungfrau > noch von niemand
bestiegen worden sei. Wir drei Männer beschlossen darauf, sie gleich
zu besteigen, natürlich nur so weit, als es möglich wäre. Die
Jungfrau sowie der Boden, auf dem wir standen, waren mit Eis
bedeckt und es war in dem Eise eine 1% Ellen breite Schlucht
von unermesslicher Tiefe, die wir erst überspringen mussten, um
auf die Juugfrau zu gelangen. Der Bräutigam sprang zuerst hin-
über, dann kam ich und darauf Stempel. Nun kletterten wir drei,
eiuer nach dem anderen, wobei uns ein eingefrorener Stein, um
festen Fuss zu fassen, sehr zu statten kam. Nachdem wir nun
ein paar Faden hinaufgeklettert waren, kehrten wir um und kamen
in umgekehrter Reihenfolge zurück. Stempel zuerst, dann ich —
aber als ich den Stein, den einzigen Haltepunkt, den wir besassen,
eben verlassen hatte, war er losgethaut, rollte mir nach (ohne mich
glücklicherweise zu berühren) und stürzte in die Kluft mit furcht-
barem Getöse. Was nun ? wie kommt nun der unglückliche Bräuti-
gam herunter V ! Er war ebenso erschreckt wie wir beide. Die
Braut uud künftige Schwiegermutter rangen laut weinend die
Hände. Wenn er an der Stelle, wo der eingefrorene Stein ge-
standen, ausglitt, so fuhr er unrettbar denselben Weg wie der
Stein in den Abgrund. Ich stellte mich schnell entschlossen mit
dem linken Fuss au den Rand der Schlucht, natürlich auf der
Seite der Jungfrau, rief ihm zu, er solle es nicht versuchen, stehend
herunterzukommen, sondern sich reitend auf seinen Alpenstock
setzen und so herabrutschen, ich würde ihn unten au Hangen und
mit ihm zugleich durch den Schwung, den er mir geben würde,
über die Schlucht setzen. So führten wir es beide aus. Nachdem
ich mit ihm nun glücklich hinübergesprungen war, liess die Braut
mit Umarmungen und Küssen nicht ab, vielleicht auch die Schwieger-
mutter, dessen kann ich mich aber nicht erinnern. Was glaubt ihr
aber, wer der Umarmte und Geküsste war — der Bräutigam ?
Nein, ich war es ! Wäre sie nicht so hübsch gewesen, so würde
ich mich jetzt der Küsse gewiss nicht mehr erinnern.
Vom Gotthard gingen wir also nach Italien. Nach einigen
Stunden kamen wir nach Airolo und wurden hier zum ersten Mal
nach drei Monaten nach unseren Pässen gefragt, die, in Heidelberg
auf einen Monat ausgestellt, jetzt also schon seit zwei Monaten
abgelaufen waren. Was nun machen ? Natürlich wieder lügen I
Stempel fragte mich naiv, wem wir unsere. Pässe abgegeben
Ein Jugeudleben aus Alt-Kurlands Tagen. 75
hätten *? Ich antwortete ihm eben so harmlos, dass ich auch nicht
recht wisse, ob Urban oder Gohr, die ja aber auch gleich an-
kommen müssten. Der Polizeimann beruhigte sich für den Augen-
blick bei dieser Antwort ; wir benutzten aber diese kurze Polizei-
pause, um eiligst den Rückweg anzutreten. Wieder auf dem Gott-
hard angekommen, sagte Stempel zu mir, dass es doch eigentlich
eine ganz verrückte Ide« sei, so ohne Pässe und Geld herumzu-
reisen. Beide könnten wir doch auch nicht die Rückreise nach
Heidelberg mit dem wenigen Gelde, das wir noch hatten, aus-
führen, daher einer hier bleiben müsse und dem anderen dqy Rest
des Geldes mitgeben, damit der nach Heidelberg zurückkehren
und von dort dem Zurückgebliebenen das nötluge Geld zuschicken
könne. Ich sah ihm an, dass er einen Brenner hatte zurückzu-
kehren, gab ihm den Rest meines Geldes, der in einem runden
Laubthaler bestand und noch meinen Segen auf den Weg. Mir war
wol ganz eigen zu Muthe, als ich so allein blieb, er immer weiter
sich entfernte und ich nun so verlassen auf dem Gotthard stand!
Mich umschauend, erblickte ich etwas, was mein Interesse sehr
in Anspruch nahm. lu dem Felsen neben mir war nämlich der
Name tSsuworow» eingehauen. Hier war es also, wo Ssuworow
mit den Russen in den neunziger Jahren über den Gotthard ge-
gangen. Sehr verstimmt und sehr müde — da wir unserer Re-
tirade aus Airolo wegen die Nacht vorher nicht geschlafen —
legte ich mich nieder und schlief gleich fest ein. Plötzlich er-
wachte ich durch Geräusch, welches ein Pudel mit seinem messin-
genen Halsbande machte. Ich ergriff den Hund, zog ihm sein
Halsband über die Ohren und steckte dieses in meineu Ranzeu,
glücklich, nun wieder einmal etwas Metall bei mir zu haben. Der
Hund schien auch sehr erfreut, das Halsband losgeworden zu sein
und erwies sich mir dankbar, denn er schmiegte sich an mich und
folgte mir auf Schritt und Tritt. So kamen wir denn nach dem
Hospiz, dem Gasthause auf dem St. Gotthard, wo wir Reisende
vorfanden, von denen einer vom Endzimmer aus erfreut cCartouche,
Cartouche!> den Pudel anrief, worauf der Hund fröhlich zu seinem
Herrn zurückkehrte. Dieser aber wandte sich zu mir mit dem
Bemerken : <Mein Hund scheint sich Ihnen angeschlossen zu haben,
er hatte aber auch ein Halsband, wo mag das geblieben sein?»
«Das habe ich in meinem Ranzen, ich hatte die Absicht, das Hals-
band und auch den Hund hier zu verkaufen, um mich mit dem
Erlös hier satt essen und auch noch ein paar Tage hier lebeu zu
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76
Ein Jugend leben aus Alt-Kurlands Tagen.
können, weil ich kein Geld mehr habe.» — cO, Sie scherzen nur!
bitte, geben Sie mir das Halsband wieder.» — cNein, ich scherze
durchaus nicht, ich bitte Sie auch nicht zu scherzen und im vollen
Ernst das Mittagessen zu bestellen, das Sie so gut sein werden,
tür mich zu bezahlen. Dann gebe ich Ihnen Ihr Halsband zurück.»
«Der Herr will mit uns essen,» sagte er zu den anderen Herren,
«anders giebt er das Halsband nicht zurück.» — «Ja, er wird es
bestimmt nicht eher wiedergeben.» sagte ich sehr ernst. «Wie
heissen Sie? Wer sind Sie, mein Herr?» fragte mich einer der
Hinzugetretenen. — «Ich werde Ihnen jede Frage beantworten, so-
bald Sie mir gesagt haben, wer Sie sind.» — «Ich heisse N. N.,
und dies sind meine beiden Eleven, der Fürst Wrede und Herr
Kempitz, die ich jetzt zur Universität Heidelberg begleite.» — «Das
trifft sich ja wunderschön ! — ich heisse Drachenfels, bin ein alter
Bursche aus Heidelberg und auf dem Wege dahin zurück. Wir
können also die Reise gemeinsam machen, und ich habe Gelegen-
heit, Ihnen als alter Bursche zu zeigen, wie Füchse oder wol nur
angehende Füchse geprellt werden, und selbst ohne einen Batzen
in der Tasche nach Heidelberg zurückkehren. Da ich überdies
hier in der Schweiz sehr bekannt bin, kann ich Sie führen, ohne
dass Sie einen Führer zu bezahlen brauchen.» Wir assen sehr
gemüthlich, scherzend und lachend zusammen und als sie mir
sagten, sie wollten nach Altdorf und von da über den Rigi gehen,
meinte ich, das wäre auch ganz meine Tour und ein mir sehr be-
kannter Weg, und wir marschirten denn nun wirklich zusammen
fort bis zu einem Dorfe oder Kloster, wo wir bei einem katholischen
Pfaffen zu Abend assen und nächtigten und die Abreise zum anderen
Tage um -sechs Uhr festsetzten. Um vier Uhr morgens aber hatte
ich mich schon aus dem Staube gemacht, und mein treuer Freund,
mein schwarzer Cartouche, Hess nicht von meiner Seite und kam
mit mir. Nach einer Stunde oder mehr legten wir uns auf den
Rasen und schlummerten, bis unsere Reisegesellschaft nachkam.
Ehe ich sie zu Worte kommen Hess, rief ich ihnen entgegen :
«Sehen Sie, das war die erste Prellerei, und die zweite folgt gleich
nach !» Sie nahmen das gutmüthig auf, wir scherzten und lachten
wieder, setzten unsere Reise fort und erfreuten uns an der schönen
Natur. Endlich behauptete ich, dass keiner von ihnen im Stande
sei, frühmorgens drei Fingerhut Schnaps nüchtern austrinken zu
können. Das wollten sie nicht zugeben, gingen aber auf meine
ihnen proponirte Wette ein, wenn sie es nicht ausführen köunten,
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Ein Jugendleben aus Alt-Kurlands Tagen.
77
für den ganzen Tag mein Essen zu bezahlen. Da erklarte ich
ihnen, wie sie verloren hätten. Denn wenn sie den ersten Finger-
hut Schnaps genossen hätten, seien sie doch nicht mehr nüchtern,
könnten also den zweiten und dritten nicht mehr nüchtern hinunter-
schlucken. Sie sahen das lachend ein und bezahlten wirklich meine
Zeche für den ganzen Tag. — So kamen wir nach Altdorf, von
wo sie gleich zu Boot Weiterreisen wollten, was aber gar nicht in
meinem Plane lag ; ich wollte nämlich in Altdorf bleiben, wo ich
wusste, dass dort ein ßanquier war, bis Stempel mir Geld aus
Heidelberg schicken würde. Ob ich es erst hier erfuhr oder schon
vorher wusste, dass Bürgeln, das Dorf, wo Wilhelm Teil geboren,
in der Nähe, nur eine Viertelstunde entfernt von da lag, weiss
ich nicht. Ich schlug aber meinen Gefährten vor, den Abstecher
dorthin zu machen. Wir gingen auch wirklich dorthin und be-
gegneten einem Manne in etwas auffallender Kleidung mit einem
Violinkasten, den er über seinen Ranzen gebunden. In Bürgeln
angekommen, besahen wir die Tellscapelle. Unmittelbar neben
derselben steht das Haus, wo Willielm Teil gelebt hat. Es hatte,
wie die meisten Häuser in der Schweiz, eine Galerie im zweiten
Stock um das ganze Haus. Auf dieser Galerie stand ein ganz
hübsches Mädchen, hatte sich herübergebeugt und sah auf uns
herab. «Ach, guten Morgen, Rosalie!» rief ich ihr zu. «Was?!
sind Sie mit ihr bekannt?» fragten die Meinigen. «Ja wol,>
sagte ich, «ich bin in dem Hause sehr bekannt, es ist ein sehr
gastfreies Haus ; jedenfalls werde ich hineingehen sie besuchen ;
wollen Sie mitkommen, so will ich Sie einführen und komme dafür
auf, dass 8ie freundlich empfangen werden!» Als wir hineinkamen
und meine Mitreisenden gewahr wurden, dass es ein Gasthaus sei,
lachte ich laut auf und sagte ihnen, dass das wieder eine Prellerei
von mir sei und sie nun wieder meine Zeche bezahlen müssten.
Wir Hessen uns ein gutes Frühstück geben. Als wir uns an den
Tisch gesetzt, den Rosalie (das Mädchen hiess zufälligerweise
wirklich so) uns aufgedeckt hatte, brachte ein altes Mütterchen
uns den Käse, sah mich freundlich an, ungeachtet sie verweinte
Augen hatte, und sagte zu mir: «Sie müssen ein Kurländer sein!»
Wie vom Blitz getroffen sprang ich auf und fragte: «Mütterchen,
woher wissen Sie das? Sind Sie in Kurland gewesen? Sind Sie
eine Kurländerin? Sagen Sie, woher wissen Sie das?» — «Ich
erkenne es an Ihrer Aussprache,» antwortete sie mir, brach dabei
in Thränen aus und sagte: «Eben hat mich ein Kurländer, ein
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78 Ein Jugendleben aus Alt-Kurlands Tagen.
Herr v. Klopmann, verlassen, Sie müssen ihm begegnet sein, der drei
Monate hier bei mir logirte.» — «Ja, ich glaube, wir sind ihm
begegnet, er hatte eine Violine bei sich ? Aber was machte er hier
drei Monate bei Ihnen?» — «Nun, er hatte kein Geld mehr und bis
er nach Hause geschrieben und von dort welches erhalten, waren
drei Monate vergangen. Das war aber ein guter, lieber Mensch !» —
«Hat er Ihnen auch alles bezahlt?» — «Natürlich, auf Heller und
Pfennig alles bezahlt!» Mich über den Tisch hinüberbückend,
fasste ich die Alte mit beiden Händen an den Kopf und rief:
«Mütterchen, liebes Mütterchen, ich bin auch ein herrlicher Mensch,
habe auch keinen Batzen Geld mehr, behalten Sie mich auch, bis
ich von Hause Geld geschickt bekomme!» Das musste ich ihr
mehrere Male wiederholen, bis sie einsah, dass es kein Scherz sei
und ihr nichts anderes übrig bleibe. Meine Reisegesellschaft nahm
lachend und scherzend von mir Abschied.
Dieser Klopmann war ein Bruder des Kalkuhuenschen, des
Landhofmeisters Klopmann ; er wanderte mit seiner Violine durch
ganz Ruropa. — Natürlich schrieb ich jetzt gleich an meinen Ernst
nach Heidelberg, dass er mir endlich das Geld schicken solle. Das
alte Mütterchen, die Frau vom Hause, Frau Senne, begnügte sich
nicht damit, mich als ihren Gast zu betrachten. Mit Gewalt drang
sie mir Geld auf, dass ich nicht ruhig bei ihr sitzen und auf mein
Geld warten, sondern die Zeit von vielleicht drei bis vier Wochen
benutzen solle, in der Umgegend umherzuschweifen. Das that ich
denn auch wacker.
Gerade nach vier Wochen bekam ich von einem Kaufmann
aus Altdorf die Anzeige, dass er mir 50 Ducaten auszuzahlen habe.
Natürlich wollte ich gleich zu ihm hingehen ; aber da jetzt Geld da
war, musste ja gefahren werden, wenn es auch nur eine Viertel-
stunde Entfernung war. Nun musste Rosalie im Dorfe erst lange
herumsuchen, bis sie einen Bauern fand, der mit einem Pferde an-
gefahren kam, mit dem ich dann zu meinem Kaufmann fuhr und
die 50 Ducaten holte. Auf seine Empfehlung und sein vieles Zu-
reden kaufte ich mir von ihm einen sogenannten Staub- oder Regen-
mantel von ganz feinem Wachstaffet den ich mit einem oder zwei
Ducaten bezahlte. Da es aber an dem Tage weder staubte noch
regnete, sondern sehr trübe war, legte ich meinen Mantel sehr
hübsch in Falten zusammen auf den Sitz meines Wagens und
setzte mich selbst darauf. In Bürgeln angekommen, war er ebenso
regelrecht, wie ich ihn zusammengefaltet hatte, zusammengeklebt,
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Rin .Tugendleben aus Alt-Kurlands Tagen.
79
so dass es unmöglich war, ihn aus einander zu nehmen, ohne ihn
zu zerreissen, wodurch er für mich eben so unbrauchbar war wie für
Rosalie, die ihn gar nicht annahm, als ich ihn ihr schenken wollte.
Zwischen Bürgeln und Altdorf stand ein Schützenhans, von
wo aus die Schützen auf eine 400 Schritt entfernte Scheibe ins Ziel
schössen. Jeder Schuss musste bezahlt werden und wer den Meister-
schuss gethan, bekam dafür eine grössere Summe. Jeder Gast,
der hinzu kam, hatte einen Freischuss, zahlte nichts, gewann aber
auch nichts. Neben der grossen Zielscheibe war eine kleine Scheibe,
auf der eine Katze mit durchschossenem Kopfe gemalt und unten
geschrieben war : Karl Man teuffei. und Jahreszahl und Datum,
welche letztere ich aber vergessen habe. Manteuffel, unser nach-
heriger Überforstmeister, hatte dort auch als Gast eine Büchse
zum Schiessen bekommen und als er sie eben anlegt, um ins grosse
Ziel zu schiessen, läuft dort eine Katze und er ruft: eDer Katze
in den Kopf !> und wirklich hat er sie auch getroffen. Wahrschein-
lich steht noch heute dieses kleine Schild da zu seinem Andenken.
Nun machte ich mich also zu meiner Abreise von Bürgeln
fertig, bezahlte meine Zeche, die ganz lächerlich billig war, um-
armte meine alte Frau Senne, die ihre bitterlichen Thränen weinte
und mich zu küssen nicht aufhören wollte. Endlich, als sie mich
losliess und ich zu meiner Erfrischung auch einen Kuss von Rosalie
haben wollte, reichte diese mir die Hand und wandte ihr Gesicht
ab. Als ich sie nun noch einmal bat, mir zum Abschiede einen
Kuss zu geben, und die Mutter es ihr sogar befahl, sagte sie mir,
dass, wenn ich durchaus einen haben wolle, ich den Fränzel um
einen bitten solle, dem habe sie eine ganze Menge gegeben. Viel-
leicht werde der mir einen abgeben. Fränzel war nämlich ihr
Verlobter. Nun fuhr ich weg, von Altdorf nach Laufen, dann
Schaff hausen, ohne, so viel ich mich jetzt entsinne, besondere Aben-
teuer erlebt zu haben.
Im Gasthause zu Laufeu sass ich beim Abendessen neben
einem Manne, der mir sehr gut gefiel und, wie es mir schien, auch
Gefallen an mir gefunden hatte. Wir plauderten bis nach Mitter-
nacht zusammen. Am anderen Morgen kam der Kellner und fragte
mich um raeinen Pass. cMein Pass! Ich habe keine Ahnung, wo
der ist ! In den vier Monaten, wo ich von Heidelberg fort bin,
hat kein Mensch mich nach einem Passe gefragte Nun krame
ich meinen ganzen Ranzen aus und finde zum Glück auch den
Pass, der aber nur auf einen Monat ausgestellt, jetzt also schon
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Ein Jugendleben aus Alt-Kurlands Tagen.
über drei Monate abgelaufen war. Sehr treuherzig erzählte ich
das dem Kellner, bemerkte, man müsse sich zu helfen wissen, nahm
Tinte und Feder und strich «einen Monat > aus und schrieb darüber
«elf Monate». Nach kaum einer Stunde war ein Polizeiofficiant
da, der mich zur Polizei begleitete. Dort angekommen, fragte
mich ein Mann, mir meinen Pass vorhaltend, ob das mein Pass
sei. «Ja,» sagte ich. «das ist mein Pass. Er war nur auf einen
Monat ausgestellt und heute habe ich «elf» übergeschrieben.» «Das
ist ein komisches Geständnis,» sagte er. «Wissen Sie denn nicht,
dass eine grosse Strafe auf Fälschung eines Passes steht?» «Nein.»
sagte ich, «das weiss ich nicht. Ich habe auch nichts gefälscht.
Der Pass ist wie gewesen, nur dass ich etwas zugeschrieben habe.»
Drei Herren waren da, die mit einander stritten uud lachten und
nicht wussten, was sie mit mir anzufangen hätten. Da sagten sie
endlich wie aus einem Munde, dass der Polizeimeister verreist sei,
erst spät abends zurückkommen werde und ich bis dahin in dem
hier anstossenden Zimmer als Arrestant sitzen müsse. Eine schöne
Ueberraschung für mich ! — Das Zimmer war ganz anständig und
gut, aber es langweilte mich doch sehr und noch mehr, als am
Abend mir ein Bett aufgemacht wurde und ich auch wirklich die
Nacht so zubringen musste. Am anderen Morgen, erst um elf
Uhr, oder noch später, wurde ich vor die Polizei geladen. Aber
welche Freude und welches Erstaunen, als ich in dem Polizei-
meister meinen Tischgefährten von vorgestern erkannte ! Mit vielem
Lachen und Bedauern, dass er gerade gestern verreist sein musste,
liess er mir einen neuen Pass ausstellen und begleitete mich, indem
er einen Herrn aus der Gesellschaft mit auft'orderte, zum Gasthofe,
wo wir sehr vergnügt speisten und tranken bis zur Stunde meiner
Abreise. — Als ich in Heidelberg ankam, hatte ich noch viel Geld ;
nie ist wol sonst ein Student von der Reise heimkehrend mit so
viel erübrigtem Gelde dorthin zurückgekehrt. Ich hatte noch zwei
Ducaten. In den ersten drei Monaten der Reise hatte ich mit
Stempel zusammen 74 Gulden ausgegeben ; für mich allein 37 Gul-
den ; und dieser vierte Monat kostete mich 48 Ducaten.
In Heidelberg fing nun wieder das alte Leben an oder sollte
vielmehr eben anfangen, als der Oberpedell Krings zu mir herein-
trat, mich sehr freundlich begrüsste und mich auft'orderte, meine vier-
zehn Tage Carter abzusitzen.
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Die erste Universität in Russland.
Graf D. A. Tolstoi, Da« akademische Gymnasium und die akademisch*
Universität im XVIII. Jahrhundert, Nach handschriftlichen Docu-
inenten des Archiv« der Akademie der Wissenschaften. Aus dem
Russischen Ton P. v. K ü geigen. St. Petersburg. 1886. S. 224. 8.
A. K. B o r o « d i n , Die akademische Universität im XVIII. Jahrhundert.
(HcTopHiecKifi B«ctuhki> April 1886.)
s ist eine wenig gekannte Thatsache, dass Peter der Grosse
unter der Fülle seiner reformatorischen Arbeiten auf poli-
tischem und socialem Gebiet eigentlich auch der Gründer des russi-
schen Universitätswesens wurde ; denn nach seinem Plane, der erst
nach dem Tode des Herrschers zur Ausführung gelangte, war die
Petersburger Akademie der Wissenschaften in Verbindung mit einer
akademischen Universität und einem akademischen Gymnasium
gestiftet worden. Die erste zusammenhängende Mittheilung über
diese beigeordneten Institutionen hat Graf D. A. Tolstoi in seinem
oben genannten Werk gegeben, das zuerst in Form einer Beilage
zum 61. Bande der * Mittheilungen der kaiserlichen Akademie der
Wissenschaften > zu Ende des J. 1885, sodann in Buchausgabe
erschien und seit dem Herbst in der trefflichen Uebertragung
v. Kügelgens auch deutsch vorliegt. Als solche ist es in der i Rig.
Zeitung» und besonders eingehend in der t Zeitung für Stadt und
Land> einer ausführlichen Besprechung und Würdigung unterzogen
worden. Die nachfolgenden Blätter geben den zweiten Theil dieses
Buches, die Geschichte der. ältesten Universität in Russland, mit
kurzen Worten wieder, indem sie gleichzeitig die in den Veröffent-
BaniMhe HoMbnelirin, IM. XXXIV. II. ft 1. <;
82 Die erste Universität in Russland.
lichungen russischer Akademiker liegenden Ergänzungen in Be-
tracht ziehen. Bleibt dem Grafen Tolstoi das Verdienst unbe-
nommen, in seiner Monographie zum ersten Mal diese interessanten
Materialien zu den ersteu, schwächlichen Regungen geistigen Lebens
in Russland gesammelt, veröffentlicht und in ihrem Zusammenhange
beleuchtet zu haben, so erforderte doch auch die Darstellung
Borosdius im Aprilheft des <Historischen Boten» 1886 Beachtung.
Dieser um ihres vom Grafen Tolstoi mehrfach abweichenden Ur-
theils willen anziehenden Schilderung der künstlichen und gewalt-
samen Einführung des Universitätslebens in Russland dienten neben
dem genannten Hauptwerke noch als Quellen namentlich für das
innere Leben der Universität und die studentischen Verhältnisse
die Arbeiten Pekarskis (1870) und Suchomlinows über die Ge-
schichte der Akademie und die von Biljarski gesammelten c Mate-
rialien zu einer Biographie Lomonossows».
Am 11. Januar 1721 schrieb der bekannte deutsche Philosoph
Christian Wolff dem Leibmedicus Peters des Grossen Laurentius
Blumentrost, dass S. K. Majestät die Absicht habe, eine Akademie
der Wissenschaften in Verbindung mit einer anderen Anstalt zu
stiften, «wo Personen von guter Herkunft die noth wendigen Wissen-
schaften, Künste und Handwerke erlernen könnten», worüber er
(der Kaiser) ihm vor einigen Wochen geschrieben habe. Drei
Jahre später reichte Blumentrost dem Zaren einen ausführlichen
Plau ein, in welcher Weise für Russland die Errichtung einer
höchsten Bildungsanstalt zu vollziehen sei. In dieser Denkschrift
heisst es u. a. : «Die Gründung blos einer Akademie wird zwar
zu einer Fortentwickelung der Wissenschaft beitragen, aber hätte
gar keine Bedeutung für die Verbreitung von Kenntnissen im Volk.
Es lohnt sich auch nicht, eine Universität zu stiften, weil es keine
Schulen giebt, welche für dieselben vorbereiten köunten.» Daher
— lautete die Schlussfolgerung in der Denkschrift — müsse die
russische Akademie alle drei Anstalten in sich vereinigen ; nämlich
eine Akademie, eine Universität und ein Gymnasium. Die Uni-
versität sollte aus drei Facultäten bestehen • der juristischen, der
medicinischen und der philosophischen ; in der letzteren sollten «die
mathematischen und humanen Wissenschaften gelesen werden», d.h.
die Eloquentia (die Beredtsamkeit), Archäologie und Geschichte. Die
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Die erste Universität in Russland.
83
Mitglieder dieses neuen Instituts, gleichzeitig Akademiker und
Professoren, mussten natürlich aus dem Auslande verschrieben
werden. Peter bestimmte die Summe von 24912 Rbl. zum Unter-
halt dieser neu zu gründenden Anstalten ; es sollten die Einnahmen
aus den Städten Narva, Dorpat, Pernau und Areusburg dazu ver-
wendet werden.
Langwierig und verwickelt waren die Verhandlungen der
zarischen Gesandten mit den Gelehrten Deutschlands, welche das
Petersburger Klima uud die grosse Entfernung scheuten, die sie
von dem unbekannten, barbarischen Reiche der Zaren trennte.
Andere Hessen ungeheuerliche Anforderungen laut werden, wie
z. B. Christian Wolff, welcher ausser seiner Gage 20000 Rbl.
voraus verlangte, worauf beschlossen ward, tihm nichts Wichtiges
mehr mitzutheileu». Endlich aber gelangten einige dieser Ver-
handlungen zum Abschluss, verschiedene Contracte waren unter-
schrieben, einzelne Gelehrte zur Abreise bereit ; da starb Peter
der Grosse am 28. Januar 1725. Im Juni desselben Jahres er-
schien der erste Akademiker, Martini, iu Petersburg, vermuthlich
kein bedeutender Gelehrter, denn seine erste Vorlesung brachte
die Mittheilung, er habe das tperpetuum mobile» erfunden. Bis
zum November waren die übrigen Akademiker versammelt, und am
24. November 1725 fand die erste öffentliche Sitzung statt. Pro-
fessor Bülffinger hielt eine Lobrede auf Peter und Katharina, als
Beschützerin der Akademie, und verlas eine Abhandlung über den
Magnetismus. Nach Beginn des neuen Jahres erschien eine offi-
cielle Publication über den Bestand und die Arbeiten der Akademie,
zu dereu Präsidenten Blumentrost ernannt wurde ; unter den Mit-
gliedern waren die bedeutendsten : die Mathematiker Hermann,
Daniel und Nikolai Bernoulli, der Philolog Bayer, der Botaniker
Buxbaum, der Astronom Delisle, ferner wurden aus Deutschland
zwei Studenten zu Adjuncten berufen, welche später berühmt werden
sollten: der Naturforscher Gmelin und der Mathematiker Leon-
hard Euler.
Nach dem Plane Blumentrosts sollten alle diese Herren auch
Professoren der neuen Universität sein. Aber es fehlte vollständig
an Studenten ; da besuchten denn die Professoren gegenseitig ihre
Collegien, und schliesslich wurden aus Deutschland acht Zuhörer,
unter ihnen der spätere Historiker Gerh. Müller, verschrieben, da-
mit die siebzehn Professoren nicht in ganz leeren Auditorien zu
lesen brauchten. — Der erste russische Student hiess Anochin, und
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84
Die erste Universität in Russland.
Graf Tolstoi glaubt annehmen zu müssen, dass derselbe durchaus
nicht vorbereitet gewesen, um den Vorlesungen zu folgen. Diese
Behauptung scheint jedoch nicht ganz richtig', wenn man in Be-
tracht zieht, dass Anochin die noch von altersher in Moskau be-
stehende slavisch-lateinische Akademie besucht und späterhin in
Deutschland «die freien Wissenschaften» erlernt hatte.
Wie dem auch sei, die Auditorien blieben immer noch so
leer, dass die Vorlesungen dem Publicum zugänglich gemacht
wurden. In den Zeitungen erschien am 8. und 12. März 1727 eine
Publication, «dass die Professoren Btilffinger und Duvernoy öffent-
liche Collegia der Physik und Anatomie lesen würden». Die Experi-
mente, welche diese Vorlesungen begleiteten und für welche In-
strumente aus dem Auslande verschrieben worden waren, lockten
einige Wochen hindurch ein ziemlich zahlreiches Publicum an,
bald aber standen die Auditorien wieder leer. Da es vollständig
an vorbereitenden Schulen mangelte, fehlte es natürlich auch an
Besuchern der Universität, wohin mitunter Jünglinge abcommandirt
wurden, um Wissenschaften zu erlernen, welche daselbst gar nicht
zum Vortrage kamen. So sandte z. B. das Kriegscollegium einen
Zuhörer, welcher die «Fortification» studiren sollte, und wurde der-
selbe dem Architekten zugewiesen, vermuthlich weil dieser am
akademischen Gymnasium als Lehrer der Mathematik fungirte.
So war denn, nach Müllers Zeugnis, im Jahre 1731 wiederum
kein einziger Student an der Universität zu finden ; aber wahr-
scheinlich war sie schon viel früher ohne Studenten, denn nach
dem Jahre 1726, als die aus Deutschland importirten Studenten
verschiedene Bestimmungen erhalten, kommt in den akademischen?
Protokollen keine Erwähnung der Studenten vor. Im September
1731 sah sich der Senat zu der Anfrage veranlasst, «wie viel
Studenten eigentlich nöthig wären, damit die Professoren Collegia
lesen könnten»? Die Antwort lautete: 75; doch war es ver-
muthlich nicht möglich, mehr als 12 Zuhörer ausfindig zu machen,
welche der Senat im December 1732 aus der schon erwähnten
slavisch-lateinischen Akademie schickte, damit sie eine wissenschaft-
liche Vorbereitung zu einer Expedition nach Kamtschatka erhielten ;
unter ihnen befand sich der späterhin bekannt gewordene Heisende
und Akademiker Krascheninnikow. Im Jahre 1736 gesellten sich
noch zehn junge Leute hinzu, die aus der geistlichen Akademie
von Saikonospask kamen, zwei unter ihnen wurden ins Ausland
geschickt : Lomonossow und Winogradow.
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Die erste Universität in Russlaud.
S5
Endlich trat der Zeitpunkt ein, dass einige Schüler des Gym-
nasiums so weit vorbereitet waren, um die Universität beziehen zu
könneu. Es erschien daher ein Befehl über die Wiederaufnahme
der Vorlesungen, und im Jahre 1742 konnten 12 Studenten nam-
haft gemacht weiden. Aber die Professoren schienen wenig geneigt
ihre Verpflichtungen zu erfüllen ; so ergiebt sich aus dem Rapport
der Studenten Protassow und Kotelnikow vom October 1744, dass
Professor Weitbrecht sich geweigert habe, ihnen Vorlesungen über
die Anatomie zu halten, unter dem Vorwande, er sei contractlicü
nicht für diese Wissenschaft engagirt. Auf diese Weise gab es
eigentlich weder Professoren, noch Studenten an der akademischen
Universität, welche auf dem unvorbereiteten Petersburger Boden
durchaus nicht Wurzeln fassen konnte. Die Staatsweisheit des
18. Jahrhunderts wusste sich auch in diesem Falle nicht anders
zu helfen als durch neue Erlasse und Verfügungen. So erschieu
denn 1747 das neue akademische Reglement, nach welchem die
Akademiker in zwei Kategorien zerfielen, in solche, welche Colle-
gia lesen mussten, und andere, welche davon befreit waren. Um
dem bestandigen Mangel an Zuhörern abzuhelfen — hiess es im
37. Artikel dieses Statuts — sollen aus den russischen Schulen
dreissig fähige Jünglinge mit genügenden lateinischen Kenntnissen
erwählt werden, welche von der Akademie Gage und Wohnung zu
erhalten haben. Ferner wird das Gymnasium wiederhergestellt,
fähige Schüler desselben können zu Studenten avanciren, die un-
fähigen aber in die Kunstakademie treten. Damit die Professoren
nie wieder ohne Beschäftigung blieben, sollten die Zöglinge des
Cadettencorps ihre Vorlesungen besuchen <&c. Endlich ist noch zu
«rwähuen, dass durch dieses Reglement allen Ständen (ausser deu
Kopfsteuerpflichtigen) der Eintritt in die Universität gestattet wurde
uud einige Vorrechte denjenigen Personen in Aussicht gestellt
wareu, die den «vollen Cursus der Wissenschaften beendigten».
Wenn alle diese Massregeln beweisen, dass es der damaligen
Staatsregierung ernstlich darum zu thun war, diese höhere Lehr-
anstalt auf eine solide Basis zu stellen uud ihr zu gedeihlicher
Fortentwickelung zu verhelfen, so zeigen andererseits die weiteren
Geschicke derselben, wie wenig die russische Gesellschaft jener
Zeit dazu geneigt war, ihrerseits diese wohlgemeinten Intentionen
zu unterstützen. Die Professoren Fischer und Braun wurden nebst
dem Adjuncten Teplow in das geistliche Seminar des heil. Alexander
Newski, der Professor Tretjakowski in die slavisch - lateinische
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•
8»i Die erste Universität in Russland.
Akademie zu Moskau und in das geistliche Seminar zu Nowgorod
abdelegirt, um aus allen diesen Anstalten sich Studenten auszu-
wählen. Aber sie fanden bei der Geistlichkeit nur wenig Entgegen-
kommen und mussten zufrieden sein, wenn statt der reglements-
mässigen Zahl von 30 Zuhörern nur 24 für die Universität ge-
wonnen wurden. Ausserdem fand noch der später als Dichter be-
kannt gewordene Iwan Barkow Aufnahme, empfohlen von Lomo-
nossow : «wegen seines scharfen Verstandes und seiner tüchtigen
Kenntnis der lateinischen Sprache».
Rector der Universität war der Historiograph Müller bis 1750,
Inspector der Akademiker Fischer geworden. Aber der Beginn
der Vorlesungen verzögerte sich von neuem, «theils wegen der
schwierigen Passage über den Fluss (die Newa), theils wegen Nicht-
erscheinens der übrigen Studenten aus dem Newski-Seminar>. Im
Mai wurde dem Professor Tretjakowski befohlen, seine Vorlesungen
«über den Styl und die Reinheit der lateinischen Sprächet zu be-
ginnen, ebenso Crusius, die klassischen Autoren erläuternd, über
Literaturgeschichte zu lesen. Aber die Collegia des ersteren hörten
bald wieder auf, um den Studirenden «mehr Zeit für Erlernung der
neuen Sprachen zu lassen», Crusius aber wurde verabschiedet «wegen
äusserst schlechter, die Akademie schädigender Handlungen».
Im Jahre 1750 erschien endlich die neue, von Müller ver-
fasste provisorische Instruction oder «Grundregel der Universität»,
welche nur Disciplinar Vorschriften für Professoren und Studenten
enthielt. So bezog sich z. B. § 25 auf die ersteren und wurde den
«faulen» Professoren, welche ohne «triftigen Grund» keine Vor-
lesungen abhielten, ein Gagenabzug in Aussicht gestellt, im Be-
trage der Summe, welche ihnen täglich ihr Gehalt eiutrug. Charak-
teristisch sind auch die Vergehen, für welche den Studenten Strafe
angedroht wird ; so heisst es im § l : Ueber Ungehorsam oder Mis-
aehtung gegen das Obercommando der Akademie (den Präsidenten)
sei sofort an die Kanzlei zu berichten, die Schuldigen aber wären bis
zur Entscheidung der Wache zu übergeben. Für Ungehorsam gegen
den Rector — zwei Wochen Carcer, gegen den Adj mieten oder die
Professoren — eine Woche und gegen die Lehrer drei Tage Carcer &c.
Studenten, welche sich betrunken oder die Nacht nicht im Convict
zugebracht hatten, bedrohte dieses Reglement gleichfalls mit Carcer-
strafe von einer Woche, für den Nichtbesuch einer Vorlesung oder
«Faulheit beim Auslernen der aufgegebenen Lectionen» drohte dem
Schuldigen die Strafe, einen «grauen Kaftan» anlegen zu müssen.
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Die erste Universität in Russland.
87
Ebenso war das Trinken geistiger Geträuke. Zank und Prügelei,
jede Art von Lärm, Kartenspiele und das Rauchen bei Strafe ver-
boten. Ganz besonders durften aber fremde Mannspersonen — ge-
schweige denn Weiber — über Nacht im Convict bleiben ; würden
aber dergleichen Besucher entdeckt, so sollten sie von Soldaten ab-
geführt und der Kanzlei, wie bei allen anderen groben Vergehen,
darüber berichtet werden.
Als Belohnung für «fleissiges Lernen und gutes Betragen >
erhielten einzelne Studenten vom damaligen Präsidenten der Aka-
demie, dem Grafen Rasumowski, das Recht, Degen zu tragen.
So sonderbar und streng nach modernen Anschauungen auch
die Strafen jener Zeit erscheinen mögen, so sehr entsprachen sie
der niedrigen Stufe, welche die jungen Leute erreicht hatten, die
ohne Vorbereitung und gegen ihren eigenen Willen zu Studenten
gestempelt wurden. So citirt Hr. Borosdin den Bericht eines
älteren Studenten an den Rector, in welchem derselbe behauptet,
seine Zeit ohne jeden Nutzen zu verlieren, da er < keine natürliche
Verstandesschärfe für die Wissenschaften besässe und genau wisse,
dass er der Akademie niemals von Nutzen in den Wissenschaften
sein könne, obgleich er zehn Jahre als Student verlebt >. — Im ge-
meinsamen Wohnhause der Studenten ging es dabei so geräuschvoll
und liederlich her, dass sich der Inspector Fischer sechs bis acht
Mann Soldaten ausbitten musste, «weil es unmöglich ist, die jungen
Leute ohne starke Nöthigung zu beruhigen >. Besonders verbreitet war
hierselbst die Trunksucht, und kam es vor, dass selbst ein Adjunct
wegen « masslosen Saufens» ausgeschlossen werden musste und die
Obrigkeit der Universität zu ausserordentlichen Ruthenstrafen griff,
da der graue Kaftan und das Carcer nicht genügten, um die Trunk-
sucht und die beständigen Raufereien auszurotten. Doch finden
sich unter den Erlassen des Grafen Rasumowski auch solche,
welche eine humanere Anschauung durchschimmern lassen, wo die
Studenten die «beste Frucht der akademischen Arbeit» genannt
und verschiedene Mittel versucht wurden, den Jünglingen eine
auszeichnende Stellung in der Gesellschaft zu geben. So erhielten
sie Uniform nebst Degen und «hamburger> Hüten, Puderbeutel
und ähnliche Toilettengegenstände der damaligen Mode. Ebenso
trat der neue Rector Krascheniunikow für seine Studenten ein,
wenn sie von anderen Personen geschimpft und geohrfeigt wurden,
während er andererseits streng darauf hielt, dass die Professoren
auch wirklich zu den Vorlesungen erschienen und andere wissen-
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Die erste Univei-sität in Russland.
schaftliche Arbeiten, zu denen sie eontractlich verpflichtet waren,
zur Ausführung brachten, wobei er besonders mit seinem Vorgänger
Müller, unter dessen «Fuchtel er noch selbst gestanden hattet,
in arge Streitigkeiten gerieth.
Im Buche des Grafen Tolstoi, wie der weiteren Ausführung
des Akademikers ßorosdin fehlt es auch nicht an Hiu weisen, dass
der Rector Krascheninnikow auf die geistige Entwicklung und
Ausbildung der Studenten bedacht war ; sie durften z. B. in der
Professoren Versammlung «hinter den Stühlen» sitzen und zuhören,
erhielten nach gut bestandenem Examen Prämien in Gestalt vou
Büchern mit «moralischen Inschriften», in welchen der Präsident
«hofft, wünscht und befiehlt», dass sie fortfahren mögen fleissig
zu lernen. Dabei war es üblich, für solche Prämien schriftlich,
wo möglich in Versen zu danken, die nach der Sitte jener Zeit von
überschwänglichen Schmeicheleien und klassisch • mythologischen
Vergleichen überflössen.
Auch für eine gewisse gesellschaftliche Abschleifuug der
Studenten wurde Sorge getragen, die Tanzstunden waren ebenso
obligatorisch, wie der Besuch anderer Lectionen. Lomonossow
hielt es für noth wendig, einen seiner Zuhörer «unter anständige
Leute zu bringen, damit er ein feines Betragen erlerne, da die
Studenten keinen Anstand besässen und in ihren Kreiseu eine grobe
Familiarität herrsche». Der Akademiker Fischer bewies umständ-
lich, wie unentbehrlich es wäre, einen Tanzmeister zu engagireu,
der seinen Schülern lehren müsse «Complimente zu machen, munter
und ungezwungen zu stehen und sich frei zu bewegen».
Ueber die Vertheilung der Vorträge in den verschiedenen
Jahren und die Details des wissenschaftlichen Lebens giebt das
Buch des Grafen Tolstoi noch mancherlei interessante Mittheilun-
gen, welche hier zu viel Raum beanspruchen würden. Es sei nur
noch gestattet, auf einige freundliche Seiten der akademischen Be-
ziehungen hinzuweisen, welche Hr. Borosdin betont. So war z. B.
das Verhältnis der Zuhörer zu den Professoren ein vertrauens-
volles, ja ungenirtes ; sie beklagten sich offen über solche Mass-
regeln, die ihnen drückend erschienen und wurden mitunter um
ihre Meinung gefragt, wenn es galt, Neuerungen einzuführen. Auf
den Vorschlag, die Studenten gänzlich auf Kosten der Kroue zu
unterhalten, antworteten sie im Jahre 1748 mit voller Offenherzig-
keit: «Die Errichtung eines solchen studentischen Speisehauses
wird nicht sowol der Akademie und uns, als dem Oekonomen zu
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Die erste UuiversitAt in Russland.
89
gute kommen, nie würden wir das zu essen bekommen, was in den
Rechnungen uud Ausgaben eingetragen wäre, es würde nicht ohne
Störungen unserer Studien ablaufen &c. Wir versprechen jedoch
auch fernerhin nicht selbst auf den Markt zu gehen, um Einkäufe
zu machen und dabei um herzustreifen, wie solches unserem Stande
übel geziemeu und unsere Fortschritte wenig befördern würde.»
Wie schwach übrigens die Frequenz der Zuhörer dieser Uni-
versität war, bestätigen folgende Zahlen : 1751 — 18 Studenten,
1752 — 20, 1753 — 8, 1758 — 1(3; erinnern wir uns dabei des
beständigen Ausbleibens der Vorlesungen, die immer wieder ganze
Jahre hindurch ausfielen, so ist der vom Grafen Tolstoi augeführte
Ausspruch Lomonossows gewiss berechtigt, dass «bei der Akademie
der Wissenschaften nicht nur keine eigentliche Universität existirte,
sondern nicht einmal das Bild oder Gleichnis einer Universität zu
sehen war».
Nach Krascheninnikows Tode 1755 hatte der Adjunct Mode-
rach die Universität verwaltet und im Jahre 1758 wurde Lomo-
nossow zum Rector ernannt. Dieser erhielt wiederum den Auf-
trag, ein neues Universitätsstatut zu entwerfen, welches den Pro-
fessoren Müller, Fischer, Braun und Moderach zur Begutachtung
übergeben, jedoch vorläufig eingeführt wurde. Dieses Reglement
ist uns leider nicht erhalten worden, aus einigen demselben wider-
sprechenden Anmerkungen Fischers lässt sich aber erkennen, dass
Lomonossow die Zahl der Studenten vergrössern und auch aus
den steuerpflichtigen Ständen ergänzen wollte. Wie begründet
diese Absicht war, beweist am besten das Beispiel Lomonossows
selbst, der, als Sohn eines Fischerbauern bei Archangelsk geboren,
lür den bedeutendsten Gelehrten russischer Nationalität galt. In
seiner vom Grafen Tolstoi mitgetheilten Erwiderung auf Fischers
Angriffe sprach er freilich nicht direct von sich, sondern wies au
Beispielen aus der Geschichte des Alterthums nach, «wie Horaz
und andere Freigelassene gelehrte und angesehene Männer geworden
seien» und deutete nur am Schlüsse darauf hin, dass sein Gegner
«diese und heutige Beispiele» offenbar nicht sehen wolle.
Nach der Vollendung des neuen Reglements war Lomonossow
bestrebt, verschiedene Privilegien für Professoren und Studenten
auszuwirken, auch sollte die Universität gleichsam von neuem er-
öffnet werden durch die sogenannte Inauguration. Hierbei wurde
folgende Reihenfolge beabsichtigt : Vorbereitung: 1) öffent-
liches Examen der Gymnasiasten der oberen Klassen behufs Er-
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Die erste Universität in Russlaud.
langung des Zeugnisses der Reite, 2) Gradualexainina, 3) Wahl
des Prorectors mit den dazu gehörenden Reden und Disputationen,
4) und ö) das Programm und die Bestimmung der Plätze. Die
eigentliche Feierlichkeit bestand 1) aus der Liturgie mit einem
Concert und Predigt, 2) Verlesung der Privilegien, S) Dankgebet
und Salutschüsse mit Musik, 4) Dankesrede, gerichtet an Ihre
Kaiserliche Majestät, 5) Ernennung des Prorectors und der Decane,
G) Promotion zu gelehrten Graden, 7) ein Mittagsmahl, wiederum
mit Kanonade uud Musik.
Doch waren alle diese schönen Vorbereitungen, wie das von
Lomonossow verfasste Project einer Lobrede auf die Kaiserin Eli-
sabeth und endlich sein Jubel über die beabsichtigte «Veredelung
der Niedriggeborenen > (Zulassung der Kinder steuerpflichtigen und
leibeigenen Standes zu der Universität) — verfrüht ; die Kaiserin
und Lomonossow selbst starben bald hinter einander, die Ideen
seiner (Gegner triumphirten und statt des von ihm verfassten kam
das Reglement seines Feindes Taubert zur Ausführung. Es ist
daher erklärlich, wenn Graf Tolstoi in seiner Monographie in
ironisirender Weise die Reformgedanken und die triumphirenden
Reden Lomonossows bespricht, wenn auch andererseits Hr. Borosdin
mit eben so verständlichem Bedauern davon redet, dass Lomonossow
nach Eröffnung der Universität Moskau sich nicht wenig dafür be-
geistert fühlen musste, eine neue höhere Bildungsanstalt in Peters-
burg zu <inauguriren>. Für das c tiefpatriotische Herzt Lomonossows
wäre ein solcher, zweiter Triumph der damals eben erst entstande-
nen russischen Wissenschaft gewiss hocherfreulich gewesen ; der
kritische Blick des Grafen Tolstoi findet aber wol nicht mit Un-
recht, dass Reglements. Privilegien, Reden, Kanonaden und Musik
allein nicht genügten, um das immer wieder ersterbende Flämm-
chen wissenschaftlicher Leistungsfähigkeit in der dahinsiechenden
akademischen Universität zu neuem Leben zu entfachen. — Von
1765 bis zum Ende des Jahrhunderts finden sich in den Proto-
kollen der Akademie keinerlei Mittheilungen über die Universität,
in welcher die Fürstin Daschkow bei ihrem Amtsantritt als Director
der Akademie (1783) nur zwei Studenten antraf, «welche nicht
einmal aus dem Deutschen oder einer anderen fremden Sprache
etwas zu übersetzen vermochten >. Die Fürstin erliess nur eine
Verordnung, dass wöchentlich einer von den beiden Studenten bei
ihr dejourire, damit sie dadurch die Fähigkeiten und Aufführung
jedes erkennen könne ; sie hätten von acht Uhr morgens bis zwei
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Die eiste Universität in Russland.
91
Uhr nachmittags bei ihr sich mit Schreiben oder Uebersetzen zu
beschäftigen, wie sie es befehlen werde ; von vier bis sieben Uhr
aber die von ihr ertheilten Ordres zu versenden und Copien von
ihnen zu nehmen. Darauf beschränkten sich die Massregeln der
Fürstin betrefis der Universität und der Studenten. Als sie 171)6
ihr Amt niederlegte, gab es drei Studenten. Die akademische Uni-
versität erlosch ; denn t man hatte das Gebäude unseres Unterrichts
auf Sand gebaut, ohne vorher ein Fundament gelegt zu haben».
Mit diesem Wort Boitins schliesst Graf Tolstoi sein Buch.
Hr. Borosdin jedoch meint; <Wie unzulänglich auch diese Univer-
sität gewesen, kann man doch nicht ihrer ohne ein Lobeswort ge-
denken. Ihr Verdienst um die russische Wissenschaft ist unbe-
streitbar: aus ihr ging eine nicht kleine Zahl sehr bemerkens-
werther russischer Gelehrter hervor, unter den Gliedern der russi-
schen Akademie hatte sie viele Zöglinge ; sie gab die ersten und
sehr guten Professoren der moskauer Universität, welche war
und noch jetzt bleibt eine der ersten Erhalterinnen und Bewege-
rinnen der russischen Bildung.»
— - *' ~
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Notizen.
«Sammlung statistischer Nachrichten über Livland, herausgegeben vom Livl.
Statist, (ioiiv. Comitc unter «1er Redactiou de» Sccretnrs N. Carl-
berg. Riga 1H86. S. 90. 4.)
CöOpilMIfVb CTaTHCTHICCKHXl CB1.At.llin HO Jllli|MflllI,CKOft ry 6C|1U I HT HUJiatl Hilft -1 tuf»-
JHOACKHU1» ryöCplICKlim CTaTltCTMieciCHMl Komi r «'tum i. nojri pcjiax
nie» CcKpeTap» Ii. Kapiöepra. Pira 138Ü.
ntsprecheud der neuen Bestimmung, dass die Geschäftssprache
j der baltischen statistischen Gouvernementscomites die russi-
sche sein soll, ist auch das obige Werk in russischer Sprache ver-
öffentlicht worden. Wol ist es schon früher vorgekommen, dass eine
Zusammenstellung des livländischen statistischen Gouv.-Comites, wir
meinen <Die Resultate der im Jahre 18*37 in den Städten Livlands
ausgeführten Volkszählung», mit beigefügter russischer Uebersetzung
erschien, im übrigen aber waren die auf livländiseh-deutscher Er-
hebung und Forschung beruhenden Arbeiten des Comites vorzugs-
weise für baltisch-deutsche Leser bestimmt. Das ist jetzt anders
geworden. — Welche Folgen wird dies für die Ent Wickelung der
Statistik in Livland haben ? Wie wol kaum eine andere Wissen-
schaft, wegen ihrer fast jedermann belästigenden Anforderungen,
in Livland nicht weniger als überall sonst, anfangs mit wenig
Sympathie, hin und wieder auch mit Mistrauen aufgenommen, war
es ihr durch das Bestreben, den provinziellen Bedürfnissen möglichst
entgegen zu kommen, dort allmählich gelungen, sich Vertrauen und
Interesse zu erringen uud bei der ßeurtheilung der bestehenden
Verhältnisse von verschiedenen Parteien als ein wesentlicher Factor
gezählt zu werden. Die Statistik kann bei ihren Ermittelungen
des Zwauges nicht ganz entbehren, aber wenn irgendwo, so heisst
Notizen.
03
es bei ihr besonders : fortiter in re, suaviter in mndo. Es wäre
für sie nicht blos in rein wissenschaftlicher Hinsicht, sondern ganz
besonders in ihren nahen Beziehungen zur Förderung des prakti-
schen Lebens sehr zu bedauern, wenn sie auf manchen Gebieten
jetzt bei uns einen Rückgang erfahren sollte.
Sehen wir von der uns ungewohnten Form ab, in welcher
die obige Publication uns begegnet, so könnten wir das Werk als
erstes, die verschiedensten Fragen der Administration und des
gesellschaftlichen uud ökonomischen Lebens der Provinz umfassen-
des statistisches Jahrbuch von Livland mit Freuden begrüssen, um
so mehr, als es uns von der bewährten Hand eines Gelehrten ge-
boten wird, der den Lesern dieser Zeitschrift durch mehrere Arbeiten
auf statistischem Gebiete schon rühmlichst bekannt ist. Statistische
Almanache oder, wie sie gewöhnlich genannt werden, Statistische
Jahrbücher der Art, Sammlungen von statistischen Tabellen, neben
denen ein erläuternder Text wenig oder gar nicht zur Geltung
kommt, sind nicht blos im Auslande, sondern auch in den inneren
Gouvernements Russlands schon lange üblich. Sie erhalten ihren
Werth, abgesehen natürlich vor allem von dem Grade der Zuver-
lässigkeit, den man ihnen resp. beimisst, durch den Umstand, dass
sie als jährlich oder wenigstens nach nicht sehr fernen Intervallen
wiederkehrende Nachschlagebücher für administrative und ökono-
mische Zwecke oder als Material für eingehendere statistische
Arbeiten dienen. Da ein Hauptvorzug dieser sogenannten Jahr-
bücher darin besteht, dass sie sich auf einen nahen Zeitpunkt, wo
möglich auf das vorhergehende Jahr beziehen, so können sie nicht
leicht Erläuterungen bieten, welche für die Bearbeitung mehr Zeit
beanspruchen. Wenn es bei solchen Jahrbüchern im allgemeinen
deshalb mehr auf das multa, als auf das multum ankommt, so wäre
für das Erscheinen eines Jahrbuches in Livland schwerlich früher
die rechte Zeit gewesen. Vorher musste durch die Feststellung
der wesentlichsten Fragen, wie sie erst durch eine umfassende
Volkszählung und durch gründliche Agrarenqueten ermittelt werden,
durch Arbeiten, wie sie Livland in so hohem Grade vorzugsweise
der schöpferischen und unermüdlichen Thätigkeit Fr. von Jung-
Stillings zu verdanken hat, die wahre Basis gelegt werden. Carl-
berg hat nun diesen Zeitpunkt richtig benutzt und sich bemüht,
in dem Jahrbuche so mannigfache Interessen zu berühren, dass die
Daten in den gebotenen fast 80 Tabellen etwa 50 verschiedene
Fragen betreffen.
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94 Notizen.
Wir hätten nur gewünscht, dass die Art der Ermittelung
dieser Daten mitunter genauer bezeichnet worden wäre, so z. B.
bei denen des Viehstandes im Jahre 1883, der absoluten Menge
der Aussaat und Ernte des Korns für die Jahre 1880—1884, der
relativen Höhe der Ernte der einzelnen Getreidearten durch Angabe
des wie vielten geernteten Korns (1881 — 1884) und der Ernte des
Flachses pro Dessätine (1880—1884), des mittleren Quantums des
gewonnenen Heus in Pud (1881—1885) und der Anzahl der am
Strande des Rigaschen Meerbusens im Jahre 1885 sich badenden
Personen. Auch müssen wir gestehen, dass wir zur Bestimmung
der jährlichen Einwohnerzahl auf dem flachen Lande für die Zeit
von 1870 bis zum Volkszählungsjahr 1881 mit Zugrundelegung
dieses letzten Jahres uns auf die einfache Berechnung des in Abzug
gebrachten jährlichen natürlichen Zuwachses beschränkt hätten, statt
die total unsicheren Polizeiangaben des Jahres 1870 irgend wie in
Betracht zu ziehen.
Indem wir dem Inhalte des neu erschienenen Werkes von
N. Carlberg als dem eines praktischen und nützlichen Handbuches
zur Kenntnisnahme der bestehenden Verhältnisse Livlands im all-
gemeinen volle Anerkennung zollen, wünschen wir, dass dieser In-
halt, wie es für ein richtiges Jahrbuch geziemt, bei ähnlicher Zu-
sammenstellung in regelmässiger Folge wiederkehren, zugleich aber
auch in irgend welcher Weise den Gebildeten unserer Provinzen
gemeinverständlich gemacht werden möge.
. P. J.
AoaBOieuo neii3ypo». — Peucib, 17-ro flimapa I8S7 r.
»lodruc.kt l«i I.JnJfors' F.rb<»n in Koval.
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Berichtigungen zu Band XXXIII, Heft 8 u. 9.
Zu nuseren Schlussworten über das Ueneralnivellement von Oesel und
Moon wird uns von wissenschaftlich massgebender Seite mitgetheilt, dass für
Kurlaud niclit mehr zu Borgen wäre. Seit einigen Jahren habe der Geueralstab
dort ein detaillirtes Nivellement nach deutschem Muster begonnen und schon
mehrere sehr schon ausgeführte Kartenblätter geliefert, die wirklich ein genaues
Bild der Oberfläche gäben. Es »ei eben da» ganze Land in Hohenschichten von
20— 30 Fuss durchnivellirt, und nicht blos die Strassen, wie bei der provinziellen
Arbeit,
S. 6H5 Z. 9 v. o. 1. Hillebrand statt Hildebrand.
S. 730 Note 1 1. Quast statt Quest.
S. 731 Z. 9 u. 13 v. 0. 1. Vincke statt Kücke.
S. 731 Z. 1 v. u. 1. Buch statt Auch.
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Die Eigenthumsfrage der Neuzeit.
Vom sociologischen Gesichtspunkte.
II.
Unsere so ciologische Stellungnahme zur
Bigenthum8frage.
A
ir stimmen vollständig mit Fouillee darin überein, dass
auf Principien zurückzugehen eine unerlässliche Forde-
rung der Zeit ist. Hat doch, nach Zeller, sogar ein so hervor-
ragender Repräsentant praktischer Thatkraft, wie Friedrich der
Grosse, in Bayle den Lehrer verehrt, der ihm gezeigt, wie ein
cvernttnftiges Denken ohne zureichenden Grund
unmöglich» sei. Hat doch dieser Denker, der in einer Hand
Scepter, Feldherrnstab und die Feder des Schriftstellers führte,
schon seinerzeit gesagt : cDie Wissenschaften müssen als Mittel
betrachtet werden, uns zur Erfüllung unserer Pflichten fähiger zu
machen. Wer sie pflegt, handelt methodischer und consequenter.
Der philosophische Geist stellt die Grundsätze
fest, aus denen das Urtheil und das vernünftige
Handeln hervorgeht.» Der philosophische Geist urtheilt
und handelt nicht, bevor er die leitenden Gesichtspunkte gefunden
hat. Und diese Gesichtspunkte sucht er nicht in der kurzsichtigen
Erfolgspolitik des Augenblickes von Fall zu Fall, sondern in der
«Fernsicht des luteresses», wie es v. Jhering1 nennt, oder wie es
' «Zweck im Recht» I, S. 548.
Baltische Uon»U«chrift. Bd.XK<CIV, lUTt _». 7
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96
Die Eigenthumsfrage der Neuzeit.
die Alten schon mit dem Grundsatze des respice finem gekenn-
zeichnet haben. Dieser philosophische Geist sieht nicht in seinem
Willen den höchsten Masstab für den Entwurf seiner Pläne und
für die Wahl seiner Mittel, sondern richtet seinen Willen nach
der Zweckdienlichkeit der Sache, welcher er unter allen Umständen
dienen und nicht, je nach den Umständen, auch Gewalt anthun
will. Ohne diesen Geist ist ein politisches Gewissen1
undenkbar, und ohne dieses Gewissen endet schliesslich auch der
genialste Politiker an dem Grössenwahn politischer Unfehlbarkeit,
dem politischen Kindisch werden. Nur das geistig geschulte politische
Gewissen schafft dem Staatspolitiker den praktischen Blick des
grossen Staatsmannes, welcher in c die Schranken des Jahrhunderts)
gefordert, nicht blos glänzende Siege gewinnen, sondern den Feld-
zug bis zum Abschluss eines segensreichen Friedens bringen will
und bringen kann.
Aber nicht nur der Staatsmann an hoher und höchster Stelle
bedarf des Geistes, welcher das politische Gewissen schafft, sondern
in gewissem Sinne auch der Staatsbürger an jeder Stelle des
modernen Staates. Was ist heute ein Staatsbürgerthum ohne Sinn
und Verständuis für die Vereinigung der persönlichen Interessen
mit den Ansprüchen der Gesammtheit und des Gemeinwohles : ein
Fass ohne Boden, ein socialer Sumpf ohne Boden ! Wie soll es
aber im heutigen Chaos widerstreitender Bestrebungen zum rechten
Staatsbürgersinn und zur rechten Findigkeit seiner Bewährung
kommen, wenn man, nach Goethe, wol <die Theile* in der Hand»
hat, aber wenn «das geistige Band» fehlt. Den Ariadnefaden aus
dem Labyrinthe des socialen Problems wird vollends kein Politiker
sich selbst für jeden Einzelfall stückweise zurechtdrehen ; den
ganzen Fadenvorrath muss man fertig bei sich haben, bevor man
sich ins Labyrinth begiebt.
Mit einem Worte : ohne principielle Stellungnahme zur
Sache lässt sich für die praktische Behandlung derselben kein
objectiver Massstab gewinnen, und wo dieser fehlt, führt der sub-
jective Massstab zur Masslosigkeit des Experimentirens. Handelt
es sich vollends bei der Sache, wie in den Dingen des parlamenta-
rischen Staates, um die Mitwirkung vieler Betheiligten, ja, einer
ganzen Nation, so kann für die sogenannte praktische oder real-
politische Behandlung das Auskunftsmittel des Experimentirens nur
* Puchta, «Gesch. de» röm. Hechta». 5. Aufl. S. 47.
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Die Eigenthumsfrage der Neuzeit.
97
ein völlig verkehrtes Resultat ergeben. Die Notwendigkeit der
Sacherledigung erhitzt die subjectiven Gesichtspunkte un^ führt,
bei dem einseitigen Vorgehen aller, nicht eine Vereinigung der
Interessenten zu einem gemeinnützigen Erfolge herbei, sondern be-
wirkt eine Entzweiung derselben zum Schaden für alle. Jeder
neue Versuch rückt die Sache immer weiter in den Hintergrund,
dagegen den Gegensatz der Parteistandpunkte immer massgebender
in den Vordergrund. Inzwischen mehrt sich die Summe der uner-
ledigten Sachen, von welchen die wenigsten überhaupt im uner-
ledigten Zustande verharren können, ohne stetig verwickelter zu
werden. Zu letzteren gehört nun unstreitig auch die sociale Sache
im allgemeinen und die Eigenthumsfrage im besonderen, welche
darum seitens aller Parteien endlich eine objective Behandlung er-
fordert. Hierzu bedarf es eben einer principiellen Stellungnahme,
nicht sowol wegen der von Foaülöe betonten sophistischen Theorien,
sondern vornehmlich wegen der Nähe des anarchischen Abgrundes,
welcher dem modernen Staat in Folge seiner socialen Verlotterung
droht und welcher durch seinen infernalen Pestgeruch die Massen
noch vor Eintritt des letzten Deliriums zur Besinnung und Umkehr
bringen muss.
Nichts hat in Dingen politischer Logik sich stetig mehr als
unbestreitbare Erfahrungssache erhärtet als dies, dass selbst die
untersten Volksmassen, abgesehen von der verhältnismässig geringen
Zahl berufsmässiger Wühler, immer noch aus Vernunftwesen be-
stehen, welche im grossen Ganzen sich lieber belehren als bethören
lassen. Nur bei andauerndem Ausbleiben vernünftiger Belehrung
gewinnt unvernünftige Bethörung Raum, welche schliesslich zur
unheilbaren Verranntheit ausartet. Vom Löwen heisst es, dass er
vor dem ersten Genuss von Menschenblut nicht ungereizt über
Menschen herfällt. Mindestens einer ähnlichen Respectstellung er-
freut sich auch die Vernunft innerhalb der grossen Masse.
Anstatt, wie bisher geschehen, eine völlig unfruchtbare Liebes-
mühe an den oppositionellen Spitzführern zu verschwenden, wende
der Staat seine Verständigungsversuche den Massen selbst zu, was
schon Fichte in seinen «Reden an die deutsche Nation > gepredigt
hat. Und die ganze Situation ändert sich : die Massen kommen
zur Selbstbesinnung und weichen den Spitzführern aus wie Nüch-
terne den Trunkenen. Die archimedische Weisheit, dass bei ent-
scheidenden Massnahmen die Hauptschwierigkeit nicht sowol darin
liegt, den Aufwand von Mitteln zum Zweck zu bestreiten als viel-
7*
98 Die Eigenthumsfrage der Neuzeit.
mehr den festen Ansatzpunkt zu finden, welcher die Hebel Wirkung
der Mittel bedingt, liegt dem praktischen Erfahrungssinne der
Massen durchaus nicht fern, jedenfalls diesen im Lebenskampf ge-
schulten Empirikern sehr viel näher als den in Tinte und Phrasen-
flnss bravirenden Schablonenreitern der Partei manegen. Nur aus
dem praktischen Berufsleben bildet sich jene praktische ßinsicht
heraus, dass es bei jeder Sache in erster Linie darauf ankommt,
von welchem Ende man sie angreift, und dass dieses Ende nicht
nach eigenem Gutdünken erfunden, sondern nur nach der
Natur der Sache in ihr selber gefunden werden muss. Man
stelle der socialistischen Fata Morgana ein sociologisches öos-7tov-OTCü
als Grundlage der Verständigung über die socialen Heilmittel ent-
gegen, und es beginnt der Anfang einer neuen politischen Zeit-
wende. Ist der Druck allgemeiner Rathlosigkeit erst behoben, so
schwindet die verzweifelte Lage, welche zu verzweifelten Schritten
treibt.
Der Einwand, dass die Massen der wissenschaftlichen Lösung
der socialen Frage durch die Sociologie nicht zu folgen vermöchten
und über diese hinweg nach wie zuvor zu einer anarchischen Tages-
ordnung überzugehen strebten, ist durchaus hinfällig. Der Staat
muss nur selbst die Sache ganz verstehen, die er will, und nur
ganz wollen, was er versteht, so werden die Massen stille halten
wie die unbändigsten Schulbuben vor dem Lehrer, der seine Sache
versteht und mit sich nicht spassen lässt. Zucht allein ist nichts,
wo nicht die sichere Ueberlegenheit sachlichen Rechthabens waltet,
und für dieses Walten haben die Massen, wie die Kinder, ein un-
endlich feines Sensorium.
Nur ein Punkt muss von Hause aus klar gestellt werden,
wenn der Staat will, dass sowol die Repräsentanten der Intelligenz
als auch die besseren Iustincte der grossen Masse sich vertrauens-
voll auf die Seite der staatlichen Social reform stellen. Dieser
Punkt ist der vollständige Bruch des Staates mit
dem Socialismus.
Was einer Belehrung fähig ist, muss erkennen, dass nur im
unbedingten Gegensatz zum Socialismus eine wirkliche Lösung der
socialen Frage möglich ist, weil das Ende des socialistischen Weges
in die sociale Revolution mit nachfolgendem Anarchismus ausläuft,
und nur der sociologische Weg zur socialen Reform mit nach-
folgendem Volks- und Staatswohle führt. Was einer Belehrung
fähig ist, muss begreifen lernen, dass Socialismus und Sociologie
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Die Eigen thumsfrage der Neuzeit.
99
ebenso wenig mit einander zu schaffen haben, wie etwa Märchen
mit Geschichte oder Irrthum mit Wahrheit, und ebenso weit aus
einander gehen, wie etwa die ehemalige Alchyraie mit ihrem ver-
geblichen Goldmachen und die jetzige Chemie mit ihren auf klären-
den Analysen, oder wie die ehemalige Astrologie mit ihrem phan-
tastischen Horoskopstellen und die gegenwärtige Astronomie mit
ihren mathematischen Berechnungen, oder die quacksalbernde Cur-
pfuscherei mit ihrer unqualificirbaren Willkür und die wissen-
schaftliche Heilkunst mit ihrer rationellen Diagnose.
Will der Staat diese Lage der Dinge nicht vollständig klären
und den Schein eines Compromissverhältnisses mit dem Socialismus
nicht gänzlich schwinden machen, dann hat er das Spiel verloren.
Fehlt, wie z. ß. in Deutschland, ein entschiedenes Verhalten von
massgebender Seite und herrscht in Folge dessen, nach der öffent-
lichen Meinung, kein principieller Gegensatz zwischen der
staatlichen und demokratischen Stellungnahme zum Socialismus, so
werden die Massen selbstverständlich sich derjenigen Vertretung
des Socialismus in die Arme werfen, die mehr verspricht. Und
die radicale Vertretung, die den Staat zu opfern bereit ist, kann
eben mehr versprechen als jeder moderirte Socialismus, der den
Staat retten will. Wer den Socialisten nicht mehr zu sagen weiss
als Stöcker den Juden : dass sie bescheidener werden sollen, ver-
schwendet unnütz Zeit uud Mühe, tadelt nicht den Weg, sondern
nur die Gangart des Getadelten und lässt den Teufel immerhin
Teufel sein, wenn er nur nicht den Pferdefuss hätte.
Bekennt der Staat sich nicht als ausgesprocheneu Gegner des
Socialismus, mit dem vollen Brustton der Ueberzeugung zur socio-
logischen Wahrheit, dass das sociale Heil einzig und
allein nur in der solidarisch verbundenen Haft
von Volkswohl und Staatsbestand liegt, so triumphirt
die socialistische Lüge, dass das Volksinteresse nur in dem Masse
gewinnen kann, als das Staatsinteresse zurücktritt.
Nur weil die Massen in Folge eigener Kathlosigkeit dieser
Lüge Glauben schenken, wenden sie sich, bei der ererbten Furcht
vor Uebervortheilung durch den Staat, dem Socialismus zu, und
müssen um so radicalere Gegner des Staates werden, je mehr sie
in der schwankenden Stellungnahme desselben das schlechte Gewissen
zu erkennen vermeinen. Ergreift aber der Staat die Sorge um
seinen Bestand und die Socialreform für das Volkswohl als unge-
teilte Programmaufgabe eines solidarischen Interesses, wie es die
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100
Die Eigenthumsfrage der Neuzeit.
Tendenz der Soeiologie erstrebt, so werden die Massen nicht lange
schwanken. Sie werden lieber für den Sperling aus der sicheren Hand
des bestehenden Staatsgebäudes sich erklären, als für die Tauben,
welche vom Dache des socialistischen Luftschlosses fliegen sollen.
Der Socialismus wird selbstverständlich noch nicht aus der Welt
schwinden, so lange es unverbesserliche Verranntheit giebt. Aber
er verliert seinen staatsgefährdenden Charakter mit dem Augen-
blicke, wo der Massenwahn schwindet, dass nur in der principiellen
Gegnerschaft zum bestehenden Staat die einzige sociale Rettung liegt.
Wenn der kurzathmigen Staatsweisheit realpolitischer Schule
eine der wesentlichsten Voraussetzungen zu rationellem Urtheile
nicht gänzlich abginge, wenn sie nur eine Ahnung von dem hätte,
was schon ein Constantin» seinerzeit nicht übersah, und was wir,
in moderner Sprache, etwa Volkspsychologie nennen möchten, so
würde über eine Hauptsache in Dingen fruchtbar zu verwertender
Volkssympathie keinerlei Zweifel obwalten. Die unteren Volks-
schichten, in der natürlichen Veranlagung ihrer tiberwiegenden
Majorität, verlachen nicht Principe1, wie der seichte Kriticismus
der sogenannten gebildeten Stände heute thut, sondern suchen Prin-
cipe, wie der Reisende in der Wüste nach Wasser.
Warum hat der Radicalismus im letzten Grunde ein so leichtes
Spiel, dagegen der Staat einen so harten Kampf mit den Massen ?
Aus keinem anderen Grunde als nur deshalb, weil die Massen im
1 Vgl. Puchta, «Gesch. des röui. Rechts». 5. Aufl. 1. Thl. S. 622.
* Röder, *Grnndzüge der Rechtsphilosophie». 2. Anfl. I. Abth. Vorrede S. 17:
"Es mag sein, dass manche, die keinen Massstab und keine Mittel für das kennen,
was uns die Zukunft bringen muss, als die sich ans der Rüstkammer der Ver-
gangenheit ergehen; es mag sein, dass sie uns aus ihren Vordersätzen die Noth
wendigkeit darthnn, dass es allezeit eine ofTene oder versteckte Sclaverei geben
müsse, allezeit Ueberreiche und solche, die in Hunger und Kummer verkommen,
und dass nur etwa in grosseren Zeitabschnitten dieses angeblich endlosen Unrechte-
zustandes zuweilen einmal die Starken und Geniessenden mit den Schwachen
und Entbehrenden die Rollen zu wechseln berufen sind. Gewiss aber ist
so viel, dass dieReclitsahnung oder Einsicht des ge-
sunden Menschenverstandes, die auch in den untersten
Klassen nicht so sehr fehlt, als man lange genug gewähnt
hat, gegen jene Vordersätze und alle Schlüsse daraus sich
empört. Wem die erschreckenden Zahlenverhältnisse nicht fremd geblieben
sind, in denen die Massenarmuth und folgoweise die Eigenthnmsverbrechen
fast in allen Landern anwachsen, der muss sich selbst sagen, dass es nicht lange
mehr so fortgehen kann, und dass die bisherigen Gegenmittel sammt und sonders
unzureichend sind, um dem Uebel zu steuern. >
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Die Eigenthumsfrage der Neuzeil.
101
Rndicalismus die entschiedene Vertretung von Principen, dagegen
im Staat den historischen Träger der Principlosigkeit in Dingen
des Volkswohles zu erblicken meinen. Dass die Massen hierbei
kritiklos verfahren, kann ihnen der Staat nicht zum Vorwurf
machen, so lange er der systematischen Urtheilsfälschung durch eine
wühlerische Mache nicht eine ebenso systematische Urtheilsklärung
durch ausreichende Belehrung auf sachgemässem Wege entgegen-
setzt und den Massen zur Verfügung stellt. So lange der Staat
diesem Volksbedürfnisse nicht entspricht, etwa wie unser Project
teiner socialpolitischen Propädeutik» in Vorschlag bringt oder ein
noch zu findender besserer Modus zu bringen hätte, so lauge be-
weist ungefügiger Volkswille dem parlamentarischen
Staate noch keineswegs b ö s e n W i 1 1 e n. Die gelegentlich in
die Öffentlichkeit geworfenen Brocken officiöser Kundgebungen
spielen für die vom Strudel der Parteimeinungen hingerissenen
Volksmassen nur die Rolle von Strohhalmen für Ertrinkende.
Das Volk ist sich seiner politischen Unbildung und des hier-
aus folgenden Mangels an leitenden höheren Gesichtspunkten sehr
wohl bewusst. Der kleine Mann tritt nicht mit fertigem Urtheile
an alles heran und fordert darum vom Antragsteller erst das Dar-
bieten principieller Anhaltspunkte, um mittelst dieser sich sein Ur-
theil bilden zu können. Für den praktischen Volkspolitiker kann
in diesem Stück kein Zweifel bestehen. Wer von dem kleinen
Mann die beifällige Erklärung tes stimmt» erlangen will, der be-
ginne im concreten Falle bei Leibe nicht mit einer Specialanalyse
der betreffenden Sache, sondern schaffe ihm zuvor eine allgemeine
Fühlungnahme von einem ihm schon geläufigen Gesichtspunkte
principieller Natur oder mache ihm, in Anknüpfung an einen
solchen, einen neuen geläufig. Alsdann wird man den kleinen
Mann unbedingt auf seiner Seite stehen haben. Das unverdorbene
Naturkind sieht darin noch eine Ehre, Gründen von Klügeren zu
folgen und sich diesen anzuschliessen, im geraden Gegenspiel zum
Skepticismus der sogenannten gebildeten Stände, deren realistisch
verllachte Majorität heute die Armuth ihres geistlosen Urtheils
durch endlose Einwände gegen jeden Antrag zu verdecken strebt,
um durch Anerkennung von entgegengebrachten Gründen nicht ein
Nachgeben des schwächeren Theiles zu zeigen.
So lange aus dieser Majorität auch die Majorität des Parla-
ments hervorgeht, hat der Staat absolut nichts zu hoffen, wie jede
Neuwahl schon deutlich genug gezeigt hat und die Zukunft noch
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102 Die Eigeuthumsfrage der Neuzeit.
*
schlagender zeigen wird. Der Appell an die Nation kann nament-
lich in Deutschland, das durch seine Geschichte und Lage in der
europaischen Staatengruppe zur wenig beneidenswerthen Rolle eines
ünicum verurtheilt ist, nicht früher einen befriedigenden Erfolg
für den Staat gewährleisten, als bis der Staat, ebenso wie
die militärische Kriegstüchtigkeit, auch die
politische Urtheilstüchtigkeit auf dem Wege
systematischer Vorschulung an jedem einzelnen Staats-
bürger ausgebildet hat.
Haben wir hiermit die sociologischen Gesichtspunkte ange-
deutet, von welchen aus wir, mit Fouillee, die Notwendigkeit einer
principiellen Stellungnahme seitens des Staates vertreten, so fern
derselbe seine socialreformatorische Arbeit nur bei entsprechendem
Entgegenkommen des eigentlichen Grundstammes der Nation erfolg-
reich beginnen und fortführen kann, so werden wir nun die Be-
werkstelligung dieser Stellungnahme seitens des Staates zu be-
leuchten haben, um zuletzt die praktischen Mittel anzudeuten, welche
durch diese Stellungnahme vom sociologischen Gesichtspunkte in
Dingen der Social reform, namentlich iu der Eigenthumsfrage, ge-
boten erscheinen.
B.
Wenn wir eine principielle Stellungnahme sociologi-
schen Charakters für den Staat befürworten, so wollen wir zu-
nächst den indirecten Grund zu dieser Befürwortung, nämlich die
Unzulänglichkeit der bisher vorhandenen Hilfsdisciplinen zur Aus-
beute für die höhereu Interessen der Staatspolitik, hier nicht ver-
schweigen. Diese Unzulänglichkeit sehen wir keineswegs in einer
völligen Unbrauchbarkeit der einzelnen Gesichtspunkte, welche jede
dieser Disciplinen nach ihrem besonderen Gesichtskreise bis zur
Geltung eines wissenschaftlichen Ergebnisses innerhalb der Grenzen
ihres speciellen Fachgebietes durchgearbeitet hat. Vielmehr sehen
wir die Unzulänglichkeit nur in dem Mangel ihrer summarischen
Verwendbarkeit seitens des Staates für die Zwecke einer rationellen
Socialreform vom sociologischen Standpunkte Diese unmittelbare
Verwendbarkeit werden, nach unserer Ansicht, die Sonderdisciplinen
hinsichtlich ihrer Specialergebnisse niemals von sich aus dem Staate
beschaffen. Bei der Noth wendigkeit getheilter Arbeit theilen sich
auch die wissenschaftlichen Interessen, und darum kann von einer
gemeinsamen Vorarbeit im speciell staatswisseuschaftlichen Sinne,
Die Eigenthumsfrage der Neuzeit.
103
zur Geueralisirung des Unheils über das Gesaramtgebiet alles
Wissenswerthen für die Staatspolitik, durchans nicht die Rede sein.
Hat doch diejenige Disciplin, welche die moderne Staatspolitik
vorzugsweise in ihren Dienst ziehen mag, die Nationalökonomie
sammt Statistik und Finanzlehre, noch nicht einmal, wie unten
gezeigt werden soll, aus dem Rohen sich herauszuarbeiten vermocht.
Und die aus wilder Ehe mit dem Demokratismus gezeugte Social-
wissenschaft«, welche auf wissenschaftlichem Erziehungswege dem
Socialismus eine legale Standesehre abgewinnen sollte, ist schon
durch die Zangengeburt dieser coiitradktio in adjccto als todtge-
borenes Kind auf die Welt gekommen, hat bereits mit dem Staats-
socialismus Wagners das Todtenheindchen erhalten und wird hoifent-
lich bald ohne Sang und Klang begraben sein. Wenigstens wird
in Deutschland die nationalbewusste Jugend, die bald
an mehr als einer massgebenden Stelle ihrem Vaterlande aufhelfen
wird , gewiss keine Belebungsversuche an dem internationalen
ßastardkinde vornehmen.
Gewiss steht der Staatspolitik auch gediegenes Material zur
Vornahme einer Blumenlese bereits zur Verfügung. Aber weder
• Vgl. unsere Schrift «Volksseele», namentlich S. 132 f. Anm., wo wir uus
besonders gegen die unhaltbare Identificirung des Begriffes «menschliche Gesell
schaft» mit der Totalität des Menschengeschlechts erklären. Die Kategorie des
Organischen, in Analogie mit der Natur und mit dem menschlichen Individuum,
ist nicht anf das gesammte Menschengeschlecht anwendbar, sondern nur auf den
Theilbegriff Gesellschaft und hinsichtlich des letzteren auch nur in der Ein
schränkung auf die einzelnen nationalen oder staatlichen Aggregationen. Bei
der Kategorie des Organischen, in Anwendung auf die (iesellschaft, kommt vor
allen« die Sphäre der menschlichen bezw. sittlichen Willensfreiheit mit ins Spiel,
eine Sphäre, in welcher nicht nur gegeben»-, soudern auch zu schaffende Bedin-
gungen den Ausschlag geben, ob normale Ausgestaltung oder Auflösung nnd
Untergang folgt. In dieser sociologischen Unterscheidung sehen wir einen fun-
damentalen Gegensatz zum naturalistischen socialwissenschaftlichen Standpunkt,
dessen Richtung wir im ganzen nur typisch socialistisch nennen können. Im
übrigen versagen wir eiuzelnen volksphysiologischeu Gesichtspunkten, die auch
hier zu Tage gefordert sind, keineswegs unsere Anerkennung, namentlich nicht
den «Gedanken über die Socialwissenschaft der Zukunft^ von P. v. Lilieufeld.
Dieser hervorragende Denker und Staatsmann hat sich einen Namen gemacht,
den die Zukunft ehren wird, auch wenn sie über die Socialwissenschaft zur
Tagesordnung der Sociologie übergegangen seiu wird. Es handelt sich hier nicht
um ein Gegenüber von Anfang und Ende derselben Progression, sondern um
vollkommene Gegensätze, welche um des gemeinsam behandelten Problems willen
eben so wenig mit einander zu schaffen haben, wie etwa Landwirth und Maul
warf um derselben Erde willen, die beide bearbeiten.
♦
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104 Die Eigenthumsfrage der Neuzeit.
hat sie die nöthige Zeit zu einer solchen Sammellese, noch ent-
spricht auch letztere dem eigentlichen Bedürfnisse der Staatspolitik,
welche bei Vornahme ihrer Operationen am Volks- und Staats-
körper, gerade wie der Chirurg, von einer hilfeleistenden Assistenz
alles Erforderliche in völliger Bereitschaft gehalten wissen will.
Hat doch der grosse Kanzler mehr als einmal über den leidigen
Uebelstand geklagt, dass er bei wichtigen Intentionen in Dingen
des Volks- und Staatswohles lediglich auf die eigene Initiative an-
gewiesen ist.
Nach unserer Ansicht kann sich daher die Staatspolitik von
keiner dieser Disciplinen einen mehr oder weniger einseitigen Stand-
punkt anweisen lassen, sondern muss eine dominirende Höhe zu
gewinnen suchen, welche den erforderlichen Ueberblick zu einer
principiellen Stellungnahme nach jeder Richtung ermöglicht — eine
Höhe, deren Mitnutzung die Staatspolitik im parlamentarischen
Staat auch seitens aller Wohlgesinnten des Landes fordern könnte,
ohne von Fall zu Fall die zeitraubende und meist vergebliche
Schulmeisterarbeit ab ovo dransetzen zu müssen. Die entsprechende
Grundlage zu diesem Ueberblick von der Höhe mit allem, was
drum und dran das Material einer selbständigen Wissenschaft ver-
mittelnden Charakters abgiebt, nennen wir Sociologie. Nur die
Sociologie könnte jene Rolle einer hilfeleistenden Assistenz über-
nehmen.
Da wir an dieser Stelle nicht von der Sociologie als solcher
reden, sondern nur ein sociologisches Streiflicht auf die besprochene
Specialfrage werfen wollen, so müssen wir uns bescheiden und
können nur in Thesenform unsere sociologischen Ausgangspunkte
andeuten. Die drei Seiten, welche vom sociologischen Gesichts-
punkte für die principielle Stellungnahme zur socialen Frage wesent-
lich sind, geben wir demnach in folgender Formulirung :
Fertige Ausgangspunkte zur Lösung der socialen Frage bieten
zur Zeit weder Rechts- und Culturgeschichte , noch National-
ökonomie1 und Rechtswissenschaft, noch Philosophie und Ethik —
1 Vgl. Schmoller, «Jahrbuch <&c> 1883, Heft 4 bei Besprechung des cHandb.
der polit. Oekon. v. Prof. Schönberg ■ : «Die gegenwartige deutsche Wissenschaft
der politischen Oekonomie ist in einer vollständigen Umbildung und Umwälzung
begriffen .... exacte Forschung, Wiederanknüpfnng der lauge blos dogmatisch .
und losgerissen für sich gehandhabten Satze der Wirtlischaftslehre an die Rechts
und sonstige Philosophie, Psychologie, Geschichte und Ethik charakterisiren den
Umschwung, dessen letzte Conseqnenz die Verwandlung der sogenannten politi-
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Die Eigenthumsfrage der Neuzeit.
105
Die Sociologie bat auf Grund sämmtlicher Hilfsfächer und
eigener Forschung sich ihre Axiome selbst zu beschaffen ; diese
ergeben für vorliegenden Zweck den syllogistischen Satz, dass es
in der socialen Frage sich um die ebenso spontane wie andauernde
Eigenkraft1 eines Natur- und Culturprocesses handelt, der sich
weder Gesetze aufzwingen lässt, noch gesetzliche Regelung ent-
behren kann, soll anders nationales Gedeihen und nicht nationale
Selbstzersetzung die unausbleibliche Folge sein —
Geschichte und Erfahrung in Dingen seitheriger Volks- und
Staatsentwickelung bieten der Sociologie Weg und Mittel zur
exacten Feststellung der Vitalität dieses Processes, welcher der
Wahlfreiheit des menschlichen Willens3 einen Spielraum innerhalb
sehen Oekonomie in die Socialwissenschaft sein wird und muss. > — Nicht um
der letzten Schlussfolgerung, sondern um der Vordersätze willen setzen wir
die Worte des verehrten Gelehrten her. Sein Scharfblick hat die gegenwärtige
Unzulänglichkeit der Nationalökonomie oder polit. Oekonomie vollständig erkannt,
während er der Zukunft der Socialwissenschaft bona fide das zuspricht, was mau
bis vor kurzem von diesem unfertigen Anlaufe erhoffte. Näheres folgt noch.
Hier nur die kurze Bemerkung, dass die polit. Oekonomie, nach unserer Ansicht,
durchaus selbständige Existenzberechtigung hat, so fern sie die ihr noch fehlenden
Voraussetzungen und Zweckziele zu gewinnen und nach diesen sich zu regene-
riren vermag, wie weiter im Text berührt wird.
1 Vgl. Fichte, «Reden an die deutsche Nation ». Reclamsehe Ausg. S. 109 f.:
*Der deutschen Nation wird durch eine in sich selbst klar gewordene Philosophie
der Spiegel vorgehalten, in welchem sie mit klarem Begriffe erkenne, was sie
bisher ohne deutliches Bewusstsein durch die Natur ward und wozn
sie von derselben bestimmt ist; und es wird ihr der Antrag
gemacht, nach diesem klaren Begriffe und mit besonnener und freier
Kunst, vollendet und ganz sich selbst zu dem zu
machen, was sie sein soll, den Bund zu erneuern und den Kreis zu schliessen.»
Vgl. hierzu unsere Schrift «Sociologie Fichte«», S. 133 u. 156 unten.
• Vgl. Pnchta, «Gesch. des röm Rechts». 5. Aufl. I. Bd. S. 29: «In dem
Irrthume, den Staat als die Quelle des Rechts zu betrachten, bewegen sich die
meisten Politiker, von denen die eine Partei das Hecht von der Obrigkeit, die
andere (um die Begriffe gänzlich auf den Kopf zu stellen) von dem Volke im
politischen Sinn, den Regierten im Gegensatze zu dem Regenten, ausgehen
lässt. Beide Ansichten sind unrichtig: der Ursprung des Rechts liegt ausserhalb
des Staates, und zwar nicht blos in Beziehung anf seine übernatürliche Ent-
stehung durch Gottes Gebot, sondern auch anf seine natürliche durch den natio-
nellen Willen. Dieser Wille ist nicht der Wille des Volks als eines Bestand-
teiles des Staates, sondern des Volks als der natürlichen Verbindung, welche
das Fundament des Staates ist. Der Staat, setzt das Recht voraus, ist aber hin-
wiederum dessen nothwendige Ergänzung. Beide haben jene übernatürliche und
natürliche Entstehung mit einander gemein: sie beruhen auf Gottes Ordnung
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I0(i Die Eigenthumsfrage der Neuzeit.
gewisser Grenzen gewährt und hierdurch die ausreichende Mög-
lichkeit zur Bestimmung sociologischer Normen für sozialpolitische
Reformen bietet —
Diese drei Seiten sociologischer Stellungnahme, nach unserem
System, unterziehen wir nun, wenn auch in nothgedrungener Kürze,
einer näheren Beleuchtung.
Hinsicht lieh der erstgenannten Seite oder These hat die von
uns vorgelegte Fouill6esche Arbeit schon die Hauptsache besorgt.
Der geistreiche Franzose ist zwar nicht ganz und gar unser Mann,
aber so weit er eine kritische Rundschau über die verschiedenen
Gesichtspunkte giebt, welche von den hervorragendsten Specialisten
zur Lösung der socialen Frage aufgestellt sind, können wir uns
seinem Urtheile fast durchweg anschliessen. Dieses Urtheil erhärtet
wesentlich die Behauptung unserer ersten These und überhebt uns
der Nöthigung, eingehender den resultatlosen Verlauf nachzuweisen,
den die bisherige Behandlung der Eigenthumsfrage seitens der
Wissenschaft und Praxis genommen hat. Und warum dieser
Verlauf?
Die bisherige Behandlung kennt nur die Alternative zwischen
absoluter Vertretung der subjectiven Rechtsseite des Eigenthums
oder absoluter Bestreitung dieser Rechtsseite. Selbst das gewiss
sachlich richtige Zurückgreifen auf die Arbeit, als auf die gene-
tische Rechtsquelle des Eigen thums, hat die gegensätzliche Beur-
teilung der Folgerungen nicht zu beseitigen vermocht. Auf der
einen Seite wird das vom Gesichtspunkt der Arbeit abgeleitete
individuelle Besitzrecht schlechthin generalisirt und von sonst be-
achtenswerthen Specialisten, wie Bastiat, Carey, Leroy-Beaulieu
und auch Jules Simon, zu den extremsten Folgerungen verwendet.
Auf dieser Seite verschlägt so gut wie gar nicht der von Fouillee
betonte doppelte Gesichtspunkt, dass erstens die Natur oft in
- wesentlichster Weise mitarbeitet und daher die ersten Besitzergreifer
co ipso im Vortheile vor allen Nachgeborenen sind, und dass zwei-
tens die mitwirkende Leistung der Gesellschaft jetzt den von der
Arbeit abgeleiteten subjectiven Besitztitel auf Eigenthum durchaus
nnd auf dem Willen, den der Mensch als Glied einer Nation hat.> — Vgl. hin-
sichtlich der mit dem Willen zusammenhangenden Vitalitat de» Volks und Staats-
organismns Bunsen Zeichen der Zeit», 2. Bd. S. 28: »Alles stirbt nur aus Mangel
an innerer Lebenskraft, und alles geht nur unter durch sich Belbst, nämlich durch
sein eigeues selbstsüchtiges Printip, welches die Bedingungen seines Daseins in
frevelndem Uebermuthe verkennt oder sich in Blödsinnigkeit verzehrt.»
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Die Eigenthumsfrage der Neuzeit.
107
verschiebt. Auf der anderen Seite will man wiederum von diesen
Gesichtspunkten aus schliesslich nichts anderes als collectiven Be-
sitz. Auch die moderirte Vertretung dieser Richtung, welche mög-
lichste Verstaatlichung alles unbeweglichen Eigenthums, speciell
des Landes, will, steuert im Grunde auf dasselbe Ziel los, welches
der radicale Socialismus ohne Phrase erstrebt. Es verschlägt darum
wenig, wenn selbst so extreme Vertreter des Staatsmonopols auf
Eigenthum, wie Henri George, sich im Principe gegen den Social-
demokratismus erklären. Nicht die grössere oder geringere An-
eignung von fremdem Eigenthum macht den Diebstahl, sondern die
willkürliche Aneignung. Wenn Schäffle die Gütererzeugung socia-
lisiren will ; wenn Stuart Mill, Laveleye, Ricardo gegen die Selbst-
erhöhung der Grundrente eifern ; und wenn schliesslich Fouillee
selber, ungeachtet seines Strebens nach Versöhnung der Gegensätze,
keine bessere Vermittelung weiss als Mobilisirung des Eigenthums :
so Hesse sich, in drastischer Verdeutlichung der Lage, wol zutreffend
behaupten, dass der Socialismus eben der Teufel ist, der die ganze
Hand erfasst, wenn ihm auch nur ein Finger geboten wird.
Der Grund zum unbehobenen Gegensatz der Meinungen liegt
sehr einfach und klar in der Unversöhnlichkeit der Standpunkte,
die man im Principe nicht aufgeben, sondern nur auf dem Com-
pronüsswege näher bringen will, so weit es eben geht und — so
weit es nicht geht, auf den letzten Trumpf von Halten oder Brechen
zu setzen bereit ist, ein Trumpf, mit welchem das Häuflein Be-
sitzender alles und die Unmassen Besitzloser nichts aufs Spiel setzen.
Wenu der Staat sich selbst und die Gesellschaft aus dem
Parteisumpfe retten will, so darf er selbst nicht darin stecken,
sondern muss einen festen Boden unter sich gewinnen. Dieser
Boden kann im constitutionellen Staat, der die Gesellschaft mit
ihrer ganzen Leistungskraft zur Mitarbeit heranzieht, nur socialer
Natur sein. Mit anderen Worten: die' formale Seite der
politischen Rechtsverfassung muss die ent-
sprechende materiale Gegenseite in einer so-
cialenOrganisation erhalten. Die bisher unterbliebene
Lösung dieser Aufgabe seitens des Staates hat die versuchte Selbst-
hilfe der Massen erzeugt und die demokratische Lösung auf social i-
stischem Wege ins Kraut schiesseu lassen. Wie wenig die neuer-
dings vom Staat unternommenen Versuche zu einer Socialreform
verschlagen, zeigt die Erfahrung täglich deutlicher. Es kann eben
nicht anders werden, so lange nicht von Normen der socialen Orga-
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108 Die Eigentimmsfrage der Neuzeit.
nisation die Rede ist, und so lange der Staat den letzten Zweck
dieser Organisation, die Begründung einer social sichergestellten
Zukunft seiner Staatsbürger, als cZukunftsnmsik» verlachen will,
anstatt ihn als einzige Rettung der Zukunft für sich und die Ge-
sellschaft zu ergreifen. Die Zukunft wartet nicht mehr, sie pocht
schon an der Thür.
Die politische oder Nationalökonomie, welche in erster Linie
die Beschaffung des uöthigen Materials zum Normiren bisher be-
sorgen sollte und wollte, ist in der Lösung ihrer Aufgabe zur Zeit
noch so sehr zurück, dass sie den feindlichen Lagern Waffen zu
gegenseitiger Bekämpfung bietet, anstatt in dieselben das wunden-
heilende Oel des Friedens fliessen zu lassen. So lange diese
Wissenschaft nur von Volksgütern, deren Erzeugung, Umlauf und
Verbrauch zu reden weiss, entspricht sie uoch nicht ihrem eigenen
Namen. In dieser Verfassung bleibt sie ein Rumpf ohne Kopf
und Füsse, hat keinen festen Boden unter sich und keine freie
Luft über sich, vermag vollends der Anfrage nicht zu bieten, was
sie selber nicht hat. Deutsch gesprochen : die Volks- oder Staats-
wirthschaftslehre muss erst von der Landwirtschaft lernen, dass
vor der Wirthschaft mit den Landerzeugnissen, vor dem Säen und
Ernten das Ackern und vor diesem gar noch vielerlei vorausgehen
muss, mit einem Wort, die Bearbeitung des Bodens je nach
seiner Eigenschaft, je nach Untergrund, Lage, Witterung &c. in
Betracht kommt, und dass ausserdem die ganze Bewirthschaf-
tungsmethode nicht nur hie und da glänzende Ernten zu er-
zielen, sondern steigende Ertragsfähigkeit des gesamm-
t e n Wirtschaftsgebietes zu schaffen hat, um nicht
durch Ermüdung oder Erschöpfung des Bodens ein schliessliches
Auswirthschaften herbeizuführen. Und damit nicht genug. Der
Vergleich bietet noch tiefere Beziehungsseiten. In der Land wirth-
schaft giebt es nichts, was gethan oder unterlassen nicht eine un-
bedingte Folgewirkung, sei es schädigender oder nützender Art,
brächte; ja, es giebt Zeiten und Umstände, wo in der Landwirt-
schaft, ähnlich wie bei dem Schachspiele, ein einziger verfehlter
Zug oder nur der Verlust eines Tempo das beste Eröftnungsspiel
vergeblich machen, die ganze Partie unrettbar zu Fall bringen
kann. Was das heisst, muss auch die politische Oekonomie zuerst
auf ihrem Wirtschaftsgebiet begreifen lernen, bevor sie eine ratio-
nelle Wissenschaft heissen will. Die Volkswirtschaft muss zuerst
ihren Wirthschaftsboden im Volksschosse er-
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Die Eigenthumsfrage der Neuzeit. 109
kennen und für das Eigen wesen desselben ein Auge gewinnen,
muss sodann von einer intensiven Wirthscha f ts ra e t hode
wissen, welche die Zukunft dieses Bodens durch Hebung der inneren
Lebenskräfte der Nation sicherstellt und ihn vor Erschöpfung
schützt : bevor sie schliesslich in annähernder Weise über seine
Güter, deren Erzeugung, Umlauf und Verbrauch Bescheid finden
und geben kann.
Wie viel der Volks wirthschaftslehre aber noch hieran fehlt',
1 Die grossen Verdienste, welche Männer wie Roscher, Kau, Stein itc.
sich um die erste Entwicklung der jungen Wissenschaft erworben haben, sollen
nicht herabgesetzt werden. Aber selbst bei diesen Autoritäten besten Klanges
haben sich einige der wesentlichsten Gesichtspunkte schon sehr bald überlebt.
Namentlich gilt dies in Betreff der wichtigen Kategorien über den Erschluss
der Pr o d u c t i o n s q u e 1 1 e n , wo der Gesichtspunkt der Begrenzung : est
modus in rebus eigentlich gar nicht und fast nur der der Erweiterung in infini
tum vertreten wird, gerade als ob der Erdball bis in unabsehbare Zeiten hinein
für den Absatz ein alles verschlingender Abgrund bliebe. Die nicht minder wich
tigen Capitel über die C o n c u r r e n z zeigen gleichfalls einerseits eine be-
denkliche Umgehung der principiellen Gesichtspunkte, andererseits eine noch be-
denklichere Begünstigung des Billigkcitspriucipes und der Nachiiffungstheorie mit
übermässiger Betonung des Weltmarktes, anstatt den Gesichtspunkt der Gediegen
heit des Products und den der Accomodation «n das Productionsgebiet zu erhärten,
gerade als ob das höchste Ziel der Production das Suchen des Weltmarktes sei-
tens des Products und nicht vielmehr das Gesuchtwerden des Products seitens
des Weltmarktes wäre, als ob nur Benutzung der Nachfrage und nicht das
Schaffen von Nachfrage die Hauptsache bliebe. — In der brennenden Frage muh
Normen für die Besteuerungsform wollen wir beispielsweise etwas näher die
Oberflächlichkeit beleuchten, mit welcher A. W a g n e r die betreffende Materie
behandelt, dieser Manu, der nicht müde wird, in seinen Schriften das pathetische
Partikelchen tsocialpolitisch» zu leisten. Das von Wagner und Nasse heraus-
gegebene (Lehrbuch der polit. Oekonomie» enthält im sechsten Bande < die Finanz
Wissenschaft» von A. Wagner und der II. Tbl. dieses Bandes behandelt die allge-
meine Steuerlehre. Auf der letzten Seite der Vorrede heisst es vielverheissend,
dass hier möglichst eonsequent alle hauptsächlichsten Principienfragen der Be-
steuerung im systematischen Zusammenhang behandelt werden». Aber S. 169 be
ginnt er Beine principielle Stellungnahme zur Besteuerung in ihren Beziehungen
zur Organisation der Volkswirtschaft» mit der Erklärung, dass die « Begründung
des Besteuerungsrechtes nach der politischen und öffentlich rechtlichen Seite in
die allgemeine Staatslehre und Politik und nach der philosophischen Seite in die
Rechtsphilosophie gehört» und dass für die politische Oekonomie, speciell Finanz-
lehre, die «wirkliche Durchführung der Besteuerung am wichtigsten» ist. Heisst
das nicht die wissenschaftliche Hauptsache auf den Kopf stellen ? Wenn aus der
leidigen Fiuanzroutine eine leidliche Finanzlehre werden soll, so hat diese doch
wol mehr zu leisten als eine hie und da geänderte oder nur mit neuen Rand-
glossen versehene Klassitiratiun aller hergebrachten Finanzoperationen. Im con-
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110
Die Eigen thumsfrage der Neuzeit.
beweist ihre verblüffte Ratlosigkeit in den peinlichsten Zeitfragen,
namentlich in der Besteuerungsform und in so abnormen volks-
stitutionellon Staat will nicht nur der finanzielle Fachmann und höhere Politiker,
mindern jeder Steuerzahler jetzt kcIhiii mehr vor Augen haben als eine zur Aus-
wahl gebotene Mustersammlung von Operationen. Er will auch die Fingerweise
zu einer speeiellen Auswahl, von massgebenden stAatspolitisehen Prineipien aus,
dargeboten haben. Zugestanden, daas da«, was Wagner «Begründung deg Bo
steuerungsrechte»» nennt und was wir lieber den organischen Zusammenhang des
Finanzwesens mit dem gesummten Staatswesen, des partiellen Bestandteiles mit
dem (tanzen nennen wollen, nicht zu den eigentlichen Aufgaben gehört, deren
Ergründung in erster Linie der speciellen Finanzlehre zukäme. Die Bescheiden-
heit können wir nur anerkennen. Aber wenn die Finanzlehre die principiellen
Gesichtspunkte über den einheitlichen Verband von Finanzwesen und Staatswesen
auch nicht selbst beschallen soll, so kann sie dieselben, so weit sie Bt-hon ander-
weitig von competenter Seite beschafft sind und eine gewisse Geltung beanspruchen,
doch nun und nimmermehr bei Seite liegen lassen. Sie hat diese Gesichtspunkte
nicht nur gelegentlich hie und da zu berühren, sondern mnss sie vor allem zur
obersten Richtschnur für ihre ganze Systematik und Methodik machen, um über
haupt Grundzüge für eine wissenschaftliche Behandlung betreffender Ma.
terie im einzelnen und ganzen zu gewinnen. Wo solche Grundzüge fehlen, kann
von einer Wissenschaft bezw. rationeller Lehre «zur Organisation der Volks-
wirtschaft», wie Wagner sagt, absolut nicht die Rede sein. Solche Grnndzüge,
im herkömmlichen Sinne der Wissenschaft, sucht man in Wagnerschen Schriften
vergebens. Wer z. B. eine principielle Stellungnahme auf Grund leitender Ge-
sichtspunkte etwa in Bezug auf directe oder indirecte Steuer (letztere von Wagner
Verbrauchssteuer genannt) speciell Branntwein- und Tabaksteuer, Monopol, Privat-
oder Staatsmonopol oder Nichtmonopol &c. auB Wagnerscher Behandlung der
Materie gewinnen will, sucht vergebens nach dem archimedischen Punkt unter
den Detailpunkten. Diese weisen allenfalls mittelst einer losen Ideenassociation
ein gewisses Nebeneinander, aber keinerlei principielle Ueber- und Unterordnung
auf. Selbst wo Wagner auf dem Punkt zu sein scheint, ein entschiedenes pro
oder contra auszusprechen, bricht er durch Zwischenschiebsel seinen eigenen
Worten jede Spitze ab. Man schlage z. B. S. 509 auf, wo er von der «förmlichen
Popularität der Verbrauchsbesteuerung» spricht, oder S. 522, wo er die von Gerat-
fehlt ins Licht gestellten finanzstatistischen Thatsachcn in Bezng auf Branntwein
und Tabak bestenerung «allerdings berückend» nennt. Worauf im letzten Grunde
sein ganzer Aufwand angeblicher Prineipien hinauslauft, entschlüpft ihm schliess-
lich denn mit der Behauptung, dass die Praxis die Schwierigkeiten zumeist nicht
wird «correct lösen, sondern nur durchhauen» können S. 593.
Realpolitik und kein Ende — aber warum dann noch wissenschaftliche Bücher
über Schwierigkeiten schreiben, wenn die Praxis ihre uralte reale Lösungsart
behalten soll ; wozu dann noch Worte verschwenden, wenn Hauen das Ende vom
Liede ist, wie auch die Anarchisten immer ungeduldiger behaupten. Die Praxis
auf correcten Weg zu bringen, iBt. die Seele der Wissenschaft. Die Incorrectheit
der Praxis, die ohne Wissenschaft vorherrschend ist, soll durch Wissenschaft
möglichst selten werden. (Für die Haltung dieser Note tragt der Hr. Verfasser
die Verantwortlichkeit natürlich allein. Die R e d.)
Die Eigenthumsfrage der Neuzeit.
111
wirtschaftlichen Wirkungen, wie es die masslose Ueberproduction
und Massenverarmung sind, Erscheinungen, die vergleichsweise sidi
mit der landwirtschaftlichen Verschuldung von Lagerkorn und
Bodenerschöpfung in eine gewisse Parallele stellen Hessen.
Wir wollen übrigens von der Volkswirtschaftslehre durchaus
nicht mehr fordern, als sie leisten kann und soll. Den Volksboden
und die Volks- oder Staatszukunft, nach der principiellen Seite
ihrer inneren Bedingungen und äusseren Beziehungen, zu ergründen
und sicherzustellen, ist zunächst nicht ihre directe Aufgabe, sondern
die der Sociologie, welche diese ihre Specialaufgabe früher oder
später, wie Gott will, lösen wird. Aber die Volks wirthschaftslehre
muss den Grössenwahn der Unabhängigkeit aufgeben, muss sich
ihres Mangels bewusst werden uud statt, wie bisher geschehen,
sich ablehnend gegen alle nichtrealistischen Unterstützungsversuche
zu verhalten, dankbarlichst letztere als Mittel zum Mündigwerden
entgegennehmen. Es handelt sich in diesem Stücke, was das ihr
unsympathische Gebiet abstracten Forschens betrifft, für die Volks-
wirtschaft nicht um einen Luxus, sondern um eine eiserne condi-
tio sine qua non. Wenn sie es nicht lernt, gerade für die wichtig-
sten Wahrheiten ihrer Schlussfolgerungen auf dem realen Volks-
oder Staatsgebiet, gewissenhaft eine der beiden Prämissen aus
jenem abstracten Gebiet zu gewinnen, so kann sie dem vollen
Menschenleben niemals gerecht werden. Im vollen Menschenleben
erweist sich schliesslich keine Praxis unpraktischer als die rohe
Praxis, welche nur dessen reale Aussenseite kennt.
Was die übrigen Wissenschaften, wie Cultur- und Rechts-
geschichte oder Rechtsphilosophie, Philosophie und Ethik, für den
Staat in Dingen der socialen Frage zur Klärung wichtiger staats-
politischer Gesichtspunkte hätten leisten können, aber nicht geleistet
haben, fällt auch unter den Gesichtspunkt jener Folgen, welche
der materiell naturalistische Zeitbann in den letzten Jahrzehnten
nach sich gezogen hat.
Unter den massgebenden Bedingungen des wirklichen Lebens
sollte auf dessen sämmtlichen Gebieten eben nichts mehr, was
Seele und Geist heisst, eine mitberechtigte Stätte linden. Für den
Cultus von Seele und Geist oder, wie man sich frülier ausdrückte,
für <alle höheren Bedürfnisse» wollte man kaum die untergeordnete
Sphäre privater Existenzberechtigung einräumen. Wenigstens hat
die Presse und teilweise die parlamentarische Rednerbühne es an
nichts fehlen lassen, im Volksbewusstsein die Vorstellung von der
Baltische MunsUschrift. Bd. XXXIV. Heft 2. 8
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112
Die E i gen thu ms frage der Neuzeit.
für alle Lebensgebiete massgebenden Bedeutung sittlicher Wahr-
heiten gründlichst zu beseitigen. Wer nach dem alten Massstabe
von Recht, Ehre, Gewissen &c. sich die Beurtheilung einer prakti-
schen bezw. politischen Frage erlauben wollte, wurde hohnlachend
mit dem Bescheide abgefertigt, dass er < nichts vom Geschäft» ver-
stände. Die c Kraftstoffelei», wie J. Sehen* diesen Zeitbann getauft
hat, sollte eben freies Feld haben, um die Spitzluhrung auf dem
darwinistischen Entmenschlichungswege gewinnen und über die Hart-
mannsche Duselbrücke des Unbewussten hinüber zur Alleinherr-
schaft sich durchschlagen zu können. Den Mannesmuth offenen
Widerspruches und entschiedenen Thatwiderstandes bewährte nur
Rom, und hierdurch, und durch sonst nichts, hat Rom sich wieder
die Stellung einer Weltmacht erzwungen und zum Schaden für
den Staat den Vortheil einer begehrenswerthen Schutzautorität er-
rungen. Diesen Vortheil hätte der moderne Staat ohne Mühe und
auf würdigerem Wege für sich eingeheimst, wenn er Politik und
sittliche Weltordnung nicht zu trennen und zu knechten, sondern
zur höheren Einheit einer Ueberzeugungsmacht
zu bringen als seine Aufgabe erkannt hätte. Der Staat handelte
und feilschte mit den Sehreiern auf dem Weltmarkte, aber die
Volksseele lebt und webt nicht hier und wandte sich von dem
Staate ab, der ihr kein Patronat' entgegenbrachte.
• Wie wenig in Deutschland - und nur Deutschland haben wir liier aus-
schließlich im Auge - hierfür noch z. Z. ein allgemeinere* Verständnis vor
banden ist, hat die abfällige Aufnahme des v. H a in ni ersteh» sehen An-
trages hell ins Licht gestellt. Um Haupteslänge überragt v. Hammerstein und
sein Kreis die Zeitgenossen. Was sein <>ei>tesblick klar erschaut, erscheint seinen
Zeitgenossen noch als ein mit sieben Siegeln verschlossenes (icheimnis, die Wahr-
heit, dass der Mechanismus des staatlichen Bureaukratismus nimmermehr die
Zwangsjacke für die Volksseele abgeben darf. Diese will mit ihren besten Be-
strebungen in lebendigen Herzen pulsiren und nicht in Schablonenherzen ersterben
oder galvanisirt werden. — Es ist die reine Sclbstironisirung, wenn die «Kolu.
Ztg » unlängst in ihrer moralisireuden Auslassung zur Zeitlage auch den Mangel
des Volksvt rstandnisses für die sittliche W e 1 1 <» r d n u n g beklagt — diese
Zeitung, welche in den letzten Jahrzehnten mit dem höheren Tone einer mass-
gebenden Instanz stets nnr für die universelle O i 1 1 i g k e i t der Real-
politik einzutreten sich beflissen hat, wenn nach dem Volksbewusstseiu gerade
Dinge der sittlichen Weltordnung und deren Interessen im Gegensätze zur Real-
politik in Frage kamen. D a s S p a u n u u g s v e r m ü gen des sittlichen
V o 1 k s b e w u s s t s e i n s hat nicht »1 i e im v e r w ü s t 1 i c he Dauer-
kraft, für eine rücksichtslose Handhabung Dienste ohne
E u d e zu 1 e i s t e n. Wo Wind besäet wird, kann keine Verwunderung
herrschen, dass Sturm die Einte ist.
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Die Eigenthumsfrage der Neuzeit.
113
Wir wenden uns nun zur zweiten und dritten These, nachdem
wir der ersten verhältnismassig mehr Raum gewährt haben, als
wir für den ganzen Rest unserer Arbeit übrig haben. Der Gegen-
stand der ersten These richtet sich auf bekannte Thatsachen und
gewährte daher unserer besonderen Behandlung oder Beleuchtung
die annähernde Möglichkeit einer gewissen Erschöpfung, wenigstens
für unseren Specialzweck. Ueberdies war diese Seite unserer
Arbeit, die zunächst nicht dociren, sondern consultiren will, in
demselben Masse die wichtigere, wie etwa bei jedem vorzunehmen-
den Heilverfahren die Vorerlediguug der Diagnose entscheidend
für das weitere Verfahren ist. Hingegen im Nachfolgenden handelt
es sich um neue Gesichtspunkte einer kaum erst entstehenden
Wissenschaft. Von einer Erschöpfung kann hier also auch nicht
annähernd die Rede sein. Wii können hier nur in rein aprioristi-
scher Weise einzelne Gesichtspunkte und deren Consequenzen be-
leuchten. Alles, was wissenschaftliche Begründung und Entwicke-
lung heisst , muss der Specialwissenschaft der Sociologie über-
lassen werden.
Wir wenden uns kurz zur Sache, um sie möglichst kurz zu
fassen. Was man zum Zweck allgemeinste!' Bezeichnung in ge-
läufiger Redeweise etwa «gesunde sociale Ent\vickelung> nennen
würde, haben wir sociologisch als die ebenso spontane wie an-
dauernde Eigen kraft eines Natur- und Culturprocesses bestimmt.
Die Spontaneität führen wir zunächst auf einen Satz zurück,
der wol von keiner Seite, ausgenommen die socialistische, bean-
standet wird: das nationale Leben pulsirt in den
Individuen und die individuelle Sphäre be-
hauptet darum im socialen Entwickelungs-
process eine centrale Stellung gegenüber Ge-
sellschaft und Staat, Dieses sociologische Gegenüber ist
aber kein feindlicher Gegensatz, sondern nur für die principielle
Würdigung begrifflich festzuhalten. Dieses Gegenüber soll der
individuellen Sphäre nur jenen Grad der Selbständigkeit sicher-
stellen, der erforderlich ist, um die Individuen zu entsprechenden
Medien des pulsirenden Lebens in Gesellschaft und Staat zu
machen.
Wie werden nun die Individuen zu solchen Medien ? Auch
in diesem Stück gehen wir auf eine Wahrheit zurück, die kaum
von einer Seite bestritten werden könnte. Jedes Indivi-
duum hat eine natürlich an geborene Doppel-
8*
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I
114 Die Eigenthumsfrage der Neuzeit.
seitigkeit1 der Menschennatur an sich: eine
specielle Individualseite und eine allgemeine
Gattungsseite. So lange diese Doppelseitigkeit im latenten
Zustande einer inneren Seinsnatur verharrt, ohne die selbstwirkende
Ursache zur entsprechenden Wirkuug einer äusseren Daseinserschei-
nung zu werden, wie es bei deu Wilden nicht dazu kommt: so
lange ist *das Individuum nur Mensch schlechthin oder nur der
facultative, aber nicht factische Mensch, nur der Natur-, aber nicht
Culturmensch. Letzterer beginnt erst mit dem Äugenblicke, wo die
Entwickelung zur Person eintritt, die sich Ich nennt. Der
Wilde kennt, wie das unentwickelte Kind, kein Ich. Die Ent-
wickelung zur Person entspinnt sich aus dem bewussten Streben
des Menschen, seine individuelle Eigenart innerhalb der Gattung
zur Erzielung persönlicher Selbständigkeit geltend
zu machen, um die volle Menschenwürde zu erlangen.
Dieses Streben wird zunächst instinctiv in Folge der ange-
borenen Gattungsnatur nicht das Gattungsband sprengen, sondern
einen Accomodationszug erzeugen, welcher bald eine Wechselseitig-
keit von Individuum und Gattung nach sich ziehen muss. Wo
Wechselseitigkeit ist, macht sich auch das Reibungsgesetz geltend,
und wenn der Mensch, in bewusster Weise zum Zwecke der Selbst-
behauptung, in dieser Wechselseitigkeit zunächst das Gleichgewicht
seiner Individual- und Gattungsnatur herzustellen und aufrecht zu
erhalten strebt, so bildet er sich vom Individuum zur selb-
ständigen Persönlichkeit heraus, zum Ohara k t er, der
ebenso wenig sich selbst in der Gattung verliert, wie er diese verliert.
Wie wird sodann die aus Personen gebildete individuelle
Sphäre zu jenem sociologischen Gegenüber der Gesellschaft, welches
nicht einen feindlichen Gegensatz, sondern ein Einheitsband abgiebt?
was wir gleichfalls oben sagten.
Der ßeweissatz hierfür bietet sich in einer naheliegenden
Schlussfolgerung aus dem Vorhergehenden und dürfte gleichfalls
von keiner Seite als hinfällig zu beanstanden sein. Erst die zu
Personen sich herausbildenden Individuen sind
1 Vgl. unsere Schrift «Princip der politischen Gleichberechtigung» S. 26.
Bezüglich der weiteren Entwickelung über da» Gleich wie alle nnd das Auders-
als-alle, oder das mikrokosiuische Princip der Dil ego-petcmliac fugendi, können
wir nur anf das ganze Cap. « N'aturrecht» im Zusammenhange mit dem nächsten
verweisen. Im letzten Grunde müssten wir hinsichtlich dienlicher Orientirung
zur behaudelten Materie auf sämmtliehe unsere Sehrifteii hinweiseu.
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Die Eigenthumsfrage der Neuzeit. 1 15
•
eines persönlichen Verhältnisses unter einander
bezw. mit anderen Individuen nicht nur fähig,
sondern auch bedürftig, und dieses Bedürfnis
lässt aus der Gattung oder doch innerhalb der-
selben dieGesellschaft entstehen. Schon der Volks-
mund nennt darum den Menschen ein geselliges Thier, d.h. ein Wesen,
welches, einem Naturzuge folgend, auf dem Wege der Geselligkeit,
vulgo Gemüthlichkeit, sein Dasein zum Wohlsein zu gestalten sucht.
Unter den Wilden giebt es keine Gesellschaft, weil die Indi-
viduen iunerhalb der Gattung nicht zu Personen werden. Darum
schafft auch europäische Oolonisationscultur dort keine genuine
Gesellschaft von Eingeborenen, sondern macht sie aussterben oder
absorbirt sie mittelst Amalgamirung mit den Einwanderern. Diese
meist auffällig genannte Erscheinung findet vom sociologischen Ge-
sichtspunkte die einfachste Erklärung und erhärtet sich als That-
beweis für dessen Richtigkeit. Die europäische Oolonisationscultur
geht den naturwidrigen Weg, mittelst aprioristischer Organisations-
versuche an der Gattung sich die Individuen näher bringen zu
wollen, anstatt vom anderen, gleichsam spitzen Ende durch die
Individuen auf die Gattung zum Zweck ihrer gesellschaftlichen
Selbstverschmelzung a insteriori zu wirken. Die Oolonisations-
cultur bedarf eben deshalb, wie jetzt auch von kirchenfeindlicher
Seite schon zugestanden wird, mitwirkender Missionsthätigkeit,
welche umgekehrt, bezw. auf naturgemässem Wege, verfährt. Die
Mission macht die Individuen zuerst zu anderen Menschen und
bildet sie durch den inneren Process ihrer Verpersönlichung (mittel-
barer Zweck des Christenthums) zu gesellschaftlichen Cuiturträgern
ihrer Gattung heran.
In unserer überlebten Culturwelt löst sich wiederum, unter
demselben Walten innerer Notwendigkeiten, der gesellschaftliche
Verband und es erzeugen sich die socialen Schäden, sobald die
Individuen, in Folge entschwundener oder verachteter Gattungs-
natur, sich der Selbstsucht ohne Phrase anheimzugeben beginnen,
dem sogenannten t vernünftigen Egoismus», welcher innerhalb des
persönlichen Interessenkreises nur das eigene Ich kennt und für
die Gattung nur noch sachliche Gesichtspunkte hinsichtlich mög-
lichster Aussaugung derselben übrig hat. Hier beginnt der Rück-
fall in Uncultur und erzeugt sich der Kampf ums Dasein in der
Gesellschaft, welche wie ein gestrandetes Schiff dem eigenen Schick-
sale überlassen wird.
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116
Die Eigenthumsfrage der Neuzeit.
Wie kommt es endlich zu jenem sociologischen Gegeuüber
dem Staat seitens der individuellen Sphäre? was wir gleichfalls
oben behaupteten.
Der Beweissatz hierfür dürfte an dieser Stelle, wo uns der
Raum zu einer eingehenden analytischen Eutwickelung abgeht, in
ersichtlichster und kürzester Weise a posteriori zu liefern sein.
Schon von Puchta« und anderen Autoritäten vor und nach ihm
ist die Wahrheit erkannt worden, dass die Völker mit dem Ver-
schwinden des nationalen Gattungstypus auch die Kraft des gesell-
schaftlichen Verbandes einbüssen und unter den Folgen dieser
Doppelwirkung dem politischen Untergange anheimfallen, bezw. den
selbständigen Staatsbestand verlieren. Diese Wahrheit kann jetzt
schon als ein soeiologisches Axiom angesehen werden, welches u. a.
auch von der neuzeitigen Erscheinung erhärtet wird, dass der
vaterlandslose Socialismus sich gegen die Grundbedingungen der
Gesellschaft: Ehe und Eigenthum, richtet, mithin durch die Tendenz
dieser doppelten Negation von Vaterland und Gesellschaft histo-
rischen Styles gleichfalls deren natürliche Verbundenheit bestätigt.
Es dürfte sich demnach die Folgerung rechtfertigen lassen: Das
blos weltbürgerliche Menschheitsband erweist sich als eine viel zu
weite Peripherie centriCugalen Charakters für den Interessenkreis
der Individualsphäre, um der centripetalen Spannkraft der letzteren
noch die Wirkung einer Vergesellschaftung der Gattung zu er-
möglichen. Auf Grund dessen sagen wir denn: Die Verge-
sellschaftung d e r Gattung, welche mit ihrer
T heilein h eit, dem Individuum, beginnt, m u s s
mit dem Umfange der Gattung sich a b s c h 1 i e s se n ,
um nach innen und aussen ein Ganzes zu bilden
— dieses Ganze nennt der Sprach gebrauch:
Staat. Die zur Vergesellschaftung der Gattung erforderliche
Spannkraft der Individualsphäre geht nicht über die Grenzen ihrer
Gattung hinaus und fordert darum die Fixirung dieser Grenzen
durch den geschlossenen Staat, um unter seiner Beihilfe, mittelst
einer gleichsam reflexiven Rückwirkung desselben, ihre cultur-
geschichtliche Aufgabe zum Wohle des Einzelnen, der Gesellschaft
und des Staates lösen zu können. Das sociologische Gegenüber
1 rurhta, 'Hendl, d, rOm. Rechts T. Tbl. 8. 353, 5. Aufl. - Fichte. «Reden
an die deutsche Nation*. Herl. Ausg. S. 9 u. 128 f — Herbert Spencer, < Eiuleit.
in das Studiuni der Sociolugie», deutsch von Marqunrdseii, II. Tbl. S. 92 n. 99;
des*. «Soziologie» I. Tbl. S. 17 f.
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Die Eigenthumsfrage der Neuzeit.
117
von Individuen und Staat liegt nicht in einer trennenden, sondern
in einer einenden Wechselseitigkeit.
Wenden wir uns nun zum Ausgangspunkte dieser wegen
Raummangels liier nicht weiter auszudehnenden Deductionen, um
in gedrängter dialektischer Zusammenfassung den syl logistischen
Faden hervortreten zu lassen, welchen der systematische Denker
behufs Anerkennung unserer sociologischen Schlusssätze fordern
kann, so bitten wir alle übrigen Interessenten, welche bova fide
das Resultat entgegennehmen wollen, sogleich zu diesem überzugeben
und die vorstehende Periode sich selbst, bezw. den Systematikern,
zu überlassen.
Die zur gesundeu socialen Entwicklung erforderliche Sponta-
neität des betreffenden Natur- und Culturprocesses beruht einerseits
auf der Individualsphäre, sofern deren centripetale Spannkraft zur
Vergesellschaftung der Gattung ihre natürlich fliessende
Quelle in den Individuen, bezw. in deren sich gegenseitig be-
dingenden Gattungs- und Individualnatur, d. h. in deren V erper-
sönlich ung, besitzt ; und beruht andererseits auf der periphe-
rischen Staatssphäre, sofern deren centrifugale Spannkraft in der
Gesellschaft die c u 1 t u r e 1 1 e n Hebelkräfte wirken
macht, welche jene natürliche Quelle nicht versiegen lassen und
welche die Verpersönlichung der Individuen weder zur selbstsüchti-
gen Trennung von der Gattung ausarten, noch in einer Majorisi-
rung durch die Gattung untergehen lassen.
Das hieraus folgende Schlussresultat, welches in unserem Sinne
ein massgebendes Gefüge sociologi scher Principe abgiebt, spricht
sich in dem Kettensatze aus:
Aus der Verpersönlichung der Individuen geht die Vergesell-
schaftung der Gattung hervor;
Aus der Vergesellschaftung der Gattung entwickelt sich
der Staat :
Seinen naturgemässen Bestand stellt der Staat sicher und
sorgt für sein Gedeihen, wenn er die Verpersönlichung der Indi-
viduen sich angelegen sein lässt, um eine normale Vergesellschaf-
tung der Gattung in Flnss zu erhalten, worin seine vitalen Existenz-
bedingungen beruhen :
Die vom menschlichen Wjllen geförderte oder behinderte Dauer-
wirkung dieses sociologischen Kraftumlaufes im Volks- und Staats-
organismus nennen wir, nach unserer dritten These, die sociolo-
gische Vitalität, welche allein die organische Einheit von Volk
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I
118 Die Eigenthumsfrage der Neuzeit.
und Staat zu Stande bringen kann, und — nur dieser Einheits-
stand ist Erhalter und Mehrer des Reichs.
Zur Verdeutlichung dieses sociologischen Umlaufes im Volks-
und Staatsorganismus bietet der Blutumlauf im menschlichen Leibes-
organismus eine recht zutreffende Analogie. Das vom Herzen
durch die Arterien in das Lympfsystem getriebene und von hier
durch die Venen ins Herz zurückgeleitete Blut spiegelt den socialen
Entwickel ungslauf wieder, in welchem die centrale Bedeutung des
Herzens von der Individualsphäre behauptet wird. Hier bedingen
die Beziehungen zur Gattung auch ein Hin und Zurück von Aus-
sichheraustreten und Sichsammeln, und die Verpersönlichung, ge-
wöhnlich Energie des Charakters genannt, muss die Herzkammer-
rolle spielen, damit das Gleichgewicht erhalten wird. Die unend-
lich feine Verzweigung dieser Beziehungen findet ihr Gegenbild an
der unendlich feinen Verästelung der Blutgefässe im Lympfsysteme.
Dieses spiegelt die Gesellschaftssphäre ab, während die im Leibes-
Organismus sich vollziehende Mitwirkung des Nervensystems als
Rolle der Staatssphäre zu bezeichnen wäre. Selbstverständlich
lässt sich diese Analogie nicht pressen ; simile Claudicat.
C.
Indem wir uns nun den in Vorschlag zu bringenden prakti-
schen Massnahmen des Staates zuwenden, nachdem wir (vergl.
Schluss .des A-Abschnitts) die Nothwendigkeit einer principiellen
Stellungnahme desselben und die Art ihrer Verwirklichung be-
leuchtet haben, werden wir als leitenden Grundgedanken für die
Staatspraxis auf socialreformatorischem Wege vor allem einen Ge-
sichtspunkt hervorzuheben haben, welcher sich als eine Folgerung
allgemeinster Art aus vorgenanntem Kettensatze ergiebt.
Dieser sociologische Gesichtspunkt ist die ausschliess-
liche Mittelbarkeit aller socialreformatori-
schenMassnahmen des Staates; nicht die Gesellschafts-
sphäre, sondern die Individualsphäre ist das Operationsgebiet —
das unmittelbare Eingreifen in die Gesellschaftssphäre auf dem
Gewaltwege der Majorisirung ist sozialistische Mache,
dagegen das mittelbare Einwirken auf die Gesellschaftssphäre durch
Patronisirung der Individualsphäre seitens des Staates ist socio-
logische Organisation.
Wie diametral dieser Gegensatz zwischen socialistischer Mache
und sociologischer Organisation durch und durch ist, sei hier zuvor
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t w '
Die Eigenthumsfrage der Neuzeit. 119
noch berührt, bevor wir weiter gehen. Die Bahn rauss behufs Be-
seitigung aller Misverständlichkeiten möglichst frei gelegt werden.
Die mittelbare Einwirkung, welche die Sociologie auf die Gesell-
schaft erstrebt, gipfelt in drei Stücken : Verpersönlichung
des Individuums, Vergesellschaftung der Gat-
tung und Verstaatlichung der Gesellschaft. Die
unmittelbare Vergewaltigung, welche der Socialismus an der Gesell-
schaft verübeu will, gipfelt in drei Stücken : Entpersönlichung
des Individuums, Entnationalisirung der Gat-
tung und Entstaatlichung der Gesellschaft.
Die aufsteigende Linie des comparativen <Ver» auf Seiten der
Sociologie und die absteigende Linie des diminutiven «Ent» auf
Seiten des Socialismus stehen sich eben gegenüber wie Position und
Negation, und das letzte Ende ist dort Positivismus, hier Nihilis-
mus oder, wie Proudhon treffend sagt: Ekel der Arbeit,
Hass des Lebens, Versiegen des Denkens,
Tod des Ich.
Ausserhalb Deutschlands hat man an massgebender Stelle'
die anarchische Natur des Socialismus auch schon seit einiger Zeit
vollkommen durchschaut und den Socialismus in jeder Gestalt, zu-
sammen mit dem Nihilismus, als anarchischen Anlauf gegen den
monarchischen Staat ins Auge gefasst, um dagegen vorzugehen.
In Deutschland haben die von den Kathedersocialisten geleisteten
Ungeheuerlichkeiten in Begriffsmengerei, unter Beihilfe der secundi-
renden Ausgeburten einer Philosophie des ünbewussten, den Boden
einer nüchternen Stellungnahme so gründlich unterwühlt, dass
namentlich die befangene ältere Generation noch keinen festen Fuss
fassen konnte. Der öde Bann des negativen Kriticismus hat eben
am deutschen Geistesmark gar zu lange seine auszehrende Wirkung
geübt. Diese Generation gleicht in ihrem Geisteshabitus der. armen
Hektischen, die ungeachtet ihres Heisshungers nicht mehr aufkommen
1 Ohne uns auf nähere Detail» einlassen zu können, glauben wir doch im
Interesse aller wurmen Interessenten die Bemerkung nicht unterdrücken zu dürfen,
das unser Wort nicht das erste ist, welches sich gegen die anarchische Spitze
des Socialismus wendet. Die Ehre, zuerst an maßgebendster Stelle im In- und
Auslände zur Klärnug der wichtigen Gesichtspunkt«: das Won geführt und hier-
durch die erste Vorarbeit für unumgängliche Massnahmen gegen den Anarchismus
ins Werk gesetzt zu haben, gebührt, so weit wir unterrichtet siud, dem Dr.
v. Martens, Professor und ständiges Mitglied des K. Rus«. Ministerconseils
des Auswärtigen. Sein Name ist seinerzeit von einigen Organen der deutschen
Presse flüchtig genannt worden.
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Die Eigentliumsfrage der Neuzeit.
können. Aber es wächst eine neue Generation1 heran mit einem
gesunderen Unterscheidungsvermögen für Wahrheit und Unvernunft.
So viel hierüber zum Zweck späterer Bezugnahme.
Richten wir nun von jenem allgemeinen Gesichtspunkte aus
unseren Blick auf die specielle Eigenthumsfrage, so werden wir
auf Grund des vorgenannten Kettensatzes zunächst zwei Grund-
sätze in den Vordergrund rücken müssen.
Wenn der Staat seine Unentbehrlichkeit jedem Staatsbürger
nahe legen will, so hat er vor allem die individuelle Seite
des Eigenthums ins Auge zu fassen und diese Seite so zu
regeln, dass die sociale Seite des Eigenthums eine mittelbare Be-
gleichung als Folgewirkung jener Regelung erhält.
Die Regelung der individuellen Seite des Eigenthums hat sich
nicht unmittelbar an dem Besitz von Eigenthum, sondern a n
dem Erwerb von Eigenthum zu vollziehen.
Wenn es die Verpeisönlichung der Individuen ist, welche die
Vergesellschaftung der Gattung bewirkt und diese zur Grundlage
des Staates macht, so hat der Staat sein persönliches Interesse an
der Verpeisönlichung der Individuen auch zu einem gleichen Inter-
esse für jedes einzelne Individuum zu machen. Dieses Interesse
ist, wie bereits gezeigt, mit der Doppelseitigkeit menschlicher Natur-
anlage freilich jedem Individuum schon bis zu dem Grade eines
gewissen Bedürfnisses angeboren. Jeder Mensch will innerhalb
seiner Gattuug nicht nur den anderen Gliedern gleich sein, sondern
auch seine Eigenart behaupten ; will nicht nur der Gattung, sondern
auch sich selbst angehören ; will Person sein, und, weil er das
nicht unter Larven sein kann, die Vergesellschaftung der Gattung
mit ihren weiteren Folgen. Aber dieses natürliche Bedürfnis des
Individuums nach cultureller Entwickelung bis zum Abschluss staat-
licher Ausgestaltung ist zunächst nur ein instinctiver Zug, dessen
Spannkraft den Ansprüchen der Neuzeit nicht mehr gewachsen ist.
1 Die seit den siebziger Jahren ins Leben getretenen Vereint deutscher
Studenten auf den meisten Universitäten Deutschland* verfolgen den positiven
Zwerk, auf Grundlage sittlicher Wahrheiten und realer Sachliebkeit eine gesunde
Stellungnabme für Vaterland und Monarchie zu gewinnen. So lange die akade-
mische Jugend mit diesen Bestrebungen sieb allein überlassen bleibt, kann von
einer rationellen Losung der Frage selbstverständlich nicht die Rede sein. Aber
das unentwegt«' Festhalten an der guten Absiebt kann nicht genug anerkannt
werden. Namentlich mochten wir in dieser Hinsicht die betreffenden Vereine in
Berlin, Leipzig und Heidelberg, in Berlin auch den Verein der technischen Hoch-
schule hervorheben.
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Die Bigenthurasfr&ge der Neuzeit.
*
121
Derselbe kann allerdings, wie Entstehung und Existenz der alten
Culturstaaten beweist, uuter günstigen Umständen bis zu einer ge-
wissen Persönlichkeitsentwickelung der Individuen und hierdurch zur
Vergesellschaftung der Gattung mit nachfolgender Staatsverfassung
führen, sowie auch letztere bei einmal eingetretenem Umlaufe aller
mitwirkenden Kräfte bis zu einem gewissen Höhepunkte gelangen
lassen. Das Princip des Persönlichen kommt aber mit seiner
instinctiven Zugkraft zur Assimilation von Volk und Staat nicht
über einen Punkt hinaus ; entweder bleibt eine Lockerheit, die bei
jedem Zufall unversehens die Gefahr des Umsturzes herbeiführt
oder es entsteht der Stabilismus der Verknöcherung. Es ist das-
selbe Princip des Persönlichen, welches die alten Culturvölker
ihren Gattungstypus peinlichst hüten und u. a. die chinesische
Mauer entstehen Hess.
Namentlich lässt das Geschick des römischen Weltreiches
deutlichst erkennen, welche Rolle das Princip des Persönlichen im
Entwickelungsgange der Völker und Staaten spielt. In dem jtis
civile hatte der römische Staat seinerzeit seinen Bürgern einen
rationellen Boden zur Stellung ganzer Charaktermänner geschaffen
und dadurch seine Grundvesten verkittet, wie es kein anderer Staat
verstand. Und darum wurde aus kleinen Anfängen ein gewaltiges
Ganze. Das Bewusstsein : civis rmwmts suwt hielt die Gattung
und den Staat zusammen, und führte zur Weltherrschaft, so lange
das Bewusstsein des Staatsbürgerthums vollkommen noch den per-
sönlichen Interessenkreis der Staatsbürger ausfüllte.
Aber schon das jus gentium sprengte mit der Zeit die Ge-
schlossenheit dieses Kreises, und das Bewusstsein : civis romamis
sunt erschöpfte nicht mehr das Se 1 bs t b e w u s s t s e i n , in welchem
das Terenzianische Bewusstsein : homo sum, humani nihil o me
alienum puto, gleichfalls Raum zu fordern begann. Das Christen-
thum gar, welches das Princip des Persönlichen in das Wesen der
Gotteskindschaft setzte und den Staat zu einem verschwindenden
Punkt im Universalismus des Gottesreiches erblassen Hess, machte
es vollends unmöglich, das Selbstbewusstsein sich im Staatsbürger-
thum erschöpfeu zu lassen. Die Spannkraft des ßewusstseins :
vhristiaims sum, überstrahlte im freudig gelittenen, sogar gesuchten
Foltertode der Märtyrer jeden patriotischen Heroismus an Muth
der Hinopferuug und verrückte den ganzen Schwerpunkt des per-
sönlichen Selbstbewusstseins aus der Staatssphäre in die Individual-
sphäre. Es begann ein Process, der die persönliche Stellungnahme
122
Die Eigenthumsfrage der Neuzeit.
auf der gesammten Weltbühne des öffentlichen Lebens völlig um-
gestaltete und nunmehr die Individualsphäre zum persönlichen
Charaktergebiet erhob1. Das Individuum identificirte sein persön-
liches Selbst nicht mehr mit dem Staat und suchte ihn nicht mehr
um seinetwillen, sondern der Staat musste jetzt seinerseits suchend
zu den Hilfsmitteln von panis et circenses greifen, um für sich
Propaganda zu machen uud seine Selbständigkeit behaupten zu
können. Das Verhältnis von Individuum und Staat hatte sich da-
mit vollständig umgekehrt, und das römische Reich, welches mit
der Weltmacht des Christenthums, namentlich mit dessen mittel-
barem Zweck der Verpersönlichung aller Menschen zu Gottes-
kindern, nicht zu rechnen verstand, bezw. die Sauerteigskraft dieser
auch ins äussere politische Leben hineinschlagenden Seite nicht begriff,
musste eben deshalb unrettbar dem Untergange anheimfallen, obschon
es Rechts- und Militärstaat ersten Ranges aller Zeiten war und blieb.
Es kann hier nicht unsere Aufgabe sein, noch weiter auszu-
führen, wie das Princip des Persönlichen, neubelebt vom Christen-
thum, seit Anfang unserer Zeitrechnung in der politischen Ent-
wicklungsgeschichte sich geltend machte ; wie es die treibende Kraft
zur Ausgestaltung der Monarchien wurde und die christ-
liche Majestät des Landes hauptes sammt der zur Re-
formationszeit sich entwickelnden Idee von dessen Summepiscopat
begründen half; wie es die extensive und intensive Spannung der
Individualsphäre von dem durch Ludwig XIV. vertretenen Gesichts-
punkt : der Staat bin ich, bis zu dem Fichteschen Standpunkt :
Ich bin Ich, gelangen liess ; und wie viel endlich an einem befrie-
digenden Ausmünden dieses weltgeschichtlichen Processes in den
vollendeten apostolischen Standpunkt: <Von Gottes Gnaden bin
ich, was ich bin,> im allgemeinen noch fehlt.
Es dürften die gegebenen Andeutungen genügen, die Knoten-
punkte des Fadens erkennen zu lassen, dessen Ende wir mit dem
Satze machen : Das Princip des Persönlichen lässt
nicht, wie Liberalismus und Socialismus
mit aprioristischen Hypothesen wähnen,
den Inbegriff von Menschenwürde und - Wohl
1 Hegel — Einleitung ins innere, Staatsrecht — kommt auf anderem
Deductionswege zu demselben Resultat : «In den alten Staaten war der Htibjective
Zweck mit dem Willen des Staates schlechthin eins, in den modernen Zeiten da
gegen fordern wir eine eigene Ansicht, ein eigenes Wollen und Gewissen ; die
Alten hatten keins in diesem Sinne ; das Letzte war ihnen der Staatawille.>
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Die Eigenthumsfrage der Neuzeit. 123
in Freiheit and Gleichheit auslaufen, sondern
sich zu Selbständigkeit des sittlichen Cha-
rakters und der materiellen Existenz verdich-
ten, wie die Sociologie mit entsprechender Beweisführung auf dem
rationellen Wege exacten Forschens darthnt.
Freiheit ist ein negativer', Gleichheit ein formaler Begriff.
Beide Begriffe gewinnen nur eine beziehungsseitige Bedeutung, wo
eine essentielle Lebensrealität vorhanden ist ; aber sie schaffen nicht
eine solche, ebenso wenig wie Licht und Lutl Leben und Bewegung
schaffen, sondern nur eine fördernde Mitwirkung äussern, wo Lebens-
energie vorhanden ist, während sie überall, wo letztere schwindet,
den Zersetzungsprocess der Auflösung nur beschleunigen.
Selbständigkeit heisst das gesuchte Wunderkraut,
welches nur die rechte Bestellung des Volksbodens verlangt, um
als essentielle Lebensrealität empor zu wachsen und das sociali-
stische Unkraut im Volksschosse ersticken zu machen. Fichte
nennt1 in seinen c Reden an die deutsche Nation» die Selbständig-
keit das «Gesicht aus der Geisterwelt». Mit dieser Bestimmung
in umschreibender Form hat er allerdings noch nicht eine er-
schöpfende Erklärung und Würdigung der ganzen sachlichen Trag-
weite geboten, aber nichts desto weniger eine wesentliche Seite der
individuell-ethischen wie volksphysiologischen Bedeutung an der
Selbständigkeit schon klar gekennzeichnet. Fichte führt die Selb-
ständigkeit auf die Geistessphäre zurück, welcher das massgebende
Wort gilt: «der Geist macht lebendig.» Was die Gesundheit für
das Leibesleben ist, das ist die Selbständigkeit für das Personen-
leben : Genügt, huung des Menschendaseins in
seinen Beziehungen zum Wohlsein. Dieses mit der
Selbständigkeit zusammenfallende Wohlsein menschlicher Vollkraft
macht das menschliche Dasein erst zu einer menschenwürdigen
Existenz und ist daher Grund wie Ziel aller menschlichen Ent-
wickelung, also auch der socialen. Nicht die vom liberalistischen
Mob angejohlte Freiheit ist es, welche der dichterische Genius ver-
herrlicht: «der Mensch ist frei, und wär' er in Ketten geboren.»
1 Der berühmte Rechtagelehrte Savigny ist, wie wir an anderer Stelle
hervorhoben, der erste massgebende Deutsche, welcher den Mnth gehabt hat,
dieses Schosskind der Revolution beim rechten Namen zu nennen. Vgl. dessen
«Geschichte de« römischen Rechts im Mittelalter». I. Bd. S. 160.
» Vgl. unsere Schrift «Sociologie Ficht**», bes. S. 191 ; und unsere Schrift
«Volksseele», bes. S. 118 f. nud 143 ff.
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124 Die Eigentimmsfrage der Neuzeit.
Diese Zuständigkeit, die auch in Ketten nicht unfrei ist, passt
nicht in die liberalistische Schablone : Freiheit, hinein. Die Selb-
ständigkeit ist das vom Dichter gepriesene Lebensprincip. dessen
Wurzel jeder Mensch in seiner selbständigen Seele
schon mit seiner Geburt als Mitgift in die Welt bringt und nicht
erst von ihr zu erhalten braucht, wie des Dichters Geist klar er-
schaut, ohne dass der Mund die entsprechende Bezeichnung findet.
Dieses Lebensprincip hat darum längst vor seiner sociologi-
schen Begründung schon im Kleinen und Grossen die treibende
Kraft zu weltumgestaltenden Social re formen abgegeben und im Laufe
christlicher Zeitrechnung namentlich die Erhebung des Frauen-
geschlechts aus unwürdiger Unterwürfigkeit und die Abschaffung
der Sclaverei herbeigeführt, wofür die alte Welt kein Verständnis
besass, weil sie, wie gesagt, für das Princip des Persönlichen den
Schwerpunkt nicht in der Individual-. sondern in der Staatssphäre
suchte. Für die aus der Selbständigkeit keimende Frucht mensch-
licher Vollkraft hat die Volksseele gleichfalls schon lange ein Ver-
ständnis gehabt und durch den Sprachgebrauch die Bezeichnung
Selbstbewusstsein geschaffen. Ohne Selbstbewusstsein ist
Behauptung der Menschenwürde, Entwickelung zur Charakterperson
ein Unding. Erst mit dem Selbstbewusstsein gewinnt der Charakter
jene Elasticität, welche der Körper in der Vollkraft der Gesund-
heit besitzt und welche, in entsprechender Analogie mit dieser, das
Wohlsein in lebensvoller Bethätigung zum Zwecke persönlicher
Selbstbefriedigung sucht.
Diese Befriedigung des Selbstbewusstseins, auch in den be-
scheidensten Grenzen staatsbürgerlicher Pflichterfüllung als eigene
Person unter Personen leben zu können, sucht jetzt jedes Indivi-
duum im modernen Staat, und diese Befriedigung dadurch zu be-
schaffen, dass Staatshilfe ergänzend der Unzulänglichkeit indivi-
dueller Eigenkraft zur Seite tritt : das ist die Aufgabe, welche der
Staat wahrzunehmen hat, um sich allen unentbehrlich zu machen.
Der Staat gefährdet nicht seine eigene Selbständigkeit, sondern
begründet sie um so fester, je mehr er in der Individualsphäre das
Princip des Persönlichen bis zum Reifepunkt der Selbständigkeit
sich ausgestalten macht1. Es ist geradezu die Erbsünde der alten
1 Hegel a.a.O. sagt: I>as Individuum muss in seiner Pflichterfüllung
auf irgend eine Weise zugleich sein eigene* Interesse, »eine Befriedigung oder
Rechnung linden, und ihm aus seinem Verhältnis im Staat ein Recht erwachsen,
wodurch die allgemeine Sache seine eigene besondere Sache wird. Das hesmideie
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Die Eigenthumsfrage der Neuzeit,
125
Staatspolitik zu nennen, dass sie in der individuellen Selbständig-
keit eine Nebenbuhlerschaft der staatlichen Selbständigkeit fürchtete,
anstatt sie als zuverlässigste und auslänglichste Bundesgenossen-
schaft zu pflegen.
In welcher Art wird nun die Staatshilfe der Unzulänglich-
keit individueller Eigenkraft, speciell in der Erwerbssphäre der
Eigenthumsfrage, zur Seite treten ?
Dass es das Eigenthum ist, was neben inneren Charakter-
bedingungen die wesentlichste Voraussetzung für die persönliche
Selbständigkeit des Menschen bildet, bedarf hier als längst bekannte
Sache keiner sociologischen Erörterung. Die ethische Beziehungs-
seite ist ausgemacht, aber an der sachlichen Begrenzung fehlt noch
viel. Der von Fouillee oben angezogene Ausspruch Guizots betont
den wichtigen Gesichtspunkt, dass selbst das Recht dem nichts
nützt, der nicht die Mittel hat, es zu benutzen. Und Fouillee
selbst beginnt seine Arbeit damit, dass er die Bedeutung des
Eigenthums im Staatsorganismus mit dem ßlutumlauf im Körper
vergleicht und hiermit den nicht minder wichtigen Gesichtspunkt
betont, wie verhängnisvoll Stauung von Eigenthum hier und gänz-
licher Mangel nn anderen Stellen für den Staat selbst werden muss.
Aber die Hauptsache wird in der Fouil Neschen Arbeit nicht
berührt und die dort gezogenen Consequenzen, welche mehr oder
weniger sämmtlich auf die Beseitigung der Ungleichheit des Eigen-
thums hinauslaufen, müssen wir völlig verkehrt nennen. Fouillees
eigener Vergleich lässt sich in dieser Hinsicht gegen ihn verwenden.
Das Blutquantum vertheilt sich durchaus verschieden in den ein-
zelnen Gefässen, und diese lassen wiederum den einzelnen Organen,
in durchaus wechselnder Weise je nach der grösseren oder geringeren
Thätigkeit derselben, mehr oder weniger Blut zufliessen. Auch die
Qualität des Blutes ist nicht einmal dieselbe, eine andere in den
Arterien, eine andere in den Venen.
Um es kurz zu machen, der sociale Schaden liegt nicht in
der quantitativen oder qualitativen Ungleichheit des Eigenthums.
Interesse »oll wahrhaft «lieht hei Seite gesetzt oder gar unterdrückt, sondern mit
dem Allgemeinen in Uebereinstinunung gesetzt werden, wodurch es seihst uud
da« Allgemeine erhalten wird. — Da« Individuum, muh seinen Pflichten Unter-
than, findet als Bürger in Erfüllung derselben den Schutz seiner Person und
Eigenthums, die Berücksichtigung seines besonderen Wohls und die Befriedigung
«eines substantiellen Willens ; in dein Bewusstsein und Selbstgefühl des Bürger«,
Mitglied dieses Ganzen zu sein, und dieser Vollbringung der Pflichten als Lei-
stungen und Geschäfte für den Staat hat dieser seine Erhaltung und sein Bestehen.»
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126
Die Eigenthumsfrage der Neuzeit.
Diese Ungleichheit ist im Gegentheil noth wendig, wie es das alte
massgebende Wort schon langst bezeugt : « Reiche und Arme müssen
unter einander sein — der Herr hat sie alle gemacht.» Gehört
Eigenthum zur Wesensbestimmung persönlicher Selbständigkeit, und
ist die Grundverschiedenheit persönlicher Eigenart der Menschen
unter einander nicht ein Unglück, sondern ein Segen für die gegen-
seitige Ergänzung, so folgt hieraus auch sowol die Natürlichkeit
wie Notwendigkeit ungleichen Eigenthums. Nicht nur Ungleich-
heit, sondern Grundverschiedenheit bis zum Gegensatz der Polarität
ist gerade der springende Punkt aller harmonischen Einheit, wie
im Ineinanderspiel der äusseren Naturkräfte, so in allem mensch-
lichen Gemeinschafts wesen, vom Ehebunde bis zum grossen Volk
und Staat umschlingenden Bande.
Die erste und letzte Hauptsache ist hier die, dass zum Be-
stände der Polarität, welche namentlich auch in den socialen Be-
ziehungsverhältnissen zu walten hat, überhaupt ein gewisses
Etwas von Eigenthum überall vorhanden sein muss, oder,
richtiger gesagt, nirgend fehlen darf. Nur dieser Gesichtspunkt fällt
einzig und allein in den Bereich staatlicher Fürsorge, was Eigen-
thum anlangt. Und selbst diesen Gesichtspunkt müssen wir, vom
genannten sociologischen Princip der Mittelbarkeit aller staatlichen
Socialreform, noch dahin beschränken, dass der Staat dieses Etwas
von Eigenthum nicht in der Nutzniessung des Besitzes,
sondern nur in den Bedingungen des Erwerbes allen zur
Verfügung1 zu stellen hat.
Was ist nun dieses erforderliche Etwas von Eigenthum nach
seiner formalen Seite ? Jedem Menschen muss so viel besitzlich an-
gehören, dass er persönlich sich selber angehören kann, oder mit
anderen Worten, dass er in Raum und Zeit sich nicht
selber verloren geht. Vermag der Mensch sein eigenes
Selbst so weit zu behaupten, dass er dasselbe in ein bestimmtes
actives Beziehungsverhältnis zur Aussenwelt setzen kann, so be-
sitzt er die vom Princip des Persönlichen geforderte facultative
Selbständigkeit.
1 Die ewingende Logik dieses Bociologischen Princip« hat sich unter ver-
schiedenen Namen in Amerika schon Reit längerer Zeit selbst Bahn gehrochen,
namentlich bei gerichtlicher Eigenthumscassation in Form eines eisernen
ReBtt heiles des Cassirten. Aehnliehes wiederholt sich in Pfandungsdingen
auch sonst fast überall, obschon selbst in Deutschland bis heut« die principielle
Seite der Sache noch dahingestellt verblieben ist.
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Die Eigenthumsfrage der Neuzeit.
127
Diese vielleicht manchem Ohr abstract klingende Erklärung
sociologischer Fassung geht von durchaus realem Voraussetzungs-
boden aus und führt darum zu völlig concreten und einfachen Con-
8equenzen, wie schon der nächste Satz bezüglich der materialen
Seite des erforderlichen Etwas zeigt.
Und was ist dieses erforderliche Etwas von Eigenthum nach
seiner materialen Seite ? Im Räume ist es das eigene Heim,
in der Zeit der eigene Sonntag. Hat der Mensch erst
einen festen Punkt im Raum gewonnen, der untrennbar mit seinem
persönlichen Ich verknüpft ist, dann erschliesst sich mit der Werth-
schätzung eines räumlichen Stützpunktes auch die Vaterlandsliebe
und der Staatsbürgersinn, beides nicht nur vom objectiven Gesichts-
punkte der Pflicht, sondern auch vom subjectiven des persönlichen
Bedürfnisses und der eigenen Selbsterhaltung. Eine entsprechende
Wandlung erfolgt gleichfalls, wenn der Mensch an der Zeit einen
ihm persönlich angehörigen Besitzantheil dauernd erwirbt, über
welchen er als eigener Herr verfügt. Hat der Mensch erst diese
Selbständigkeit erlangt, dann ist er nicht mehr der willenlose Spiel-
ball jeder Zeitströmung ; hat er in der Gegenwart erst festen Fuss
gefasst, dann überlegt er den Schritt in die Zukunft äusserst vor-
sichtig. Nur wer nichts in Raum und Zeit zu verlieren hat1, ist
und bleibt Revolutionär, auch wenn er die Faust nur in der
Tasche ballt.
In welchem Masse die Wandlung der subjectiven Stellung-
nahme in der Individualsphäre sich nothwendig auch zu einer
organischen Umwandlung des ganzen socialen Gebietes zum Besseren
umsetzen muss, können wir hier natürlich nicht erörtern, sondern
müssen vorläufig, bis wir mehr bieten können, auf unsere Schrift
«Princip der politischen Gleichberechtigung»» verweisen. Auch ohne
diese Erörterung dürfte sich jedoch für jeden unbefangenen Be-
urtheiler unserer letztgenannten Voraussetzungen wenigstens so viel
aus letzteren herausstellen, dass die Wahrscheinlichkeitsannahme
unbedingt den sachgemässesten Eintritt einer normalen Social-
1 Was den Radicalismus zum Radicalismus macht, was ist es denn anderes
als die Raohe der Empörung gegen die Daseinshedingungen, welche würze 1-
fest in Raum und Zeit sitzen. Der Sprachgehrauch hat auch hier das
durchaus sinnentsprechende Wort gewühlt, um das grundstürzeude Moment
ins Licht zu stellen, dieses Moment, das schon Cicero mit seiner Rede in Cati-
linam seinen Zeitgenossen verständlich machen wollte.
* Vgl. Cap. V, namentlich S. 99 t., 105 ff.
lUUiuh« Mon»U«clirifi. Bd. XXXIV, D«fl 2. 9
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128
Die Eigenthumsfrage der Neuzeit.
entwickelung erwarten lässt, sobald erst die subjective Stellung-
nahme seitens der Massen und der massgebenden Intelligenz eine
convergirende Richtung gewinnt. Die rationelle Ausgestaltung der
socialen Verhältnisse bis zu ihrer harmonischen Abrundung im
Volks- und Staatswesen wird und kann sich nicht von selbst machen,
sondern wird dauernd die Aufgabe der inneren Staatspolitik bleiben.
Aber die betreffenden Massnahmen versprechen nur dann einen Er-
folg, wenn die entsprechende Disposition zur Entgegennahme und
der entsprechende Modus der Darreichung nicht mehr fehlen. Ist
es gelungen, die Bedeutung dieser Gesichtspunkte ins Licht zu
stellen, so ist der nächste Zweck unserer Arbeit erreicht.
Es erübrigt nur noch die schliessliche Erörterung über die
praktische Bewerkstelligung der staatsseitigen Massnahmen in Hin-
sicht auf die Wohnungs- und Sonntagsfrage, woran sich noch einige
Gesichtspunkte allgemeiner Natur anschliessen dürften.
Die Lösung der Wohnungsfrage, bezw. des Heimbesitzes der
Arbeiter, wollen wir in derselben Weise durch staatsseitige Nöthi-
gung der betreffenden Interessenten bewerkstelligt sehen, wie es
z. B. im Elsass, namentlich Mühlhausen, durch freie Initiative einiger
Grossindustriellen1 seit einigen Jahrzehnten schon in befriedigend-
ster Weise sowol für Arbeitgeber wie Arbeitnehmer zur Ausführung
gebracht ist.
Der industrielle und landwirtschaftliche Arbeitgeber grösseren
Styles hat den Arbeitnehmer dergestalt in Dienst und Lohn zu
nehmen, dass er letzterem ein Häuschen nebst Gärtchen anweist,
welches durch einen grösseren oder geringeren Lohnabzug, wie
dessen Einbusse dem Arbeiter genehmer ist, sich für den Arbeit-
geber in entsprechender Zeitdauer bezahlt macht und dann in den
persönlichen Eigenthumsbesitz des Arbeiters übergeht. Für den
landwirtschaftlichen Arbeitsbetrieb dürfte eine unbedingte Nöthi-
gung in demselben Umfange in so fern weniger zwingend erscheinen,
als die Landwirtschaft ohnehin schon räumlich gebunden ist und
theil weise bereits ansässige Arbeiter (Dorfbewohner) in Dienst
nimmt. Im allgemeinen mtisste aber auch der landwirtschaftliche
1 Die zwei Männer, deren Namen auf die Naehwelt zn bringen sind, waren
Doli f U l und S e h w a r z. Um das Abströmen der Arbeiter an« dem Elsas*
naeb Pari« und anderen Knotenpunkten der Industrie zu Verbindern, schufen sie
die grundbesitzliehe Ansässigkeit der Arbeiter. Wer mit eigenen Augen diesen
praktischen Anfang durehsehlagender Soeialretbrm gesehen bat, muss die Mitwelt,
die hieran keiu Beispiel nimmt, für blind halten.
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Die Eigenthumsfrage der Neuzeit.
120
Arbeitsbetrieb dem Principe des für den Arbeiter zu beschaffenden
Heimbesitzes unterliegen, wenn auch in modificirter Weise.
Die selbstverständliche weitere Consequenz dieses Principes
ist sodann die obligatorische Anlage aller industriellen Grossbetriebe
auf dem flachen Lande unter staatlicher Controle der Ortswahl.
Für bereits in Städten oder deren Weichbild bestehende Gross-
betriebe ist eine unbedingte, aber modificirte Verfallfrist des Be-
standes erforderlich. Es wäre eine durch nichts gerechtfertigte
Anomalie, wollte man gegen die Industriellen eine sentimentale
Rücksichtnahme walten lassen, welche man sämmtlichen nicht
industriellen Berufsarten auch bei den einschneidendsten Aenderungen,
die zum allgemeinen Besten staatlicherseits getroffen werden, nie-
mals eingeräumt hat. Die falschen mercantilistischen1 Begünstigungs-
doctrinen einer längst überlebten, aber noch nicht ausgestorbenen
Staatspolitik, welche Entwickelung des Geldprotzenthums mit dem
Wachsen allgemeinen Wohlstandes identificirte, tragen die Haupt-
schuld an der materiellen und sittlichen Verrottung der socialen
Zustände.
Die Entfernung der industriellen Betriebe von den Städten
aufs Land hinaus ist nicht nur wegen der Heimbeschaffung der
Arbeiter und deren sittlicher Hebung eine absolut zwingende Not-
wendigkeit rationeller Socialreform, sondern eben so sehr auch
wegen der Wohlfahrt der Städte und des flachen Landes, wie end-
lich auch wegen der Industrie selbst.
Die Städte, namentlich die grösseren Centren, verfehlen ihre
naturgemässe Aufgabe, wenn diejenigen Berufskreise, deren uner-
lässliche Concentrirung an einem Orte eben die Städte hat ent-
stehen lassen, durch die Verteuerung von Wohnung, Nahrungs-
mitteln &c. stetig mehr gefährdet werden. Die ganze grosse Schaar
aller Staatsbeamten, von den höheren bis zu den niederen, den ge-
sammten Lehr- und Schulstand mit inbegriffen, kann das steigende
Misverhältnis zwischen der mässig wachsenden Einnahmeerhöhung
und dem bedeutend zunehmenden Mehrbetrage der Ausgaben auf
die Dauer absolut nicht ertragen. Ja, die Grenze des Möglichen
ist eigentlich schon zur Zeit überschritten, wenn man, wie nicht
anders möglich, es für einen socialen Krebsschaden im Staats-
1 Nicht erat Held u. a., schon Luther und Justus Moser haben
mit ihrem genialen Blick für die allgemeine Wohlfahrt in betreffender Frage
weitet gesehen als heute mancher Nationalokonom ; vgl. Walchsche Ausg. X,
39-1 und 1119; unsere Schritt * Volksseele* S. 7(5 ff. Anm.
9*
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130 Die Eigenthumsfrage der Neuzeit.
Organismus ansehen muss, dass die Mehrzahl aller jener Beamteten
nur durch eine Ueberlastung mit den verschiedensten Nebenposten
sich aus der Existenz n< (Ii nothdürftig retten kann. Endlich noch
eines. Sollen die Städte schon durch die blosse Anhäufung roher
Massen einerseits und durch das vom Schwindelgeist der Genuss-
sucht und des Eigennutzes vergiftete Streberthum jeglicher Art
andererseits nicht zu chronischen Brutherden der Revolution werden
und am Volks- und Staatskörper nicht eben so viel Pestbeulen
bilden, als es Städte giebt, so muss es zur Entbabelung der
Städte kommen — der erste Anfang dazu durch Massnahmen
gegen Uebervölkerung bewerkstelligt werden, wenigstens was die
Fabrikarbeiter betrifft.
Was sodann das flache Land anlangt, namentlich die Land-
wirtschaft, so kann letztere auch nur gewinnen, wenn ihr Arbeits-
kräfte zugeführt werden, welche die Industrie gerade in der Sommer-
zeit nur unbedeutend zu beschäftigen vermag, da deren regste
Productionszelt im Frühlinge mit beginnender Schifffahrt und anderer
erhöhter Ausfuhrmöglichkeit in der Regel sich abschliesst. In dieser
Angelegenheit verweisen wir auf die gehaltvolle Schrift eines gegen-
wärtig in Berlin an wichtiger Stelle thätigen Staatsbeamten, der
seinerzeit gleichzeitig mit uns das Wort zur Verlegung der Industrie
von den Städten aufs Land1 ergriffen hatte.
Endlich kann die Industrie selber zu ihrem wahren Gedeihen,
das mit den Interessen der allgemeinen Wohlfahrt zusammenfällt,
nur auf dem von uns vertretenen Wege gelangen. Die er-
drückende Uebermacht der concurrirenden Schwindelindustrie mit
ihrer Schleuder waare kann nur auf diesem Wege gebrochen werden,
wenn sie für ihre Manipulationen, die auf die Augenblickserfolge
der Ueberrumpelung ausgehen, nicht mehr von Seiten der Städte
beliebige Schleuderarbeitskraft zugeworfen erhält. Dass endlich
eine solide Industrie, welche durch Gediegenheit der Production
den Markt beherrschen will — die allein bestandfähige und der
öffentlichen Wohlfahrt nützende Concurrenz — diesen Zweck um
so sicherer erreicht, je mehr die Ständigkeit der Arbeiter auch
deren Leistungsfähigkeit sicherstellt, liegt auf der flachen Hand.
Wenden wir uns nun zur anderen Selbständigkeitsbedingung,
zum Zeitbesitz im eigenen Sonntage, so wäre zu einer erschöpfen-
den Erledigung dieser hochbedeutsamen Sache eine eigene Mono-
1 Gamp, «Die wirthschaftlich-soeialen Aufgaben uuserer Zeit», S. 231 bis
301 ; unsere Schrift "Principien <ler politischen Gleichberechtigung», S. 106 ff.
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Die Eigenthumsfrage der Neuzeit.
graphie erforderlich. Daher müssen wir uns hier bescheiden und
theils auf unsere Schriften, theils auf die schon vielfach in der
Oeffentlichkeit laut gewordenen Stimmen, Stöcker, v. Kleist-
Retzown. a., verweisen. Nur einen hochwichtigen Punkt können
wir hier nicht unberührt lassen. Es ist die Lebensmacht sittlicher
Wahrheiten, ohne welche kein Volks- und Staatsbestand, am wenig-
sten der deutsche, eine längere Dauer für die Zukunft haben kann.
Die ultima ratio der Waffen zur Erhaltung der äusseren Welt-
ordnung spitzt sich vor aller Welt Augen je länger je mehr zu
einer Entzündung allgemeinen Weltbrandes zu. Will man sich
nicht bald auf eine höhere Ratio sittlicher Weltordnung besinnen,
dann handelt es sich nur um eine kurze Galgenfrist. Die Hebel-
kräfte einer neuen besseren Zeit liegen eben nur in der Sphäre
sittlicher Weltordnung. Deutschlands vielgeliebter und hochverehrter
Kronprinz hat in diesem Sinne zu Heidelberg und Strassburg seine
vollgewichtigen Mahnworte an das deutsche Gewissen gerichtet und
hiermit im edelsten Sinne des Wortes als zukünftiger Landesvater
sich der sichersten Gewähr deutscher Zukunft angenommen. Es
war hohe Zeit, dass das unter den Scheifel gestellte Licht wieder
hoch gehoben ward. Ausser den unzähligen Dingen, die der Staat
unter den Gesichtspunkt des < Geschäfts» zu stellen hat, giebt es
eben noch andere, die völlig ausserhalb dieses Gesichtskreises liegen
und nichts desto weniger vom Staat nicht übersehen sein wollen.
Das erste Pfand für seinen guten Willen nach dieser Seite gebe
der Staat dem Volke durch die Wiedergabe des eigenen Sonntages.
Der eigene Sonntag am eigenen Herd wird die Eigenkraft sittlicher
Wahrheiten zu einer neuen Lebensmacht und Zukunft an Millionen
von Herzen werden lassen.
Im übrigen haben wir hier mit flüchtiger Erledigung nur noch
das zur Sprache zu bringen, was ausser der Heim- und Sonntags-
frage noch vom sociologischen Gesichtspunkte zur Eigenthumsfrage,
bezw. ihren socialen Einwirkungen, hervorzuheben ist.
Der Lösung der Heim- und Sonntagsfrage muss Steuerreform
zur Seite treten. Der Staat hat die directen Steuern ausschliess-
lich den Communen zu überlassen und sich nur auf die i n -
directen zu beschränken, namentlich auf Branntwein und .
Tabak, nur bei Leibe nicht in Monopolform, wie schon am Schlüsse
des vorigen Jahrhunderts Fr. v. Gentz in seinen c Sendschreiben an
König Friedrich Wilhelm III.» ausführt. Was dieser gewiss nicht
liberalistisch voreingenommene und nicht gegen, sondern für den
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132
Die Eigenthumsfrage der Neuzeit.
monarchischen Staat eintretende Staatsmann damals schon als un-
verträglich mit den socialen Erfordernissen der Zeit begreifen
konnte, sollte doch gegenwärtig endlich kein Räthsel mehr für ge-
schulte Denker sein, welche von einer socialen Lebensfrage der
Neuzeit reden wollen.
Zur progressiven Begleichung des ungeheuren Gegensatzes,
welcher zwischen dem Ueberreichthum des grossen Capitals und
dem Mangel der Massenarmuth besteht und zunächst von vorge-
nannten Massnahmen kaum berührt wird, hat eine progressive
Renten-, Erbschafts- und Luxussteuer das durchschlagende Mittel
einer rationellen Socialorganisation abzugeben, welche nicht mit
socialistischer Vergewaltigung den gegenwärtigen
Eigenthumsstand aufheben, sondern mit sociologische r
Regelung nur dessen Unfruchtbarkeit für die allgemeine Wohl-
fahrt beheben will. Nicht Mobilisirung alles Eigenthums, wie
Fouillee vorschlägt, sondern in gewissem Sinne gerade P i x i r u n g
d e s E i g e n t h u m s ist vom sociologischen Gesichtspunkte geboten.
Desgleichen ist vom sociologischen Gesichtspunkte als Regel
nicht Organisation der Arbeit, sondern Entlähmung der
Arbeit aus den Fesseln des Capitals angezeigt. Nicht Bevor-
mundung einer unselbständigen Automatenarbeit, wie der Socialis-
mus will, sondern staatliche Handreichung zur Verselbständigung
der Arbeit ist das sociologische Ziel, welches durch die Lösung
der Heim- und Sonntagsfrage erreicht werden soll. Organisation
der Arbeit fordert der sociologische Standpunkt nur als Ausnahme
von der Regel für die faule Unselbständigkeit, mit Eiuschluss der
entlassenen Sträflinge. Hier geht dieser Standpunkt noch weiter
und erheischt staatliche Organisation von Zwangs-
arbeit. Es ist eine eiserne Forderung socialer Wohlfahrt, die
Gesellschaft von der brandschatzenden und verpestenden Plage der
arbeitsscheuen Stadtbummler und Landstreicher zu entlasten und
letztere, so weit möglich, noch für die Zukunft zu retten. Die
neuen Colonien sind für Deutschland das entsprechende Versuchs-
feld zu staatsseitigen Massnahmen, zu denen private Initiative schon
in den sogenannten «Arbeitercolonien» muster giltiges Beispiel ge-
geben hat.
Sollten wir zum Schluss unsere Erörterungen über das Eigen-
thum in eine allgemeine Socialsentenz auslaufen lassen, wie Fouill6e
es thut, und sollten wir hierbei unseren sociologischen Standpunkt
ebenso zuspitzen, wie er es an seinem liberalistischen vornimmt, so
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Die Eigenthumsfrage der Neuzeit.
133
können wir nur sagen : Das Wohl der Zukunft erzeugt sich nicht
aus Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, sondern aus S e 1 b s t ä n-
digkeit, Gemeinsinn, Staatsbürgerin um. Brüder-
lichkeit ist nicht Sache des Staates, sondern des Gottesreiches mit
seinen Mitteln, die nicht Freiheit und Gleichheit zu Prämissen
nehmen. Freiheit und Gleichheit ergeben als Schlussfolge nicht
Brüderlichkeit, sondern Cannibalismus. Die sociale Frage
löst nur der Staat, welcher im organischen
Ganzen von Individuum, Gesellschaft und Mon-
arch i e d a s P r i n c i p d e s P e r s ö n 1 i c h e n zurSeele
alles Sachlichen macht.
Das ist es, worin die Sachgemässheit aller Dinge und Ver-
hältnisse liegt, mag es sich um deren Zusammenhang mit den
engeren Interessen des Einzelnen, mit den weiteren Bedürfnissen
der Gesellschaft oder mit den grossen Bestandbedingungen einer
ganzen Nation handeln. Das Princip des Persönlichen ist der
Schlüssel zu dem Goetheschen Gesichtspunkte: das < Rechte > im
<Geniässen> zu suchen, wie in unserer social politischen Propä-
deutik weiter ausgeführt worden ist.
Prof. Dr. S c h m i d t • W a r n e c k.
in . i»!«. —
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Rückblick auf die Agrargesetzgebung für die baltischen
Krondomänen.
ie baltischen Agrarreformen haben häufig den Gegenstand
eingehender Erörterung in der Presse gebildet, das leseude
Publicum ist namentlich auch an diesem Ort fortlaufend mit der
Entwickelung der bäuerlichen Verhältnisse in den Ostseeprovinzen,
der Verpachtung, dem Verkauf der Bauergesinde und den auf die
bäuerlichen Grundstücke entfallenden Prästanden bekannt gemacht
worden. Zur Abwehr gegen auswärtige Angriffe, welche den mit
der Bauernemancipation im Reich verbundenen unvermittelten, radi-
calen Bruch mit der Vergangenheit und als ultima ratio den Ge-
meindebesitz verherrlichten, ist wiederholt das hier in Anwendung
gebrachte vorsichtige Vorgehen dargestellt worden, welches in all-
mählichen Uebergängen zu vollen staatsbürgerlichen Freiheitsrechten
für die Bauern führte, welches das ganze materielle und geistige
Leben derselben zu der neuen Ordnung vorbereitete und endlich
im Vergleich mit den Zuständen im Inneren des Reiches gute Re-
sultate erzielt hat. Um so auffälliger muss es bei so reichhaltiger
Behandlung dieses Stoffes erscheinen, dass der auf Krongütern an-
gesiedelten Bauern und deren agrarer Verhältnisse in der Regel
nur beiläufig Erwähnung gethan worden ist, obgleich einmal die
Zahl dieser Kronbauern nicht unerheblich ist und namentlich in
Kurland nach Massgabe der Kronländereien die Zahl der auf dem
Privatbesitz befindlichen Bauern erreichen muss und obgleich zwei-
tens sich nicht unwesentliche Abweichungen in dem Verhältnis
zwischen der Bauerschaft und dem Privatgutsbesitzer einerseits
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Agrargesetzgebung für die baltischen Krondomänen. 135
und der hohen Krone als Grundbesitzerin andererseits zeigen. Eine
ökonomische und sociale Abhängigkeit der Bauerschaften von den
Gutsbesitzern, wie sie bis zu dieser Stunde dem Privatgutsbesitzer
gegenüber nicht ausgeschlossen ist, kommt auf den Krondomänen
vollständig in Wegfall, der weitgehende Einfluss des Privat-
gutsbesitzers auf die Gemeindeadministration bis zur Einführung der
Landgemeindeordnung vom J. 1860 ist bei den Kronbauerschaf ten
gar nicht zur Geltung gelangt. Während den Privatgutsbesitzem
das Recht der freien Vereinbarung über die von den Bauern zu
entrichtende Pacht für die Nutzung ihrer Gesindestellen, sowie
die Fixirung der Verkaufspreise offen gelassen war, wurde das den
Kronbauerschaften zugetheilte Land einer Schätzung unterzogen
und die Pachtsummen, wie auch der Capital werth des Bauerlandes
nach festen Regeln beurtheilt, aualog den Bestimmungen, wie sie
für das übrige Reich zur Anwendung gekommen sind. Nicht un-
interessant ist es endlich die Wandlungen zu verfolgen, welche das
Vorrecht bei der Besetzung der jvacanten Krongesinde, das Erb-
recht am Pachtbesitz im Laufe der Jahre durchgemacht hat, dieses
Recht, welches so häufig verkannt worden ist, welches man bald
auf der breitesten Basis sich entwickeln liess und dem man bald
wieder jede Basis absprach, dieses Recht, welches zu jener unend-
lichen Zahl von sog. Reclamationsklagen geführt, hat, deren Acten
die Archive aller Bauerbehörden überfüllen. — Es muss wahrlich
für mit unseren Verhältnissen unbekannte Personen eine höchst
auffällige Erscheinung bilden, dass alle Agrarreformen, die in den
letzten Decennien in den Ostseeprovinzen Eingang gefunden haben,
niemals in gleicher Weise auf das gesammte Land Ausdehnung
gewannen, dass man Gesetze geschatfen und Verordnungen er-
lassen hat, welche für den einen Theil der ländlichen Bevölke-
rung von der einschneidendsten Bedeutung gewesen sind, den anderen
Theil aber ganz unberührt Hessen. Bald sehen wir den einen Theil
durch einen plötzlichen Drang zum Fortschritt dem anderen voraus-
eilen, bald wieder von letzterem überholt zurückbleiben. Zwei
Genossen in einem Hause, welche dieselben Bestrebungen verfolgen,
die stete Berührung; mit einander haben, trotzdem aber sich fremd
bleiben und von denen jeder, seine eigenen Wege geht — das ist
ungefähr das Verhalten der beiden verschiedenen Wirthschafts-
sphären zu einander, welches auch die Verschiedenheit der agraren
Entwickelung auf den Krondomänen und den Privatgütern kenn-
zeichnet.
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136 Agrargesetzgebung für die baltischen Krondomänen.
Mit dem ersten Januar dieses Jahres hat für die Entwicke-
lung der agraren Verhältnisse der Domänenbauern eine neue Phase
begonnen. Das sich hierauf beziehende Gesetz vom 12. Juni 1886
betreffend die Verwandlung des Pachtzinses der früheren Domanen-
bauern in Ablösungszahlungen bildet das unerwartete Schlusstableau
zu den Reform bestrebungen, als deren einzelne Acte die Gesetze
vom 11. November 1859 und 10. März 1869 sich kennzeichnen, die
es in Folge der verschiedensten Zwischenfälle und unvorhergesehener
Umstände jedoch nie zu Ende zu bringen gelang. Jetzt, wo wir sagen
können : Ende gut, alles gut, verlohnt ein kleiner Rückblick wol
der Mühe, auch selbst auf die Gefahr hin, dass nicht viel Neues
geboten wird.
Ohne die Bedeutung des jüngsten Regierun gsactes zu ver-
kennen, ist nächst der Befreiung von der Leibeigenschaft in der
Geschichte der Eutwickelung unserer gesammten agraren Verhält-
nisse als wichtigste Massnahme der Ukas vom November 1859 zu be-
trachten. Bekanntlich ordnete dieser ükas nächst dem aufgestellten
Programm des Verkaufs 4er Domänen an Personen jeden Standes
den Uebergang der Kronbauergesinde in das volle Eigenthum der
zeitweiligen Pachtbesitzer an. Bot jenes Programm die Veran-
lassung zu dem in dieser Zeitschrift im Jahre 1861 veröffentlichten
Artikel Th. Boettichers, der weit über seinen Titel «Domänen-
verkauf und GüterbesitzrechU hiuaus die einheimischen Verhält-
nisse berührte und in seiner Gefolgschaft die Aufhebung des aus-
schliesslichen Güterbesitzrechts des indigeuen Adels hatte — so
hat die geplante Umwandlung der Besitzverhältnisse der Domänen-
bauern nicht geringe Bewegung und abfällige Kritik hervorgerufen.
Denn, hiess es, der Bauer sei noch zu unentwickelt und zu arm,
um grundbesitzlich zu werden ; seinen letzten Sparpfennig für den
Gesindesankauf hingebend, werde er ohne Betriebscapital im Falle
nur e i n e 8 Misjahres dem Ruine preisgegeben sein. Man hat sich
hierin gewaltig getäuscht. Nach den in Folge des Ukases vom
Jahre 1859 am 14. März 1860 bestätigten Verkaufsbedingungen
war der Werth des Landstückes durch die Capital isirung des Zinses
zu 4 pCt. festgestellt und hatte der Käufer sofort 15 pCt. von
der mit dem Werth des Landes übereinstimmenden Kaufsumme baar
zu bezahlen. Der Kaufschillingsrest sollte als Schuld auf dem
Landstücke und zwar zu 4 pCt. verzinst ruhen bleiben. Für die
Tilgung des Kaufschillingsrestes waren als längste Frist 28 Jahre
angesetzt worden, und zwar hatte der Käufer in diesem Fall,
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Agrargesetzgebung für die baltischen Krondom Inen. 137
ausser den 4 pCt. Renten, noch 2 pCt. zur Tilgung zu zahlen.
Die nächst kürzeste Frist waren 22 Jahre, der Käufer hatte in
diesem Fall 3 pCt. zum Tilgungsfond, somit im ganzen 7 pCt. zu
zahlen, und endlich konnte man die Tilgung noch in 15 Jahren
bewerkstelligen durch Zahlung von 5 pCt. zur Tilgung, mit den
Zinsen also 9 pCt. Die Wahl unter den Fristen stand dem Käufer
frei, welcher überdies noch die Schuld durch gleichzeitige Ab-
tragungen des nachgebliebenen Restes derselben wälirend der Fristen
zu tilgen vermochte.
Es ist ein Erfahrungssatz, dass der Bauer sich schwer von
dem baaren Gelde trennt, er mistraut allen Werthpapieren und
lässt sein Geld lieber im Kasten baar liegen bleiben, als Procente
tragende Papiere anzukaufen ; er wendet den Kopeken erst dreimal
um, bevor er sich von ihm trennt. Es liegt daher nahe, dass
selbst die Bauern, welchen ein genügendes Capital zu Gebote
stand, um mit einem Mal ihr Gesinde zu kaufen, lieber den be-
quemen Weg der Liquidation in 28 Jahren wählen würden. Wie
vorzüglich der Bauer aber situirt gewesen, lässt sich aus einem
Bericht der Domänenverwaltung an das Ministerium schliessen.
Nach diesem Bericht waren bis zum l. November 1860 verkauft
auf folgenden Gütern :
1) Rujen-Radenhof: 43 Banerhöfe mit liy„ Haken, gross
947 Thaler 43 Groschen, enthaltend 2805,,, Dess. ; vom Kaufpreise .
war sofort baar bezahlt 25032 Rbl. (J7 Kop. und betrug der Kauf-
schillingsrest 68902 Rbl. 28 Kop.
2) Tornei: 25 Bauerhöfe mit 14 Haken, gross 1123 Thaler
12 Groschen, enthaltend 3513,7« Dess. ; vom Kaufpreis war sofort
baar bezahlt 40039 Rbl. 75 Kop. und blieb ein Kaufschillingsrest
von 80715 Rbl. 25 Kop.
3) Kolberg: 28 Bauerhöfe mit 7«/io Haken, gross 578 Thaler
62 Groschen, enthaltend 2144,« Dess.; vom Kaufpreis war sofort
baar bezahlt 22319 Rbl. 84 Kop. und blieb ein Kaufschillingsrest
von 50016 Rbl. 11 Kop.
Ausser auf diesen drei Gütern waren noch auf den Gütern
Aahof und Magnushof Gesinde verkauft worden. Bei allen diesen
Gesindesverkäufen ist ein fast ganz gleich günstiges Resultat zu
verzeichnen. Allenthalben ist durchschnittlich fast die Hälfte des
Kaufpreises sofort baar bezahlt worden. Nur ausnahmsweise hat
der Bauer überdies die längste Frist zur Tilgung seiner Schuld
gewählt, die Mehrzahl zog die kürzeste Frist vor. Als Beispiel
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138 Agrargesetzgebung für die baltischen Krondomänen.
sei hier Aahof angeführt. Von allen bis zum 1. November 1860
angekauften Gesinden wurden 2 Gesinde sofort baar bezahlt, 44
Wirthe Hessen sich den Kaufschillingsrest auf 15 Jahre, 13 Wirthe
auf 22 Jahre und nur 8 Wirthe auf 28 Jahre stunden.
Diese Zitfern sind die besten Belege für den Wohlstand, in
welchem sich die Bauerbevölkerung schon damals befand. Trotz
den vielfachen Schwierigkeiten, welche sich dem Ankauf der Ge-
sinde entgegenstellten, als: mangelnde Abgrenzung der Ländereien,
der Zwang von den Käufern wiederholt einzureichender Gesuche,
die Einholung ministerieller Erlaubnis und dergl. m., schritt der
Verkauf doch von Jahr zu Jahr fort. In Kurland wurden auf
Grundlage des Gesetzes vom Jahre 1859 80 Gesinde, enthaltend
3533,,, Dess., für 212025 Rbl. 74% Kop. und in Livland 425 Ge-
sinde mit 27004 Dess. für 795653 Rbl. verkauft. Die Anzahl der
Käufer betrug in Livland 511. Der Unterschied zwischen der
Anzahl der verkauften Gesinde und der Zahl der Käufer erklärt
sich dadurch, dass eine Anzahl Gesinde sich im ungeteilten Besitz
von zwei und mehr Bauern befanden, die gemeinschaftlich sodann
die Gesinde erwarben. — In Estland fanden sich keine Käufer.
Das Vorgehen der Regierung war von den besten Resultaten
gekrönt. Das Verlangen, die Gesinde käuflich zu erwerben, mehrte
sich von Jahr zu Jahr, der Wohlstand der Gesindeswirthe, welche
. ihre Gesinde zum Eigenthum erworbeu hatten, hob sich merklich.
Während von den Gesindespächtern immerfort um Aufschub der
Arrendezahlungen wegen schlechter Ernten nachgesucht wurde,
gehörten Gesuche der Eigenthümer wegen Terminirung der Zah-
lungen und nicht prompte Erfüllung ihrer Obliegenheiten im ganzen
zu den Ausnahmen. Dem Verkauf stellten sich jedoch bald nicht
unerhebliche Schwierigkeiten entgegen, die endlich im Mai 1866
zur Sistirung weiteren Verkaufs führten. Von den im Laufe der
Jahre eingesetzten Mess- und Regulirungscommissionen hatte keine
einzige ihre Arbeit vollständig beendigt, jede hatte nach besonderen
Instructionen die Werthschätzung der Gesinde vorgenommen und
den Zins festgestellt. Da sonach die Werthschätzung für dieses
und jenes Gesinde auf den verschiedensten Grundsätzen beruhte,
viele auch noch gar nicht einmal regulirt waren, so gewährten die
verschiedenen Zinsnorm irungen ein höchst buntes Bild. Die im
Jahre 1845 begonnene Regulirung hatte in 20 Jahren ihrer Thätig-
keit in allen drei Provinzen zusammen 387 Güter regulirt, auf
183 von diesen Gütern mussten im Jahre 1866 noch alle Bauer-
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Agrargesetzgebung für die baltischen Krondomänen. 139
wirthe ihren Verpflichtungen nach den alten Wackenbüchern nach-
kommen, 69 Güter waren nach der Instruction vom Jahre 1845,
die übrigen 135 Güter aber nach der Instruction vom Jahre 1859
regulirt. Die mangelnde Einheit in der Grundlage zur Werth-
schätzung führte zu einer oft in gar keinem Verhältnisse zu ein-
ander stehenden Verschiedenheit der Feststellung des Kaufpreises
der einzelnen Gesinde. Für gleichwertige Gesinde in Kurland
betrug der Zins nach den früheren Wackenbüchern 43 Rbl., für die
nach der Instruction vom Jahre 1845 regulirten 66 Rbl. und end-
lich für die nach der Instruction vom Jahre 1859 regulirten Ge-
sinde 83 Rbl. Die mittlere Ziffer des Zinses für eine Dess. be-
trug in Livland nach der Instruction vom Jahre 1845 — 60 Kop.
und nach der Instruction vom Jahre 1859 — 1 Rbl. 20'/» Kop.
In Kurland betrug der Zins für eine Dess. nach der ersteren In-
struction l Rbl. 36 Kop., nach der zweiten 1 Rbl. 90 Kop. Diese
Ungleichheit des Zinses bedurfte dringend der Beseitigung. Zu
diesem Zweck wurde eine Commission eingesetzt, welche unter dem
Namen Regulirungscommission auf Grundlage neuer Instructionen
eine Umschätzung und Abgrenzung aller Gesinde vornehmen sollte.
Die Instruction war eine ungemein detaillirte. Das Wesentliche
derselben findet sich in nachstehenden Regeln:
Alles nutzbare Land wird eingetheilt in :
1) Ackerland, 2) Heuschlag, 3) Viehtriften und Weiden, 4) das
von Gebäuden mit den dazu gehörigen Höfen, Gärten und Gemüse-
gärten eingenommene Land.
Das Ackerland wird nach seiner Güte in Kategorien einge-
theilt und zwar in der Weise, dass nicht jede besonders zu
schätzende bäuerliche Wirthschaftseinheit eines Gutes, sondern jedes
Gut als Ganzes klassificirt wird. Diese Kategorien sollen der
ortsüblichen Bodeneintheilung entsprechen.
Als Massstab für die Schätzung des Ackerlandes gilt der
mittlere Ertrag der Roggenernte von einer Dessätine abzüglich
der Aussaat.
Um eine möglichst grosse Einheitlichkeit in der Abschätzung
herbeizuführen, ist der Instruction eine Tabelle beigefügt, in welcher
das Ackerland nach der Grösse der Roggenernte in sechs Klassen
mit je drei Unterabtheilungen oder Graden eingetheilt und zugleich
bezeichnet ist, auf welcher Bodenart die in den einzelnen Klassen
angegebene Roggenerträge vorkommen. Als höchster Ertrag ist
hierbei der Ertrag von 80 Tschetwerik Roggen von der Dessätine,
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140 Agrargesetzgebung für die baltischen Krondomänen.
nach Abrechnung der Aussaat, als geringster Ertrag der von 12
Tschetwerik von einer Dessätine angenommen worden. Diesen
Klassen uud Graden sind die Bodenkategorien des einzelnen Gutes
unterzuordnen.
Aus der Anzahl der vorhandenen Dessätinen, wobei bei der
Drei- oder Mehrfelderwirthschaft die Brachfelder nicht mitgerechnet
werden, und dem für jede Bodenklasse und jeden Grad in Tschet-
weriks ermittelten Ertrag an Roggen wird der Totalertrag des
Ackerlandes für jedes zu schätzende Grundstück gefunden, von
welchem dann ein bestimmter Procentabzug als Entgelt für die
Bearbeitungsunkosten gemacht werden muss , um zu dem der
Schätzung zu Grunde zu legenden Ertrage zu gelangen. Dieser
Abzug steigt von 22 pCt. für den ersten Grad der L Klasse bis
auf 95 pCt. für den dritten Grad der VI. Klasse.
Bei der Schätzung des Heuschlages ist sowol auf die Güte
als auch auf die Menge des von demselben geernteten Heues Rück-
sicht zu nehmen. Nach der Güte des Heues werden die Heuschläge
in vier Klassen, nach der Menge des Heues aber in 17 Grade
eingetheilt.
Bei der Bestimmung des Schätzungswerthes ist der Ertrag
einer Dessätine in Puden zu berechnen und der Werth derselben
nach den örtlichen Preisen für Roggen und Heu auf Roggen in
Tschetweriks umzusetzen, wobei gleichfalls ein bestimmter Abzug,
26 pCt. bis 85 pCt., als Entschädigung für die Bearbeitungsunkosten
zu machen ist. Die Berechnung ist für Heu mittlerer Qualität zu
machen, als welches dasjenige der III. Klasse zu gelten hat und ist
1 Pud Heu I. Kl. = 1«/, Pud Heu III. Kl.
1 c t II. t S 1% C € « «
l . € t IV. « = */, c « « t zu berechnen.
Das Weideland ist je nach den Ortsverhältnissen auf >/t, •/>
oder '/« des Werthes der Heuschläge der entsprechenden Grade
zu schätzen. Kann die Weide jedoch ohne Nachtheil für die
Wirthschaft und ohne Capitalauslagen in Heuschlag verwandelt
werden, so wird sie wie Heuschlag geschätzt.
Als Massstab für die Schätzung des unter Gebäuden und den
dazu gehörigen Gärten und Höfen befindlichen Landes hat der
Ertrag des Roggenfeldes auf dem besten Boden des Gutes zu gelten.
Ist auf diese Weise der Schätzungsertrag alles nutzbaren
Landes in Tschetwerik Roggen festgestellt, so wird der Schätzungs-
werth des einzelnen Gesindes oder Grundstückes ermittelt, indem
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Agrargesetzgebung für die baltischen Krondomänen. 141
man den Roggenertrag desselben nach dem örtlichen Preise für
Roggen in Geld umsetzt. Der örtliche Roggenpreis ist hierbei in
folgender Weise zu bestimmen :
Durch Nachfragen und Erkundigungen bei den Verwaltungs-
behörden und Beamten werden Auskünfte über die Roggenpreise
am nächsten Absatzorte für Getreide, wo möglich für die letzten
zwölf Jahre, gesammelt und die gleichen Erkundigungen werden
auch von Händlern, Gutsbesitzern &c. eingezogen. Nach allen
diesen Quellen wird der mittlere Preis für jedes der zwölf letzten
Jahre bestimmt und dann unter Weglassung der beiden Jahre,
welche den höchsten Preis aufweisen , aus den Übrigbleibenden
Preisen für zehn Jahre der mittlere Preis berechnet. Dieses Resultat
wird dann noch durch Vergleichung mit den übrigen gesammelten
Daten und den für andere Orte ermittelten mittleren Preisen be-
richtigt. Aus dem auf diese Weise festgestellten mittleren Preise
für den nächsten Absatzort wird der örtliche Preis durch Ab-
rechnung der Transportkosten gefunden.
Nach der Höhe des Srhätzungsertrages richtet sich auch die
Höhe der für die Benutzung von Kronbauerländereien zu zahlenden
Pachtsumme, indem der Pachtschilling im allgemeinen auf '/• des
Schätzungsertrages festzusetzen ist. Der Pachtschilling kann um
10, 20 und bis 30 pCt. ermässigt werden, wenn besondere Um-
stände vorhanden sind, welche den Werth des Bodens verringern.
Als solche Umstände haben zu gelten : Streulage der Ländereien,
ungünstige Lage der Felder, mangelhafte Verkehrsmittel, Holz-
und Wassermangel &c. Eine Erhöhung des Pachtsatzes um 10,
20 und bis 30 pCt. kann dagegen eintreten bei besonders günsti-
gen Bedingungen für den Absatz landwirtschaftlicher Producte,
bei bedeutendem Anbau von Flachs und anderen werthvollen
Industriepflanzen, bei Gütern, welche an Land- und Wasserstrassen
oder in der Nähe grosser Städte liegen, und in ähnlichen Fällen.
Zur Erhöhung oder Ermässigung des Pachtschillings über oder
unter l/3 der Schätzungseinkünfte ist jedoch stets ministerielle Be-
stätigung erforderlich.
Ausser an einem einheitlichen Zinsverhältnis mangelte es
noch an einer t Verordnung über die Agrarverhältnisse der Bauern,
der Organisation des Bauerstandes und einer für denselben einzu-
führenden landwirtschaftlichen Ordnung», da die bezüglichen Be-
stimmungen der Ii vi. Bauerverordnung vom Jahre 1800 auf die
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142 Agrargesetzgebung für die baltischen Krondomänen.
p
auf publiken Gütern domicilirenden Bauern keine Anwendung finden
sollten. (Einführung in die livl. Bauerverordnung IL) In Folge
solcher Mängel wurde der Verkauf des Bauerlandes bis auf weiteres
ausgesetzt und im Anschluss an das Gesetz über die allgemeine
Regulirung des Bauerlandes wurden am 10. März 1869 die «Regeln
über die administrative und agrarische Organisation für die auf
den Baltischen Krongütern angesiedelten Bauern» erlassen. Nach
diesen Regeln wird die Gesammtsumme des von allen Gesinden
zu erhebenden Zinses festgesetzt für Kurland auf 557000 Rbl., für
Livland auf 260000 und für Estland auf 4000 Rbl. Nach be-
endigter Regulirung aller Krongüter in jedem Gouvernement sollte
die Gesammtsumme des auf das Gouvernement entfallenden Zinses
im Verhältnis zu der durch die Regulirung zuwege gebrachten
Werthschätzung repartirt werden. Der Ankauf der Gesinde konnte
nur auf Grund einer bereits ausgereichten Regulirungsacte, welche
die Resultate der Regulirung enthalten sollte, stattfinden und der
Verkaufspreis einer jeden Bauerlandstelle sollte durch Capitalisi-
rung des jährlichen Zinses zu 4 pCt. gewonnen werden und die
Tilgung des Capitals durch jährliche Zahlung von 2'/j pCt. während
49 Jahre vor sich gehen, die Kaufsumme aber zu 5 pCt. verrentet
werden. Der Bauer hatte also, um Eigenthümer zu werden, nur
nöthig, ausser dem durch die Regulirungsacte festgesetzten Zins —
das sind 4 pCt. von der Kaufsumme — an Renten noch pCt.,
mithin im ganzen ö'/a pCt. jährlich zu zahlen, um nach 49 Jahren
vollständig schuldenfrei dazustehen. Ueberdies konnte der Käufer
noch jährliche Capitalabzahlungen, jedoch nicht unter 100 Rbl.,
machen, und zwar nicht allein in baarem Gelde, sondern auch in
allen Arten von Staatspapieren, die zum Nominalcourse in Anrech-
nung gebracht wurden. Er konnte demnach bei dem häufig sehr
niederen Course der Staatspapiere mitunter noch um 10 und mehr
Procente die Kaufsumme ermässigen, indem er Capitalabzahlungen
in Werthpapieren bewerkstelligte. Noch in anderer Beziehung war
dieser Ukas von der höchsten Bedeutung Einmal wurde durch
ihn jede Beteiligung der Domänen Verwaltung an der Administra-
tion der auf Krongütern angesiedelten Bauern, an der Aufsicht
über die Gemeindeverwaltung, über die Leistung ihrer Reichs- und
Landesprästanden und die Erfüllung der Rekrutenprästation, an
der Beaufsichtigung der Landschulen und an der Uebertragung der
der Gutspolizei überlassenen Rechte und Pflichten auf eine be-
liebige Person nach Wahl der Domänen Verwaltung beseitigt und
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Agrargesetzgebung für die baltischen Krondomänen. 143
in dieser Beziehung die Kronbauern den Bauern auf den Privat-
gütern gleichgestellt. Die Verwaltung der Gutspolizei innerhalb
der Krongüter, welche von Privatgütern abgesonderte Gemeinden
bildeten, hatte von nun an auf den Gemeindeältesten überzugehen,
falls nicht zwingende Gründe es für geeigneter erscheinen lassen
sollten, die Gutspolizei den Arrendatoren zu übertragen.
Zweitens wurde hinsichtlich der Gesindepacht ein dingliches
Recht geschalten. Dieses Recht ist eingehender Erörterung unter-
zogen worden in einem im XXVIII. Bande dieser Zeitschrift er-
schienenen Artikel cDie Rechte der Bauern an den Krongesinden
in Livland». Demselben lässt sich jedoch nicht in allen Punkten
beistimmen. — In Uebereinstimmung mit dem Patent der livl.
Gouvernementsregierung hat der Verfasser die Worte des Art. I
des Gesetzes vom 10. März 1869 «KpecTtaue coxpanjuoTi bt, uo-
ctouuuom'l cbocmt» uojik30Baiiiu upeAocTaBJieiiiiue bmii yiacTKH» über-
setzt : «die Bauern erhalten die ihnen überlassenen Landparcellen
zu ihrer immerwährenden Benutzung * und schliesst hieraus, wie aus
dem Umstände, dass die Regulirungscommission den vorhandenen
Besitz den Bauern nicht entziehen oder denselben verkleinern durfte,
dass das immerwährende Nutzungsrecht sc. Nutzungseigenthum von
den Bauern nicht auf Grund der Regulirungsacte, sondern kraft
des Gesetzes selbst erworben werde. Dieser Ansicht kann schon
aus dem einfachen Grunde nicht beigetreten werden, weil das hier
massgebende Verbum «coxpanarb» nicht etwa die Bedeutung hat,
dass etwas Neues geschaffen, sondern vielmehr, dass ein bestehendes
Recht aufrecht erhalten werden soll. Ein Nutzungseigenthum der
Bauern am Bauerlande im Sinne unseres Privatrechts hatte bisher
nicht existirt ; es konnte mithin auch gar nicht aufrecht erhalten
werden. Das hier in Betracht kommende Recht muss daher etwas
ganz anderes gewesen sein. Ueberdies mangelte es bis zur Aus-
reichung der Regulirungsacten an der Bestimmtheit sowol des
Objects, an welchem das Nutzungseigenthum bestellt worden, als
auch des Zinses. Beides sollte erst durch die Regulirungscommission
festgestellt werden. Welche Art Nutzung den Bauern erhalten
werden sollte, erläutern uns die Motive zu der von dem Minister
der Reichsdomänen ausgearbeiteten Vorlage zum qu. Gesetz. Die-
selben führen die erbliche Nutzung der Bauern am Bauerlande auf
ein vom Karl XI. gewährtes Recht zurück, welches durch die Bauer-
verordnung vom 29. Febr. 1804 nochmalige Bestätigung gefunden
habe. Zwar sei dieses Recht durch die spätere Gesetzgebung
BaltUcbe Mo»at«fChrifl. Bd. XXXIV. Heft 2. 10
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144 Agrargesetzgebung für die baltischen Krondomänen.
beseitigt worden, thatsächlich habe es aber für die Krongüter auch
noch weiterhin fortbestanden und endlich zur Ausbildung eines
Gewohnheitsrechts geführt, welchem die Allerhöchste Sanction zu
geben es nun gelte. Endlich wird ausdrücklich hervorgehoben,
dass die yTBepacjienie bi npaBaxi> durch die Ausreichung eines
Actes zu erfolgen habe. Unter dem Gewohnheitsrecht, dessen hier
Erwähnung gethan wird, kann nichts anderes verstanden werden,
als das in Liv- und Kurland unter dem Namen Näher- oder Vor-
pachtrecht an den Kronbauergesinden oder auch Erbrecht an den
Pachtrechten bekannte, dessen Entwickelung für Kurland weiter
unten gegeben werden soll.
Der Verfasser des gedachten Artikels glaubt ferner, da im Privat-
recht zweier durch Privatwillkür entstehender Arten des Nutzungs-
eigenthums besondere Erwähnung gethan ist, nämlich des Grund,
zinsrechts und Erbpachtrechts, unter eins dieser beiden auch das
Nutzungsrecht der Kronbauern rubriciren zu müssen, und zwar
giebt er dem Grundzinsrecht den Vorzug, weil die Erbpacht einen
im Verhältnis zum Ertrage stehenden Zins voraussetze, von dem'
hier im Hinblick auf die Geringfügigkeit der von den Bauern zu
entrichtenden Zahlungen und auch deshalb nicht die Rede sein könne,
weil die Gesammtsumme des Pachtertrages vor dessen Feststellung
durch die Regulirung durch das Gesetz normirt worden. Allein
mit den vom Provinzialrecht aufgezählten Arten des Nutzungs-
eigenthums ist die Zahl derselben durchaus nicht abgeschlossen zu
denken. Dasselbe stellt vielmehr eine ganze Anzahl charakteristi-
scher Merkmale (Art. 942 u. ff.) auf, welche jedesmal vorhanden
sein müssen, damit ein Nutzungseigenthum begründet werde, und
behandelt sodann am besonderen Platz das Grundzins- und Erb-
pachtrecht, weil diese durch den Hinzutritt besonderer Rechte sich
auszeichnen. Bei der Behandlung der Frage, was für Rechte durcli
den Ukas vom 10. März I8f>9 geschaffen seien, wäre daher in
erster Linie zu untersuchen, ob die allgemeinen Bedingungen,
welche zur Begründung des Nutzungseigenthums absolut nothwendig
sind, mi casu zutreffen und sodann erst, ob eine von den im Gesetz
aufgeführten specielleren Arten auf das gegebene Verhältnis passe.
Die erste Frage wäre nach den im gedachten Artikel angegebenen
Einzelheiten unbedingt zu bejahen, die zweite dagegen zu verneinen.
Im Gegensatz zu den Ausführungen in dem gedachten Aufsatz kann
von einem Erbgrundzinsrecht gerade deshalb nicht die Rede sein,
weil es sich um ein fruchttragendes Grundstück handelt, dessen
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Agrargesetzgebung für die baltischen Krondomänen. 145
Zins nach dem Willen der Parteien im Verhältnis zu dem Ertrage
steht. Wie sehr man bestrebt gewesen, den Zins in Einklang mit
dem Ertrage zu bringen, geht aus der oben dargestellten Schätzung
der Grundstücke hervor. Der Massstab, welcher bei jeder Schätzung
in Anwendung zu kommen hat, ist in jedem Fall dem Ermessen
und der Vereinbarung der Parteien zu überlassen. Es lässt sich
daher das Nichtvorhandensein eines Erbpachtrechts aus dem Um-
stände allein nicht herleiten, dass nach der Ansicht dritter Personen
der Zins dem Ertrage nicht entspreche, vielmehr kommt es ledig-
lich auf den Partei willen an, welcher in casu durch die Gesetz-
gebung zum Ausdruck gelangte und gerade darauf gerichtet war,
den Zins in ein Verhältnis zum Ertrage der Nutzung zu bringen.
Dem steht auch gar nicht der Umstand entgegen, dass durch das
Gesetz vom 10. März 18(59 die Gesammtsumme des Zinses zum
voraus festgestellt worden ist, da diese Summe keineswegs eine
willkürliche, aus der Luft gegriffene, sondern das Resultat einer
Berechnung ist, zu deren Grundlage die Gesammtsumme der für
das Jahr 18G9 für alle drei Provinzen in Aussicht gestellten Zins-
revenue von 026585 Rbl. 68 Kop., verbunden mit dem gesammten
bisherigen Regulirungsergebnis, gedient hatte. Also auch diese
vorher festgestellte Gesammtsumme ist eine Verhältniszahl. Welche
Factoren aber sonst noch mitgewirkt haben, der Regulirung vor-
zugreifen und die Verhältniszahl approximativ vorher zu bestimmen,
gehört nicht zur Sache. Gehen wir die Eigentümlichkeiten1 durch,
welche das Rechtsverhältnis der Bauern an den Kronbauerl ände-
reien auszeichnen, so finden wir, dass das denselben eingeräumte
Nutzungseigenthum von den für das Grundzins- und das Erbpacht-
recht festgesetzten Bestimmungen wesentlich abweicht und
zwar bald in das Nutzungsrecht einschränkender, bald in dasselbe
erweiternder Weise, so dass es in mancher Beziehung dem vollen
Eigenthum noch näher gerückt erscheint. Man kann sich daher
auch nicht der Ueberzeugung verschliessen, dass durch das Gesetz
vom 10. März 1869 ein ganz eigenartiges Nutzungseigenthum ge-
schaflFen worden ist, welches als ein kraft des Gesetzes bestehendes
dingliches Recht auf Grund des Art. 3004 P. 2 auch ohne Ein-
1 Im Gegensatz zu den im alL Aufsatz aufgezählten Eigentümlichkeiten ist
zu diesen gerade auch zu rechnen, dass da« Grundstück in das unbeschränkt«
Eigenthum des Obereigeithümers nicht zurückfallen soll. In eingehendster Weise
wird dieses in Frage stehende Rechtsverhältnis in einer Entscheidung des knrl.
Oberhofgericht* in Suchen Sänke wider die Anlache Gntsverwaltung behandelt.
10*
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146 Agrargesetzgebung für die baltischen Krondomänen
tragung in die öffentlichen Bücher wirksam ist. Endlich scheint die
Ansicht durchaus nicht berechtigt, als werde ein regulirtes Gesinde
zum vollen Eigenthum durch einen einseitigen Act erworben. Die
im Gesetz vom 10. März 1869 festgesetzten Kaufbedingungen sollen
weiter nichts als eine Offerte vorstellen, die, falls sie von dem im
Besitz des Gesindes befindlichen Wirth acceptirt werden, zum Ab-
schluss eines Kaufvertrages führen sollen. Diese Anschauung wird
durch die Form der höheren Orts ausgearbeiteten Kaufcontracte in
jeder Beziehung bestätigt. Dieselben sind in die allgemein für solche
hier übliche Form gekleidet, nämlich : tEs verkauft die Balt. Dom.-
Verwaltung dem und dem das und das Bauergesinde für den und den
Preis», worauf dann die Unterschrift der beiden Contrahenten erfolgt.
Das Erbrecht der Bauern am Pachtbesitz, dessen Entwicke-
lung hier in kurzen Zügen gegeben werden soll, hat seine Ent-
stehung offenbar längst vergangenen Zeiten zu verdanken. Greifen
wir zurück in die Zeit der Leibeigenschaft, so finden wir eine
Erklärung für dasselbe in dem Umstände, dass der Bauer in einem
festen, dem Wechsel selten unterliegenden Verhältnis zu dem von
ihm bebauten Grundstücke stand ; als glebae adscriptus gehörte er
zum Grund und Boden, er war mit diesem 'in eins verwachsen.
Besonders auf den der Krone gehörigen Gütern niusste diese Zu-
gehörigkeit sich im Bewusstsein der Bauerbevölkerung festsetzen,
unterlagen sie doch hier weniger als auf den Privatgütern der
Willkür. Die Bauernemancipation vernichtete dieses traditionelle
Grundverhältnis, sie beseitigte diesen tief eingewurzelten Begriff der
Zusammengehörigkeit, sie vermochte aber nicht die Ueberzeugung
der Gesindepächter von einem festen rechtlichen Zusammenhang
seiner Person und Familie mit dem Pachtgrundstück auszulöschen und
schuf dadurch jene unendliche Anzahl Reclamationsklagen, welche,
wie gesagt, die Archive aller Bauerbehörden füllen. Die Acten der
baltischen Dom. -Verwaltung erwähnen ausdrücklich einer aus herzog-
lichen Zeiten stammenden Gewohnheit, durch welche eine wechsel-
seitige Zugehörigkeit des Gesindewirths und dessen Familie zu
einem bestimmten Gesinde begründet worden ; sie erwähnen auch
dessen, dass unter russischer Herrschaft während der Leibeigen-
schaft diese alte Gewohnheit gleichmassig geübt sei. Die Auf-
hebung der Leibeigenschaft versetzte dieser Gewohnheit einen ge-
waltigen Stoss. Der hohen Krone verblieb gleich den Privat-
besitzern das volle Eigenthum an dem ßauerlande. Die Bauer-
verordnung, welche gleichermassen für die auf Krön- und Privat-
Agrargesetzgebung für die baltischen Krondomänen. 147
-
gütern lebenden Bauern in Anwendung zu kommen hatte, überliess
es dem Gutsbesitzer, nach freiem Ermessen die Gesinde wem be-
liebig zu übergeben. Es waren demnach auch die auf Kronlände-
reien ansässigen Bauern ohne irgend welchen Anspruch auf fort-
gesetzten Besitz des Bauerlandes frei geworden. Ihnen war gleich
allen übrigen Bauern in Aussicht gestellt, nach Ablauf des transi-
torischen Zustandes in ein Pachtverhältnis zu der Krone bezüglich
der von ihnen bis dahin genutzten Gesinde zu treten. Bis zu dem
Moment hatten die jeweiligen Inhaber der Krongesinde die Verpflich-
tung, in Uebereinstimmung mit den neuesten Wackenbüchern und In-
ventarien die in den Gehorchstabellen bestimmten Frohnen zu leisten.
Der Zeitpunkt für die Einführung der Pachtverträge konnte
seitens des Cameralhofs, in dessen Händen sieh die Verwaltung
der Domänen damals befand, nicht eingehalten werden und
musste bis weit nach Eintritt des definitiven Freiheitszustandes
der Bauern Hinausschiebung erleiden. Das Frohnverhältnis der
Kronbauerwirthe dehnte sich daher auch über den festgesetzten
Termin aus und während dessen Bestehens bildete die Gehorchs-
tabelle den Massstab der von den Wirthen zu leistenden Frohnen.
Die Einsetzung und Bestätigung der Wirthe vacanter Gesinde-
stellen erfolgte auj Grund der Vorstellung der Krongutsverwaltung
durch die örtliche Domänenverwaltung. Diese Bestätigung sollte
dem bestätigten Wirth keinerlei Anspruch auf Abschluss eines
Pachtvertrages für den Fall der erwarteten Einführung des Pacht-
verhältnisses gewähren, da sie regelmässig mit der Clausel <bis
auf anderweitige Anordnung der Dom. -Verwaltung» erfolgte. So-
nach hatte die Dom.-Verwaltung vollständig freie Hand bei Be-
setzung der Gesindestellen und mussten Gesindereclamationen in
Folge eines Erb- oder Näherrechts der Verwandten eines ver-
storbenen Gesindewirths vollständig ausgeschlossen erscheinen. Ein
Befehl der kurl. Gouvernementsregierung vom Jahre 1825 und ein
Cameralhofsbefehl vom Jahre 1832 betonen die Unzulässigkeit
solcher Reclamationen. Allein die im Rechtsbewusstsein des Land-
volkes tief eingewurzelte Ueberzeugung, ein Recht an dem, sei es
vom Vater oder auch nur von Seiten verwandten, bewirtschafteten
Krongesinde zu besitzen, vermochte sich nicht mit der vollständigen
Rechtlosigkeit in Betreff des Landbesitzes, wie sie die Befreiung
von der Leibeigenschaft hervorgerufen, zu befreunden. Eine Un-
masse an den Generalgouverneur eingereichter Beschwerden, welche
sich namentlich gegen die Bevorzugung der unbeerbten Wittwe
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148 Agrargesetzgebung für die baltischen Krondomänen.
gegenüber den Seitenverwandten und gegen die Bestätigung der
in das Gesinde eingeheirateten Wittwe resp. ihres Ehemannes
aus zweiter Ehe als Gesindeswirthe während der Unmündig-
keit der Kinder erster Ehe richteten , bezeugen die Un-
zufriedenheit der Landbevölkerung mit der Besetzung der Kron-
gesinde und veranlassten den Generalgouverneur v. d. Pahlen, sich
wegen Beseitigung der Unzufriedenheit mit dem temporären Conseil
zur Verwaltung der Reichsdomänen in Relation zu setzen. Letz-
tere Behörde erliess hierauf am 27. April 1837 eine die Besetzung
der Krongesinde betreffende Verordnung, welche als Befehl des
kurl. Cameralhofs an sämmtliche Gemeindegerichte, Kreisgerichte
und Kreis-Kammerverwandte (d. i. die damaligen Domänen- Bezirks-
inspectoren) publicirt wurde und deren Giltigkeitsdauer sich bis
zur Umwandlung der Frohne in ein Pachtverhältnis erstrecken
sollte. Der Punkt 11 des gedachten Befehls lautet: cWas die
Erbfolge in den Gesinden, welche wegen Ablebens der wirklichen
Wirthe vacant geworden, betrifft, so ist, damit die alte und fast
überall übliche Usance, welche dem Nutzen der Krone und der
Bauern nicht zuwider ist, nach Möglichkeit beobachtet werde, bis
die Güter vermessen worden, zu berücksichtigen, welcher zufolge
ein Gesinde nach dem Tode des Wirths denjenigen im selbigen
nachbleibenden Gliedern der Familie oder des (resindes überlassen
wird, die hierzu für fähig anerkannt werden, ohne dies Recht blos
auf die Kinder des Wirths zu beschränken, sondern selbiges auf
alle Glieder der Familie oder des vacanten Gesindes zu extendiren ;
bei Entscheidung entstehender Streitigkeiten, Misverständnisse und
Klagen können aber als Erklärung der obigen Usance nach-
stehende Regeln über die Erbfolge in Gesinden, die wegen Ab-
lebens der Wirthe vacant geworden, angenommen werden :
cl. Nach dem Tode eines ordentlichen Wirths geht das in
seinem Besitz befindlich gewesene Gesinde auf die leiblichen Söhne
jenes Wirths und in Ermangelung von Söhnen auf die Töchter des-
selben und hiernächst auf die übrigen nächsten Verwandten des
Verstorbenen nach der Erstgeburt über, indem hier solche Personen
zu verstehen sind, die zu den vacanten Gesinden gehören, nicht
aber anderweitig bereits abgetheilte.
t2. Sind die Kinder unmündig, so wird das Gesinde bis zu
ihrer Volljährigkeit von der nachgebliebenen Wittwe des ver-
storbenen Wirths verwaltet ; lehnt sie aber diese Verwaltung von
sich ab oder existirt sie gar nicht, so wird das Gesinde bis zur Voll-
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Agrargesetzgebung für die baltischen Krondomänen. 149
j ihrigkeit der Kinder einem der nächsten Verwandten des verstorbenen
Wirths als Vormund, falls er zuverlässig ist, oder aber anderen zuver-
lässigen Leuten nach Auswahl der Gemeinde in Verwaltung gegeben.
<3. Wenn ein vacantes Gesinde aus irgend welchen Ur-
sachen nicht in den Besitz der Familien- oder Gesindeglieder ge-
langt, so wird dasselbe in neuen Besitz vergeben, wobei nach Um-
ständen die übrigen Verwandten des gewesenen Wirths, wenn auch
sie sich unter den Concurrenten zum Besitz des Gesindes melden,
berücksichtigt werden können.
«4. Bei Uebergabe eines vacanten Gesindes ist nothwendig
darauf zu sehen, dass der in Besitz desselben Tretende persönliche
Fähigkeit dazu und gute Moralität besitzen
Während man aber bisher nur den Vorzug bei der Besetzung
der Gesinde, wenn überhaupt, so lediglich auf die leiblichen Kinder
und die Wittwe erstreckte, sollten von nun an auch die Seiten-
verwandten berücksichtigt werden, wogegen die unbeerbte Wittwe
von jedem Anrecht auf das Gesinde ausgeschlossen wird. Bisher
war die örtliche Verwaltung von der Ansicht ausgegangen, dass
die Bevorzugung der Kinder uud der Wittwe bei der Besetzung
der Gesinde eine ökonomische Massregel sei und eine Belohnung
für die gute Bewirthschattung des Gesindes bilden sollte, dagegen
aber Seitenverwandte um deswillen bei der Gesindebesetzung keine
Berücksichtigung fanden, weil man einerseits fürchtete, der Nach-
weis des besseren Rechts unter den Seitenverwandten könnte zu
Weiterungen führen und die schleunige Besetzung des Gesindes
verhindern, und weil man andererseits dem entgegentreten wollte,
dass sich bei der Bauerbevölkerung die Ueberzeugung ausbilde, es
existire ein bestimmtes Recht des Besitzes, welches durch die Ge-
richte zur Geltung gebracht werden könnte. Nun Hess man die
bisher bei der Gesindebesetzung leitenden Grundsätze zum grössten
Theil bei Seite, eine aus herzoglichen Zeiten herstammende Gewohn-
heit (oöuKUOBeuie) sollte von jetzt ab massgebend sein, nach welcher
das Gesinde in der fortgesetzten Verwaltung der eingesessenen
Familie zu verbleiben hatte. Obgleich das temporäre Conseil
hervorhebt, dass die Gewohnheit anstatt des mangelnden Gesetzes
getreten sei, so verlangte es dennoch die Beobachtuug derselben
nicht strict, sondern nur nacli Möglichkeit. Diese Möglichkeit,
unter Umständen die Regeln nicht beobachten zu müssen, ferner
der Umstand, dass die Besetzung der Gesinde nur für den Fall
des Todes eines ordentlichen Wirths geregelt wurde, die
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150 Agrargesetzgebung für die baltischen Krondomänen.
vielen anderen Fälle der Gesindesvacanz, wie Aufgabe des Gesindes,
Entsetzung von demselben wegen Miswirthschaft oder wegen anderer
Gründe u. a. m., unberücksichtigt geblieben waren, gaben die Ver-
anlassung, das Princip der Zugehörigkeit des Gesindes zu eiaer
Familie zu durchbrechen. Die örtliche Verwaltung neigte sich
mehr und mehr der alten Anschauung zu und stellte das Vorrecat
der Descendenten bei der Besetzung des vacanten Gesindes ledig-
lich als Lohn für gute Führung und Bewirtschaftung des Bodens
dar. Diese Belohnung schien ihr eine nothwendige Massregel, um
die Anhänglichkeit und Liebe für den Grund und Boden zu wecken,
welche ihrerseits allein eine Garantie für eine gute agrarische Ent-
wickelung, Hebung des Ackerbaues und des allgemeinen bäuerlichen
Wohlstandes zu bieten in der Lage wäre. Dieser Gesichtspunkt
fand im Jahre 184L seineu Ausdruck in einer Circularvorschrift
des kurl. Domänenhofs an die Bezirksinspectoren und Gemeinde-
gerichte, in welcher ausser in dem Fall des Todes eines ordent-
lichen VVirths die Descendenz von jeder Anwartschaft auf das
Gesinde ausgeschlossen wird. — Sehr schwer wurde empfunden,
dass die eingeheiratete Wittwe principiell aus der Reihe der zur
Gesindebesetzung berechtigten Personen ausgeschlossen war und
ihr lediglich bis zur Volljährigkeit ihres ältesten Sohnes, eveutuell
bis zur Verheiratung ihrer Tochter, die Verwaltung des Gesindes
belassen wurde. Gerade sie war unter Umständen die geeignetste
Person zur Trägerin des bei der Gesindebesetzung leitenden Ge-
dankens : das Interesse an der Hebung des Gesindes dadurch wach
zu erhalten, dass die bei der Bewirtschaftung desselben verwendete
Arbeit und die Verwendungen nach dem Tode des Gesindewirths
nicht ohne weiteres fernstehenden oder gar ganz fremden Personen
zu gute kämen. In allen den Fällen, in welchen die mit Kindern
zurückgebliebene Wittwe für jene mitunter bis zu 20 Jahren das
Gesinde verwaltet hatte, sollte dieselbe bei der Volljährigkeit ihres
Kindes oder nach dem Tode desselben jedes Anrecht auf das Ge-
sinde verlieren. War sie zu einer zweiten Ehe geschritten, so
konnte sie nach erlangter Mündigkeit des Kindes von diesem, das
keinerlei Verpflichtungen hatte, seinen Stiefvater im Gesinde zu
dulden, mit letzterem aus dem Gesinde gesetzt werden, ohne dass
sie einen Anspruch auf Ersatz für die von ihr gemachten Ver-
wendungen hätte durchsetzen können. In derselben Lage befand
sich die kinderlose Wittwe gegenüber entfernten Seiten verwandten
des verstorbenen Gesindewirths.
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Agrargesetzgebung für die baltischen Krondomftnen. 151
Die Prüfung der Rechte der verschiedenen Prätendenten auf
das Gesinde erfolgte im allgemeinen im Administrativwege. Wurde
auch mitunter die Untersuchung der Angelegenheit dem Gemeinde-
gericht tibertragen — die ausschlaggebende Stimme hatte doch
immer die örtliche Dom. -Verwaltung ; diese vermochte den gegen
sie erhobenen Beschwerden fast regelmässig Ziel nur dadurch zu
setzen, dass sie den unliebsamen Prätendenten zur Uebernahme des
Gesindes für subjectiv unfähig erklärte oder die Führuug des bis-
herigen Wirths und dessen Verwaltung des Gesindes als unordent-
lich hinstellte.
Da trotz der bestehenden Vorschrift der Willkür Thür und
Thor geöffnet war, so lag es sehr nahe, dass die Gouvernements-
obrigkeit suchte eine festere Grundlage als die der Dom. -Verwaltung
ertheilte Instruction in Form eines Gesetzes über die Ordnung der
Krongesinde zu beschaffen. Auf Initiative des Generalgouverneurs
v. d. Pallien wurde ein Project zu einer Verordnung, welche in
allen drei Provinzen gleichmässig zur Anwendung kommen sollte,
zu Anfang des Jahres 1842 entworfen. Das zukünftige Gesetz
sollte den Namen führen: «Verordnung betreffend die Bauergesinde
auf den Kronbesitzlichkeiten, die Erhaltung und deren Benutzung
bei denselben Bauerfamilien.» Diesem Project ist in so fern eine
Bedeutung nicht abzusprechen, als es etwa sechs Jahre hindurch
die Richtschnur für die Anordnung der Domänenadministration
bildete. Es giebt uns ein deutliches Bild von der damaligen Auf-
fassung über das rechtliche Verhältnis, in welchem die Kronbauer-
wirthe zur Dom.-Verwaltung standen, und sei daher im wesent-
lichen wiedergegeben.
«Die Krone als Grundherrin ihrer Besitzlichkeiten hat und
behält das unbeschränkte Recht, mit den Bauergesinden und den
dazu gehörigen Ländereien überhaupt und insbesondere rück-
sichtlich deren Benutzung jede nöthig erachtete Anordnung vor-
zunehmen, selbige ganz eingehen zu lassen oder zu vergrössern
und zu verkleinern ; auch die Leistungen zu bestimmen, und ohne
Ausnahme in Beziehung auf die Gesinde alle Anordnungen zu
treffen, welche sie dem ökonomischen Interesse der Besitzlichkeit
entsprechend findet. . .
Die von alter Zeit auf deu kurländischen Kronbesitzlich-
keiten übliche Nachfolge in der Benutzung der Gesinde wird
auch ferner zugelassen.
Der hierdurch ertheilte Vorzug der Gesindesnachfolge soll
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152 Agrargesetzgebung für die baltischen Krondomänen.
und kann jedoch nur sein eine Belohnung guter, dem Interesse
der Kronbesitzlichkeit entsprechender Verwaltung der Gesinde;
er bezweckt, deren Inhaber anzutreiben, zum Vortheil ihrer
Nachkommen fortwährend Fleiss und Sorgsamkeit auf die Gesindes-
bewirthschaftung zu verwenden, jedoch ohne einen die gutsherr-
lichen Rechte der hohen Krone beeinträchtigenden Rechtsanspruch
zu begründen. . .
Der mögliche Vorzug der Gesindesnachfolge wird den
Erben verstorbener Wirthe nach folgenden Regeln zugestanden :
a) bei dem Tode eines Wirths geht der Besitz eines Gesindes
zunächst auf seine leiblichen Kinder männlichen und in Er-
mangelung derselben auf seine leiblichen Kinder weiblichen
Geschlechts über, und zwar nach der Folge der Erstgeburt.
b) Wenn ein Wirth ohne Hinterlassung directer Leibeserben
stirbt, so treten seine leiblichen Geschwister ebenfalls nach
der Folge der Erstgeburt und des Geschlechts in die Gesindes-
verwaltung.
c) Bleibt bei dem Tode des Wirths die Wittwe mit unmündigen
Kindern nach, so hat sie das Recht, die Gesindesverwaltung
bis zur Volljährigkeit ihres ältesten Kindes, des Gesinde-
erbfolgers, fortzuführen.
d) Wenn die Wittwe zur zweiten Ehe schreitet, so haben weder
sie und ihr Ehemann, noch ihre Kinder zweiter Ehe Anspruch
auf die Gesindeserbfolge, so lange leibliche Kinder erster Ehe
des verstorbenen Wirths vorhanden sind.
e) Falls während einer solchen iuterimistischen Verwaltung des
Gesindes durch die Mutter zum Besten ihrer Kinder erster
Ehe diese sterben, tritt die Mutter nur für ihre Lebzeiten in
die Nutzung des Gesindes, nach ihrem Tode geht dasselbe
jedoch auf den nächsten Seitenverwandten ihres ersten Mannes
als Glied der eingesessenen Familie über.
Da subjective Fähigkeit und ordentlicher Lebenswandel —
wie man solchen von einem Bauer verlangen kann — überhaupt
erforderlich sind, um auf die Bewirtschaftung eines Gesindes
Anspruch zu machen, so bleiben diese Qualitäten auch unerläß-
liche Bedingung der Ausübung der Nachfolge in der Gesinde-
bewirthschaftung, dergestalt, dass wegen Mangels beregter Eigen-
schaften der Nachfolger übergangen werden kann. . .
Wenn der verstorbene Wirth nur unmündige leibliche Kinder
und keine Wittwe hinterlässt, oder wenn letztere die Gesinde-
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Agrargesetzgebung für die baltischen Krondomänen. 153
wirthschaft bis zur Volljährigkeit ihres ältesten Kindes nicht
fortführen will, . . und wenn weder Verwandte noch Fremde zur
üebernahme einer solchen einstweiligen Gesindesverwaltung für
unmündige Erben willig gemacht werden können, so tritt die
Bestimmung der Gesindesnachfolge ausser Kraft.
Da die Begünstigung der Gesindesnachfolge nur als Be-
lohnung guter, dem Interesse der Kronbesitzlichkeit entsprechender
Verwaltung der Gesinde zugelassen werden kann, so hat dieser
Vorzug ohne weiteres zu erlöschen, . . sobald ein Wirth wegen
schlechter Administration oder wegen Schulden des Gesindes
entsetzt wird. . .
Mehr als ein Bauergesinde darf von denselben Personen
nicht besessen werden. >
Selbst ein flüchtiger Blick dürfte genügen, um den Misgriff
zu erkennen, welcher in diesem Project lag. Es enthielt so zu sagen
nur ein Gesetz für die Domänenverwaltung, nicht aber auch für
die Bauerbevölkerung, da für diese der durch das Project ertheilte
Vorzug bei der Gesindesnachfolge keinen Rechtsanspruch begründen
sollte. Das vollständige Misverkennen der Verordnung vom Jahre
1837 hätte dem Entwurf, wenn er hierorts nicht schon Gegner
gefunden hätte, jedenfalls höheren Orts ein gebührendes Fiasco
bereitet.
Die Commission zur Umbildung der Domänenverwaltung in
den Ostseeprovinzen äusserte sich über diesen Entwurf dahin, dass,
da das zu Gunsten eines kleinen Theiles der Gesammtheit des
Bauemstandes, namentlich der Wirthsfamilien, usuell bestandene
Erbfolge- oder sog. Näherrecht hinsichtlich des Besitzes der Gesinde-
stellen durch die Bauerverordnung ausdrücklich aufgehoben worden,
dieses dergestalt aufgehobene Erbfolge- oder Näherrecht, als die
unbeschränkte Dispositionsbefugnis des Grundherrn über den Grund
und Boden und den der Gesammtheit des Bauerstandes zugesicherten
gleichen Anspruch auf sämmtliche ihm durch die Bauerverordnung
verliehenen Rechte aufhebend, keineswegs durch ein förmliches
Gesetz wieder einzuführen, sondern als eine Administrativmassregel
der die Gntsherrschaft repräsentirenden Verwaltung anzuempfehlen
sei : die Bauergesinde, wenn nicht das ökonomische Interesse der
Besitzlichkeit eine Abweichung fordere, möglichst im Besitze der-
selben Familie zu erhalten und zwar dergestalt, dass bei ein-
tretender Vacanz durch den Tod bei gleicher Qualifikation den
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154 Agrargesetzgebung für die baltischen Krondomänen.
erwachsenen Söhnen des verstorbenen Wirths unter den Concurrenten
der Vorzug zu geben sei.
In ähnlich ablehnender Weise verlautbarte sich auch der kur-
ländische Doraänenhof über das projectirte Gesetz, welches dadurch
verurtheilt war, ein Project zu bleiben. Obgleich es keinen Rechts-
anspruch auf einen Vorzug für den Bauern begründen sollte, so
ftirchtete man offenbar doch, dass der Verwaltung die Hände bei
der Gesindebesetzung zu sehr gebunden würden. Seitens der
Administration wünschte man einfach kein Gesetz, man lehnte
daher das Project, mit dem man inhaltlich vollständig sympathisirte,
ab, behielt aber dasselbe als Grundlage bei der Verwaltung und
Besetzung der Kronbauergesinde mehrere Jahre hindurch.
Unter dem Einfluss dieses Projects erliess der kurl. Domänen-
hof bereits im darauffolgenden Jahre Verordnungen an die Bezirks-
inspectoren, in welchen er nachstehende Regeln aufstellte :
1. War die Wittwe in das Gesinde eingeheiratet, so muss
sie die Verwaltung des Gesindes abgeben, sobald der majorenn
gewordene Erbe es verlangt. Im entgegengesetzten Fall bleibt
sie als Verwalterin des Gesindes bis zu ihrem Ableben.
2. Hat der verstorbene Gesindewirth mehrere Kinder ver-
schiedenen Geschlechts hinterlassen, von denen das älteste eine
Tochter ist, heiratet dieselbe und ist deren Ehemann bei Minder-
jährigkeit der übrigen Geschwister nur unter der Bedingung bereit,
die Bewirthschaftung des Gesindes zu übernehmen, dass dasselbe
seinen Descendenten verbleibe, so ist derselbe als Gesindewirth zu
bestätigen.
3. Falls sich kein Vormund für die minderjährigen Kinder
finden sollte, welcher bereit wäre, die Bewirthschaftung des Ge-
sindes bis zu deren Volljährigkeit zu übernehmen, wobei ein Zwang
zur Uebernahme einer solchen Vormundschaft unstatthaft ist, so
ist das Gesinde als vacant anzusehen und kann unbeschränkt be-
setzt werden.
Diese Vorschrift suchte man durch die Unmöglichkeit zu
rechtfertigen, ein Bauergesinde nach den für die Vormundschaft
bestehenden Regeln durch vom Gemeindegericht bestellte Vormünder
zu verwalten. Einmal, weil es bei dem damaligen Bildungsgrade
der Landbevölkerung fast ausgeschlossen erschien, unter derselben
Personen zu finden, welche im Stande gewesen wären, bei der
unter Umständen complicirten Verwaltung eines Bauergesindes
nach den für die Vormundschaft festgesetzten Regeln Rechnung
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Agrargesetzgebung für die baltischen Krondomänen. 155
abzulegen. Zweitens, weil die Gesindebewirthschaftung die ganze
Thätigkeit des Gesindewirths in Anspruch nahm. Derselbe musste
selbst mitarbeiten um fortzukommen. Er war daher nicht in der
Lage, von seiner Arbeitskraft, die für die Erhaltung seiner selbst
und seiner Familie nur gerade ausreichte, zum Besten anderer
durch Uebernahme der Vormundschaft und Verwaltung fremder
Güter Opfer zu bringen, oder gar selbst behufs Erfüllung aller
auf dem zur Verwaltung übergebenen Gesinde ruhenden Lasten
Frohndienste zu leisten.
Mit Recht wurde der von der örtlichen Administration ein-
geschlagene Weg an höherer Stelle gemisbilligt und dem Domänen-
hof im .Fahre 1848 vorgeschrieben, sich streng nach den vom
temporären Conseil im Jahre 1837 gegebenen Regeln zu richten
und in jedem Fall das Gesinde den Descendenten des früheren
Wirths und zwar in erster Linie den Söhnen desselben zu erhalten,
falls diese nicht aus einem gesetzlichen Grunde verlustig
geworden seien. Nach den allgemeinen Reichsgesetzen werde das
Erbrecht durch Minderjährigkeit nicht aufgehoben, sondern das
Vermögen der Minderjährigen bis zu deren Volljährigkeit einer
Vormundschaft anvertraut ; diese sei nach der B.-V. § 357 von
dem Gericht einzusetzen und dürfe sich der Uebernahme einer
solchen kein Bauer mit Ausnahme bestimmter Fälle entziehen
(B.-V. Art. 79).
Das temporäre Conseil hatte in seiner Vorschrift vom 27. April
1837 die Bestimmung getroffen, dass die für die Gesindebesetzung
gegebenen Regeln nur bis zum Eintritt des Pachtverhältnisses
Geltung haben sollten. Dieser Moment begann einzutreten, als der
angeführte ministerielle Erlass an den Domänenhof gelangte. Der
Erlass konnte sich selbstverständlich nur auf die Besetzung der
auf Frohne vergebenen Gesinde beziehen. Es blieb sonach die
Frage offen, in welcher Weise die Gesindebesetzung nach abge-
laufenem Pachtcontract und in den Fällen vor sich zu gehen habe,
in welchen bereits Pachtcontracte mit den Bauern abgeschlossen
waren, während des laufenden Pachtcontracts der Gesindepächter
aber starb oder entsetzt wurde. Das kurl Bauerrecht hatte den
Grundsatz aufgestellt, dass der Pachtvertrag durch den Tod des
Pächters eo ipso aufgelöst wird. Der Art. 186 der kurl. Bauer-
verordnung besagt : Nur der Tod des Pächters hebt den Vertrag
vor Ablauf des ökonomischen Jahres auf, wenn derselbe nicht zu-
gleich auch auf die Erben des verstorbenen Pächters gerichtet ist.
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156 Agrargesetzgebung für die baltischen Krondomänen.
Ein Erbrecht auf den Pachtvertrag existirte somit nicht. Eben
so wenig findet sich in der kurl. ßauerverordnung irgend eine Be-
stimmung, welche den Eigenthümer des Grund und Bodens ver-
pflichtet, ein aus irgend welcher Ursache vacant gewordenes Pacht-
gesinde einer bestimmten Person, als namentlich den Intestaterben
unter Bevorzugung männlicher Descendenz, zu vergeben. Ohne
diesbezügliche Bestimmungen im Pachtcontract war daher jeder
Anspruch auf ein durch den Tod des Pächters vacant gewordenes
Gesinde, sah man von dem Gewohnheitsrecht ab, unbegründet und
musste jede Gesindereclamation erfolglos bleiben. In den höheren
Orts zusammengestellten Pachtcontracten für die Krongesindepächter
wurde allerdings eines Erbrechts Erwähnung gethan, jedoch in
sehr wenig ausreichender Weise, und zwar unter Hinweisung auf
gesetzliche Bestimmungen, welche gar nicht existirten. Der bez.
§ 12 des Contracts lautete: «Sollte der Pächter vor Ablauf der
contractlichen Frist mit Tode abgehen, so gehen seine Pachtrechte,
jedoch ohne Zerstückelung der Ländereien, auf seine gesetzlichen
Erben über. Die Person selbst, auf welche die Bewirtschaftung
des Gesindes übergehen muss, wird durch die in den örtlichen Ge-
setzen angeordnete Art und Weise bestimmt. > Ein örtliches Gesetz,
welches normirte, auf wen von den Erben das Pachtrecht über-
gehen sollte, existirte aber gar nicht. Eine Vererbung der Pacht-
rechte durch Testament war gleichfalls ausgeschlossen, da eine
Uebertragung des Gesindes auf dritte Personen ohne Zustimmung
der Dom.- Verwaltung nicht statthaft war. Nach Ansicht der ört-
lichen Dom. -Verwaltung waren durch die ihr ertheilten Instruc-
tionen die privatrechtlichen Beziehungen der Gesindeinhaber und
deren Familien zu der hohen Krone als Grundeigenthümerin und
Pachtgeberin in sich nicht berührt Sie sah in den gegebenen
Regeln nur eine Administrativvorschrift zur ausschliesslichen Richt-
schnur für sich selbst, damit nicht wie früher nach freiem Ermessen,
sondern nach vorgeschriebener, durch subjective Befähigung wie
durch moralische Führung der Individuen bedingter Reihenfolge in
der Familie die Krongesinde vergeben würden. Die Dom.-Ver-
waltung sah sich nicht gemüssigt, auf den inneren Grund der ihr
im Jahre 1837 gegebenen und 1848 wiederholten Regeln zurück-
zugehen, die doch weiter nichts als eine Erläuterung des vor-
handenen Gewohnheitsrechts sein sollten, sondern berief sich ledig-
lich darauf, dass weder während der Frohne der dauernde Besitz,
noch auch später bei Einführung des Pachtverhältnisses die Erb-
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Agrargesetzgebung für die baltischen Krondomänen. 157
pacht vertragsmässig zugestanden worden und daher von einem
Erb- oder Näherrecht auch gar keine Rede sein könne. Die
widersprechendsten Entscheidungen sowol der Gerichte, wie auch
der Bezirksinspectoren in verschiedenen Reclamationssachen veran-
lassten endlich im Jahre 1854 den kurl. Domänenhof, ein Project
zu einer Verordnung zur Verwaltung und Besetzung der Kron-
gesinde dem Generalgouverneur vorzulegen. Von verschiedenen
Commissionen in Berathung gezogen, wurde die Vorlage, in welcher
im allgemeinen der gleiche Gesichtspunkt vorherrschte, wie im
Project des Generalgouverneurs vom Jahre 1842, als uugeeignet
abgelehnt. Da sich aber der Mangel fester Normen immer fühl-
barer machte und das schwankende Verfahren der Behörden zu
mannigfachen Beschwerden und Inconvenienzen führte, wurde vom
Generalgouverneur im Jahre 1857 verordnet, und zwar für alle
drei Provinzen:
1. Dass bei Beurtheilung der Reclamationen um Kronbauer-
gesinde jedesmal genau zu unterscheiden sei zwischen solchen, wo
die die Reclamation veranlassende Gesindevergebung vor dem Er-
lasse der Vorschrift des temporären Conseils der Verwaltung der
Reichsdomänen vom 27. April 1837, und solchen, wo die Vergebung
nach Emanirung dieser Vorschrift erfolgt ist, sowie endlich solchen,
die sich auf Bauergesinde beziehen, welche bereits auf Geldpacht
gesetzt sind.
2. Da die erwähnte Vorschrift der Hauptdomänenverwaltung
seiner Zeit durch den kurländischen Cameralhof gehörig publicirt
worden ist, die Grundprincipien der kurl. Bauerverordnung nicht
afficirt, vielmehr mit ihr im Einklang sich befindet und bei deren
langjähriger Anwendung von Seiten der Commission in Sachen der
Bauerverordnung keinerlei Widerspruch erfahren hat, so erscheint
dieselbe vollkommen geeignet, den Bauerjustizbehörden zur Basis
ihrer Entscheidungen zu dienen, wie sie denn auch von dem kurl.
Oberhofgericht mehrfach zur Grundlage seiner Urtheile genommen
worden ist. Demnach wird in Fällen, wo Kronbauergesinde nach
dem Erlass der Vorschrift vom .Jahre 1837 vergeben worden und
wider solche Vergebung Reclamation erhoben wird, die Beurtheilung
der Sache, weil es sich in derselben um positiv normirte Familien-
und vermögensrechtliche Verhältnisse handelt, überall lediglich den
Bauerjustizbehörden anheimzustellen und jede solche etwa gegen-
wärtig bei den Administrativautoritäten Kurlands anhängige Sache
zu deliren und die Reclamation an die Gerichte zu verweisen sein.
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8. Dagegen steht dem kein Hindernis entgegen, dass, wenn
Reclamationen mit Berufung auf nähere verwandtschaftliche Ver-
bindung um solche Kronbauergesinde geltend gemacht werden, die
vor dem Erlass vom Jahre 1837 vergeben worden, dergleichen
Sachen bei den bezüglichen Admiuistrativautoritäten verhandelt
werden.
4. Was endlich die auf Pacht vergebenen Kronbauergesinde
betrifft, so ist bei etwaigen Reclamationen derselben festzuhalten,
dass der Erlass vom Jahre 1837 ausdrücklich nur bis zum Eintritt
des Pachtverhältnisses Giltigkeit haben sollte, mithin in Sachen
dieser Art gar nicht zur Anwendung kommen kann
und dass für den Fall des Todes des Inhabers eines auf Pacht
gesetzten Gesindes im Laufe der Contractjahre der § 12 der Pacht-
bedingungen massgebend sein muss und etwaige Differenzen zwischen
den Erben lediglich der Schlichtung durch die ordentlichen Bauer-
justizbehörden anheimzugeben sind.
Dieser Vorschrift fügte der Domänenhof in einem Circulär
an die Bezirksinspectoren und Gemeindegerichte noch eine Beur-
theilung der Wirkung hinzu, welche eine mit Genehmigung des
Domänenhofs bewerkstelligte Abtretung des Gesindes durch den
Pächter an eine dritte Person mit Umgehung der nächsten Erben
ausübe und gelangt hierbei zu dem Resultat, dass eine solche Ab-
tretung der Pachtrechte nach den Gesetzen durchaus zulässig und
in derselben auch eine Verletzung der durch das temporäre Con-
seil über die Gesindebesetzung gegebenen Regeln nicht zu erblicken
sei. Die entgegengesetzte Ansicht vertrat die Domänenverwaltuug
etwa 20 Jahre später in einem Circulär an die Gemeindegerichte,
in welchem sie das Princip der Zugehörigkeit des Gesindes zur
eingesessenen Familie bis in die äussersten Consequenzen durch-
zuführen versuchte. Hiermit erlangte die ganze Reihe der wider-
sprechenden Verordnungen und Circuläre- und der Kampf um die
Anerkennung eines Rechts ihren Abschluss.
Es drängt sich uns natürlich die Frage auf, welche Stellung
die Gerichte zu diesem Streit einnahmen. Von der Ansicht aus-
gehend, dass die den Nachkommen der Krongesindewirthe einge-
räumte Nachfolge im Besitz der Gesinde auf eine Admiuistrativ-
massregel, welche lediglich für den Wirkungskreis der die Kron-
gesinde administrirenden Behörde geschaffen sei , zurückgeführt
werden müsse, wurde das Einschreiten des Gerichts auf Klage
eines in seinen Rechten wegen der Gesindebesetzung verletzten
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Agrargesetzgebung für die baltischen Krondomänen. 159
Bauern und die Entscheidung der Frage, wer von den Prätendenten
einen besseren Anspruch auf den Besitz des Gesindes habe, von
der Dom.-Verwaltung nach Umwandlung der Proline in ein Pacht-
verhältnis für eben so wenig zulässig erachtet, wie vordem. Da
kein förmlich promulgirtes Gesetz die Gesindebesetzung regelte,
so hielt man einfach einen Rechtsanspruch auf die Nachfolge im
Gesindebesitz für unbegründet. In den vierziger Jahren begann
man allerdings die Einmischung der Gerichte für zulässig zu er-
achten, wenn es darauf ankam, festzustellen, ob der von dem Gesinde-
besitz wegen Ermangelung subjectiver Fähigkeiten zur Verwaltung
desselben Abgewiesene wirklich an solchen Mängeln leide, die ihn
zur Bewirtschaftung eines Gesindes untauglich inachen. Die Ent-
scheidung dieser Frage berührte aber nicht die Frage über das
Recht auf den Besitz. In den Motiven zu den Regeln vom Jahre
1837 führt das temporäre Conseil aus, dass in Ermangelung der
die Gesindebesetzung regelnden Gesetzesbestimmungen das Gewohn-
heitsrecht zur Anwendung zu kommen habe. Das temporäre Con-
seil erkannte ein bestimmtes Recht auf den Besitz des Gesiudes
an und ertheilte den Auftrag, dieses Recht weiterhin zu conserviren
und im gegebenen Fall nach den von ihm erlassenen Regeln, welche
eine Erläuterung des Rechts bildeten, in Anwendung zu bringen.
Lässt sich nun nicht verkennen, dass durch die Vorschrift des
temporären Conseils ein Recht hat eingeräumt weiden sollen, so
muss auch zugestanden werden, dass dadurch ein Rechtsanspruch
auf den Besitz des Gesindes hat erwachsen sollen, welcher eventuell
auch erzwungen werden konnte. Die Frage, wer unter verschiede-
nen Concurrenten ein Vorrecht auf den Besitz des Gesindes zu ge-
messen habe, bildete, sobald man ein Gewohnheitsrecht anerkannte,
eine Rechtsfrage, welche füglich von den Gerichten zu entscheiden
war. Zu demselben Resultat musste man schon allein auf Grund
der Pachtcontracte gelangen ; war doch in diesen ausdrücklich aus-
gesprochen, dass das Pachtrecht nach dem Tode des Gesinde wirths
auf dessen gesetzliche Erben überzugehen habe, und unter diesen
die Person, welche die Bewirtschaftung des Gesindes erhalten solle,
auf Grundlage der örtlichen Gesetze zu bestimmen sei. Wann
die Reclamationssachen Gegenstand richterlicher Erörterung und
Entscheidung zu werden begannen, lässt sich gegenwärtig wol
schwerlich feststellen. Wir finden aber, dass lange vor der Vor-
schrift des Generalgouverneurs vom Jahre 185ü eine nicht unbe-
deutende Zahl solcher Processe der Dijudicatur der Gerichte unter-
BiltUcbe Monatsschrift. Bd. XXXIV, Heft 2. 11
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160 Agrargesetzgebung für die baltischen Krondomänen.
zogen worden ist. Grundlage der richterlichen Entscheidung bildete
regelmässig die Vorschrift des temporären Conseils zur Verwaltung
der Reichsdomänen vom Jahre 1837, obgleich dieselbe eigentlich
nur als Richtschnur für die Administration und zwar nur für die
Dauer des Gehorchs Verhältnisses erlassen war. Der an des letzteren
Stelle getretene Pachtcontract enthielt in seinem mehrerwähnten
§ 12 eine ganz allgemeine Bestimmung, und die Unzulänglichkeit
der Gesetze bot keinen anderen Ausweg. Ueberdies vermochte
die im gedachten § 12 enthaltene lex pacti eine Unanwendbarkeit
des durch die Circulärvorschrift von 1837 näher geregelten alt-
hergebrachten Gebrauchs auf das neu ins Leben getretene Vertrags-
verhältnis um so weniger zu intendiren, als dieselbe die kurl.
Bauerverordnung ausser Anwendung setzte, da letztere die Zulässig-
keit mehrerer gleichberechtigten Erben und eine Theilung des Nach-
lasses zur Voraussetzung hat, während der § 12 gerade das Gebot
des U eberganges der Pacht auf eine Person und das Verbot der
Zerstückelung der Gesiudesländereien enthielt, wobei man wol
wesentlich eine Theilung des Ertrages der Läudereien im Auge
gehabt hat. Endlich glaubten die Gerichte von dem althergebrachten
Gebrauch nicht abgehen zu müssen, weil derselbe bereits in das
Rechtsbewusstsein des Volkes übergegangen war und überdies seinen
Bestimmungsgrund in ökonomischen wie auch in Billigkeitsrücksichten
fand, deren praktische Berechtigung auch für die späteren Pacht-
verhältnisse aus der Erwägung resultirte, dass eine Theilung der
Gesindesrevenuen, welche häufig nur die Verwerthung der Arbeits-
kraft eines tüchtigen Pächters repräsentiren, unter mehrere Erb-
berechtigte zum Ruin aller landwirthschaftlichen Verhältnisse zu
führen im Stande wäre.
Wie einerseits mit Recht die Frage, wer in die Pachtrechte
zu succediren habe, von den Gerichten in Verhandlung und Ent-
scheidung genommen wurde, so war andererseits der bisherige
Boden des Gewohnheitsrechts doch nicht verlasseu worden. Nichts
desto wenfger blieben Differenzen zwischen Administration und Justiz
nicht aus. Zwar hatte man nicht verkannt, dass die Domänen-
verwaltung eine wesentlich andere Stellung als eine jede beliebige
Guts Verwaltung einnehme, dass sie nicht allein darauf beschränkt
sei, als Vertreterin der Eigenthumsrechte der Krone an deren Gütern
zu fungiren, sondern dass sie als Verwaltungsorgan der Staats-
regierung in Betracht zu kommen habe und nach den für ein
solches in der allgemeinen Reichsgesetzgebung aufgestellten Normen
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Agrargesetzgebung für die baltischen Krondomänen. 161
besondere Rechte geniesse. Diese besonderen Rechte und über-
haupt die Behandlung der Kronsachen nach der Reichsgesetzgebung
haben keineswegs, wie mitunter wol behauptet wird, hierorts keinen
Eingang gefunden, sondern sind ausdrücklich durch das Gesetz für
die Verwaltung der Reichsdomänen in den Ostseeprovinzen auch
auf diese ausgedehnt. Zwar hat man auf Grund dessen nicht daran
gezweifelt, dass die Domänenverwaltung ausserhalb des Reclamations-
streites stehe und dass es lediglich Aufgabe der Gerichte sei, die
Rechte der Reclamanten, nicht aber die Massnahmen einer Admini-
strativbehörde einer richterlichen Prüfung zu unterziehen. In Kur-
land lässt sich daher auch keine solche Mannigfaltigkeit in der
abenteuerlichsten Beurtheilung der Reclamationsstreitsachen nach-
weisen, wie sie für Livland in dem mehrerwähnten Artikel der
cB. M.> über die Rechte der Bauern an den Krongesinden aufge-
zählt sind. Man hat aber wol anfänglich übersehen, dass das der
Domänenverwaltung als Repräsentantin der Grundherrschaft zu-
stehende Recht der Bestätigung der Gesiudeswirthe auch nach der
Vorschrift des Generalgouverneurs vom Jahre 1857 verblieben war
und dass mitunter gewichtige Gründe vorliegen konnten, auch
solchen Personen die Bestätigung zu versagen, welchen richterlicher-
seits ein Vorrecht nach dem Actenmaterial zuerkannt werden musste.
Es waren daher Fälle nicht ausgeschlossen, in denen Erkennt-
nisse der Gerichte nie praktische Bedeutung gewannen, sondern
lediglich theoretische Erörterungen verblieben. Aber auch solche
Collisionen haben sich dadurch vermeiden lassen, dass die Gerichte
vor Entscheidung der an sie gediehenen Reclamationssachen regel-
mässig erst bei der Domänenverwaltung über die Zulässigkeit
der resp. Reclamanten zur Verwaltung des Gesindes Informationen
einzogen. Während, man, wie es scheint, in Livland noch immer
rathlos den Reclamationsprocessen gegenüber steht, geht bereits
seit einem Decennium in Kurland die Justiz mit der Administration
Hand in Hand, obgleich letztere nicht unwesentlich von dejn frühe-
ren Gewohnheitsrecht abgewichen ist in Bezug auf die der unbe-
erbten Wittwe bei der Nachfolge im Gesindesbesitz eingeräumte
Stellung.
Die Vorschrift des temporären Conseils vom Jahre 1837 hatte
die unbeerbte Wittwe aus der Nachfolge in den Gesindesbesitz
ausgeschlossen. Dieser Ausschluss fand Unterstützung in der ört-
lichen Domänenverwaltung, weil man befürchtete, die Verwaltung
des Gesindes, welche namentlich während der Frohne die ganze
II*
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Iti2 Agrargesetzgebung für die baltischen Krondomänen.
Kraft eines Mannes beanspruchte, könnte von einer Frau nicht in
der entsprechenden Weise besorgt werden. Während unter dem
Einfluss dieser Vorschrift des temporären Conseils und der späteren
des Ministeriums die Domänenverwaltung die unbeerbte eingeheiratete
Wittwe im Besitz des Gesindes nicht zu belassen vermochte, wurde
durch die Rechtsprechung der Gerichte gerade ein dem entgegen-
stehender Grundsatz unter dem Einfluss des § 120 der kurl. B.-V.
als dem Gewohnheitsrecht und der Praxis entsprechend aufgestellt.
Nach dem § 120 der kurl. B.-V. steht der unbeerbten Wittwe nach
Abnahme des Eingebrachten ohne Rücksicht auf die Zahl der mit
ihr concurrirenden Seitenverwandten die Hälfte des Nachlasses
ihres Mannes zu und somit ein grösserer Erbantheil als jedem
ihrer Miterben. Da die Pachtrechte nur auf eine Person über-
tragen werden durften, so hatten die Gerichte nur die Möglichkeit
alternativ entweder einem Seitenverwandten oder der Wittwe den
Vorzug einzuräumen. Die Gerichte haben der letzteren nun das
Vorrecht einräumen zu müssen geglaubt, weil die gesetzlich ge-
wollte Bevorzugung der Wittwe vor den Seiten verwandten durch
den grösseren Erbantheil im Streite um das ungetheilte Pachtrecht
am Gesinde nur dadurch zum Ausdruck kommen könne, dass es
ihr zugesprochen werde. Ferner hat man eine Unterstützung dieser
Bevorzugung auch noch darin gefunden, dass das Vermögen des
Gesindes wirths nicht blos durch seine Arbeit geschalten und blos
durch seine Sorgfalt erhalten wird, sondern an dem einen wie
an dem anderen seine Ehefrau sehr wirksamen und gelegentlich
einen noch wirksameren Antheil als er selbst hat und seine Nach-
lassenschaft daher das Product nicht nur seiner, sondern auch ihrer
Arbeit und Umsicht ist, so dass deren Frucht nicht sie, sondern
der Seitenverwandte zu gemessen bekäme, weijn ihm das Gesinde
zugesprochen würde. (Aus den Motiven einer Entscheidung des
Oberhofgerichts). Dieser Billigkeitsgrund, gewiss sehr schwer
wiegend, dürfte aber nicht Ausschlag gebend sein, da die übrigen
sonst noch vorgebrachten Gründe durchaus nicht stichhaltig sind.
Ganz regelmässig wird in den Urtheilen der kurländischen Gerichte
bis auf die neueste Zeit Bezug genommen auf die Verordnung des
temporären Conseils vom Jahre 1837 als Basis des noch gegen-
wärtig herrschenden und als Wiedergabe des früher existirt habenden
Gewohnheitsrechts. Es ist nun durchaus unrichtig, wie es ja auch
schon aus dem früher angeführten Artikel der Vorschrift hervor-
geht, dass durch dieselbe der eingeheirateten unbeerbten Wittwe
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Agrargesetzgebung für die baltischen Krondomänen. 163
irgend welche Vorrechte bei der Besetzung der Gesinde eingeräumt
worden sind, vieiraehr ist gerade im Gegentheil ihr jede Anwart-
schaft auf den Besitz des Gesindes genommen worden. Das Er-
halten des Gesindes im Besitz der eingesessenen Familie, das war
der Grundsatz, von welchem die Praxis ein ganzes Menscheualter
hindurch nicht abgewichen ist. Will man also von einem durch
die Praxis herausgebildeten Gewohnheitsrecht sprechen, so dürfte
dasselbe gerade zu einem der gegenwärtigen Rechtsprechung zuwider-
laufenden Resultat führen. Die im § 120 der kurl. Bauerverordnung
ausgesprochene Bevorzugung der Wittwe vor den Seitenverwandten
thut auch keineswegs der Richtigkeit der früheren Praxis Abbruch,
denn diese lässt sich am besten gerade dadurch erklären, dass, weil
der Wittwe keine Anwartschaft auf den Gesindesbesitz zustand,
ihr ein grösserer Antheil aus der Nachlassmasse des Ehemannes
zukommen sollte. Nach menschlichen Begriffen von der Billigkeit
lässt sich der Satz nicht vereinbaren • f Wer viel hat, dem , soll
noch mehr gegeben werden.» Es lässt sich nicht verhehlen, dass
die jüngere Praxis den eingefahrenen Weg, nach welchem das Ge-
sinde möglichst ein und derselben Familie zu erhalten sei, verlassen
hat. Ob der neue Weg dem Rechtsbewusstsein des Volkes mehr
entspricht, muss dahingestellt bleiben. Leise Zweifel darüber werden
sich aber im Hinblick auf die unendliche Zahl Processe, welche
die Belassung der unbeerbten Wittwe im Besitz des Gesindes hervor-
gerufen, bei manchem regen.
Durch den mit Beginn dieses Jahres in Scene gesetzten Aus-
kauf der Gesinde werden vermuthlich die Reclamationsprocesse
noch gar nicht ihr Ende erreichen Namentlich dürfte wol für die
erste Zeit zu befürchten stehen, dass viele Bauern, durch die Ge-
ringfügigkeit des behufs Auslösung festgesetzten Preises angelockt,
aus nichtigen Gründen die Rechtmässigkeit des Besitzes anzustreiten
versuchen werden. Die Bedeutung des neuen Gesetzes lässt sich
jedoch nach dieser Richtung hin so in lange nicht vollständig über-
sehen, als die Form der neuen Auskaufscontracte noch gar nicht
bekannt ist und es zur Zeit noch sehr fraglich ist, ob den Bauern
wirklich ein ganz unbeschränktes Eigenthum überlassen werden
wird oder ob nicht die Dispositionsbefugnis der Bauern über ihre
Gesinde, so lange dieselben noch nicht vollständig ausgelöst sind,
in Bezug auf die Vererbung und Veräusserung wesentlichen Be-
schränkungen unterworfen werden wird.
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164 Agrargesetzgebung für die baltischen Kronüomänen.
Weuden wir uns nun wieder den Arbeiten der Regulirung
zu. Dieselbe hatte in Estland 3, in Livland mit Oesel 125 und
in Kurland 174 Krongüter zu reguliren. Mit Estland wurde be-
gonnen und die Resultate der Regulirung im Jahre 1871 bestätigt,
dann folgte Livland und endlich Kurland. Die in diesen Provinzen
erzielten Regulirungsresultate wurden im Jahre 1874 und resp. 1881
bestätigt. Nach erfolgter Bestätigung der Regulirung sollte sofort
zum Verkauf geschritten werden, in Estland beganu man mit dem
Verkauf im Jahre 1873 und setzte denselben bis zum Jahre 1885
fort. In diesem Zeiträume werden verkauft 404 einzelne Bauer-
grundstücke, enthaltend 5103 Dess., der jährliche Zins hatte 4367 Rbl.
32 Kop., der Kaufpreis 109183 Rbl. betragen.
In Livland begann man mit dem Verkauf 1875 und wurden
bis zum Schluss des vorigen Jahres verkauft 3230 einzelne Bauer-
landstücke mit einem Flächenraum von 121017 Dess. Der Kauf-
preis betrug 3298079 Rbl., während der Zins 131946 Rbl. 64 Kop.
betragen hatte.
In Kurland ist auf Grundlage des Gesetzes vom Jahre 1869
überhaupt gar kein Gesinde zum Verkauf gekommen. Wie kommt
es, muss man sich fragen, dass vom Jahre 1869 ab in Kurland,
der reichsten der drei Provinzen, kein einziges Gesinde
zum Eigenthum erworben worden ist, dagegen in Livland »/, aller
Gesinde und endlich in Estland, der ärmsteu Provinz, fast alle
Gesinde in das Eigenthum der Bauerbevölkerung übergegangen
sind ? Man hat sich diese Frage häufig genug vorgelegt und, ohne
viel zu überlegen, einfach dieselbe dahin beantwortet, es muss wol
die Indolenz der Bauern daran schuld sein. Wollte man von einer
solchen Erklärung zurück auf die Bevölkerung der Provinzen
schliessen, so würde man zu dem traurigen Resultat kommen, dass
es in ganz Kurland nur indolente Gesindeswirthe giebt, während
doch eine grosse Anzahl kurländischer Advocaten wiederholt Ge-
suche behufs Verkaufs der Gesinde für Gesindeswirthe angefertigt
haben, ja sogar eine grössere Anzahl von Gesindeswirthen sich
zusammengethan und einen Advocaten damit betraut hatte, klagend
den Verkauf der Gesinde an sie zu erzwingen. Es reimt sich
schwerlich ein solches Vorgehen der Bauern mit der ihnen vorge-
worfenen Indolenz, wir werden daher auch den Grund, warum in
den letzten 18 Jahren in Kurland kein Gesinde verkauft worden,
ganz wo anders suchen müssen. Nach dem Gesetz vom 10. März
1869 konnte vor Bestätigung der Regulirung an den Gesinde verkauf
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Agrargesetzgebung für die baltischen Krondomänen. 165
überhaupt gar nicht gedacht werden. Diese erfolgte für Kurland
erst im Jahre 1881 und hätte nun allerdings zum Verkauf ge-
schritten werden müssen, allein es stellten sich demselben ungeahnte
Schwierigkeiten entgegen, welche zu einem Verkaufsinhibitorium
führten. In erster Linie kam hierbei in Betracht, dass 'die
Regulirungscommission ihre Arbeiten auf einer nicht unerheblichen
Anzahl von Gütern nicht hatte abschliessen können, und zweitens,
dass die Frage, ob das zu den Bauergesinden gehörige eiserne In-
ventar besonders ausgekauft werden solle, oder ob dasselbe bei
der Schätzung der Gesinde gar nicht in Rechnung zu stellen sei,
unbeantwortet geblieben. Die letztere Frage ist, wie als bekannt
vorausgesetzt werden kann, erst iu der ersten Hälfte vorigen Jahres
dahin entschieden, dass, obzwar das Eigenthum am eisernen Inventar
der hohen Krone zustehe, dasselbe dennoch den Bauern beim Ver-
kauf der Gesinde nicht in Anrechnung gebracht werden solle. Hin-
sichtlich der Regulirung ist zu bemerken, dass dieselbe bis zu
dieser Stunde ihre Arbeiten in Kurland noch nicht beendet hat.
Wesentlich anders liegt die Sache in Livland. Hier ist aller-
dings den Bauern allein die Schuld zuzumessen, mit dem Ankauf
der Gesinde gezögert zu haben. Die Gründe, welche diese Bauern
vom Kauf abgehalten haben, sollen hier nicht weiter erörtert
werden, sie sind gewiss in jeder Gemeinde sehr verschieden ge-
wesen. Es lassen sich allgemeine Abhaltungsgründe unschwer an-
fuhren, damit würde aber wenig gedient sein ; denn es wäre in
mancher Beziehung doch nur ein unzutreffendes Bild unserer bäuer-
lichen Verhältnisse gezeigt worden.
Das Gesetz vom 10. März 1869 enthielt neben der Fest-
setzung der Gesammtsumme des für jedes Gouvernement von den
Bauergrundstücken zu erhebenden Zinses noch die Bestimmung,
dass derselbe während der folgenden 20 Jahre keiner Veränderung
und selbst nach Ablauf dieser Frist nicht anders als auf gesetz-
geberischem Wege unterworfen werden dürfe. Durch das am
1. Januar iu Kraft getretene Gesetz ist allerdings der bisherige
Zins keiner Veränderung unterworfen worden, wol aber ist die
vom Bauern jährlich zu leistende Zahlung durch Zuschlag eines
bestimmten Procentsatzes nicht unerheblich gesteigert worden.
Freilich soll der Bauer von nun an Eigenthümer des von ihm be-
sessenen Grundstückes werden und der Zuschlag zum Zins nur
zur Tilgung des Kaufpreises dienen, allein dieser Eigenthums-
erwerb ist kein freiwilliger, sondern ein erzwungener. Der Bauer
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166 Agrargesetzgebung für die baltischen Krondomänen.
kann nicht mehr einen zum Kauf geeigneten Zeitpunkt abwarten,
sondern muss kaufen. Da das durch die Reguliruugsacte von dem
ßauern erworbene dingliche Recht demselben ein weitgehendes
Nutzungseigentbum gewährt, welches mit dem vollen Eigenthum
zu " vertauschen ihm unter Umständen gar nicht einmal wünscheus-
werth zu erscheinen braucht, so dürfte von manchem diese Zwangs-
verwandlung des Nutzungseigenthums in volles Eigenthum ledig-
lich als eine Beschränkung seiner bisherigen Rechte und als eine
unliebsame Zinserhöhung angesehen werden, von der er sich für
seine Person selbst gar keinen Nutzen, sondern nur für seine
lachenden Erben versprechen kann.
Unverkauft blieben bis zum i. Januar d. J.
I. in Kurland auf 174 Gütern : 6425 grosse alte Gesinde,
383 kleine neu gebildete Gesinde, 6206 grössere Häuslereien nnd
Gartenwirtschaften, 280 kleinere; in Summa: 13294 Wirtschafts-
einheiten. Endlich 12949 an verabschiedete Untermilitärs vertheilte
Landstücke1. Die Dessätinenzahl aller dieser Ländereien zu-
sammen beträgt 371516,,, an brauchbarem Laude und 15787,,*
an Impedimenten ; davon entfallen auf Gemeindeland 1224,™ Dess.
brauchbares Land und 837, t» Dess. Impedimente, auf Soldaten-
landstücke 1485,t, Dess. brauchbares Land und 69,,» Dess. Im-
pedimente, auf nicht im Bauerbesitz befindliche Ländereien 4533,0i
Dess. brauchbares Land und 199.,o Dess. Impedimente.
II. In Livland auf 125 Krongütern : 9853 Gesinde und
Lostreiberansiedelungen und 1043 an verabschiedete Untermilitärs
vertheilte Landstücke. Die Dessätiuenzahl aller dieser Ländereien
zusammen beträgt 194555.,, an brauchbarem Lande und 16493,,,
an Impedimenten; auf die Gesinde und Lostreiberansiedelungen
entfallen 187406,,, Dess. brauchbares Land und 14230.» Dess.
Impedimente. Im Besitz von nicht zum Bauerstande gehörigen
Personen befinden sich 764,,, Dess. brauchbares Land und 48,,,
Dess. Impedimente, im Gemeindebesitz 4779,,, Dess. brauchbares
Land und 2155,,, Dess. Impedimente, im Besitz der verabschiedeten
Untermilitärs 1530,,, Dess. brauchbares Land und 58,,, Dess.
Impedimente.
* Mit dieser Zahl Bchliesst das Jahr 1886 ah ; mittlerweile hat wiederum
eine nicht unbedeutende Landvertheilung an Untermilitärs stattgefunden und
stehen noch weitere Landvertheilungen in Aussicht. Ein Zuwachs an Gesinden
und Gartenwirtschaften ist auch nicht ausgeschlossen, da auf 36 Gütern die
Kegulirung noch nicht beendigt ist.
Agrargesetzgebung für die baltischen Krondoraänen. 167
III. In Estland sind allein unverkauft geblieben auf dem
Gute Taibel 5 Gesinde mit zusammen 7 Dess. (!), 2 Soldaten- und
ein Gemeindelandstück mit zusammen 19,i0 Dess.
Mit Ausschluss der an verabschiedete Untermilitärs ver-
theilten, der im Gemeindebesitz und im Besitz von nicht zum
Bauerstaude gehörigen Personen befindlichen Landereien wird
durch das Gesetz vom 12. Juni 1886 für alle im Besitz der
Bauern befindlichen Gesindestellen, Lostreiberansiedelungen, Häus-
lereien und Gartenbau wirthschaften, einerlei ob sie auf üof- oder
Bauerland belegen sind, der Zins in eine jährliche Auskaufszahlung
verwandelt. Durch dasselbe Gesetz ist die jährliche Gesammt-
auskaufszahlung , welche an Stelle des durch das Gesetz vom
10. März 1869 normirten Zinses von nun an zu treten hat, fest-
gesetzt. Dieselbe sollte für Estland 54 Rbl., für Livland 251777 Rbl.
und für Kurland 795696 Rbl. betragen. Diese Summen sind nach-
träglich jedoch verändert worden und zwar sind dieselben für Kur-
land um einige Procente vergrössert, dagegen für Est- und Liv-
land nach Massgabe der inzwischen noch nach den Kaufbedingungen
vom Jahre 1869 stattgehabten Verkäufen verringert worden ; sie
betragen für Estland 17 Rbl., für Livland 228511 Rbl. und für
Kurland 796606 Rbl. 40 Kop. Die Auskaufssumme wird im Ver-
hältnis zu der Regulirungsschätzung unter alle zum Auskauf ge-
stellte Wirtuschaftseinheiten im Gouvernement repartirt und ist
von jedem zum Auskauf Verpflichteten 44 Jahre hindurch, mithin
bis zum 1. Januar 1931 zu zahlen, es sei denn, dass derselbe den
durch Capitalisirung der Auskaufssummen zu 5 pCt. gewonnenen
Betrag auf einmal oder in Raten auszuzahlen wünscht. Die für
jedes Gouvernement festgesetzte jährliche Auskaufssumme setzt
sich zusammen aus der Gesammtsumme des jährlichen Zinses mit
einem Zuschlag von 36,» pCt. desselben für Estland, von 37 pCt.
für Liv- und 38 pCt. für Kurland. Das Auskaufscapital beträgt
demnach für den Fall, dass der Bauer sein Grundstück sofort mit
einem Mal auszukaufen wünscht, für jeden Rbl. Zins :
v in Estland L,,M Rbl. X 20 = 27 Rbl. 32 Kop. Capital,
< Livland 1,„ c X 20 = 27 t 40 < «
« Kurland 1,., « X 20 = 27 > 60 < <
dagegen hat der Bauer während der 44 Jahre im ganzen an Capital
und Zins baar zu zahlen in Estland 59 Rbl. 84 Kop., in Livland
60 Rbl. 28 Kop. und in Kurland 60 Rbl. 72 Kop. Stellen wir
diesen Capitalisations- und Amortisationsmodus demjenigen vom
168 Agrargesetzgebung für die baltischen Krondomänen.
Jahre 1869 gegenüber, so zeigt sich, dass der Bauer, sollte er
nach dem neuen Gesetz die Auskaufssumme sofort erlegen wollen,
ungleich theurer kauft als nach dem früheren Gesetz. Nach diesem
musste in allen drei Provinzen bei jährlicher Zinszahlung von
1 Rbl. nur 25 Rbl. Oapital gezahlt werden. Ueberdies gewann
der Bauer noch dadurch, dass ihm, falls er den Kaufpreis in Staats-
papieren bezahlte, diese ihm zum Nomiualwerth angerechnet wurden,
während dieselben nach dem jüngsten Gesetz ihm nach dem vom
Finanzminister festgesetzten Courswerth in Rechnung gestellt
werden sollen. Die Auskaufssumme, auf 44 Jahre vertheilt, stellt
sich nach dem neuen Gesetz dagegen bei weitem niedriger als
nach dem Gesetz vom Jahre 1869; denu nach letzterem betrug
der jährliche Zuschlag zum Zins 37,, pCt. während 49 Jahre.
Hatte also ein Bauer 1 Rbl. Arrende gezahlt, so musste er, um
sich frei zu kaufen, 49 Jahre lang 1 Rbl. 37,» Kop. jährlich, mit-
hin im ganzen baar 65 Rbl. 37,» Kop. bezahlen.
Vom Bauern soll keine Erklärung darüber abverlangt werden,
ob er auf Grund des Gesetzes vom 12. Juni 1886 Eigenthümer
werden will, oder nicht ; jeder dazu Berechtigte erwirbt daher auch
stillschweigend durch Fortsetzung des Besitzes das Eigenthum an
seinem Gesinde kraft des Gesetzes mit dem ersten Januar dieses
Jahres. Es steht gegenwärtig aber zu hoffen, dass die Bauern,
welchen man ursprünglich keine besonderen Documente auszureichen
beabsichtigte, nachträglich einseitige Eigenthums- und Beletmungs-
acte erhalten werdeu, in welchen die Ueberlassung des Grundstücks
zum Eigenthum, die Angabe der Grenzen, der Zins- und Amortisa-
tionsquote, der Lasten und Abgaben &c. zum Ausdruck kommt.
Durch das Gesetz vom 12. Juni 1886 ist endlich das letzte
unterscheidende Merkmal zwischen den Krön- und Privatbauern be-
seitigt, indem erstere in Bezug auf die von ihnen erhobenen Steuern
und Abgaben den Privatbauern gleichgestellt worden sind, einmal
hat die Kopfsteuer auch für die Kronbauern zu existiren aufgehört
und ferner ist die sog. Communalsteuer beseitigt worden. Die
Domänenbauern hatten nämlich seit dem Jahre 1859 (Ukas vom
22. Dec. 1858) eine besondere Steuer zu entrichten (o<5mecTBeHUHfl
c6opi>), welche ursprünglich von jeder Revisionsseele zur Erhaltung
der Domänen Verwaltung erhoben, späterhin aber in eine Grund-
steuer umgewandelt wurde. Diese Grundsteuer war sehr gering-
fügig, und erreichte die jährliche Pacht selbst in Verbindung mit
jener durchschnittlich nur die Hälfte der den Privatbesitzern von
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Agrargesetzgebung für die baltischen Krondomänen. 169
den Bauern gezahlten Pachten. Leider hat eine so billige Ver-
pachtung nicht allenthalben gute Früchte getragen. Zu Hunderten
lassen sich solche ßronwirthe aufzählen, die einen Theil ihres
Gesindes bis zum Betrage der von ihnen der Krone zu entrichten-
den Pacht anderweitig verpachtet und den übrigen Theil Halb-
körnern überlassen, oder ihr Gesinde zu viermal höherer Pacht in"
Subarrende vergeben, sich freie Wohnung im Gesinde ausbediugen
und ihre Tage im Kruge verbringeu. Aul den Privatgütern hat
der Pacht- und Kaufpreis der Gesinde dem thatsächlichen Werth
derselben durchschnittlich entsprochen und hat der Bauer seine
ganze Arbeitskraft daranwenden müssen, um die Arrende resp.
den Kaufpreis zu bezahlen. Die Anspannung aller Kräfte, gleich-
mässiger Fleiss, das Bestreben durch Vervollkommnung der Land-
wirtschaft die Ertragsfähigkeit des Bodens zu steigern, um sich
durchzuschlagen, das Zusammenwirken aller dieser Momente hat
dazu geführt, dass ein in harter Schule erzogenes kräftiges und
arbeitsames Geschlecht heranzureifen vermochte. Damit sei nicht
gesagt, dass sich nicht auch unter den Kronwirthen ein grosser
Theil findet, welche es trotz der Billigkeit der Arrende nicht ver-
schmäht haben im Schweisse ihres Angesichts ihr Brod zu essen.
Leider erstreckt sich diese Arbeitsamkeit gar zu häufig nicht auf
den jüngeren Nachwuchs, dem es ermöglicht worden eine Kreis-
schule zu besuchen und die dann nach beendeter Schulbildung nach
Hause zurückgekehrt, den Ackerbau und die Feldarbeit ihrem
Bildungsgrade nicht entsprechend halten, in den Städten aber
wegen zu niedrigen Bildungsgrades kein Unterkommen finden können
und nun ein gemüthliches Bummelleben zu führen beginnen. Mit
dem eigenen Dasein nicht zufrieden, bilden diese Leute den Kern
der unzufriedenen Menge. Der billige Auskauf dürfte kaum dazu
dienen in dieser Richtung eine Veränderung hervorzurufen und die
Tüchtigkeit unserer Ackerbau treibenden Bevölkerung zu erhöhen«.
L. K u e h n . Advocat in Riga.
1 Auf p. 142 Z. 19 ist statt 2 '4 pCt. zu losen: & pCt.
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Zur Prof. Volckschen Schriftauffassung.
Ein Wort der Berichtigung und Verständigung.
n der bekannten theologischen Streitfrage über das Wesen der
h. Schrift ist wiederum ein Votum erschienen. <Die Bibel
als die Heilsoffenbarung Gottes ist auch für
den Einzelnen Gnadenmittel und (Quelle des
Glaubens. Ein Wort an die Gemeinde, von F. Ner-
iin g , ev. - luth. Pastor zu St. Matth äi in Estland.
Reval 1886, bei F. Wassermann.» Die Literatur in
dieser Frage ist mittlerweile zu einer sehr umfangreichen geworden.
Zählen wir im ganzen doch 15 Aufsätze, die theils in Zeitschriften,
theils als besondere Druckschriften veröffentlicht sind. Nach dem
interessanten Artikel des Pastor Pingoud «die altdogmatische und
die Hofmannsche Lehre von der h. Schrift» (Mittheil, und Nachr.
Januarheft), nach der besonders eingehenden und lehrreichen Be-
sprechung der T. Hahnschen Schrift durch Pastor P. Willigerode
in Dorpat (ebend. Juli- Augustheft 1886) bleibt denen, die Prof-
Voicks Ansiebten über die h. Schrift theilen, im Grunde nichts
mehr übrig zu sagen. Alles, was gesagt werden kann, um eine
gerechte Beurtheilung der Prof. Volckschen Grundgedanken zu
erzielen, ist bereits mehrfach ausgesprochen worden. Darum würden
wir Pastor Nerlings Schrift am liebsten mit Schweigen übergehen.
Allein, sie ist an edie Gemeinde» gerichtet und soll — dass wir
das Kind beim rechten Namen nennen — eine Warnung vor den
Ansichten Prof. Voicks sein. Dabei verbreitet aber die Schrift
Pastor Nerlings — natürlich nicht absichtlich — irrige Anschauungen
Zur Prof. Volckschen Schriftauffassung.
171
über Prof. Volcks Meinungen. Werden aber unrichtige Vorstellungen
über die Lehrweise Prof. Volcks verbreitet, so können wir nicht
darüber schweigend hinweggehen, sondern fühlen uns zu einem
klärenden und zurechtstellenden Wort verpflichtet an dem Ort, an
welchem es zu den gebildeten Christen, also auch zur <Gemeinde>
dringt. Dabei wollen auch wir nur Ansichten und nicht Personen
bekämpfen. Am wenigsten wollen wir Pastor Nerling persönlich
zu nahe treten. Hat er die € Gemeinde» vor den Ansichten Prof.
Volcks warnen zu müssen geglaubt, so ist ihm solches Gewissens-
sache gewesen, er ist von der Verderblichkeit jener Anschauungen
überzeugt. Wie trotz allen Erklärungen, Berichtigungen, Er-
gänzungen, Aussprachen, mündlichen wie schriftlichen, genannte
Ueberzeugung sich dennoch festsetzen konnte, wird uns freilich un-
begreiflich bleiben. Wir vermögen bei Durchsicht der Pastor Nerling-
schen Schrift nur so viel zu erkennen, dass es sich einerseits
nur handelt um Differenzen innerhalb der theologischen Begriffs-
bestimmung, andererseits um unleugbar vorhandene principielle
theologische Differenzen, dass aber die feste Ueberzeugung von der
Schädlichkeit der Ansichten Prof. Volcks nur auf gänzlichen und
völligen Misverstand derselben zurückzuführen ist. Diese drei Punkte
hätten wir zu erledigen. — Dabei ist es uns nicht darum zu thun,
die Gemeinde für die Prof. Volckschen Anschauungen zu gewinnen.
Wir wollen an diesem Ort nichts anderes, als eine einfache Pflicht
erfüllen, nämlich die: die Prof. Volckschen Anschauungen, so weit
und so fern sie von Pastor Nerling misverständlich dargestellt oder
völlig falsch aufgefasst und reproducirt sind, zurechtzustellen und
zu berichtigen, um dadurch diejenigen unter den gebildeten Christen,
die sich für die Schriftfrage interessiren, zu einem richtigeren Urtheil
über die Schriftanschauungen Prof. Volcks anzuleiten, als die
genannte Schrift es thut. Sollten wir dabei in einen docirenden
Ton verfallen, so gilt derselbe selbstverständlich nicht uuserem
theologischen Gegner, sondern hängt mit unserer Aufgabe zusammen,
eine theologische Materie vor dem Laienpublikum zu behandeln.
Wir sagten : die Meinungsverschiedenheiten zwischen Prof.
Volck und Pastor Nerling sind zum Theil auf Differenzen inner-
halb der theologischen Begriftsdefinition zurückzuführen. Das er-
giebt sich schon aus dem Titel der Pastor Nerlingschen Schrift.
Derselbe ist ein Protest wider eine Auffassung von der h. Schrift,
welche Pastor Nerlings Meinung nach dem Einzelnen etwas Wesent-
liches beim Gebrauch seiner Bibel nimmt. Deshalb betont Pastor
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172
Zur Prof. Volckschen Schriftauffassung.
Nerling, dass die Bibel «Offenbarung» Gottes sei, dass sie « Gnaden-
mittel > und «Quelle des Glaubens» ist, ein Gegensatz zu Prof.
Volck, der diese drei Stücke angeblich leugnet. Allein man ereifert
sich hier ganz ohne Noth. Was der Titel der Pastor Nerlingschen
Schrift besagen will, wird Prof. Volck jederzeit unterschreiben —
davon kann sich jeder überzeugen, der seine Schrift liest — was
er aber seinem theologischen Wortlaut nach besagt, davor wird
er immer zurückschrecken, wie eiu Arzt etwa vor einem Recept
zurückschreckt, das falsch abgefasst ist, wiewol er der Idee, die
der Vorschrift jener Arzenei zu Grunde liegt, völlig beistimmt.
Was wir meinen, ist nicht schwer zu errathen. Prof. Volck ver-
bindet mit den Begriffen « Offenbarung », «Gnadenmittel» eine ganz
bestimmte Vorstellung. An den herkömmlichen Definitionen der
Begriffe hält man fest , sonst sind Oonfusionen unvermeidlich.
Unter «Offenbarung» versteht man z. B. in der neueren Theologie
das Hereintreten Gottes in die zeiträumlichen Schranken der Ge-
schichte, sein Leiten und Führen Israels durch die mannigfachen
Wege der Geschichte. Alles, was Gott mit seinem Volk thut und
im Zusammenhang mit seinen Thaten redet, ist Offenbarung. Ist
dieses der richtige Begriff Offenbarung, kann man dann die Bibel
schlechthin die «Offenbarung» Gottes nennen? Nein. Und warum
nicht? Weil es Offenbarung gab, noch bevor es eine Bibel gab.
Bibel und Offenbarung, diese Begriffe fallen nicht zusammen, weil
die Offenbarung und ihre Aufzeichnung nicht zusammenfallen. Es
ist nicht so, dass Gott redet und Moses oder David nehmen s o -
fort das Pergament und Schreibens auf. Gott durchlebt
mit den heiligen Männern Zeiträume, in denen er immer wieder
seine Wahrheit durch Wort und That mittheilt, die Aufzeichnung
aber kann 50, 100 und mehr Jahre darnach erfolgen. Darum ist
die Bibel der Bericht von der Offenbarung'. So Prof. Volck.
Pastor Nerling aber hat eine ganz andere Auffassung von dem,
was Offenbarung ist. Er versteht nach der älteren lutherischen
Theologie, der des 17. Jahrhunderts, unter «Offenbarung» ein un-
mittelbares Heraustreten Gottes aus der Verborgenheit und ein
1 Anders als bei historischen, stellt sieh die Sache hei prophetischen
Schriften, wie z. B. bei der Ofl'cnbsirung Johannis, wo wiederholt steht «schreibe».
Allein auch hier ist doch die Definition Bericht von der Offenbarung» die ein-
zig haltbare, sofern doch nicht da* Niedergeschriebene, sondern die geschaute
Vision oder da« gehörte Wort den Vorgang der Offenbarung bildet, von dem
dann du» Niederschreiben zu untem beiden ist vOffenb. Job 10, 4j.
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Zur Prof. Volckschen Schriftauffassung.
173
Sichkundthun der Welt lediglich durchs Wort, das er seinen
Propheten durch Eingebung der Schrift zu Theil werden lässt.
Ist dies die richtige Definition, dann könnte man allenfalls (vgl. Anm.
umstehend) die Bibel cdie Offenbarung > nennen. Welche Begriffs-
bestimmung die richtigere ist, unterliegt gar keinem Zweifel. Wir
wollen aber an dieser Stelle den Laien nicht mit weitläufigen
theologischen Erörterungen tractiren. Dem Laien, besser; cder
Gemeinde» gegenüber soll nicht hervorgehoben werden, was an
theologischer Differenz in wissenschaftlicher Begriffsbestimmung
vorhanden bleibt, sondern das, worin man einig ist. Prof. Volck
ist die Bibel auch geoffenbartes Wort Gottes, er unterscheidet nur
zwischen der Offenbarung, welche ein geschichtlicher Process ist,
und der Aufzeichnung, die von jenem zeitlich geschieden sein kann.
Diese Aufzeichnung ist aber auch nach Prof. Volck unter Leitung
des h. Geistes, der vor Irrthum bewahrt, geschehen. Bei letzterer
Fassung wird bei Verfassung der Schriften allerdings der mensch-
lichen Selbsttätigkeit mehr Raum gewährt, als bei der Fassung
Pastor Nerlings — und das ist das Interesse der Frage — allein
das, worauf es ankommt, dass wir in der Bibel das «untrüg-
liche» Gotteswort haben, ist bei dieser wie jener Fassuug ge-
wahrt1. Darum müssen wir dabei stehen bleiben, es handelt sich
hier hauptsächlich um eine Differenz in der Begriffsbestimmung,
nicht aber um eine Meinungsverschiedenheit, die die Glaubens-
stellung zur h. Schrift berührt Ganz dasselbe gilt vom Wort
«Gnadenmittel». Unter «Gnadenmittel» versteht man in der Theo-
logie die Mittel, durch welche die christliche Kirche am Menschen
ihren Beruf als Verkünderin und Spenderin des Heils handelnd
vollzieht. Das sind Wort und Sacrament, und zwar das Wort
als verkündetes, und das Sacrament als gespendetes. Die Kirche
handelt nicht in der Weise, dass sie jedem ihrer Glieder eine
Bibel in die Hand drückt und im übrigen sich schweigend ver-
hält, sondern sie lehrt, tauft, confirmirt, predigt und weist während
solchen Unterrichts auf die Bibel, aus welcher heraus dann der
Einzelne seiuen Glauben belebt, stärkt, vertieft und befestigt. Das
ist der Gang. Ein jeder weiss es aus Erfahrung. Es erhellt zur
Genüge, dass wir bei obiger stricter Fassung des Begriffs «Gnaden-
mittel» die Bibel nicht als Gnadenmittel bezeichnen können. Fassen
') Volck, Bibel als Kanon, pag. 54, These 4. «Die Hcilswahrheit gelangt
in der Schrift in untrüglicher Weise zum Ausdruck .
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174
Zur Prof. Volckschen Schriftauffassung.
wir aber das Wort c Gnadenmittel > in minder präciser Begriffs-
bestimmung, etwa als «Mittel, durch welches die Gnade an mir
thätig ist», dann freilich können wir die Schrift auch Gnadenmittel
nennen, aber dann auch nicht die Bibel als solche, sondern ans
Herz gelegt und ausgelegt von der dienenden Kirche. Dass Prof.
Volck das Wort Gnadenmittel nicht in diesem weiteren Sinne ge-
brauchen will, hat einfach darin seinen Grund, dass dann die
grösste Confusion in der dogmatischen Terminologie entsteht. «Mittel,
durch welches die Gnade am Menschen arbeitet», kann auch ein
Trunkenbold sein, der durch sein abschreckendes Exempel den
Menschen den Fluch der Sünde lehrt ; jeder Tisch und Stuhl kann
dann Gnadenmittel sein, die Kanzel, auf der gepredigt, der Altar,
der Kelch, bevor er gereicht wird u. s. f. Ist nun die obige Be-
stimmung von «Gnadenmittel» und «Bibel» die richtige, dann folgt
auch, dass die h. Schrift nicht in absolutem, sondern nur in relativem
Sinne «Quelle» des Glaubens ist. Quelle ist doch s. v. a. Ursprung,
dasjenige, woher mir etwas kommt. Der Glaube aber kommt, d. h.
entsteht uranfänglich, nimmt seinen Anfang («Quelle»), nicht aus
der Bibel. Das Christenkind, wie der heidnische Katechuinen —
z. B. ein Neger — sie glauben an Christum, noch bevor sie zu
lesen verstehen. Wenn man sich nur einigermassen zuerst klar
wird über die Tragweite jedes einzelnen Begriffs, so könnte, so
dürfte über solche einfache Dinge wie «Offenbarung», «Gnaden-
mittel», «Quelle des Glaubens» nicht so viel unnützer Streit und
Zank sein, von dem die Gemeinde entweder nichts versteht, oder
den sie wo möglich dahin misversteht, als wenn Prof. Volck der
Bibel glaubenwirkende, d. h. glaubenerneuernde, glaubenfestigende
Kraft abspräche, wo doch Prof. Volck schon im allerersten Vor-
trag davon geredet, dass «der Bibel eine Kraft entströmt, die alle
andere Kraft überragt» («In wie weit ist der Bibel Irrthums-
losigkeit zuzuschreiben ?» p. G). Pastor Nerliug hat an einer Stelle
die Sache auch ganz richtig getroffen. Er sagt p. 18 seiner
Schrift: «man könnte dann höchstens sagen, dass die Schrift nicht
das den Glaubensanfang wirkende Gnadenmittel sei». Da liegt's.
Wenn Prof. Volck von «Glauben» redet, so meint er in diesem
Zusammenhang natürlich den Glaubensanfang, wie ja Prof. Volck
in seiner Schrift «zur Lehre von der h. Schrift» p. 8 sagt : «beginnt
der Glaube an Christum zu keimen». Darum müssen wir noch-
mals sagen : einen grossen Theil der Schuld an all den Differenzen
trägt die mangelnde Präcisiou in den Begriffsbestimmungen. Indes
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Zur Prof. Volckschen Schriftauffassung.
175
würde Pastor Nerling nicht an seinen erweiterten und unbestimmten
Fassungen theologischer Begriffe festhalten, wenn er nicht durch
seine gesammten theologischen Anschauungen über das Verhältnis
von Bibel und Kirche, Bibel und Predigt hierin unterstützt würde.
Hier besteht allerdings eine principielle theologische Differenz.
Auf dieselbe einzugehen, scheint uns der Gemeinde gegenüber durch-
aus unthunlich, da hier Fragen von specifisch theologischem Inter-
esse zur Sprache kommen, es uns aber nur darauf ankommt, die
irrigen Vorstellungen, welche die Gemeinde durch die Schrift Pastor
Nerlings von den Anschauungen Prof. Volcks bekommen muss, zu
berichtigen. Dennoch sind wir gezwungen, darauf einzugehen, da
sonst eine Hauptargumentation Pastor Nerlings, die sich auf die
Bibel als Quelle des Glaubens bezieht, unerörtert bliebe. Nach
Pastor Nerling kommt nämlich alle Predigt aus der Bibel als
ihrer Quelle», die Predigt selbst ist nichts anderes, als Darreichung
des Schriftwortes und nur glaubenwirkend, weil sie ihm ent-
stammt, nicht weil sie Predigt der Kirche. Nach Prof. Volck con-
stituirt sich aber die Predigt immer aus drei Bestandtheilen : Dar-
reichung des Schriftwortes, Zeugnis der Kirche und Zeugnis der
persönlichen Erfahrung. Es ist die Predigt [nicht blosse Wieder-
gabe des Schriftinhalts. Das von Pastor Nerling citirte Schrift-
wort Rom. 10, 17 kann niemals als Schriftbeweis gelten, denn die
Stelle: «die Predigt kommt aus dem Wort Gottes> darf nicht so
ausgelegt werden, dass «Wort Gottes» gleich «heil. Schrift» ist.
Das ist eine ganz unmögliche Exegese. «Wort Gottes» bedeutet
hier nach allen bewährten Auslegern s. v. a. «Auftrag Gottes».
Das Verhältnis von Predigt, d. h. mündlicher Verkündigung des
Evangeliums, und Bibel ist nicht dasjeuige, das Pastor Nerling
angiebt. Betrachten wir doch die Sache historisch. Seit dem
Ptingstfest ist der Geist ausgegossen, er wird Wort ; das Evange-
lium wird verkündet. Wo die Apostel auch seien, sie verordnen
Diener, die das Evangelium in der betreffenden Gemeinde treiben
durch Predigt. Von einer Generation geht die Wahrheit des Evan-
geliums auf die andere über. Die Mutter theilt es dem Kinde mit,
der Presbyter der Jugend, so geht es fort. Die meisten dieser
ersten Gemeinden haben Briefe von Paulus. Sind diese Briefe der
Quell ihres Glaubens ? Die Briefe setzen ja den Glauben voraus.
1 cf. Pastor Nerling p. 19 : «Xicht blos die Norm für das Zeugnis der
Kirche, sondern vielmehr die Quelle, aus der alles Zeugnis der Kirche
fort und fort fliesst.»
B.ltUcU. Monttsichrift. Bd. XIX IV. Hoft 2. 12
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176
Zur Prof. Volckschen Schriftauffassung.
Haben diese Gemeinden ganze Bibeln V Auch noch nicht. All-
mählich entsteht dieselbe. Unterdes sagt's ein Geschlecht dem
anderen, was der Herr gethan, wobei was an Schriften vorhanden
gelesen wurde zur Belehrung und Auferbauung. Nun kommt die
Bibel, wie wir sie haben. Ja, wie ist es nun ? Hat die ganze
Gemeinde Christi Lethe getrunken, ist dann vom Schlaf erwacht
und fängt nun von vorn an ihren Glaubeu aufzubauen, nicht durch
die häusliche Lehre, nicht durch die Prediger, sondern es con-
struirt sich alles neu und von vorn aus der Bibel ? ! Nimmermehr,
sondern die Verkündigung des Evangeliums in der Kinderstube
durch den Mund der frommen Mutter, in der Schule durch den
Lehrer, auf der Kanzel durch den Presbyter und Bischof — diese
Verkündigung, sie ist ja n i e m a 1 s unterbrochen worden!
Auch in den schlimmsten Zeiten des Katholicismus nicht! Und
nun, welche Aufgabe hat dann die Bibel gehabt? Sie hat die Norm
sein sollen dafür, dass die Verkündigung eine rechte sei. Sie
wurde versteckt, weil man die Norm fürchtete. Sie soll dabei
nicht «todte» Norm sein«. Mache ich mir etwas zur Norm, zur
Richtschnur, der ich alles unterwerfe, so ist das ein Act eminent
innerlicher Art. Die Schrift ist Norm und kann es sein, weil
sie Willen und Denken kraft ihrer h. Geistesmacht zu unterwerfen
im Stande ist. Und als nun die Waldenser kamen und Hussiten
und aus ihrer Schriftforschung heraus ein neues Leben geboren
wurde, da ist nicht ihr Glaube entstanden unabhängig von der
Verkündigung der Kirche allein aus der Bibel. Nein, sie haben
gewusst von Jesu, dem Sohne Gottes, haben gewusst von Er-
lösung, von Heiligkeit Gottes, von altem und neuem Testament.
Und weil sie dieses Wissen und den Glauben als Keim hatten, so
verstanden sie die Bibel recht zu lesen, fingen nicht mit dem
«Hohenliede» oder mit dem « Prediger» an, sondern suchten in der
Schrift nach Christum und seiner unentgeltlichen Gnade. Ihn im
N. Testament zu finden, hat die katholische Kirche trotz
ihrer Verkommenheit doch sie anzuleiten vermocht, vermöge der
Verkündigung des Heils, die trotz alledem von ihr ausging. Prof.
Volck hat in der bereits angeführten Stelle gesagt: «beginnt der
Glaube an Christum zu keimen, so wird derselbe durchs Schrift-
wort genährt, gestärkt» &c. Der Keim des Glaubens, der lag in
cf. P. Nerling p. 51 : «und an der Bibel nur die todte Norm hätte als
Probiretein &c.»
uigmz
o uy Vjüo
Zur Prof. Volckschen Schriftauffassung. 177
den Waldensern, der Same war im Herzen. Nun kam das Wort
der Schrift, und die Saat ging auf. Nach Pastor Nerlings An-
schauung ist aber schon der Same durch die ßibel hineingelegt.
Dem ist die ganze Kirchengeschichte entgegen, welche das von uns
gesetzte Verhältnis von Predigt und ßibel bestätigt. Das Ver-
hältnis ist so einfach, so täglich - gewöhnlich, so natürlich, so
biblisch und dabei so eminent historisch, dass man nicht begreift,
worauf hin man dasselbe beanstanden will. Und wie ist man im
Laufe dieses Streites darüber hergefallen ! Man hat darin eine Be-
einträchtigung der Bibel gefunden, hat sich aufgehalten über den
Hofmannschen caparten Strom» der Verkündigung, hat gemeint
die Bibel in Schutz nehmen zu müssen vor ihrer Degradirung durch
den Professor ! Man mnsste wirklich nicht, was mau zu diesem allen
sagen solltet Als tNorm» sollte sie, die h. Schrift, gerade hoch und
höher gestellt werden, als jede andere Schriftauffassung sie stellt!
Pastor Nerling hat nun wieder die Predigt als direct der Bibel
entstammend bezeichnet!! Wir können all' die diesbezüglichen Er-
örterungen nur verstehen, wenn Pastor Nerling unter Predigt aus-
schliesslich die Kunstpredigt, die homiletisch - exegetisch durch-
arbeitete des praktischen Pastors, am Sonntag Vormittag gehalten,
gemeint hat. Die Erfahrung, dass aus der h. Schrift bei der Arbeit
der Predigt Himmelskräfte strömen, legt es nahe, die Bibel in praxi
als Quelle der Predigt zu bezeichnen — was in dieser praktisch-
erbaulichen Meinung ohne weiteres von jedem Pastor unterschrieben
werden wird — allein, sehen wir davon ab, dass auch hier nur
scheinbar die Bibel allein Quelle ist, unter cPredigt» ist doch
immer Verkündigung überhaupt gemeint. Verkündet
der Pastor allein? Predigt nicht auch die Mutter dem Kinde?
Wenn sie aber dem Kinde vom Heiland Jesus erzählt, vom Gottes-
sohn, von des himmlischen Vaters Barmherzigkeit, nimmt sie das
alles selbständig, direct aus der Bibel, d. h. also : ist die Bibel die
t Quelle» dieser Kinderpredigt? Wird nicht vielmehr diese Mutter
aus ihrem Confirmandenunterricht , aus den Sonntagspredigten
manches schöpfen (also Zeugnis der Kirche), vieles aus der Er-
fahrung ihres Lebens nehmen und dann die herrlichen Bibelsprüche
— die sie n i c h t nach eigener, sondern nachAnleitung
der Kirche gelernt hat im Jesaias, in den Psalmen, im Jo-
hannisevangelium finden — als vollkommenste der Gaben ihrem
Kinde mittheilen?
Wir haben darzulegen gesucht, wie es Prof. Volck gemeint hat,
12*
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178
Zur Prof. Volckschen Schriftauffassung.
wenn er sagt : die Bibel nicht Quelle des Glaubens für den Ein-
zelnen, die Bibel zunächst der Kirche gegeben, die Predigt stammt
nicht direct aus der Bibel. Möchte diese unsere Darlegung etwas
dazu beitragen, dass die unsinnigen und unverständigen Vorstellungen
und das ihnen entsprechende Gerede — wir denken eben überhaupt
an einen Theil des christlichen Publikums — von Beeinträchtigung
des Ansehens der Bibel durch Prof. Volck, Zurückführung in
Katholicismus u. s. f. endlich mal aufhören. — Dieser Punkt ist
übrigens auch noch nicht derjenige, welcher in der ganzen Streit-
frage die Gemiither am meisten innerlich bewegt hat, sondern der
andere, von der Irrthumsfähigkeit der Bibel. Wir wollen auf die
theologische Frage selbst nicht eingeheu. Wir nehmen einen anderen
Standpunkt ein als Pastor Nerling, halten es aber dnrchaus nicht
für ein Glück, wenn die Frage von der Irrthumsfähigkeit der
Bibel immer wieder vor dem grossen Publicum besprochen wird.
Wo es das apologetische Interesse erheischt, wo gebildeten Christen
Aufklärung über diese Frage noth thut, da ist ihre Besprechung
angezeigt. Hier kann davon nicht die Rede sein, üeberhaupt be-
dürfte die Frage einer specifisch theologisch-wissenschaftlichen Be-
handlung, wozu hier weder Zeit noch Ort ist. Wir haben uns
hier nur die Aufgabe gestellt, nachzuweisen, wie die Ansichten
Prof. Volcks nicht die äusserst bedenklichen, ja verderblichen siud,
wie sie nach der Wiedergabe und Bekämpfung durch Pastor Ner-
ling sich tder Gemeinde > darstellen müssen. Prof. Volck schreibt
bekanntlich der Schrift Irrungen zu in den Fragen, die nicht das
Heil unmittelhar berühren, Irrungen also auf dem Gebiet etwa der
Chronologie, der Geographie, der Profangeschichte und überhaupt
dort, wo es sich um rein Accidentelles, Zufälliges, Aeusserliches,
Nebensächliches handelt. Pastor Nerling dagegen vertritt den ent-
gegengesetzten Standpunkt. Nach ihm ist die h. Schrift in jedem
Worte Gottes directe, selbsteigene Rede (cf. P. Nerling p. 7—9
und 00-61), bei der nichts als irrig hinfallen könne und nie eiu
Unterschied zwischen Heilswesentlichem und Nebensächlichein zu-
gestanden werden dürfte. Diesen Standpunkt versucht Pastor Ner-
ling als schriftgemäss zu erweisen und zugleich die Prof. Volcksche
Unterscheidung zwischen Heilsweseutlichem und andererseits Neben-
säehlich-Inthumsfähigem als schriftwidrig darzuthun. Der Heiland
citire nämlich (cf. P. Nerling p. 8 u. 10) in Evang. Joh. 10, 34
deu Psalm 82 (und hiermit mittelbar 2. Mos. 22, 8) und nenne
die dortige Bezeichnung der Richter, als t Götter», Gottes eigenes
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Zur Prof. Volckschen Schriftauftässung.
179
Wort und eigenen Ausspruch. Die Bezeichnung der Richter als
«Götter» komme aber in einer untergeordneten Gesetzesbestimmung
über Diebstahl vor, einer Bestimmung, die unserem Urtheil nach
durchaus nichts Heilswesentliches enthalte, sondern etwas ganz
Nebensächliches sei. Desgleichen werde 1. Cor. 9, 9 die Gesetzes-
bestimmung «du sollst dem Ochsen, der da drischt, nicht das Maul
verbinden > als Gottes eigenes 'Wort angeführt. Uud auch diese
Gesetzesbestimmung sei noch etwas durchaus Nebensächliches, habe
mit der Heilsgeschichte nichts zu thun, könnte mithin nach dem
Satz «das Heilsunwesentliche kann irrig sein» wegfallen. Aber
1. Cor. 9, 9 wird gerade diese Bestimmung Gottes Wort genanut.
Diese Argumentation erscheint auf den ersten Blick schlagend
und ist doch der allergrösste Misverstand der Prof. Volckschen
Lehre. Prof. Volck hat doch nicht gesagt : was m i r nebensächlich,
d. h. unwichtig erscheint, brauche ich nicht als irrthumslreies Gottes-
wort anzusehen. Prof. Volck hat das Gebiet des lrrthumsfähigen
auf das Gebiet des Profanen beschränkt. Pastor Nerling ver-
wechselt die Begriffe «unwichtig» und «profan». Was aber «profan»
ist, stellt Prof. Volck nicht der Entscheidung des subjectiven Be-
liebens anheim, sondern setzt hier mit der Lehre ein : alles Ein-
zelne der Schrift haben wir nach dem Zusammenhang des Ganzen
zu würdigen. Dann ergiebt sich, dass. was profan ist, nur den
obgenannten Gebieten angehört.» Nach dieser Regel gehören aber
die Stellen über die «Götter» und den «Ochsen» zum Gesetz. Das
Gesetz gehört doch zur Heilsgeschichte ! Das ist's, was Prof. Volck
betont : man soll das Einzelne nach dem Zusammenhang des Ganzen
fassen. Alle einzelnen Gesetzesbestimmungen in 3.-5. Buche Mose
sind, von der Summe der Gebote aus: «Liebe zu Gott und dem
Nächsten» zu beleuchten, dann erhalten sie das rechte Verständnis.
Ein ähnlicher Misverstand, der schlimmste, derjenige, der uns
im letzten Grunde zu diesen Zeilen veranlasst hat, ist in Pastor
Nerlings Schrift p. 47- 49 enthalten. Hier bespricht Pastor N.
den sog. Hofmannschen Inspirationsbeweis, den Prof. Volck in
seinem Vortrag «die Bibel als Kanon» öffentlich vertreten. Es ist
dies der Beweis für die Göttlichkeit der Schrift, der der inneren
Einheit des Schriftganzen, der Unentbehrlichkeit ihrer einzelnen
Schriften und ihrer Bedeutung im Laufe der Kirchengeschichte
entnommen ist. Von diesem Beweis sagt Pastor NM dass er nicht
(p. 47) «den Gitmd des Glaubens an das Wort Gottes abgebe».
«Wer fp. 48) seinen Glauben auf seine wissenschaftlich-theologische
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'.SO Zur Prof. Volckschen Schriftauffassung.
Erkenntnis gründen will, der wird zu Schanden werden. Die
theologisch-wissenschaftliche Arbeit kann und soll die Glaubens
erkenntnis vertiefen, aber den Glauben selbst kann sie nicht geben.
Der Glaube ist Gottes Gnadengabe, die Gott allen denen giebt,
die ... . und ihren Glauben in keinem Stücke auf die Resultate
ihrer wissenschaftlichen Errungenschaften gründen wollen.» <Wer
seinen Glauben, dass die Schrift seines Fusses Leuchte, darauf
baut, dass die Kirche allezeit der guten Zuversicht gelebt hat, in
ihr das normative Wort Gottes zu besitzen, der hat sein Glaubens-
haus auf Sand gebaut.» (!) Hiernach hätte Prof. Volck seinen
Glauben an die Schrift auf zweierlei gebaut: auf eiuen theologischen
Beweis und auf die gute Zuversicht der Kirche. Schon an sich
klingt es unglaublich, dass ein gläubiger Professor der Theologie
seinen Glauben an die Schrift in genannter Weise begründet, und
Laien, die nicht völlig unkritisch lesen, werden an dieser Stelle
äusserst stutzig werden. Wie würden sie jedoch erst staunen,
wenn sie in Prof. Volcks Schrift: «Die Bibel als Kanon» lesen
würden (p. 52): «Oder macht er» (der oben besprochene wissenschaft-
liche Nachweis der Einheit des Schriftganzen) «auf Irrthumslosig-
keit Anspruch ? Gewiss nicht. Er ist, wie jeder menschliche Be-
weis, dem Irrthum unterworfen. Aber der Glaube der Kirche
hängt nicht davon ab, ob dieser Beweis gelingt. Dieser Glaube
ist vorhanden vor jedem derartigen Beweis. Die Kirche hat
immer der guten Zuversicht gelebt, dass sie an ihr das normative
Wort Gottes besitze. Je weiter sie fortschreitet auf ihrem Wege,
um so sicherer wird sie dieses Glaubens, indem sie in allen Lagen,
in den Anfechtungen, die Erfahrung ihrer Gotteskraft
macht. An dieser «Erfahrung» hat «der Einzelne in dem Masse
theil (p. 53), als er mit dem Leben der Kirche verwachsen ist und
in das Verständnis der Schrift eindringt».
Was sehen wir also ? Prof. Volck verwahrt sich
ausdrücklich dagegen, dass jener Beweis den
Grund seines Glaubens an die Bibel bildet, und
nun heisst es zwei Seiten hindurch, er gründe den Glauben an die
Schrift auf eine theologische Idee ! 1 Die ganze Schritt Pastor Nerlings
ist in einem durch und durch friedfertigen Ton gehalten, aufs geflissent-
lichste meidet er jedes persönliche Zunahetreten, er sagt im Vor-
wort, er hätte «am liebsten gar keinen Namen genannt», weshalb
er auch nur eingangs den Namen Prof. Volcks nennt, an der so-
eben besprochenen Stelle jedoch nicht mal den Vortrag Prof.
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Zur Prof. Volckschen Schriftauflfassung.
181
Voicks anführt. In der That, wenn dies alles uns nicht von vorn-
herein entwaffnete, wir würden uns hier vom Unmuth hinreisseu
lassen. Denn es geht doch wahrhaftig über die Grenze dessen
hinaus, was der bona fides eines an sich wohlmeinenden Gegners
zu gute gehalten werden kanu, wenn falsche Darstellungen der gegne-
rischen Ansicht vorliegen, wie hier ! Natürlich sind es unabsicht-
liche und unwissentliche Entstellungen, aber die Notwendigkeit ge-
nauer Kenntniss der gegnerischen Meinung wird doch hier be-
sonders dringend, wo die «Gemeinde» zu einem Urtheil ange-
leitet werden soll über die Lehren des Mannes, der eine hohe
geistliche Vertrauensstellung einnimmt. Wer will leugnen, dass
Prof. Volck durch allzu concise Erledigung schwieriger Fragen
und etwas unvermittelte Einführung in feinere theologische Un-
terscheidungen (so z. B. die Unterscheidung des Inhalts der
Bibel vom kanonischen Umfang derselben, der Unterschied zwi-
schen dem Zeugnis des h. Geistes, von dem der Einzelne und
von dem die Kirche zu reden weiss) selbst einzelne Misverständnisse
hervorgerufen, aber die Abwehr des Mis Verstandes, als gründe er
den Glauben an die Bibel auf einen theologischen Beweis, war
doch Äusserst klar! Dagegen müssen wir freilich be-
dauern, dass Prof. Volck die Frage, worauf der Einzelne seinen
Gkuben an die Bibel als Gottes Wort gründe, nicht ausführ-
licher behandelt, weil dann weniger Misverstand und Streit ge-
wesen wäre. Weshalb Prof. Volck nicht näher darauf einging, hatte
darin seinen Grund, dass es ihm nicht auf Beantwortung dieser,
als vielmehr, entsprechend seinem Thema «Bibel als Kanon», auf
Erledigung einer anderen Frage ankam, einer Frage, die dem
Interesse des praktischen Pastors und des Laien freilich ferner
liegt. Es ist das die Frage, die der sog. Hofmannsche Inspirations-
beweis beantworten will. Dieser von Prof. Volck vertretene Be-
weis beantwortet aber nicht die Frage: worauf gründet der Einzelne
seinen Glauben an die Bibel, sondern die Frage: kann die
Theologie einen wissenschaftlichen Beweis dafür beibringen, dass
die Bibel in ihrer gegenwärtigen Zusammensetzung als alt- und
neutestameutlicher Kanon für alle Zeiten normatives Gotteswort
sein soll, also in ganz anderem Sinne massgebend, als alle sonstigen
erleuchteten Schriften. Wer Prof. Volck nicht gänzlich misver-
stehen will, der scheide doch diese beiden Fragen von einander !
Der sog. Hofmannsche Inspirationsbeweis ist eine geniale, eine tief-
sinnige theologische Speculation, aber hat mit der Frage nichts zu
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182 Zur Prof. Volckschen Schriftanft'assung.
■
thun, worauf ich meinen Glauben gründe, dass die Bibel Gottes
Wort ist. Es giebt nur einen Beweis für die Göttlichkeit der
Schrift : das ist die Erfahrung der Lebensmacht, die ihr entströmt.
Das ist auch derjenige Beweis, den Prof. Volck als den einzig
tauglichen kennt, nur dass er nicht in der Erfahrung des Einzelnen,
sondern der der gesammten Kirche die rechte Beweiskraft dieses
Beweises sehen will. Aber dieser Beweis bezieht sich selbstredend
nur auf den Inhalt der Schrift. Eine ganz andere Frage ist's nun :
wie werde ich dessen gewiss, dass die Bibel als alt- und neu testa-
mentlicher Kanon, in dieser Zusammensetzung der Schriften, der
Kirche, im Unterschied von allen anderen Schriften, für alle Zeiten
als Norm gegeben ist? Nach Ansicht Prof. Volcks» liesse sich für
diese Thatsache kein ausreichender, lückenloser Beweis beibringen,
weder aus der h. Schrift selbst», noch aus dem Zeugnis der Kirche
über Autorschaft der biblischen Verfasser. Es müsse vielmehr ein
anderer Beweis beigebracht werden, ein Beweis, entnommen aus
der inneren Einheit des Schriftganzen. Es handelt sich darum, ob
die Wissenschaft aus dem Zusammenhang des Schriftganzen nach-
weisen könne, warum diese und gerade diese Schriften in den Kanon
aufgenommen wurden. Es fragt sich dabei, ob man nicht ein ein-
heitliches Princip in der Zusammenstellung des. Kanon entdecken
könne, nach welchem die Kirche unbewusst gegangen, in welchem
man dann die göttliche Leitung und den göttlichen Gedanken bei
der Zusammenstellung des Kanon entdecken könnte. Es käme
dabei darauf an, ob man wissenschaftlich die Zugehörigkeit jeder
einzelnen Schrift zur Bibel, um ihrer Stellung willen im Ganzen
der Schrift, rechtfertigen könne, und nachweisen, warum nicht z. B.
Esther oder Jakobus oder die Apokalypse — letztere gehörte im
3. Jahrh. nicht zum Kanon — entbehrt und, wie noch Luther
wollte, aus dem Kanon gewiesen werden dürfe, nach welchem Princip
dies aber andererseits bei den Apokryphen wol zulässig war. Das
ist die Aufgabe, die sich der sog. Hofmannsche Inspirationsbeweis,
von Prof. Volck vertreten, stellt. Die Lösung dieser Aufgabe er-
1 Verfasser verhiilt sich hier lediglich refcrirend.
* Beim alten Testament, stellt es wegen der Stellung des Herrn zur
«Schrift» und wegen 2. Tin. 8, 15 — 16 andern. Der Schrift In weis für den gott-
lichen Ursprung des A. Testaments in allen seinen Theilen ist vorhanden. Aber
die Wissenschaft der Kanonik hat weiter zu gehen und die Bedeutung des
Schriftganzen für die Kirche hinsichtlich des A.Testaments ehenso ans der orga
n Neben Einheit zu erweisen wie für das N. Testament.
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^Zur Prof. Volckschen Schriftauflfassung. 183
giebt sich, sagt Prof. Volck (cf. Volck, Bibel als Kanon p. 24—43),
so, dass ich die Bibel als ein einheitlich geschlossenes Ganzes er-
kenne, als einen Organismus, in welchem jeder Theil seine Stelle
und seine Aufgabe hat, darum aber auch vom Ganzen nicht abge-
löst werden kann. Lasst sich nun von der Bibel nachweisen, dass
sie solch ein einheitliches Ganzes ist ? Prof. Volck bejaht die Frage
und sucht den Nachweis zu führen, wobei er selbst von einem
t Versuch» spricht, den er «wagt»1, welche Ausdrücke schon den
Gedanken, dass es sich um Grund des Glaubens handelt, aus-
schliefen. Wie aber wird nun dieser Beweis geliefert? Es wird
dargethan, wie nur aus der Gesammtheit aller alttestamentlichen
Bücher eine allseitige und ausreichende Urkunde der Offenbarungs-
geschichte des Volkes Israel zu Stande kommt. Die alttestament-
liche Heilsgeschichte kommt gerade durch die Gesammtheit der
Schriften des alttestamentlichen Kanons nach allen Seiten und
Zeiten zur Darstellung. Die Gesch ichts bücher berichten
über Israels Vergangenheit in allen ihren Perioden und Abschnitten,
die prophetischen Bücher über Israels Zukunft, da Israel
das Volk des sich anbahnenden Heils ist, die L e h r bücher zeigen,
wie sich das sittlich-religiöse Leben ausgestaltet auf Grund der
Erkenntnisse, die Gott durch seine Offenbarung gewirkt hat, so
die Psalmen und Sprüche. Andere Lehrbücher dagegen zeigen,
wie die allgemein-menschlichen Dinge und Begegnisse in Folge
Erkenntnis Jehovas derart gefasst wurden, dass des Lebens Lust
nicht in sinnliche Rohheit ausartet (Hohelied), des Lebens Last
nicht in Verzweiflung führt (Prediger Salomonis), des Lebens Leid
nicht zum Verzagen bringt (Hiob), wie solches alles doch überall
da der Fall, wo die Menschheit ohne Offenbarungswahrheit.
So hat Israel eiue allseitige Urkunde am A. Testament, ge-
eignet, dasselbe hindurchzuleiten bis zur Zeit, da sich das ueu-
testamentliche Heil verwirklicht. Wie dieses erscheint, tritt au
die Stelle Israels die Kirche Christi. Sie hat bis zur Wiederkunft
ihres Herrn einen weiten Weg vor. Es liegt auf der Hand, dass
auch sie dazu eines Lichtes bedarf, eines göttlichen Wortes, das
die ganze neutestamentliche Heilsoffenbarung nach allen Seiten
und Zeiten zur Darstellung bringt, damit die Kirche unter allen
Verhältnissen an diesem Wort Leuchte und Richtschnur habe. Ent-
spricht hierin das N. Testament dem A. Testament? Allerdings.
1 cf, Volck, Bibel iils Kamm p. 25.
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I
184 Zur Prof. Volckschen Schriftauffassung.
■
Wir finden im N. Testament das neutestamentliche Heil nach allen
Zeiten und Seiten zur Darstellung gebracht und zwar nach den
Seiten, deren Erkenntuis die Kirche im Laufe der kirchengeschicht-
lichen Entwickelung schon bedurft hat und bedürfen wird. Die
Gesc nichts bücher stellen die Verwirklichung des Heils dar,
die neutestamentliche Vergangenheit, die prophetische Schrift
die Vollenduug des Heils bei der Wiederkunft Christi, die Lehr-
schriften aber beleuchten alle denkbareu Lagen, Kämpfe, Lehr-
fragen, Anfechtungen, welche die Gemeinde Christi durchleben
kann. Für die Zeit, da es die Rechtfertigung allein aus dem
Glauben gilt, hat die Kirche den Römer- und Galaterbrief ; für die
Zeit, da die Gefahr des todten Orthodoxismus vorliegt, den Jakobus-
brief ; für die Zeit friedlicher Entwickelung innerer und äusserer
Gemeindeverhältnisse die Pastoralbriefe, für die Zeit, da es Be-
kämpfung jüdisch-gesetzlicher Ascese gilt, den Colosserbrief u. s. f.».
Hieraus folgt, dass die neutestamentliche Gemeinde in der That
am N. Testament ein vollständiges, allseitiges, in sich geschlossenes
Schriftganzes hat, eine Urkunde vom Heil, geeignet der Gemeinde
eine Leuchte und eine Norm zu sein bis zu ihrer Vollendung.
Der Rückschluss, der nun auf die Inspiration
gemacht wird, ist der (Volck ebend. p. 53) : ist die Schrift
vollständiger, allseitiger Bericht vom Heil, so stammt sie auch als
Ganzes von dem, von dem das Heil stammt. Der gegenwärtige
Bestand des Kanons ist also der gottgewollte, mit anderen Worten:
die Concile von Hippo und Karthago (393, 419) waren bei Zu-
sammenstellung des neutest. Kanons inspirirt, wie die alttest. Ge-
meinde bei Festsetzung des alttest. Kanons. Diese Thatsache hat
dann rückwirkende Beweiskraft für die Kauonicität und Inspiration
insbesondere der nichtapostolischen Schriften (Hebräerbrief, Lukas-
evangelium), wie der Inspiration des Schriftinhalts überhaupt.
Letztere Thatsache soll aber mit eben entwickeltem Beweis nicht
begründet, sondern nur gestützt werden. Das Ganze ist ein
wissenschaftlicher Beweis, von dem Prof. Volck — wir
weisen nochmals auf p. 52 und 53 seines Vortrages c Bibel als Kanon >
— seinen Glauben an die Göttlichkeit der Schrift nicht abhängig
macht. Man mag sich nun zu diesem theologischen Gedanken
stellen, wie man will, eins muss man unbedingt zugeben : er
• Wir können hier natürlich nnr andeuten und verweisen nochmals auf
Prof. Volck ebend. p. 24 - 43.
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Zur Prof. Volck -chen Schriftauffassung.
185
stärkt den Glauben an die Schrift, vertieft die Erkenntnis ihres
Wesens, festigt den Glauben an ihren göttlichen Ursprung, erölfnet
tief erbauliche Einblicke iu die Herrlichkeit des Schriftganzen und
löst manche Fragen, auf die wir sonst kaum Antwort zu geben
wüssten. Weil dieser Inspirationsbeweis solchen apologetischen
Werth hat, vertrat ihn Prof. Volck vor der Oeffentlichkeit1. Er
wollte der Gemeinde Christi damit einen Dienst leisten. Es ist
unbegreiflich, wie man das nicht verstanden, und noch unbegreif-
licher, wie man für glaubenerschütternd ansehen kann, was doch
glaubenstärkend ist. Geradezu tragisch aber ist es, dass die Ge-
meinde vor den Ansichten des Mannes gewarnt wird, der sein
Leben der Vertheidigung der Schrift gewidmet und mitten im
Sturm der Wellhausenschen Kritik, der jetzt über die h. Schrift
ergeht, unter heisser Arbeit die Fahne der positiven, d. h. gläubigen
Theologie hoch hält.
Um dem Vorwurf flüchtiger Behandlung der Pastor N.schen
Schrift zu entgehen, betonen wir nochmals, dass wir uns eine be-
grenzte Aufgabe gestellt, wie wir dies eingangs bereits sagten.
Sollten wir dabei Einiges zum Verständnis der Schriftfrage beige-
tragen haben, so soll's uns innig freuen. Nicht behufs Polemik,
sondern zur Klarstellung und Verständigung sind diese Zeilen
geschrieben.
# J. Lenz,
Pastor in Reval.
\
1 Volck, Bibel als Kanon p. 7 : «Je mehr diese Augriffe in den Laien-
kreieen bekannt werden, um so mehr wird es Pflicht über den Zweifel hinüber-
luhtlfen.»
ÄoasojeHO uensypon. — Päse«, 18- ro +eBpaja 1887 r.
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Das Wesen der Heimat.
►•'iKVaV giebt Zauberworte in unserer Sprache, deren blosser Klang
£jS*£4; Vorstellungen in der Seele wachzurufen pflegt, welche auch
dem kalten und nüchternen Menschen das Blut erwärmen und dem
mit reicherem Empfindungsleben Bedachten momentan das Gemüth
mit einem Bilde ungetrübten Glückes erfüllen. Auch im späten
Alter wird es selten ohne Resonanz an der Seele des Hörers
vorüberziehen, wenn Worte, wie: Weihnachten, Jugendzeit, Wald,
Elternhaus, Vaterland die entsprechenden Begriffe und Gedanken-
verbindungen hervorrufen.
Es ist die eigentümliche Mischung einer edlen geistigen Vor-
stellung mit einem real-sinnlichen Bilde, welche bei allen den ge-
nannten Ausdrücken die Seele mit einer zugleich geistig befriedi-
genden und dabei doch farbenprächtigen Anschauung erfüllt, welche
uns über das blos sinnliche Behagen hinaushebt und doch der ge-
gebenen Vorstellung durch die Anknüpfung an concrete Gegen-
stände diejenige Dauer und dasjenige Detail der Ausmalung ver-
leiht, ohne welches eine wahrhafte Glücksempfindung in der Seele
nicht zu entstehen vermag. Man vergleiche den Eindruck, welchen
unstreitig würdige und sittliche Gedankenverbindungen, wie Tugend,
Sittlichkeit, Charakter u. a. in uns erzeugen, mit dem viel volleren
Widerhall, welchem der Ausdruck Elternhans, Weihnachten, Waldes-
stille in der Seele begegnet, und man wird sich des eigenthümlich
Bestrickenden der letzteren Vorstellungen voll bewusst werden. Hat
sich doch z. B. in unserer Literatur der Begriff der t Waldes-
einsamkeit» eine Zeit lang als mit das höchste irdische Glück in
B.ltUcbe MoMUackrift. Bd. XXXIV, Heft 3. 13
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188
Das Wesen der Heimat.
sich schliessend der Einbildungskraft der alten Romantiker be-
mächtigt gehabt, welche aus den zerreibenden und an den Nerven
zupfenden Berührungen der Welt und der Städte in die tiefste
Stille der Naturverborgenheit flüchteten und erst aufzuathmen ver-
mochten, wenn hinter dem Flüchtlinge die Eingangsbüsche des
Waldesdickichts zusammenschlugen. Musste doch das geistige
Haupt dieser in ihrer poetischen Kraft jetzt wol nicht genug ge-
schätzten Schule, Ludwig Tieck, in seiner berühmten Novelle
c Waldeinsamkeit > gegen die Uebertreibungen dieses krankhaften
Naturgefühls auftreten, um die Eremiten wieder an ihre Menschen-
pflicht zurückzutreiben.
Was ist denn der Zauber, welcher uns allen das Herz höher
schlagen lässt, wenn das Wort ertönt, welches das Thema dieser
Gedankenentwickelung ist und welches allerdings als Bezeichnung
eines ganzen Comp lexes der eben genannten Vorstellungen vor
allem geeignet erscheint, die beglückende Kraft dieser letzteren zu
illustriren ? Warum zieht es den Sohn der Berge trotz ihrer Armuth
1 mit immer gesteigerter Macht aus dem reichen Leben, aus dem
befriedigenden Familienglück, aus den tausend Banden jahrelanger
Gewöhnung zurück in die engen Tliäler und grausen Schluchten,
zu den wolkenbedeckten Kuppen und stürzenden Wassern der
längst verlassenen Heimat? Warum sehnt sich der Einwohner
der flachen unendlichen Ebenen Hollands oder der Mark aus der
reizendsten Landschaft Mitteleuropas, Italiens und der Schweiz in
das alte, scheinbar aller Naturschönheiten baare Land zurück, in
welchem er allein tausend Naturreize findet, die der Bewohner
schönerer Gegend nur mit mitleidigem Lächeln betrachtet? Es ist
die Heimat! das Heimatland! Dies eine Wort deckt alle
Mängel zu.
Aus zwei verschiedenen Seelenkräften zieht die Heimat ihre
bestrickende Macht, von welchen jede einzelne stark genug ist,
um die nimmer rastende Sehnsucht der Seele zeitweilig zu be-
friedigen und uns das zu gewähren, was wir beständig mit nervöser
Hast zu erreichen suchen : Ausfüllung der Gedanken. Diese Kräfte
sind : das Gemüt h und die Phantasie. Das Gemüth wird
durch die Anschauung alles dessen, was uns in früheren Jahren
lieb gewesen ist, alles dessen, was uns selbst erzogen uud unsere
Bedürfnisse geschaffen und ausgebildet hat, befriedigt und die
Phantasie gewährt der Vorstellung wahre Kraft und Dauerhaftig-
keit durch die vielen Bilder bestimmter erinuerungsvoller Oertlich-
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Das Wesen der Heimat
189
keiten, als deren höhere Zusammenfassung dann der Begriff Heimat
erscheint, und räumt zugleich mit ihrem verschönernden und reini-
genden Pinsel alle Schatten und Mistöne aus dem reichen Gemälde,
welches sie vor die Seele zaubert.
Wenn aber diese beiden Mächte allein im Stande sind, uns das
volle Glücks g e f ü h 1 des Heimatbegriffes zu gewähren, so sind sie
es doch nicht allein, welche diesen Begriff selbst geschaffen haben.
Sonst wäre auch die Heimat nur eine trügerische Fata Morgana,
gleich so manchem Gebilde, welches die lockende Phantasie dem
unbefriedigten und gequälten Gemüth unserer Jetztzeit vorgaukelt.
Steht es mit der Heimat am Ende ebenso, wie mit der vielge-
rühmten «guten alten Zeit> oder gar wie mit der «Freiheit, die
ich meine> ?
Wir werden also die Gemüthsvorstellung der Heimat zeit-
weise verlassen müssen, um mit der nüchternen Kritik den Begriff
derselben etwas näher zu untersuchen. Nur so kann sich zeigen,
was an ihm echtes Gold ist.
Das Wort « Heimat > kommt von «Heim» her und bezeichnet
daher etymologisch den Ort, wo wir unseren Herd errichtet haben,
wo wir «zu Hause» sind. Er würde sich hiernach mit dem Begriffe
des Wohnortes oder Wohnsitzes decken und hat sich im
Rechtsleben meist mit demselben gedeckt. Hier entsteht
aber sogleich die Frage : Was ist denn der Wohnort oder Wohn-
sitz? Ist jeder zeitweilig gewählte Aufenthaltsort, mag er sich
auch jahrelang erhalten, schon ein wirklicher Wohnort ?
Die Rechtswissenschaft antwortet auf diese Frage damit, dass
sie nur denjenigen Aufenthaltsort als einen wahren Wohnort des
Fragenden ansieht, an welchem zugleich der Mittelpunkt der bürger-
lichen und vermögensrechtlichen Geschäfte, sowie das Centrum des
Familienlebens desselben errichtet ist. Der Beamte, welcher von
seiner Obrigkeit auf Jahre an einen anderen Ort delegirt wird,
der Student, welcher fünfzehn bis zwanzig Semester, selbst durch
die Ferientage hindurch, das Pflaster der Musenstadt beglückt, sie
haben im rechtlichen Sinne ihren Wohnort, ihr Domicil, nicht an
dem Orte ihres Aufenthalts. Erst wenn sie ihr Hab' und Gut,
ihr Weib und Kind an den letzteren übertragen haben, zählen sie
zu den Bürgern desselben im weiteren Sinne und sind daselbst zu
Hause. Erst dann kann er ihre Heimat im civilrechtlichen Sinne
bilden. Im staatsrechtlichen Sinne bleibt das Land, resp. der Ort,
von welchem der Einwanderer hergekommen , so lange dessen
13*
*
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190
Das Wesen der Heimat.
Heimat, als die rechtlichen Bande, welche denselben mit dem
früheren Aufenthalt, resp. mit dessen Staate verknüpfen, nicht ge-
löst sind. Der Wohnort ist erst dann ein ausschliesslich be-
stimmender, wenn er das Centrum des ganzen öffentlichen und
Privatrechts des Wohnenden geworden ist.
Hier aber finden wir den Punkt, in welchem sich der recht-
liche Begriff der Heimat von dem allgemein üblichen scheidet, in
welchem das Gemüth seine Ansprüche geltend macht und wirklich
behauptet. Ist auch der wahre Wohnort dem Wohnenden sofort
eine Heimat ? Oder braucht er es überhaupt zu werden ? Der Ver-
bannte, welcher mit allem, was er hat, an Gut und an Liebe, in
die Einöden Sibiriens gezogen ist, was wird er auf die Frage
antworten: Wo ist deine Heimat? Wird er nicht mit trübem Auge
nach Westen weisen? Und auch derjenige, welcher, durch Beruf
und Kampf ums Dasein veranlasst, einen neuen Wohnort erwählt
hat, wird ihn schwerlich sofort als Heimat bezeichnen. Jahre
müssen vergehen, ehe sich eine liebgewordene aus der alten Heimat
stammende Gewöhnung nach der anderen von seiner Seele löst und
durch eine Anschauung des neuen Ortsgebietes ersetzt wird, welche
ihm anfangs zuwider, dann gleichgiltig, dann gewohnt und zuletzt
lieb wird. Es ist für jeden von besonderem Interesse, an sich
selbst zu beobachten, wie die eigene Stellung zu den Eigentüm-
lichkeiten des neuen Wohnorts sich ändert, wie er zwar oft noch
gewisse Seiten des letzteren den alten Einwohnern gegenüber tadelt
und angreift, neuen Zuzöglingen gegenüber aber zu entschuldigen
und zu verteidigen beginnt. Sobald der Neu-Einwohner sich be-
rufen fühlt, als Vertreter des Landes, seines neuen Herdes zu
fungiren, sobald er anfängt teilzunehmen an dem eigenthümlichen
inneren Leben und Weben desselben, erwirbt er das Verständnis
für die Ausgangspunkte des Denkens der alten Einwohner, welche,
den letzteren oft selbst unbewusst, in den Tiefen ihrer Seele ge-
schlummert haben , und tritt in den Process der Heimat-
Veränderung ein. Ihm selbst wird dieser Entwickelungsgang
meist im Stadium der Doppelheimat stecken bleiben, bis seine
eigene zweite Generation, die Kinder, unmerklich die Wagschale
auch bei ihm zu Gunsten ihrer einzigen Heimat hinunter-
drücken. Nur wer unter dem Druck zwingender Verhältnisse im
Falle der Vernichtung alles dessen, was die alte Heimat zur Heimat
gemacht hat, dieselbe fliehen muss, der ist im Stande, sich rascher
nicht blos ein Heim, sondern eine Heimat zu schaffen 1 Die
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Das Wesen der Heimat.
191
Refugies, welche nach dem Bruch der - ihnen beschworenen Rechte
Prankreichs Erde verliessen, um einen Boden zu suchen, auf welchem
sie ungestört Gott auf ihre Weise anbeten konnten ; der Dichter,
welcher nach der Zerstörung seiner Familie und seines Erbes
hinüberfloh vor den Schrecken der Revolution in ein neues fried-
liches Land — sie trugen auch ihre Heimat zusammen mit der
kärglichen geretteten Habe in das neue Land ihrer Wahl hinüber.
Und selbst in diesem Falle tönte in Stunden stiller Erinnerung die
Leier Chamissos zu Ehren des zerstörten altheimatlichen Schlosses
und des ctheuren Bodens», auf welchem dasselbe einst gestanden hatte.
Also das Heim braucht noch keine Heimat zu sein. Es
wird erst zu einer solchen, sobald man nicht mehr mit kummer-
voller Miene sagt: mein Haus steht leider dort und dort!
sondern sobald man sich in seinem Wohnort zu Hause fühlt,
man sich eins empfindet mit seinen Sorgen und Kämpfen, seinen
Freuden und Besonderheiten. Heimat ist somit derjenige Ort und
dasjenige Land, in welchem man sich zu Hause fühlt,
mögen sie als Wohnort und Wohnsitz auch aufgegeben sein. Erst
wenn das neue Heim den Einwanderer auch wirklich <anheimelt>,
wird es zu Heimat. Erst als Livland, wie der alte Chronist sagt,
ein cB 1 i v 1 a n d>, ein Bleibeland geworden war, wurde es das
Heimatland der Deutschen.
Welches sind nun aber die tieferen Gründe, die inneren Be-
dingungen, welche ein Land zur Heimat zu machen vermögen ?
Dieselben lassen sich nicht auf allgemeine objective Erfordernisse
zurückführen. Jedes Land, es mag noch so arm, so verkümmert,
so gedrückt wie möglich sein, kann dem Inwohner wahre Heimat
sein. Es ist bekannt, wie der Eskimo mitten unter den Genüssen
der Civilisation und des wärmeren Klimas sich nach dem Eise des
Nordens und dem Thranlämpchen seiner elenden Hütte zurück-
gesehnt hat.' Nur auf die Bedürfnisse und Existenzbedingungen
der Seele des Betrachtenden, nicht auf die Eigenheiten des ge-
wählten Ortes kommt es an, um dem Menschen eine Heimat zu
schaffen. Daher wechselt der Gebildete, dessen Erziehung ihn
über locale Gewöhnungen, über körperliche Bedürfnisse leichter
hin wegträgt, auch leichter die Heimat. Der Mann, welcher mehr
an seinem Berufe hängt, lebt sich leichter in ein neues Heim ein
als die Frau, die ihr Wirkungskreis weit mehr mit den Eigen-
tümlichkeiten des Ortes in Zusammenhang erhält. Das Kind
wechselt dagegen leichter die Heimat, weil es noch nicht in deren
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192
Das Wesen der Heimat.
Gewohnheiten drinsteckt, weil es sich noch nicht feste Existenz-
bedingungen für die Bedürfnisse seiner Seele geschaffen hat Je
starrer die Persönlichkeit, je schwerer der Heimatwechsel. Zur
Heimat selbst kann alles werden, was in Harmonie mit den An-
sprüchen der Seele treten kann, und die wahre Heimat, das Ideal
der Heimat liegt da, wo die Äusseren Bedingungen mit den inneren
Idealen völlig zusammenfallen.
Schon hieraus ersehen wir, dass wir Gäste auf Erden, hier
eine vollkommene Heimat nie finden werden, dass auch die wahre
irdische Heimat stets mit Mängeln behaftet sein wird. Wie haben
wir uns nun gegenüber diesen Mängeln zu verhalten? Zwei Seelen-
triebe werden uns stets veranlassen, leicht über dieselben hinweg-
zugehen, der Trieb, die Seinigen und alles, was zu denselben ge-
hört, zu vertreten, und die Kraft der Gewohnheit, also das in
jedem steckende Beharrungsvermögen, die Sehnsucht nach Ruhe
und Frieden. Die Mängel scheinen uns mit zu den Vorzügen zu
gehören, und allerdings machen erst Mängel eines abstracten Be-
griffs denselben zu einem concreten, realen, heben erst Schatten
die Lichter eines Gemäldes. Und so erscheinen die Fehler uns
oft nicht blos als geringfügig, ja sie werden uns als mit den corre-
spondirenden Vorzügen zusammengehörend lieb. Sie vervollständigen
die Realität des concreten Bildes, der festumgrenzten Individualität,
als welche uns die Heimatgegend, der Heimatort, die Heimatsitte
gegenübertritt und mit lächelnder Selbstverspottung, ja oft mit
etwas weichmüthiger Rührung sprechen wir von den heimatlichen
Fehlern im Sprachgebrauch, in der äusseren Lebensführung, in
den Sitten. Denn wir sind doch Kinder dieser Fehler, sie haften
uns selbst an uud wo uns in der Fremde dieselben entgegentreten,
da rufen sie in uns sofort das Gesammtbild der Heimat in die
Seele, in welcher die freundlichen und lieben Seiten die schwarzen
Punkte weit überwiegen.
Es ist nicht zu leugnen, dass aus dieser Kurzsichtigkeit
gegenüber den Mängeln des Vaterlandes ein achtungswerther Zug
spricht. Wie das Kind gegenüber den Eltern, übt der Eingeborene
gegenüber der Heimat die Pietät aus, welche aus dem Dankbarkeits-
gefühl gegen den theuren Boden entspringt, der ihn genährt und
in Freude und Leid getragen hat. Und darum sollte auch der
fremde Zuzügling, welcher mit den Gastesrechten auch die Gastes-
pflichten übernimmt, dieses Gefühl achten und schonen. Aber
wahre Dankbarkeit darf nie kritiklos werden und weiss nur dann
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Das Wesen der Heimat.
193
dem geliebten Gegenstande die wirklichen Pflichten des Dankes zu
erfüllen, wenn sie stets zu dessen Veredelung und Verbesserung
beiträgt. Um so mehr muss dies hier der Fall sein, wo es in
Wahrheit unsere eigenen Fehler sind, deren Zusammenfassung sich
als Heimatfehler darstellt, die Pflicht der Selbsterziehung also
auch die Arbeit an der Heimat nach sich zieht. Und was kann
lohnender und herzausfüllender sein, als das Bewusstsein, mit der
Förderung des geliebten Landes zugleich an dem Glücke und der
Besserung des eigenen Herdes, an der Hebung der Sitte und des
Charakters des eigenen Ich, der eigenen Kinder mitzuarbeiten. Es
bedarf dabei durchaus nicht — wie häufig behauptet wird — einer
politischen Stellung und Macht, um am Heimatlande zu arbeiten.
Ein jeder, der seine persönlichen Pflichten treu erfüllt, der in
seinem Berufe sich stets zugleich der Ehrenpflicht, seiner Heimat
keine Schande zu machen, bewusst ist, der treu seiner Familie
vorsteht, um die Nachkommen zu braven Bürgern des Landes und
der Stadt zu erziehen, ist ein wahrer Patriot, tausendmal mehr
als derjenige, welcher an der Spitze des ganzen Landes, der ganzen
Stadt steht und nicht blos deren Ehre, deren Sitte und Wesen,
sondern im tiefsten Grunde eigene Interessen allein vertritt.
Gerade der Kampf gegen die Mängel der Heimat führt uns
überhaupt auf das Gebiet der Gefahren, welche ein ausge-
bildeter Heimattrieb zu erzeugen vermag. Wie wir stets in Ver-
suchung stehen, gegen Mängel des Heimatlandes blind zu werden,
so wirkt überhaupt eine alles überwuchernde Heimatliebe ab-
stumpfend auf die Kritik und Moral. Wehe dem, in welchem die
Antipathie gegen das € Fremde > als solches die Freude an dem
Weiterkommen, an dem Besserwerden ertödtet, in welchem mit den
Pflichten der Gastfreundschaft auch das Gefühl der Gerechtigkeit
und die Sehnsucht nach dem wahrhaft Guten erlöschen und statt
dessen der Sinn des Spiessbürgers erwacht, welcher nur noch gegen
dasjenige ankämpft, was ihm nicht altbekannt, nicht gewohnt er-
scheint. In einer unserer kleinen Städte entschied vor einer ge-
raumen Reihe von Jahren der Bürgermeister alle Rechtsstreitig-
keiten nur nach dem Grundsatz, ob er den Rechtssuchendeu kannte
oder nicht. <Den kenne ich nicht, > sagte er misbilligend, wenn
eine neue Partei ihm vors Auge trat, und wies sie ab. Die
tiefsten Wurzeln einer derartigen Fremdenfeindschaft ruhen in der
Faulheit und Bequemlichkeit des Denkens, in dem Egoismus der
Seele. Es ist eins der grössten Verdienste wahrer Bildung, gegen
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194
Das Wesen der Heimat.
diesen Trieb stets die energischste Bekämpfung gerichtet zu haben.
Möge derselbe dem verdienten Spott verfallen, welchen unsere
satyrische Literatur stets gegen ihn geschleudert hat!
Mit diesem Fremdenhass und Spiessbttrgerthum geht dann
eine Verweichlichung des Gemüths und ein Nachlassen der morali-
schen Kraft Hand in Hand. Es ist — namentlich für leidenschaft-
liche Geister — nicht leicht, gegen einen bestehenden M brauch,
eine erkannte Sünde der Gesammtheit anzukämpfen, wenn man
nicht bald ein Ablassen von derselben, eine Besserung der Zustände
bemerken kann. Solche heissblütige Reformer gleichen den Kindern,
die täglich nach der Erbse gmben, welche sie gesteckt haben, um
zu sehen, ob sie bereits gewachsen ist. Erst Jahrhunderte ver-
mögen zu stürzen, was Jahrhunderte geschaffen haben, und wer
ruhig, freundlich und voll Verständnis sein unablässiges Bemühen
nicht aufgiebt, darf nicht daran verzweifeln, auch schon persönlich
die ersten Spuren des kommenden Morgenroths zu erblicken. Auch
hier ist es vor allem die Pflicht des Gebildeten, voranzugehen
und sich in Gedanken stets ausser seiner Heimat zu stellen, wenn .
er dieselbe beurtheilen, heben und wahrhaft lieben will.
Wir haben die Voraussetzungen, die Mängel und die Gefahren
des Heimatstriebes betrachtet, dabei aber verabsäumt, uns klar zu
werden, wie weit denn der Begriff der Heimat geht. Welches sind
die Grenzen der Heimat? Ist es schon die blaue Linie am
Horizont, die das Kind träumend ansah, wenn es zum ersten Male
aus dem Thore der Vaterstadt trat ? Ist es die Grenze des Staats,
zu welchem man gehört ? Dann wäre die Heimat eine in ihrem
Umfange stets wechselnde. Dann fehlte ihr die Einheitlichkeit der
Eigenschaften, dann wäre Sympathisches und Antipathisches, ja
ein Complex von Gegensätzen in ihr verbunden, welcher nicht im
Stande wäre, eine bestimmte Empfindung, geschweige denn wahre
Heimatliebe in uns zu erzeugen.
Wol ist es nicht leicht, die Grenzen eines Gebietes zu ziehen,
dessen Existenz vor allem durch das Gefühl bedingt wird. Aber
die Verschwommenheit der Grenze schädigt nicht das reale Vor-
handensein der Heimat. In Willibald Alexis' vortrefflichem märki-
schen Heimatroman cCabanis> liegt der Held in dem auch uns
Balten anheimelnden Heidekraut des Kiefernwaldes und sinnt über
denselben Begriff wie wir: «Was ist das Vaterland? was ist der
Zauber, der in dem Namen ruht ? Was berauscht der Klang, was
durchbebt er die Adern, was macht er dein Auge strahlen, schwellt
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»
Das Wesen der Heimat. 195
dir die Brust, wenn er in der Fremde dein Ohr trifft ? Die sich
nie sahen, deren Herzen nicht zu einander schlugen in der Heimat,
sind dort, wo man ihre Sprache nicht versteht, Brüder ; Feinde
fliegen sich in die Arme. Was ist das Vaterland ? — Die Scholle
Sand unter unseren Füssen ? Der Wind verweht sie. Die fette
Erdschicht, auf der die Weizenfelder unserer Vater wucherten?
Die Ueberschweinmuug spült sie ab, die Gräber deiner Väter werden
Staub ; ein Erdbeben, Städte begrabend, kann selbst Berge stürzen ;
ist der unfruchtbare aufgewühlte Kies, der todte Schlackenboden
noch dein Vaterland ? Sind es die rauschenden Wasser ? Sie gehen
alle ins Meer. Die Welle, in der du heut dich badest, spült
morgen an eine fremde Küste. — Die Lüfte über dir ? Die Wolken
segeln, dieselben Sterne blinken auf dich am Ural und am Fuss
der Alpen. — Die Geschlechter der Menschen ? Sind die es ? Sie
wachsen und welken. Das Gemüth findet überall ein Gemüth und
die nächsten Nachbarn wenden sich den Rücken. — Die eine
Sprache reden ? Die Bürgerkriege waren seit Anbeginn die grausam-
sten. — Was sind die Grenzen dieses Begriffs ? Das Dorf, wo du
geboren wurdest? Der District, der deine Mundart redet? Die
Grafschaft V Die Provinzen, welche Erbschaft, Tausch, Eroberung
an einen Fürsten gebracht, die nun ein künstliches Staatsband um-
schlingt ? Warum die Grenzen so eng gesteckt, warum Preussen,
warum nicht Deutschland ? Warum nicht Europa ? — Macht es
die Erinnerung an gemeinsame Gefahr, an grosse Thaten, Helden ?
Dann ist das beste Vaterland ein Heer kühner Abenteurer ohne
Wiege und Herd ; der Flibustier hat die schönste Heimat. Ists
der gemeinsame Vortheil, gemeinsame Bildung? — Dann suche
dein Vaterland in Bombay, am Strande der Themse, am Quai der
Seine. Ists das gemeinsame Blut, eine Abstammung? O, wie
zerfliegt dann jeder Staat, wie wären dann die Nächsten sich
fremd, die Entfremdeten Brüder ! — Ist das Vaterland nur ein
Phantom ? Freiheit, Liebe, Tugend, du siehst sie nicht, aber du
erklärst sie schulgerecht. Das Vaterland erklärst du nicht, aber
du fühlst es. — Deine Güter stürzest du ihm opfernd in den
bodenlosen Abgrund ; sein Name ist ein Trompetenstoss der Luft ;
tief ausholend, langschmetternd weckt er das Heiligste in dir, und
du stürzst dich selbst dafür in den Tod. Das ist doch etwas 1 —
— Es ist eine Zaubereiche mit Laub und Blüthen, die^aus Luft,
Wasser, Erde, aus Tönen und Klängen, Reden und Gedanken
Nahrung ziehen. Der Baum saugt ein Seufzer und Jubellaute der
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196
Das Wesen der Heimat.
blühenden und welkenden Geschlechter. Wenn dann der Sturm in
der Krone rauscht, tönen in der Aeolsharfe seiner Zweige die
Stimmen wieder von Jahrhunderten. Sein Laub ist ein festes Dach
gegen Regengüsse nud Sonnenbrand. Lagere dich unter ihm, freue
dich seiner Kühlung, des Schutzes, horch auf die tausend Stimmen
und Klänge, die alten Lieder in seinem Wipfel, aber wühle nicht
nach seineu unergründlichen Wurzeln. Er ist oben grün, sei zu-
frieden ! »
Nur wenn wir den wahren psychologischen Begriff der Heimat
verlassen und uns der blos juristischen Heimat und dem
Heimatrecht zuwenden, kommen wir zu festen Grenzen, setzen
uns aber dabei der Gefahr aus, den Begriff selbst zu verlieren.
Das alte Recht kannte sogar vielfach eine Zwangsheimat, deren
Verlassen nur unter bestimmten Bedingungen gestattet war; es
band an die Scholle Und zu seinen schwersten Strafen gehörte
zugleich das Ausschliessen aus der Heimat. Der Heimatlose, der
Auswanderer, der Geächtete, der herumziehende «fahrende» Spieler
und Sänger — sie alle waren dem Rechte nicht voll werthige
Menschen. Bis in die Neuzeit haben sich Bestimmungen erhalten,
welche den Auswanderer mit harten Vermögenssteuern belasten
oder wenigstens ins Ausland gehendes Vermögen nicht ohne Abzug
von dannen ziehen lassen. Erst der Gegner des Heimatstriebes
und seiner Auswüchse, der Kosmopolitismus, erkämpfte dem Fremden
im Namen der Freiheit des Verkehrs Freiheit der Bewegung, und
Staatsverträge haben wenigstens zwischen den Oulturstaaten die
Zurücksetzung der Fremden verwischt, nachdem schon im Mittel-
alter die Handelsstädte den fremden c Gästen» durch eigene Gast-
privilegien entgegengekommen waren.
Diesem Zuge gesunder Entwicklung, welcher den Zwangs-
schutz der Heimat abschaffte und ihre Vertretung dem wahrhaft
genügend vorhandenen Heimat g e f ü h 1 überliess, hat sich vielfach
in neuester Zeit eine Gegenströmung entgegengestellt, welche im
Namen der historischen und ethnographischen Zusammengehörigkeit
der einzelnen Nationen einen Cultus der Nationalität, eine Be-
vorrechtung derselben namentlich gegenüber kleineren oder ärmeren
Nationen des gleichen Landes durchzuführen begann und dadurch
einen Kampf der Völker unter einander und einen steten Zustand
von Unterdrückung und Verbitterung unter den Genossen desselben
Staats hervorgerufen hat. Dass Europa heute, wie der landläufige
Ausdruck sagt, von Waffen starrt, ist zum grossen Theil auf diese
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Das Wesen der Heimat.
Uebertreibung nicht des Heimat gefübls, sondern der Abstaramungs-
gemeinscliaft zurückzuführen, welche weder die ökonomische Wohl-
fahrt noch das Recht, weder die Sprache noch den Glauben der
Unterdrückten schont, wo es sich um Ausbreitung der alleinselig-
machenden Nation handelt. Nichts ist der Bildung einer wahren
Heimat so feindlich als diese Richtung, welche für den Unter-
drücker ebenso wie für den Unterdrückten alle Segnungen und
alles Wohlgefühl des Heimatlandes aufhebt.
Seine zügelloseste Steigerung hat dieser Nationalismus in der
allerdings zum Glück bisher nur in einem Falle vertretenen
Racentheorie gefunden, welche nicht einmal eine bestimmte histo-
risch verwachsene, staatlich organisirte und eine Sprache redende
Nation, wie etwa die Franzosen, die Engländer, die Deutschen,
die Russen, die Italiener zum Zielpunkt ihrer Bestrebungen macht,
sondern den blos durch physische Abstammung zusammenhängenden
weit roheren Verband der ganzen R a c e. Eine Ausbreitung dieses
Auswuchses der Nationalitätentheorie, welche sich zwar unter die
Flügel dieser letzteren stellt, würde dazu führen, die ganze culti-
virte Welt in drei grosse Heerlager, das der germanischen, der
romanischen und slavischen Race zu spalten und beispielsweise
Völker wie das nordamerikanische, das englische, das holländische,
das deutsche, das dänische, das norwegische und das schwedische
nöthigen, sich in einen cPangermanismus> zusammenzuthun.
Alle diese Auswüchse werden der wahren Heimat gegenüber
nur eine Wirkung üben, nämlich die Vernichtung des grössten
Zaubers derselben, des Heimat fr i e d e n s. Wo nicht Völker
aller Zungen und Anschauungen friedlich neben einander wohnen
könneu, da fehlt dem Orte eine der intensivsten Bedingungen des
Heimatglückes, die gegenseitige Liebe der Genossen des gleichen
Bodens. Und dies führt uns schliesslich auf die moralischen Be-
ziehungen zwischen den Heimatgenossen und der Heimat selbst,
auf die Ansprüche, welche ein jeder an sein Heimatland und
welche das Heimatland an jedes seiner Kinder erheben darf.
Damit das Land des Aufenthalts dem Einwohaer auch eine
Heimat bleibt, muss es uns vor allem die Möglichkeit der Existenz,
des Entfaltens unserer Persönlichkeit und unseres Wirkens, wenn
auch in noch so engen Schranken, gewähren. Es muss uns und
unseren heiligsten Anschauungen die Möglichkeit ihrer Bewahrung
— wenn auch in stetem Kampfe — geben. Es muss endlich auch
in seiner äusseren Gestaltung, in seiner Natur und seinen äusseren
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198
Das Wesen der Heimat.
Sitten und Gebräuchen mit unserem Herzen verwachsen und so
ein Heiligthum nicht nur unserer Phantasie, sondern unserer Seele
geworden sein.
Dann aber dürfen w i r nie vergessen, was wir dem Boden
schulden, der uns und vor uns schon unsere Väter genährt hat
und dem wir eines der besten Güter unseres Inneren verdanken,
den Zusammenhang mit der Vergangenheit, das historische Bewusst-
sein. Wir schulden ihm die Ehrenpflicht der Vertretung der
Heimat, nicht in ihren vergänglichen äusseren Eigenschaften, nicht
in jeder kleinen gleichmütigen Sitte, nicht in lange gehegten irrigen
Anschauungen und Vorurtheilen, sondern in den unvergänglichen
Bedingungen der Heimat, welche sie uns zur Heimat gemacht
haben, als dem Orte des Gedeihens unserer Seelenbedürfuisse, unserer
Grundüberzeugungen und berechtigten Charakterzüge. Wir schulden
die Treue gegenüber dem Boden, ausserhalb welches wir den
noth wendigen Zusammenhang mit den realen Mächten dieser Erde
einbüssen und — wie die tägliche Erfahrung an Auswanderern
zeigt — mit der Heimat auch den richtigen Blick und das warme
Herz für Menschen und Anschauungen verlieren oder wenigstens
schädigen.
Sollte dann einem treuen Sohne seiner Heimat die schwere
Stunde schlagen, dass die Heimat untergeht — sei es durch physische
Gewalt, wie einst Messene, Karthago, Jerusalem, sei es durch all-
mähliches Degeneriren, sei es durch allmähliche Zerstörung der
geistigen Existenzbedingungen, dann wird der treue Vertreter
seines Landes weit eher im Stande sein, die ungetrübte Harmonie
seiner Anschauung und seines Heimatgewissens sich zu bewahren
und seine Penaten an einen anderen Ort zu tragen, hoffend, sich
ein neues Heim und eine neue Heimat zu schaffen. Zwar kann
man, wie Danton mit Recht sagte, als man ihm zur Flucht vor
dem drohenden Schaffot rieth, «das Vaterland nicht an den Fuss«
sohlen mitnehmen >, wol aber die durch die Heimat gezeugten und
gereiften Anschauungen.
Bis dahin aber giebt jeder Blick auf das Heimatland jene
beseligenden Eindruck, den eine Zusammenfassung physischer und
psychischer Bedingungen unseres Wohlgefühls stets gewährt. Gleich
dem Riesen der alten Welt, verleiht seinem wahren Kinde jede
Berührung des theuren Bodens neue Kraft und neuen Muth.
* •
*
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Das Wesen der Heimat.
199
Es kommt bald unser kurzer Sommer wieder. Nicht zum
geringsten Tlieil ist es diese Sehnsucht nach dem Anschauen der
Heimat, welche den ermatteten Städter aus den Thoren und der
Strassen «quetschender Enge> hinaus in das freiere Land treibt, um
sie alle zu sehen, von denen ein baltischer Dichter singt:
«Burgen, Städte, die getragen
Geistes Licht in Nordens Nacht,
Fluren lachen, Wälder ragen,
Saaten stehn in voller Pracht,
Seen und Ströme rauschens laut :
Heimatland! so hehr ! so traut !»
C. E r d m a n n.
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•_
.•• . . . .
Unsere bemerkenswerthesten Singvögel.
I.
as treibt die gebildeten Stände immer und immer wieder
in bellen Schaaren zu den geöffneten Thüren eines
Concertsaales, eines Opernbauses hinein ? Was drängt die rohe,
fast bildungslose Bevölkerungsschicht in jene schwülen Locale, in
denen, um mit Busch zu reden, ein € harmonisches Getöse» das
eigene Wort vom Munde verdrängt ? Sehen wir ab von den kriti-
schen Geistern und den Gefallsüchtigen und den nach Zerstreuung
Haschenden, so wird die Annahme kaum irrren : der grösste Theil
des musiksuchenden Publikums ersehnt, sich selbst oft unbewusst,
ein Etwas, was meist nur zufällig angeflogen kommt, was von un.
berechenbar feinfädigen Umständen bedingt, was nicht durch den
Willen, durch kein specielles Verständnis und keine Vertiefung in
das Wesen der Composition hervorgelockt wird, sondern als reines
Gnadengeschenk der holden Muse sich erweist. Es ist das selige
t Sichselbstvergessen», die vollkommene Abstraction von allen täg-
lichen Plagen und Sorgen, von jeglicher Nichtigkeit nnd den geist-
lähmenden Plattheiten der menschlichen Existenz, mit einem Worte:
vom Elend des Lebens! Nur die beste Harmonie der allerbesten
Musik ist im Stande, wenn auch nur für ganz kurze Zeit, eigent-
lich nur momentan, das reine, traumhafte Empfinden einer sonst
auf Erden nimmer zu erhoffenden Seligkeit zu gewähren. Ein
zwar sinnlich bedingter, aber doch rein geistiger Rausch lässt uns
in solchen seltenen Augenblicken das Dasein voll- gemessen, ohne
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Unsere bemerkens Werthesten Singvögel. 201
beengendes Bewusstseiu unserer störenden Körperlichkeit. Also
das Haschen nach einem Augenblicke des < Glückes» drangt zumeist
das Publicum zum Anhören der Tonharmonien ; diese Verzückung
des musikempfänglichen Gemüthes ist es, wonach wir uns, ohne zu
reflectiren, sehnten ! Nur ein ganz verstörtes, allem Idealen ab-
holdes Gemüth oder eine von schwersten Gewissensbissen zernagte
Seele könnte sich völlig der erhebenden, beseligenden Wirkung
tadellos melodischer Musik verschliessen. Von den seltenen, be-
dauernswerthen Individuen, welche von Geburt an stumpf und
gleichgiltig jeder musikalischen Leistung gegenüberstehen, kann
hier als von Ausnahmen nicht die Rede sein.
Musik, von Menschen gemacht, befriedigt aber fast nie in er-
wünschter Weise das in breiter Individualität urtheilende, so un-
gleich befähigte, und daher so verschieden empfindende und ab-
weichend geniessende Publicum. Falls nicht gerade ein Rubin-
stein oder eine Lucca concertirte, so tadelt meist der eine, während
der andere lobt, so bemängelt der dritte wenigstens theilweise das
Gehörte, während ein vierter Specialitäten bis in den Himmel erhebt.
Der Mensch fühlt sich eben berufen, jede menschliche Leistung
nach Möglichkeit «durchzuhecheln», zu kritisiren ; der reine unge-
trübte Genuss kann von der bunten Menge nur dann empfunden
werden, wenn ungewöhnliche Grössen, die anzugreifen ein Verstoss
wäre, ein tcstimonium jmupertatis offenbaren würde, aufträten ; aber
wie selten geschieht das !
Wie anders und um wie vieles besser steht es da mit den
lieblichen, niemals heiseren Concertgebern im grünen Walde, den
tadellos singenden Vöglein, die ohne Entree, ohne nach Beifall zu
lechzen alljährlich im knospenden Lenz und täglich in der Saison
ihrer Liebe die allerschönsten, über jede Kritik erhabenen Leistungen
unermüdlich der ganzen Natur und Creatur zum Besten geben.
Kein fühlender, kein unverdorbener Mensch betrat je im wunder-
schönen Monat Mai zur rechten Tageszeit die grünlaubigen Matinee-
Hallen unserer herrlichen Wälder, ohne vollkommen befriedigt, er-
löst von der faden Alltagsstimmung, von kürzlich erlebten Aerger-
nissen, den Heimweg anzutreten. Jede Art Misstimmung los zu
werden, können wir getrost in den thauperlenden Morgen hinein
flüchten ; beseligendes Vergessen allen Ungemachs fanden wir stets
beim aufmerksamen Anhören des Jubelchors der nach Hunderten
zählenden Sänger. Wer Ohren hatte zu hören, dem schwoll das
Herz im Leibe, der fand bald die allerbeste Stimmung wieder,
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202 Unsere bemerkenswerthesten Singvögel.
wenn, wie der moderne, allbeliebte Baumbach so sinnig schreibt,
«der Chor vollstimmig das ewige Lied von der Waldschönheit
sang. Das klang so glockenrein und wunderbar, wie kaum der
Englein Gesang im Himmelssaal erschallen mag.» — Gestärkt,
erhoben, andächtig und fröhlich dankt der Zuhörer dem gütigen
Schöpfer für solch ein Gnadengeschenk, das aller Welt frei geboten
wurde, und stolz gedenkt er des Dichterwortes :
«Wen solche Lieder nicht erfreun,
Verdienet nicht ein Mensch zu sein.»
Die verschiedenartigen Hausthiere sind materiell gar nützliche
Geschöpfe, viele Thiere des Waldes, der Fluren und der Gewässer
dienen uns zur leiblichen Nahrung, einen wesentlichen Theil unserer
Bekleidung liefern grosse Säuger und manch winzig kleines Insect,
aber direct auf unser Gemüth und Seelenleben einzuwirken sind
allein die Singvögel durch ihre herrliche Begabung im Stande, sie
stehen daher uns geistig am nächsten. Sie sind wie sonst kein
Geschöpf unserer herzlichen Liebe würdig, verdienen daher unseren
vollsten Schutz, sollten uns stets «geheiligt» sein. Sie sind sogar
in gewisser Beziehung unsere Lehrmeister gewesen. Der grosse
Oken schrieb einst : < Was tönt, giebt seinen Geist kund. • Das
thun die lieben Singvögel in klarverständlichster Weise alljährlich.
Sie offenbaren in ihren Lobliedern nicht nur den grossen Geist,
der auch sie zum Leben, Singen und Lieben erschuf, sondern sie
geben auch ihr eigenes poesievolles, halb unbewusst fungirendes
Seelenleben kund und wirken dadurch direct auf unser Gemüth
ein. — Höret alle, die ihr Ohren habt zu hören, diesen Tönen,
den grossartigen Jubelchören zu ; vertiefet euch in die süssen,
reizvollen, silberklaren Strophen unserer besten Sänger. Den Geist
des Friedens, der Liebe, der da in allem webt und lebt, werdet
ihr dann bald verstehen, erfassen, schätzen lernen und nimmer
vergessen !
Wollen wir uns der näheren Betrachtung unserer Singvögel
zuwenden, so drängen sich uns vorher unwillkürlich einige sehr
naheliegende, nicht zn umgehende Fragen auf, als da sind :
Welche Vögel singen, wer ist Singvogel ?
Warum singen dieselbeu, welcher Trieb ist da?
Wodurch sind sie im Stande melodische Strophen vorzutragen ?
Wie und was singen sie?
Wann singen sie?
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Unsere bemerk.enswerthesteu Singvögel.
203
Ist der Gesang ihnen angeboren ?
und schliesslich noch :
Wie erhalten, wie vermehren wir uns diesen Gesang, welchen
Schutz könnten wir den Singvögeln ohne grosse Mühe angedeihen
lassen ?
I. Welche Vögel singen?
Wenngleich die Vögel allein unter all den Millionen Thier-
arten wirkliche Singstimmen, d. Ii. die Fähigkeit, ihre Laute «in
bestimmbaren musikalischen Intervallen erklingen zu lassen >, be-
sitzen, so versteht doch nur die Minderheit der Vogelarten diese
Kunst entsprechend auszuüben ; es sind allein die Singvögel dazu
befähigt. Raubvögel singen nicht. Auch den kleineren Vögeln
könnte man zurufen :
<Wo man singt, da lass dich nieder,
Böse Vögel haben keine Lieder!»
Unsere flotten Räuberlieder in so mancher Oper sind eigent-
lich unerlaubt. Räuber dürften als cböse Menschen» nimmer singen.
Die Bühne sollte nicht sittlich nivellirend wirken, sondern nur das
Gute und Schöne heben. Ein Räuberlied, von Meisterhand com-
ponirt und tadellos vorgetragen, idealisirt die ganze Räuberbande
und giebt ihr in den Augen der leicht erregbaren Jugend einen
Nimbus, den sie nimmer erhalten dürfte. — Doch zur Sache !
Wer ist Singvogel ? Linn6 rechnete eigentlich alle seine sperling-
artigen Vögel, Passeres, dazu, wälirend Johannes Müller diese
Majoritätsgruppe unter den Vögeln in Schreier und Sänger unter-
schied. Kein wirklich singender Vogel kann des Singmuskelapparates
entbehren, aber die Anwesenheit des letzteren bedingt nicht durch-
aus die schöne Eigenschaft des Gesanges, wie denn auch mehrere
Familien, die ihn besitzen, sich durch eine höchst unangenehme
kreischende Stimme auszeichnen. Unter den krähenartigen «Sing-
vögeln» (! ?) z. ß. besitzt bei uns eigentlich nur der Marquart, auch
Eichelhäher genannt, das Vermögen, originell sehr wenig, aber
andere Thierlaute nachahmend recht viel und gut singen zu können.
Ausserhalb der Gruppe der «berechtigten Singvögel» sind nur
wenige Vögel im Stande, Gesangesstrophen als Ausnahmen von der
Regel zu verlautbaren, wie z. B der Wellensittich, Melophittacus
undulatus, oder unter den Schwimmvögeln der schwarze Schwan
Australiens, der eine flötenartige Strophe, die an eine Aeolsharfe
erinnern soll, hervorzubringen zuweilen so liebenswürdig ist. Das
Sprichwort sagt : Den Vogel kennt man an den Federn. Für den
Btltiiclie Mon»t»fchrift. «d. XXXIV. Heft 8. 14
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204
Unsere bemerkenswerthesten Singvogel.
Specialbegriff Singvogel müsste es eigentlich heissen : «Den Vogel
kennt man am Gesang.» Dem ist auch gewiss so. Alle Vögel,
die da regelrecht singen, sind also Singvögel, und zwar männlichen
Geschlechts, aber nicht alle Singvögel singen. Da wir in diesen
Blättern nur unsere bemerkenswerthesten, also besten Singvögel
kennen lernen wollen, so werden wir uns verhältnismässig wenigen
Familien der beiden Singvögelordnungen zuzuwenden haben, d. h.
für uns sind Singvögel nur die kleineren Vögel : die I n s e c t e n-
f r e s s e r und die Samen tresser. Erstere zerfallen in casu
nur in Erdsänger, Grasmücken, Laubsänger, Rohrsänger. Pieper,
Lerchen, Fliegenschnäpper, Schwalben, Drosseln und Staare, letztere
in Finken und Ammern, da die übrigen Familien keine hervor-
ragenden Sänger aufzuweisen haben, also nicht in Betracht
kommen.
2. Warum singen die Vögel?
Könnte uns der also befragte Vogel selbst antworten, so
sagte er höchst wahrscheinlich :
den singe, weil ich doch singen muss,
Ich singe, weil ich nicht anders kann.»
Der Professor Dr. Altum sieht den Gesang des Vogels als
einen integrirenden, nothwendig zugehörigen Theil des Vogellebens
an, insbesondere des Fortpflanzungsgeschäftes. Das Singen sei
«ein berechnetes Moment in dem Kreise der Lebensäusserungen des
Vogels, ein unentbehrliches Glied der ganzen Kette, eine Natur-
und Lebensnothwendigkeit».
Gleich den Menschen haben die Singvögel einen regen, eigen-
thümlichen Sinn für die Harmonie der Töne. Während aber der-
selbe beim Menschen frei für alle und jede Harmonie und Melodie,
wo und wie dieselbe auch entstehen sollte, unbegrenzt empfänglich
erscheint, beschränkt sich derselbe beim Singvogel doch mehr oder
weniger auf eine nur ganz bestimmte Reihe von generell ange-
borenen Tonäusserungen, der artlichen Melodie oder Gesangesstrophe.
Das rein mechanische Erlernen und Nachpfeifen fremder Lieder in
der unnatürlichen Gefangenschaft beweist nichts dagegen, da der
Lehrling hierbei die falschesten Töne und wahrhaft grässliche
Dissonanzen erfahrungsmässig mit Ruhe und sichtlicher Befriedigung
nachsingt, ohne irgend welchen Anstoss beim erstmaligen Anhören
der Disharmonie zu nehmen. Der Zoolog Dr. Weinland schrieb in
Bezug hierauf vor 25 Jahren: «Mithin glauben wir, dass der Vogel
nur einen Sinn hat für die Schönheit und Richtigkeit seines
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Unsere bemerkenswertesten Singvögel. 205
Gesanges.» — Diese scharfsinnige Behauptung wird allerdings noch
bei freilebenden, gern «spottenden» Vögeln dadurch unterstützt,
dass dieselben beim zweifellosen Nachahmen fremder Strophen nie-
mals diese correct zu Ende führen, d. h. als abgeschlossene Melodie,
sondern dass sie solche immer nur als Bruchstücke zu acceptiren
und vorzutragen im Stande waren. Einzelne abgehorchte Laute
und sogar widrige Geräusche mischen die Spottvögel ohne jede
harmonische Reihenfolge im buntesten Sanggewirr durch einander.
Aus rein abstractem Wohlgefallen am Gesangesvortrage resp. aus
Kunstsinn singt der Vogel muthmasslich nicht, so aufmerksam er
auch zu lauschen scheint. Noch viel weniger hat jener originelle,
eine zu menschliche Auffassung verrathende Ausspruch eines
Universitätsprofessors, vom Katheder herab gethan, irgend welchen
Werth, dass nämlich «gefangene Vögel aus Langeweile (? sie!)
sängen». — Der geistreiche Philosoph Feuerbach, ein offenbar
schlechter Beobachter des Vogellebens, schrieb einst phantasiereich,
aber höchst unwahr :
«Nur an des Lebensquelles Fall
Da singt die süsse Nachtigall.
Zum Singen wird das Herz bewegt,
Wo eine letzte Stunde schlägt.»
Wer denkt da nicht unwillkürlich an die poesievolle, aber erlogene
Fabel vom Schwanengesang! Sollte nicht jeder Creatur, also auch
der «süssen Nachtigall», in der Todesstunde nichts so fern liegen,
als die Stimme zum Gesänge zu erheben ?
Das Hauptmotiv zum Singen ist für alle Vögel der Geschlechts-
trieb, die Liebe in allen ihren bald versteckten, bald offen erkenn-
baren Nttancen ; in zweiter Linie tritt auch noch als Grund das
allgemeine Wohlbefinden, die Lebenslust hinzu. — Auch der Natur-
mensch dürfte nur aus diesen beiden Motiven dem übervollen
Herzen durch Jodeln, Jauchzen und Singen Luft machen. Die
natürliche Eifersucht ist ein sehr starker Reiz für alle Vögel zu
erhöhter Gesangesthätigkeit. Zwei aus Eifersucht tobende Vogel-
männchen singen sich oft in überstürzender Kraft und wachsendem
Tempo so lange an, bis das Vorgetragene mehr einem verworrenen
Geschrei ähnelt, die Stimmen «überschnappen» und die Helden
von Worten zu scharfen Thaten übergehen, wobei nur noch
kreischende, schrille Kampfesfanfaren ertönen.
Ein hübsches Beispiel, wie ein verspätetes Liebesleben alle
Lust und Fähigkeit zum Singen sogar in sonst «stummer Saison»
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20C
Unsere bemerkenswerthesten Singvögel.
zu erwecken wusste, also zwingendes Motiv wurde, erzählt ein
«Vogel freund» mit folgenden Worten:
cEin Amselmännchen, das alle Jahre und, wie es scheint, mit
dem gleichen Weibchen am gleichen Platze nistete, hatte im Sommer
1860 mit seinem Weib drei Brüten vollbracht. Eines Tages fand
der Gärtner das Weibchen todt im Wege liegen ; woran sie ge-
storben, wusste er nicht. Der Gesang des Männchens hatte damals
schon aufgehört oder doch sehr nachgelassen. Aber nach einiger
Zeit bemerkte der Gärtner, der ein aufmerksamer Beobachter und
Kenner der Vögel ist, dass der Wittwer mit einer Tochter aus
einer der ersten diesjährigen Brüten in verliebtes Getändel sich
einliess. Bald waren Vater und Tochter sogar ein Paar, nisteten
und brüteten wieder in denselben Epheuranken, und während schon
längst alle Amseln in den Nachbargärten nach und nach verstummt
waren, sang der nun wieder glückliche Wittwer mit einer Lust
und Kraft, wie kaum im März und April, bis auch die vierte
Brut flügge war, vom 9. Juli bis 2. August.»
Schliesslich wäre noch anzuführen, dass sehr alte Männchen
der Singvögel, bei denen der Geschlechtstrieb in Abnahme ge-
kommen war und deren Jahre manche Verdauungsstörung, manches
Unbehagen mitgebracht hatten, das Singen gänzlich einstellten.
Also: ohne Liebe, ohne Behagen kein Gesang!
3. Womit singen die Vögel?
Vor ein paar Jahrzehnten hat der Dr. D. F. Weinland in
den Spalten eines Fachblattes eine so hübsche und anschauliche
Beschreibung des Singapparates der Vögel veröffentlicht, dass es
unrecht wäre, dem Leser der «Baltischen Monatsschrift» dieselbe
vorzuenthalten, d. h. ihm zur Beantwortung obiger Frage eine eigens
componirte Description statt jener ausgezeichneten vorzuführen. Der
genannte tüchtige Naturforscher schreibt hierüber wörtlich :
« Die Fähigkeit, jene Modulation der Stimme, die verschiedenen
Töne des Gesanges, hervorzubringen, hängt von einem etwas zu-
sammengesetzten Bau des Stimmorgans dieser Thiere ab, das bei den
Vögeln am unteren, nicht wie bei den Säugethieren und dem Menschen
am oberen Ende der Luftröhre liegt. Wie bei den letzteren, so kommt
auch in dem Kehlkopf der Vögel der Ton so zu Stande, dass die aus
den Lungen hervorströmende Luft mehrere quer in der Luftröhre aus-
gespannte halbmondförmige Häute (Stimmbänder genannt) in eine
zitternde Bewegung setzt; diese t heilt sich der Luft mit und die
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Unsere bemerkenswerthesten Singvögel.
207
Schwingungen der Luft vernimmt das Ohr als Töne. Je nachdem
nun jene Bänder mehr oder weniger angespannt sind, sind ganz
wie bei einer gespannten Saite ihre Schwingungen schneller oder
langsamer, also auch die Luftschwingungen, die dadurch hervor-
gebracht werden, schneller und kürzer oder langsamer und länger,
und so die Töne, die wir hören, höher oder tiefer. — Es kommt
also allein darauf an, dass das Thier jene Stimmbänder ganz in
seiner Gewalt hat, und zwar in der Art, dass es die Spannung
derselben aufs feinste nach seinem Willeu reguliren kann. Dies
geschieht nun durch Muskeln, die zwischen den Knorpelringen des
Kehlkopfs ausgespannt sind und von deren Spiel eine straffere oder
schlaffere Spannung der Stimmbänder abhängt. Je mehr nun
natürlich ein Vogel solcher Muskeln besitzt, um so mehr hat er
die Anspannung jener Häute in seiner Gewalt, um so freier kaun
er also den Ton moduliren, gesetzt, dass ihm auch Uebung genug
im Gebrauch jener Muskeln und die nöthige seelische Stimmung
eigen ist (denn nicht alle Nachtigallen haben dasselbe Temperameut
und nicht alle siugen gleich gut, wie ja auch nicht alle Menscheu,
obgleich sie alle gleich viele Stimmmuskeln haben ; sondern wie
unter diesen, so giebt es auch dort manche, die von Natur hätten
Sänger werden sollen und aus denen in der That Schreier geworden
sind) ; von solchen Muskeln [Herr Dr. Weinland hätte eigentlich
von Muskelpaaren erzählen sollen, da jede Stimmmuskel eigentlich
aus einem Paare besteht] nun finden wir bei der ganzen Familie
der Schreier unter den sperliugartigen Vögeln (wie auch noch bei
vielen anderen Familien der Vögel, so den Baien, den Reihern) nur
einen, bei den Sängern aber zwei bis fünf. Die Hühner, die Enten,
die Gänse haben gar keinen ; die Papageien drei, die Nachtigall
aber, der erste unter den Sängern, hat fünf; ebenso der Mönch
und noch andere Grasmücken. >
4. Wie singen die Singvögel?
Wunderbar originell und in ausgeprägt eigenthümlicher Weise
tragen die Vöglein ihre mannigfaltigen schönen Lieder vor. Nichts
Aehnliches existirt dem Vogelgesang vergleichbar, wenn man nicht
das Zwitschern kranker Hausmäuse etwas gewaltsam zu einem
wenig ehrenden Vergleich heranziehen wollte. Der Gesang der
echten Singvögel ist eine gänzlich isolirt dastehende, psychologisch
sehr merkwürdige Erscheinung in der Thierwelt. Das Liebes-
geflüster, Melodienpfeifen oder freie Singen des Menschen bei «aller-
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Unsere bemerkenswerthesten Singvögel.
geuiuthlichster» Stimmung mit den jeder Art Singvögeln eigenen,
melodischen Strophen in Vei gleich stellen zu wollen, dürfte doch
allzu gesucht, gewagt und sehr «hinkend» erscheinen. So mancher
dazu befähigte Mensch ist allerdings im Stande, auch ohne Instrument
mit Kehle, Mund und Lippen die Stimmen und sogar vollständige
Gesänge der Vögel täuschend nachzuahmen, aber das ist etwas
Apartes für sich, keine natürlich innewohnende Verlautbarung,
sondern nur ein Kunststück, das durch festen Willen eingeübt wurde.
Ein scherzhaftes Beispiel , wie ohne grosse Uebung auch
Knaben mit dem Munde die Vogelstimmen nachzuahmen verstanden,
mag hier Platz finden. Vor 35 Jahren beschlossen wir Quartaner
der Schmidtschen Pensionsanstalt zu Fellin einen allzu schwachen
Lehrer, in dessen Stunden nur geschwatzt, sogar getobt und der
Wissenschaft keinerlei Rechnung getragen wurde, gründlich zu
«foppen». Statt mit hellem Spectakel, wie sonst gewöhnlich, die
Stunde zu beginnen, sollten wir absolut stumm und regungslos da-
sitzen , bis die Uhr «Halb» schlagen würde; dann sollte der
nahende Frühling (am 10. März) durch getreues Nachahmen diverser
Vogelstimmen gefeiert werden. Viele Tage vorher fand die Rollen-
vertheilung und correcte Einübung der Stimmen statt. Der Birk-
hahn, die Waldschnepfe, Schlag wach tel, Kuckuck, Pirol, Staar,
Singdrossel, Lerche, Fink, Weidenzeisig &c. waren wirklich gut ver-
treten. Das Concert gelang vortrefflich, nachdem der arme Lehrer
währeud der stummen Periode, mißtrauisch und das Schlimmste
ahnend, voller Angst umhergeschlichen und uns beobachtet hatte.
Nun beschwor er uns händeringend, wieder menschliche Laute
äussern zu wollen, doch sehr vergeblich. Endlich trat der hoch-
verehrte Director, die Vogel- Voliere suchend, ein, um zu rügen
und strenge zu strafen. Aber nach Jahren hat er noch anerkannt,
dass der schamlos freche Vortrag der Vogelstim raen ein bis zur
Täuschung ausgezeichnet guter gewesen sei.
Die Frage, in welcher Tonart oder in welchen Tonarten die
Vögel singen, dürfte so bald noch nicht abgeschlossen werden. Sehr
auffallend ist aber die bisher noch unbestrittene Thatsache, dass
bei lautestem Jubelgesang und gellendem Liebesgeschrei vieler
hundert Vögel auch auf engem Terrain niemals eine Dissonanz,
ein störend falsch anklingender Accord wahrzunehmen war. Schleiden
schreibt in Bezug hierauf wörtlich also: «Nach den vorliegenden
Untersuchungen scheiut es, als ob der Gesang der meisten unserer
Vögel der G-moll-Tonart angehöre; wenigstens liegen alle mit
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Unsere bemerkenswerthesten Singvögel.
209
Sicherheit unterschiedenen Töne in dieser Scala. Bedenken wir,
dass der Gesang der verschiedenartigsten Vögel durch einander uns
im eingeschlossenen Räume zwar durch seinen Lärm unbequem
werden kann, aber niemals unser Ohr mit den widerlichen Disso-
nanzen berührt, welche das Zusammenklingen verschiedener Musik-
stücke sonst nothwendig hervorruft, so werden wir schon dadurch
auf die Annahme, als die unerlässliche Bedingung einer solchen
Harmonie, geführt, dass die Gesänge aller dieser Vögel aus einer
Tonart erklingen müssen. > Und weiter in Bezug hierauf: <\Venn,
wie sehr wahrscheinlich, die Vögel der Menschen Lehrmeister im
Gesänge waren, so erklärt sich uns daraus leicht das Vorherrschen
der Molltöne in aller ursprünglichen Volksmusik.»
Andere Forscher wollen aber auch andere Tonarten heraus-
gehört haben, so z. B. der Vogelfreund und tüchtige Kenner A. Rose,
welcher behauptet, bei Dompfaffen im Freien « Anklänge an Chopins
weltschmerzathmende Mazurka im düsteren B-moll (op. 24 Nr. 4)>
herausgehört zu haben. Uebrigens erklärt derselbe Ornitholog,
dass er es mit sehr wenigen Ausnahmen für ein vergebliches .Be-
mühen erachte, den Naturgesang der Vögel mit Hilfe einer Stimm-
gabel oder irgend eines musikalischen Instrumentes akustisch genau
zu bestimmen. — P. Th. A. Bruhin verlangt: tDer Gesaug des
Vogels soll in möglichst getreuer Nachahmung dargestellt werden,
und das kann nur durch musikalische Noten geschehen, » und führte
solches auch als Beleg bei Benutzung der Stimmgabel durch, wo-
bei er aber vier Tonarten für neuu Arten Vögel anzugeben sich
erlaubt hat. Der Professor Dr. J. Oppel hat über dieses Thema
eingehende Untersuchungen angestellt, sehr interessante Beob-
achtungen veröffentlicht und auch Noten über die Vogelgesänge
aufgesetzt, wobei er sich sogar bei Vorführung des Gesanges der-
selben Vogelart verschiedener Tonarten bediente, bei Angabe der
Zeit, der Oertlichkeit &c, was mindestens eine sehr auffallende
Sache zu sein scheint. Wer hat nun schliesslich Recht V
Die durchführbare Hauptsache beim Fixiren des Vogelgesanges
würde also einstweilen nur die genaue Feststellung der Inter-
valle sein, bei Angabe der Grenzen der Tonhöhe, das heisst
der Octaven, in denen sich die Melodie bewegt. Die eigentliche
Tonart scheint nach dem jetzigen Stande der Untersuchungen recht
schwer bestimmbar zu sein. Die Moll-Accorde dürften muthmass-
lich die vorherrschenden, nahezu alleinherrschenden sein ; hoffentlich
kommt in diese Frage auch bald volles Licht.
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210 Unsere bemerkenswerthesteu Singvögel.
Aber nicht nur die ihnen eigenthümlich augeboreuen Strophen
werden von den Vögeln gesungen. Viele ahmen recht geschickt
nach, werden Spottvögel nicht nur im Freileben, sondern noch mehr
in der engen Gefangenschaft, wo ihnen der Wille des sie besitzenden
Menschen durch stetiges Vorspielen und Vorpfeifen andere fremde
Melodien aufzwingt, sie quasi mechanisch zur «Spieluhr» macht.
Einzelne Singvogelindividuen lernen sogar im Vogelbauer
Worte so gut wie Papageien nachsprechen. So wurde z. B. vor
einigen Jahren durch eine Deputation der Berliner ornithologischen
Gesellschaft wissenschaftlich sicher festgestellt, dass ein Canarien-
vogel das Wort «Mama» deutlich ausgesprochen habe.
Manchen durchgehend einheitlichen Ton finden wir bei den
meisten kleineren Singvögeln als Ausdruck gleichen Empfindens.
So z. B. ist der Ton für Warnung bei nahender Gefahr bei sehr
vielen Insectenfressem und auch einigen Körnerfressern sich sehr
ähnlich, fast gleich. Die Vögel gebrauchen dabei vorwiegend einen
schrillen Laut, der als ein «hochliegendes» scharf gedehntes «Zieh»
zu bezeichnen sein dürfte. So z. B. erklingt beim Betreten eines mit
bunt gemischter Gesellschaft besetzten Vogelzimmers durch eine ge-
fürchtete Katze in nur artlich geringen Nüancen eiu meist a tempo
und allgemein hervorgestossenes : Zieh-Zihp. Wer kennt nicht aus
eigener Erfahrung diesen angstvoll kläglichen Ton bei der Sprosser-
Nachtigall und anderen Erdsängern !
Beim Orgelspiel wird zur Verstärkung des Vorgetragenen
zuweilen ein Register gezogen, welches eigentlich nicht zum Accord
passt und welches Mixtur heisst. Die durch die Mixtur mitlautenden
Töne hört man bei den Vollaccorden eines Chorals als selbständige
Klänge nicht durch, und doch sind sie vorhanden, füllen den Accord
und erfüllen brausend die Kirche mit grossem Effect. Umgekehrt
klingt bei massenhaftem Zusammensingen der Vögel auf einem
Platze etwas der Mixtur Aehnliches, aber nicht Gleiches mit, das
nicht direct erzeugt, aber doch gehört wird, und sehr wirkungsvoll
und erregend mittönt. Schon Schleiden machte seiner Zeit darauf
aufmerksam, dass in den grossen Symphonien unserer gefiederten
Waldbewohner bei hundertstimmigem Gesänge zuweilen Töne mit-
klängen, die keiner Kehle entsprangen, sondern «die, in der Luft
entstanden, sich consonirend gewissen anderen Tönen anschmiegen.
Man nennt sie die Tartinischen Töne, weil jener geniale Geigen-
spieler sie zuerst entdeckte». Sie sollen nicht nur das gesammte
Tongemälde verstärken, sondern verschmelzen auch namentlich die
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Unsere bemerken» werthesten Singvögel. 211
oft so sehr verschiedene Klangfarben angebenden Stimmen und Ge-
sänge zu einem Concert, das nicht unwesentlich- durch diese soge-
nannten Tartinischen Töne etwas ungemein Berauschendes, etwas
den Geist Bezauberndes und die Seele Berückendes gewonnen
haben dürfte.
5. Wann singen die Vögel?
Die schöne Zeit der Lieder währet, ach ! nur kurze Zeit. Es
ist leider die Minorität der baltischen Singvögel, welche uns durch-
schnittlich etwa den dritten Theil des Jahres hindurch in sehr au-
erkennenswerther Weise, und zwar im Frühling, voll und mit aller
Lust im April und Mai, spärlich beginnend im März und ermüdet
beschliessend im Juni, mit ihren munteren Stimmen erfreuen. Ein
grosser Theil musicirt kaum während drei Monate, sehr viele nur
ungefähr zwei Monate hindurch, ja etliche Arten machen sich so
crar» (wie sonst auch, sind unter diesen gerade die herrlichsten
Kräfte vertreten), dass sie sogar fleissig nur drei, einigermassen
bemerkbar etwa vier bis höchstens fünf Wochen singen. — Bei
ungewöhnlich früh eintretendem Lenz hört man ausnahmsweise auch
Lerchen, Staare &c. schon im Februar singen ; so z. B. Feldlerchen
1868 am 21. Februar, 1872 am 26. und 1882 sogar am 14. Februar.
— Zuweilen verspäten manche liebe Vögel ihren Schlusstermin
und singen noch bis Mitte Juli ab und zu einige Strophen, so z. B.
Feld- und Haidelerchen, Buchfinken, Zaunkönige, Siugdrosseln ; zu
bemerken ist hierbei, dass die spätesten Sänger zugleich auch die
frühesten waren.
Was nun die Tageszeit anbetrifft, so wäre der frühe Morgen
als regelrechte Hauptsangeszeit anzugeben, wenngleich der Abend
auch gern mit lebensvollen Stimmen gefeiert wird. Ein grosser
Theil der insectenfressenden Sänger sind auch echte Nachtsänger,
von denen einige sogar um Mitternacht nimmer schweigen und
nicht einmal für kurze Zeit ruhen.
Um Mittagszeit hört man Standvögel nur in der ersten
Frühlingszeit, der eigentlichen Begattungszeit, oder Durchzügler
singen ; namentlich wenn der Morgen stürmisch und regnerisch
verlief, holen viele emsige Singvögel dann zu Mittag das Ver-
säumte theil weise nach, aber, wie gesagt, nur in der ersten c Sturm-
und Drangperiode». Je länger die Singsaison dauerte, desto kürzer
werden die täglichen Singstunden bemessen.
Mit c nüchternem Magen» beginnt der Morgengesang, um nach
Sonnenaufgang behufs Nahrungssuche auf einige Zeit etwas nach-
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212 Unsere bemerkeuswerthesten Singvögel.
zulassen, worauf dann der gesättigte Vogel zwar auch noch recht
munter, aber doch nicht mehr so laut, so freudig und anhaltend,
wie nach dem Erwachen von der Nachtruhe, weiter zu musiciren
pflegt. Nach einem milden, warmen Frühlingsregen, wenn die
liebe Sonne wieder siegreich durch das Gewölk hervorbricht und
alles Lebende zur Bewegung und zur Liebe lockt, dann jubeln die
Singvögel oft in geradezu sinnebethörender Weise, so dass es schwer
hält, einzelne Stimmen zu unterscheiden, die mitsingenden Arten
genau festzustellen. In solchen, den Vogelfreund entzückenden
Momenten kann man noch am ehesten die oberwähnten cTartinischen
Töne» consoniren hören. — Nach beendetem Brutgeschäft und bei
Beginn der Hauptmauserungszeit verliert der männliche Vogel nach
und nach den Trieb und jegliche Lust zum Singen. Der Gesanges-
impuls verliert sich zuerst am Tage, dann auch des Abends, bis
schliesslich der unlustige Vogel nur noch des Morgens beim Er-
wachen einige Strophen mit halber Stimme, oft ohne Schluss oder
den Hauptschlag, wie eine wehmüthige Erinnerung an gewesene
frohe Festtage erklingen lässt. Im Herbst zur Zugzeit, an be-
sonders sonnigen schönen Tagen hört man zuweilen junge Vögel
verzagt und schüchtern ihr Talent versuchen, das noch heisere
Stimmchen probiren, leise Anklänge an spätere Vollmelodien vor-
tragen. Einige gefangene Vögel beginnen den Gesang verauchs-
und bruchstückweise schon im November, andere, zwar noch etwas
verschämt, im December, die meisten aber erst Ende Januar, um
im Februar recht tapfer zu schmettern, wenn sonst für ihr Behagen
nur genügend gesorgt wurde. — Es berührt deu Vogelbesitzer oft
«eigen», wenn er den stürmenden Schnee draussen umher wirbeln
und die Eisblumen am Fenster glitzern sieht und zugleich Gras-
mücken und Finken zarte Liebeslieder als Kündiger des Frühlings
singen hört.
Aber nicht nur bei vollen Sinnen, im Wachen singen die
Vögel, sondern sie sollen auch, wie vielfach verbürgt wurde, auch
zuweilen im Schlafe leise singen. Die Singvögel scheinen lebhaft,
wenn auch ihrem Charakter entsprechend friedlich, zu träumen,
namentlich in der erregten Zeit beginnender oder erat kürzlich er-
widerter Liebe. In ruhigen Nächten hört man ab und zu ge-
fangene, natürlich nur sehr gut eingewöhnte Vögel in sehr sanften,
schmelzenden Tönen bei sonst scheinbar festem Schlafe träumerisch
zart und sehnsuchtsvoll singen.
Eifersucht, nicht vollkommen befriedigter Geschlechtstrieb oder
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Unsere bemerkenswerthesten Singvögel. 213
versuchte Untreue des Gatten erhöhen den Gesangeseifer in nicht
geringem Grade, während ein solides, bereits einige Zeit dauerndes
Eheleben, sowie allgemeines Wohlbehagen, durch gute Sättigung
und wärmende Sonnenstrahlen erzeugt, einen nur gemässigt frohen,
aber sehr befriedigt. klingenden Gesang zu erwecken scheinen.
Dr. Hermann Müller erzählt, dass einer seiner Freunde einen
Zeisig besass, welcher in jedem beliebigen Augenblicke zum Singen
gezwungen werden konnte. Man brauchte ihn nur mit der um-
schliessenden Hand etwas zu drücken und konnte des Erfolges
sicher sein. cDer niedliche Schelm hat mich manchmal gedauert,
wenn er um dieser Eigenthümlichkeit willen die Tafelrunde machen
musste, um sein ganzes Liedchen mit dem Schlussrefraiu : dideldei
tähh zum Besten zu geben.» Sollte vielleicht durch den sanften
Druck der Hand ein gewisses wollüstiges Gefühl erregt worden
sein? Anders dürfte die erzählte Curiosität kaum zu erklären
sein; oder sollte wirklich hierzu eine mühsame Dressur angewandt
worden sein? Das hätte denn doch miterzählt werden müssen.
6. Ist der Gesang nur angeboren?
Seit ungefähr drei Decennien hat diese Frage viele deutschen
Ürnithologen mehr oder weniger «in Athem» erhalten: Hie Ver-
erbung, hie Nachahmung ! Die Wahrheit dürfte dieses Mal aber
nicht, wie meist bei Streitfragen, in der Mitte liegeu, sondern die
Wagschale, in* der die angeborene Fähigkeit, eine artlich bestimmte
Strophe oder Melodie eo ipso zu singen, befindlich wäre, würde
wahrscheinlich schwer beladen tief herabsinken, wenngleich die
andere als immerhin befrachtet nicht in die «äusserste Höhe»
schnellen könnte. Das Wesentliche, die Art Kennzeichnende beim
Gesang ist gewiss angeboren, und nur die rechte Feinheit des
Tempo, die stimmliche und rhythmische Vollentwickelung und der
tonreichere, beschliessende Hauptschlag des Meistersängers wird
abgehorcht, nachgeahmt und derart wirklich erst erlernt. Vielleicht
giebt es auch Genies in der Vogelwelt, die nach einer Zeit allge-
meinen Verfalles plötzlich erstehen, neuschöpferisch das .möglich
Beste als Mustersänger «von Gottes Gnaden» wieder vorzutragen
berufen wurden ? <
Zur höchsten Vollkommenheit des artlichen Gesangesvortrages
würde also nur der junge Vogel gelangen können, {welcher einen
mustergiltigen Vorsänger als Lehrmeister sowol in der Freiheit,
als im Zimmer zu hören bekäme. Die originell artunterscheidende
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Unsere bemerkeuswerthesten Singvogel.
Stimme und die Modulationsscala ist natürlich stets angeboren.
In der naturwidrigen, alle freie Entwicklung niederzwingenden
Gefangenschaft kann man allerdings im Abweichen vom angeboren
artlichen Gesänge Erstaunliches und zu Trugschlüssen Führendes
hören und constatiren. Der alte M. Bechsteiu Hess z. B. seine
Grünlinge den Finkenschlag und seine Hänflinge den Nachtigallen-
schlag erlernen. Eine Lerche des ürnithologen L. Lungershausen
«hatte vollständig den Canarienvogelsang erlernt. Die Stimme
blieb zitternd lerchenartig, allein die Melodie war bis aufs kleinste
Jota Canarienschlag». Aber Ausnahmen bilden nicht die Regel,
ganz besonders nicht, wenn durchaus unnatürliche Verhältnisse
alles Angeborene in Gefahr brachten, künstlich corrumpirt, entartet
und unkenntlich entstellt erscheinen zu lassen, d. h. verschwinden
zu machen. Uebrigens können Nachtigallen und Finken, überhaupt
alle diejenigen Vögel, welche einen, schlagartigen Gesang haben,
die Melodien anderer Vögel auch bei gänzlicher Absperrung in der
Jugendzeit, ehe sie Ihresgleichen hörten, mit fremdartlichem Vor-
sänger, doch nimmer nachahmen, sondern sie singen das ihnen art-
lich Eigentümliche, wenn auch bleibend stümperhaft.
In verschiedenen Zonen, im Flachlande oder Hochgebirge
herrscht bei manchen Singvogelarten wesentliche und andauernde
Nüancirung, sogar starke Abweichung des Gesanges. Eine überall
ganz gleiche Melodie scheint demnach nicht absolut allen Arten
angeboren, aufgezwängt zu sein, sondern die Gesangesstrophen
werden durch klimatische und vielleicht auch andere Einflüsse be-
einträchtigt und sind veränderbar. Der grosse Humboldt z. B. er-
kannte einst in dem cCapirote» der Einwohner Orotavas, den er
natürlich nur gehört und nicht gesehen hatte, keineswegs die be-
kannte Schwarzplatt-Grasmücke seiner Heimat wieder. Es kommeu
eben auch bei den Singvögeln gewisse Dialekte vor. — In der
Regel singt dieselbe Art im Süden besser als im Norden, im Ge-
birge fertiger als in der Tiefebene, auf Inseln, wahrscheinlich in
Folge der Inzucht und Anhörung der einen gewissen Familientypus
an sich tragenden Vorsänger, meist reiner als auf dem Festlande.
Erfahrung der Zimmerzüchter soll ferner sein, dass die jungen Vögel
der ersten Brut im Jahre nicht nur ungleich kräftiger sängen,
sondern auch befähigter erschienen Meistersänger zu werden, als
die Producte der späteren Brüten. Mehrere Forscher behaupten,
dass solches auch im Frei leben beobachtet und festgestellt sei,
indem Vögel der ersten Brut in Wohllaut und Vollendung des
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Unsere bemerkenswerthesten Singvögel.
215
Gesanges denjenigen der zweiten Brut bedeutend überlegen ge-
wesen wären.
Sogar ein theil weises Vergessen der Gesangeskunst, nament-
lich des Hauptschlages nach überstandener lange dauernder Mauser-
und Winterszeit, will man an mehreren Arten wahrgenommen haben.
Beim « Langerwerden > der Tage üben diese Singvögel gleichsam
die alten Erinnerungen an ihre Kunstfertigkeit erst allmählich
wieder ein, singen dabei anfangs oft geradezu falsch, wiederholen
aber unermüdlich die schwierige < Passage >, lassen den Hauptschlag
oder den schönsten Triller erst fort, bis endlich nach energischem
Ringen das Ganze complet und vollendet, wie in der vorjährigen
Saison, vorgetragen werden konnte.
Im grossen und ganzen scheint also auf Grundlage der seit-
herigen Beobachtungen die allgemeine artliche Sonderweise, Stimm-
lage und ein gewisser Rhythmus der Intervalle den Singvögeln
angeboren zu sein, nur die letzte Weihe des Vortrages, die voll-
kommene Meisterschaft muss nachgeahmt und angelernt werden.
Ohne Schule, ohne Lehrmeister bleiben isolirte junge Sänger nur
Stümper, denen oft der schönste Theil des Gesanges, den t erlösenden >
Schlussaccord zu producireu, versagt bleibt.
Wer jung gefangene Vögel zu guten Sängern ihrer Art heran-
bilden will, muss jedenfalls für alte, tadellose Vorsänger sorgen ;
dies bleibt eine conditio sine qua non.
7. Wie schützen wir unsere Singvögel?
Vor wem? — Vor ihren leider allzu zahlreichen fresslustigen,
gefühllos mordsüchtigen Feinden, die sich namentlich unter den
Säugern und Vögeln, in sehr geringer Anzahl, daher weniger
schadenbringend, auch noch unter Reptilien, Fischen &c. vorfinden.
Als die schlimmsten Vertilger unter den Sängern wären zu nennen :
1. Gattung homo sapiens, spec. romanus. Es ist eine wirk-
liche Schande für die Menschheit und eine klägliche Wahrheit, dass
keine Geschöpfe auf weitem Erdenrund mehr europäische und auch
unsere südwestlich fortziehenden Singvögel morden und massenhaft
verspeisen als die italienische und in zweiter Linie auch die fran-
zösische Race. Der Papst selbst lässt alljährlich viele Tausende
unserer schönsten und beliebtesten Sänger in seinem Vaticangarten
fangen und schiessen. Bei solchem Beispiel giebt es natürlich in
ganz Italien für unsere armen kleinen Zugvögel keinen einzigen
Zufluchtsort, keine einzige unentweihte Freistätte ! Wenngleich
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216 Unsere bemerkenswerthesten Singvögel.
*
der Preis für ein Plünd «Singvögel» durchschnittlich nur ca. 4 bis
höchstens 5 Kop. beträgt, so wird diese Freveljagd mit einer
Leidenschaft, Energie, Grausamkeit (Victor Hehn würde «Objecti-
vität» sagen) und einem kostspieligen Aufwand von Zeit und Ge-
duld bei Vorbereitungen und Ausübung derselben betrieben, die
bei einer weniger schändlichen Sache verzeihlicher erscheinen würden
und in andere Bahnen gelenkt würdiger wären. Bei Varenna am
Comersee werden im September und October täglich ca. 10000 kleine
Sänger gefangen und verspeist, was binnen dieser kurzen Saison
von zwei Monaten in Summa 600000 Stück ausmacht. In Udine
allein werden in der Hauptzeit bis 5000 Singvögel täglich ver-
kauft, nach demselben Berichterstatter in der ganzen Zugzeit minde-
stens eine Million ; der Gewährsmann erzählt, dass er eines Tages
allein an todten Zeisigen 896 Stück dort auf dem Markt gezählt
habe. Es kommen aber bei weitem nicht alle erlegten Vögel zu
Markt, sondern werden auch zahlreich von den Schandjägern zu
Hause uncontrolirbar verschlungen. Allüberall aber werden mit
grossen Netzen, mit Millionen Schlingen und diversen Schiess-
gewehren unzählbare Schaaren unserer beliebtesten Singvögel gefühl-
los gemordet, so dass die Totalsumme der vernichteten Sänger
für Italien auf sehr viele Milliarden sich belaufen muss. Das
nordische Herz blutet beim Anblick der zu Hunderten artlich auf-
gereihten Roth- und ßlaukehlchen, Grasmücken, Laubvögel, Pieper,
Lerchen, Zeisige, Finken, Schwalben und all den vielen anderen von
uns gehegten und so sehr geliebten Sängern in Wald, Busch und
Feld ! Im südlichen Frankreich gereicht der mit List vorbereitete
Massenmord der «Kleinen» mittelst Schiessgewehre namentlich den
Damen der sogenannten «besten Stände» (?) zum unsäglichen, uns
ganz unbegreiflichen Vergnügen. Während diese sich «weiblich»
nennenden Modewesen sonst bis zum hellen Mittag in den Betten
liegen zu bleiben pflegen, treibt sie die aufregende Mordlust in
der Zugzeit bereits vor dem «Grauen» des Morgens zum An-
stand hinaus.
Die leidige Cultur raubt auch ohne absichtliches Vernichten
seitens der Culturträger die besten Bedingungen zur Existenz der
durch Vertilgen der schädlichsten Insecten so sehr nützlichen und
daher zu hegenden Singvögel. Die stetige Erweiterung der Aecker,
die Durchforstung unserer Wälder, das Urbarmachen der Moore
und das Eingehen der mit diversem Gestrüpp besetzten Weide-
ländereien verengen alljährlich die Brutplätze. Sogar die Telegraphen-
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Unsere bemerkenswerthesten Singvögel.
217
drähte verursachen das Eingehen einer nicht geringen Anzahl
nächtlich ziehender Singvögel. So berichtet der Professor Dr. K.
Th. Liebe in Gera, dass bei der Ludwigsbahn an den 14 Drähten
der Leitung in einem Frühjahr allein auf der kurzen Strecke von
vier Kilometern sich über 500 Singvögel todtgeflogen oder wenig-
stens unheilbar zerschlagen hätten.
Die gedankenlose Rohheit der Dorfjugend und leider auch so
mancher Erwachsenen aus dem Volke gefährdet alljährlich die Ge-
lege und die hilflose Jungbrut der Vögel.
Das Anzünden der Rodungen, die nicht gewollten Waldbrände
zerstören viele hundert Familien ; sogar die Arbeit der Schnitter
vernichtet so manches Nest, so manchen Jungvogel.
2. Die Hauskatze, welche namentlich zur Zeit des Nest-
flüchtens in unglaublicher Weise die Reihen der Jungvögel lichtet ;
doch auch das ganze Jahr hindurch sind die alten Vögel stets be-
droht und werden mit Geschick beschlichen und geraubt. Nach
Angabe des Stuttgarter Vogelzüchters und Schriftstellers Friedrich
soll in Deutschland mehr als die Hälfte aller in menschlicher Nähe,
also die Gehöfte bewohnenden Singvögel unter den scharfen Klauen
der Hauskatzen verbluten. Das ist eine traurige, den Liebhaber
geradezu erschreckende und zum unversöhnlichsten Katzenhass auf-
reizende Behauptung. — 3. Der Fuchs stellt mit Energie nur dem
Genist und den nestflüchtig gewordenen Jungvögeln nach ; der alten
Singvögel kann er ausser den fest brütenden Weibchen nur gelegent-
lich und sehr ausnahmsweise habhaft werden. Seine feine Spürnase
macht ihn aber zu einem gefährlichen Räuber, der vieler kleiner
Singvögelein zur Stillung des Hungers und zur Pflege des grossen
Leibes bedarf ; namentlich verfolgt er die halbflüggen Drosseln. —
4. Marder, Iltis und Hermelin. Da ersterer noch sicherer und
gewandter zu Baum als auf dem Boden zu jagen und bis in die
dünnsten Zweigspitzen zu gelangen versteht, so richtet besonders
der Baummarder unter den Singvögeln arge Verheerungen an; er
lebt den April, Mai, Juni und Juli hindurch fast ausschliesslich
nur von Eiern und Jungvögeln. — 5. Eichhorn, Hasel- und Wald-
mäuse. Unser so zierlich und reizend graziös umherhüpfendes
Hörnchen ist in den oben genannten Monaten ein schädliches,
mörderisches Raubthier für alle Singvögel ; gleich dem Marder jagt
es zu Baum und auch zu ebener Erde. Mit bewunderungswürdiger
Kletterfähigkeit begabt, durchsucht es alle Baumhöhlen, alle Winkel
und jedes Gezweig nach Nestern und unfliiggen Vögeln ; dieser
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Unsere bemerkenswerthesten Singvögel.
gierigen c Ratte der Bäume > entgeht in ihrem Revier nur ein ge-
ringer Theil der vorhandenen Nester. Im Frühjahr erlegt, zeigt
der Mageninhalt nur zu deutlich die Art der Körperern ährung ;
ad oculos wird das räuberische Wesen demonstrirt. — 6. Weniger
gefährliche, aber gelegentlich immerhin recht verderbliche Thiere
sind noch der Haushund, der Dachs, das kleine Wiesel und ver-
schiedene Feldmäuse, wie auch der Igel, welcher Nestjunge als
Speise nicht verschmäht.
Unter den raubenden Vögeln sind als ganz besonders gefähr-
liche und unsere Lieblinge arg decirairende zu erwähnen : der
blitzschnelle Lerchenstösser, der kleine Merlinfalke, der niedrig
dahin fliegende Sperber, die diebische, nesterplündernde Elster und
der schmucke, so oft von Unkundigen als unschuldig erklärte, aber
in Wahrheit furchtbar schadenbringende Eichelhäher oder Marquart;
und in zweiter Linie als minder schädliche Räuber: der starke
Kolkrabe, die bedächtig am Boden suchende Nebelkrähe, der hinter-
listige Habicht, die Felder und Wiesen unsicher machenden Korn-
weihen, die verschiedenen Eulenarten und der rothrückige Würger,
welcher in unseren Gärten die noch blinden Jungen der Grasmücken
erbarmungslos zu überfallen und zu zerreissen pflegt. — Die giftige
Kreuzotter erhascht auch so manches an der Erde nach Nahrung
umhersuchende Vögelein oder die nach Aetzung zirpenden, unge-
lenken, nach oben blickenden, bewegungslosen Jungen der Haide-
lerchen, Rothkehlchen, Pieper, gelben Bachstelzen und Grasmücken,
welche erst kürzlich das schützende Nest verliessen und noch keine
Gefahren kennen lernten. — Stärkere Hechte und grosse Lachs-
forellen erschnappen mitunter die über das Wasser dahinstreichenden
Schwalben oder Rohrsänger, welche dem Wasserspiegel zu nahe
kamen. Sogar von den Stengeln des Schilfrohrs herab hat man in
verhältnismässig bedeutender Höhe Schwalben von springenden
Fischen erbeuten sehen. — Wir kennen zwar in unserem Norden
keine Vogelspinne, die im Stande wäre, kleine Vögel zu erwürgen,
aber Milben, Zecken und Wanzen setzen den Nestjungen oft der-
art zu, dass etliche abmagern und wirklich durch solch elendes
Ungeziefer zu Grunde gehen mussten.
Womit, wodurch können wir nun die nöthige Hilfe gegen die
genannten zahlreichen Feinde schaffen ? In Betreff der erwähnten
Massenmorde in Italien wären nur diplomatische Schritte oder ein
sehr starker internationaler moralischer Druck durch Wort und
Schrift von irgend welchem Erfolge. An den deutschen Reichstag
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Unsere bemerkenswerthesten Singvögel. 210
sind wiederholt diesbezügliche Anträge eingegangen. Es sollen
auch von Seiten der Reichsregierang Demarschen in dieser Richtung
stattgefunden haben, welche auch nicht ganz unberücksichtigt ge-
blieben zu sein scheinen. Einige beschränkende schrittliche Erlasse
in Betreff der Hegezeit, der Anwendung von grossen Netzen, über-
haupt der Jagdordnung sind allerdings seitens der italienischen
Staatsverwaltung ergangen. Das allgemeine Uebel wurzelt aber
zu tief im Volke, um bald Besserung erhoffen zu lassen. Die
Schiesslust und Fangwuth hat bei diesem heissbiütigen Stamme
geradezu krankhafte, scheinbar unheilbare Dimensionen angenommen ;
sie ist eine Volksleidenschaft geworden. Es wird daher gewiss
noch sehr, sehr lange währen, bis eine erhöhte Durchschnittsbildung,
eine Vertiefung der Religion, ein auch der Thierwelt gegenüber
erwachendes Gewissen den Vogelschutz im schönen Italien zur
Wirklichkeit erwecken wird. Uns Balten fällt hierbei naturgemäss
eine verzweifelt passive Rolle zu. Wir können die geschilderten
Zustände nur tief bedauern und für die Zukunft fromme Wünsche
hegen, oder in seltenem Falle vielleicht gelegentlich einem Italiener
den «Kopf waschen».
Anders steht es aber mit den theils gedankenlos thierischen
Instincten, theils bewussten Grausamkeitsgelüsten unserer grossen
und kleinen Kinder im Volke, welche mit empörender Brutalität
alljährlich zwecklos Nester zerstören und Jungbruten vernichten.
Hier kann und muss jeder einzelne von uns durch Belehrung und
Strafen helfend eintreten, namentlich alle Volkslehrer, die Prediger
und auch Männer der Polizei. Unsere bereits bestehenden Thier-
schutzvereine sollten an dieses beklagenswerthe Uebel energisch die
Hand legen. Zweigvereine zu speciellem Schutze unserer nütz-
lichen Vogel weit, und zur Ausrottung der Raubvögel müssten ge-
gründet und von der Regierung aus nicht nur «moralisch», sondern
auch thatkräftig untei-stützt werden. Die meisten Länder Europas,
in denen die germanische Race herrscht, aber namentlich Nord- und
Mitteldeutschland, sind mit einem dichten Netze von Vogelschutz-
vereinen überzogen, d. h. beglückt. Diese über alles Lob erhabenen,
idealen Verbindungen mehren sich erfreulicher Weise stets und
haben bereits unendlich und evident viel Gutes durch ihre nach-
ahmungswürdigen Bestrebungen erwirkt und befestigt. Unermüdlich
durch Schrift und Wort, durch Prämien und Anklagen arbeiten
dieselben an der Erhaltung und Vermehrung der Singvögel. Den
Kampf gegen das Raubzeug in «1er Thierwelt könnte jeder vogel-
Balti.che MoruL.rl.rin. Bd. XXXIV. lUft X 15
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Unsere bemerkenswerthesten Singvögel.
freundliche Gutsbesitzer ohne grosse Mühe sowol durch eigeue
directe Bethätigung, als noch wehr durch Anspornen der Forst-
warte, Gärtner und sonstiger Bediensteter erfolgreich aufnehmen.
Das rechte Wort und kleine Geldprämien regen oft wunderbar den
Eifer der Leute an.
Katzen, welche im Frühjahr und Sommer das Haus oft zu
verlassen und sich in Gärten, Feldern und Wäldern herumzutreiben
pflegen, sind als sehr schlimme Vogelräuber abzuschaffen und wo
man sie strolchend herrenlos antrifft, sofort erbarmunglos zu er-
schienen. An eine Besserung durch Dressur ist bekanntlich bei
Katzen nimmer zu denken ; sie sind zu tödten.
Der bei uns überall vogelfreie Fuchs wird ohnehin zu keiner
Jahreszeit geschont; für den hat das Wort «Pardon» keinen Sinn.
Wenngleich der «rothe Rock» sich bei uns auch einzubürgern be-
ginnt, so ahmen wir in der Fuchshegung einstweilen den Engländern
noch nicht nach.
Die beiden Marderarten sind bei uns so selten geworden, dass
der durch sie den Singvögeln beigebrachte Schaden nicht mehr in's
Gewicht fällt. Aber noch recht häufig sind in den baltischen
Landen die Iltisse und beide Wieselarten. Der sehr wünschens-
werthe Fang des Iltis und Hermelin liegt noch bei uns «im Argen».
Die systematische Ausrottung dieser nächtlichen Schleicher und
Stänkerer müsste rationell und um höherer Zwecke willen als die
geringe Fellverwerthung oder gewöhnliche Jagdlust mit einem ge-
wissen Hasse betrieben werden. In Bezug dieser besondere schäd-
lichen Räuber haben wir uns alle sehr bedeutender Unterlassungs-
sünden zu zeihen.
Wer den niedlichen, unsere Wälder und Gehege so anziehend
belebenden Eichhörnchen keinen Vernichtungskrieg ansagen will,
der sorge aber wenigstens dafür, dass in Gärten und Parks dieser
Raubmörder nicht zu zahlreich werde. Man schiesse jedenfalls
alle im April, Mai und Juni begegnenden Hörnchen herab. Pulver
und Blei machen sich durch Erhaltung resp. Zunahme der besten
Sänger sehr bald bezahlt.
Ferner sei ewiger und immer gleich unversöhnlich erbitterter
Krieg den Falken, Sperbern, Elstern und, wenigstens unbedingt
zur Zeit der Brutgeschäfte, auch dem sonst eine Zierde unserer
Wälder bildenden Eichelhäher oder Marquart erklärt Das Nisten
des Marquart in der Gegend unserer gewohnten Spaziergänge
* müsste ihm gänzlich verleidet werden. Vom März bis Juli sind
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Unsere bemerkenswerthesten Singvögel.
221
diese lebhaften Bajazzi des Waldes ausnahmslos zu erschiessen.
Die Wahl dürfte doch nicht schwer zwischen einem Pärchen dieses
Grossvogels und einer nach Hunderten zählenden Menge «Kinder»
unserer lieblichsten Singvögel sein! Der Marquart ist ein fress-
gieriger Vogel, der zur täglichen Sättigung mehrere Jungbruten
ersehnt. — Durch vielfaches Anbringen von artverschiedenen künst-
lichen Nestern und Nistkasten, durch Herrichtung diverser passender
Futterplätze und Hergabe des Futters in schlimmer Jahreszeit,
durch Erhalten alter, hohler Bäume, durch Anpflanzung sehr dichter
Dornhecken &c. &c. können wir ohne nennenswerthe Unkosten, ohne
allzu viel Mühe in hohem Grade die Erhaltung und stetige Ver-
mehrung der Singvögel zu Nutz und Freude fördern. Man muss
nur wirklich «wollen», das «Vollbringen» ist dieses Mal nicht so
schwer !
Als unsere vorzüglichsten Sänger in Wald, Feld und Busch
wollen wir nachstehende Singvögel zu näherer Betrachtung im
folgenden Hefte der Monatsschrift heranziehen :
A. Aus der Familie der Erdsänger :
1. Die Sprosser-Nachtigall. Sylvia phitomela.
2. Das Gartenrothschwänzchen. Sylvia phoeiricurus.
3. Das Rothkehlchen. Sylvia rubecula.
• 4. Das Blaukehlchen. Sylvia cyanecula.
5. Den Zaunkönig. Troglodytes parvulus.
B. Ans der Familie der Grasmücken :
6. Die Gartengrasmücke. Sylvia hortensis.
7. Das Schwarzplättchen. Sylvia atricapilla.
C. Aus der Familie der Laubvögel :
8. Den Gartenlaubvogel. Sylvia hypolais.
9. Den Fitissänger. Sylvia fitis.
10. Den Weidenzeisig. Sylvia rufa.
D. Aus der Familie der Drosseln :
11. Die Misteldrossel. Turdus viscivorus.
12. Die Amsel. 'Turdus merttla.
13. Die Singdrossel. Turdus musicus.
E. Aus der Familie der Rohrsänger:
14. Den Sumpfrohrsänger. Calamoherpe palustris.
F. Aus der Familie der Pieper:
15. Den Baumpieper. Anthus arboreus.
15*
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222 Unsere bemerkenswerthesten Singvögel.
G. Aus der Familie der Lerchen :
16. Die Feldlerche. Alauda arvcnsis.
17. Die Haidelerche. Alauda arborea.
" H. Aus der Familie der Staare :
18. Den gemeinen Staar. Sturnus vulgaris.
L Aus der Familie der Fliegenschnäpper :
19. Den schwarzrückigen Fliegenschnäpper. Muscicapa atricapilla.
K. Aus der Familie der Schwalben :
20. Die Rauchschwalbe. Hirundo ruslica.
L. Aus der Familie der Ammern :
21. Den Rohrammer. Emb&iza schoeniclus.
M. Aus der Familie der Finken :
22. Den Buchfink. Fringilla coelebs.
23. Den Stieglitz. Fringilla carduelis.
24. Den Zeisig. Fringilla sjnnus.
Oscar von L ö w i s.
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Beiträge zur Bevölkerungsstatistik Estlands.
chon früh, im Anfang der sechziger Jahre, hat man in
den Ostseeprovinzen damit begonnen, die Bevölkerungs-
verhältnisse unserer Heimat auf statistischem Wege zu erforschen,
eine Erscheinung, die wir zu einem nicht geringen Theil der an-
regenden Thätigkeit C. Schirrens verdanken. Erst seit dem Beginn
der sechziger Jahre kann von einer wissenschaftlichen Statistik,
speciell einer Bevölkerungsstatistik in den baltischen Provinzeu
gesprochen werden. Ich will hier nicht von der Administrativ-
statistik sprechen ; diese hat in erster Linie Verwaltungszwecken
zu dienen und kann sich daher mit den Bevölkerungsverhältnissen
meist nur so weit beschäftigen, als es die Bedürfnisse der Administra-
tion verlangen. Vielmehr habe ich die Privatstatistik und hier
wiederum unsere einheimischen biostatischen Arbeiten, die sich ein-
gehender mit den Geburten, Sterblichkeits- und Heiratsverhältnissen
einzelner Gebiete der Ostseeprovinzen befasst haben, im Auge.
Das Verdienst, zu derartigen biostatischen Studien in unserem
Lande angeregt zu haben, gebührt Prof. Dr. C. Schirren. Nach
seinem Plan sollten zunächst einzelne Theile unserer Provinzen einer
statistischen Erforschung unterworfen werden, um so allmählich
ein Material zu sammeln, das vielleicht nach Jahren die Möglich-
keit zur Bearbeitung einer einheitlichen Biostatik Li?-, Est- und
Kurlands geboten hätte. Zu diesem Zwecke war natürlich Einheit-
lichkeit in den Arbeiten erforderlich, wie sie in der Hauptsache
auch von allen Biostatikern beobachtet worden ist. Die erste der-
artige bevölkerungsstatistische Arbeit nun, die den Anspruch auf
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224 Beiträge zur Bevölkerungsstatistik Estlands.
Wissenschaftlichkeit erheben konnte, ist die unter Schirrena Leitung
von Felix Hübner verfasste « Biostatik der Stadt Dorpat und ihrer
Landgemeinde in den Jahren 1834—59». Dorpat 1861. Damit war
der Grundstein zu einer baltischen Biostatik gelegt, und schon
wenige Jahre darauf konnte Dr. Beruhard Körber seine < Biostatik
der im dörptschen Kreise belegenen Kirchspiele Ringen, Randen,
Nüggen und Kawelecht in den Jahren 1834—59». Dorpat 1864>
veröffentlichen. Nun folgt eine weitere auf Schirrens Veranlassung
geschriebene Biostatik, nämlich die von Ernst Kluge t Biostatik
der Stadt Reval und ihres Landkirchsprengels für die Jahre 1834
bis 1862». Reval 1867. Leider gelangte die Statistik der Ge-
storbenen in dieser Arbeit nicht zur Veröffentlichung, was um so
mehr zu bedauern ist, als die Klugesche Arbeit entschieden die
beste von den bisher erschienenen Biostatiken ist.
Nachdem Schirren Dorpat verlassen, trat ein längerer Still-
stand in den biostatischen Arbeiten ein, bis endlich im Anfang der
achtziger Jahre derartige Studien einen neuen Aufschwung nehmen.
Wie zuvor Schirren, so wirkt in unsereu Tagen Prof. Dr. Körber
anregend auf diesem Gebiete; er hat das Werk Schirrens fortzu-
führen begonnen, ihm verdanken wir eine ganze Reihe von Bio-
statiken, die unter seiner Leitung geschrieben wurden. Zunächst
erschien die Arbeit von Walter von Kieseritzky «Biostatik der im
Fellinschen Kreise gelegenen Kirchspiele Oberpahlen, Pillistfer und
Kl.-St. Johannis in den Jahren 1834—1880». Dorpat 1882. Dar-
auf folgte eine Fortsetzung der Hübnerschen Arbeit von Ottomar
Grosset «Biostatik der Stadt Dorpat und ihrer Landgemeinde in
den Jahren 1860—1881». Dorpat 1883. Grossets Schrift dürfte
wol die unbedeutendste sämmtlicher bisher erschienenen Biostatiken
sein. In demselben Jahre erschienen von Erich Oehrn «Biostatik
dreier Landkirchspiele Livlands in den Jahren 1834—1881». Dorpat
1883, und von Ewald Kaspar «Biostatik der Stadt Libau und ihrer
Landgemeinde in den Jahreu 1834-1882». Dorpat 1883. End-
lich wären noch die zuletzt veröffentlichten Arbeiten zu nennen,
einmal die von Peter Haller «Biostatik der Stadt Narva nebst
Vorstädten und Fabriken in den Jahren 1860—1885». Dorpat
1886, und dann die Fortsetzung der Körberschen Arbeit von Chr.
Törne «Biostatik der im dörptschen Kreise gelegenen Kirchspiele
Ringen, Randen, Nüggen und Kawelecht in den Jahren 1860 bis
1881». Dorpat 1886. Ausser den genannten Schriften sind auch
noch Arbeiten erschienen, die nur diesen oder jenen Theil einer
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Beiträge zur Bevölkerungsstatistik Estlands.
225
ßiostatik berücksichtigen und meist nur wenige Jahre umfassen.
Vielfach ist nun unseren Biostatiken — und selbst von fach-
männischer Seite — jeder wissenschaftliche Werth abgesprochen
worden, doch, wie ich glaube, mit Unrecht. Es muss allerdings
zugegeben werden, dass bei einem so wenig umfangreichen Material,
wie es die Biostatiker aus den Kirchenbüchern sammeln, auf Auf-
deckung neuer oder Bestätigung schon gefundener Gesetzmässig-
keiten in bevölkerungsstatistischer Hinsicht kaum zu rechnen ist ;
das ist aber auch nicht der Hauptzweck jener Arbeiten geweseu ;
sie sollten ja eben in der Hauptsache nur das Material zu einer
baltischen Biostatik sammeln, und in dieser Beziehung müssen wir
ihnen entschieden einen, wenn auch nur relativen, Werth für unsere
Wissenschaft zuschreiben.
Lässt sich nun auch allen unseren einheimischen Biostatikern
mit Recht der Vorwurf machen, dass ihre Untersuchungen ein zu
kleines Beobachtungsfeld umfassen, ein Misstand, der es vielleicht
nie gestattet hätte, jenen Plan Schirrens zu verwirklichen, so gilt
dieses durchaus nicht von einer Arbeit, die nicht unter der Be-
zeichnung < Biostatik > erschienen ist, im wesentlichen aber doch
denselben Gegenstand umfasst. Ich denke hier an die vorzügliche
Arbeit von N. Carlberg tDie Bewegung der Bevölkerung Livlands
in den Jahren 1873—1882» (« Balt. Mouatsschrift» XXXIII, l, 2, 3).
Auf die Vorzüge dieser Arbeit den bisherigen Biostatiken gegen-
über will ich hier nicht weiter eingehen, nur so viel sei kurz er-
wähnt, dass Carlberg, da er seine Beobachtung über ganz Livland
ausgedehnt, über ein bedeutendes Zahlenmaterial verfügt, das natür-
lich weit sicherere Schlüsse gestatten muss, als ein aus Kirchen-
büchern gesammeltes Material. Eine derartige, über ein grösseres
Gebiet sich erstreckende Arbeit ist aber natürlich nur dort möglich,
wo die erforderlichen Daten für eine Reihe von Jahren schon nach
bestimmten Gesichtspunkten gegliedert und geordnet vorhanden
sind, wie in unseren Provinzen in den Bureaux der statistischen
Comites.
Auch das zur vorstehenden Arbeit benutzte Material ist den
officiellen Acten eines solchen Bureau — des estläudischen — ent-
nommen«, und möchte ich hier einige Worte zur Kritik dieses
1 Es ist mir eine angenehme PHicht, dem Secretär dieses Bnreau Herrn
Jordan auch an dieser Stelle meinen Dank für die mir freundlichst gestattete
Benutzung des erwähnten Materiiils aussprechen zu diirfeu.
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226
Beiträge zur Bevölkerungsstatistik Estlands.
Materials hinzufügen. Das für die Jahre 1860—84 auf die Be-
völkerungsverhältnisse sich beziehende und im Comite gesammelte
Material besitzt nicht für den ganzen uns interessirenden Zeitraum
dieselbe Brauchbarkeit und Zuverlässigkeit und können wir bezüg-
lich desselben nach dem Vorgänge .Jordans1 drei Perioden unter-
scheiden. Die erste Periode reicht von 1860—1865 incl. ; in diesen
sechs Jahren wurde das Material direct von der Gouvernements-
regierung gesammelt und zwar in der Weise, dass die lutherischen
Prediger Auszüge aus den Kirchenbüchern dem Consistorium und
dieses wiederum die betreffenden Tabellen über die Geborenen, Ge-
trauten und Gestorbenen der Gouvemementsregierung vorstellte.
Ebenso gingen die Auszüge der griechischen Geistlichkeit durch
den Blagotschinny an die Gouvernementsregierung. Derselben
stellte auch der katholische Priester die Ergebnisse der Bevölkerungs-
bewegung in seiner Gemeinde vor, desgleichen die Polizeiverwaltung
bezüglich der Bewegung der jüdischen und die Militärverwaltung
bezüglich der muhamedanischen Bevölkerung. An Zuverlässigkeit
stehen nun die Tabellen der griechischen Geistlichkeit bedeutend
denen der lutherischen und wol auch denen des katholischen Priesters
nach, wie denn überhaupt das Zahlenmaterial aus dieser ersten
Periode nicht durchgängig zu biostatischen Arbeiten geeignet er-
scheint und zwar besonders durch die häutig mangelhafte Gliede-
rung der Tabellen. So werden in den ersten Jahren dieser Periode
die Todtgeboreuen nie getrennt augegeben ; in den späteren aller-
dings getrennt, aber zum Theil nur summarisch für die Stadt- und
Landgemeinden. Todtgeborene griechischer Confession fehlen für
diese Zeit überhaupt. Das Alter der Gestorbenen wird nur nach
Jahrfünfen angegeben, die Eheschliessungen auch nur summarisch
ohne Gliederung nach dem Oivilstande der Eheschliessenden ; die
Vertheilung der Geburten, Sterbefälle und Heiraten nach Monaten
fehlt gänzlich. Einige dieser Lücken Hessen sich allerdings durch
Benutzung anderer Acten beseitigen, wo dies jedoch nicht möglich
war, konnte ich meine Untersuchung erst mit dem Jahre 1866
beginnen. — Anders wird es nun in der zweiten Periode, nachdem
das statistische Gönnte" ins Leben getreten. Diese zweite Periode
umfasst neun Jahre (1866 — 74 incl.). In Folge einer Verfügung
des statistischen Centralcomite werden jetzt weiter gehende Gliede-
1 Jordan, ITehor die Kbi-srhlieHsnugcn in Estland im Verlauft' von 24 Jahren
(1854-1877 incl.). «Balt, Wochenwhr.i Nr. 18, 19, 20.
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Beiträge zur Bevölkerungsstatistik Estlands. 227
rungen vorgenommen, wie z. B. die nach Monaten, dann bei den
Eheschliessungen die Gliederung nach dem Civilstande und Alter
der Heiratenden. Die Tabellen der Gestorbenen gestatten jetzt
weitgehende Untersuchungen und eine genaue Berücksichtigung der
Kindersterblichkeit. Auch die Todtgeborenen werden getrennt nach
dem Legitimitätsverhältnis angegeben, wenigstens bei den Prote-
stanten. Die Sammlung der Daten geschieht in ähnlicher Weise
wie früher, nur dass die Auszüge aus den Kirchenbüchern in
Tabellenform von den Predigern direct dem Bureau zugestellt
werden. — Die dritte Periode beginnt 1875 und umfasst in unserer
Arbeit 10 Jahre. Das auf diese Periode bezügliche Material ist
ein vorzügliches, indem seit 1875 die officielle Statistik in unserer
Provinz allen Ansprüchen der Wissenschaft gerecht geworden ist.
Durch Beschluss des estländischen statistischen Comite war näm-
lich in dem genannten Jahre die Zählkartenmethode eingeführt,
wodurch es möglich wurde, die früheren Mängel zu beseitigen und
zugleich Daten zu sammeln, die von hohem wissenschaftlichen und
praktischen Werth sind. Auf einen Misstand muss ich jedoch
zum Schluss noch hinweisen. Die Berechnung einzelner Verhältnis-
Ziffern, wie z. B. der Geburtenfrequenz, der Sterblichkeitsziffer und
der Heiratsfrequenz, ist uns besonders für die ersten der von uns
zu betrachtenden Jahre durch die mangelhafte Kenntnis der Be-
völkerungszahl fast unmöglich gemacht. Ich habe allerdings nach
den Acten des Bureau die Einwohnerzahl, nach Confessionen ge-
ordnet , für sämmtliche Jahre festgestellt, jedoch können diese
Zahlen — und dieses gilt namentlich für die ersten Jahre — keinen
Anspruch auf Genauigkeit erheben, sie beruhen nämlich für die
Jahre 1800—66 auf den unzuverlässigen Angaben der Polizeiorgane
und können daher für unsere Zwecke durchaus keinen Werth haben.
Von 1867 -81 berechnete das statistische Bureau auf Grund der
früheren Angaben nach dem Zuwachs oder Ausfall für jedes Jahr
die Bevölkerungsgrösse, und haben wir es hier somit mit etwas
zuverlässigeren Daten zu thun. Eine genaue Kenutnis der Be-
völkerungszahl des gesammten Landes besitzen wir erst seit 1881,
indem am 29. December des genannten Jahres eine allgemeine Volks-
zählung vorgenommen wurde'. Für die einzelnen Städte und ein
' P. Jordan, Ergebnis der baltischeu Volkszählung. Reval 18b3— 86. -
Der», Die Resultate der estlKndiachen Volkszählung am 29. December 1881.
Reval 1886.
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228
Beiträge zur Bevölkerungsstatistik Estlands.
kleines Landgebiet haben wir auch schon aus früheren Jahren
sichere Daten über die Einwohnerzahl, indem hier schon früher
Zählungen stattfanden : so eine Volkszählung1 am 6. December
1866 auf den Gütern Johannishoff und Laakt im Kirchspiele
St. Jürgens in Harrien, am 3. November 1869 eine Zählung1 in
Wesenberg, am 16. November 1871 Volkszählungen' in fteval,
Hapsal und Weissenstein und am 6. December 1874 Volkszählungen«
in Wesenberg und Baltischport.
Die Geburten.
Die Geburtenfrequenz. In den Jahren 1860—84
sind in Estland überhaupt 292203 Kinder geboren und zwar 149452
Knaben und 142751 Mädchen. Von diesen entfallen nun auf die
Protestanten Griechen Katholiken Hebräer Muhamedaner
282429 8170 760 827 17.
Unter sämmtlichen Geborenen waren ehelich geboren 280636
und unehelich Geborene 11454. Auf dem Lande beträgt die Zahl
der Geborenen 256356, in den Städten dagegen 35847, und zwar
entfielen nach Kreisen und Städten geordnet auf
Todtgeboren wurden in den erwähnten 25 Jahren 7094 ;
Mehrgeburten gab es 3615 mit 7278 Geborenen». Die Bedeutung,
welche der grössere oder geringere Kinderreichthum einer Be-
1 Beitrüge zur Statistik des Gouvernements Estland. Erster Band. Reval
1867. S. 85-106.
• N. Dehio, Resultate der in der Kreisstadt Wesenberg am 3. November
1869 stattgefundeuen Volkszahlung. Reval 1867.
• Jordan, Die Resultate der Volkszählung der Stadt Reval am 16. Nov.
1871. Mit einem Anhange über die Zahlung in Hapsal und Weissenstein.
Reval 1874.
• Die Volkszählung in Wesenberg und Baltisehport, als Nachtrag zum
vorhergebenden AVerk. Reval 1874.
6 Wegen Raummangels bin ich leider gezwungen, auf eine Wiedergabe
der absoluten Zahlen meist zu verzichten und muss mich daher vorherrschend im
Folgenden auf die Verhältniszahlen beschränken. Wo nicht ausdrücklich das
Gegentheil bemerkt ist, sind die Todtgeborenen überall in den Ziffern mit einge-
rechnet ; ich kann es nicht richtig finden, wenn aus vielen Untersuchungen
unserer Biostatiken die Todtgeburten ausgeschlossen werden.
Harrien 68880
Wierland 86951
Jerwen 40134
die Wiek 60391
Reval 29536
Baltischport 606
Weseuberg 2643
Weissenstein 1349
Hapsal 1713.
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Beiträge zur Bevölkerungsstatistik Estlands. 229
Völkerungsgruppe für das gesammte Land sowol in socialer als
auch politischer Beziehung hat, muss dazu führen, Mittel aufzu-
decken, durch welche sich jener Kinderreichthum der Gesellschaft
messen Hesse. Ein solches Mittel finden wir einmal in der Fest-
stellung der Fruchtbarkeit der Ehen und dann in der Bestimmung
der Häufigkeit der Geburten — der Geburtenfrequenz. Unter der
ehelichen Fruchtbarkeit haben wir nun die durchschnittlich aus
jeder Ehe während ihrer ganzen Dauer hervorgegangene Kinderzahl
zu verstehen, während mit Geburtenfrequenz oder Geburtenziffer
das Verhältnis der jährlichen Geburtenzahl zur mittleren Bevölke-
rung des Jahres bezeichnet wird. Bei der Geburtenfrequenz werden
wir weiter eine allgemeine von der speciellen unterscheiden müssen:
die allgemeine Geburtenfrequenz giebt das Verhältnis der Geburten-
menge zur Gesammtbevölkerung an, die specielle dagegen erhalten
wir, wenn wir das Verhältnis der Geburtenzahl zur gebärfähigen
weiblichen Bevölkerung feststellen. Daraus ergiebt sich, dass in
beiden Fällen eine genaue Kenntnis der Bevölkerungszahl erforder-
lich ist. Diese besitzen wir, wie schon erwähnt, in der gewünschten
Genauigkeit nur für das Jahr 1881 ; wenn ich auch für einige der
früheren Jahre die Geburtenfrequenz berechnet habe, so können
diese Ziffern natürlich keinen Anspruch auf absolute Genauigkeit
erheben ; nichts desto weniger werden sie der Wahrheit ziemlich nahe
kommen. Wenden wir uns zunächst der allgemeinen Geburten-
frequenz zu, so beträgt dieselbe (auf 1000 Einwohner Geborene) ■
1867
1871
1876
1881
in Estland . .
36,»»
36,u
84,,,
3l„.
auf dem Lande
36,«3
36,ii
33,6i
31„»
in den Städten
32,i«
30,,.
43,oi
30,,,
Mit Ausnahme eines Jahres ist also die Geburtenfrequenz
auf dem Laude eine grössere als in den Städten, während in
unserer Nachbarprovinz 1 die ländliche Geburtenfrequenz von der
städtischen übertroffen wird. Sowol in den Städten wie auch auf
dem Lande lässt sich hier eine Abnahme der Geburtenfrequenz
constatiren ; dasselbe findet auch Carlberg» in Livland, das eine
ähnliche Geburtenziffer wie Estland aufweist. Vergleichen wir
Estland mit den europäischen Staaten, so ergiebt sich im Durch-
schnitt derselben eine gleich hohe Ziffer, indem sie nach Haushofer*
30,,» beträgt. Für Russland berechnet er die Geburtenfrequenz
- 1 Carlberg, a. a. O. S. 48. — 1 Der», a. a. 0. 8. 46.
• Hanshofer, Lehr- und Handbuch der Statistik. 2. Aufl. Wien 1882. S. 130.
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230 Beitrüge zur Bevölkerungsstatistik Estlands.
mit 49,! , Bracheiii1 sogar mit 50. Doch dürfte bei dieser Berechnung
die Bevölkerungszahl Russlands etwas zu niedrig veranschlagt sein,
was um so eher möglich ist, als wir keine genauen Angaben in
dieser Beziehung besitzen. Nehmen wir dagegen die Bevölkerung
Russlands nicht mit 75—80 Mill. - wie meist geschieht — sondern
mit 100 Mill an, so erhalten wir Ziffern, die der Wirklichkeit
entschieden näher kommen, und würde die Geburtenfrequenz in
diesem Falle z. ß. für das Jahr 1880 (3678071 Geburten)' 36,«
betragen, also bedeutend näher dem europäischen Durchschnitt
stehen. Während zur Ermittelung der allgemeinen Geburtenfrequenz
die Zahl der Gesammtbevölkerung genügt, müssen wir, um die
specielle Geburtenfrequenz berechnen zu können, die Zahl der
gebärfähigen weiblichen Bevölkerung kennen, was uns, da das Ver-
* hältnis dieser zur Gesammtbevölkerung kein constantes ist, nur für
die Jahre mit Volkszählungen möglich wird. Offenbar haben wir
dann auch einen exacteren Ausdruck gefunden, als ihn uns die all-
gemeine Geburten frequenz zu bieten vermag. Es muss sich nuu
die Frage aulwerfen, welche weiblichen Personen wir als zur gebär-
fähigen Bevölkerung gehörig anzusehen haben. Nach Maurice
Block» erstreckt sich die Gebärfähigkeit vom 17.— 50. Lebensjahre,
nach Mayr* vom 15.— 45., nach Rümelin» vom 18.— 40. Jahre. Ich
glaube für unsere Verhältnisse das 17. Jahr als Anfang der Gebär-
fähigkeit annehmen zu dürfen, denn wenn diese Fähigkeit auch
gewiss schon früher vorhanden ist, so werden doch hier nur ausnahms-
weise von jüngeren Müttern Kinder geboren. Das Aufhören der
Zeugungsfähigkeit des Weibes tritt nun nach Hyrtl« vor dem 50.
Jahre ein, und werde ich daher nicht fehlgreifen, wenn ich die im
Alter von 17—45 Jahren stehenden Frauen als zu den gebär-
fähigen gehörig betrachte, und zwar sowol bei Berechnung der ehe-
lichen als auch der unehelichen speciellen Geburtenfrequenz. Es
kamen nun im Jahre 1881 auf 1000 gebärfähige Frauen Geborene:
in Estland auf dem Lande in den Städten
I45,a. 146.9l) 136,,,.
' Brachem, Die Staaten Europas. 4. Aufl. Brünn 1884. S. 53.
» üothaer Almanacli. Jahrg. 1884. S. 918.
■ Handbuch der Statistik, deutsche Ausgabe von H. v. Scheel. Leipzig
1879. S. 257.
4 Die (SeHctzuiassigkeit im (JeHellschaftHlebeii. München 1877. S. 244.
* Die Bevolkerungslehre in Sehonhergs Handbuch der politischen Ökono-
mie. Tübingen 1882. Bd. I, S. 1218.
* Hyrtl, Lehrbuch der Anatomie des Menschen. 5. Aufl. Wien 1857. S. 570.
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Beiträge zur Bevölkerungsstatistik Estlands. 231
Wie hieraus ersichtlich, erreicht die Geburtenhäufigkeit auf
dem Lande eine bedeutendere Höhe als in den Städten. Ob hier
der Unterschied der Wohnorte oder der des Berufs diese Ver-
schiedenheit bewirkt, lässt sich nicht bestimmen und ist auch durch
anderweitige Untersuchungen nicht endgiltig festgestellt worden.
Wappäus» z. B. findet sowol Staaten mit höherer ländlicher, als
auch solche mit höherer städtischer Geburtenfrequenz, und scheint
sich somit das Verhältnis zwischen ländlicher und städtischer Ge-
burtenziffer unter keine Regel bringen zu lassen. Grosse Schwan-
kungen bezüglich dieser Ziffer ergeben sich für die einzelnen Kreise
nicht, wohl aber für die Städte, und lässt sich hier ein Anwachsen
der speciellen Geburten frequenz eonstatiren, indem diese Zahl in
Reval von 128, u im Jahre 1871 auf 135, 0t im Jahre 1881 und in
Wesenberg von 96,, i (1869) auf 162,79 (188 1 ) gestiegen ist.
Betrachten wir jetzt die specielle eheliche und uneheliche
Geburtenfrequenz getrennt, so finden wir, dass im .Fahre 1881 ge-
boren wurden auf 1000 gebärfähige
verheiratete Frauen : ledige Frauen :
Estland 257,3« ll,i8
Land 257,« 11 .,,
Stadt 257,., II*».
Wie überall, so ist also auch hier die uneheliche Geburten-
frequenz in den Städten grösser als auf dem Lande, wenngleich
der Unterschied kein bedeutender ist. Zugleich ergiebt sich aus
den angeführten Ziffern, dass bei steigender ehelicher Geburten-
frequenz die uneheliche fällt und umgekehrt, eine Erscheinung, die
sich auch bei den von Mayr» angeführten Ziffern beobachten lässt.
Suchen wir jetzt die etwaigen Ursachen für die verschiedenen
Geburtenziffern aufzudecken.
Vielfach ist die Behauptung ausgesprochen worden , dass
zwischen der Geburtenfrequenz eines Landes und seiner Heirats-
frequenz ein gewisser Zusammenhang stattfände. Einen ziffer-
mässigen Nachweis hat man jedoch für diese Behauptung, so viel
mir bekannt, nicht zu führen vermocht, wie denn auch die Ansichten
über das Wesen dieses Zusammenhanges sich zum Theil geradezu
widersprechen : während die einen behaupten, mit der Heirats-
frequenz steige auch die Geburten frequenz und umgekehrt, meinen
die anderen, die Geburtenfrequenz stehe im umgekehrten Verhältnis
1 Wappaus, All»?. KrvulkeruiiKrtHtrttistik, 18->9. Th. II. S. 481.
» a. a. 0, S 244.
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232
Beiträge zur Bevölkerungsstatistik Estlands.
zur Heiratsfrequenz. Für Estland lasst sich ein derartiger innerer
Zusammenhang keineswegs nachweisen, und verzichte ich auch aus
diesem Grunde auf die Anführung der betreffenden Ziffern. Wenn nun
auch die Heiratsfrequenz keinen directen Einfluss auf die Geburten-
häufigkeit ausübt, so werden wir doch gleich einen anderen mass-
gebenden Factor kennen lernen, der zum Theil in Verbindung mit
dem Heiratsalter Verschiedenheiten in der Geburtenzahl bewirken
kann ; es sind das confessionelle oder wol richtiger nationale Ein-
flüsse. Haushofer' sowol wie Rümelin» finden, dass sich die Völker-
schaften slavischen Ursprunges durch eine starke Geburtenziffer
auszeichnen, eine Behauptung, die auch durch unsere Ziffern be-
stätigt wird. Es betrug die allgemeine Geburtenfrequenz 1881
bei den
Lutheranern Griechen Katholiken Juden
Estland 3i,7, 20,„, 22,,» 44,,,
Land 31,7t 13,,, — —
Stadt Sl*i 26,,0 27,™ 45,»,.
Die stärkste Geburtenfrequenz zeigen demnach die Juden,
was mit den bisherigen Untersuchungen vollständig übereinstimmt;
darauf folgen die Lutheraner, d. h. Deutsche und Esten, dann die
Katholiken und endlich die Griechen. Die städtischen Griechen,
d. h. die Rassen, weisen, wie ersichtlich, eine bedeutend grössere
Ziffer auf als die ländlichen, die zum Theil Esten sind. Während
im Vorhergehenden die Behauptung ausgesprochen wurde, dass die
Slaven eine besonders starke Geburtenfrequenz besitzen, haben wir
hier gerade das Gegentheil gefunden, doch ist die niedrige Geburten-
zifler der Griechen eben nur eine scheinbare, die durch den starken
Männerüberschuss (actives Militär) unter den städtischen Russen
hervorgerufen wird. Wir werden daher zu ganz anderen Ergeb-
nissen gelangen, sobald wir die specielle Geburtenfrequenz für die
verschiedenen Nationalitäten berechnen.
Es kamen nämlich in Reval 1881 auf 1000
gebärfähige Ehe- nicht in d. Ehe lebende gebäifähige
frauen gebärfähige Frauen Frauen
bei den ehelich Geborene unehelich Geborene Geborene überh.
Lutheranern 247,», 6,,. 127.,*
Griechen 308,»« 47,0« 191,«
Katholiken 298,.» 12,„» 158,,,
Hebräern 308,,» 28,„ 232,«.
• a. a. O. S. 183. 1 a. a. 0. S. 1219.
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Beiträge zur Bevölkerungsstatistik Estlands 233
Hieraus geht deutlich hervor, dass die Fruchtbarkeit der
Slaven auch bei uns eine bedeutend grössere ist, als bei den anderen
Nationalitäten, und nur von der der Juden übertroffen wird. Welches
sind die Ursachen dieser Erscheinung? Von klimatischen Einflüssen,
von Einflüssen des wirtschaftlichen Berufs, des Wohnortes &c.
müssen wir absehen, da alles dieses dann auch die übrigen Nationa-
litäten in derselben Weise beeinflussen müsste. Dagegen ist der
Grund jener hohen Geburtenfrequenz bei den Slaven in der Sitte
des frühen Heiratens und der damit verbundenen starken Besetzung
gerade der fruchtbarsten Altersklassen der weiblichen Bevölkerung
zu suchen. Denn wie überall, so ist auch in Estland das mittlere
Heiratsalter der Russen ein niedrigeres als das der Lutheraner :
dasselbe gilt auch von den Juden und Katholiken. So kommen
1881 auf 1000 verheiratete Frauen solche im Alter bis zu 30
Jahren bei den eheliche Geburtenfrequenz
Protestanten 293,,. 247,«, .
Griechen 417,,. 308,..
Katholiken 436,,. 298,..
Juden 505,o. 308,i4.
Einen noch bedeutenderen Einfluss, als vielleicht confessionelle
oder nationale Eigentümlichkeiten, üben wirtschaftliche Verhält-
nisse auf die Geburtenfrequenz eines Landes, allerdings, wie ich
gleich hinzufügen will, meist nur indirect aus. Diesen Einfluss
ökonomischer Zustände erkannte schon Süssmilch, und weitere Unter-
suchungen konnten diese Behauptung nur bestätigen. Betrachten
wir die absolute Zahl der Geborenen während einer längeren
Periode, so sehen wir, dass sich diese Zahl nicht regellos von Jahr
zu Jahr verändert, wir finden im Gegenteil zeitliche Ueberein-
stimmungen, die uns — wie Mayr« treffend sagt — ahnen lassen,
dass hier die primitivste Form einer Gesetzmässigkeit in der Fort-
pflanzung der Menschen liegt. Bei gleichbleibenden Verhältnissen
werden die Schwankungen in den einzelnen Jahren nur geringe
sein ; zeigen sich aber grössere Schwankungen, dann können wir
diese meist auf Aenderungen in den ökonomischen Zuständen zurück-
führen. Diese wirtschaftlichen Verhältnisse beeinflussen, wie schon
gesagt, nicht immer direct die Höhe der Geburtenzahl, sondern oa
nur indirect, indem sie zunächst die grössere oder geringere Heirats-
frequenz, was auch Rümelin» betont, veranlassen, die dann ihrer.
' ». n. O. S.230. * a. n. < >. S. 131».
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234 Beiträge zur Bevölkerungsstatistik Estlands.
seits ein Sinken oder Steigen. der Geburtenfrequenz zur Folge hat.
Die günstige ökonomische Lage einer Bevölkerung gestattet einem
grösseren Theile derselben zur Ehe zu schreiten ; folgen auf gute
Jahre schlechte, so wird sich dieses sofort in einer sinkenden
Heiratsfrequenz äussern und umgekehrt und dementsprechend eine
Verminderung oder Vermehrung der Geburtenzahl bewirken. Aber
nicht blos durch eine Verminderung der Heiratszilfer wird die
Geburtenhäufigkeit nach wirtschaftlich ungünstigen Jahren zurück-
gehen, Zeiten der Noth rufen auch an sich schon eine Abnahme
der Kinderzeugung hervor.
Es fragt sich nun. welches die Typen solcher Ursachen sind,
die eine Zu- oder Abnahme der Eheschliessungen und etwa im
folgenden Jahre der Geburten bedingen und durch die sich die
jeweiligen wirtschaftlichen Zustände charakterisiren lassen. Einen
vorzüglichen Massstab bieten uns hier die Preise der wichti-
geren Nahrungsmittel , denn ihre Schwankungen weisen meist
auch auf Schwankungen im Wohlbefinden einer Bevölkerung hin.
Ich halte mich, wie Mayr1 , im Folgenden an die Preise
des Roggens, als des wichtigsten Nahrungsmittels eines grossen
Theiles der Bevölkerung. Die hier angeführten Roggenpreise
sind Durchschnittspreise, die ich zum grössten Theil den An-
gaben des Herrn Secretär Jordan verdanke. Für das Jahr 1879
habe ich die Durchschnittspreise nach den monatlichen Angaben
der revaler Börse» und für die Jahre 1880—1884 nach den
Angaben des statistischen Bureau des revaler Börsencomite» über
den Export berechnet. Die angeführten Preise dürften durchaus —
ausgenommen vielleicht das Jahr 1878, für welches ich keine
sicheren Angaben erhalten konnte — Anspruch auf Zuverlässigkeit
erheben. Im Folgenden führe ich in der einen Reihe die Preise
des Roggens in Kopeken pro Tschetwert an und in der nebenan-
stehenden Reihe die absolute Zahl der in Estland Geborenen,
jedoch so, dass neben dem Roggenpreise des einen Jahres stets
die Geburtenzahl des folgenden Jahres steht, denn, wie schon er-
wähnt, werden die Schwankungen in den Getreidepreisen ent-
sprechende Schwankungen in den Geburtenzahlen meist erst im
folgenden Jahre nach sich ziehen.
1 a. a. 0. S. 1219.
• "Revanche Zeitung». Jahrg. 187H.
* Beiträge zur Statistik <les Handel* von Keval und Balttafaport. Hig.
vom hanilelsstatist. Bureau lies revaler Borseiieoinite .lalirir. 1880— 84.
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Beiträge zur Bevölkerungsstatistik Estlands. 235
Kalenderjahr Preis pro Tsohetwert Roggen Absol. Zahl d. Geborenen Kalenderjahr
1859
543
1 99 1 3
lOOU
18G0
592
1 9 1 f 19
1ÖO 1
1861
L V/VJ L
703
11814.
Holt
1 8fi9
1862
» www
697
1 948<1
i - iOO
I8fl3
1 OUO
1863
628
1864
546
1 90'-t9
18fi^
1865
671
1 1 7 7 -'S
L JL 1 Iii
1 ooo
1866
757
1 1693
1CU 4
1867
857
101 7*»
IUI 4 cJ
1 8fl8
1868
1200
931 ''S
1 8fiQ
1869
1063
1 1047
1870
1870
740
11899
187 1
lO 4 l
1871
786
10917
1872
1872
755
11761
1873
1873
700
1 v/v/
12015
1874
1874
846
11843
1875
IO 4 O
1875
700
1 1977
187P»
lo 4 ü
1876
700
• UV
12087
1 877
IO 4 4
7ön
1878
809
11795
1879
1879
867
11259
1880
1880
1049
1 1698
1881
1881
1100
11871
1882
1882
900
11904
1883
1883
900
12073
1884
Mit weuigen Ausnahmen correspondiren steigende Roggen-
preise mit fallender Geburtenzahl, fallende Roggenpreise mit steigen-
der Geburtenzahl. Eine Ausnahme von der gefundenen Regel
machen die Jahre 1865, 1879, 1881 und 1882, auf die ich im
Folgenden speciell zurückkommen werde.
Nach Beendigung des Krimkrieges begann unser Land, das
nicht wenig in den Kriegsjahren zu leiden gehabt hatte, sich zu
erholen ; die Hoffnung auf Ruhe, auf geordnete Verhältnisse lasst
die Zahl der Eheschliessungen und somit auch der Geburten steigen,
wozu die bis zum Jahre 1864 meist guten Ernten nicht wenig bei-
trugen. Von 1863 auf 1864 fallen die Getreidepreise, zugleich
aber auch in den folgenden Jahren die Zahl der Geborenen, was
wol eine Wirkung der höheren Preise in den vorhergehenden Jahren
ist. Mit dem Jahre 1865 tritt ein Rückschlag ein, die Jahre
B»Ui«ch© Monat**ebrifl. Bd. XXXIV. H«ft I. 16
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23(3
Beiträge zur Bevölkerungsstatistik Estlands.
1805, 1866, 1867 und 1868 bilden eine schwere Zeit für unser
Land, es sind das Jahre der Misernten, des völligen Miswachses
und der Viehseuchen ; die Roggenpreise steigen, die Geburten ver-
mindern sich. Dazu kommt nun noch das «Tahr 1869 — in wirt-
schaftlicher Beziehung das schlimmste für Estland in der von uns
beobachteten Periode. Gefährliche Epidemien raubten dem Lande
einen grossen Theil seiner Bewohner, ja die Sterblichkeit war eine
so grosse, dass der Ueberschuss der Gestorbenen über die Ge-
borenen 5009 Individuen betrug. Natürlich musste durch den Tod
eines bedeutenden Theiles der gebärfähigen Bevölkerung eine starke
Abnahme der Geburten hervorgerufen werden, wozu noch der un-
gemein hohe Roggenpreis dieses Jahres wesentlich beitrug. Nun
folgen wieder bessere Jahre, Jahre mit besseren Ernten. Der Bau
und die Eröffnung der Baltischen Eisenbahn (1870) und die damit
verbundene Hebung von Handel und Verkehr, sowie die niedrigen
Getreidepreise rufen auch eine Vermehrung der Geburtenzahl her-
vor, bis gegen Ende der siebziger Jahre wieder ein Rückschlag ein-
tritt, der jedoch seit 1880 trotz der hohen Roggenpreise besseren
Verhältnissen Platz zu machen scheint. Kaum wird sich das auch
von den Jahren 1885 und 1886 sagen lassen, doch entziehen sich
diese Jahre hier unserer Betrachtung. Ausser dem Jahre 1865 —
von 1879 will ich nicht weiter sprechen, da der Durchschnittspreis
hier vielleicht ungenau ist — zeigten noch die Jahre 1881 und
1882 Ausnahmen von der gefundenen Regel. Das Jahr 1880 war
durch den totalen Miswachs ein entschieden kritisches für Russland ;
der Roggenexport 1 z. B. fiel von 12020222 Tschetwert im Jahre
1879 auf 5969987 Tschetwert (1880); 1881 nahm der Roggen-
export noch mehr ab und betrug er nach Matthaei» 4,,« Mill.
Tschetwert. Weniger als das übrige Russland hatte in diesen
beiden Jahren Estland zu leiden. Einmal waren hier die Ernten
besser als in den russischen Gouvernements, dann mögen hier aber
auch grössere Vorräthe aus früheren Jahren vorhanden gewesen
sein, während die im Inneren des Reiches 1880 eingetretenen Noth-
stände gerade auf den alle Vorräthe absorbirenden Roggenexport
des Jahres 1879 zurückgeführt werden. Waren daher auch in
unserer Provinz die Getreidepreise in Folge der starken Nachfrage
1 Xeumann-Spallart, Uebersichten der Weltwirtschaft. Jahrg. 1880. Stutt-
gart 1881. S. 80.
* Die wirtschaftlichen Hilfsquellen Kusslands. Dresden 1883-85. Bd. II,
S. 135.
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Beiträge zur Bevölkerungsstatistik Estlands. 237
recht hoch, so waren die hohen Preise doch keineswegs ein Zeichen
wirtschaftlichen Nothstandes und konnte daher eine, wenn auch
schwache, Steigerung der Geburtenzahl erfolgen, während, nach den
Getreidepreisen zu urtheilen, ein Fallen der Geburten zu erwarten
gewesen wäre. Wir sehen also, dass diese wenigen Jahre, von
denen wir eben gesprochen, nur eine scheinbare Ausnahme bilden,
da ihre Abweichungen durch andere, wie es scheint, wirksamere
Factoren veranlasst werden. Zu ähnlichen Resultaten bezüglich
des Einflusses der Getreidepreise gelangen auch Kieseritzky1 und
zum Theil auch Haller1 in ihren Biostatiken.
Wenden wir uns einer neuen Betrachtung zu, der Vertheilung
der Geburten nach Monaten. Natürlich werden wir vom Monat
der Geburt meist absehen und anstatt dessen von dem der Con-
ception ausgehen müssen, wobei sich dann bald ergeben wird, dass
sowol physische als auch sociale Momeirte, Klima, sowie Ein- .
richtungen und Gewohnheiten ein Steigen der Geburtenziffer in
einem und ein Fallen derselben im anderen Monat bewirken können.
Dass diese physischen Ursachen im Thierleben eine fast ausschliess-
liche Geltung besitzen, ist eine längst beobachtete und bekannte
Thatsache, die den Forscher veranlassen musste, zu ermitteln, ob
auch die menschliche Gesellschaft solchen herrschenden Factoren
unterworfen sei. Nach den Arbeiten von Wargentin, Villerm6,
Quetelet, Wappäus, Sormani und anderen ist der Einfluss der
Jahreszeiten auf die Häufigkeit der Geburten als erwiesen zu be-
trachten, und zwar erkannte man, dass zu den in der Thierwelt
wirkenden physischen Factoren im menschlichen Gesellschaftsleben
noch eiu anderer hinzukommt, ein Factor rein socialer Natur. Dar-
aus geht auch hervor, dass jener das Thierleben beherrschende
Factor nicht auch dieselbe Gesetzmässigkeit im Menschenleben
hervorrufen kann, weil eben seine Wirkung hier vielfach durch
sociale Ursachen abgeschwächt oder ganz verdrängt wird. Bevor
ich dazu übergehe , die Gesetzmässigkeiten der erwähnten Er-
scheinungen auch für unsere Provinz nachzuweisen, möchte ich
kurz die Resultate anführen, zu denen Wappäus\ der seine Unter-
suchungen auf eine Reihe von Staaten ausdehnte, gelangt ist.
Wappäus findet im Durchschnitt der europäischen Staaten in jedem
Jahre ein zweimaliges Steigen und Fallen der Geburtenziffer, und
zwar fällt das erste Maximum nach ihm auf den Februar und
• a. a. 0. S. L>2 ff » a.a. 0. S. M fl. " a. a. 0. S. 2.JI ff.
16*
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238 Beiträge zur Bevölkerungsstatistik Estlands.
März, das zweite auf den September; die entsprechenden Conceptions-
monate wären also für das erste Maximum Mai und Juni, für das
zweite der December. Für das erste Maximum sind die Ursachen
nach ihm in der Natur, für das zweite dagegen in der Gesellschaft
zu suchen. Sormani* berücksichtigt bei seiner Untersuchung zu-
gleich auch die geographische Lage der einzelnen Länder und con-
statirt, dass, je südlicher diese Lage sei, um so näher zum Jahres-
anfang das Frühlingsmaximum der Empfängnisse, je nördlicher, um
so näher zum December das Herbstmaximum der Conceptionen falle.
Was nun Estland betrifft, so sei zunächst erwähnt, dass die
angeführten Zahlen sich auf die Jahre 18(30 — 84 beziehen, weil
in den früheren Jahren eine Gliederung der Geburten nach Monaten
in den officiellen Acten nicht stattfindet. Bei 42 Kindern der
griechischen Gemeinden fehlt die Angabe des Geburtsmonats und
. bleiben sie daher unberücksichtigt. Im Anschluss an ähuliche sich
auf die Ostseeprovinzen beziehende Arbeiten habe ich im Folgenden
eine Reduction der Monate auf 30 Tage vorgenommen. Es ent-
fallen nun Geburten :
auf den Monat
in E.st]an<l
auf (1. Lande
in d. Städten
Conceptiousinonat
Januar
20948,,,
18309,.,
2639,,,,
April
Februar
20275,,,
17756,,»
2518,,,
Mai
März
19128,3.
16738,0.
2390,,,
Juni
April
16325,,,
14152,00
2173,oo
Juli
Mai
15292,,,
13184,»,
2107,,,
August
Juni
15976,00
13810,oo
2166,oo
September
Juli
1(3315,,.
14042„0
2272,,,
October
August
16614,,,
14433,,,
2177,,,
November
September
19012,00
16617,o0
2395,oo
December
October
18841,.,
15971„o
2370)0o
Januar
November
18353,0.
15964„o
2389„o
Februar
December
18900,,.
16648,o.
2252,,0
März
im Durchschnitt
17956,,,
15635,c
2320,,,.
Zunächst ergiebt sich, dass auch hier deutlich zwei Maxima
der Conceptionen hervortreten ; das erste, das absolute, das Früh-
jahrsmaximum, fällt auf den April, das zweite, das Herbstmaximum,
auf den December — eine Erscheinung, die von den Beobachtungen
Wappäus' abweicht, die aber die Untersuchungen Sonnanis bestätigt.
Estland hat eine nördliche Lage — das Frülijahrsmaximum nähert
1 Cit. bei Mayr a. a. ü. S. 241.
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Beiträge zur Bevölkerungsstatistik Estlands. 239
sich dem Jahresanfang, das Herbst maximum fällt sogar mit dem
letzten Monat des «Jahres zusammen.
Wollen wir eine Erklärung für die Abweichungen vom Durch-
schnitt geben, so werden wir zunächst sagen können, dass das
erste Maximum der Empfängnisse — das Aprilmaximum — durch
physische Ursachen bedingt wird. Mit dem Erwachen der Natur
im März scheint auch das geschlechtliche Zusammenleben ein regeres
zu werden, wie dieses sich ganz besonders bei der ländlichen Be-
völkerung zeigt, während bei der städtischen eine Vermehrung der
Conceptionen schon im Februar beginnt. Dieses geschlechtliche
Zusammenleben erreicht sowol auf dem Lande, als auch in den
Städten seinen Höhepunkt im April, woraus deutlich die Einwirkung
der Natur hervorgeht. Dieser natürliche Factor würde auch noch
im Mai seine Wirksamkeit äussern, wenn er nicht durch einen
anderen, socialen, sich verdrängen lassen raüsste : die Conceptionen
vermindern sich, weil in Folge der beginnenden Feld- und Saat-
arbeiten der geschlechtliche Verkehr mehr zurücktritt. Auf die
Saatbestellung, die bis in den Juni hineinreicht, folgt die Heuzeit,
die Erntezeit überhaupt, die den Landmann den Sommer hindurch
beschäftigt und besonders im August seine ganze Thätigkeit in
Anspruch nimmt. Dem entsprechend sehen wir auch ein regel-
mässiges Fallen der Geburtenzahl, bis sie im August ihren minimal-
sten Stand erreicht hat. Vielleicht offenbart sich in diesem Fallen
auch der Einfluss der erschlaffenden Sommerhitze. Befremden muss
es uns, dass sich auch bei der städtischen Bevölkerung dieselbe
Regelmässigkeit offenbart. Doch dürfte sich dieses zum Theil woi
daraus erklären, dass bei der städtischen Bevölkerung vielfach im
Sommer eine Trennung der Familien stattfindet, indem ein Theil
der arbeitenden Klassen im Sommer aufs Land geht, um sich dort
einen Erwerb zu suchen. Dass die angeführten Ursachen aus-
schliesslich und direct jenes Fallen und Sinken der Geburtenzahl
bewirken, soll durchaus nicht behauptet werden, häufig werden sie
nur indirect — und dieses gilt besonders von den socialen Factoren
— jene Wirkung äussern, wie sich auch aus Folgendem ergeben
dürfte. Das Frühjahrsmaximum der Eheschliessungen fällt in
unserer Provinz — wenigstens auf dem Lande — in den März, was
wol weniger auf das «Erwachen der Natur>, als vielmehr auf das
Streben der Landbewohner zurückzuführen wäre, noch vor Beginn
der ländlichen Arbeiten zu heiraten ; dieses Maximum der Heiraten
wird natürlich eine Zunahme der Empfängnisse im März und April
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240 Beiträge zur Bevölkerungsstatistik Estlands.
zur Folge haben. Es bewirkt also neben der früher angegebenen
physischen Ursache auch eine sociale — die grössere Heirats-
frequenz — das Frühjahrsmaximum der Conceptionen. Vom März
nimmt die Zahl der Eheschliessungen, durch jene früher erwähnten
socialen Ursachen bewirkt, ab, um im August ihren niedrigsten
Stand zu erreichen ; dieser Abnahme der Heiraten entsprechend
vermindert sich auch, wie wir sahen, die Zahl der Conceptionen
constant bis in den August Es wirken hier also sowol die socialen
Factoren direct, als auch indirect — durch Verminderung der
Eheschliessungen — auf die Empfängnisse und Geburtenhäufigkeit
ein und scheint mir die Behauptung Kluges«, dass der Heiratsfrequenz
kein derartiger Einfluss zukomme, durchaus unhaltbar. Mit dem
September beginnt nun für den Landmann meist ein ruhigeres und
bequemeres Leben , die Ernten sind glücklich eingebracht , die
schwersten Arbeiten überstanden, die Nahrung wird eine bessere,
die Heiratszift'er wächst und dem entsprechend nimmt die Zahl der
Conceptionen zu, bis das Decembermaximum erreicht ist. lu den
Städten zeigt sich allerdings im November eine Abnahme der Con-
ceptionen, was sich daraus erklären lässt, dass in diesem Monat
in den Städten im Gegensatz zum Lande eine Abnahme der Ehe-
schliessungen stattfindet.
Dieses Decembermaximum wird nun durch ausschliesslich
sociale Ursachen hervorgerufen, und zwar dürfte es wol in erster
Linie die hohe Zahl der Eheschliessungen sein, die auf den December
fällt und mithin ein Anschwellen der Conceptionszitfer veranlasst.
Auf dem Lande fällt allerdings das Wintermaximura der Heiraten
in den December, nicht aber in den Städten, wo dieses Maximum
schon dem October angehört ; wenn daher auch auf dem Lande das
Steigen der Heiratszift'er ein Steigen der Conceptionen hervorruft,
so müssen wir doch noch einen anderen Factor suchen., der auf
dem Lande neben dem erwähnten, in der Stadt aber ausschliesslich
wirkt. Eine solche rein sociale Ursache liegt in dem regeren
gesellschaftlichen Leben des Winters, der Zeit der Feste in den
Städten. Auf dem Lande möchte ich aber diesen «Festen» — wie
es vielfach geschieht — nur eine untergeordnete Bedeutung und
Wirksamkeit einräumen, sie mag auf die städtische Bevölkerung
beschränkt bleibeu. Die ländliche dagegen — ich habe hier die
grosse Masse des Bauernstandes speciell im Auge — feiert, wenig-
• a. ti. 0. S. 15.
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Beiträge zur Bevölkerungsstatistik Estlands. 241
stens in den früheren Jahren, keine Feste im stadtischen Sinne ;
hier dürfte neben der starken Heiratsfrequenz die grössere Ruhezeit
eine Zunahme der Conceptionen im December bewirken.
Nun sinkt wiederum die Conceptionszahl, um auf dem Lande
im März, in den Städten schon im Februar emporzusteigen, und
zwar entspricht dieses Steigen genau dem Steigen der Heiratszift'er,
die bei der städtischen Bevölkerung im Februar ihren Höhepunkt
erreicht. Wie in Estland, fallen auch in Livland nach Carlberg 1
die Conceptionsmaxima auf den April und December und das
Miniraum auf den August, dagegen linden sich Abweichungen bei
Beobachtung kleinerer Gebiete, wie aus unseren Biostatiken
hervorgeht.
Betrachten wir nun die confessionelle Gliederung der Geburten
nach Monaten. Was zunächst die Geburten bei" den Protestanten
betrifft, so gilt von ihnen dasselbe, was sich von den Geburten
überhaupt sagen Hess und zwar sowol von der städtischen, als auch
von der ländlichen Bevölkerung.
Anders liegen die Verhältnisse dagegen bei den Griechen,
wie aus folgenden Ziffern für Estland hervorgeht.
Geburtsmonate Conceptionsmonate
Januar
548.U
April
Februar
507,.,
Mai
März
520,,»
Juni
April
454,09
Juli
Mai
439,,»
August
Juni
57ü,o,
September
Juli
619,,»
October
August
560,30
November
September
532,00
December
October
555,«,
Januar
November
565lCo
Februar
December
380,,,
März
Mittel
521,.,
Hier fällt das absolute Maximum der Conceptionen in den
städtischen, wie in den ländlichen Gemeinden auf den October, um
nach vielfachen Schwankungen im März das absolute Minimum zu
erreichen. Von einem diese Erscheinung bedingenden physischen
Factor müssen wir gänzlich absehen, vielmehr werden die Schwankun.
• a. a. O. S. 59.
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242 Beiträge zur Bevölkerungsstatistik Estlands.
gen fast ausschliesslich durch die Satzungen der griechischen Kircl.e
hervorgerufen und zwar üben hier einen massgebenden Einfluss die
Fasten aus, während welcher die Eheschliessungen verboten sind.
Die eheliche Fruchtbarkeit. Nahe verwandt mit
dem Begriff der Geburtenfrequenz ist der der ehelichen Fruchtbar-
keit, woher ich dieselbe auch hier und nicht, wie es meist geschieht,
im Anschluss an die Statistik der Eheschliessungen erörtere. Was
zunächst die Ermittelung der ehelichen Fruchtbarkeit in einem
Lande betrifft, so habe ich die Zahl der jährlich geborenen ehe-
lichen Kinder durch die Zahl der jährlich geschlossenen Ehen
dividirt und so die Zahl von Geborenen gewonnen, welche durch-
schnittlich aus jeder Ehe während ihrer gauzen Dauer hervor-
gegangen. Darnach beträgt die eheliche Fruchtbarkeit im Durch-
schnitt der Jahre 1860—84 :
in Estland auf dem Lande in den Städten
4,j» 4,j» 3,j«.
Die Höhe dieser für Estland gefundeneu Ziffer im allgemeinen
nähert sich so ziemlich dem für Europa gefundenen Durchschnitte,
indem nach Mayr« und Rttmelin' in den europäischen Staaten auf
jede Ehe etwa vier Kinder kommen ; auch Oettingen1 und Haus-
hofer* gelangen etwa zu demselben Durchschnitt, wo allerdings zu
bemerken ist, dass Oettingen seine Ziffern nach einer anderen —
d. i. der von Wappäus» befolgten — Methode berechnet hat, die
ich leider meinen Berechnungen nicht zu Grunde legen konnte.
Auch mit den in unseren Biostatiken angeführten Ziffern stimmen
die für Estland gewonnenen Resultate im ganzen überein. In Liv-
land,; beträgt die eheliche Fruchtbarkeit 4,«0.
Wie aus der angeführten Tabelle hervorgeht, ist die eheliche
Fruchtbarkeit der ländlichen Bevölkerung eine grössere als die
der städtischen, ebenso wie die Geburtenfrequenz auf dem Lande
an Höhe die städtische übertraf. Auch Hübner', Grosset» und
Kaspar" gelangen zu dem Resultat, das gleichfalls durch die Unter-
1 a. a. O. S. 267. — 1 a. a. O. S. 1218.
■ Moralstatistik. 3. Auflage. Erlangen 1882. S. 279.
• a. a. 0. S.408. - • a.a. O. S. 314.
6 CoufessionB Wechsel und Mischehen in Livland, < Baltische Monatsschrift ><
XXXIII, 4.
7 a. a. 0. S. 29. — * a. a. O. S. 44.
• a. a. 0. S. 80.
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Beiträge zur Bevölkerungsstatistik Estlands. 243
suchungen Haushofers» und Stiedas» bestätigt wird. Ebenso be-
rechnete ich» die eheliche Fruchtbarkeit für Brandenburg und die
Stadt Berlin, wobei sich für das Land eine höhere Ziffer ergab als
für die Stadt. Die Ursachen dieser Erscheinung anzugeben, ist
nicht leicht, da wir es hier jedenfalls nicht mit einem Factor,
sondern mit mehreren gleichzeitig und zusammenwirkenden Factoren
zu thun haben. Natürliche Ursachen, sittliche und wirthschaftliche
Verhältnisse dürften einen • bedeutenden Einfluss auf das Sinken
und Fallen der ehelichen Fruchtbarkeit ausüben, was sich auch aus
der folgenden Tabelle ergiebt ; es betrug nämlich die eheliche
Fruchtbarkeit in
Estland
Land
Stadt
1860-64
4,8J
4„.
3,19
1865-69
4,.,
4,.,
3,i«
1870-74
3,8&
3,»»
3,18
1875-79
4„.
3,30
1880—84
4,„
4,j,
3,7J.
In den auf ökonomisch ungünstige Zeiten folgenden Jahren
bemerken wir ein Herabgehen der ehelichen Fruchtbarkeit und
darauf folgendes langsames Steigen derselben. Nach dem Krim-
kriege wächst die eheliche Fruchtbarkeit, fällt dann aber wieder,
um in der auf schlechte Jahre folgenden Periode 1870—74 ihren
niedrigsten Stand zu erreichen. Zugleich ergiebt sich auch, dass
die städtische Bevölkerung weit weniger durch Misernten u. s. w.
in Mitleidenschaft gezogen wird als die ländliche — was ja schon
aus den verschiedenen Berufsarten beider hervorgeht — denn die
Schwankungen in den Fruchtbarkeitsziffern sind auf dem Lande
kleiner als in den Städten. Eine Abnahme der ehelichen Frucht-
barkeit, wie sie in den meisten Staaten und namentlich in Frank-
reich beobachtet worden ist, lässt sich in unserer Provinz auf Grund
der vorstehenden Ziffern nicht constatiren.
Ein zweiter die eheliche Fruchtbarkeit beeinflussender Factor,
und zwar ein solcher natürlicher Art, wird in der Kindersterblich-
keit zu suchen sein. Es liegt ja auf der Hand, dass eine Mutter,
deren Kind bei der Geburt oder bald nach der Geburt gestorben,
• a. a. O. S. 379 ff.
1 Die Ehesohliessungen in Elsaes-Lothringen in den Jahren 1872— 76.
Strasshurg 1879. S. 114.
■ Nach «Statistisches Jahrhuch für das deutsche Reich». Hsg. vom Kais.
Statist. Amt. Jahrg. 1—6. Berlin 1880-85.
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244 Beiträge znr Bevölkerungsstatistik Estlands.
früher ein weiteres Kind zur Welt bringen kann als solche, deren
Kind leben geblieben ist und von ihr selbst gestillt wird, indem
schon das Selbststillen die Conception hinausschieben soll.
Hieraus lässt sich dann auch der Schluss ziehen, dass das
Ammenwesen auf die eheliche Fruchtbarkeit befördernd wirkt. Die
folgenden Zahlen werden den Einüuss der Kindersterblichkeit
auf die Fruchtbarkeit in Estland 186(3—84 nachzuweisen suchen.
Unter 1000 Gestorbenen
sind Kinder bis zu 6 Monaten : eheliche Fruchtbarkeit
in Estland 211,7* 4,„
auf dem Lande 215,»« 4,,»
in den Städten 190,„ 3,„.
Je grösser also der Procentsatz der gestorbenen Kinder, um
so grösser auch die eheliche Fruchtbarkeit. Dasselbe Hesse sich
auch beobachten, wenn wir die einzelnen Kreise uud Städte getrennt
betrachten würden.
Audi das Heiratsalter kann auf die Gestaltung der ehelichen
Fruchtbarkeit einwirken, denn je höher dieses ist, eine um so
kürzere Zeit kann die Gebärfähigkeit der Frau dauern. Bringen
wir das relative Alter beider Ehegatten in Anschlag, so sind die-
jenigen Ehen am fruchtbarsten, wo beide Ehegatten entweder gleich-
alterig sind oder der Mann etwas älter ist, dagegen ist die Frucht-
barkeit eine kleinere, wo der Mann entweder jünger oder bedeutend
älter als die Frau ist. Von dem relativen Alter beider Ehegatten
muss ich im Folgeudeu absehen und werde ich nur das Alter der
Frau berücksichtigen. Ich bezeichne diejenigen Ehen, welche die
Frauen vor dem 25. Lebensjahre eingehen, als rechtzeitige, und
werden wir doch a jtriori annehmen dürfen, dass in solchen Eheu
mehr Kinder gezeugt werden können als etwa in Ehen, die die
Fraueu nach dem 30. Jahre eingehen. Es betrug nun in den
Jahren 1866—84 die Zahl der rechtzeitigen Ehen :
auf 1000 Ehen eheliche Fruchtbarkeit
in Estland 63,ÖJ 4,30
auf dem Lande 64,«; 4,«»
in den Städten 58,91 3,„.
Unter der ländlichen Bevölkerung heiraten also bedeutend
mehr Mädchen vor dem 25. Jahre als in den Städten, und dem
entsprechend ist auch hier die Fruchtbarkeit der Ehen eine geringere
als dort.
Erhebungen über die Zahl der kinderlosen Ehen besitzen wir
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Beitrage zur Bevölkerungsstatistik Estlands.
245
nicht, können daher auch nicht beurtheilen, wie weit die eheliche
Fruchtbarkeit in Estland durch die Verbreitung der Unfruchtbar-
keit unter deu Frauen beeinflusst wird. Anführen möchte ich, dass
üehrn« in den von ihm beobachteten Landkirchspielen 8,«, pOt.
unfruchtbarer Ehen fand.
Bezüglich der Fruchtbarkeit der verschiedenen Confessionen
und Nationen ist häufig die Ansicht ausgesprochen, dass die An-
gehörigen der römisch-katholischen Kirche und die lateinische Race
eine geringere Vermehrungskraft besässen als die Protestanten und
Glieder anderer Racen als der romanischen ; die slavische Nation
wird dabei als besonders fruchtbar bezeichnet. Allerdings ist die
eheliche Fruchtbarkeit im europäischen Russland eine recht hohe
und habe ich dieselbe für das Jahr 1880 nach den Angaben im
Gothaer AlmanaclP mit 5,„i berechnet, dagegen zeichnen sich die
Russen in den Ostseeprovinzen nach den bisherigen Untersuchungen
durch eine geringe Fruchtbarkeit aus, wie auch aus den Ziffern
für Estland 180(5—84 hervorgeht.
Wie ersichtlich, weisen die Griechen die geringste eheliche
Fruchtbarkeit unter allen Confessionen auf; auf die griechische
Bevölkerung des flachen Landes bezieht sich diese Aeusserung
allerdings nicht, doch gehört dieser Theil der Griechen meist der
estnischen Nationalität an. Es ist nun wol kaum anzunehmen,
dass die Russen in den Ostseeproviuzen eine Sonderstellung gegen-
über den übrigen Slaven einnehmen, es wird wol die Ursache dieser
Erscheinung sich daraus erklären, dass eine bedeutende Zahl von
Kindern, die aus Mischehen stammen, nicht griechisch, sondern
lutherisch getauft worden, was natürlich die Fruchtbarkeitsziffer
verkleinern muss. Leider lässt sich die Zahl solcher aus Misch-
ehen hervorgegangener Kinder nicht ermitteln, es wird sich aber
gewiss bald nachweisen lassen, dass die eheliche Fruchtbarkeit seit
1886 bei den Griechen plötzlich zunimmt, weil in Folge einer Ver-
ordnung aus dem Jahre 1885 die Kinder aus Mischehen unbedingt
griechisch getauft werden müssen, eine Bestimmung, die seit 1805
nicht mehr bestand. Wenn die Katholiken eine geringere, die
1 a. a. O. S. 98. - 1 a. a. 0. S. 918.
in Estland 4
auf dem Lande 4
in den Städten 3
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24«;
Beiträge zur Bevölkerungsstatistik Estlands.
Juden dagegen eine bedeutend höhere Fruchtbarkeit zeigen als die
Protestanten, so stimmt diese Erscheinung durchaus, wie erwähnt,
mit anderweitigen Untersuchungen überein, und mag der Grund
hierzu vielleicht in dem verschiedenen mittleren Heiratsalter der
einzelnen Confessioneu liegen. Es betrug nämlich der Procentsatz
der rechtzeitigen Ehen 1 866— 84 in Estland bei den
Protestanten Griechen Katholiken Juden
63. st 63,»» 57,u 85,»«.
■
Das Geschlechtsverhältnis der Neuge-
borenen. Es giebt kaum ein Ergebnis statistischer Forschung,
das so sicher festgestellt wäre als das, dass unter den Neugeborenen
regelmässig ein geringer Ueberschuss des männlichen Geschlechts
über das weibliche auftritt; ebenso ist wol kein anderes Gebiet
der Bevölkerungsstatistik so häufig Gegenstand der weitgehendsten
Untersuchungen geworden als das Sexualverhältnis der Neugeborenen.
Obwol nun die erwähnte Thatsache. schon von Süssmilch erkannt
und nach ihm von anderen Forschern stets wieder bestätigt wurde,
ist es doch bisher nicht gelungen, die Ursachen dieser Erscheinung
zu ermitteln. Die verschiedenen hierüber ausgesprochenen Ansichten
stehen häufig in directem Widerspruch zu einander, wobei ich gar
nicht von jenen Hypothesen reden will, die nur ins Reich der
Phantasien gehören. Die Theorien von Hofacker, Sadler, Ploss
und Breslau haben bisher die meisten Verteidiger gefunden, nur
betonen sie leider stets in einseitiger Weise das eine Moment als
allein wirksames, entweder die Alters Verhältnisse der Eltern oder
die Ernährungsverhältnisse der Mutter &c. Es ist nun das Ver-
dienst von Karl Düring', in neuerer Zeit diese ganze Frage ein-
gehend erörtert zu haben. Auf Grund ausgedehnten Materials und
experimenteller Untersuchungen kommt Düring zu dem Resultat,
dass nicht ein Factor, sondern viele neben einander wirkende
Factoren das Geschlecht des Kindes beeinflussen, wobei er ein
besonderes Gewicht auf die Ernährung und das relative Alter der
Eltern legt. Unter schlechteren Ernährungsverhältnissen entstehen
nach ihm verhältnismässig mehr Knaben (p. 155), und ist der
Knabenüberschuss um so grösser, je mehr der Mann die Frau an
Alter übertrifft (p. 66); ferner sollen Frauen, die auf der Höhe der
Reproductionsfähigkeit stehen, mehr Knaben erzeugen als ältere
1 Die Regulirnng des Geschlecht« verhiiltnisnes bei der Vermehrung der
Menschen, Thier« und Pflanzen. Jena 1884.
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Beiträge zur Bevölkerungsstatistik Estlands.
247
oder allzu junge Mütter (p. 166). Ausserdem erkennt Düriug noch
eine Reihe anderer Factoren als geschlechtbestimmend an, wie z. B.
Klima, Nationalität &c. Natürlich kann die eine Ursache durch
die andere abgeschwächt oder auch ganz beseitigt werden, und wird
es daher nicht leicht, häufig sogar unmöglich sein, anzugeben,
welche von den zusammenwirkenden Ursachen die massgebende
gewesen. Wenn die das Sexualverhältnis betreffenden Fragen über-
haupt je zu einer endgiltigen Lösung gelangen, dann dürfte jeden-
falls das Düringsche Werk nicht unwesentlich dazu beitragen.
Nach Wappäus werden im europäischen Durchschnitt auf
100 Mädchen 106,j, Knaben geboren, eine Ziffer, wie sie in Est-
land nicht erreicht wird ; auch Livland hat eine etwas kleinere
Ziffer aufzuweisen, indem sie nach Carlberg» lOo,™ beträgt.
In unserer Provinz wurden auf 100 Mädchen Knaben geboren
1860-84
in Estland auf dem Lande in den Städten
104,«, 104,., 105,40-
Während man in den meisten Ländern bisher die Beobachtung
gemacht hat, dass der Knabenüberschuss in den Städten ein ge-
ringerer sei als auf dem Lande, zeigt sich das Gegentheil in Est-
land und in Livland. Carlberg3 glaubt die Ursache dieser Er-
scheinung darin suchen zu können, dass in den Städten Livlands
diejenigen Nationalitäten besonders stark vertreten sind, die über-
haupt einen bedeutenden Knabenüberschuss aufweisen ; es wären
das in unseren Städten die Juden und Russen, wie aus der folgen-
den Tabelle ersichtlich. Es betrug der Knabenüberschuss 1860—84
bei den in Estland auf dem Lande in den Städten
Protestanten
104,»
104,,,
103,7!
Griechen
112,7,
116,8*
111,2.
Katholiken
104,,,
100,,,
104,,.
Juden
125,,.
125,,,
Muharaedanern
88,,»
88,g».
Hieraus ergiebt sich allerdings, dass die Protestanten, die
doch den Hauptbestandteil unserer Bevölkerung ausmachen, die-
selbe Regelmässigkeit bezüglich des Geschlechtsverhältnisses auf-
weisen, wie man sie bisher im übrigen Europa beobachtet ; ebenso
auch die Russen. Es wird daher der städtische Knabenüberschuss,
wie wir ihn im Vorhergehenden kennen lernten, uur durch den
' a a. O. S. 55. — 1 a. a. 0. S. 57.
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248 Beiträge zur Bevölkerungsstatistik Estlands.
wie immer starken Knabenüberschuss bei den Juden veranlasst ;
in zweiter Linie folgen die Russen, dann die Katholiken und end-
lich die Protestanten ; hinsichtlich der Muhamedaner konnte hier
nur eine geringe Zahl von Fällen beobachtet werden. Vielleicht
findet sich hier eine Bestätigung der Düringschen Theorien, wenn
wir nämlich annehmen, dass die Ernähr ungs Verhältnisse der Esten
auf dem Lande schlechtere sind als in den Städten und doch wieder
besser als die der Juden und Russen und ebenso, wenn wir die
Sitte der frühen Heiraten bei den Juden und Russen berücksichtigen.
Auch in Livland ist das Geschlechtsverhältnis der Neugeborenen
bei den einzelnen Confessionen ein ähnliches wie in unserer Provinz.
Während für Livland eine Zunahme des Knabenüberschusses
nachgewiesen ist, lässt sich in Estland eine solche Erscheinung nicht
beobachten, im Gegentheil ist in den Städten der Knabenüberschuss
sogar ein kleinerer geworden, wie aus folgenden Ziffern hervorgeht :
Estland
Land
Stadt
1800-04
103>33
103,,«
104,7B
18G5-G9
I00,ao
106„3
106,,,
1870—74
106,, ,
105,SI
111,14
1875—79
103,, >
I03(,i
103,,,
1880-84
104,,,
104,,,
103,,,,
Wie wir sehen, ist in jenen für Estland so ungünstigen Jahren,
d. h. im zweiten Quinquennium, sowie in den auf die Misemten
folgenden Jahren der Knabenüberschuss ein recht grosser; über-
haupt sind die Schwankungen, und dieses gilt namentlich von den
Städten, in den verflossenen Jahren sehr bedeutend gewesen.
Betrachten wir die ehelichen Geburten getrennt von den un-
ehelichen, so ergiebt sich auch für unsere Provinz eine bisher all-
gemein beobachtete Thatsache, dass nämlich bei illegitimen Kindern
das üeberwiegen der Knaben geringer ist als bei legitimen.
1800—84 wurden auf 100 Mädchen geboren
in Estland auf dem Lande in den Städten
eheliche Knaben 104,,, 104,7& 105,,»
uneheliche Knaben 101,73 100,, i 107,,,.
Dass bei den unehelichen Geburten in den Städten ein grösserer
Knabenüberschuss herrscht als auf dem Lande, wird wol aus dem
starken Knabenüberschuss bei den unehelichen Geburten der städti-
schen Russen zu erklären sein. Auch Carlberg » findet, dass in
1 a. n. < ). S. Km.
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Beiträge zur Bevölkerungsstatistik Estlauds.
249
Livland der Knabenüberschass bei den unehelichen Geburten in den
Städten grösser, auf dem Lande dagegen kleiner ist als bei den
ehelichen. Ob das geringere Ueberwiegen der Knaben bei illegitimen
Geburten auf das Altersverhältnis der Eltern zurückzuführen ist,
lässt sich statistisch nicht nachweisen, ebenso wie jene Aeusserung
von Mayr» über den Einfluss des Wunsches der Mutter. < Während
die eheliche Mutter, > sagt Mayr, «so bald sie weiss, dass sie
empfangen hat, in der Regel einen Knaben und nur selten ein
Mädchen erhofft, machen sich bei der unehelichen Mutter vor-
waltend die Empfindungen der Reue über den Fehltritt, verbunden
mit Apathie gegen die Geschlechtszugehörigkeit des zu erwartenden
Kindes, geltende Wenn sich im Vorhergehenden ein geringerer
Knaben überschuss bei den unehelichen Geburten constatiren Hess,
so gilt dieses nicht von allen Confessionen, sondern nur von den
Protestanten und Katholiken ; es wurden nämlich 1860— 84 in
Estland auf 100 Mädchen geboren
bei den eheliche Knaben uneheliche Knaben
Protestanten 104, »o 100,»,,
Griechen 112,,. 120,0(,
Katholiken 105)0, 100,00
Hebräern 123, 3» 500,0o-
Bei den Protestanten kann also kaum noch von einem Knaben-
überschuss überhaupt die Rede sein ; die ungewöhnlich hohe Ziffer
bei den .luden erklärt sich aus der geringen Zahl ihrer unehelichen
Geburten.
Wie überhaupt mehr Knaben als Mädchen geboren werden,
so ist auch der Knabenüberschuss bei den Todtgeburten bedeutend
grösser als bei den Lebendgeborenen. In den Jahren 1860 — 84
kamen nämlich auf 100 todtgeborene Mädchen Knaben
in Estland auf dem Lande in den Städten
123,7s 123, it 128,00.
Oder nach Confessionen geschieden betrug in demselben Zeitraum
der Knabenüberschuss in Estland bei den
Protestanten Griechen Juden
124,,o 103,9S 183.™.
In den Städten ist also der Knabenüberschuss bei den Todt-
geburten viel grösser als auf dem Lande, weil in ihnen die Todt-
geburten überhaupt viel häufiger sind. Während im Vorher-
' a. a. O. S. 252
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250 Beiträge zur Bevölkerungsstatistik Estlands.
gellenden die Griechen grössere Ziffern aufzuweisen hatten als die
Protestanten, zeigen sie innerhalb der Todtgeburten nur einen sehr
geringen Knaben überschuss. Wie die Juden überhaupt den stärksten
Knabenüberschuss besassen, so ist er auch bei ihren Todtgeburten
besonders hoch.
Betrachten wir jetzt die ehelichen und die unehelichen Todt-
geburten getrennt, so finden wir, dass in den Jahren 186G— 84
bei den Protestanten todtgeborene Knaben kameri auf 100 todt-
geborene Mädchen
eheliche uneheliche
in Estland
124,,,
118,,,
auf dem Lande
123,.,
U4„o
in den Städten
132,o»
147,e3
Bei den unehelichen Todtgeburten ist also der Knaben-
überschuss geringer als bei den ehelichen, wenigstens auf dem
Lande, während das entgegengesetzte Verhältnis in den Städten
besteht und zwar weil der Knabenüberschuss überhaupt bei den
unehelichen Geburten auf dem Lande geringer ist als bei den ehe-
lichen, in den Städten dagegen bei den ehelichen geringer als bei
den unehelichen. Auch Carlberg 1 fand, dass in Livland bei den
unehelichen Todtgeburten die Knaben nicht so stark überwiegen
wie bei den ehelichen.
Was den Knabenüberschuss in den einzelnen Monaten betrifft,
so erreicht derselbe das Maximum im Februar, wie die folgenden
Ziffern für Estland 1866—84 zeigen :
Geburten
Conceptionen
Januar
104.36
April
Februar
107,„
Mai
März
106,54
Juni
April
103,..
Juli
Mai
103,»0
August
Juni
103,«,
September
Juli
105,M
October
August
106,,.
November
September
104,,.
December
October
103„„
Januar
November
105,,.
Februar
December
i06,„
März
Mittel
104,96.
' a. a. 0. S. 113.
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Beitrage zur Bevölkerungsstatistik Estlands. 251
Vielleicht ergiebt sich auch aus diesen Ziffern eine theilweise
Bestätigung der Düringschen Behauptung, dass nämlich unter
schlechteren Ernährungsverhältnissen mehr Knaben entstellen als
unter besseren.
Die uneheliche Progenitur. Bei Behandlung der
unehelichen Geburten glaubte man früher in der Häufigkeit ihres
Vorkommens innerhalb einer Bevölkerungsgruppe einen vorzüglichen
Sittlichkeitsmassstab gefunden zu haben, eine Ansicht, die jetzt
wol nur noch vereinzelt Vertheidiger finden dürfte. Es prägt sich
ja allerdings der moralische Standpunkt einer Bevölkerung zum
Theil in der Grösse der unehelichen Fruchtbarkeit aus, jedoch ist
nicht zu vergessen, dass einerseits auch äussere, von der Moral
unabhängige Verhältnisse gleichfalls und vielleicht in wirksamerer
Weise diese Fruchtbarkeit beeinflussen können und dass anderer-
seits die factische Unsittlichkeit eine bedeutend grössere sein kann
als die in der unehelichen Fruchtbarkeit zum Ausdruck gelangte.
Gewiss hat Engel Recht, wenn er sagt: «die unehelichen Geburten
repräsentiren nicht den tausendsten Theil der factischen Unzucht,
sondern nur die dabei stattgehabte grössere Unvorsichtigkeit und
Leidenschaftlichkeit und — grössere Unschuld, wäre man fast
versucht, hinzuzufügen : denn die Liederlichkeit, die sich
anderwärts und im Schosse der Ehen bei Treulosigkeit der Männer
und Frauen verbirgt, wird wol nie zur Ziffer zu bringen sein, ob-
schon die Existenz jener Liederlichkeit in einzelnen Theilen des
Landes als eine Schattenseite der gesteigerten Civilisation ein
öffentliches Geheimnis ist.»
Dass der Leichtsinn, der Mangel an Moral mit eine Ursache
der vielen unehelichen Geburten in einem Lande ist, unterliegt
keinem Zweifel ; dazu kommt dann die Sitte oder vielmehr Unsitte,
die sich unter Umständen in einer Bevölkerungsklasse so weit aus-
bilden kann, dass sie in einem Fehltritt kein Vergehen erblickt ;
ich erinnere hier nur an die Verhältnisse, wie sie in englischen
Fabrikdistricten und im Schwarzwalde noch anzutreffen sein sollen
und welch letztere wol auch Mayr1 im Auge hat, wenn er sagt,
dass der Bauernsohn schon vor der Heirat die Gewissheit einer
Nachkommenschaft gewonnen haben möchte. Aeussere Verhältnisse,
welche die Zahl der unehelichen Geburten vergrössern können, sind
1 a. a. 0, S. 253.
Baltisch« Mon»t-.chrirt. Bd. XXXIV, H.fl 3. 17
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252 Beitrüge zur Bevölkerungsstatistik Estlands.
häufig durch die Gesetzgebung veranlasst ; der Heiratsconsens, das
Niederlassungsgesetz kommen hierbei in Betracht, was sich be-
sonders deutlich an Bayern beobachten lässt. Auch die gesetzlichen
Bestimmungen über Deflorationsentschädigung und Alimentation
üben in dieser Beziehung einen bedeutenden Einfluss aus. Der
Code Napoleon z. B. enthält das Verbot der Ermittelung der Vater-
schaft des unehelichen Kindes; die Gegenden Deutschlands, in
denen dieser Codex noch Giltigkeit besitzt oder besass, haben nur
eine niedrige uneheliche Geburtenziffer. Auch die Agrarverhältnisse
mit ihren Bestimmungen über Theilbarkeit und Untheübarkeit des
Grundbesitzes, und namentlich des kleinen, wären hier zu erwähnen.
Ebenso mögen auch religiöse Satzungen nicht ohne Einfluss sein.
Dass die erwerbsmässige Prostitution die Zahl der unehelichen Ge-
burten herabzudrücken im Stande wäre, ist nicht anzunehmen, denn
gerade in den Städten, wo diese doch fast ausschliesslich vertreten
ist, werden bekanntlich mehr uneheliche Kinder geboren als auf
dem Lande. Dass aber tiberall dort, wo die Gesetzgebung das
Heiraten erschwert, die unehelichen Kinder sehr häufig durch eine
nachfolgende Eheschliessung legitim werden, liegt auf der Hand,
und sind daher in solchen Ländern die unehelichen Kinder nicht
so sehr zu jener Klasse der c Parias» der Gesellschaft zu rechnen,
wie dort, wo das uneheliche Kind eben nur eine Frucht des Leicht-
sinns ist.
Für Estland Hess sich die uneheliche Geburten frequenz nur
für das Jahr 1881 berechnen, und zwar kamen auf 1000 gebär-
fähige, d. h. im Alter von 17—45 Jahren stehende ledige Frauen
uneheliche Geburten :
in Estland auf dem Laude in den Städten
11,11 H)00 11,M-
Während wir an einer anderen Stelle gesehen haben, dass
die eheliche Geburtenfrequenz auf dem Lande grösser ist als in
den Städten, ergiebt sich aus der vorstehenden Tabelle, dass die
uneheliche Geburtenfrequenz sich umgekehrt verhält, d. h. sie ist
auf dem Lande kleiner als in den Städten. Einen Vergleich mit
anderen Ländern können wir hier nicht anstellen, wohl aber, so-
bald wir das Procentverhältnis der unehelichen Geburten berechnen.
Wie bei der Betrachtung des Geschlechtsverhältnisses der
neugeborenen Kinder, so wird sich auch beim Auftreten der un-
ehelichen Geburten eine merkwürdige Gleichmässigkeit erkennen
lassen. In den europäischen Staaten werden in regelmässiger
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Beiträge zur Bevölkerungsstatistik Estlands. 253
Wiederkehr von Jahr zu Jahr etwa 7 pCt. von allen Geborenen
unehelich geboren, wobei natürlich die uneheliche Geburtenzahl in
den einzelnen Staaten eine verschiedene ist. Im Verhältnis zum
übrigen Europa nimmt nun Estland (ebenso auch Livland) eine
sehr günstige Stellung ein, indem hier die unehelichen Geburten
im Durchschnitt der Jahre 1860—84 nur 3,« pCt. sämmtlicher
Geburten betragen und zwar
auf dem Lande in den Städten
3,7g 4,M. t
Wie überall, können wir auch hier in den Städten eine grössere
uneheliche Fruchtbarkeit beobachten als auf dem Lande, was wol
hauptsächlich in der industriellen Thätigkeit der städtischen Be-
völkerung und dem damit verbundenen dichteren Zusammenleben
derselben &c. seinen Grund hat. Von den Kreisen weist Wierland
die kleinste Ziffer (3,43), Jerwen die höchste (4,«*) auf, von den
Städten hat Weissenstein die grösste uneheliche Fruchtbarkeit (6,«0),
Baltischport dagegen die geringste (3,8S).
Dass die Nationalität einen Einfluss auf die grössere oder
geringere Häufigkeit der unehelichen Geburten ausübt, unterliegt
wol keinem Zweifel und scheint auch in den folgenden Ziffern eine
Bestätigung zu finden. Es betrug nämlich der Procentsatz der
unehelichen Geburten in den Jahren 1860—84 bei den
Protestanten Griechen Katholiken Hebräern
in Estland
3,(t
6,00
3,i«
0,.,
auf dem Lande
3,7»
1...
0,00
in den Städten
4,»»
7,«
3,tt
Den geringsten
Antheil
an den
unehelichen
Geburten h
also die Juden, worauf die Katholiken und Protestanten folgen,
während die Griechen in den Städten eine überaus grosse unehe-
liche Fruchtbarkeit aufweisen. Dass bei den Juden so überaus
wenig Kinder unehelich geboren werden, erklärt sich wol zum
Theil aus dem frühen Heiratsalter der Jüdinnen, sowie aus ihrer
grösseren Sittenreinheit, die, wie (Dettingen1 bemerkt, bei allen in
der Diaspora lebenden Bevölkerungsgruppeu eine grössere ist. Die-
selbe Erscheinung zeigt sich auch bei den Juden anderer Länder.
Eigentümlich ist es, dass sowol in Livland, als auch in Estland
die uneheliche Fruchtbarkeit der Griechen eine so bedeutende Höhe
erreicht, während sie im übrigen Reich nach Oettingen1 nur 3,00 pCt.
' ii. a. O S. 324, 325.
17»
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254 Beiträge zur Bevölkerungsstatistik Estlands.
betiageu soll. Möglich, dass diese Ziffer in Wirklichkeit grösser
ist, was um so eher anzunehmen ist, wenn man bedenkt, dass die
Registrirung der Todtgeburten in der griechischen Kirche eine
überaus mangelhafte und dass der Procentsatz der unehelichen
Kinder unter den Todtgeburten gerade ein sehr bedeutender ist.
Jedenfalls weist die griechische Bevölkerung der estläudischen
Städte eine grössere Depravation auf als die der anderen Con-
fessionen.
Die Frage, ob im Laufe der Zeit eine Zu- oder Abnahme
der unehelichen Fruchtbarkeit stattfindet, wird verschieden beant-
wortet und können wir bezüglich Estlands sagen, dass sich hier
seit 1860 erfreulicher Weise eine Abnahme constatiren lässt, wie
aus folgenden ZitFern hervorgeht.
Jahr
pCt. der unehel. Geburten
Roggenpreis
1860
5,»»
543
1801
4,<t
592
1862
4,,.
703
1863
4,»»
697
1864
4,»
(528
1865
4,84
546
1866
3, i4
671
1867
3,7S
757
1868
4„.
857
1869
3,14
1200
1870
3,fi4
1063
1871
3,08
740
1872
4„,
786
1873
4,»
755
1874
3,»0
700
1875
4,.,
846
1876
3,7»
700
1877
3,66
700
1878
3,M
750
1879
3,46
809
1880
3,C6
867
1881
3,»|
1049
1882
3,i»
1100
1883
4,60
900
1884
4,™
900
Die uneheliche Fruchtbarkeit in Estland ist also in den letzten
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Beitrüge zur Bevölkerungsstatistik Estlands.
255
25 Jahren zurückgegangen, wenn sich auch dazwischen wieder
Jahre finden, die eine steigende Ziffer aufweisen. Woher mögen
nun diese Schwankungen herrühren ? Es scheint ein inniger Zu-
sammenhang zwischen wirtschaftlichen Zuständen und der unehe-
lichen Geburtenfrequenz stattzufinden und bemerkt Oettingen1
treffend, dass karge Zeiten einen günstigen, d. h. hemmenden, reiche
Jahre einen ungünstigen, d. h. fördernden Einfluss auf die unehe-
liche Fruchtbarkeit ausüben. Ein charakteristisches Merkmal für
karge und reiche Jahre bieten nun die Preise der wichtigsten
Nahrungsmittel, z. B. des Roggens, und wirklich erkennen wir
auch aus den angeführten Ziffern, dass bei niedrigen Roggenpreisen,
also in günstigen Jahren, die Zahl der unehelichen Geburten zu-,
in theuren, also schlechten Jahren dagegen abnimmt. Das wirth-
schaftlich ungünstigste Jahr hat auch in unserer Provinz den klein-
sten Procentantheil an unehelichen Geburten. Ohne die betreffen-
den Zahlen anzuführen, will ich kurz erwähnen, dass die Abnahme
der unehelichen Geburten ganz besonders deutlich auf dem Lande
hervortritt. Diese Abnahme der unehelichen Geburten bezieht sich
aber eigentlich nur auf die Protestanten und nicht auch auf die
übrigen Confessionen, wie folgende Tabelle zeigt. Es betrug der"
Procentsatz der unehelichen Geburten in Estland bei den
Protestanten Griechen Katholiken Hebräern
1860-64
4,«
5,»0
1,..
0.00
1865-69
3,BS
4,„
2,o.
0,00
1870-74
3.8|
5,i»
3,i«
o,„
1875-79
3,87
5,aa
6,77
0,00
1880-84
3,89
9.1T
3,o
1,1«.
Unterziehen wir jetzt die Vertheilung der unehelichen Ge-
burten nach Monaten einer Betrachtung, wobei zu bemerken ist,
dass bei den Griechen und Hebräern nur die Lebendgeborenen be-
rücksichtigt sind, da sich von 177 Todtgeborenen in diesen Ge-
meinden das Legi timitäts Verhältnis nicht feststellen Hess ; ebenso
Hess sich von mehreren dieser Todtgeborenen der Monat der Geburt
nicht ermitteln. Es entfielen uneheliche Geburten in Estland auf
die Monate Concrptiomn
Januar
757,74
April
Februar
754,,.
Mai
März
681,,,
Juni
1 a. a. 0. 8. 308.
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256 Beiträge zur Bevölkerungsstatistik Estlands.
Conceptionen
April
716too
Juli
Mai
661 .7
■
August
Juni
656. «n
,01,
September
Juli
566,1»
October
August
570,,.
November
September
761,00
December
October
619,,,
Januar
November
654,oo
Februar
December
664,,,
März
Mittel
67L,„.
Wie aus vorstehenden Zahlen ersichtlich, vertheilen sich die
unehelichen Geburten in ganz anderer Weise auf die einzelnen Monate
als die Geburten überhaupt, eine Erscheinung, die bisher allgemein
beobachtet ist. Wenn (Dettingen1 behauptet, dass bei den unehe-
lichen Geburten die socialen Einflüsse vollständig von den physisch-
klimatischen verdrängt werden, so scheint diese Behauptung zu-
nächst durch unsere Zahlen keine Bestätigung zu finden. Wir
finden in Estland das Maximum der unehelichen Conceptionsfrequenz
auf den December fallen und dürfte diese Erscheinung wol kaum
die Folge klimatischer Einflüsse sein. Vielmehr wird dieses Maximum
wol durch Factoren socialer Art hervorgerufen : der regere gesell-
schaftliche Verkehr in den Städten, das engere Zusammenleben
der beiden Geschlechter bei der ländlichen Bevölkerung mag im
Winter und besonders im December die Gelegenheit zu Aus-
schweifungen fördern. Im Frühjahr steigt wiederum die Zahl der
ausserehelichen Conceptionen, vielleicht durch physisch-klimatische
Ursachen veranlasst ; im Juni mögen die Feldarbeiten den ausser-
ehelichen Verkehr einschränken, im Juli dagegen die vielfach gemein-
samen Arbeiten denselben wieder anwachsen lassen. Darauf sinkt die
Conceptionsfrequenz und erreicht im October ihr absolutes Minimum.
Deutlicher als aus den zuletzt angeführten Ziffern dürften die
physischen Einflüsse hervorgehen, wenn wir die einzelnen Jahreszeiten
betrachten. Es entfieleu nämlich
uneheliche Geburten
auf den
Conceptionsmonate
Frühling
2059,,,
Sommer
Sommer
1793,,,
Herbst
Herbst
2034,,,
Winter
Winter
2176,,.
Frühling
» a. a. 0. S. 305 ff.
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Beiträge zur Bevölkerungsstatistik Estlands. 257
In diesen Ziffern scheint eine Bestätigung der Oettingenschen
Behauptung zu liegen, wenigstens erklärt sich das Frühlings-
maximum aus rein physischen Gründen.
Die Todtgeburten. Neben der Grösse der unehelichen
Fruchtbarkeit wollen einige Statistiker auch die Zahl der Todt-
geborenen als Massstab des sittlichen Lebens einer Bevölkerung
ansehen, jedoch, wie mir scheint, mit Unrecht. Es wird die Zahl
der Todtgeborenen nicht sowol einen Rückschluss auf das Mass
der Sittlichkeit in einem Lande gestatten, als vielmehr auf die
vorhandene oder mangelnde Kraft der Reproduction in einer Be-
völkerung hinweisen. Häufig wird ja allerdings die Todtgeburt
eine Folge leichtsinnigen oder unmoralischen Lebens sein , meist
werden jedoch Mangel und Noth, geringe Schonung der Frau
während der Schwangerschaft, wie namentlich fortgesetzte Thätig-
keit in Fabriken die Todtgeburten veranlassen.
Leider setzt sich gerade der Statistik der Todtgeburten die
grösste Schwierigkeit einer exacten Beobachtung entgegen. Häufig
ist die Registrirung der Todtgeburten eine überaus unvollkommene
— und dieses gilt besonders von den griechischen Gemeinden —
oft lässt es sich überhaupt nicht constatiren, ob ein Kind todt-
geboren oder bald nach der Geburt gestorben.
Wir können mit Körösi1 annehmen, dass im europäischen
Durchschnitt etwa 3—4 pCt. von sämmtlichen Kindern todt zur
Welt kommen. Carlberg' findet für Livland eine günstigere Ziffer,
während der für Estland berechnete Procentsatz sich jenem europäi-
schen Durchschnitt nähert. Es entfielen nämlich " in den Jahren
1806—84 (für die vorhergehenden Jahre sind die Angaben nicht
gauz zuverlässig) auf 100 Geburten Todtgeburten
in Estland auf dem Lande in den Städten
3,a» 3,u 3,6j.
Die Städte haben somit eine höhere Todtgeburtenziffer als
das flache Land, denn die Todtgeburten sind bei den unehelichen
Geburten häufiger als bei den ehelichen, und die unehelichen Ge-
burten unter der städtischen Bevölkerung zahlreicher als unter der
ländlichen. Von den Kreisen ist die Wiek, trotz der vielen un-
ehelichen Geburten am günstigsten gestellt, von den Städten hat
1 Die Kindersterblichkeit in Budapest während der Jahre 1876-1881.
Berün 1885. S. 60.
■ a. a. O. S. 112.
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258
Beitrage zur Bevölkerungsstatistik Estlands.
Reval die höchste Todtgeburtenziffer, obgleich hier ärztlicher Bei-
stand am ehesten zu erlangen ist.
Der Antheil der einzelnen Confessionen an den Todtgeburten
ergiebt sich aus der folgenden Tabelle. 1866—84 kamen Todt-
geburten auf 100 Geburten bei den
Protestanten Griechen Katholiken Hebräern
in Estland
3,i«
3,13
0,,0
2,14
auf dem Lande
3,n
liti
0,00
in den Städten
3,«»
3,18
0,40
2.34
Während nach Körösi1 die Israeliten und Katholiken mehr
Todtgeburteu aufweisen als die Protestanten, tritt in Estland die
entgegengesetzte Erscheinung auf. Der Grund für die verschiedenen
Ziffern bei den einzelnen Confessionen dürfte jedoch weniger in
confessionellen oder nationalen Eigentümlichkeiten, als vielmehr
in socialen Verhältnissen zu suchen sein. Bezüglich der zeitlichen
Vertheilung der Todtgeburten macht Körösi' die Beobachtung, dass
ihre Zahl in entschiedener Zunahme begriffen sei, während andere
Statistiker gerade das Gegentheil behaupten. In unserer Provinz
beträgt in den einzelnen Pentaden der Procentsatz der Todtgeburten:
Estland
Land
Stadt
1866-
-69
3,n
3,ii
3,13
1870-
-74
3,si
3,| 6
3,«i
1875
-79
3,,.
3,n
4,„
1880-
-84
3,09
3,* 5
O.Ii.
Bis 1880 ist die Todtgeburtenziffer, wie ersichtlich, gewachsen,
jedoch lässt sich im letzten Quinquennium eine entschiedene Besse-
rung dieser Verhältnisse constatiren. In Livland ist nach Carl-
berg» die Todtgeburtenziffer seit 1868 stetig gefallen (wol nur
durch genauere Registrirung und Unterscheidung von den bald nach
der Geburt Gestorbenen. Nach gef. Mittheilung des citirten Hrn.
Verf. Die Re d.).
Wie wir sahen, ist bisher in allen Ländern bei den Geburten
ein Knabenüberschuss beobachtet worden, und zwar werden auf
100 Mädchen 105—106 Knaben geboren. Weiter ist beobachtet
worden, dass dieser Knabenüberschuss bei den Todtgeburten ein
bedeutend grösserer ist als bei den Lebendgeburten. Es entfielen
nun in den Jahren 1866—84 auf 100 todtgeborene Mädchen Knaben
in Estland auf dem flachen Lande in den Städten
123,,. 123,„. 128,„.
' a. a. 0. S. 62. - • a. a. 0. S. 61. - 1 a. a. 0. S. 112.
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Beiträge zur Bevölkerungsstatistik Estlands. 259
Der grössere Knabenüberschuss unter den Todtgeborenen
gegenüber den Lebendgeborenen erklärt sich daraus , dass der
männliche Organismus überhaupt und sogar im Mutterleibe viel
grösseren Gefährdungen ausgesetzt ist als der weibliche. Einer
beträchtlichen Steigerung der Gefährdung unterliegt das männliche
Leben, wenn es ausser der Ehe gezeugt ist.
Es kamen 1866—84 (NB. nach den lutherischen Gemeinde-
listen) auf 100 todtgeborene Mädchen todtgeborene
in Estland auf dem Lande in den Städten
eheliche Knaben 124,,, 123,*» 132,0i
uneheliche Knaben ll8,u U4,9. 147,»..
Dass uneheliche Kinder verhältnismässig viel häufiger todt
zur Welt kommen als eheliche, ist eine bekannte Thatsache. die
sich auch in unserer Provinz beobachten lässt. Es kamen 1866
bis 1884 bei den Protestanten
auf 100 eheliche Geburten auf 100 uneheliche Geburten
eheliche Todtgeburten uneheliche Todtgeburten
Estland 3tlJ 6,.,
Land 2,99 6,„
Stadt 3,&, 5,...
Es ist ja selbstverständlich, dass die uneheliche Mutter weit
weniger Sorgfalt und Pflege ihrer Frucht zukommen lassen kann
als die eheliche ; sie sucht ja meist möglichst lange ihren Zustand
zu verbergen, und dass dieses häufig dem Fötus zum Nachtheil
gereichen muss, bedarf nur eines Hinweises. Der materielle Mangel,
dem die unehelich Schwangeren oft ausgesetzt sind, übt natürlich
auch einen schädlichen Einfluss auf das werdende Leben aus ; Reue
über den Fehltritt, Sorge, Kummer etc., alles dieses vermehrt die
Zahl der Todtgeburten ; dazu kommen dann noch hier und da ge-
schlechtliche Ausschweifungen, ansteckende Krankheiten mit ihren
schädlichen Folgen.
Dass tiberall bei den Mehrgeburten bedeutend mehr Kinder
todt zur Welt kommen als bei den Einzelgeburten, wird auch
durch folgende Ziffern für die Protestanten in Estland illustrirt.
1866—84 kamen Todtgeburten auf 100
Zwillinge Drillinge Mehrgeburten
Estland
11,.,
28,..
12,,.
Land
U...
28,«i
11...
Stadt
14,..
33, »a
15,1..
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260 Beiträge zur Bevölkerungsstatistik Estlands.
Der Grund für diese höheren Ziffern unter den Mehrgeburten
ist der, dass man unter ihnen häufig nicht ganz ausgetragene,
schwächliche Kinder findet, die natürlich auch weniger Lebens-
kraft und Widerstandsfähigkeit besitzen. Ferner ist bei Mehr-
geburten die Lage der Kinder oft eine anormale, die ein operatives
Eingreifen von Seiten des Arztes erforderlich macht.
Wie nun die unehelichen Mütter häufiger todte Kinder gebären
als die ehelichen, so sind auch die todten Kinder bei den unehe-
lichen Mehrgeburten viel zahlreicher als bei den ehelichen, obgleich
uneheliche Mütter überaus selten Zwillingen oder Drillingen das
Leben schenken.
Suchen wir jetzt die Frage zu entscheiden, ob die Monats-
differenzen für die Lebendgeborenen und die Todtgeborenen ver-
schiedene sind. Die Lebendgeborenen zunächst befolgen dasselbe
Gesetz wie die Geborenen überhaupt (s. p. 238 ff.), nicht aber so die
Todtgeburten, wie aus folgenden Zahleu ersichtlich :
Geburtsmonate Conceptionen
Januar
653,»>
April
Februar
663,ji
Mai
März
591,,,
Juni
April
534,}0
Juli
Mai
459,«7
August
Juni
469,00
September
Juli
437,.,
October
August
529.,,
November
September
538,35
December
October
589.,»
Januar
November
570,.,
Februar
December
635,8 •
März
Mittel
555,i0
Bei der Betrachtung der Todtgeburten handelt es sich weniger
um den Empfängnismonat als um den Geburtsmonat, weil die Todt-
geburten häutig auch zugleich Frühgeburten sind.
Die grösste Zahl der Todtgeburten in Estland fällt nun aut
den Februar, was auch von den Protestanten speciell gilt, während
die Griechen die höchste Ziffer im October aufweisen. Am wenig-
sten Todtgeburten kommen im Juli vor, bei den Griechen dagegen
im December.
Vielleicht dürfte eine theilweise Erklärung des Februar-
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Beiträge zur Bevölkerungsstatistik Estlands.
861
maximums in folgender Erwägung liegen. Bekanntlich ist die
Zahl der Todtgeburten unter den Mehrgeburten grösser als unter
den einfachen Geburten, unter den Knabengeburten grösser als unter
den Mädchengeburten. Nun ist der Knabenüberschuss bei den Ge-
burten im Februar am stärksten und ebenso erreichen die Mehr-
geburten im Februar ihr absolutes Maximum, und dieses gilt sowol
von den Mehrgeburten überhaupt, als auch ganz besonders von den
todt zur Welt kommenden Mehrgeborenen. Diese beiden Thatsachen
werden wol jenes Anschwellen der Todtgeburtenzahl im Februar
veranlassen.
Die Mehrgeburten. Während die Todtgeburten auf
eine mangelnde Kraft der Reproduction in einer Bevölkerung hin-
deuten , sind die Mehrgeburten ein Zeichen übergrosser, über-
schiessender Fruchtbarkeit bei einzelnen Individuen, wie bei ganzen
Völkern. Die Mehrgeburten haben im wesentlichen ein physiolo-
gisches Iuteresse, sie sind durch ihre geringe Zahl vou keiner Be-
deutung für die social-ökonomiscue Gestaltung eines Landes oder
für das Leben einer Bevölkerung, ihr Auftreten ist ein reines
Naturphänomen.
Auf die Hypothesen über das Woher? oder Warum? will
ich hier nicht weiter eingehen, nur so viel sei erwähnt, dass
das Alter der Frau von Einfluss zu sein scheint, und wollen einige
Statistiker behaupten, dass die Mehrgeburten am häufigsten vor-
kommen bei Frauen im krästigsten Lebensalter, bei Frauen, die
schon einmal geboren haben.
Wie dem auch sei, eine grosse Regelmässigkeit in der Häufig-
keit der Mehrgeburten ist constatirt worden, und zwar beträgt sie
bei den meisten Völkern etwa 1 Ii pCt. von sämmtlichen Geburten,
eine Zahl, wie sie annähernd von Carlberg 1 für Livland angegeben
wird und wie ich sie auch für Estland berechnet habe. Es kamen
nämlich 1866—84 auf 100 Geburten überhaupt
Zwillingsgeburteu Drillingsgeburten Mehrgeburten überhaupt
Estland 1*. 0,01
Land !,«. 0,0> I.to
Stadt 1,,7 O.o, 1,»,.
Dass Drillingsgeburten, wie überall so auch hier, seltener
' a. a. O. S. 114.
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262 Beiträge zur Bevölkerungsstatistik Estlands.
sind als Zwillingsgeburten, ist selbstverständlich, denn wie die
Mehrgeburt an sich ein Naturphänomen ist, so ist natürlich die
Drillingsgeburt eine noch anormalere Erscheinung. Vierlings-
geburten sind in den von uns beobachteten Jahren überhaupt nicht
in Estland vorgekommen. Auf dem Lande sind, wie die obige
Tabelle zeigt, die Mehrgeburten häufiger als in den Städten,
während in diesen Drillingsgeburten häufiger vorzukommen pflegen,
als auf dem Lande, wie aus folgenden Ziffern ersichtlich. Von
100 Mehrgeburten sind nämlich 1866—84
Zwillingsgeburten Drillingsgeburten
in Estlaud 98,,, 1,„
auf dem Lande 98,7« L*«
in den Städten 98,„ 1,M.
Im Ganzen sind die Schwankungen in den einzelnen Kreisen
und Städten ziemlich unbedeutend, und nur Weissenstein zeigt einen
recht hohen Procentantheil an Mehrgeburten, nämlich 2,t pCt.
Dass die eine Nation mehr zu Mehrgeburten disponirt sei
als die andere, wird wol behauptet, und zwar sollen darnach die
Slaven die höchste Ziffer aufweisen, was sich jedoch für Estland
nicht nachweisen lässt; es kamen nämlich hier 1866- 84 auf 100
Geburten überhaupt Mehrgeburten bei den
Protestanten Griechen Katholiken Hebräern
ltIO Iii« 0,]o 1.1I-
Interessant ist die Frage nach dem Sexualverhältnis der
Kinder unter den Mehrgeburten. Es kamen nun in den Jahren
1866—84 bei den Mehrgeburten auf 100 Mädchen Knaben
in Estland .... 104,tJ .
auf dem Lande . . 104, «0
in den Städten . . 109 ,»„.
Der Knabenüberschuss unter den Mehrgeburten ist also in
Estland überhaupt, wie in den Städten, etwas stärker als uuter
den Einzel- und Mehrgeburten zusammengenommen. Es wirft das,
wie Mayr* sagt, <ein weiteres Licht auf den Drang der Natur, ein
Plus von Knabengeburten zu Stande zu bringen >. Die Zwillings-
geburten zeigen einen noch grösseren Knabenüberschuss als die
Drillingsgeburten, wie aus folgenden Zahlen hervorgeht. Es kamen
nämlich 1866—84 auf 100
1 a. a. O. S. 259.
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Beiträge zur Bevölkerungsstatistik Estlands. 268
Zwilliugsgeburten Drillingsgeburteu
Knaben Mädchen Knaben Mädchen
Estland ol,u 48,T»
Land 51,, 0 48,90
49,n 50,m
Stadt 51,,» 48,o,
ol i*o 38,io-
Von 100 Mehrgeborenen waren in
Estland 1800—84
Knaben
Mädchen
Protestanten 51,,,
48,.,
Oriechen 52,,,
47,„t
Katholiken 50,00
50,oo
Hebräer 50,00
50,oo-
Wie der Knabenüberschuss bei den Griechen überhaupt in
Estland ein grösserer war als bei den Protestanten, so auch hier
bei den Mehrgeburten. Eigentümlich ist es, dass die Juden, die
in unserer Provinz den stärksten Knabenüberschuss aufweisen, bei
den Mehrgeburten keinen solchen besitzen.
Dass uneheliche Mütter seltener Zwillinge oder Drillinge ge-
bären, wurde schon erwähnt, und zwar waren 1860—84 bei den
Protestanten von den Mehrgeborenen
eheliche uneheliche
in Estland 90,,, 3*1
auf dem Laude 96,B, 3,„
in den Städten 96,4, 3,„.
Uneheliche Drillingsgeburten sind in den Jahren 1860—84
nicht vorgekommen. Wie die obigen Zahlen zeigen, sind also die
unehelichen Zwillinge in den Städten häufiger als unter der länd-
lichen Bevölkerung, obgleich die Zwillingsgeburten häufiger auf dem
Lande vorzukommen pflegen als in der Stadt. Wenn wir jedoch
die Frage anders stellen, ergiebt sich, dass, wie die Mehrgeburten
überhaupt, so auch die unehelichen Mehrgeburten auf dem Lande
häufiger sind als in der Stadt.
Es kamen nämlich 1800—84 Mehrgeburten entstammende
Kinder bei den Protestanten auf 100
ehelich Geborene unehelich Geborene
in Estland 3,37 3,«,
auf dein Lande 3,3, 3,,,
in der Stadt 3,ao 2,„.
Was die zeitliche Vertheilung der Mehrgeburten betrifft, so
betrugen dieselben bei den Protestanten
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204
Beiträge zur Bevölkerungsstatistik Estlands.
Estland Land Stadt
18GG-69 pCt. l,„ pCt. i,,0 pCt.
1870-74 1,„ « l,7o « Um *
1875—79 1,„ « 1,„ t 1>7T «
1880—84 l,s. < ll6i « t,„ «
Ob das weibliche Geschlecht in eiuigen Jahren eine grössere
Tendenz zu Mehrgeburten zeigt als in anderen, lässt sich nicht
nachweisen, wohl aber, dass von 1806 an in Estland eine ganz
regelmässige Abnahme der Mehrgeburtenfrequenz stattgefunden.
.T. X i e 1 ä n d e r.
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Erinnerung an Theodor von Bernhardi.
ei Gelegenheit eines längeren Aufenthalts, den ich während
der Jahre 1884 und 1885 in Berlin genommen, lernte ich
einen alten Herrn kennen, dessen Namen ich in meiner Kindheit
zuweilen nennen gehört hatte, der unserem heimischen Gesichts-
kreise indessen länger als seit einem Menschenalter entrückt worden
war: den Historiker und Militärschriftsteller Theodor von Bern-
hardi. Jetzt, da der Tod dieses im fünfundaelitzigsten Lebensjahre
verstorbenen, in mehr als einer Rücksicht bedeutenden Mannes ge-
meldet wird, taucht die Erinnerung an die mit ihm verbrachten
Stunden so lebhaft in mir auf, dass ich um die Erlaubnis bitte,
Bernhardis und seiner eigentümlichen Beziehungen zu Liv- und
Estland in einem kurzen, der «ß. M.» gewidmeten Worte gedenken
zu dürfen.
Im Jahre 1802 zu Berlin geboren, gehörte der Verstorbene
zweien Familien an, deren Namen in der deutschen Literatur-
geschichte vollen Klang haben: sein Vater war der als Mitbegründer
der modernen Sprachwissenschaft und als romantisch-geistreicher
Satyriker bekannte Gymnasialdirector August Ferdinand Bernhardi,
seine Mutter eine Schwester der Brüder Tieck und vieljährige ver-
traute Mitarbeiterin Ludw. Tiecks, des Chorführers der romantischen
Schule. Aber nicht Berlin und nicht dem Kreise berühmter Männer,
die seines Vaters Hausfreunde und Genossen gewesen waren, ge-
hörten Bernhardis lebhafteste Jugenderinnerungen an : wer den
alten, zur Zeit unserer Bekanntschaft bereits zweiundaehtzigj ährigen
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266 Erinnerung an Theodor von Bernhardi.
Herrn mit dem langen schneeweissen Bart in Feuer bringen und
zur Oeffnung des reichen Schatzes seiner Beobachtungen und Er-
lebnisse bestimmen wollte, musste mit ihm von Estland und
von Dorpat reden. Zwar nicht von dem heutigen Estland, das
für manche Leute nur noch als Adjacent der Baltischen Bahn und
als Mittelglied zwischen Dorpat und Petersburg in Betracht zu
kommen scheint, sondern von dem Estland, dessen Spiritus rector
«der treffliche Herr von Berg» gewesen war und in welchem «unser
Ost-Jerweu» eine Welt für sich bildete. Und wenn er von Dorpat
redete, so meinte mein verehrter Gönner nicht die Stadt, welche
ihr 85. Universitätsjubiläum begangen, sondern das alte Dorpat,
dessen Curator Maximilian v. Klinger hiess, in welchem die Parrot
und Ewers den Ton angaben und das Bernhardi im Jahre 1812
zuerst kennen gelernt hatte, «damals als ich Barclay bei Gelegen-
heit des Besuchs, den er dem General Knorring machte, zum ersten
und letzten Male sah». — Mit den Beziehungen vou Ludwig Tiecks
Neffen zu unserem Lande aber hatte es die folgende Bewandtnis.
Wie viele andere Damen des romantischen Zeitalters hatte
sich auch Frau Director Bernhardi (als dramatische, epische und
lyrische Dichterin und Mitherausgeberin der Tieckscheu «Straussen-
federn» wohl bekannt) von ihrem Manne scheiden lassen und einige
Jahre später eine zweite Ehe geschlossen. Der zweite Gatte der
geistreichen, anmuthigen, damals etwa dreissigj ährigen Frau war
ein Herr von Knorring, Besitzer des in Jerwen belegenen Gutes
Arroküll und Bruder der aus den türkischen und schwedischen
Kriegen rühmlich bekannten Generale Karl und Gotthard v. Knor-
ring. Nach Arroküll war der zehnjährige Theodor seiner Mutter
gefolgt und hier, in Reval und in Dorpat hatte er die entscheiden-
den Jahre seines Knaben- und Jünglingsalters verlebt. Kaum je-
mals ist mir ein Landsmann begegnet, der von der alten Zeit und
dem lustigen Liv-Estland unserer Väter und Grossväter so lebensvoll
und zugleich so kritisch zu berichten gewusst hätte wie dieser
Berliner, der zur Zeit unserer Bekanntschaft seit etwa vierzig
Jahren in Deutschland lebte und als preussischer Diplomat Spanien
und Italien mehrere Jahre lang bewohnt und studirt hatte. Von
den Personen, nach denen man ihn fragte, hatte er immer nur die
Väter und Grossväter gekannt, diesen aber ein treues, schier un-
trügliches Gedächtnis bewahrt. Dass er die Licht- und Schatten-
seiten unserer damaligen agrarischen Organisation bereits als Jüng-
ling deutlich erkannt hatte, ist aus seinem Geschichtswerk sattsam
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Erinnerung an Theodor von Bernhardi.
267
bekannt. Ungleich lieber als bei den Mängeln, verweilte er aber
bei den Vorzügen der alt-livländischen Lebensgestaltung. Die be-
deutenderen Personen jener Zeit hatte er grossen Theils gekannt,
insbesondere die zahlreichen alten Generale der Katharinaischen
und der Alexandrinischen Zeit, die in Reval und Dorpat ihre
Pensionen verzehrten und Mittelpunkte der dortigen Gesellschaft
bildeten. Aus Karl von Kuorrings eigenem Munde hatte Bern-
hardi die lehrreiche und merkwürdige Kunde von den durch diesen
im Auftrage Alexei Orlows Anno 1773 geführten diplomatischen
Verhandlungen in Konstantinopel und von dem im J. 1800 gefassten
Plane eines Angriffs auf Indien gehört ; dem General Gotthard
v. Knorring, der Barclays erster Regimentscommandeur und Gönner
gewesen war, hatte der Feldmarschall die Rechtfertigung seines
Feldzugsplanes von 1812 im Winter desselben Jahres ausführlich
vorgetragen; Parrot war ein Freund des «Arroküllschen Hauses»,
Shukowski ein vielbeliebtes Mitglied der dorpater Gesellschaft ge-
wesen, in welche er durch den ihm verwandten Chirurgen Moier
(den t Namenlosen» des um Karl Petersen geschaarten < Winkel-
clubs bei Volkmann») eingeführt worden war; auch auf den
«Dicken» wusste Bernhardi sich zu entsinnen, wenn er von dessen
(erst sehr viel später veröffentlichten) Gedichten gleich niemals ge-
hört, auch den liebenswürdigsten Dorpatenser seiner Zeit nicht aus
persönlichem Umgang kennen gelernt hatte. Dafür war Krusenstern,
der Weltumsegier von 1803, in der Folge sein Schwiegervater ge-
worden und hatte ein anderer berühmter Estländer, Graf Toll, ihm
die Herausgabe seiner wichtigen «Denkwürdigkeiten» übertragen.
Auch in die Interna estländischer Landes- und Ritterschafts-
verhältuisse war der jugendliche Stiefsohn des Arroküllschen Hauses
tiefer eingeweiht worden als mancher Eingeborene : die Geschichte
des Rosenkampff-Bergschen Handels kannte er z. B. so genau, dass
er sich noch nach einem halben Jahrhundert gedrungen fühlte, das
Gedächtnis des schmählich betrogenen und misliandelten Ehren-
mannes im Anhange seines bekannten Geschichtswerkes (Geschichte
Russlands, Bd. II, 2. letzte Note) zu retten. All diese halb ver-
gessenen Dinge aus dem Munde eines Zeitgenossen berichten zu
hören, war wunderbar anziehend. Am wunderbarsten erschien mir
'indessen die Feinheit und Schärfe, mit welcher Bernhardi die Eigen-
thümlichkeiten baltischen Lebens und Wesens aufgefasst hatte
Sein erster Aufenthalt in Liv- und Estland hatte bis zum Jahre
1819 gedauert; zehn Jahre später war er nach Estland zurück-
Baltltche MonaUschrlft. Bd. XXXIV. H.ft 3. 18
Digitize<j"by Google
268 Erinnerung an Theodor von Bernhardi.
gekehrt, wo sein Stiefvater das ihm durch Erbgang zugefallene
Gut Erwita besass, — wenig später indessen nach St. Petersburg
übergesiedelt und seitdem immer nur als sommerlicher Gast in
Liv- und Estland anwesend gewesen. Um die Mitte der vierziger
Jahre aber hatte er das russische Reich für immer verlassen und
die Stätten seiner Jugend nie wieder gesehen. — üeber das, was
sich seitdem auf baltischer Erde zugetragen, wusste er nur aus
Büchern und Zeitungen. Seine Zeitgenossen waren todt, ihre
Kinder waren ihm zumeist fremd geblieben: die t jüngsten» Namen
hervorragender livländischer Gelehrten, auf welche er sich besinneu
konnte, waren diejenigen der Brüder Walter (des dorpater Professors
und seines Bruders, des Bischofs) — im übrigen schienen die Fäden,
welche den königl. preuss. Legationsrath mit unserem alten Lande
verbanden, seit dem Tode der Söhne Krusensterns und seiner Halb-
brüder, der Herren von Knorring, zerrissen zu sein. Uud doch
hatte sich der hochbetagte, als Militärschriftsteller, Historiker und
Nationalökonom gleich hervorragende alte Herr (der sich u. a. der
Freundschaft Goethes rühmen durfte) ein Herz für unser Land und
ein Apercu für die Beurtheilung desselben erhalten, um das mancher
jüngere und den baltischen Verhältnissen näher stehende Mann ihn
hätte beneiden können. Ganz so unbedeutend und reizlos, wie
gewisse Leute meiuen, können diese Verhältnisse doch wol nicht
gewesen sein.
Bernhardi, der sein Leben lang aufmerksamer Beobachter und
unermüdlich genauer Arbeiter gewesen, hat aller Wahrscheinlich-
keit nach Aufzeichnungen über die Hauptereignisse seines langen
und reichen Lebens hinterlassen. Die wichtigsten dürften sich auf
die Verhältnisse Italiens im Jahre 1866 und Spaniens im Jahre
1870 beziehen, denen der Verstorbene als diplomatischer Agent
und Militärbevollmächtigter bis auf den Grund gesehen hatte.
Hoffen wir, dass der Sohn der Frau Sophie von Knorring auch
der Tage gedacht hat, in welchen er der Stiefsohn des cArroküll-
schen» Herrn gehiessen und von deren eigenthümlicher Gestaltung
er eben so lebensvoll und geistreich zu erzählen wusste wie von den
Zuständen des gelehrten und des politischen St. Petersburg der
dreissiger und der ersten vierziger Jahre, — den Zeiten der Krug.
Toll, Krusenstern, Löwenstern und F. v. Smitt. N. *
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Notizen.
Friedrich B i e n e in a n n , Conrad von Scharfenberg, Bischof von Speyer
und Metz und kaiserlicher Hofkanzler 1200—1224. (Sirassburtrer
Doctordissertation.) Stra«8bnrg, 18bH. 8.182.8.
||PlpeI' Verfasser hat sich zur Aufgabe gemacht, monographisch
%£&Mj politische Thätigkeit eines Mannes zu behaudeln, der
während der Regierung dreier deutscher Kaiser als Kirchenfürst
und hochgestellter Reichsbeamter auf die Gestaltung der politischen
Verhältnisse des deutschen Reichs im 13. Jahrhundert von nach-
haltigstem Einfluss gewesen ist. Nicht mit Unrecht weist die Ein-
leitung auf die Bedenken hiu, welche gegen den Versuch geltend
gemacht werden können, die Biographie eines mittelalterlichen
Staatsmannes des 13. Jahrhunderts zu schreiben. Wenn wir von
der Lebensbeschreibung eines hervorragenden Mannes erwarten,
dass sie uns das Bild einer greifbaren Persönlichkeit mit indivi-
duell ausgestalteten Zügen biete und das Verständnis für dieselbe
durch die Darstellung ihrer inneren Entwickelung in uns wecke,
so müssen wir für den weitaus grössten Theil des Mittelalters auf
diese Forderung verzichten. Nur das zweite wesentliche Moment
einer Biographie : die Darstellung der allgemeinen Verhältnisse,
auf deren Hintergrund das Lebensbild der einzelnen Persönlichkeit
erst seine rechte Beleuchtung erfährt, der Antheil, welchen dieselbe
an den Ereignissen der Epoche nimmt, das Mass seiner Einwirkung
auf diese allgemeine Zeitlage, die Rückwirkung der letzteren auf
sie, kann hier Berücksichtigung finden. Es ist ja eine bekannte
18»
270
Notizen.
Tlmtsache, dass alle grossen geschichtlichen Persönlichkeiten des
Mittelalters bis ins 14. Jahrhundert hinein für uns mehr oder
weniger schemenhafte Erscheinungen bleiben, die uns menschlich
fast gar nicht nahe treten. Die Sympathie, welche wir der einen
entgegenbringen, die Abneigung, welche uns eine andere einflösst,
werden nicht so sehr durch das persönliche Interesse an ihnen be-
stimmt, sondern viel mehr durch unser Verhältnis zur Sache, welche
sie vertreten. Erst mit dem Beginn der Memoirenliteratur treten
die interessanten Gestalten unserer Vorzeit aus dem dämmerhaften
Dunkel, das sie bisher umgab, heraus, erst da wird es uns möglich
Charaktere zu unterscheiden und zu beurtheilen. Es darf daher
niemand Wunder nehmen, wenn auch die vorliegende Arbeit sich
lediglich auf die politische Thätigkeit Conrads von Scharfen-
berg beschränken musste. Und doch, welche Fülle erschütternder
Ereignisse , gewaltiger Umwälzungen vollzogen sich unter den
Augen dieses Mannes und grossentheils unter seiner Mitwirkung I
Erlebnisse, die unter allen Umständen geeignet sein mussten, einen
Charakter nach der einen oder der anderen Seite hin zu bilden.
Aber es ist eine der merkwürdigsten Wahrnehmungen, welche die
Betrachtung des Mittelalters bietet, dass demselben Verständnis
und Interesse für den individuellen Werth der Persönlichkeit fehlten,
während doch gerade seine führenden Elemente, die weltliche und
geistliche Aristokratie, sich einer politischen und rechtlichen Un-
gebundenheit erfreuten, in die wir uns nur mit Mülie hineindenken
können.
Conrad von Scharfenberg entstammte einem jener Reichs-
dienstmannengeschlechter, welche den Staufern die tüchtigsten Be-
amten lieferten und auf die sich die Reichsgewalt vor allem stützte.
In früher Jugend für den geistlichen Stand bestimmt, erhielt (Jonrad
seine Erziehung in der speyerer Domschule und trat bald als
Propst und Domdekan in das speyerer Domcapitel ei». Der Ver-
fasser hat. wo sich ihm die Möglichkeit dazu bot, einige Streif-
lichter auf den Entwickelungsgang seines Helden fallen lassen. Es
verdient hervorgehoben zu werden, dass ihm der Nachweis gelungen
ist, wie sehr Conrads Schulzeit in Speyer und der Umgang mit
seinen staulisch gesinnten Lehrern auf die Kräftigung seiner
reichstreuen, staufischen Gesinnung von Einfluss gewesen sein muss.
Im Jahre 111)8 trat Conrad als Protonotar in die Dienste König
Philipps, der ihn 1200 nach seiner Wahl zum Bischof von Speyer
mit den Regalien dieser Kirc he belehnte. Während des wechselvollen
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Notizen.
271
Kampfes zwischen Philipp von Schwaben und Otto IV. stand Conrad
von Speyer unentwegt auf des ersteren Seite. B. zeigt, wie er von
Jahr zu Jahr dem König näher tritt, wie dieser ihn immer mehr
zu den wichtigsten politischen Arbeiten verwendet. Mit grossem
Geschick weiss der Bischof sein Verhältnis zu der Curie so zu ge-
stalten, dass es trotz seines entschiedenen Eintretens für eine vom
Papst verurtheilte Sache doch nur vorübergehend getrübt wird.
«Wie er von Anfang an ihm seiue Dienste gewidmet, so fand
auch die letzte Stunde Philipps Conrad an dessen Seite. > Als die
Mörderhand Ottos von Wittelbach den König traf, war Conrad
zugegen, ohne seinen Herrn retten zu können. Die grosse Be-
deutung Conrads tritt nun voll zu Tage: in seiuen Schutz begiebt
sich die Familie des Gemordeten, er nimmt die Reichsinsignien in
seine Verwahrung. Sein Entschluss, dem unseligen Bürgerkrieg
durch die Anerkennung Ottos IV. ein Ende zu machen, hat dann
wesentlich mitgewirkt, dessen Stellung im Reiche zu befestigen.
Otto ernaunte ihn sofort zum Reichshofkanzler, und als solcher
hat er bis auf ein .fahr vor seinem Tode im Mittelpunkt der
politischen Geschäfte Europas gestanden. Auch in Italien, dem
Papste gegenüber, verfocht der weltkluge Bischof das kaiserliche
Interesse. Als aber die Verhältnisse zum Bruche zwischen dem
Papst und seinem ehemaligen Schützling führten, als Otto IV. dem
Bann der Kirche verfiel und der junge Friedrich II. seinen Einzug
in Deutschland hielt, da hat auch Conrad die Fahne gewechselt.
B. zeigt, wie die Politik Ottos mit der Zeit immer mehr einen
Charakter annahm, den, wie so viele andere, auch Conrad im
Interesse des Reiches für verhängnisvoll halten musste ; dieser Um-
stand, sowie die stautischen Sympathien, in denen er gross geworden
war, lassen seinen Abfall vom Kaiser bis zu einem gewissen Grade
verständlich erscheinen. Aber gewiss hat der Verfasser Recht,
wenn er an dieser Stelle die Worte Winckelmanns citirt, der
Uebertritt Conrads von Scharfenberg sei «der beste Beleg für die
allgemeine Wahrnehmung, dass der Begriff politischer Ehrenhaftig-
keit den Grossen Deutschlands, wenige ausgenommen, vollständig
abhanden gekommen war». Dasselbe Jahr 1212 brachte Conrad
auch das Bisthum Metz zu. Innocenz III. willigte in diese ordnungs-
widrige Vereinigung zweier Bisthümer in einer Hand in Aner-
kennung der Dienste, welche Conrad seiner und Friedrichs II. Sache
geleistet hatte. Seinem neuen Herrn hat Conrad mit Hingebuug
und Eifer gedient Besonders ausführlich verweilt der Verfasser
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272
Notizen.
bei seiner Thätigkeit als kaiserlicher Legat in Italien, wo er un-
gefähr zwei Jahre hindurch die Verhandlungen mit der Curie wegen
Auslieferung der mathildinischen Güter an den Papst leitete und
die gesammte Reichsregierung mehr oder weniger in seiner Hand
vereinigte. Nach Deutschland 1222 zurückgekehrt, schränkte Conrad
seine politische Wirksamkeit ein, doch finden wir ihn häufig am
Hofe des jungen Königs Heinrich (VII.), für dessen Wahl er seiner
Zeit seinen ganzen Einfluss geltend gemacht hatte, ohne sich um
die abweichenden Forderungen der Curie zu kümmern. eDie recht-
liche Stellung Conrads von Speyer bei der Regentschaft lässt sich
nicht mit Präcision umgrenzen^ Er starb am 24. März 1224.
cEin reiches, viel bewegtes Leben fand seinen Abschluss, eine be-
deutende Persönlichkeit schloss ihre Augen. Was wol selten einem
Manne und noch keinem seiner Vorgänger — Conrad von Scharfen-
berg ist es zu Theil geworden : an der Seite seines Königs, dem
er von der Stunde seiner Erhebung bis zu der, als Mörderhand ihn
traf, in unwandelbarer Treue zur Seite gestanden, fand er seine
letzte Stätte. Er ruht in der Königsgruft des speyerer Domes
neben dem Hohenstaufen Philipp von Schwaben.»
Der sehr fleissigen und gut geschriebenen Arbeit ist zum
Schluss ein Anhang mit kritischen Untersuchungen, in welchen u. a.
einige belangreiche diplomatarische Fragen erörtert werden, und
einem Verzeichnis der Urkunden Conrads in Regestenform beige-
fügt. — Der Verfasser ist ein Schüler Hausmanns in Dorpat und
Scheffer-Boichorsts in Strassburg, unter dessen bewährter Leitung
die historische Wissenschaft bereits um eine stattliche Anzahl
tüchtiger Monographien bereichert worden ist. B g n.
J. Tli. He Irnsing, Leitfaden der Kirchenge»chichtc für höhere evangelische
Schulen nebet einer übersichtlichen Darstellung «ler wichtigsu-u
Untersehcidnnpslehren. Dritte Aufl. Dresden, Bleyl und Kaemmerer.
1887. S. 176 und 13. 8.
Auch die Zeit des * kleinen Kurtz> scheint im Schwinden.
Ein Hinweis darauf mag in der Thatsache der erforderlich ge-
wordenen dritten Auflage des oben genannten Leitfadens gesehen
werden, der nicht nur in unseren Provinzen viel benutzt ist, sondern
auch in Deutschland ungeachtet der ihm dort begegnenden starken
Concurrenz zur Einführung in die Mittelschulen empfohlen und viel-
fach eingeführt war. Die Anbequemung an die Reichsorthographie
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Notizen.
273
wird der gegenwärtigen Auflage das dem Buch einige Zeit über
entzogene Terrain gewiss rasch wieder gewinnen. Die immer
dringender sich geltend machende Nothwendigkeit der Beschränkung
des Memorirstoffes hat den erfahrenen Verlässer dazu gebracht, ein
Lernbuch zu liefern, das die Masse der Facten, Namen und Zahlen
beträchtlich zusammenschrumpfen, dabei aber die erzählende Form,
namentlich von der Reformationsgeschichte ab, vorwalten lässt.
Dieses Bestreben, durch klare einfache Sprache, warmen kirchlichen
Sinn und ruhiges Urtheil unterstützt, hat seine Anerkennung und,
wie erwähnt, den praktischen Erfolg gefunden.
Dem Schulmann werden bei aller gern und nothwendig er-
theilten Zustimmung doch immer auch einige Differenzen mit dem
verehrten Verfasser über die Behandlungsweise im Einzelnen sich
ergeben, so über das Mass der Beschränkung der Zahlen. Referent
ist z. B. der Ansicht, dass an gewissen Stellen Jahrzahlen zur
Deutlichkeit beitragen , ohne dass sie deshalb gelernt werden
müssten. Wenn der Verfasser p. 137 nach der Erwähnung des
Einflusses des Darwinismus auf die materialistische Weltanschauung
den betr. Abschnitt mit dem Satz schliesst : «Doch zeigten Männer,
wie Steffens und Schubert, dass man ein grosser Naturforscher und
zugleich ein gläubiger Christ sein kann» — so dürfte ein zu Hause
lernender Schüler über die Lebenszeit dieser beiden Männer doch
leicht sich unrechte Gedanken machen. — Eine andere Frage, zu
der die Besprechung des Mönchthums p. 45 Anlass böte, wäre die
über die Beibehaltung der Tradition gegenüber den neueren sicheren
Ergebnissen der Wissenschaft. So weit Referent geschichtliche
Lehrbücher kennt, will ihm scheinen, dass die Vorsicht in der Auf-
nahme neuer Errungenschaften der Forschung sehr weit getrieben ist.
Auch in diesem Sinne wäre eine Entlastung der Schüler wol angezeigt.
Für die Benutzung des Buches in unserer Heimat ist der
Anhang, einen knapp gehaltenen Abriss der provinziellen Kircheu-
geschichte bis auf die neuere Zeit bietend, sehr dankenswerth.
Fr. B.
Hansische! U r k u u d en h u c h , herausg. vom Verein für hansische (Je-
Hellicht«-, hearheitet von Konstantin H ö h I h a u in. Band III.
Mit einem Glossar von Paul Feit. Halle, Buchhandlung de« Waisen-
hauses. 1882—1886. S. XXI. und 586. 4.
Als Sartorius v. Waltershausen 1830 die erste urkundliche
Geschichte der Hause geschrieben, deren zweiter Band das Urkunden-
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274
Notizen.
buch umfasste, sprach Karl Friedrich Eichhorn es aus. «dass dieser
reiche Vorrath sich zusammenbringen lasse, hätte niemand gehofft»1.
Was sollen wir sagen, nach der Weiterarbeit eines halben Jahr-
hunderts , inmitten einer unvergleichlich gesteigerten Publicität,
beim Aublick der archivalischen Schätze, die in durchgeführtester
Methodik behandelt, in ansprechendster Gestalt vor unseren Augen
ausgebreitet werden ! Der Freude über den Fortschritt der Er-
kenntnis, über den Fortschritt wenigstens der Möglichkeit zu tieferer
und vollerer Erkenntnis zu gelangen, mischt sich unwillkürlich die
Empfindung des Verzichts auf die selbständig eigene Durchdringung
des für den Einzelnen nicht mehr zu bewältigenden Materials —
und resigniit unterwirft mau sich aufs neue dem Gesetz des Tages,
das den Durchschnittsmenschen in die Masse hineinzwingt, welche
statt der Einzelnen vergangener Generationen an der Entwickelung
schafft und so auch die Wissenschaft fördert.
Das Gegengewicht gegen diese demüthigende Erfahrung —
denn es ist nicht allen gegeben, in der Beschränkung sich wohl
zu fühlen — bietet dann freilich die Wahrnehmung, wie vorzüglich
auf abgegrenztem Wirkungsfelde die Kraft geschult, der Sinn ge-
schärft wird, welche ausgezeichneten Ergebnisse die Theilung der
Arbeit erzielt.
Solche widerstreitenden Empfindungen sind Referenten aber-
mals rege geworden bei der Durchsicht des ausgezeichneten Buches,
das oben genannt wurde. Es bildet den Abschluss der Thätigkeit
Höhlbaums an demselben, das vor zehn Jahren als erstes der
grossen Unternehmen des Hansischen Geschichtsvereins hervortrat
1870 erschien der erste, 1879 der zweite Band des Hansischen
Urkundenbuche8, 1882 die erste Abtheilung dieses Bandes, dem nun
eist, verzögert z. Th. durch persönliche Verhältnisse des Bearbeiters,
z. Th. durch den Reichthum der Resultate seiner Forschungsreisen
in Frankreich und Flandern, der Schluss gefolgt ist. Das Hansische
Urkundenbuch bezweckt in Ergänzung des Zieles der Editionen
der Hanserecesse vor allem den Stoff für die Vorgeschichte des
Bundes zu liefern : es verfolgt die Spuren des ersten Auftretens
und der Vereinigung der deutschen Kaufleute im Auslande und
begleitet deren Gestaltung und Geschicke, soweit sie nicht auf
Grund allgemein hansischer Anstösse sich vollziehen ; es stellt die
Verbindung der norddeutschen Städte in der Heimat dar; es über-
• Rechtagesch., 6, Aufl. 11, j>. 169.
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Notizen.
275
schaut das Wachsthum des Gebiets, in welchem das lübische Recht
Geltung gewinnt. Demgemäss umfasst das Werk die Zeit von
975 bis 13(i0.
Wie Höhlbaum bisher seiner Aufgabe gerecht geworden, dar-
über ist nur eine Stimme und hat auch Referent sich wiederholt
(in der «Rev. Ztg >) geäussert. Auch über die neuen Gesichts-
punkte, die sich für die Erkenntnis des Werdens des grossen
Bundes ergeben, ist schon gesprochen ; die Bedeutung der in helleres
Licht gestellten städtischen und städtisch-territorialen Landfriedens-
bündnisse für den Zusammenschluss der hansischen Verfassung ward
bereits gewürdigt. Eine Fülle frischer Anregung zu vertierterem
Studium hansischer Geschichte ist geboten, und mit Verlangen
dürfte der Wegweisung entgegengesehen werden, wie sie die übliche
Einleitung zu diesem Bande bringen sollte.
Dieser Erwartung ist allerdings noch nicht entsprochen, doch
wahrt sich H. das Recht , in einem selbständigen Werke zur
deutschen Geschichte seine Eindrücke aus dem Stoffe, mit dem er
lange Jahre sich beschäftigt, niederzulegen. Einstweilen beschränkt
er sich, wie er sagt, auf den Bericht darüber, was er für diesen
Band des Urkundenbuches getlian hat, obwol jede Seite desselben
das beredteste Zeugnis für den Eifer ablegt, nicht nur die Texte
in der vollkommensten Gestalt dem Benutzer vorzulegen, sondern
ihm auch diejenige Beherrschung des Materials zu ermöglichen,
nach der er selbst gestrebt hat. In diesem Bemühen hat der
Herausgeber noch mehr als zuvor und in solchem Masse, dass er
damit wol eigentlich einen neuen Weg in der Methode der Urkunden-
edition eingeschlagen, sich entschlossen, den fast überreichen Stoff
zu gliedern, die Zeugnisse zweiten Ranges an zweiter Stelle zu
bieten, aus den vollen Texten, die ihm vorlagen, nur die ent-
scheidenden Sätze mitzutheilen, die anderen blos anzudeuten, ganze
Urkundengruppen, die dem Rahmen des Werkes sich nicht hätten
fügen können, nur inhaltlich auszunutzen, ihre Mittheilung jedoch
anderer Gelegenheit aufzubewahren und in langer Reihe von An-
merkungen, Erläuterungen und Ausführungen' dem Leser gleich bei
der ersten Benutzung mit dem Gewinn jener Einsicht an die Hand
zu gehen, die ihm selbst erst allmählich zu erwachsen vermochte.
Indem Höhlbaum in seinem Bericht die Oertlichkeiten be-
zeichnet, an welchen er neue Beiträge heben konnte oder von denen
1 S.» nauuMitlich zu Nr. 4'23, 504, 5-15, KOI u. v. a.
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270
Notizen.
sie ihm zuflössen, skizzirt er leicht die Momente der Geschichte,
welche durch jene Beiträge in neue oder wol auch überhaupt in
die erste Beleuchtung treten. Fast zum ersten Mal erschlossen
wird die Bedeutung der flandrischen Begebenheiten für die Ent-
wickelung des allgemeinen Handelsverkehrs und specieü auch des
hansischen. Die bisherige Entlegenheit dieses Forschungsgebietes
bewog den Herausgeber, die Lage jener Landschaft in den kritischen
Jahren 1358—60 eingehender zu erörtern. — An denselben Zeit-
punkt knüpft der Versuch an einer neuen, von der Darstellung
Schäfers abweichenden Begründung der Stellungnahme Waldemars
von Dänemark zur Hanse. — Hinsichtlich des Ostens vermag
dieser Urkundenband die Linien sicherer nachzuziehen, auf denen
der Verkehr der Deutschen und Slaven in einer Zeit verschärfter
nationaler Gegensätze sich bewegt hat. Andererseits bietet er
Zeugnisse aus dem Westen dar, in welchen die Kaufleute von
Preussen auf weitem Wege jenseit des Rheins und des Kanals
und als mächtige Geldherren im alten Europa erkannt werden.
«Weiter hinaus, drüben, wo vor 700 Jahren der norddeutsche
Kaufmann, bald der Vertreter der hansischen Gedanken, die Lande
an der Düna und an der finnischen Bucht für Deutschland zuerst
erschloss, war noch immer nach neuen Abdrücken seines Wesens
zu forschen, so eifrig man auch schon seit langer Zeit die deutsche
Natur der fernen Colonien hatte feststellen können. Es ist eine
ernste Aufgabe der lebendigen Wissenschaft, welche sich nicht in
die Alterthümer verliert und erstorbenen Bildungen nachspürt, die
gemeinsamen Grundlagen der alten Heimat und dieser Nieder-
lassungen am Meere beständig nachzuweisen ; denn eine geschicht-
lich gewordene Kraft des deutschen Volks sieht sie vor sich, deren
Beruf noch nicht vollendet ist. Bis in die jüngste Zeit hat der
geschichtliche Sinn der Nachkommen der norddeutschen Colonisten
den Anschluss an die schöpferische Vergangenheit deutschen Bürger-
thums gesucht : die Entdeckungen, welche ihn belohnten, gewannen
unter diesem Lichte erhöhte Bedeutung.»
Wiewol bereits im zweiten Bande es geschehen, hat Höhlbaum
durch erneute Studien verstärkten Anlass gefunden zu betonen,
dass in der hansischen Forschung Westfalen
überhaupt näher in den Vordergrund der Be-
trachtung gerückt werden muss. «Es zeigt sich,
dass die Handlungen der Einzelnen und die Triebe der Gesammt-
heit der Städte aus Westfalen einen grösseren Antheil an der
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Notizen. 277
Gestaltung des hansischen Wesens gewonnen haben, als ihnen die
altere Ansicht eingeräumt hat.» Eine Wahrnehmung, die sich Re-
ferenten auf eigenem Forschungswege erst jüngst zwingend aufge-
drungen hat.
Schon aus diesen wenigen Bemerkungen lässt sich auf den
unerschöpflichen Reichthum der Beziehungen schliessen , die uns
in diesem Bande erschlossen werden. Selbst nur beim Durchblattern
treten sie überraschend hervor. Noch 1882 erschien e'nem Kenner
hansischer Geschichte wie Frensdorff die zu Ende des 12. Jahr-
hunderts in Frank reich verbreitete Kenntnis der Handelsbedeutung
Dortmunds auffällig. Eine als Nachtrag zu den früheren Bänden
mitgetheilte Urkunde des Erzbischofs Friedrich I. von Köln aus
dem J. 1103 (Nr. 601) belehrt uns jetzt, dass Dortmund im ge-
nannten Jahre bereits ein alter Angelpunkt auf dem Handels-
wege aus Nord frank reich über die Maas nach Sachsen gewesen. —
Oder : ein Tarif des kölnischen Rheinzolles aus den JJ. 1350 — 60
(Nr. 545) wirft die bisher vielfach geltende Vorstellung vom rheini-
schen Wasserverkehr bis 1819 über den Haufen. Es galt die An-
sicht, dass vor der Sprengung der Klippen im Binger Loch die
Schifffahrt ab- und aufwärts in Bingen sistirt sei ; hier Stapelplatz
und Hauptzollstätte naturgemäss habe eingerichtet sein müssen.
Süd- und norddeutsche Schiffer hätten hier die natürliche Grenze
ihres Bereichs gefunden. Nichts von alledem. Der Tarif kennt
Schiffe, die von Köln jiach Speier, die von Köln den Main auf-
wärts fahren ; das Binger Loch hatte also, wenn auch immerhin
seine Gefahren, so doch keineswegs eine den Verkehr hemmende
oder gar abschliessende Bedeutung. — So einige Beispiele.
Ein Anhang in drei Theilen handelt vom Recht des deutschen
Kaufmanns in England, Flandern und Russland. Eine Gesamrnt-
ausgabe der Nowgoroder Skraen wird als ein Band der Hansischen
Geschichtsquellen in Aussicht gestellt, vorläufig nur Bericht über
die Vorarbeiten, die bisher benutzten Handschriften erstattet. —
Abweichend von der bisher festgehaltenen Weise ist das Orts- und
Personenregister zusammengezogen und die Trennung der Personen
nach Ständen unterblieben.
Ist es den Freunden hansischer Geschichte ein schwerer Ge-
danke, den seit mein- als 15 Jahren mit dem Urkundenbuch ver-
bundenen Herausgeber fortan von demselben getrennt zu wissen,
so freut sie andererseits die Erwartung, die in der langjährigen
Hingabe an das Werk gereiften Anschauungen Höhlbaums in
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278 Notizen.
zusammenhängender Darstellung kennen zu lernen. Dass die voll«'
Kraft zur Ausgestaltung seines Planes ihm vergönnt wäre, ist des
Ref. warmer Wunsch. Fr. B.-
L n t h i' r , der Schöpfer der protestantischen Schule, als Knabe und Schüler.'
Rede, am 10. Nov. 1886 gehalten in der Realschule zu Mi tau 'von
Carl H n n u i u s. Riga, A. Stieda. 1887. S. 18. 8. . . .
Ein frisches lebendiges Wort, das die Aufmerksamkeit der
jugendlichen Hörer gefesselt haben rauss, wie es, im Familien-
kreise gut vorgetragen, eine ernste Weihestunde hervorzurufen
geeignet ist.
Fr. B.
AoaBOjeHo uen3ypo». — Pcbcji., 19-ro MapTa 1887 r.
lednckt bei Lindfor»' Erb.n in ImL
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Die Gegenreformation und die rigasche Domschule.
Ein Vortrag.
- -%J>fQ|rn 12. Juni 1522 hatte Andreas Knopken in der Petrikirche
@j#?Jk in Riga unter dem Vorsitze des Bürgermeisters Durkop
in öffentlicher Disputation das Evangelium von der freien Gnade
Gottes in Christo gegen die von den Mönchen vertretene papistische
Lehre siegreich verfochten. Seitdem war der durch Luther be-
gonnenen Reformation der christlichen Kirche auch in unseren
Heimatlanden die Bahn gebrochen. Sie fand nach Hinwegräumung
der aus der Papstkirche hervorgewachsenen Herrschaft des deutscheu
Ritterordens uijd der Landesbischöfe allgemeine Verbreitung, und
zwar in Estland «unter dem Schutze der schwedischen Herrschaft,
in Kurland unter der Pflege des Herzogs Gotthard Kettler, in
Livland endlich unter dem Schutze der vom Polenkönig Sigismund II.
August vertragsmässig (am 28. Nov. 15G1 in Wilna) zugesicherten
Religionsfreiheit. Die Städte waren vorangegangen, das flache
Land folgte allgemach, so weit die Wirren und Schrecken des seit
1558 in Livland und theilweise auch in Estland wüthenden Krieges
diese Friedensarbeit sich hier vollziehen Hessen. Als das von der
Kriegsgeissel tief verwundete Livland nach 24 Jahren schrecklicher
Drangsal endlich durch den Friedensvertrag von Sapolsk unter
polnischer Herrschaft verblieb, war es durchweg lutherisch. Der
päpstliche Gesandte Antonio Possevino bezeichnete es damals als
ein von der wahren Religion der römischen Kirche abgefallenes
Land, in welchem, wie er sich boshaft ausdrückt, die Augsburgische
BaltUclie Mo».t*«chrift. Bd. XXXIV. lieft«. 19
280 Die Gegenreformation und die rigasche Domschule.
<Confusion» bekannt werde, während nach seinem Bericht König
Stephan Livland als eine c leere Tafel» ansah, ganz dazu geeignet,
die katholische Religion wieder einzuführen. So vollständig war
also das Land damals dem Augsburger Bekenntnis beigetreten.
Die junge evangelische Kirche Livlands ging jetzt einer langen
und schweren Prüfung ihrer Lebensfähigkeit entgegen, da trotz
zugesagter Religionsfreiheit Jesuiten und Polenkönig darin überein-
stimmten, sie dürfe hier im Lande nicht geduldet werden.
Possevino hatte nämlich schon vor Abschluss des Sapolsker
Friedens mit König Stephan alles Nöthige vereinbart und entwickelte
nun in einem an den Papst Gregor XIII. gerichteten umfangreichen
Schriftstück vom 30. März 1583 auf Grund einer perfid zugeschnitte-
nen kurzen Uebersicht der livländischen Geschichte, in welcher die
fürchterlichen Schläge der letzten Jahrzehnte als directe Strafe für
die Reformation bezeichnet werden, einen vollständigen Plan zur
Katholisirung des Landes. Er zeigte, wie unter Benutzung der durch
die Besitzergreifung Livlands seitens des katholischen Königs
Stephan dargebotenen Gelegenheit trotz dessen Zusage freier
Religionsübung nach dem Augsburgischen Bekenntnis doch diese
ganze Provinz wieder zum Gehorsam gegen den päpstlichen Stuhl
zurückgeführt werden könnte, dann aber auch zu einem Stützpunkt
gemacht werden müsste für weitere Ausbreitung des katholischen
Glaubens auch noch nach Schweden und Russland. Er war ja
Jesuit und mit fanatischem Eifer darauf bedacht, die unter Führer-
schaft seines Ordens schon seit einem Menschenalter weit und breit
betriebene Gegenreformation auch für Livland zu organisiren und
in Gang zu bringen. Und er konnte bereits damals dem Papste
mit Genugthuung berichten, welch vielversprechender Anfang mit
der Verwirklichung seiner Pläne gemacht sei. Denn es war ihm
gelungen, nicht nur König Stephans energische Mitwirkung zu ge-
winnen, sondern auch in der Person des dem Könige nahestehenden
Reichskanzlers und Krongrossfeldherrn Jan Zamoiski, der selbst
vom Protestantismus zur Papstkirche übergetreten war, einen alle-
zeit bereiten Werkgenossen zu finden. Beide, König und Kanzler,
waren mit grossem Eifer an die Ausführung des Actionsprogramms
gegangen.
Schon einen Tag nach Unterzeichnung des Sapolsker Friedens,
in welchem der Zar gegen Räumung russischer Gebiete dem Könige
Livland förmlich abtrat, hatte Stephan von Grodno aus einen Be-
fehl an den dörptschen Magistrat erlassen, es dürften die Katholiken
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Die Gegenreformation und die rigasche Domschale. 281
in Dorpat von städtischen Aemtern nicht ausgeschlossen werden,
wie ihnen denn auch freie Ausübung ihrer Religion zustehe. Allein
es existirte damals kein Magistrat in Dorpat ; denn nachdem fast
alte früheren Einwohner nach Russland waren abgeführt worden,
bestand die dermalige Einwohnerschaft fast durchweg aus Russen.
Als diese im Februar 1582 die Stadt räumten und Zamoiski ein-
gezogen war, zeigte es sich, dass auch ein zweites Mandat des
Königs, welches 14 Tage nach dem Friedensschluss katholische
Ansiedler unter Zusage günstigster Bedingungen herbeigerufen
hatte, wirkungslos geblieben war. Es existirten damals in Dorpat
elf Kirchen, Zamoiski aber bestimmte, es solle nur die eine St.
Johanniskirche den Protestanten eingeräumt werden, alle übrigen
Kirchen sollten den Katholiken gehören. Vergebens ; die Stadt
blieb leer. Ein Versuch des Königs, katholische Massovier überzu-
siedeln, war auch nicht gelungen ; man mussie sich dazu eut-
schliessen, die Stadt mit protestantischen Bürgern zu bevölkern,
welchen mittelst königlichen Patentes vom 14. Mai 1582 freie
Ausübung ihrer Religion nach dem Augsburgischen Bekenntnis zu-
gesichert wurde. Jetzt füllte sich die Stadt rasch mit deutschen
Bürgern lutherischen Glaubens und das erste Protokoll des förmlich
wieder bestallten Rathes trägt das Datum des 9. Juli 1583.
In Dorpat hatte der Erfolg nicht ganz dem Eifer entsprochen.
In Riga war anders vorgegangen worden.
Am 12. März 1582 war König Stephan unter grossem Ge-
pränge in Riga eingezogen, das zum ersten Male einen König in
seinen Mauern beherbergen sollte. Dieser wollte das Osterfest
daselbst feiern und Hess, als seine Forderung, ihm solle eine Kirche
eingeräumt werden, Bestürzung und Gegenvorstellungen hervorrief,
am Freitag vor Palmsonntag kurzer Hand die St. Jacobikirche für
den katholischen Gottesdienst einfach wegnehmen. Ebenso wies er
die beim Nonnenkloster befindliche Marien-Magdalenenkirche den
Katholiken zu, da sich im Kloster noch einige hochbetagte Nonnen
befanden. Gegen Ueberlassung der übrigen Kirchen und der ehe-
mals im Besitz des Erzbischofs und des Domcapitels gewesenen
Häuser an die Stadt musste diese schnöder Weise zum Besten der
weggenommenen Jacobikirche auch noch jährlich 100 Gulden zahlen.
Am 2. Mai 1582 verliess König Stephan die Stadt ; Tags zuvor
aber hatte er seinen seitherigen Secretär Solikowski zum Curator
der beiden den Protestanten weggenommenen Kirchen und des
Nonnenklosters ernannt und als unzweideutigen Beweis seiner
19*
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282 Die Gegenreformation und die rigasche Domschule.
Absichten den wilnaschen Bischof und nachmaligen Cardinal Georg
Radziwil zum Statthalter von Livland in Riga eingesetzt. Bereits
in jenem Mandat, welches katholische Einwanderer ins Land rief,
hatte der König die Wiedererrichtung eines katholischen Bisthums
für Livland angekündigt; am 3. December 1582 führte er dieses
Vorhaben aus, indem er Solikowski zum Bischof von Wenden er-
nannte, diesen Bischofssitz mit den Schlössern und Gebieten von
Wolmar, Trikaten, Burtneck, Wrangelshof, Rodenpois und Odenpä
ausstattete und dem Bischof ausserdem die Schlösser in Wenden,
Pernau, Dorpat und Fellin zur Wohnung anwies, während den
Prälaten und Domherren in Wenden eine ganze Gasse überlassen
wurde. Der zum Katholicismus übergetretene livländische Edel-
mann Otto Schenking wurde Dompropst. Am Tage nach der Aus-
fertigung dieser Stiftungsurkunde unterzeichnete der König die
Constitutiones Livotiiae, welche die Verfassung und Verwaltung des
Landes regeln sollten. In diesem Erlass wurde der soeben erst
ernannte Wendensche Bischof zum Stellvertreter des Statthalters
bestimmt, und damit man darüber nicht im Zweifel bleibe, welche
Kirche der König als die in Livland zur Herrschaft berufene an-
sehe, so bezeichnete er die Lutheraner Livlands in diesem Grund-
gesetz des Laudes als «Dissidenten».
Das waren die vielversprechenden Anfänge , über welche
Possevino dem Papst berichten konnte. Alles war nunmehr ein-
gerichtet, die Propaganda konnte beginnen. Die erforderlichen
Missionskräfte lieferte das von Possevino errichtete jesuitische
Seminar in Wilna. von wo bereits am 7. März 1583 zwölf Jesuiten
nach Riga kamen, vom Könige schriftlich dem Rathe dringend
empfohlen. Sie rühmten sich vor dem Rath ihrer selbstlosen Hin-
gabe an Seelsorge und Jugendunterricht und verlangten zunächst
nichts weiter, als in Leistung ihrer guten Dienste nicht gestört
zu werden, die sie wie ehedem der heilige Priester Meinhard diesem
Lande widmen wollten. Sie boten auch gleich die Errichtung
einer Jesuitenakademie in Riga an. Der Rath lehnte nun zwar
dieses Anerbieten ab, konnte aber dessen Ausführung doch nicht
hindern, da die Jesuiten sich im Nonnenkloster festsetzten, welches
der König ihnen sogar sammt der Marien-Magdalenenkirche schenkte,
als sie gegen Ende des Jahres 1584 ihr Collegium wirklich er-
öffneten. Auch in Dorpat zogen die Jesuiten schon Eude März
1583 eiu und nahmen auch hier das ehemalige Nonnenkloster mit
der Katharinenkirche für sich in Besitz. Ihre Agitation behufs
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Die Gegenreformation und die rigasche Domschule. 283
massenweiser Ueberführung des Landvolkes in den 8choss der
alleinseligmachenden Papstkirche wurde gleichzeitig begonnen.
Schenking, welcher vier Jahre später Wendenscher Bischof wurde,
predigte in der Umgegend Rigas den Bauern in ihrer Sprache, die
er als Landeskind konnte, während andere Jesuiten die Sprachen
des Landvolkes mit Eifer sich anzueignen suchten und bald ihm
zur Seite treten konnten. Was Schenking predigte, ist höchst be-
zeichnend : die lutherischen Prediger seien Miethlinge ; die katho-
lischen Geistlichen dagegen, wie z. B. der Cardinal Radziwil und
er selbst, hätten, wiewol vornehmen Geschlechtern entstammend,
dennoch alles verlassen, um sich dem Dienste der katholischen
Kirche zu weihen, woraus denn doch klar hervorgehe, dass die
katholische Kirche die wahre Kirche Christi sei. Andere Sendlinge
redeten den Fischerbauern auf, der Fischfang habe wegen ihres
Uebertrittes zum Lutherthum abgenommen, tauften sodann das
Meer, segneten Wasser und Fischer, warfen die gefangenen Fische
wieder in die See und versprachen glücklichen Fang, wenn die
Bauern silberne Fische würden machen lassen und der katholischen
Jacobikirche in Riga verehren. — Religionsbücher und Flugschriften
wurden verbreitet zur Unterstützung der mündlichen Ueberredung.
Die stattgefundenen Uebertritte wurden sorgsam gezählt und ge-
hörig bekannt gemacht, wobei auch wol Uebelthäter in Folge ihres
Uebertrittes Milderung oder gar Erlass ihrer Strafe erhielten.
Laienbruderschaften wurden in Riga und in Dorpat gebildet, welche
in jeder Weise die Propaganda der Jesuiten unterstützten. Dazu
erklärte der Cardinal-Statthalter auf dem Landtage von 1583, er
wolle sich zwar der vom Könige für Livland gewährten Zulassung
des Augsburgischen Bekenntnisses nicht widersetzen, müsse aber
doch um seines Gewissens, Standes und Amtes willen dagegen
protestiren. Im Jahre 1584 machte er persönlich eine Rundreise
durchs Land uud stellte schon damals in Dorpat das Verlangen,
die lutherischen Pastoren sollten den Esten nicht mehr predigen.
Er drang zwar nicht durch, weil der Rath sich auf das Privilegium
des Königs berief, doch war er von der überall durch die Jesuiten
mit Eifer betriebenen Propaganda so sehr befriedigt und von dem
schliesslichen Erfolg derselben so sehr überzeugt, dass er auf die
Mauer des Schlosses in Riga eine Inschrift setzen Hess, in welcher
er die Wiederherstellung der alten Religion in Livland pries.
Das Bekehrungswerk wurde unter Hochdruck betrieben, ging
aber auf diesem Wege den Jesuiten doch noch zu langsam vorwärts.
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284 Die Gegenreformation und die rigasche Domschule.
Sie achteten darum dessen nicht, dass der König in seiner dein
Cardinal-Statthalter ertheilten Instruction vom i. Mai 1582 aus-
drücklich alle Mässigung im Vorgehen geboten hatte, damit die
Gegner keinerlei Handhabe gewinnen könnten, Bewegung oder Auf-
ruhr im Volk zu entfachen, sondern fingen bald genug an, feind-
selig gegen evangelische Prediger und Laien aufzutreten. Ein
lutherischer Landwirth in der Umgegend Dorpats wurde dessen
angeklagt, die Bauern zum Lutherthum verführt zu haben; der
Pastor Mag. Johann zum Dahle in Riga wurde angeklagt, die
Jesuiten von der Kanzel Zauberer gescholten zu haben, weil er,
die Worte des Apostels Paulus an die Galater (Cap. 3, l) an-
wendend, gesagt hatte : «o ihr unverständigen Rigenser, wer hat
euch bezaubert, ohne Noth die Jesuiten in die Stadt aufzunehmen I>
Der Cardinal-Statthalter verlangte höchst aufgebracht vom Rath
die Auslieferung des Pastors, und nur die Drohung der Bürger-
schaft, <den Jesuiten ihre weiss abgeputzte Kirche blutroth anzu-
streichen!, wenn dieses Wesens zu viel gemacht würde, bereitete
diesem Process ein rasches Ende. Anderen Predigern Rigas aber
wurde vom Cardinal-Statthalter die Kanzel verboten ; andere Pro-
cesse wurden von den Jesuiten angestrengt, da sie als Vertreter
der Papstkirche jegliche Zurückweisung ihrer schnell sich steigernden
Ansprüche und Eingriffe als Beleidigung ihrer Kirche und des der-
selben angehörenden Königs bestraft zu sehen verlangten. Im
Laufe der Jahre sollen sie allein in Riga bis 400 Processe an-
hängig gemacht haben. In Dorpat bewiesen sie sich ebenso händel-
süchtig, während sie stets über Streitsucht der Lutheraner klagten.
Ueberall aber hatten sie an den immer zahlreicher ins Land ge-
schickten polnischen Beamten willfährige Beschützer ihres Treibens.
Zugleich benutzten sie jede Gelegenheit, um die Autorität der
protestantischen Magistrate zu untergraben. Tbeils handelten sie
selbst den bestehenden Gesetzen zuwider, theils ermuthigten sie
ihre Schützlinge zu solchen Handlungen, wussten dann für Straf-
losigkeit zu sorgen und so dem niederen Volk eine hohe Meinung
von ihrer Macht beizubringen, da sie es eben fertig brachten, offen
aller Autorität zu trotzen.
Die Zerwürfnisse zwischen Rath und Bürgerschaft in Dorpat
und gleichzeitig in Riga, welche Macht und Ansehen der Magi-
strate zu vernichten drohten, waren den Jesuiten eben recht. In
Dorpat drohte ein Bürger, er wolle, wenn der Rath nicht nach-
gebe, c unter die Jesuiten ziehen und unter ihnen wohnen, wie
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Die Gegenreformation und die rigasehe Domschule. 285
denn der Rath in einem halben Jahre kaum den zehnten Theil der
Bürger behalten würde >. In Riga kam es ja gelegentlich der
Einführung des neuen Kalenders zu offener Empörung unter Martin
Gieses Leitung, der zugleich die Jesuiten benachrichtigen Hess, es
sei gar nicht auf sie abgesehen, sondern auf Abwerfung der Herr-
schalt des Rathes. Die Jesuiten antworteten beifällig und kenn-
zeichneten damit deutlich genug ihre ganze Taktik. Freilich, sie
säeten Wind und ernteten Sturm. Denn als Giese zwei und ein
halbes Jahr später seine durch blutigen Terrorismus angemasste
Herrschaft über die Gemüther seiner Mitbürger nur noch dadurch
behaupten konnte, dass er diese zu immer grösseren Ausschreitungen
mit sich fortriss, da veranlasste gerade er, dass die Jacobikirche
den Jesuiten mit Gewalt entrissen und sie selbst aus Riga verjagt
wurden. Zwei Jahre darauf wurde Giese auf Befehl einer be-
sonderen königlichen Commission nebst zweien seiner thätigsten
Genossen öffentlich enthauptet, der Verfassungsstreit aber zwischen
Rath und Bürgerschaft nach Bestrafung der anderen Rädelsführer
beigelegt.
Mittlerweile war König Stephan am 2. (12.) December 1580
gestorben und ihm war der katholisch erzogene schwedische Kron-
prinz als Sigismund III. auf dem polnischen Königsthrone gefolgt.
Als nun König Sigismund vom 12.— 21. November 1589 in Riga
weilte, verlangte er die Wiederaufnahme der Jesuiten. Die Stadt
protestirte unter Appellation an den polnischen Reichstag ; allein
dieser nahm sich der Sache nicht an und der König setzte die
Rückkehr der Jesuiten und die Rückgabe der Jacobikirche im
Jahre 1590 durch. Als Entgelt dafür gestattete er, die Zahl der
lutherischen Kirchen in Riga um eine zu vermehren, — es war
das die neuerbaute St. Gertrudkirche. Die Jesuiten aber waren
nun doch wieder da und König Sigismund, ganz der Leitung seines
Beichtvaters, des Jesuiten Bernhard, folgend, verlieh ihnen dazu auch
noch ansehnliche Gtiterdonationen und reichliche Mittel zur Er-
richtung eines neuen Collegiums in Wenden, welches nunmehr das
dritte im Lande war. Ihre Stellung war jetzt stärker als vor ihrer
Vertreibung aus Riga, demzufolge auch ihr Auftreten dreister als vor-
her. Aus Dorpat wurde der estnische Prediger Christoph Berg auf
Bischof Schenkings Befehl gefangen weggeführt, weil er nicht aufge-
hört hatte, den Esten zu predigen. Ja, der Bischof wirkte endlich
einen Befehl des Königs vom 1. December 1012 aus, der den lutheri-
schen Predigern Livlauds geradezu untersagte, den < Undeutschen > zu
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286 Die Gegenreformation und die rigasche Domschule.
predigen und sie seel sorger isch zu bedienen. Die Proteste, welche
dagegen laut wurden, beantwortete der Bischof im Jahre 1613 mit
Anordnung jener berüchtigten < Kirchenvisitation», deren Zweck
die Durchführung dieses Mandates war. Die Visitatoren verlangten
überall auf dem flachen Lande die Entfernung der lutherischen
Prediger dnrch die weltliche Obrigkeit, d. h. durch die polnischen
Beamten. In Dorpat wurde 1617 die Feier des hundertjährigen
Reformationsfestes verboten, während in Wenden die Protestanten
an Feiertagen der katholischen Kirche nicht ihre Werktagsarbeit
thun durften. Ein lutherischer Prediger Dorpats hatte zwei Kinder
lutherisch getauft, welche der katholische Pfarrer von Marien bürg
für sich in Anspruch nahm, und dafür sollte der Pastor 500 Gulden
Strafe zahlen, wie er denn auch auf Uebertretung des königlichen
Befehls verklagt wurde, weil er Esten auf ihr dringendes Bitten
mit dem heil. Abendmahl bedient hatte. In Wenden drohte der
polnische Unterstarost, die lutherischen Einwohner zum Besuch der
katholischen Gottesdienste zu zwingen ; in Dorpat geschah das
wirklich mit denjenigen Esten, welche die lutherische St. Johannis-
kirche besuchen wollten, indem die Jesuiten sie von Heiduken in
die katholische Marienkirche treiben Hessen. Jeder Widerspruch
aber gegen dergleichen Bekehrungsmittel wurde von den polnischen
Beamten als Auflehnung gegen den König mit Strafe bedroht.
Der Demagoge Giese hatte aus Riga die Jesuiten zwar ver-
trieben, aber sie waren wiedergekehrt und man hatte die Erfahrung
gemacht, dass ihrer Propaganda mit Gewaltmitteln nicht beizu-
kommen war, da die polnische Staatsgewalt je länger je mehr ihre
Stellung im Lande zu einer übermächtigen werden Hess. Ihrer
Propaganda konnte nur erfolgreich begegnet werden, wenn es ge-
lang, bei reinlicher Sonderung der religiösen Interessen von den
politischen Dingen das confessionelle Bewusstsein der Lutheraner
zu stärken und zu vertiefen. Was kurzsichtiger, wenn auch ehr-
lich gemeinter Religionseifer für Schaden angerichtet hatte, war
in Riga an dem Rector der Domschule, Heinrich Möller, erlebt
worden. Unter dem Vorwande des Widerstandes gegen päpstliche
Einflüsse hatte Giese nebst seinen Genossen die Leidenschaften der
Bürgerschaft entfesselt und diese veranlasst, gegen den Rath, als
den Vertreter des übrigens von König Stephan anbefohlenen neuen
Kalenders, in hellem Aufruhr aufzustehen, und Möller hatte in
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Die Gegenreformation und die rigasche Domschule. 287
höchster Unbesonnenheit sich dazu verleiten lassen, mit der ihm
anvertrauten Schuljugend in der Auflehnung gegen den neuen
Kalender eine active Rolle zu spielen. Seine Beliebtheit bei den
Schülern, die ihn, als er in Haft genommen war, unter Anführung
des Conrectors Mag. Valentin Rasch gewaltsam befreiten, scheint
gerade nicht die gesundeste pädagogische Grundlage gehabt zu
haben. Denn wenn man auch gegen die von ihm veranlasste
Wiedereinführung des seit 30 Jahren nicht mehr begangenen Mai-
grafenfestes nichts Erhebliches einwenden wollte, so ist es doch
etwas seltsam, dass es in einer Rechnung der Schwarzenhäupter
vom Jahre 1588 heisst: *noch hebbe ick betalet vor bere, dat in
der tyd gedrunken wort , do de scholere rymeden , 32 Mark
10 Schillinge.* Schülerkomödien mit obligatem Bier, — und drei
Jahre früher ein erfolgreicher Schuljungensturm auf das Rathhaus-
gefänguis — wo war da die Zucht geblieben V Als die königliche
Oommission 1588 in Riga erschien, entwich Heinrich Möller heim-
lich aus Riga, um nie wiederzukommen. Bei solcher Zerrüttung
konnte die Domschule es in tüchtiger Schularbeit mit dem Jesuiten-
collegium unmöglich aufnehmen. Es musste Wandel geschafft
werden.
Als die ganze böse Zeit dieses verderblichen Bürgerzwistes
iu Riga vorüber war und wieder geordnete Verhältnisse Platz
greifen konnten, da besann man sich auch darauf, wessen man im
Kampfe um die evangelische Glaubensfreiheit im letzten Grunde
bedurfte. Nicht rohe Gewalt, sondern innere üeberlegenheit geistiger
Macht und evangelisch-christlicher Durchbildung des heranwachsen-
den Geschlechtes musste hier deu Ausschlag geben und konnte es
auch allein. Denn Rom stirbt nur am Evangelium von der freien
Gnade Gottes in Christo. Und es gab in Riga noch Männer, die
den Sachen auf den Grund sahen und auch Hand ans Werk legten.
Es galt der Jesuitenakademie eine evangelische Schule gegenüber-
zustellen, welche ihr den Vorrang abgewinnen konnte. Der Syndi-
kus David Hilchen ward die Seele der dahin zielenden Bestrebungen,
ein Mann, der, von den Anhängern Gieses gefürchtet, gehasst und
geschmäht, von den Urteilsfähigen seiner Mitbürger und Zeit-
genossen hoch und werth gehalten, seiner Gesinnung in dem Giebel-
spruch seines Hauses in schwüler Zeit kurzen und beredten Aus-
druck verlieh mit den Worten : t Concordia res parvae crescunt,
discordia magnae dilabuntur.* Er betrieb, von dem Bürgermeister
und königlichen Burggrafen Nicolaus Ecke, von Rath und Bürger-
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288 Die Gegenreformation und die rigasche Domschule.
schaft kräftig unterstützt, mit unermüdlichem Eifer und Geschick
die Reorganisation der evangelischen Domschule, zu deren oberstem
Leiter der gelehrte und erfahrene Johannes Rivius, welcher seit
1580 Lehrer und Erzieher der herzoglichen Prinzen von Kurland
gewesen war, bereits im Jahre 1589 berufen wurde. Besonders
seit 1591 wurde die Erweiterung der Schule energisch gefördert.
Kehrten doch die Jesuiten in diesem Jahre nach Riga zurück und
hatten sie doch bald auch Söhne angesehener Bürger und, wie sie
in ihrem Berichte rühmen, sogar im Jahre 1593 drei Söhne des
berühmtesten Arztes in Riga zur Erziehung in ihr Institut auf-
nehmen können. Die Leitung der Schulsache wurde vom Rath den
beiden Scholarchen Ecke und Hilchen und dem Rector Rivius an-
vertraut, und diese wussten, was sie wollten.
Vor allen Dingen wurde das Ziel der Schularbeit fest und
klar, und zwar höher als seither, dahin festgestellt, dass die
Schüler für das Universitätsstudium vorbereitet werden sollten.
Zu dem Zweck wurde die bisher dreiklassige Schule in eine fünf-
klassige Lateinschule umgewandelt. Und nach fünfjähriger stiller,
aber eifriger Arbeit war man so weit, dass am 18. Juli 1594 in
einem feierlichen Schulactus die solchergestalt verjüngte und er-
weiterte Schule der evangelischen Bürgerschaft Rigas vorgestellt
werden konnte. Bei dieser Gelegenheit hielten Ecke und Hilchen
als Scholarchen, Rivius als oberster technischer Leiter, seit 1593
mit dem neuen Titel eines Inspector scholae ausgezeichnet, öffent-
liche Reden. Diese drei Reden, selbstverständlich in correctem und
glänzendem Latein verfasst, hat Rivius auf Wunsch der beiden
Scholarchen noch vor Schluss des Jahres bei dem durch Hilchen
nach Riga gezogenen allerersten Buchdrucker Livlands Nicolaus
Mollin zum Druck befördert.
Ecke betont mit Nachdruck die Absicht des Rathes, das
väterliche Erbe zu erhalten und zu schützen zur Ehre Gottes
und zur Förderung der öffentlichen Gesittung und Wohlfahrt. Das
war der deutliche und kräftige Grundton dieser Feier. Hilchen
deutet erst vorsichtig die Verwirrung aller Angelegenheiten an,
inmitten welcher der Rath sich der Schule angenommen, verlangt
dann in ernstem Ton, dass Haus und Schule Hand in Hand gehen
sollen, in dem Sinne nämlich, dass das Haus nicht hemme oder
gar niederreisse, was die Schule mühsam aufbaut. Weiter ver-
breitet er sich über die Pflichten, welche Obrigkeit und Eltern,
Schüler und Lehrer in aller Treue zu erfüllen haben, um das Ziel
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Die Gegenreformation und die rigasche Domschule. 289
zu erreichen. Schliesslich stellt er den Inspector förmlich und
feierlich den Anwesenden vor und legt dabei <allen und jeden, die
sich zu den Unsrigen rechnen wollen», im Namen des Rathes
dringend ans Herz, sich willig und vertrauensvoll um diesen Mann
zu schaaren und seiner Leitung und Führung zu folgen, der durch
Geist und Erfahrung, durch Gelehrsamkeit und Bildung sich des
ausgezeichnetsten Rufes erfreue. Wie in heller, das Tongeschlecht
entscheidender Terz stimmt Hilchens Rede zu Eckes Grundton,
und wie die Dominante schliesst diesen Dreiklang harmonisch ab
die Rede des also eingeführten Rivius. Der damals bereits 66-
jährige Schulmann hebt seine formvollendete Rede damit an, dass
er die Gründung solcher Schulen, welche auf die Ehre des heiligen
Gottesnamens abzielen und zur Mehrung der Kirche Jesu Christi
dienen, als Gnadengeschenk des allmächtigen Gottes preist, welchem
die Wiederherstellung der durch Lügen und Aberglauben der
Menschen misbildeten und verderbten Kirche zu ihrer vormaligen
Zier zu verdanken sei. Das ist bei ihm nicht Redensart, sondern
ein Ausdruck eigener Lebenserfahrung, da er in seiner Jugend
Zeuge gewesen war, wie die Reformation im Herzogthum Sachsen
und in Westfalen im Geleite der evangelischen Schule ihren Einzug
gehalten hatte. Als Luther starb, war ja doch Rivius bereits ein
achtzehnjähriger Jüngling. Damit man aber wisse, wessen man
sich in Riga von ihm zu versehen habe, giebt er nun weiter Rechen-
schaft von seiner religiösen uud kirchlichen Stellung. Er bekennt
sich in sorgfältig präcisirten und dabei doch wannen, durch
edle Einfachheit ergreifenden Worten voll und ganz als ein Glied
der Kirche, welche der Augsburgischen Confession folgt und in
welcher er sich als in der Gemeinschaft der wahren Kirche ge-
borgen weiss, da er nicht daran zweifle, dass aus dieser Gemein-
schaft, in welcher Gott selber durch den Dienst des lauteren und
unverfälschten Evangelii und den rechten Gebrauch der Sacramente
Wohnung macht, das ewige Erbe dem Sohne Gottes gesammelt
werde. Von allen anderen, diesem Bekenntnis abholden Haufen
und Genossenschaften, welches Namens immer, sagt er sich in
den entschiedensten Ausdrücken los. Indem er sich nuu zu der
speciellen Aufgabe des Gymnasiums wendet, bestimmt er dieselbe
in breiterer Ausführung dahin, dass die Jugend zu Frömmigkeit
und Ehrenhaftigkeit erzogen und zu gelehrter Bildung solle ange-
leitet werden, so dass Geist und Wort, Herz und Zunge zu leben-
diger Einheit und wirkungskräftiger Tüchtigkeit fürs Leben durch-
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290 Die Gegenreformation und die rigasche Domschule.
gebildet werden. Nach einer passenden Ermahnung an die Schüler
zu Pleiss und Ausdauer schliesst er mit einer kurzen Bezugnahme
auf gegnerische Bestrebungen und Verleumdungen, um zu deren
Entkräftung nicht Worte, sondern Thaten als wirksamstes Mittel
zu empfehlen.
So vorsichtig auch in allen diesen Reden jede Polemik gegeu
die Jesuiten, ja selbst die Nennung ihres Namens vermieden und
nur ganz allgemein auf die schweren Zeitverhältnisse hingedeutet
wird, so deutlich musste doch jedem Zuhörer zum Bewusstsein
kommen, in welchem Sinne die so nachdrücklich betonte positive
Aufgabe dieser Schule zu verstehen war. Durch energische ße-
thätigung in confessionell bewusster und dem hohen Ziel stets zu-
strebender gemeinsamer Arbeit an der heranwachsenden Jugend
sollte ein Geschlecht erzogen werden, welches in evangelisch-christ-
licher Mannhaftigkeit und Leistungsfähigkeit der Aufgabe gewachsen
wäre, das Erbe der Väter zu erhalten und zu schützen zur Ehre
Gottes und zur Förderung der öffentlichen Gesittung und Wohl-
fahrt. Zu solcher Bethätigung sollten eben diese Reden anspornen,
sollte der ganze Schulactus vom 18. Juli 1594 aufs neue die
lutherische Bevölkerung Rigas anregen und ermuthigen.
Hat nun die also erneuerte rigasche Domschule der ihr ge-
stellten Aufgabe entsprochen ?
Ein von Rivius mit grossem Fleiss, mit Umsicht und pädago-
gischem Tact ausgearbeiteter ausführlicher Schulplan zeigt, wie
ernst und nach allen Seiten hin wohlerwogen die Arbeit der Schule
geleitet und betrieben werden sollte. Rivius selbst starb schon
am 8. Mai 1596 ; der Umstand aber, dass sein Schulplan erst im
folgenden Jahre bei Mollin gedruckt und zur Nachachtung ver-
öffentlicht wurde, lässt deutlich die Absicht der Scholarchen er-
kennen, die von Rivius begonnene Arbeit in den von ihm gewiesenen
Bahnen und in seinem Geiste fortzuführen. Uns darf dabei nicht
wundern, dass die humanistischen Studien auf dem Gebiete der alt-
klassischen Literatur nach diesem Schulplau neben dem evangelischen
Religionsunterrichte Zeit und Kraft der Lehrer und Schüler vorzugs-
weise in Anspruch nehmen sollten. Denn das durch die wittenberger
Reformatoren für die evangelischen Gymnasien gesteckte Ziel und
der ihrer Arbeit gewiesene Weg war eben damals noch so durch-
aus massgebend, dass sogar die Jesuiten das in dieser Beziehung
von allen Zeitgenossen als Musterinstitut betrachtete, von Johannes
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Die Gegenreformation und die rigasche Domschule. 291
Sturm organisirte und während der langen Zeit von 1538 bis 1583
geleitete Strassburger Gymnasium für die äussere Organisation
ihrer Schulanstalteu zum Vorbild nahmen. Der älteste Lehrplan der
Jesuiten, welcher für die von ihnen so genannten «niederen Studieu»
fünf Schulklassen festsetzte, datirt vom Jahre 1588, wurde 1599 nach
vielfacher Prüf ung public^ und ist von ihnen bis zur Mitte unseres
Jahrhunderts im wesentlichen unverändert befolgt worden. Galt
es nun in Riga gerade den Jesuiten auf dem Gebiete der gelehrten
Schulbildung erfolgreich zu begegnen, so durfte auch schon des-
halb die Pflege der alten Sprachen keinen geringeren Raum erhalten.
Im übrigen lässt sich der damals weit über Strassburgs Schulwesen
hinausreichende Sturmsche Einfluss unschwer auch aus der Formu-
lirung erkennen, in welcher das Bildungsideal der Domschule aus
Hilchens Rede und aus Rivius' Sch ul pro gram m, wenn auch in selb-
ständiger Weise entwickelt und motivirt, uns entgegentritt, da
dasselbe hier ebenso wie von Sturm in die Formel zusammengefasst
wird: «Fr öm m i g k e i t , K e n n t n i s s e , Kunst der Rede.»
Bei alledem aber bietet das Programm der erneuerten rigaschen
Domsclmle doch noch etwas Neues und Eigenartiges dar, sofern
auch die polnische Sprache als Lehrgegenstand darin einen Platz
gefunden hat. Der Beweggrund wird ausdrücklich hervorgehoben
und zeigt, dass die Scholarchen Rigas die Zeitlage begriffen hatten.
Im letzten Abschnitt des Schulplanes werden nämlich die Sprachen
aufgezählt, welche in dieser Schule erlernt werden müssen; es sind
Griechisch, Lateinisch, Deutsch und Polnisch, und zwar letzteres,
weil Livland und Riga zum polnischen Reiche gehörten.
Indessen wird man die Leistungen einer Schule doch niemals
allein nach ihrem Arbeitsprogramm, sei dieses auch noch so vor-
trefflich, in zutreffender Beurtheilung würdigen können ; die Be-
währung ihrer Zöglinge im späteren Leben muss ergänzend hinzu-
treten und den Thatbeweis liefern, dass die Schule der ihr gestellten
Aufgabe auch wirklich nachgekommen ist, die von ihrer Arbeit
erhoffte Frucht auch wirklich gezeitigt hat. Und in dieser Be-
ziehung hat die rigasche Domschule die von ihrer Reorganisation
erwarteten Früchte in reichem Masse getragen. Demi unter den-
jenigen Männern, welche im Laufe des letzten Jahrzehnts der
polnischen Herrschaft und nachgehends während der ersten Zeit
der schwedischen Herrschaft in Riga und in Livland eine hervor-
ragende Bedeutung erlangt haben, findet sich eine stattliche Reihe
von Bürgermeistern , Aelterleuten grosser Gilde , Rathsherren,
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292 Die Gegenreformation und die rigasche Domschule.
Pastoren und Professoren, welche den Grund zu ihrer Ausbildung
in der reorganisirten rigaschen Domschule gelegt und nachmals
durch ihre Tüchtigkeit und Ehrenhaftigkeit, durch ihre amtliche
Wirksamkeit und ihre schriftstellerische Thätigkeit eine Zierde
ihrer Heimat geworden sind. Die imponirendste Persönlichkeit in
dieser Reihe ist der Magister Hermann Samson. In Riga am
4. März 1579 geboren, verlor er seinen Vater, den aus Geldern
stammenden Kriegshanptmann Rigas, Naeman Samson, als vier-
jähriger Knabe gerade in dem Jahre, in welchem die Jesuiten
zum ersten Male nach Riga kamen. Der begabte und aufgeweckte
Knabe wurde später von diesen in Beschlag genommen und gewalt-
samer Weise fortgebracht. Er sollte in dem Jesuitencollegium zu
ßraunsberg in Polnisch-Preussen erzogen werden, unterwegs aber
entfloh er und glücklich gelangte er nach Riga zurück. Als
zwanzigjähriger Jüngling bezog er nach beendigten Schulstudien
die Universität Rostock, wo er altklassische Literatur studirte,
dann ging er von dort nach Jahresfrist weiter nach Wittenberg.
Hier studirte er nun Theologie, wurde nach fünf Jahren zum
Magister promovirt, vicarirte als Prediger an der Schlosskirche
einige Monate und hielt auch an der Universität Vorlesungen.
Im Sommer 1608 erhielt er von Riga aus einen Wink, er solle
heimkehren ; die Stadt, welche ihm zu seinen Studien ein Stipendium
gewährt hatte, bedurfte seiner. Der neunundzwanzigjährige junge
Mann kehrte heim und wurde schon im August desselben Jahres
zum Pastor an St. Peter und zum Inspector der Domschule be-
rufen. Sein Altersgenosse und Schulkamerad , der uachmalige
Bürgermeister Dr. Ludwig Hintelmann, wurde in demselben »fahre
Rathsherr. Vier Jahre früher hatte Samson in Wittenberg eine
Dissertation gegen den Primat des Papstes veröffentlicht, in seiner
Präsentationspredigt vom 24. Juni 16Q8 zu St. Peter in Riga führte
er den Beweis, cdass der Glaub und Religion, welche die Luthe-
raner haben, der uhralte Gatholischer Glaub sey: hjnwiederumb
der Jesuiten und Bäpstlichen Glaub ein Span-neuer Glaub sey >
Er trat also von Anfang an in Riga mit offenem Visir gegen die
Jesuiten auf ; er kannte sie schon aus eigener Jugenderfahrung ein
gut Stück, seine Studien hatten ihn ausserdem in Stand gesetzt,
sie bis auf den Grund zu durchschauen und ihnen mit dem Evan-
gelio schneidig und mannhaft entgegenzutreten, wie seine zahl-
reichen gegen sie veröffentlichten Schriften zeigen. Sie versuchten
ihn durch Druckschriften, die unter fingirtem Namen erschienen,
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Die Gegenreformation und die rigasche Domschule. 293
zu widerlegen, allein sie konnten seiner nicht mächtig werden ; er
war ihnen in jeder Hinsicht überlegen. So verklagten sie ihn
denn endlich beim König Sigismund III. Der Rath schützte ihn
nach bestem Vermögen, auch verteidigte ihn der Syndikus Johann
Ulrich aufs kräftigste, während Samson seinen Gegnern nicht um
einen Schritt breit wich. Berufungen nach dem Auslande lehnte
er ab ; er blieb auf seinem Posten in Riga. Indessen wäre es
den Jesuiten vielleicht doch noch gelungen, ihn durch königlichen
Gewaltspruch zu fällen und zu verderben, wenn nicht damals
gerade Gustav Adolf unter dem 18. März 1621 an Polen nach
Ablauf des letzten Waffenstillstandes den Krieg erklärt hätte.
Nach hartnäckiger Verteidigung mnsste Riga am 16. September
1621 capituliren und dem siegreichen Schwedenkönig seine Thore
öffnen. Schon Tags zuvor hatten die Jesuiten während der
Capitulationsverhandlungen dem Könige die Schlüssel der Jacobi-
kirche in seinem Lager vor der Stadt übergeben in der richtigen
Erkenntnis, dass fortan ihres Bleibens in Riga nicht mehr sein
werde. Wenden kam in die Gewalt der Schweden und damit
hörte auch das dortige Bisthum auf sammt dem Jesuitencollegium.
Endlich fiel auch Dorpat im Jahre 1625 den Schweden in die
Hände und damit ging die letzte Jesuiteuschule in Livland in die
Brüche. So muthig und erfolgreich Samson an der Spitze ehe-
maliger Schulkameraden und späterer Schüler im Kampf gegen
die Jesuiten ausgeharrt hatte, so eifrig und besonnen hat er nach-
mals als erster lutherischer Superintendent Livlands, zu welchem
Amte ihn Gustav Adolf schon 1622 ernannte, an der Evangelisirung
des Landes mit gutem Erfolg gearbeitet.
Die letzten Jesuiten waren mit den Polen und den ihnen
anhangenden Katholiken noch vor Schluss des Jahres 1625 aus
Livland abgezogen, welches sie für ihre Propaganda fortan ver-
loren geben mussten. Die Gegenreformation war in Livland nach
dreiundvierzigjährigen Bemühungen vollständig gescheitert, dem
Lande aber blieb das Evangelium von der freien Gnade Gottes in
Christo erhalten, wie es die dem Augsburgischen Bekenntnis
folgende Kirche predigt.
Fr. Hollmann,
Seminardirector.
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Unsere bemerkenswerthesten Singvögel.
II.
A. Insectenfresser.
tonn gleich nicht alle Vögel dieser Ordnung ausschliesslich
Hü von Kerbthieren und Würmern leben, so bildet solches
Ungeziefer dennoch ihre hauptsächlichste Nahrung, welche nur
während der Beerenzeit für einige Arten in den Hintergrund treten
dürfte. Der Rachen der Insectenfresser ist meist weit und zum
Erhaschen und Verschlucken der lebendigen Speise geschickt. Die
Schnäbel sind verhältnismässig dünn, gerade, oft pfriemenförmig
und scheinbar schwächlich. Es sind kleine Vögel, die bei uns
zwischen der Grösse eines Zaunkönigs und einer Misteldrossel
variiren ; das Gefieder hat gewöhnlich ein zartf'edriges und lockeres
Ansehen. — Die vorzüglichsten Sänger der Mutter Erde sind in
dieser Gruppe anzutreffen ; die Kraft und Fülle der Stimmen
steht mit der Körpergrösse in gar keinem Verhältnis. Die Liebes-
laute des grossen Auerhahns sind z. B. schwächer und weniger
weit hörbar als das Lied oder der lockende Ruf auch der kleinsten
Repräsentanten unserer Insectivoren. Sie sind für die ganze Land-,
Forst- und Garten wirthschaft durch ihre Nahrung so ungemein
nützliche Vögel, dass ihre Erhaltung und Vermehrung, abgesehen
von der Schönheit des Gesanges und dem Reize ihres Gtobahrens,
geradezu eine ernste volkswirtschaftliche Frage geworden ist,
welche jeder pflichtbewusste Staat fürsorgend in die Hand nehmen
und durch strenge Special gesetze fördern müsste. Durch nichts
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Unsere bemerkenswertesten Singvögel.
295
könnte die insectenvertilgende , segensreiche Thätigkeit dieser
Stützen pflanzlichen Gedeihens ersetzt werden ; praktische Utilitäts-
gründe zwingen zur Schonung.
Aus der Familie der Erds&n ger
wollen wir fünf Arten hervorheben. Die grossen dunkelschönen
Augen, der sehr dünne, zarte Schnabel, die unbedeckten Nasen-
löcher, das gefleckte Gefieder der Jungvögel, die stolze,, freie
Haltung des Körpers, das ausdrucksvolle Schnellen und Zittern
des Schwanzes, die Furchtlosigkeit dem nahenden Menschen gegen-
über, das gewandte, sichere Umherhüpfen und Suchen der Nahrung
auf dem schattigen Boden charakterisiren die niedlichen Arten
dieser durchweg liebenswürdigen Sippe für das offene Auge eines
jeden Vogelliebhabers in genügender, d. h. Zweifel ausschliessender
Weise.
1. Die Sprosser - Nachtigall. Sylvia philowela. Lettisch:
lag«btgal ; estnisch : öpik (auch sisalc) ; rassisch : cojioßefl oeurepcKift.
Wird in Deutschland im Gegensatz zur echten Nachtigall auch
Wiener oder Aunachtigall, grosse oder polnische Nachtigall, ge.
wohnlich aber Sprosser schlechtweg genannt.
Altem Brauche folgend, wollen wir dem Sprosser auch hier
den ersten Platz einräumen, obgleich ich nach meinem subjectiven
Geschmack manchem anderen Sänger den Ehrenplatz zu gönnen
geneigt gewesen wäre. Unser baltisches Publicum hält auch unsere
t falsche > Nachtigall für die Königin von Gottes Gnaden aller
Vogelvirtuosen, zum Theil verführt durch Deutschlands Dichter
welche die echte Nachtigall mit Begeisterung priesen und glorifi-
cirten. Wo aber viele Sprosser nahe beisammen schlagen und das
Wohnhaus inmitten des Gesangbezirkes liegt, da kann man des
überlauten, oft harten Schlags, des cHämmerns> leicht überdrüssig
werden. Lebhaft erinnere ich mich noch einiger, durch Sprosser-
gesang sich geradezu qualvoll gestaltender Nächte in Lipskaln.
Unmittelbar unter dem Fenster des Schlafzimmers schlug ein un-
verdrossener, mit einer riesig starken Stimme begabter Sprosser,
150 Schritte weiter rechts am See ein zweiter, links hinter dem
Knechtshause ein dritter, gegenüber in Trikaten ein vierter &c.
Jeder dieser Ariensänger suchte den anderen zu übertönen. Ver-
zweifelt sprang ich zuweilen aus dem Bette, öffnete das Fenster
und schrie dem fünf Schritte entfernten « Ständchensänger > zu, er
möge Ruhe halten. Diese Zurechtweisungen halfen nur für wenige
R.Uiicbe MonaUichrift. Bd. XXXIV, H«ft 4. 20
296
Unsere bemerkenswerthesten Singvögel.
Secunden, dabei lies3 sich nichts machen. — Wie sehne ich mich
jetzt in dem vom Sprosser leider beharrlich gemiedenen Meiershof
nach dem grossen Schlag, der in stiller, dunkler Nacht liebe-
durstend und liebeverheissend von des Frühlings Wonnen so beredt
zu uns spricht, schluchzend jauchzt ! Um diesem Genuss nicht
ganz zu entsagen, bin ich genöthigt, in die Stadt zu fahren, um
dort im wendenschen Schlosspark den Sprosser anzuhören. Mit
der echten westeuropäischen Nachtigall besitzt der Sprosser die
gemeinsame Eigenthümlichkeit, scheinbar grundlos manche Land-
striche, Oertlichkeiten oder Plätze zu meiden, andere in auffallend-
ster Weise zu begünstigen. Eine Bedingung sine qua non ist das
Vorhandensein von Wasser, feuchtem Boden und dichtem Gebüsch
aus Weiden, Faulbaum, Erlen &c. Mit uns unlogisch erscheinendem
Eigensinn werden auch Oertlichkeiten gemieden, wo alle diese Be-
dingungen ungewöhnlich reichlich und gut vorhanden sind, und
andere wiederum alljährlich aufgesucht und bewohnt, wo diese
Voraussetzungen nur sehr mangelhaft angetroffen werden; z. B.
haust der Sprosser stets unter Nurmis (im Kirchspiel Rujen) in
einer Ellern koppel, wo in einem kaum mehr erkennbaren Graben
nur geringe Wasserpfützen, keine Faulbäume und sonstiges Strauch-
gewirr zu bemerken sind. Wo der stolze Vogel nicht Wohnung
nehmen will, da hilft kein rechtzeitiges Abschiessen der Katzen,
kein Aufstauen kleiner Bäche, kein Anpflanzen der verlockenden
Faulbaumsträucher, da muss das betrübende Fernbleiben geduldet
werden. Das ist ein hochmüthiges Verhalten dem souveränen,
schaffenden , so gerne die ganze Natur zwingenden Menschen
gegenüber I
Genau genommen, ist die Beschreibung des Aeusseren unserer
< Nachtigall» für die Leser der * Baltischen Monatsschrift > wenig
wichtig ; denn so leicht man die grosse Stimme derselben zu hören
bekommt, so schwer hält es, den Vogel bei genügend hellem Lichte
zu betrachten. Schleicht sich ein Neugieriger der Sängerin durch
dichtes Gebüsch in der Abenddämmerung heran, so sieht er im
günstigen Falle doch nur die Umrisse eines Vogels : Grau in Grau
gegen Grau. Im Dunkeln sind bekanntlich «alle Katzen grau>.
Dieses Mal brächte übrigens auch das schönste Tageslicht keine
andere Federfärbung zum Vorschein, denn die Königin unserer
Mainächte, oder wie der alte Naumann vom ungarischen Sprosser
sagte : <der König der Sänger > besitzt in Betreff der Toilette gar
keine Eitelkeit, sondern trägt mit Würde ein nur sehr schlichtes
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Unsere bemerkenswerthesten Singvögel. 297
Kleid. Oberseits herrscht eine graubraune Tonfarbe vor; die
Kehle ist trübweisslich, die Brust dunkelgrau, etwas gemustert,
der Bauch licht grau-weisslich, der Schwanz trübe rostbraun ge-
färbt ; gewiss ein einfaches Hochzeitskleid ! Die Totallänge dieses
grössten Erdsängers beträgt 18, die Flugbreite 26 Centimeter. Männ-
chen und Weibchen sind sich äusserlich so sehr ähnlich, dass auch
ein gewiegter Ornithologe beim Ansprechen des Geschlechtes nach
dem Aeusseren rathlos dazustehen pflegt. — Die Sprosser sind,
wie alle hier in Betracht kommenden Insectenfresser, richtige Zug-
vögel, welche den Ankunftstermin im Frühjahr sehr regelmässig
einzuhalten pflegen. Nach meinen langjährigen Beobachtungen
variirt derselbe nur selten bis zu einer Woche, d. h. zwischen dem
25. April bis 2. Mai ; gewöhnlich aber treffen die Sprosser am 26.,
27. oder 28. April ein. Russow giebt als frühestes Ankommen
den 20. April an ; ich erinnere mich nur an 4 Jahre (1858, 1868,
1872 und 1882), in welchen der Sprosser vor St. Georg anwesend
war. Wie alles wahrhaft Gute, so dauert auch die Sangeszeit für
unseren Sprosser nur wenige, etwa sechs Wochen, die rechte,
fleissige Saison aber genau genommen kaum drei Wochen, etwa
vom 10. Mai bis 1. Juni. In vielen trefflichen Handbüchern findet
man die Zeichnung der vier bis sechs Eier als «dunkel gewölkt»
angegeben ; ich habe sehr vielen Sprossernestern (dem Erdboden
nahe oder aufliegend) die fünf Eier selbst entnommen, sie genau
angesehen, aber dieselben ohne Ausnahme nur gleichmässig ein-
farbig, ziemlich dunkel olivengrau-grünlich (grünlich chocoladeufarbig)
ansprechen können. Sollte diese stetige Eintönigkeit der Färbung
eine klimatisch - provinzielle Abweichung oder meine Augen für
«Gewölk» farbenblind sein?
Der Sprosser ist ein echter Nachtsänger, der nur in den
ersten Flittertagen oder ausnahmsweise am Tage singt. Zeitig
gegen Abend das weit hörbare (bei günstigem Lufthauch bis 2 Werst)
Schlagen beginnend, setzt er den Gesang mit geringen Pausen bei
schönem Wetter die ganze Nacht hindurch fort, um morgens ziemlich
frühe abzubrechen. — Unsere «Nachtigall», gleich der echten, ge-
hört nicht zum Orchester der Vogelconcerte, sondern sie ist die
wahre Solosängerin, durch die Wahl der Zeit, des Standortes und
die alle sonstigen Stimmen übertönende Kraft des Vortrages. Mit
menschlichem Vergleiche beehrt, wäre sie als Sängerin der grossen
Arie oder Kirchensängeriu zu betiteln. Was aber ungezählte
germanische Dichter in unzählbaren Versen feierten, war nicht das
20*
298 Unsere bemerkenswerthesten Singvögel.
Product der Sprosserkehle, sondern entsprang allein der Brust
jener echten Nachtigall, der Sylvia luscinia. Wenn H. Schacht
von der echten Nachtigall schreibt, ihr Nachtgesang sei die voll-
endetste Tonschöpfung unter allen Vogelgesängen, ein unvergleich-
licher Genuss, die seelenvollen Melodien, auf den Schwingen des
Nachthauchs getragen, an unser entzücktes Ohr wallen zu hören
oder die tiefe Empfindung, die aus einigen Strophen spricht, in
uns aufzunehmen, so gilt dieses nur theihveise, und gerade im
Wesentlichen des Vortrages nur stark beschränkt von der östlichen
cCousine», unserer Sprosser-Nachtigall. Der Oruithologe Friderich
sagt vom Sprosser ; cEs fehlen zwar die ziehenden, sanft klagenden
und verschmelzenden Töne, welche den Gesang der Nachtigall so
anziehend machen, aber die kühn schmetternden Läufe, die Stärke
und Abwechselung der Strophen, welche mit unbegreiflicher Leichtig-
keit seiner Kehle entströmen, machen ihn zu eiuem würdigen
Nebenbuhler derselben. Kein Vogel von gleicher Grösse hat eine
so ausserordentliche Gewalt in den Stimmorganen.» In würdigen
Pausen, feierlich und ungemein tactfest wird das hehre Lied vor-
getragen, nicht bescheiden, sondern in vornehm ungenirter, domini-
rend lauter Weise, mit zum Himmel empor gestrecktem Kopfe
und weit aufgeblähter Kehle. Der Vogel sitzt dabei, in nur ge-
ringer Höhe vom Boden, auf einem blattfreien Asttheile des Busch-
werks oder eines niedrigen, laubdichten Baumes, mit leicht herab-
hängenden Flügeln, in solcher Selbstverzückung befangen da, dass
er nahende Gefahr häufig unbeachtet lässt, daher leicht eine Beute
der Katzen und anderer Räuber wird, und dass er den bewundern-
den Vogelfreund in grosser Nähe noch duldet.
Lock- und Warnungsruf sind während der Erziehungs- und
Mauserzeit die einzigen Verräther des Aufenthalts, da die Sprosser
sich so versteckt zu halten pflegen, dass man nur zufällig im
dichtesten Gebüsch dieselben zu Gesicht bekommt. Im allgemeinen
machen sich die meisten Vögel beim Suchen nach Nahrung am be-
merkbarsten ; der Sprosser aber betreibt gerade das Ernährungs-
geschäft besonders heimlich, indem er laullös im tiefsten Schatten-
duukel undurchdringlich geschlossener Gesträuche am Boden nach
Würmern, Kerfen, Larven &c. jagt. Das scharfe, hochlautige
zih-zieh mit nachfolgendem, tiefrauh erklingendem korr-karr er-
möglicht dem Kenner allein, den Lieblingsanfenthalt, den Nistplatz
der Familie zu bestimmen. — Das Erscheinen der gefürchteten
Katze, entschieden der gefährlichsten Feindin dieser Art, wird mit
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Unsere bemerkenswertesten Singvögel. 209
erhöhtem tsih-tsüh angemeldet ; dieser in grosser Angst hervorge-
stossene Laut klingt wirklich wie ein Hilferuf.
Sobald die gefleckten Jungen genügend flugtüchtig erachtet
werden und die Hauptmauserung glücklich uberstanden wurde, be-
ginnt auch bereits der nächtliche Rückzug nach dem «gelobten
Lande», von Busch zu Busch, von Gehege zu Gehege, nicht hoch
in den Lüften, wie so mancher andere Vogelreisende, oft schon in
den letzten Tagen des Juli, gewiss aber in der ersten Woche des
August. Ich erinnere mich nicht, noch in der Mitte des Monats
jemals einen verspäteten Sprosser gesehen zu haben. Vornehme
Herrschaften machen meist nur kurze Besuche.
2. Der Garten-Rothschwanz. Sylvia phoenicurus. Lettisch :
cri}fiufd), o^rmanniufd) ; russisch : ropuxBocTKn, auch KpacHoxiiocTKa.
Dieser allbekannte, schönfarbige und muntere Vogel wird
auch Gartenröthling genannt. So vornehm unsichtbar und aristokra-
tisch zurückgezogen der Sprosser lebt, so überall bemerkbar, in
die Augen fallend zeigt sich der lebhafte, stets bewegliche Garten-
röthling, gleich einem Spiessbürger am Wochenmarkttage. Er
scheut die Nähe des Menschen, den Lärm des Gehöftes durchaus
nicht, sondern siedelt sich ganz vorzugsweise gern zwischen Ge-
bäuden, in Baumgärten, Parkanlagen und sonstigen Einfriedigungen
an. Altes Gemäuer und Kopfweiden sind specielle Lieblingsplätze.
Sein gesammtes Treiben liegt uns klar anschaulich wie ein ge-
öffnetes Buch vor. Wir sehen ihn bei der meist zwischen den
14. und 20. April fallenden Ankunft aus dein Südwesten bald auf
dem Zaune, bald auf einem freien Aste dasitzeu, das Schwänzchen
schnellen und hören sein sanft tönendes füid-hüd-häd oder fiht-ft/U-
düdä, das auf Deutsch übersetzt etwa wie «da biu ich — hier
bleib1 ich — störet mich nichti klingen würde. Wir können ihn
sein Liebeswerben ungenirt betreiben sehen ; wir beobachten mit
Interesse das Nisten in der Höhlung eines alten Apfelbaumes oder
einer Scheune, das Füttern der Kinder, das Ausführen der gefleckten,
kurzschwänzigen Jungen, deren Erziehung, das Rüsten zur Abreise,
vernehmen eines Abends bei kühlem Nordost einen traurigeu
Abschiedsruf und vermissen anderen Tages schmerzlich den Freund.
Er bewohnt aber auch unsere grösseren Gehege und Wälder
gemischten Bestandes. Wenn in diversen Naturgeschichtsbüchern
für Deutschland notirt wurde, dass das Gartenrothschwänzchen
sich «in reinen Nadelholzwaldungen > nicht aufhält, so muss ich
dem für unsere Heimat widersprechen. In Deutschland, dem Lande
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300 Unsere bemerkenswerthesten Singvögel.
der rationellen Forstcultur, wird eine ttberstämmige, holde Conifere
nimmer geduldet, daher kann im dortigen Nadelwald unser Röch-
ling nicht hausen, da er zum Nisten absolut noth wendig einer
Baumhöhlung, eines Schlupfloches bedarf. In unseren baltischen
Landen giebt es aber noch in den meisten geschlossenen Kiefern-
und Grä linenbeständen eine genügende Anzahl solcher alten, durch-
löcherten < Recken» aus früheren Jahrhunderten (lettisch: botjrc«»
fol)Ti) und demnach auch diesen Vogel als Bewohner. Dieses Factum
habe ich häufig genug z. B. in Schloss Ti ikaten-Lubbenhofschen,
Schloss Luhdeschen und anderen grossen Kiefernforsten constatiren
können. Seine unzweifelhafte Anwesenheit in weiten Haidewäldern
wird leicht bei nächtlichem Gange zur Auerhahnbalz bemerkt, in-
dem der Röthling von Mitte April ab einer der zuerst erwachenden
Vögel ist und schon im Dunkeln vor der Singdrossel und lange
ehe der ganze Vogellärm beginnt, sein t treuherziges» Liedchen in
die stille Nacht hinein erklingen lässt. Er ist ein fleissiger Tag-
sänger, der nur die eigentliche Nachtzeit über schweigt, bei schönem
Maiwetter aber kaum um Mitternacht eine kurze Weile, denn, wie
gesagt, beim ersten Grauen des Morgens beginnt er seinen Gesang
und setzt ihn mit geringen Pausen bis in die tiefsten Schatten
des Abends fort. Sein vierstrophiges Lied ist bescheiden, lieblich,
herzlich und vielleicht auch etwas wehmüthig angehaucht. Zur
rechten Frühlingsstimmung trägt der anmuthige Gesang nicht
wenig bei; der Natur- und Vogelfreund könnte ihn nimmer ent-
missen.
Seinen Namen erhielt der schlanke Vogel von seinem lebhaft
rostroth gefärbten Schwanz, in welchem beim Ausbreiten nur zwei
Mittelfedern in dunkelbrauner Farbe charakteristisch abstechen.
Das Männchen ist mit tiefschwarzer Kehle und Schnabelumrandung,
einer rein weissen Stirn und Augenstreif geziert, oberseits schön
bläulich aschgrau, an der Brust und den Schenkelseiten leuchtend
orange-rostroth und auf dem Bürzel fuchsroth gefärbt, während das
Weibchen ein nur einfaches, oben graubraunes, unten trübfahles, leicht
rostfarben angeflogenes Kleid trägt. Die fünf bis sechs arlattschaligen,
schön lichtblauen Eier werden mit solcher Pflichttreue bebrütet,
dass man das Weibchen bei erstmaliger Störung und vorgeschrittener
Brutzeit unschwer mit der Hand erfassen könnte ; bei wiederholter
< Revision» des Genistes wird aber das Geschöpfchen schon ge-
witzigter und entschlüpft ohne Hast noch rechtzeitig ; sie nehmen
übrigens solche frivole Störungen nicht leicht übel und brüten
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Unsere bemerkenswerthesteu Singvögel.
301
höchst verständiger Weise ruhig weiter. Ich erinnere mich, als
Knabe nach jedesmaligem Verjagen des Brutvogels ein am Wohn-
hause befindliches Nest täglich mindestens zweimal, wenn es Gasten
gezeigt werden sollte, auch weit öfter genau in Augenschein, sogar
zuweilen die Eier betastet und das Brutgeschäft dennoch damit
nicht gestört zu haben, so dass schliesslich die Jungen froh und
glücklich aufkamen. Es ist eben ein rechter Kinderfreund, der
geeignet erscheint, dem empfänglichen Kindergemüth die ganze
Vogelwelt als solche näher zu bringen. Ihre mannigfaltige Nahrung
suchen sie nicht nur auf dem Boden, sondern ebenso oft auch in
den Kronen der Bäume ; auch erhaschen sie selbst rasch fliegende
Insecten mit grosser Gewandtheit und blitzartiger Schnelligkeit,
dadurch an die Fliegenschnäpper erinnernd. Zur Beerenzeit werden
auch gern Johannis- und Faulbaumbeeren angenommen. Katzen,
Eichhörnchen, Haselmäuse, Sperber und Eichelhäher sind die ge-
fährlichsten Feinde für diesen liebenswürdigen, unsere Gehöfte so
anmuthig belebenden, soliden Ehe- und Hausstand repräsentirenden
Vogel.
3. Das Rothkehlchen. Sylvia rubecula. Russisch: penojioBT,,
auch gpacHomeflica.
Wahrlich, es lohnte sich nicht, auf den Schnepfenstand hinaus
zu ziehen, wenn die beiden Abendsänger Rothkehlchen und Sing-
drossel njcht der Sache einen ungewöhnlich poetischen Reiz ver-
leihen und die oft langen Pausen des Abwartens mit fesselnden
Gesangesvorträgen ausfüllen würden. Wenigstens ich für meine
Person würde an duftig mildem Frühlingsabend weit eher auf die
f murksende» Schnepfe, als auf die stimmungsvollen, zwitschernd
sanften Sangeslaute des lieblichen Rothkehlchens verzichten. Bei
hellem Mondlicht wird unser Rothbrüstchen zuweilen auch Nacht-
sänger; es ergreift das Gemüth gar eigen, wenn dann durch den
lautlosen Wald das zu Herzen sprechende, einfach und tief empfundene
Lied oder besser gesagt «Volkslied» dieses Vogels ertönt. Er re-
präsentirt in seiner Stimme die Flöte im Waldorchester, denn nur
ungemein weich flötende Laute entquellen der Kehle. Treffend
schön schreibt H. Schacht in einem Fachblatte über den Gesang
des Rothkehlchens: «Die einsamen, abgelegenen Gegenden werden
durch den süssen Minnesang des Rothkehlchens gar wunderbar
belebt. Wenn tiefere Schatten schon auf dem schweigenden Walde
ruhen, wenn das Lied der Singdrossel längst verhallt, da erklingen
noch ringsum die zarten Weisen unseres Lieblings. Wie fernes
302
Unsere beinerkenswerthesten Singvögel.
Abendläuten klingt es an unser Ohr, wie ein leises Gebet geht es
durch die Seele. >
Schlüpft nach öder Winterszeit das Rothkehlchen wieder im
dichten, von der Nachmittagssonne nur spärlich beleuchteten Unter-
holz Nahrung suchend umher, lässt es bei einbrechendem Abend-
dunkel aus allen feuchtgründigen Waldecken sein Liedlein ertönen,
so kann der sehnsüchtige Waldschnepfenjäger getrost zur Flinte
greifen und auf den < Strich > gehen. Kein Waldvogel zeigt so sicher
durch »eine süss lockende Stimme die Zeit des beginnenden Schnepfen-
zuges an als unser Rothbrüstchen. Beide, sowol die Waldschnepfe
als letzteres, treffen freilich einige Tage früher ermüdet ein, aber
ohne sich hören zu lassen ; singt endlich das Rothkehlchen im
Walde, dann < piepst» und -quarrt > auch die Schnepfe sogleich. Ein
ungleiches, aber die Reisezeit treulich zusammen einhaltendes Paar.
Nur auf dem Zuge trifft man das Rothkehlchen auch in Gärten,
Hecken uud Feldgebüschen an, erfreut es uns mit seiner Gegen-
wart sogar auf Gehöften.
Seine Ankunft im Frühjahr ist je nach dem Vorschreiten des
Lenzes ein recht unpräcises, fällt durchschnittlich in die Tage
zwischen dem 20. März uud 1. April, wurde aber in sehr extremen
Frühjahren auch bereits am 9. März und wiederum erst am 10. April
constatirt.
«In Sibirien soll es nicht angetroffen werden,» heisst es in
manchen älteren Lehrbüchern. Brehm hat sehr richtig die Ver-
breitung ostwärts bis zum Ob angegeben. Diese Mittheilung wurde
mir kürzlich durch die Zuschritt eines soeben in Kathrinenburg
in der Verbannung weilenden lieben Freundes bestätigt, indem der-
selbe das sommerliche Hausen des Rothkehlchens für den ganzen
Kreis Irbit östlich des Ural ausdrücklich betont. Bei uns findet
es sich in allen Laubwäldern und Gehegen gemischten Bestandes,
welche dichtes Unterholz und feuchte Bodenstellen aufzuweisen
haben ; ohne schützendes, das Leben im Verborgenen ermöglichendes
Walddickicht kann das grössere Freiplätze durchaus meidende
Waldvöglein sich nimmer eine Heimstätte erwählen. Hierin und
in der Art der Bodensuche nach Nahrung ähnelt es der Nachtigall,
aber seelisch nicht, denn es ist ein bürgerlich bescheidenes Geschöpf,
ohne Selbstgefühl in Haltung und Geberden ; schon das nur zag-
hafte Erheben der Stimme zeigt seine niedrige gesellschaftliche
Rolle an. Das stets überwölbte, ein moosiges Ansehen habende
Nest ist sehr schwierig aufzufinden ; entweder ist es in einer
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Unsere bemerkenswerthesten Singvögel.
303
Baumstumpf- oder Steinhöhlung, zwischen Baumwurzeln oder gar
im Moose, der Erde aufliegend, erbaut ; in letzterem Falle wird
es viel eher zertreten, als rechtzeitig entdeckt werden. Auf weiss-
lichem Grunde sind die fünf bis sieben zarten Eierchen dicht rosa-
rostfarben überspritzt und meist am Stumpfende durch einen Flecken-
kranz geziert. Die gefleckten, unscheinbar aussehenden Jungen
leben sehr versteckt und schlüpfen fast wie Zaunkönige umher.
Im Hochsommer gehen sie den Beeren nach und nehmen nicht
ungern auch die reifen Beeren des Pfaffenhütchens , Eronymiis
europaeus, zu sich. In der Gefangenschaft sind sie leicht zu er-
halten, werden sehr zahm und dauern bei passender Pflege lange
aus. Im K&fige beginnen sie bereits im December ganz leise zu
singen, bis im Januar das froh erklingende Lied verkündet: «Eis
muss doch Frühling werden. » — Das weiche, Locker und breit ab-
stehende Gefieder der alten Vögel entbehrt durchaus nicht der
Farbenschönheit. Der ganze Oberleib zeigt einen dunkel oliven-
braun-grünlicheu Ton, während die etwas vorstehende Brust, Kehle,
Wangen und Stirn durch ein lebhaftes Orangeroth geziert erscheinen.
Die Männchen haben auf den Flügeln rothgelbe Federränder, die
im Fluge ein Band bilden. Auffallend gross und charakteristisch
sind die glänzenden, schwarzbraunen Augen, fast einen «nächt-
lichen» Eiudruck machend, wie bei echten Nachtthieren. Die Ge-
sammtlänge beträgt etwa 13 und die Flügel breite ca. 22 Centimeter.
4. Das Blaukehlchen, schwedische Nachtigall. Sylvia cya-
nccula. Russisch : cuueiueflica, auch BapaKyuiKa.
An Oertlichkeiten, die reich an stehenden und fliessenden
Wassern sind, wo der Wiesenboden quellig, mit Gebüschen besetzt
und hin und wieder mit Schwarzellern, Weiden, Eschen und anderen
Bäumen bewachsen ist, einerlei ob unmittelbar bei Gehöften, in-
mitten Culturlandes oder in abgelegener Wildnis, trifft in der Mitte
des April oder etwas später zu St. Georg das fleissig singende,
leicht bemerkbare Blaukehlchen ein. Es ist ein lebhafter, wenn
man «so sagen darf, sogar «geistreicher» Geselle, der, gern auf den
Spitzen grösserer Büsche oder nicht zu hoher Bäume mit herab-
hängenden Flügeln und stark aufwärts gehobenem Schwänze sitzend,
seine reich wechselnden, ziemlich laut und flott vorgetragenen
Gesangesstrophen, die stets von einem Zwischenspiel, einem «leier-
artigen Schnurren» getrennt werden, verlautbart. In «ziemlich
gewissenloser Art» entlehnt er dabei die Weisen nicht nur anderer
Vögel, sondern ahmt auch sonstige Naturlaute sehr gut nach. Er
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304
Unsere bemerkenswerthesten Singvogel.
ist ein Improvisator, der das «Schnurren» statt des Guitarren-
geklimpers zur Vorbereitung eines neuen Verses zu benutzen scheint.
Wie früher bereits als allgemein giltig angedeutet wurde, gelingt
es auch diesem Singvogel nimmer, das ganze Lied eines anderen
Sängers wiederzugeben, sondern er verwebt die fremden Strophen
nur bruchstückweise in seine Originalstücklein sehr geschickt hin-
ein, benutzt diverse gestohlene Laute mit oft bewunderungswürdiger
Meisterschaft und erzielt dadurch frappirende Effecte, kurz, er ist
ein unermüdlicher «Plauderer», ein liebenswürdiger Schelm, dem
nimmer der Stoff ausgeht, der seinen Zuhörern niemals langweilig
werden könnte. Im Allegro seines Potpourri hört der Kenner mit
Freuden altbekannte, anderweitige Stimmen heraus, wie z. B. den
«Franzosenschrei» des Kiebitz, das Balzen der Becassine, das
Quaken der Frösche, das Läuten der Unken, das Schnarren des
Erdkrebses, den Ruf der Rallen, das Flöten der Singdrossel und
Amsel, das Jubiiiren der Feldlerche, den Schlag des Sprossers, das
«Gegeige» der Grasmücken, das Zwitschern der Schwalben, das
Pfeifen der Meisen &c. &c. In der ersten Liebeswonne hört man
das Blaukehlchen zu jeder Tages-, auch Nachtzeit singen, doch will
mir scheinen, dass in mondheller Nacht und an windstillem sonnig-
klarem Morgen der Gesang besonders begeistert, weithin schallend
und herzlich froh vorgetragen wurde.
Leider sind die Bedingungen zu seinem Hausen nicht überall
gleichmässig vertheilt anzutreffen, so dass das Blaukehlchen durch-
schnittlich zu den durchaus nicht häufigen Vögeln bei uns zu
rechnen ist (z. B. ist es in der wendenschen Umgegend sehr selten)
und gewiss so manchem Leser der «Baltischen Monatsschrift» von
Ansehen und Anhören fremd blieb. Und doch wäre beides so sehr
genussreich und erwünscht, indem auch das Gefieder entschieden
das schmuckeste aller hiesigen Erdsänger, wenn nicht aller Insecten-
fresser sein dürfte. Das ca. 14 % Centim. lange, in der Flugbreite
23 H Centim. haltende Männchen zeigt uns auf Kehle und Brust
ein herrlich leuchtendes, durch eiuen kleinen weissen Mittelstern
noch besonders gehobenes Lasurblau, welches nach unten von einer
schwarzen Binde mit feiner weisser Randlinie begrenzt wird.
Diesem schliesst sich als Uebergang zum weisslichen Bauche ein
zweites, breiteres, schön rostrothes, grell abstechendes Band an.
Der Oberleib ist olivenbraun, die Flügel siud stark verdunkelt, die
Zügel schwarz. Ueber dem grossen, glänzend dunkelbraunen Auge
verläuft ein rostgelber Brauenstrich; der halbe, innere Schwanz
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Unsere bemerkenswerthesten Singvögel.
305
ist lebhaft rostroth, der äussere, sowie die beiden ganzen Mittel-
federn dunkelbraun, der Schnabel schwarz, der Rachen pomeranzen-
gelb. Dem Weibchen fehlt das Lasurblau und die schmückende
rothe Binde, so dass dasselbe ein nur sehr schlichtes Kostüm zu
tragen berufen ist. — Das oben offene Nest wird stets nahe beim
Wasser in Hümpeln, Wurzelstöcken, zwischen Ellernstämmchen &c.
aus Moos, Grashalmen, Härchen &c. erbaut und ist ungemein
schwierig zu entdecken. Es enthält ca. vier Wochen nach dem
ersten Eintreffen fünf, zuweilen auch sechs grünliche, mit einigen
braunen Punkten unregelmässig besetzte Eier; doch findet man
auch ganz einfarbige Gelege. Die uuterseits gefleckten Jungen
leben, wie die des Rothkehlchens, sehr versteckt, kriechen wie
Mäuse im dichtesten Gesträuch herum und sind die rechten Busch-
schlüpfer, das Freie meidend.
5. Der Zaunkönig. Sylvia troglodytes jtarvtdus. Lettisch:
jipliti«, jcölifyt*. Estnisch : pöial pois. Russisch : kjuwihhhiik k.
Das ist noch nicht dagewesen 1 oder c Wie wagt man den
Zaunschlüpfer, diesen bisher stets selbständigen uud einzigen europäi-
schen Vertreter einer besonderen Familie, unter die Erdsänger ein-
zureihen ?» so höre ich im Geiste bereits vogelkundige Leser aus-
rufen. Ja, ich wage es — meiner Ansicht nach aus eben so viel
gnteu Gründen, als es problematische Gründe zum Verstössen dieses
< Kleinsten >, dieses < Benjamin» aus der ihm in biologischer und
mancher anderen Beziehung so nahe verwandten Familie gab. Das
gestutzte, abgerundete Schwänzchen, die etwas kurzen Flügel, die
besonders schmalen Nasenlöcher &c. sind mir nicht genügende That-
sachen, um diesen reizenden Liebling in der c kalten und bösen
Welt» allein dastehen zu lassen.
Er ist ein wichtiges, ja nothwendiges Glied des Orchesters
in der Vogel weit. Er bläst das Cornet a Piston, indem er sein
fröhliches Reiterstücklein in den frischen Morgen hinein schmettert,
dass es eine wahre Lust ist ihm zuzuhören. Der Zaunkönig ist
auch im schneereichen März einer der Ersten, welcher seine Stimme
zu Lob und Preis des Frühlings hell und klar erklingen lässt,
und er ist zugleich einer der Letzten, welcher im Juli das resolute
Abschiedslied von der schönen Saison in den still gewordenen Wald
hinaus trillert resp. trompetet ; er ist im Ausdauern und Beherrschen
des zeitlichen A und O ein König unter all' den gefiederten
Musikern.
Wenngleich bei uns die Zaunschlüpfer echte Zugvögel zu sein
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306 Unsere beraerkenswerthesten Singvögel.
pflegen, welche im März zeitig ankommen und zu Michaelis ab-
ziehen, so findet man doch in milden Wintern an warmen, stets
offenen Quellen in geschützter Thalwaldlage zuweilen einzelne über-
winternde, der Kälte trotzende Helden aus der Liliput-Familie.
Scheint nun die Sonne licht an einem thauwarmen Januartage durch
den starrenden Wald, so traut man seinen Ohren kaum, wenn das
fruhlingsheitere Reiterliedcheu, wie z. B. heuer in Meiershof geschah,
so frisch, so muthig erklingt, als wäre alles winterliche Elend,
aller nordische Schrecken nur ein Spass für den tapferen Vogel-
könig. Ich hörte ihn im März zuweilen am frühen Morgen bei
5-6° Kälte lustig singen, wenn nur die liebe Sonne schien und
der Ostwind nicht allzu rauh blies. Dankbar lauschte ich dann
dem einzigen Sänger, dem klar und rein erschallenden Gesänge,
welcher bald vom Dache eines Hofgebäudes, bald aus einem Birken-
baume, dann wieder aus einer Hecke erklang, indem das « Podium t
fortwährend im nervös tänzelnden Bogenfluge gewechselt wurde.
Bei mildem Wetter bleibt und singt er mehr unsichtbar, im Gewirr
der Sträucher eines verwachsenen Grabens, Waldbächleins oder in
der dichten Krone eines Waldbaumes. — Brehm schreibt zutreffend
von seinem Hausen : <Er bewohnt die verschiedensten Oertlichkeiten,
am liebsten aber doch Thäler, deren Wände mit Gebüsch bedeckt
sind, und in deren Grunde ein Wässerchen fliesst.> Ich bin sehr
glücklich darüber, dass im Meiershofschen Parkwalde sich mehrere
bewachsene Thäler mit den beliebten « Wässerchen > vorfinden, und
dass ich daher auch nirgend in Livland bisher so viele Zaunkönige
regelmässig anzutreffen im Stande war. Stets habe ich nun diesen
Herzensliebling nahe, kann ihn in der Saison stündlich trillern
hören und nach Belieben beobachten, wovon ich denn auch aus-
giebigsten Gebrauch machte und noch zu macheu hoffe. — Karl
Müller spricht mir «aus der Seele», wenn er schreibt: «Der Zaun-
könig nimmt durch seine niedliche Gestalt, sein ewig heiteres
Wesen und seinen schönen, für den kleinsten der europäischen
Vögel wahrhaft bedeutenden Gesang den Freund der Vogel weit so
sehr ein, dass der Wunsch, ihn in der Stube als ständigen, unter-
haltenden Gast zu besitzen, natürlich erscheint.» Der Wunsch
reifte aber aus selbstloser Liebe zum lebendigen Zaunkönig bei mir
niemals zur bösen That ; er ist nämlich in der Gefangenschaft sehr,
sehr schwer zu erhalten und noch viel schwerer einzugewöhnen. Ich
hatte niemals den Muth, einem «Könige» Kerkerhaft zu dictiren und
denselben dadurch einem unnatürlich frühen Tode zu überantworten.
Unsere bemerkenswerthesten Singvögel. 307
*
Der stets kecke, neugierige und doch zugleich auch flucht-
bereite, den beobachtenden vermeintlichen Feind kriegerisch <an-
zeternde» (zerreck-keck-kcck-zerr-zerr-serr) und unendlich leicht erreg-
bare Vogel ist kaum 9 bis 9H Cent, lang und hält nur 14 bis
14H Cent, in der Flugbreite. Die Gesammtfärbung , ist ein ange-
nehmes Rostbraun, mit wellenförmigen, dunkelbraunen Querstrichen
und Flecken durchzogen, Unterseite etwas lichter erscheinend. Das
sehr künstlich hergestellte Nest wird, kaleschenartig gewölbt und
mit seitlichem Flug loche versehen, auf dem Erdboden, in Baum-
stümpfen und Wurzelstöcken oder in Baumhöhlungen, oft in ziem-
lieh bedeutender Höhe, d. h. bis zu 20 Fuss, angelegt. Ich fand
die meisten Nester bei uns in Baumhöhlen, 7 bis 9 Fuss vom Boden
entfernt. Im Mai findet man in demselben 7 bis 9, angeblich aber
auch zuweilen bis 14, auf weissem Grunde dicht blutroth gefleckte
Eierchen. Spater gewährt es einen gar niedlichen Anblick, die
flugfähigen Jungen mit ihren glänzenden «Corinthenaugen» im
warmen Nestchen zusammen hocken und, verscheucht, auseinander-
stieben und sich mäuseartig verkriechen zu sehen. Ich selbst fand
nicht mehr als acht Junge derart beisammen, aber die bekannten
Ornithologen Gebrüder Müller beschreiben in einem Fachblatte
sehr anmuthig, wie zehn erwachsene Jungen von den wieder heck-
lustig gewordenen Alten mit List und Gewalt aus dem geliebten
Vaterhause hinausgedrängt wurden.
6. Die Garten-Grasmücke. Sylvia hortensis. Estnisch : poesa
Und. Russisch : cjiaBKa, auch TpaBiituck (beides Gattungsnamen).
Der Gesang dieser in Gärten, Parkanlagen und Feldgehegen
nicht seltenen, einfach olivengrau, Unterseite heller, grauweisslich
gefärbten Grasmücke ist wunderschön, reichhaltig, zusammen-
hängend, ohne grelle Uebergänge, ein liebliches c Geigenspiel», der
Anlage nach eine Symphonie für sich allein. Von Unkundigen
wird der schnelle, geschmeidige Vortrag leicht mit dem des Sumpf-
schilfsängers oder sogar des Garten-Laubvogels verwechselt ; eine
gewisse, theilweise Aehnlichkeit waltet allerdings ob, namentlich
im Tempo, in der ununterbrochenen Weise, in der Verschmelzung
der geigenartigen und flötenden Töne. — Die Gartengrasmücke
ist ein sehr fleissiger Sänger ; leider aber pflegt sie bei uns sehr
spät, durchschnittlich etwa um den 8. bis 10. Mai einzutreffen und
bereite vor St. Johannis ihren die Gärten besonders belebenden,
allerlei fremde Melodien nachspottenden Gesang einzustellen. —
Im Nestbauen ist diese Grasmücke der leichtfertigste, untüchtigste
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308 Unsere bemerkenswerthesten Singvögel.
und pflichtvergessen sorgloseste Vogel, den ich kennen lernte. Ein
starker Wind ist im Stande das allzu locker in Hecken und Ge-
büschen eingehängte, nur aus leichten Grashalmen und wenigen
Härchen gefügte, das Licht durchscheinen lassende Nest zu ent-
führen, zu zerstören. Ein durchaus noch nicht derbes Berühren
mit der Hand verschiebt den ganzen nichtsnutzigen Bau, der
übrigens solchenfalls auch sofort von der mistrauischen Grasmücke
an einer anderen Stelle, aber in derselben frivolen Manier errichtet
wird. — Etwa 15 — 20 Tage nach dem Eintreffen finden sich in diesem
unzuverlässigen Behälter fünf Eier vor, die sich von denen der Mönchs-
grasmücke eigentlich nur durch ihre übertreffende Grösse wesentlich
unterscheiden, da die variirende Färbung allein für gewiegte Nest-
kenner und Eiersammler trennende Momente zu erkennen giebt.
Sie sind auf fahlfleischfarbigem, licht staubgelblichem oder hell
nebelbläulichem Grunde mit matt granem und bräunlichem Gewölke
marmorirt und gefleckt, zuweilen auch mit einigen dunklen Pünkt-
chen spärlich .bedeckt. Die lebhafte und doch sehr friedfertige,
in der Gefangenschaft nicht unschwer zu erhaltende < graue» Gras-
mücke wird im Hochsommer ein gieriger Beerenfresser und im
Süden speciell ein Freund der Feigen, die sie sehr fett machen
sollen und ihr den Namen < Feigenfresser» gaben.
7. Die Mönchsgrasmücke , das Schwarzplättchen. Sylvia
atricapilla. Lettisch nach Russow: fauti*.
Dieser in Deutschland sehr populäre Vogel verdiente auch
bei uns vom Publicum besser gekannt zu sein. Ein deutscher
Componist schrieb vor mehr als dreissig Jahren eine c Schwarz-
plättchen-Polka» nieder und Hess sie in einer Musikzeituug im
Druck erscheinen. Als Thema hatte er dem ersten Theile die vom
Vogel sehr laut, voll und weit vernehmbar gesungene Schlussstrophe,
den sogenannten tRuf» mit viel Glück und Geschick zu Grunde
gelegt. Fände doch solches erfreuliche Bekanntmachen mit unseren
besten Vogelmelodien mehr Nachahmung I — Friderich schreibt
über die musikalischen Leistungen der Schwarzplatte : elhr Gesang
ist als einer der lieblichsten und angenehmsten unter allen Sängern
zu nennen : flötend, schmelzend und mit einem helltönenden, lauten
Ruf. Er besteht aus einem Piano, ähnlich dem der grauen Gras-
mücke, nur viel leiser, und aus einem Forte, welches letztere man
ihren Ruf nennt. Das Piano dauert ziemlich lange, ist sehr melodisch
und abwechselungsvoll, der Ruf ist sehr stark, flötenartig und gut
verständlich. Dieser Ruf ist mit dem Munde leicht nachzuahmen.»
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Unsere bemerkenswerthesten Singvögel. 309
Im Norden, also auch bei uns, wo die Mönchsgrasmücke in den
ersten Tagen des Mai anlangt, soll ihr Gesang weniger gut, in
Deutschland schon besser, namentlich in Thüringen, am besten aber
in Madeira. Teneriffa und auf den Inseln des grünen Vorgebirges
sein, wo sie *Tutinegra> heisst. — In kleineren Gärten lässt sie
sich nicht häuslich nieder, gern in Parkanlagen, am liebsten aber
in grösseren Feldgehegen und an Waldrändern gemischten Be-
standes mit viel Unterholz. Der «Möncht ist bei uns überall
häutig und verräth sich dem Kenner schon von weitem durch seinen
sehr charakteristischen Ruf, der aber nur von guten, alten, hitzigen
Vögeln jedesmal als Schlusssatz abgesungen wird. Jüngere und
träge Vögel lassen denselben leider öfter fort, namentlich wenn
das Wetter sehr ungünstig ist oder das eigentliche Liebestreiben
sich dem Ende nähert. — In der Gefangenschaft soll er viele
Jahre, man behauptet sogar bis 16, ausdauern. Karl Müller, der
sie gelegentlich < wahre Möhren-, Obst- und Beeren vögelt nennt,
schreibt darüber : «Es giebt wenige Vögel, welche in der Gefangen-
schaft so wenige Ansprüche hinsichtlich der Wartung machen und
so lange gesund und kräftig ausdauern wie das Schwarzplättchen. »
— Den Namen gab ihnen der bei den Männchen schwarze, bei
den Weibchen braune Oberkopf, welcher ihn auch jedem Laien
leicht und sicher erkennbar erscheinen lässt. Oberseits ist dieser
Vogel einfach olivenbraun, Unterseite schmutzig weisslich, an den
Wangen, Halsseiten und in den Zügeln rein aschgrau gefärbt.
Die Länge beträgt 14- 14^, die Flugbreite 23— 23 H Centimeter.
Der Schnabel ist schwarzbraun, das Auge sehr schön dunkelbraun,
die stämmigen Füsse sind grau.
Ueber die Familie der Laub vögel
ist zu bemerken, dass sie sich durch eine gestreckte, längere Stirn,
einen ausgeschnittenen Schwanz, eine meist grünliche Färbung aus-
zeichnen. Männchen, Weibchen und Junge unterscheiden sich nicht
wesentlich in der Färbung. Sie hüpfen flatternd in den Baum-
kronen umher, meiden möglichst den Boden, auf dem sie sich nur
ungeschickt fortbewegen. Wir wollen uns drei Arten dieser liebens-
würdigen Familie näher ansehen.
9. Der Garten-Laub vogel, gelber Spottvogel, Bastardnachtigall.
Sylvia hypaiäis. Russisch : nliHOMKa.
Von der Mitte des Wonnemonats an verkündet dieser hervor-
ragende «Concertsänger> in unseren Baumgärten und Laubgehegen
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310 Unsere bemerkenswerthesten Singvögel.
den Eintritt der wannen Jahreszeit, den Beginn des Sommers.
Alljährlich wird mir beim erstmaligen Anhören der sehr geliebten
Hypolais-Strophen, die in gewissen Pausen vom charakteristischen
<fefehüheh-fifehüjei unterbrochen werden, eigentümlich «sommerlichi
zu Muthe. Diese Strophen und schönes, warmes, allgemeine Lebenslust
athmendes Wetter gehören so recht zusammen. Da sitzt der oberseits
grüngraue, unterseits hübsch hellgelbe Vogel mit seinen, artlich be-
zeichnend, blaugrauen Füsschen auf einem Zweige oder in einer
grösseren Baumkrone, am liebsten in Birken und Linden, sträubt
die Eopffedern zu einem anmuthigen Häubchen und singt mit einer
innerlichen Lust, einer Verzückung, die sich durch kein energisches
ßetrachteu, nicht einmal durch einen vorbeisausenden Stein stören
lässt. Der oft mehrere Stunden ohne längere Unterbrechung an-
haltende Gesang besteht für gewöhnlich aus drei Hauptweisen.
Er beginnt meist mit einem Allegro-Geschwätze in sanften, geigen-
artigen Tönen, einem Liebesgeflüster vergleichbar, dann folgt in
der Regel eine Art Recitativ, das sich wie ein Selbstgespräch, wie
eine verlautbarte Reflexion anhört, worauf das den Artgesang von
weitem bestimmbar machende, clarinettenartig und tief ausdrucks-
voll innig vorgetragene *fifehiijc> drei- bis höchstens viermal zu
folgen pflegt. Dieser eRuf> verhalf dem Vogel in manchen Gegenden
Deutschlands zu dem Volksnamen <Tideritchen>. In diesen leb-
haften Gesang werden improvisirte Strophen und leicht variirende
Nachahmungen anderer Sänger sehr geschickt und geradezu musika-
lisch genial hineingeflochten. Kein anderer Vogel gönnt dem ent-
zückt lauschenden Menschen in so geduldig liebenswürdiger Weise
das ruhige, nicht so leicht zu störende Anhören des symphonien-
artig angelegten Concertes, des zartsinuigen und technisch exact
verlaufenden Vortrages, der ein Meisterwerk sonder gleichen ge-
nannt zu werden verdient. Ein weiteres Meisterwerk unseres
hypolais ist die ungewöhnlich kunstvolle Herstellung des überaus
niedlichen, dabei sehr starken, warmen und »/• kugelförmigen Nestes,
welches äusserlich durch angewandte Birkenrindenhäutchen ein
weissliches Ansehen hat und innerlich, wie aus Filz gemacht, fest,
glatt und fein fügig erscheint. Es ist auf hellrindigen ßirkenbäumen
nicht ganz leicht zu entdecken, steht vom Boden 5 bis höchstens
15 Fuss entfernt und ist dem tragenden Aste so fest aufgesetzt
und angewebt, dass man es bei der Absicht, dasselbe heil zu er-
halten, meist herausschneiden resp. sägen muss. — In der ersten
Woche des Juni findet man in demselben in der Regel fünf rosa
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Unsere bemerkenswerthesten Singvögel.
311
mit «gebrannt» schwarzen Punkten gezierte, etwas längliche Eier,
die in der schmucken Umgebung einen ganz reizenden, fesselnden
Anblick gewähren. Wenn es über die Verbreitung dieses Vogels
in den betr. Büchern zuweilen heisst, dass er die wärmeren Gegenden
Europas mehr bevorzugt und nirgend häufig sei, so muss ich solchen
Ansichten, gestützt auf meine eigenen Erfahrungen, lebhaft wider-
sprechen, denn nirgend in Deutschland und in der Schweiz fand
ich den Hypola'is so zahlreich wie bei uns in Livland vor, wo er
sogar als ein häufiger Sommerbewohner der Gärten, Parks und
Laubwälder angesprochen werden muss.
9. Der Fitissänger. Sylvia fitis.
Ungefähr gleichzeitig mit dein Sprosser, aber nicht ganz so
präcise, langt dieses, die Bescheidenheit und Friedfertigkeit sowol
im zarten Gesänge als in seinem ganzen harmlosen Wesen re-
präsentirende kleine Vöglein bei uns an, um in Zaungesträuchen,
buschreichen Gartenanlageu und in jüngeren Laubwaldschlägen sein
Standquartier zu nehmen. Seine Länge beträgt nur wenig über
11, seine Flugbreite ca. 18 H Centiraeter, seine Färbung ist ober-
seits grünlich grau, unterseits hell mattgel blich, seine Füsschen
sind gelblich fleischfarben. — Der oft hörbare Lockton ist dem
des Gartenröthling ähnlich, aber unendlich viel sanfter ; der einfache,
aber sehr liebliche Gesang erinnert in der Melodie ein wenig an
den Finkenschlag, ist aber sonst als das Gegentheil eines « Schlages >
zu bezeichnen, indem die abwechselungslose kurze Strophe nur in
sanftestem Flötenton, gleichsam gehaucht, zart und leise vorgetragen
wird. Er macht einen etwas wehmüthigen, poesievollen, sehr
sympathischen Eindruck und wird recht fleissig von dem allent-
halben häufig anzutreffenden Vogel executirt. — Das überwölbte,
mit einem seitlichen Eingang versehene Nest wird immer auf die
Erde gesetzt und enthält gewöhnlich in der zweiten Hälfte des
Mai fünf bis sieben sehr niedliche, etwas stark zugespitzte Eierchen,
die auf mattweisslichem Grunde rosa bespritzt und punktirt sind.
10. Der Weidenzeisig. Sylvia rufa. Lettisch nach Russow:
tfd)antfd)infd) (den Gesang wiedergebend).
Von allen Laubvogelarten trifft dieser echte Waldvogel, der
sich niemals in den Gärten niederlässt, am frühesten, durchschnitt-
lich schon in der Mitte des April, aber je nach der Witterung des
Frühjahrs oft sehr unregelmässig, von der ersten bis letzten Woche
des Monats, ein. Nicht als einen vorzüglichen, sondern nur als
einen sehr bemerkbaren, leicht hörbaren Sänger in unseren Wäldern
BaltUeke Monatmchrifl. Bd. XXXIV. Hüft 4. 12
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»
312 Unsere bemerkenswerthesten Singvögel.
habe ich auch den Weiden-Laub vogel den Lesern vorzuführen mir
erlaubt. Nicht schön oder lieblich ist sein einförmiger, sehr charak-
teristischer Vortrag, sondern nur originell und jedem Waldbesucher
sofort in die Ohren fallend. Es ist dies wahrscheinlich der einzige
Gesang unserer Singvögel, den man, ohne ihn jemals vorher gehört
zu haben, nur allein und sogleich nach den gelesenen Wortsilben
der Wiedergabe, meiner Ansicht nach, zweifellos zu erkennen im
Stande sein wird. Er singt, wie ein Silberschmied das kleine
Amboslein zu bearbeiten pflegt, mit grossem Eifer etwa: ziltn-zelm,
zelm-ziltn-zilm-zäm-zemm-zemm, auch : dilm-deltn, demm : zilp-zalp,
oder, wie es der lettische Name ausdrückt : tschan-tschin, tschin-tschan-
tschan &c. Unterbrochen wird dieses beim längeren Hinhorchen
fast ermüdende, aber ins Vogelconcert gut hineinpassende, etwa
den Triangel vertretende Gehämmer durch ein wenig weit schallendes,
leiseres : derr-der-derr oder jededetjed, worauf wieder das ziltn-zelm
mit erneuerter Lust und der besten Lungenkraft fortgesetzt wird.
— Auch dieser kleinste aller Laubsänger (10»/» Cent, lang, bei
17Vi Cent. Flugbreite) ist von olivengrünlicher Färbung auf dem
Oberleibe, auf der Brust bottergelb, am Bauche weiss, während
die Füsse artunterschiedlich schwärzlich sind. — Sein Nest ist nicht
vollständig überwölbt, so dass man die Eierchen in demselben sehen
kann. Diese sind auf rein weissem Grunde sehr hübsch mit roth-
braunen und schwarzröth liehen Punkten, namentlich am Dickende
besetzt und werden je nach dem Jahre vom 1. bis 12. Mai voll-
zählig beisammen gefunden.
Die Familie der Drosseln
ist durch bedeutende Grösse wesentlich von allen unseren Sängern
unterschieden. Es sind kluge und muthige Vögel, die sich beim
Wandern oft in verschiedenen Arten zu einem grösseren Zuge ver-
einigen und die dann tmitgegangen, mitgeliangen » auch eine gemein-
schaftliche Beute der in West- und Südeuropa so ungemein esslustigen
Menschen durch deren Fangnetze, Schlingen und die böse Schrot-
flinte werden. — Die Füsse sind kräftig, der Oberschnabel ist ein wenig
gebogen, am Mundwinkel finden sich einige Borstenhaare vor; die
Augenlidränder und der Schnabelwinkel färben sich im Hochzeitskleide
gelb aus. Als tüchtige Sänger sind bei uns drei Arten zu erwähnen.
11. Die Misteldrossel. Turdus viseivorus. Auch Ziemer
oder Schnarre. Lettisch : peUctai« flra«b« (malfönifd)) ; estnisch : hobbo
rüstas ; russisch : jepflCa oder öojF.mofl chpufl genannt.
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Unsere bemerkenswerthesten Singvögel. 313
Den Namen erhielt sie in Deutschland von der Mistelbeere
niscum, welche bereits die Römer als beliebte Nahrnng der Drosseln
und als Stoff zur Bereitung des Vogelleims kannten. Daher sagten
sie witzig : « Turdus sibi ipse malum cacat! » — Von dem schnarrenden
Lockton stammt naheliegend die Bezeichnung «Schnarre» her. —
Diese stattlichste unserer Drosselarten ist bis 26'/» Cent, lang und
misst in der Flugbreite 46 Centimeter. Dementsprechend ist auch
ihr Gesang sehr laut, weithin schallend, uud wäre nicht eine ge-
wisse Rauhheit des Tones vorhanden, so müsste er sehr schön ge-
nannt werden; ein wenig melancholisch, düster und bei schlechtem
Wetter geradezu traurig-ernst wird das volle Pfeifen meist er-
scheinen. In den Mittelstrophen ähnelt das Singen, namentlich
bei windigem Wetter und flüchtigem Hinhorchen, dem Amselgeflöte,
sogar bis zur Möglichkeit des Verwechselns. Als ich 1885 die
Auerhahnbalz unter Schloss Luhde bei windigem Wetter in Be-
gleitung des in der Kreisschule gut geschulten Bauke-Forstwarts
verliess, fragte ich ihn, ob er die Farbe des Vogels, dessen Pfeifen
wir durch den Wind bruchstückweise hörten, gut kenne. Er sei
grau, meinte er ; schwarz, sagte ich. «Sie versehen sich, Herr, es
ist keine Amsel» — und der Mann hatte Recht I «Die Amsel singt,
wie der Lette spricht, der Ziemer aber pfeift, wie der Este redet, »
erläuterte er mir nicht übel das Vorliegende. Das musste mir
alten Waldläufer und Vogelkenner passiren 1
Für gewöhnlich ist die Misteldrossel oberseits olivengrau,
unterseits hellgelb mit braunschwarzen Flecken auf Kropf und
Brust gezeichnet, aber am 10. Mai 1885 sah ich ein Exemplar auf
der 17. Werst vor Riga, welches rein weiss, vielleicht mit einem
Stich ins Schmandfarbene, gefärbt war. Zur Unterscheidung von
Sing- und Weindrossel sei hier noch erwähnt, dass die unteren
Flügeldeckfedern immer rein weiss sind. — Früh im März, wenn
noch wenige Vögel ihre Stimme erklingen lassen, meldet sich schon
von der Spitze einer «himmelhohen» Grähne oder Kiefer herab der
Ziemer, um erst im October die baltischen Gefilde wieder zu
verlassen.
12. Die Amsel. Turdus merula. Russisch: uepuift aposax;
lettisch: mit dem Staar gleich.
So allgemein bekannt und überall häufig vorkommend die
Amsel auch in Deutschland ist, so wenig dürfte sie bei uns vom
grösseren Publicum gesehen oder bewusst gehört werden. Denn
sie ist bei uns nicht nur selten und sehr scheu, sondern lebt auch
81«
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314 Unsere bemerkenswertesten Singvögel.
hierorts nur in geschlossenen, abgelegenen Wäldern und nicht, wie
in Deutschland, dreist und scheinbar furchtlos auch im kleinsten
Garten. Wer in Livland eine Amsel hören will, kann lange
suchen und manche Ausfahrt umsonst machen. In den baltischen
Landen ist sie ein echter Zugvogel, der in Mittellivland gewöhnlich
in der ersten Hälfte, falls spät, in der Mitte April anlangt und
bereits im September zu verschwinden pflegt. Meyer und Fischer
behaupten mit Unrecht, sie sei auch hier Standvogel ; der schlimme
Gedanke, hieran sei Ab- und Nachschreiberei, jedenfalls aber Mangel
an Erfahrung und kenntnisloses Substituiren mitteldeutscher Vor-
, kommnisse nicht ohne wesentliche Schuld, steigt unwillkürlich dem
langjährigen Freunde unserer Vogelwelt auf. — Wenn es gelehrte
Liebhaber giebt, die da schreiben, ihr Flötengesang habe «einen
sehr heiteren Charakter», so kann ich solches absolut nicht ver-
stehen, geschweige denn nachempfinden. Wenn die Amsel ihr
siebennotiges: «J geh' und steh\ wo i wilh in ziemlich tiefer Ton-
lage vorträgt, liegt alles andere eher darin ausgedrückt als «grosse
Heiterkeit». Man sage z. ß. : Sehnsucht mit Liebe, Wohllaut mit
Anstand, oder Treue mit Wehmuth, so würde sich, meiner Ansicht
nach, ein jeder da so ziemlich gut hineindenken können. Aber
wo ich deutlich noch Schwermuth herauszuhören im Stande bin.
da finden andere «eine ungeheure Heiterkeit» vertreten. Die
Menschen sind doch gar zu verschieden ! Wem soll man glauben,
folgen ?
Ich bin so glücklich, in meinem stillen, «weltvergessenen», die
eine Seite des waldumkränzten Aathales bildenden Parkwalde all-
jährlich ein oder gar zwei Pärchen Amseln als Nistvögel beschützen
zu dürfen und dieselben dann Gästen, denen ihr Hausen bei uns
unbekannt geblieben war, nicht ohne einige Mühe vor Aug' und
Ohr führen zu können. Ausser in Meiershof fand ich ferner die
Amsel als Brutvogel noch unter Kudling, Paibs, bei Stackein an
der Aa, in Pernigel und in Kaipen. Die tief schwarze Farbe, der
hellgelbe Schnabel, der breite und lange Schwanz, wie auch der *
schwankend unbeholfene Flug lassen diesen im Norden jede An-
näherung des Menschen ängstlich meidenden Vogel schon aus
ziemlich bedeutender Entfernung sicher erkennen. Auch die Amsel
ist wieder ein Beweis dafür, wie sehr verschieden die Lebensart
und der Charakter vieler Vögel im Centrum und, oft geradezu
entgegengesetzt, in der Peripherie ihrer geographischen Verbreitung
aufzutreten pflegen. Während z. B. in Bad Ems etwa kaum 20 Fuss
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Unsere bemerkenswerthesteu Singvögel.
315
von unserem besetzten ßalcon die Amsel, ungenirt und in grösster
Seelenruhe auf dem Fahnenstock, einer Giebel- oder Baumspitze,
sogar auf Geländern sitzend, ihr ruhesehnendes Abendlied uns vor-
trug, oder ihre Weckstimme als Morgenständchen uns ins Schlaf-
zimmer hinein flötete, muss ich mich in Meiershof wie ein Dieb,
marderartig, im tiefsten Schatten und Dickicht heranschleichen,
um den Vogel auf der Spitze einer tewig» hohen Grähne erblicken
und, wie Herr Röse sagt, cden Anfang einer Ciaviersonate von
Clementi> mit einiger Müsse anhören zu können.
Die jung von Menschenhand aufgezogenen Amseln sollen sehr
gelehrig und leicht zum Nachpfeifen fremder Arien zu bringen
sein. Ich ziehe aber jeden Naturgesang allem künstlich Erlernten
freudig vor.
13. Die Singdrossel. Turdus musictis. Lettisch : niafai«
ftraGbe ; estnisch: laulo rästas; russisch: ntaifl AP03AI.
Wo soll man noch Worte linden, um diese c Königin des
Waldes > zu feiern? Ihr Lob ist schon so beredt, so begeistert ge-
sungen worden, dass ich besser thue, Vorgänger in dieser dank-
baren Aufgabe anzuführen ! So schreibt Professor Dr. K. Th. Liebe
in seinen «Ornithologischen Skizzen > 188G über unseren grossen
Liebling: cAls Sängerin müssen wir die Zippdrossel unter unseren
deutschen Walddrosselarten obenan stellen, denn sie ist die fleissigste
unter ihnen, welche früh von dem Augenblick an, wo die Sonneu-
scheibe den Horizont berührt, bis weit in den Morgen hinein, und
später wieder, wo die Sonne sich tiefer stellt, bis zu der Zeit, wo
schon die dunkelen Abendschatten über die Waldblössen hinhuschen,
ihren Schlag ertönen lässt, und dabei beginnt sie zeitig im Früh-
jahr, sobald die Leberblümchen ihre blauen Sterne öffnen, um erst
spät im Sommer aufzuhören. Zudem zeichnet sich ihr Schlag durch
seinen weichen Wohllaut und durch seinen grösseren Reichthum
an Abwechselung aus. Der Schlag wird übrigens mit jedem Jahre,
welches der Vogel zurücklegt, besser, volltöniger und mannig-
faltiger. >
Der bekannte Vogelzüchter Friderich schreibt ferner : <Ihr
Gesang ist ausgezeichnet, und sie beleben dadurch schon im März
unsere Wälder auf das angenehmste ; besonders machen sie dem
Jäger Freude, weil sich, wenn dieser erschallt, auch die Wald-
schnepfen bald zeigen und der Anstand auf diese nun beginnt. Die
Singdrossel ist in der That eine der ersten Zierden des Waldes,
und da ihr an sich schon lauter und volltönender Gesang von den
316
Unsere bemerkenswerthesten Singvögel.
höchsten Gipfeln der Bäume erschallt, so wird ihr schönes Lied in
weitem Umkreise hörbar. Am schönsten singen sie des Abends
bis zum Einbrüche der Nacht, worauf sie ins niedere Gebüsch
herabfliegen und noch eine Zeit lang ihr durchdringendes *tsi tsi»
hören lassen. In den lieblichsten Abwechselungen folgen sich die
verschiedenartigsten Strophen, und deren Zahl ist nicht gering.»
Man hat oft das Lied der allbekannten, allbeliebten Sing-
drossel in Worten auszudrücken versucht. So meint das Volk in
Deutschland, sie sänge z. B. <Fillip ! (Viel Lieb) Fillip! ba büstu?
Im Siezen* (Sumpf) ; oder : Zwieback, Zwiebach, Zwieback, % wollt', i
hätte viel, ich <&c. (zwei- und dreimal) und Wiho! Wibö ! Wibö! i wollt1,
i hat? dich nit, ich &c. (zwei- und dreimal). Etwas ungemein Sprechen-
des und Ausdrucksvolles hat allerdings ganz besonders der in kunst-
schönen Intervallen vorgetragene innige Gesang der «Zippe» an sich.
Unsere Singdrossel, die wir so oft hören, aber dank dem
vogelfreundlichen Sinn der Balten, welche «brave Sänger» nimmer
schiessen, abfangen oder gar verspeisen, in alten Exemplaren nur
selten und besonderer Umstände halber zur Ansicht in die Hände
bekommen, ist, oberflächlich betrachtet, der Misteldrossel ziemlich
ähnlich, nur sehr auffallend viel kleiner. Die oberen Theile sind
bräunlich-olivengrau, der Schwanz und die zweireihig hell getupften
Flügel etwas dunkler, rauchbraun, die unteren Flügeldeckfedern
aber artentscheidend sehr hübsch hell rostgelb (bei der Wein-
drossel schön blattroth). Der breite Kropf ist bruttgelb-rostig
überlaufen, während Kehle und Unterleib weiss bleiben. Die
Kehlseiten sind mit kleinen schwarzbraunen Fleckchen streifig
eingefasst, welche nach unten hin immer grösser und gleich massiger
vertheilt erscheinen, bis sie sich in der Weichengegend gänzlich
verlieren. Das Weibchen weicht in der Farbe und Grösse so wenig
vom Männchen ab, dass es schwierig wird, sie zu unterscheiden,
d. h. wenn man das Paar zum Vergleich nicht beisammen hat.
Denn im letzteren Falle giebt der ganze Habitus, die, wenn auch
nur sehr geringe Abschwächung der Farbentöne, namentlich bei
den Flügeltupfen, dem Kenner eine genügend sichere Handhabe
zur Unterscheidung.
Das Nest, welches nur vormittags gearbeitet wird, ist nicht
schwierig aufzufinden, da seine Grösse und sein vom Boden nur
4 — 16 Fuss entfernter Stand das Entdecken erleichtert. Es werden
meist junge Grähnen, Kiefern, staike Wachholder-, Birken- und
andere Laubbäume zur soliden Anlage, bei der auch Lehm zum
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Unsere bemerkenswerthesten Singvögel.
317
Innenputz verwendet wird , erlesen und benutzt. Für jeden
jugendlichen Eiersammler ist die Freude gross, in den Besitz der
stattlichen, geradezu wunderschönen fünf Eier zu gelangen, die
hell-himmelblau (ich bin nicht im Stande, den Farbenton als « grün-
spanfarbig » anzusehen und anzusprechen, wie fast alle betr. Bücher
es sagen) gefärbt und mit brandig-schwarzen, sich rein abhebenden
Flecken allerliebst geziert sind. — Den gefleckten halbflüggen
Jungen stellen leider auf dem Erdboden die Füchse mit besonderer
Liebhaberei und Energie nach, wodurch ein sehr bedeutender Theil
der Jungbrut alljährlich vernichtet wird.
Die Familie der Rohrsänger
ist zwar den Grasmücken und Laubsängern nahe verwandt, aber
doch wieder so eigentümlich, dass es auch dem Freunde gemein-
schaftlicher Familiennamen in casu gestattet sei, diesen meist weit
ab von menschlichen Wohnungen und in sumpfigen Gegenden
hausenden Singvögeln einen der griechischen Sprache entlehnten,
häufig gebrauchten Gruppennamen zu geben. Die Stirn dieser
niedrig gestellten, oft fast gebückt erscheinenden Vögel ist flach
und gegen den Schnabel hin stark verschmälert, die Füsse sind
kräftig, der Schwanz ist keilförmig, durch verlängerte Mittelfedern
fast gespitzt aussehend und wird beim Fliegen sichtlich auseinander-
gespreizt. Sie klettern sehr gewandt im Rohr und Gezweige um-
her, fast papageienartig ; auf der Erde laufen sie schrittweise ein-
her. Wir erwähnen als Repräsentanten nur eine Art, da die
übrigen schwache Sänger sind.
14. Der Sumpf-Rohrsänger. Calamoherpe palustris. Russ.:
KauuuieBKa Apo3AOBHAHaa, ob spec. ?
Karl Müller nennt diesen ausgezeichneten Sänger mit allem
Rechte einen «kleinen Tausendkünstler >, denn was Reichhaltigkeit
des Vorgetragenen anbetrifft, so überragt er nicht nur die Garten-
grasmücke und das Blaukehlchen, sondern auch den Garten-Laub-
vogel, dem er hinsichtlich des Singens am meisten ähnelt, doch
gelingt es ihm niemals, dessen charakteristische Strophe: <Fehehüjc~
fifehüje* auch nur annähernd wiederzugeben. Auf der weiten Her-
reise, die in den späteren Mai fällt, ist er ausschliesslich Nacht-
sänger, der, erst des Abends gegen zehn Uhr beginnend, bis einige
Zeit nach Sonnenaufgang, aber in dieser nächtlichen Zeit auch
ganz unermüdlich zu singen pflegt. Das strömt in einem Tempo,
mit solcher Leidenschaftlichkeit dahin, wird mit so vielen ccarneval-
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Unsere bemerkenswerthesten Singvögel.
artigen» Nachahmungen fremder Typen, als: des Rauchschwalben-
gezwitschers, des Trillerns der Baumpieper, des Schnalzens der
Staare , des Wachtelschlages , der Weisen der Grasmücken,
Drosseln &c, untermischt mit Originaleinfällen vom allersonderbar-
sten Gepräge und fremdartigem, wunderbarem Reize, sicher vor-
getragen, dass man unwillkürlich in ihm den Südländer erkennt
und ihm auch gern verzeiht, wenn er vor allen Zug-Singvögeln in
unseren Breiten rauhes Frühjahrswetter zu übergehen abzuwarten
bemüht war und daher als letzter und möglichst spät zur Villeg-
giatur anlangte. — Sein kräftig lautes, widerstandslos fliessendes
Allegro mit dem gerühmten c bestrickenden und fesselnden Zauber
des Liedes» ertönt aber bei Standvögeln nicht nur des Nachts,
sondern auch am Tage, nicht nur in der wasserreichen Wildnis,
sondern auch in feuchtgründigen Gärten und nicht zu wasserarmen
Parkanlagen, welche viel Gebüsch aufzuweisen haben. Von den
Rohrsängerarten ist er der einzige, welcher die beliebten Fluss-
gelände und eigentlichen Sumpfgestrüppe zuweilen gern verlässt,
um dem Menschen in dessen Baumanlagen näher zu rücken, denn
in die Wälder geht er doch nimmer hin. Zu sehen bekommt man
ihn aber dadurch nicht, denn er liebt das Versteckspiel ganz ausser-
ordentlich und hockt stets im dichtesten Astgewirre der dichtesten
Buschwerke. Dieser Trieb zum Näherrücken an den Menschen
geht aber durchaus nicht so weit, dass er sich auch gern einfangen
und einkerkern Heese. Im Gegentheil, er verträgt auch die «süsseste,
satteste» Gefangenschaft so wenig, wie kaum ein anderer zart-
lebiger, insecten fressender Vogel. Es wäre recht vernünftig, die
vielen Versuche zum Eingewöhnen in Deutschland ein für alle Mal
gänzlich aufgeben zu wollen und den Sumpfsänger zwar nicht für
< vogelfrei», aber im Hinblick auf Vogelschutz für «ewig frei» zu
erklären. Er will uns nicht, er bleibe, wo er ist I — Dieser nur
13>/i Cent, lange und in der Flugbreite gegen 19 Cent, haltende
Vogel ist am Oberleibe grünlichgrau, auf den Flügeln und dem
8chwanze dunkler graubraun, am Unterleibe weissgelblich gefärbt
und hat über dem Auge einen gelbweissen Streifen, während die
Mundwinkel orangegelb sind. — Das dem Boden und dem Wasser
gern nahe und ziemlich künstlich erbaute, niemals über dem Wasser-
spiegel hinragende Nest ist seitlich den stützenden und tragenden
Aesten eingewebt, so dass der Grund desselben frei schwebt und
nirgend aufliegt, wie solches bei allen anderen Rohrsängern auch
üblich ist. In demselben findet man Mitte Juni fünf leicht variirende
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Unsere bemerkens werthesten Singvögel.
319
Eier, die auf klar grünlichweissem Grunde, schön aschgrau gefleckt
und braunschwarz gestriegelt sind. Ueber die Jungen wüsste ich
aus eigener Erfahrung so gut wie nichts zu berichten und schweige
daher lieber.
Aus der Familie der Pieper
heben wir auch nur eine Art als gesanglich bemerkenswerth hervor.
Die Pieper bilden den Uebergang von den Stelzen zu den Lerchen ;
wie letztere schlafen sie des Nachts auf dem Boden, nisten auf
demselben, ähneln ihnen in der Färbung und der Fussform. Der
Schwanz ist ein wenig ausgeschnitten und wird stelzenartig, aber
langsam gewippt.
15. Der Baumpieper. Anthus arboreus. Russisch : meBpHua.
Dieser unsere Wälder und Gehege angenehm belebende Vogel
ist ein echter Tagsänger, der erst kurz vor Sonnenaufgang seine
Stimme erhebt, um gewöhnlich bereits vor Sonnenuntergang zu ver-
stummen. Er ist der einzige Pieper, welcher nicht nur einen
grossen Theil des Tages auf den Bäumen verlebt, sondern auch
seinen Gesang auf denselben executirt. Ist der Vogel bei schöner
Witterung in animirter Stimmung, so erhebt er sich singend, schräg
aufwärts flatternd bei anschwellender Melodie, erhält sich schwingend
emige Secunden gleich hoch oben, immer laut jubelnd, um sich
dann in sanftem Bogenfluge, ohne Flügelschlag mit hohlrund ge-
halteneu Schwingen, langsam auf einen niedrigeren als den Ausgangs-
fast herab zu lassen, wobei er seine Schlussstrophe : eiei, jne^a-jne^a
in abnehmendem Tempo, gemessen und jeden Ton für sich, ausdrucks-
voll zu c geigen» pflegt; ich gebrauche das Wort t geigen > sehr ab-
sichtlich, denn kein anderer Vogel gesang dürfte sowol in seinen Trillern
als auch in den gezogenen Lauten so sehr an das schmiegsame
Singen der Geige erinnern, als eben der unseres lichtfreundlichen
Baumpiepers. So gern ich diesem eigentümlichen Gesänge zu
lauschen liebe, so ungern vernahm ich bisher stets bei der Morgen-
suche nach einem unbestätigten, etwa noch balzenden Auerhahn
die den grossen Tag ankündende Baumpieperstimme. Sobald diese
erschallt, hat das dunkelfrühe Liebesgeklapper des grossen Hahnes
mit nur sehr seltenen Ausnahmen bereits sein Ende gefunden.
Höre ich alter Practicus daher den Baumpieper sein na, zia, Ha
schwirren, so werfe ich unwillkürlich das Gewehr über die Schulter
und wende den jagdlichen Schleichgang zum Trott nach Hause.
Das einfache Nest wird zwischen Grasbüschel, in zufälligen
Vertiefungen des Waldbodens, in grasverwachsenera alten Graben-
320 Unsere bemerkenswerthesten Singvögel.
auswarf, zwischen die Stengel des Haidekrauts &c. gebaut und in
der ersten Hälfte des Mai, zuweilen sogar von Ende April ab
(nicht, wie Russow falschlich <im Juni» angiebt, vermuthlich ein
Versehen ; 1881 z. B. fand ich am 14. Mai ein bereits fest brütendes
Weibchen) mit fünf in der Färbung sehr stark variirenden Eiern
besetzt. Sie sehen chocolade-lilla, grau-violett, bräunlich &c. aus,
bleiben sich aber in der gesprenkelten «grützigen» Zeichnung und
Fleckenverlheilung stets einander ähnlich, fast gleich. Mitunter
schleicht sich unter diese Eier auch ein unerbetenes Kuckucksei
hinein, das dem ganzen Gelege, wie bekannt, verhängnisvoll, ver-
nichtend wird.
Die Familie der Lerchen
ist äusserlich durch einen sehr langen, gestreckten Nagel an der
Hinterzehe, durch grosse, breitfedrige Flügel einen walzenförmigen,
schmalen Schnabel und eine einfache, erdig-graue Färbung des Ge-
fieders, die als «lerchengrau» zu einem bestimmten Begriff erhoben
worden ist, wesentlich charakterisirt. Die Glieder dieses sanges-
begabten Geschlechtes steigen beim Singen flatternd hoch in die Lüfte.
Unserer Betrachtung würdig erscheinen die zwei folgenden Arten :
16. Die Feldlerche. Alauda arvensis. Lettisch: jif)ruU*;
estnisch: löoJcene, in der Poesie auch: Jciuro (finnisch: kirtoinen) ;
russisch : nojeßofl saßoponoK-B.
Wollte man einen stattlichen Bücherschrank hergeben, um
alles das, was zum Lobe des Lerchengesanges bis dato gedruckt
wurde, hineinzustellen, so, fürchte ich, würde ein Schrank nimmer
dazu reichen ! Das kennzeichnet die bedeutsame Stellung dieser
fleissigsten Sängerin zum deutschen Volk, zur ganzen Menschheit ;
sie ist eine unerschütterliche ; sie wird den lieblichen Freundschafts-
bund erhalten, so lange es noch warm fühlende Menschen und
singende Lerchen auf Gottes weitem Erdenrund geben wird. Wie '
man als tägliche Nahrung das liebe Brod nimmer überdrüssig
werden kann, so ergeht es dem echten, rechten Liebhaber mit dem
Lerchengesang, der über die Saaten dahin klingt. Zu viel «Nachti-
gall» könnte ermüden, immer nur «Amsel» müsste abspannen, der
stetige Finkenschlag würde gleichgiltig machen &c, falls eben zu
einseitig nur eine Species längere Zeit hindurch allein vernommen
werden sollte, aber beim stundenlangen, ausschliesslichen Anhören
des Gesanges sowol der Feld- als auch der Haidelerche tritt diese
Uebersättigung nicht ein. Das auch ohne Pausen Erträgliche,
alleweil Angenehme dieses frischen Jubelgesauges wird durch die
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Unsere bemerkenswerthesten Singvögel. 321
unerreichte Fülle, die unendliche Reinheit, einschmeichelnde Weich-
heit und doch auch zugleich schlichte Effectlosigkeit der reizvollsten
Tonharmonie bedingt. — Dank haben wir dem Schöpfer für dieses
erquickende Gnadengeschenk bei jedesmaligem Hören von Herzens-
grund zu sagen ! Die Lerche ist eine köstliche Gabe der Natur,
ein c grauer» Stern ersten Ranges am blauen Frühlingshimmel ! Und
wenn der Lenz nichts wie singende Lerchen brächte, er wäre doch
die schönste Jahreszeit, die Zeit der Minne, der Wonne, die Vor-
ahnung eines ewigen Frühlings ! — Niemand schilderte in neuester
Zeit so wahr, so innig und sinnig die Poesie des Lerchengesanges
in prosaischer Form als H. Schacht, indem er in einem Fachblatte
schreibt: cUnd wenn man ihr zusieht, wie sie sich erhebt aus dem
saftigen Saatengrün und nun trillernd und wirbelnd hinaufsteigt zu
dem blauen Himmelszelte, immer höher und höher, und mit dem
Steigen die Töne sich verstärken und anschwellen, wahrlich, da
durchfliesst Entzücken unsere Seele, und wir müssen aufjubeln und
mitjauchzen ob der Frühlingspracht der wunderschönen Gotteserde. >
Deutschlands Ackervolk lässt die Lerche singen :
Überland-Hochdeutsch :
Mi Vatter ist im Himmel im Himmel
Im Himmel ist nüt als Frieden und Frcud\
Wie ist's so wit—wil—toit!
oder im Aufsteigen:
Mein Vater ist im Hümmel,
Da wollt1 ich auch gern sein,
im Herabsinken :
Doch isfs so weit, weit — weit !
Niederdeutsch : Ach, wo is dat schön !
Schön is dat !
Ach, wo is dat schön!
Hppippip, körnken rip,
Kritt de arme Lü oh wat!
Ik ok wat — ik ok wat!
oder :
Driew, Peterken, driew, driew, driew, driew,
Höst en gode Werth, dann bliew, bliew, bliew, bliew,
Höst en schlechte Werth, so driew wiet weg, wiet weg, wiet weg, wiet weg
— wiet weg!
Als vor etwa 44 oder 45 Jahren im März der livländische
Landtag zu Riga tagte, sich die damals noch beneidenswerth
322
Unsere bemerkenswertesten Singvögel.
gemttthlichen internen Verhandlungen der Landesangelegenheiten
ein wenig in die Länge gezogen hatten, auch die Sehnsucht nach
den heimatlichen Fluren, nach Weib und Kind bei den berathenden
Vätern ziemlich herangewachsen gewesen sei, hat man eines schönen
Tages, als die liebe Märzsonne gar hell zu den Fenstern herein-
geschienen, die jubelnden Weisen einer aufsteigenden Lerche, und
zwar einer Meistersängerin, mitten im Saale, von einer rechts
stehenden Bank aus erklingen hören. Lautlos hätte die Ritter-
schaft gelauscht, wildes Heimweh die Männer erfasst. Der Früh-
ling ist da — nach Hause, auf nach Hause ! dachte da flugs jeder
brave Landwirth, jeder Schnepfenjäger, jeder liebende Ehemann
und zärtliche Vater. Consequente Verweisungen an den Convent,
an Commissionen, Vertagungen sollen esturmisch> erfolgt sein.
Siehe I am anderen Tage sei der Landtag eilends geschlossen
worden, wie eine dunkle, un verbriefte Sage später in der Kinder-
stube den Kleinen dieses als Lerchenwunder ins Ohr raunte. —
O Lerche 1 Das hast du mit deinem Singen gethan — oder viel-
mehr dein rivalisirender Verehrer, der talentvolle Graf I
Die Lerche ist Tag- und Nachtsäugerin. Genau genommen
singt sie in der besten Wonnezeit täglich tihre» 24 Stunden hin-
durch; wann sie Nahrung zu sich nimmt, wann sie dem Schlafe
obliegt, mag Gott wissen.
Während sonstige Sangesvögel in südlicheren Gegeuden besser
als in den rauheren des Nordens zu singen belieben, machen die
Lerchen eine dankenswerthe, unendlich liebenswürdige Ausnahme.
Es wurde allgemein anerkannt, dass in nördlichen, also auch unseren
Gegenden, wie im Hochgebirge, der Lerchengesang lauter, entr
zückend klarer und voller, fast den unübertrefflichen Lauten der
Haidelerche sich nähernd, als im Süden und in der Tiefebene ertönen
solle. — Am begeistertsten und fröhlichsten erschallt bei uns der
Gesang im April des Morgens und gegen Ende Mai in der Blüthen-
nacht. Kein zweiter Vogel leistet so Ausserordentliches an c Ge-
sangesquantum», bei gleichzeitiger Güte, wie die Lerche. Sie singt
in der Regel über vier, in selten warmen Frühjahren, wie z. B.
1882, sogar nahezu fünf Monate hindurch und täglich während so
vieler Stunden, wie kaum ein Rivale auch nur annähernd. Der
früheste Termin ihres Eintreffens aus dem Südwesten für Mittel-
livland ist bisher der 14. Februar 1882 gewesen ; so schneearra
der heurige Februar verlief, so milde das Wetter war, so konnte
heuer bei Wenden erst der 22. als Ankunftstag und zwar nur für
vereinzelte Exemplare notirt werden.
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Unsere bemerkenswerthesten Singvögel. 323
17. Die Haidelerche. Alauda arborea. Lettisch nachRusssow:
nrilltnfä, fo^fo jiljruli« ist falsch, sondern es wird fiüa jitjrulie gesagt ;
estnisch : pere-pingas oder Jcaera lind ; russisch : jitcHOfl acaBoponoK-L.
Nach Recht und Verdienst wird die Haidelercbe in vielen
Gegenden Deutschlands auch Waldnachtigall oder die cNachtigall
der Berge > genannt und dadurch geehrt. — Ueber Sachen des
Geschmackes soll man nicht disputiren ; man gelangt aber dennoch
leicht dazu, wenn jeder sich über sein Wohlgefallen oder Misfallen
zu äussern bemüht, wenn man angelegentlich declarirt, was man
am höchsten stellt oder was man am geringsten schätzt. Da
platzen die Geister des Geschmackes von selbst auf einander.
Jeder Vogelliebhaber hat naturgemäss seine besonderen Günstlinge,
seine speciellen Lieblinge und sicherlich auch eine Sängerin in der
gefiedel ten Welt, welche er über alle erhebend zu seiner Prima-
donna erwählte. Hier schwärmt N. für die Nachtigall, da erhebt
K. die Singdrossel auf den Thron, dort behauptet P., es gäbe nur
ein Genie : die Gartengrasmücke &c. Nun — meine Primadonna,
meine Königin des Naturgesanges ist die Haidelerche, die Ver-
körperung waldesduftiger Poesie, graziöser und lauterster Melodie,
die glückliche Besitzerin der glockenreinsten und reizvollsten aller
Vogelstimmen ! Schon der kürzeste, wie zufällig entschlüpfte Laut,
der gewöhnliche Lockton, bei jedesmaligem Auffliegen hörbar, ist
unendlich schmiegsam, abgerundet melodiös und von wunderbarem,
silberhellem Glockenton. Es ist unbeschreiblich anmuthig, wenn
die Haidelerche sich lautlos in die Höhe schwingt, dann ihr eigen-
tümliches c Lullen beginnt und in sanften Fluglinien mit ausge-
breitetem Schwänze oft hoch, hoch am tiefblauen Frühlingshimmel
ihren weit hörbaren Gesang executirt, mitunter dabei wie ein fester
Punkt still hält, um nach Schluss lautlos und fast senkrecht ins
Haidekraut hinabzustürzen. Die grossartigste Wirkung erzielt
aber das klangreiche, weithin flötende und doch immer mildsanfte
Waldlied in stiller Nacht auf stiller Haide, wenn in lauer Maien-
zeit tiefes Dunkel auf Hügeln und Schluchten ruht und nur der
nicht mehr erlöschende Abendschein der nahenden Morgenröthe die
Stirn zum Kusse bietet. Wem erschauert da nicht das Herz in
heiliger Naturentzückung ? Der für die Singvögel so warm fühlende
H. Schacht sagt in sympathischer Form von unserer ausgezeichneten
Mainachtsängerin : <Bei Nacht aber singt der Vogel im Beginn des
Frühjahrs noch nicht, dazu bedarf es erst warmer Frühlingsnächte,
welche seine Gesangslust anfeuern und ihn empor zum Aetherzelte
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324 Unsere bemerkenswerthesten Singvögel.
treiben. Dann erst vernimmt man im Gebirge oft die ganze Nacht
hindurch die süssen, lieblichen Strophen, die bald in steigenden,
bald in fallenden Tonen, meist aber im gleichen Rhythmus dahin-
fluthen. In mondhellen Nächten ist der Vogel oft so in sein Lied
vertieft, dass er von den Gebirgshaiden hinwegschwebt über die
im Schlummer liegenden Dörfer und hier stundenlang die schönsten
Serenaden singt. Ich muss gestehen, dass es nicht bald ein ent-
zückenderes und ergreifenderes Bild geben kann, wie es uns eine
solche Frühlingsnacht bietet. Rings umher die flehten gekrönten
Häupter der Berge, unten im Thale das schlummernde, kirchen-
stille Dorf und darüber im Mondenglanze — die singende Haide-
lerche. Nur wer es selbst erlebt und empfunden hat, kann diesen
Naturgenuss verstehen und beurtheilen.»
Es ist trostreich sagen zu können, dass diese Gesangsperle
bei uns ziemlich häufig ist und überall dort gefunden wird, wo
haidige Waldblössen, trockene Viehtriften mit Wachholdergebüschen,
Kiefernforstschläge mit Haidekraut und erst fusshohen Bäurachen
vorhanden sind. Mit Ausnahme der Zugzeit schlafen sie nur im
Haidekraut, nisten nur im Haidekraut und verbringen auch den
grössten Theil des Tages und daher ihres Lebens im Haidekraut.
— Fast gleichzeitig mit der Feldlerche beginnt das Singen, meist
aber einige Tage später (in Meiershof in fünf Jahren höchstens
24 Stunden später), um erst Anfang Juli beendet zu werden. Die
letzten Wochen erklingt der Gesang nur noch um Mitternacht.
Der kürzere Schwanz, geringere Grösse und etwas lichtere Färbung
unterscheiden sie auf den ersten Blick von der Feldlerche.
In der Familie der S t a a r e
besitzen wir nur eine Species und führen dieselbe, als mit tüchtigen
Gesangeskräften begabt, gern vor.
18. Der Staar. Sturmis vulgaris. Lettisch : metoi« ftra*b« ;
estnisch : Must rästas ; russisch : cKBopem».
Wenn alljährlich laue Südwinde den märzlichen Schnee lecken,
wenn die Lerchen schon seit ein bis zwei Tagen singend die weiss-
scheckigen Feldflächen zu beleben anfingen, dann guckt Gross und
Klein hinauf zu den Spitzen der hohen Linden und Birken des
Gehöftes, ob die cschwarzen Gesellen > nicht da oben hocken, dann
horcht Herr und Knecht hin, ob die Staare nicht pfeifen. Und
wenn sie da sind, wie freut sich Alt und Jung ; einer erzählt es
dem anderen ; wie ein Lauffeuer verbreitet sich die frohe Lenzes-
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Unsere bemerkenswerthesten Singvögel. 325
botschaft. Immer dichter werden auf den Sammelbäumen die
schwarzen Gruppen ; täglich kommen beim Südwest müde Reisende
noch hinzu ; wie wird da geschwätzt, man begrüsst sich, erzählt
von der weiten Reise, «schneidet die Cour> und feiert Verlöbnisse ;
ein Stutzer sucht den anderen in künstlichen Sangestouren, im
flotten Schnalzen, im bekannten Kutscherpfiff zu überbieten ; keiner
hört schliesslich beim allgemeinen Spectakel, wie die Spatzen Ge-
fahr melden ; da schiesst ein Sperber daher — alles kreischt, aber
auch ein lustiges Mätzchen in Todesnoth den letzten Schrei ; für
kurze Zeit giebt es nun ernste Ruhe ! — Sobald die Erde durch
warmen Regen erweichte, bedeckt sich fortan jeden Morgen der
grosse Rasenplatz mit gravitätisch einherspazierenden, mit dem
klugen Köpfchen wackelnden, dunkelschillernden Sprehen, die gar
emsig mit den spitzen, goldgelben Schnäbeln in den Rasen hinein-
bohren, denselben «auszirkeln» und zur Freude des Gutsherrn von
vielem — vielem schädlichen Gewürm befreien. Wer, der jemals
ein zahmes Mätzchen sein eigen nannte, kennt nicht die sehr eigen-
thümliche, durchaus angeborene Eigenschaft der Staare, mit dem
Schnabel in jede Ritze, in jede noch so kleine Oeffnung, in die
Ohren, Nasenlöcher, in die Kopfhaare &c. tief hineinzubohren, um
dann denselben mit Energie plötzlich weit aufzuspreizen. Man
nennt diese Art nach Nahrung zu suchen das «Ausmessen» oder
«Auszirkeln». Dieser Trieb wird im Zimmer von zahmen Staaren
oft an befreundeten Katzen und Hunden zu deren nicht geringem
Schreck und Verdruss mit grossem Fleiss geübt und mit List be-
thätigt. Ich besass einst einen von frühester Jugend «selbst» auf-
erzogenen Staar, der hierin eine wahre Manie besass, indem er
jedem Menschen, ob jung oder alt, ob Frau oder Mann, auf den
Kopf fliegend das Haar quadratzollweise auszuzirkeln pflegte.
Für kurze Zeit war das ein anrasantes und nicht ganz unange-
nehmes Spiel, welches aber auf die Dauer geradezu lästig werden
konnte. Die komische Lust alles auszumessen ging so weit, dass
der meist frei lebende Vogel, eingefangen und in die hohlen Hände
genommen, auf dem kurzen Transport bis zum Käfig Zeit und Ge-
legenheit zu finden wusste, um alle Fingerritzen der Reihe nach
gehörig auszumessen, denn um dieses liebe Geschäft mit allem
Eifer zu besorgen, konnte ihm auch die denkbar unbequemste
Stellung nicht hinderlich sein.
Wahrscheinlich machen die Weibchen jährlich zwei Brüten,
aber oft mit verschiedenen Männchen. Da letztere bei der Auf-
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326
Unsere bemerkenswerthesten Singvögel.
zuclit der stets hungrigen Jangen sehr fleissig sind und dieselben
entschieden mehr und länger zu füttern pflegen, so scheint einigen
trägeren Individuen ein zweites mühevolles Familienleben lästig
und reizlos zu sein. Sie entziehen sich den Sorgen durch Verbleib
bei den umherschwärmenden ersten Jungbruten oder flüchten zur
Mauser in die geliebten Rohr- und Schilffelder der vorläufigen
Sammelplätze.
Auffallend ist die Thatsache, dass bei den hitzigen Kämpfen
mit dem frechen und zähen Sperling um den gewohnten Nistplatz
im Staarkasten oder in einer Baumhöhle der grosse, mit * goldigem
Spiess» so gut bewaffnete Staar, in der Regel den Kürzeren ziehend,
das Weite zu suchen gezwungen wird.
Eine bemerkenswerthe Erscheinung ist ferner das zuweilen
beobachtete Eintragen von ßlumenblüthen und grünen Blättern in
das längst fertige und bereits von schreienden Jungen bewohnte
Nest. Es dürfte nicht unwahrscheinlich sein, dass die kluge Ab-
sicht vorliegt, den heisslagernden Jungen damit eine gewisse sanitäre
Kühlung zuzutragen, in dieser leicht zu beschaffenden Weise die
Höhlen luft etwas zu verbessern.
Ausser der gewöhnlichen Würmer- und Larvennahrung frisst
unser Staar im Freileben auch gelegentlich kleine Eidechsen und
Blindschleichen, wie auch, aber glücklicherweise nur sehr ausnahms-
weise in der grössten Noth, sogar nackte kleine Nistvögel aus den
Nestern benachbarter, friedfertiger Singvögel. Wenn der Teufel
in der Noth Fliegen frass, so wollen wir dem liebenswürdigen
schwarzen Gesellen eine einmalige derartige Sünde, aus zwingender
Noth begangen, gnädig verzeihen und nach wie vor seine sonst
ungemein nützliche Existenz nach Möglichkeit schützen, erhalten,
pflegen. Den Staar hält man für einen < hitzigen > Vogel, der grosse
Wärme nicht mag, sich möglichst gegen eine solche zu schützen
sucht. Am fröhlichsten erscheint er allerdings im rauhen März
und kühlen April zu sein ; sobald Ende Mai die Hitze gewisse
Höhe erreichte, wird der Vogel still, lichtscheu und verbirgt sich
im tiefsten Schatten. Nach der Fortpflanzungs- resp,. Entwickelungs-
zeit schlafen die alten und jungen Staare gesellig in grossen
Schwärmen, wo nur irgend möglich, im Rohr und Schilf der Seen,
Flüsse und Teiche, um wenigstens nach des Tages Last und Hitze
ein kühles, feuchtnebliges Plätzchen zur Nachtruhe gewinnen zu
können.
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Unsere bemerkenswertesten Singvögel. 327
Die kleine Familie der Fliegenschnäpper
wird durch einen kurzen, breiten, mit einer geringen Hakenspitze
versehenen Schnabel, kurze, schwächliche Füsse, lange Flügel und
ein weiches, strahliges Gefieder gekennzeichnet.
19. Der schwarzrückige Fliegenschnäpper. Muscicapa atrica-
pilla. Estnisch : mets tikk ; russisch : qepuaa MyxoaoBica.
Während die meisten der zeitig anlangenden Zugvögel ein-
zelne kühne Sendboten in den Nordosten vorauszuschicken pflegen,
welche etwa die Witterung, Nahrungsverhältnisse &c. zu erkunden
scheinen und uns auf das Eintreffen der erwarteten Stammesgenossen
vorbereiten, überraschen uns die schmucken schwarzscheckigen
Fliegenschnäpper eines Morgens mit ihrer zahlreichen Anwesenheit,
indem die Männchen in nicht grossen und nicht compacten Schaaren
allenthalben, an Waldesrändern, im Gebüsch, in Gärten oder auf
Zäunen ihr kurzes, heiteres und scharfhelles Liedchen erklingen
lassen und mit fast schwalbenartiger Gewandtheit Fluginsecten
erhaschen. Erst sechs bis acht, auch zehn Tage später erscheinen
gleichfalls in grösserer Anzahl plötzlich die weniger auffallend ge-
zeichneten Weibchen. — Mir ist nicht erinnerlich, ob sich Darwin
irgendwo über die Fliegenschnäpper der Vergangenheit und ihre
Stellung zu den Grasmücken und 8chwalben geäussert hat. Sie
scheinen mir aber das Typische beider sonst weit auseinander-
stehenden Familien so sehr zu vereinigen, dass man unwillkürlich
auf den Gedanken zu kommen verführt werden könnte, sie seien
die Stammform für Grasmücke und Schwalbe vor deren Trennung
gewesen. Letztere entnahmeu vielleicht bei ihrer Selbständig-
werdung von den Fliegenschnäppern den kurzen Schnabel, den
weiten Rachen, die grossen Flügel, die kleinen, zum Gehen fast
unbrauchbaren Füsschen, als einziges Nahrungsmittel fliegende
Insecten und die Haschgewandtheit zur Erlangung derselben,
während sich erstere das lockere, etwas strahlige Gefieder, die
grossen Augen; die Art des Singens, Sitzens auf Gezweige, Nistens,
die Haltung des Körpers und dessen ganzen Habitus aneigneten.
Der Refrain eines heiteren Liedes lautet naheliegend :
cKaun sein, kann auch nicht sein 1
Man weiss nicht gewiss.»
Merkwürdig ist bei dieser Art die grosse Verschiedenheit in der
Färbung beider Geschlechter. Während das Männchen oben bis
auf ein weisses FlügelschHd und weissen Schwanzrand schwarz,
au Stirn und Unterleib aber rein weiss ist, trägt das Weibchen
BalUacba MonaUaehrifk Bd. XXXIV, Haft 4, 22
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32«
Unsere beraerkenswerthesten Singvogel.
ein oberseits graues, unten schmutzig fahles Kleid, welches artlich
gut nur durch einen weissen Flügelstrich gekennzeichnet wird. Die
Länge beträgt nur wenig über 13 Centimeter, aber die Flugbreite
fast 23 Centim., was auf seine grosse Flugtüchtigkeit deutlich
hinweist.
Die Familie der Schwalben
dürfte ihrem Wesen und Aeusseren nach so allgemein bekannt sein,
dass die Angabe einiger Kennzeichen überflüssig erscheint. Der Name :
cSegler der Lüfte» schliesst alles Charakterisirende in sich ein.
20. Die Rauchschwalbe. Hirundo rustica. Lettisch : besbcliga ;
estnisch : päsokene ; russisch : KocaTKa oder jacroisa KpaceosoÖKa.
Die Dorfschwalbe ist unstreitig der im besten Sinne des
Wortes populärste Vogel in allen Gauen deutscher Zunge. 8ie
ist das Sinnbild gemüthlicher Häuslichkeit, zufriedenen Familien-
glückes, trauter Heimatlichkeit, unwandelbarer Treue. Wenn sie
uns im Herbst verlässt, fühlen wir eine trübselige Vereinsamung,
das Entweichen der besten Tage. Eine nicht zu bewältigende
Wehmuth erfüllt dann den Vogelfreund, der da poesievoll schrieb :
cFort sind nun die geliebten Gäste, die treuen Mitbewohner meines
Hauses. Während sie unter einem ewig blauen Himmel die grünen
Kronen der schlanken Palmen umsegeln, steht das Land ihrer
Wiege, stehen ihre Nester verödet und vereinsamt da. Aber leise
schon im Geiste knüpfen wir an ihr Wiedererscheinen die Hoffnuug
einer neuen Zeit, die Hoifnung des Lenzes.»
Wie lieblich erklingt nach langem Winter das Zwitschern
und schwätzende Singen der auf hohem Sitze thronenden Rauch-
schwalbe ; es ist ein melodisches Recitativ mit eigentümlichem
Schlusstriller oder vielmehr Schnarren. Deutschlands Volksmund
legte dem Gesang Worte unter:
cAls ich fortzog, waren alle Kisten und Kasten schwer:
Da ich wiederkam, da ich wiederkam, war alles wüst und leerrrr.»
Oder :
<Als ich auszog, auszog, hatt1 ich Kisten und Kasten voll;
Als ich wiederkam, wiederkam, hatte der Sperling,
Der Dickkopf, der Dickkopf, alles verzehrt.»
Niederdeatsch :
<As ick weg genk, as ich weg genk,
Was Hus und Schüür vtdl ;
As ick wier kam, as ick wicr kam,
Was alles verröUclt, vertöttelt, verpf umfeit >
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Unsere bemerken« wertbesten Singvögel. 329
Oder:
*Als ick hier vörrig Johr wass,
Durin tcüss hier Löf und Gras;
Bit Johr is hier nix — nix — nix.»
Im Elsass (Schwatzende Weiber am Braunen glossirend) :
Die ratsche und dätsche,
und wenn sie
isch innen he Funkele Fier.»
Recht schnöde klingt der nachstehende Angriff auf die Weiber ■
*Dat Fruensvolk, dat wackre Volk ; To Felle, to Felle !
Wenn Du se seist, Wie ick sein, Des Morgens, wenn se in de Koken gaht,
Seist se ut as de Düvel, as de Düvel, as de Düvel in die Helle!»
Schon im 13. Jahrh. waren derartige Verslein im Schwange :
<Nu merket baz der smaleven ort,
Die sie zu stunden wiset,
Sie vliuget hin und schliuzet her wieder:
Du diep, du diq>. sie schriet.»
Leider standen speciell die Rauchschwalben bei den Bienen-
züchtern herzlich schlecht angeschrieben. Sie litten unschuldig
unter schwerwiegendem Verdachte. Erst 1883 hat ein hervor-
ragender Imker, Herr A. Lipp in Königsstädteu, die sichere Beob-
achtung gemacht und veröffentlicht, dass die Schwalben nur Drohnen,
also stachellose Bienen, fangen, die ja keinen Honig eintragen
und deren Decimirung daher niemandem Schaden bringt. Professor
Dr. Glaser schreibt hierüber: tAuch die um Bienenstöcke jagenden
oder vor ihnen erscheinenden sonstigen Insectenfanger haben es
nicht etwa lediglich auf Drohnen abgesehen, sondern fangen auch
andere von dem Honigduft angelockte Insecten, wie allerlei Fliegen
und Motten, besondere aber die in Bienenstöcke eindringenden
schädlichen Schmarotzerinsecten, als die Wachsmotten Galeria melo-
nella, Achroea alvearia und Aphonia colonella, ferner Immenwölfe
Clerus apiarius und alvearius, Ameisen und Ohrgrübel Forficula
auricularia. Alle diese von dem Honig der Bienen angelockten
und ihnen selbst theilweise verderblichen Insecten sind das Ziel
und Object der sich da einfindenden insecten fressenden Vögel und
während der Nachtzeit dasjenige der Fledermäuse; die stachel-
führenden Honigbienen sind dabei von ihnen durchaus nicht ge-
fährdet.» — Ausser den bisherigen Feinden der Rauchschwalben,
den Katzen, Eulen, Hausmardern, Elstern, dem Lerchen- und
Merlinfalken und den widerlichen Lausfliegen (Hippobosca hirundinis)
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1 330 Unsere bemerkenswerthesten Singvögel.
ist noch in der Neuzeit ein eiserner, der Telegraphendraht, direct
und indirect, also in zwiefacher Weise hinzugekommen. — Zur
Zugzeit in der Nacht erschlagen sich alljährlich in Europa un-
zählige Rauchschwalben durch tödtlichen Anprall, wie auch ein-
zelne bei der jähen todesbangen Flucht vor den Falken. — Die
Schwalben sitzen bekanntlich gern gesellig auf den Telegraphen-
drähten, oft zu Hunderten beisammen. Nach Prof.'K. Th. Liebe
werden sie dann zuweilen massenhaft durch den Blitz getödtet,
indem derselbe, sich theilend, bis zu zwei und drei Werst den
Draht entlang zu gleiten pflegt. Dabei werden auch viele andere
Singvögel und Mandelkrähen plötzlich dem Tode geweiht. — Die
Rauchschwalbe trifft meist zwei bis drei Tage vor der Fenster-
schwalbe, gewöhnlich zwischen dem 17.— 22. April bei uns ein.
Ihr Nest wird immer unter Dach in offener Schalenform gebaut
und enthält im Mai fünf bis sechs weisse, braun und grau gefleckte
schmale Eier, während die Fensterschwalbe rein weisse Eier hat.
B. Samenfresser.
Der Name giebt die hauptsächlichste Ernährungsart dieser
mit einem muskulösen Magen und kurzem, starkem und hartem
Schnabel ausgestatteten Ordnung an. Sie sind ungleich geselliger
als die Insectenfresser; namentlich zur Zugzeit und in den Winter-
quartieren findet man oft Schwärme von tausend und mehr zu-
sammen; auch sonst leben sie meist in Familien und kleinen Ge-
sellschaften gern vereint, nur ausnahmsweise so isolirt wie die
kleineren Vögel der vorigen Ordnung. Der Gesang ist nicht so
schmelzend, so flötend, überhaupt weniger bedeutend, aber bei eini-
gen Arten immerhin noch recht gut zu nennen; sie zwitschern
zu viel.
Aus der Familie der Ammern,
die durch eine sehr eigenthümliche Schnabelbildung ausgezeichnet
und charakterisirt erscheint, heben wir nur eine wenig bekannte,
aber durch besseren Gesang ausgezeichnete Art hervor. Ihre aus
mehligen Sämereien und im Frühling resp. Frühsommer auch aus
Insecten bestehende Nahrung suchen sie ausschliesslich vom Bo-
den auf.
21. Die Rohrammer. Emberisa schoeniclus. Lettisch: fwite*
prat)flit)t« ; estnisch: wezi rfistas ;- russisch : öojiothuA BopoÖefl oder:
oiepeTanKa. Wird bei uns gewöhnlich Rohrsperling genannt, da
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Unsere bemerkenswerthesten Singvögel. 331
die Zeichnung, wenngleich viel lichter und lebhafter, vom Haus-
sperling etwas Aehnlichkeit hat.
In Sumpfniederungen träge dahinfliessender Gewässer, an
sumpfigen Seeufern, die mit Erlengebüsch, Weidengestrüpp und
sonstigen verkrüppelten Baumformen reichlich besetzt sind, sieht
man spätestens zu Beginn unseres neuen ökonomischen Jahres auf
den Spitzen der höchsten Büsche, falls von der Vormittags- oder
Abendsonne grell beschienen, eine scheinbar weissliche Vogelgestalt
frei und aufrecht dasitzen und hört von solchen meist schwer zu-
gänglichen Oertlichkeiten her einen originellen, lebhaften, etwas
stammelnden, jedenfalls nichts weniger als fliessenden Gesang mun-
ter herüberschallen. Das ist der Rohrsperling, ein so fleissiger
Sänger, dass er in der rechten Wonnezeit auch in der Nacht und
sogar zuweilen um Mittagszeit seine laute, etwas rauhhelle Stimme
ertönen lässt, wobei er oft den Stand wechselt und dabei höchst
eigenartig, schwankend und stets aufsteigend fliegt, um ziemlich
jäh zum erkorenen Sitzplatz niederzufallen. Diese Art des frei-
willigen Fliegens (gescheucht und flüchtend schiesst er niedrig im
Gestrüpp dahin) und der absonderliche Gesang verrathen dem Ken-
ner seinen Aufenthalt sehr bald. Anfang Mai findet man in dem
sehr versteckt auf dem Boden in Rohrgras, Gestrüpp &c. angelegten
Nest fünf Eier, die wie bei allen Aramerarten mit Federzügen,
Brandflecken &c. geziert sind.
Die Familie der Finken
ist unter den Samenfressern in gesanglicher Beziehung entschieden
die wichtigste, die zweifellos hervorragendste. Für den Liebhaber
gefangener Vögel ergeben die buntfarbigen Glieder dieser Familie
das dankbarste und beliebteste Material. Welcher Balte hätte
nicht mit treuer Sorgfalt in seiner schönen Knabenzeit einen Buch-
link, Stieglitz oder Zeisig im Käfig gepflegt uud erhalten I
22. Der Buchfink. Fringilla coelebs. Lettisch: pintift, auch:
fdmbbitc; estnisch: wink] russisch: srfjHKi. Bei auffallend früh
eintretendem Lenz erschallt bereits in der ersten Woche des März
(z. B. 1882), in der Regel aber erst in der letzten Märzwoche
frisch, froh und frei der klare, muntere Finkenschlag aus der hohen,
alten Linde am Herrenhause. «Ich halt' den Fink gehört, ich ganz
zuerst!» verkündet dann jubelnd ein junger Sprosse der «landschen»
Familie, die hoffentlich immer ob dieser Botschaft lebhafte Freude
äusserte. Wie lustig gestaltet sich da jeder Gang in den Garten,
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Unsere bemerkenswerthesten Singvögel.
in den Park, durch das ganze baumreiche Gehöft; denn schon hört
man überall das schmetternde, kurze Lied des herzigen Pinken;
Leben kehrte wieder in die winterlich öden, einstweilen noch « kah-
len > Kronen der Bäume ein!
In ganz Deutschland dürfte, nächst dem Jubiiiren der Feld-
lerche und dem Gezwitscher der Rauchschwalbe, der Finkenschlag
der volkstümlichste Vogelgesang sein, den jedes Kind kennt, jeder-
mann lieb hat und jeder Greis mit Wehmuth verehrt, indem er an
seine längst entwichenen Jugendjahre denkt, wie auch er einst
frisch, froh und frei mit Energie und Muth ins ungewisse Dasein
trat und gleich dem Fink sorglos und glückselig des Lebens Mai
singend und kosend genoss.
Am Niederrhein hört der Bauer den Finken sagen: *Titsches,
titsches, hitsches Maria!* und in Westfalen
Sük, sük, sük, suk,
Im twe un twintigsten jar,
Stiky suk, sük, siiky
Da kommen die prtisken Soldaten.»
Im Hochdeutschen soll er deutlich verküuden: «Der Engel
brachte Maria die Botschaft.»
Im 17. Jahrhundert, meinte man, lehrte er, wie folgt:
«Fein fröhlich reit herzu!
Früh ist gar gut studiren,
Wann's kühl, still ruhig ist:
Steh auf und thu's probiren,
Du fauler Syntaxist. >
Der Finkenschlag ist einer weitgehenden Mannigfaltigkeit
unterworfen; in einigen Gegenden sollen sich ganz eigenthümliche
Schläge ausgebildet haben, woher denn auch die vielen Namen für
die verschiedenen Nüancen des Gesanges und der betreffenden
Schläger entstanden. Die gerühmten und kostbaren Doppelschläger
sollen fast gänzlich ausgestorben sein. In Thüringen z. B. bei
Oberhof, am Inselsberge und einigen umliegenden Plätzen soll es
noch im Freien echte Doppel schläger geben. Vererbung allein
scheint eben nicht zu genügen.
Nach A. Bruhin habe Beethoven im Menuett einer Symphonie
die Saugesart des Buchfinken zum Muster gehabt, indem er «den
Bass zu wiederholten Malen einen Anlauf nehmen und erst nach
einigen vergeblichen Versuchen den weiteren Gedanken finden»
lässt, wie solches beim Frühlingsschlag des Finken vorkommt und
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Unsere bemerkenswerthesten Singvögel.
333
zu hören ist. Ich raeine, das sei recht viel Ehre für unseren
Edelfinken.
Der Fink, welcher im wärmeren Deutschland zum Theil auch
Standvogel ist, wird in unseren nördlichen Landstrichen echter Zug-
vogel. Bei einer Blutwärme von 42 bis 44 ,j 0 C. dürfte ihn we-
niger die Kälte als Nahrungsmangel zum Abzüge aus den unwirth-
lichen Wintergefilden der baltischen Lande nöthigen. Einzelne
sehr seltene Ausnahmen, vielleicht nur aus den bedauernswerthen
Angehörigen eines allzu verspäteten Genistes zweiter Brut, die zur
Reise zu unentwickelt waren, oder aus verletzten und kränklich
gewordenen Vögeln bestehend, sind auch bei uns notirt worden. So
überwinterten im sehr schneereichen, anhaltenden und nicht beson-
ders warmen Winter 1880—81 je ein jüngeres Männchen und
Weibchen im Gehöft zu Lipskaln, indem sie sich vornehmlich bei
einer niemals zufrierenden, mit grünen Moosen und Gräsern um-
wucherten Quelle unweit der düngerbedeckten Strasse aufhielten.
Da für Vögel, die ausnahmsweise oder nur theil weise bei uns über-
wintern, Regel zu sein pflegt, dass alte Mäunchen vorzugsweise
dem Klima und der Nahrungsnoth in besonders milden Wintern
trotzen, so scheint mir das Lipskalnsche Beispiel dafür zu sprechen,
dass in casu die Abzugsverspätung durch mangelhafte Entwicke-
lung eintrat, aus der dann schliesslich durch Führerlosigkeit und
einen überraschend früh eintretenden Winter mit grossen Schnee-
massen (am 5. üctober 1880 fiel massenhaft Schnee, der erst Mitte
April 1881 schwand) ein zwangsweises Verbleiben und Ueberwin-
tern resultirte. Ende Februar, als eine ziemlich bedeutende Kälte
eintrat, verlor ich übrigens die Finken aus dem Gesicht; vielleicht
gingen sie zuletzt, der Unbill des Klimas erliegend, doch noch zu
Grunde. Einen zweiten Fall des Ueberdauerns constatirte ich
1884—85 im wendenschen Schlosspark, wo ein offenbar im Fliegen
untüchtiges Finkenweibchen sich kümmerlich durchzuschlagen ver-
stand. Also nicht freiwilliges Bleiben, nicht der Trieb zur Accli-
raatisation, keine Reflexion über den Satz tibi bette ibi patria, son-
dern einfach zwingende Umstände irgend eines zufälligen Noth-
standes scheinen mir Ursache des ausnahmsweisen Ueberwinterns der
Finken in Livland zu sein. Ob die Verhältnisse im südwestlichen
milderen Kurland anders bestellt sind, blieb mir bisher unbekannt;
möglich wäre es immerhin, dass schon dort das Winterquartier er-
träglicher erscheint.
23. Der Stieglitz. Fringilla carduelis. Lettisch: babflti«,
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Unsere bemerkenswerthesten Singvögel.
iiglift; estnisch: tiglits; russisch: mero.n,. — Als der Herrgott die
Welt erschaffen, auch allen Thieren Namen gegeben, jedem seine
Nahrung angewiesen und sämmtliche Vögel mit ewig haltenden,
herrlichen Farben angemalt hatte, sagte er, den Pinsel ausspritzend,
halblaut zu sich: es ist doch gut, dass keiner mehr übrig blieb,
denn just sind mir die Himmelsfarben ausgegangen, alle Nahrung
ist vertheilt und ich käme wirklich in Verlegenheit, noch einen
Vogel ausstatten zu müssen. Aber in unendlicher Güte und tiber-
grosser Ordnungsliebe gedachte der liebe Gott einen förmlichen
Abschluss zu raachen und rief daher mit seiner Donnerstimme über
das Erdenrund, dass er die Schöpfung beenden müsse, so noch ein
Wesen vergessen sei, es sich schleunigst zu melden habe, sonst
wäre alles zu spät. Siehe ! da kam ein kleines, noch farbloses Vög-
lein in Aengsten herzugeflogen, meldete sich und bat ergebenst um
Namen, Nahrung und Färbung. «Ach, * da habeu wir's!» seufzte
der gütige Schöpfer, sah sich voll Erbarmen um, entdeckte auch
noch einen Distelbusch, dessen Samen niemand gemocht, und auf
dem Boden der Farbentöpfe noch winzige Reste von allen bunten
Farbstoffen. Nun wies er dem Vöglein die Distelsamen für immer
als Nahrung an, betupfte das in banger Erwartung zitternde Seel-
chen mit allen Resttropfen der schönsten Farben und siehe! es
ward dadurch so schön bunt, wie kein anderes. Gnädigst sprach
schliesslich der liebe Gott, es taufend: «Distelfink sollst du auf
deutsch, Stutzer auf russisch heissen.> Da ward das Vöglein so
kreuzfidel, dass es sich vor Vergnügen fortan stets wandte und
drehte und mit heller Stimme den allgütigen Schöpfer pries, der
ihn, den säumig Letzten, zum ersten, schönsten Stutzer gemacht hatte.
So weit die Sage. Die heutige Kenntnis sagt über den all-
bekannten Distelfink, dass kein Singvogel gelehriger, dass er bei
uns uniherstreichender Standvogel, dass sein Nest zürn Leidwesen
aller Eiersammler sehr schwierig zu finden, d. h. zu erreichen, dass
er in der Gefangenschaft, sich mit den Canarienvögeln gern ehelich
verbindend, wunderschöne Bastarde zu erzeugen befähigt und dass
er als Sänger unter den Samenfressern eine hervorragende Rolle
zu spielen berufen sei. Bekannt ist ferner, dass die Weibchen von
den Männchen sehr schwierig zu unterscheiden sind, woher Neu-
linge von Verkäufern leicht und arg betrogen werden.
24. Der Zeisig. Fringilla spinus. Lettisch: jUtfif«; russisch:
nm,
Wenn im Februar oder Anfang März noch tiefer Schnee die
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Unsere bemerkenswerthesten Singvögel.
335
Fluren deckt, das Thermometer über Null steigt, ein heiterer Sonnen-
schein den Wald erglitzern lässt, der winterlich rauhe Wind sich
friedlich legte und man dann Vormittags einen Spaziergang in's
Nadelgehölz unternimmt, so wird man ungemein angenehm durch
ein munteres, vielstimmiges Singen und Zwitschern berührt und
unwillkürlich an den leider viel zu langsam nahenden, bereits sehn-
süchtig erwarteten Frühling gemahnt. So reizend sorglos, < sommer-
lich warm» und voll Lebenslust erklingen die frohen Liederchen,
dass man den kleinen grünen Vögeln im schönen dunkelgrünen
Grähnenbaum ordentlich gut gesinnt und herzlich zugethan wird.
Das sind die flinken, auch im kältesten Winter bei uns ausdauern-
den und der Heimat immer treu verbleibenden Zeisige, welche be-
kanntlich auf jedem baltischen Vogelmarkt wesentliche Handels-
objecte und im Zimmer des Vogelfreundes verhätschelte Lieblinge,
das heitere Element in der Voliere zu sein pflegen. Trotz aller er-
wähnten Liebenswürdigkeiten des kleinen Gesellen bin ich seiner
ganzen Race im Herzen doch ein wenig gram. Es gelang mir
nämlich niemals, seines Nestes, seiner Eier selbst habhaft zu wer-
den, und das Auffinden und Ausnehmen giebt dem Liebhaber und
Sammler erst den rechten Reiz, die rechte Freude; gekaufte Waare
erwärmt nicht das Gemüth, so gut sie auch die Lücke im Eier-
kästen auszufüllen verstand. Bei uns bauen sie ihre Nester in die
dichtesten und höchsten Grähnenbäume. Hat man auch endlich
mit vieler und wirklich anstrengender Mühe den betreifenden, nur
Sparrendicke haltenden, mit nur tkleinfingerstarken» Aesten erst
in einer Höhe von 6 bis 7 Faden ausgestatteten Baum entdeckt oder
wenigstens zu entdecken geglaubt, so hilft das nur wenig oder besser
gesagt nichts, denn wo ist sogleich im Binnenlaude ein Matrose zu
beschaffen, der im Stande wäre, am dünnen Stamme 7 Faden ast-
los und dann noch ein Paar Faden durch hinderndes Geäste hinauf
zu klettern? Ingrimmig verzichtet der Sammler sehr vernünftiger
Weise auf die selbst zu machende Beute, sieht sich genöthigt, in den
Beutel zu greifen und fremde Mühe reichlich zu belohnen.
Oskar von L Ö w i s.
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>
Die Lepra und ihre Gefahr für Riga.
Kiu Vortrag
litten in dem Getriebe unseres heimatlichen socialen Le-
bens, in dem Kampf zwischen der Flut des Elends
und der Noth und den Dämmen, welche Nächstenliebe und Menschen-
geist ihr entgegenstellen, taucht als neues Schreckgespenst ein
Name auf, der für uns längst nur historischen Klang besass, starrt
uns das Scbauerbild des Aussatzes entgegen, das wir ausgelöscht
wähnten aus dem Eumenidenkreise der chronischen Seuchen.
Wenn der schwarze Tod, die Pest, über die Erde ging, die
Cholera in Massenmorden wütbete, dann regte alles in fieberhafter
Hast die Hände. Staat, Gemeinde und Privatmann strengten alle
Mittel an, um den Feind abzuwehren. Wenn er ihre Desinfections-
feuer übersprang, die Absperrungscordons durchbrach und sein Ver-
nichtungswerk fortsetzte, so wurden neue Mittel in den ungleichen
Kampf geworfen, trotz der geringen Erfolge und der ungeheuren
Opfer wurde derselbe mit grösster Energie fortgeführt, bis das
Fortschreiten der Seuche ein Ende erreicht, die Gefahr der An-
steckung geschwunden war. In dieser Gefahr ist die Triebfeder
für alle Kampfesmühen, für alle Opferwilligkeit begründet; je acu-
ter sie ist, je deutlicher sie vorhanden zu sein scheint, desto leb-
hafter regen sich die Hände, die ach so oft ruhen, wenn die Leiden
und das Elend, das Unglück nicht schnell schreitend, sondern lang-
sam schleichend sein Vernichtungswerk vollzieht.
Schauen Sie hin auf die heutigen chronischen Seuchen, unter
denen das Menschengeschlecht seufzt, die hier den Mann aus seiner
glänzenden Laufbahn, aus vielverheissendster Thätigkeit heraus-
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Die Lepra und ihre Gefahr für Riga. 337
reisseu und langsamem Siechthum in die Arme werfen, dort blühen-
des Familienleben langsam zerblättern und auflösen, 'sie, die den
wichtigsten Factor dafür abgeben, dass die Menschen unserer Tage
blass und blutarm, schwächlich und nervös geworden sind, was ist
zu ihrer Abwehr eigentlich geschehen? Ist es abzusehen, wann
man radicale Massnahmen gegen sie ergreifen wird? Neinl
In erster Linie wol deshalb, weil das Angriffsobject so riesen-
gross geworden, dass nicht abzusehen, von wo den Augriff begin-
nen, und wol auch kein Staat besässe die Mittel, denselben ratio-
nell auszuführen, dann aber, weil das Bewusstsein der Contagiosität
theils fehlt, theils nicht genügend lebhaft ist. Die rigorosen Mass-
regeln, welche früher an einzelnen Orten gegen die Schwindsucht
ergriflen worden waren, die Thatsache, dass einzelne wilde Volker-
stämme aus Furcht vor derselben alles stehen und liegen lassen,
womit sie einen vortheilhaften Tauschhandel abzuschliessen hofften,
und sich in angstvolle Flucht begeben, sobald der tauschende
Europäer zu husten anfängt, beweisen, dass mit dem veränderten
Gesichtspunkt, von dem aus die Seuche betrachtet wird, die Frage
der Abwehr auch auf eine ganz andere Höhe lancirt wird, als sie
uns heutzutage interessirt.
Sache der Wissenschaft ist es, den richtigen Weg hier zu zeigen.
Die Art des Ansteckungsstoffes, die Bedingungen, unter wel-
cheu die Ansteckung erfolgt, müssen präcisirt, mit unantastbaren
Thatsachen belegt werden. Diese Forderung, so einfach sie klingt,
so schwer ist sie zu realisiren. Nur Sprosse um Sprosse hebt sich
unsere Erkenntnis der Wahrheit näher, und wie unabsehbar weit
ist noch die Stufenleiter, die wir zu ersteigen haben!
Die Baccillen sind entdeckt worden, und welche Combinatio-
nen über Ursache und Wesen der Krankheit sind daraus entstan-
den, für wie viele noch offene Fragen ist der Baccillus als will-
kommener Lückenbüsser sofort zur Stelle, wie viel falsche Vor-
stellungen sind durch ihn in der Laienwelt heraufbeschworen ! Und
wenn dann die Wissenschaft zur Erkenntnis kommt, dass nicht
der Baccillus als solcher die Erklärung der Krankheit giebt, dass
die Stoffwechselvorgänge dieses kleinsten Lebewesens — chemische
Processe — in diese Rolle treten, oder wenn sich andere neue
noch ungeahnte Gesichtspunkte eröffnen, dann wird jäh alles fort-
geworfen, was heute als feststehend gegolten, und der neuen Strö-
mung fällt vieles zum Opfer, was gut angelegt war und nur noch
des stetigen Ausbaues bedurfte.
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338 Die Lepra und ihre Gefahr für Riga.
So zieht sich durch die Geschichte der Krankheiten ein Stei-
gen und Fallen der Anschauungen. Das heutige Geschlecht bringt
zur Anerkennung, was vor hundert und mehr Jahren unseren Vor-
fahren 1" Überzeugung gewesen, Ansichten, die für abgethan gegolten,
sie finden heute wiederum ihre Würdigung. Aus diesem Auf- und
Abwogen der Anschauungen schlägt als unvergänglicher Nieder-
schlag ein Körnchen Wahrheit zu dem anderen, die objectiv beob-
achteten, sachlich belegten Thatsachen, welche die Generationen in
ihrer Folge an einander reihen.
Wenn ich es versuche, ein Bild des Aussatzes jetzt vor Ihnen
zu entrollen, so schicke ich voraus, dass der Aussatz die einzige
chronische Seuche gewesen, gegen welche ein energischer, mühe-
voller Kampf geführt worden, und dass derselbe, allerdings nach-
dem er Jahrhunderte gedauert, mit völligem Siege, wenigstens für
den grössten Theil Europas, geendet hat. In den wenigen Orten,
wo er sich gehalten bis auf unsere Tage, schien das Interesse für
ihn abhanden gekommen zu sein, selbst die Wissenschaft fing an
ihn stiefmütterlich zu behandeln. Den uralten Aussatz, der als
ein einheitliches Krankheitsbild über zwei Jahrtausende gekannt
und als ansteckend gefürchtet worden war, den wollte man zu einem
Hautleiden stempeln, in Abrede stellen, dass er eine schwere, ge-
fahrliche Allgemeinerkrankung des ganzen Körpers sei.
Nach den verschiedenen Orten, in denen er auftauchte, fing
man an, sich über die Verwandtschaft zu streiten, welche bestehe
zwischen der Scarliero in Dalmatien, der KpuucBaa 6ojrb3Hi> der
Radesyge in Norwegen und dem alten Aussatz, der Lepra, welche
griechische Bezeichnung seit mehr als einem Jahrtausend die ge-
wöhnliche geworden war, oder der Spedalskhed, dem Namen, mit
welchem Norwegen, der heutige Hauptherd dieser Seuche, dieselbe
bezeichnet. Da kam die Entdeckung des Leprabaccillus und schaffte
Klarheit ; nur wo der Baccillus zu finden, hatte man es mit Lepra
zu thun. Mit neuem Interesse wandte sich die wissenschaftliche
Welt jetzt wiederum der Lepra zu, eine neue Perspective hatte
sich für die Forschung ergeben. Es galt, die Lebensbedingungen
des Baccillus zu erforschen, seine üebertragbarkeit zu constatiren
und damit den Beweis zu liefern, dass die Lepra keine durch Ein-
flüsse des Bodens und der Luft, durch unzweckmässige Nahrung,
und was sonst alles behauptet worden, bedingte Krankheit sei,
sondern dass jeder einzelne Leprose einen Ansteckungsherd reprä-
sentire, der verderblich werden könne für jeden, welcher mit ihm
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Die Lepra und ihre Gefahr für Riga.
339
in nähere, innigere Beziehungen tritt. Aber noch sind diese Fragen
nur zum kleinsten Theil gelöst. Nachgewiesen ist nur, dass der
Baccillus vorhanden ist in allen der Krankheit eigentümlichen
Krankheitsproducten ; nachgewiesen ist ferner, dass er eine unge-
mein grosse Lebensfähigkeit besitzt, deren Grenzen bisher noch
nicht festgestellt worden, und dass Fäulnisorganismen, welche
anderen Baccillen, wie vor allem dem der Cholera, so verderblich
sind, auf seine Lebensfähigkeit nicht den mindesten schädlichen
Einfluss ausüben. Endlich ist es zwei Forschern gelungen, den
Leprabaccillu8 auf Kaninchen zu übertragen, an deren inneren Or-
ganen Veränderungen zu constatiren waren , welche denen der
menschlichen Lepra sehr ähnlich sahen und namentlich sämmtlich
den Baccillus enthielten. Allein diesem positiven Ergebnis steht
eine Reihe von negativ ausgefallenen Versuchen gegenüber, so dass
in dieser Frage noch kein endgiltiges Urtheil gefällt werden kann.
Bisher ist es weder gelungen, den Baccillus ausserhalb des kran-
ken Körpers auf ein Medium zu verpflanzen, auf dem er fortlebt
und sich weiter entwickelt, noch die Art seiner Weiterentwickelung
zu constatiren, noch wissen wir die Eingangspforten, die er zur
Einwanderung in den menschlichen Körper wählt, sowie die ersten
Erscheinungen, unter denen er wächst und sich vermehrt, um dann
in den Organismus hereinzubrechen. Auch die Wege, die ihm zur
Verbreitung im Körper dienen, sind noch nicht festgestellt, ob er
im kreisenden Blutstrom hingeffihrt und abgelagert wird an den
Orten, wo wir ihn finden, ob er langsam fortwandernd ausserhalb
desselben sich die Gebiete der menschlichen Körperoberfläche oder
d i e inneren Organe aufsucht, die seinen Lieblingssitz bilden.
Man unterscheidet zwei Formen der Lepra, di^ sogenannte
Knollen- oder Knotenform und die Nervenlepra.
Während bei der ersteren die Haut, namentlich des Gesichts,
verunstaltet wird durch kleinere oder grössere Knollen und Knöt-
chen, welche anfangs vereinzelt, dann in dichten Massen aufschiessen,
dann sich zu grösseren Platten vereinigen oder sich in eiternde
Geschwüre verwandeln können und so dem Gesicht ein entsetz-
liches, schreckenerregendes Aussehen geben, finden wir bei der
zweiten Form den Baccillus in den Nerven und um dieselben, und
alle sichtbaren Krankheitserscheinungen sind zurückzuführen auf
die dadurch beschränkten oder aufgehobenen Nervenfunctionen.
Wenn Hände und Füsse, Arme und Beine gefühllos werden, so
dass man eine Nadel tief in's Fleisch senken kann, ohne dass es
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-» ■
340
Die Lepra und ihre Gefahr für Riga.
der Kranke merkt, wenn weite, landkartenartige Zeichnungen auf
der Haut auftreten, wenn die Ballen an den Händen einsinken, so
dass man den Eindruck gewinnt, als strecke sich einem die haut-
übersponnene Hand eines Skeletts entgegen, wenn Zehen und Fin-
ger allmählich Glied für Glied absterben und abfallen, ja es wieder-
holt beobachtet worden ist, dass die ganze Hand sich von dem
Arme löste, so ist für dieses alles nur die Erkrankung der Nerven
das ursächliche Moment. Sie müssen sich vorstellen, dass der Nerv
nicht blos der Leitungsdraht ist, welcher dem Gehirn das äusser-
lich einwirkende Moment als 8chmerz oder irgend eine andere
Qualität unserer Empfindung vermittelt, und der wieder vom Ge-
hirn den Willen in die Glieder des Körpers leitet und ihn hier in
Bewegung oder eine andere Qualität unseres Handelns umsetzt,
sondern dass der Nervenstrang Fasern enthält, deren Vorhanden-
sein das Leben seines Verzweigungsgebietes bedingen. Nicht der
Zu- und Abstrom des Blutes allein genügt, um warmes Leben zu
erhalten ; sind die lebenerhaltenden Nervenfasern zerstört, so stockt
die Welle des Lebenssaftes und dem Tode fällt anheim das ganze
Gebiet, in dem das Nervenleben aufgehört hatte. Und nun stellen
Sie sich vor, dass diese beiden Formen sich die Hand reichen und,
während Knollen und Knoten das Gesicht bis zur Unkenntlichkeit
entstellen, die Erkrankung der Nerven an Händen und Füssen ihre
Verheerungen anrichtet, und Sie erhalten ein Bild, dessen Grausig-
keit auszumalen Sie mir erlassen mögen. Genug, dass von diesem
furchtbaren Leiden der Tod endlich das unglückliche Opfer erlöst,
der lange, oft fünf bis sechs und mehr Jahre sehnsüchtig erwartet
und herbeigefleht war. Es ist zu verstehen, wie das durch den
Anblick eines solchen Unglücklichen geweckte tiefe Mitleid zurück-
und durch die Furcht, in gleiches Leiden zu verfallen.
So sehen wir denn auch von alters her die schärfsten Bestim-
mungen existiren, welche strengste Absonderung der Kranken von
den Gesunden verlangen und die Handhabung einer solchen aufs
gewissenhafteste regeln.
Ob Aegypten oder Indien oder etwa beide Länder die Wiege
der Lepra gewesen, wissen wir nicht. Die ältesten bis auf unsere
Tage erhaltenen sanitätspolizeilichen Bestimmungen gegen die Seuche
sind die, welche Moses vor mehr als 3000 Jahren geschaffen : « Wer
aussätzig ist, des Kleider sollen zerrissen sein, des Haupt blos
und die Lippen verhüllet und soll allerdings unrein genannt werden;
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Die Lepra und ihre Gefahr für Riga.
341
so lange das Mal an ihm ist, soll er unrein sein, allein wohnen
und seine Wohnung soll ausser dem Lager sein.> Es scheint, dass
Moses ganz besonderes Gewicht auf das Erkennen der Nervenlepra
gelegt, der diagnostisch schwierigsten Form. Es ist möglich, dass
diese Form auch die bei weitem häufigere war, wie solches jetzt
in Ostasien der Fall ist, und wäre uns damit die Erklärung dafür
gegeben, dass die Bestimmungen Mosis wiederholt der Reini-
gung, der Heilung vom Aussatz erwähnen. Denn wenn es auch
bei beiden Formen des Aussatzes vorkommt, so ist es der Nerven-
lepra ganz besonders eigen, dass der Verlauf der Krankheit ein
äusserst ausgedehnter , sich über einen Zeitraum von 15—20
Jahren erstreckender sein kann. Es kommen dann Perioden von
Jahres- und noch längerer Dauer vor, wo der Träger der Krank-
heit dem Laien ganz gesund erscheint, bis dann mit einem Schlage
oder allmählich die Erscheinungen wieder da sind, von denen sich
der Kranke befreit, geheilt glaubte.
Vom Jahre GOO v. Chr. an sehen wir die Perser Massregeln
gegen die Lepra ergreifen, welche sich inzwischen auch über Ostr
asien und China verbreitet hatte. In Griechenland war der Sage
nach der Ort Lepreon in der elischen Landschaft Triphylia von
aussätzigen Ansiedlern gegründet worden ; seit 345 v. Chr. herrscht
jedoch der Aussatz notorisch in Griechenland, wie solches von
Aristoteles bezeugt und genau beschrieben wird. Im letzten Jahr-
hundert vor unserer Zeitrechnung hatte er Italien erreicht. Von
hier aus ist er dann von den römischen Heeren an die Grenzen
des Imperiums und über diese hinaus verschleppt worden. Die
Reihenfolge der nun ergriffenen Gebiete Europas lässt sich nicht mit
Sicherheit feststellen, etwa zwei Jahrhunderte nach Christi Geburt
finden wir ihn bereits in der Lombardei, Spanien, Frankreich und
Deutschland.
Es ist den vom ersten Kreuzzug heimkehrenden Pilgern und
Streitern die Einschleppung der Lepra zugeschrieben worden, je-
doch fälschlicher Weise. Wol ist mit den Kreuzzügen die Lepra-
frage für die Menschen des Mittelalters in ein anderes Licht ge-
stellt worden, die Abtrennung der Kranken von den Gesunden und
die Verpflegung der Unglücklichen in ein rationelleres Stadium ge-
treten ; wol mag auch die Verbreitung der Seuche durch die
Strömungen, welche die verschiedenen Gesellschaftsschichten unter
einander mengte, durch die Schaaren von Pilgern und Kreuzfahrern
wesentlich begünstigt worden sein, allein urkundlich beglaubigt ist
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Die Lepra und ihre Gefahr für Riga.
die Existenz der Leprosen in Frankreich und Deutschland mehr
als ein halbes Jahrtausend vor dem ersten Kreuzzuge. — Während
ursprünglich die aus der Gemeinschaft gestossenen Leprosen ausser-
halb der Stadtmauern sich aufhalten, in kleinen elenden Hütten
von Stroh oder Heu auf freiem Felde leben und ihr Leben als sog.
Feldsieche auf eigene Hand erhalten raussten — durch Bettelbrod
und die Mildthfttigkeit guter Menschen, sehen wir nach den Kreuz-
zügen Städte und Fürsten sich bemühen, der Landescalamität Ab-
hilfe zu schaffen durch Gründung von Siechenhäusern — Leprose-
rien — und Concentriren aller Aussätzigen in solchen Anstalten.
Den Anlass dazu mag gegeben haben, dass durch die furchtbaren
Opfer, welche die Kreuzzüge an Menschenleben gefordert, für jedes
einzelne Gemeinwesen die Aufgabe herantrat, durch energische
Massregeln die gelichteten Reihen seiner Angehörigen vor weiteren
Verlusten zu schützen. — Die praktische Lösung dieser Aufgabe
ist am meisten gefördert worden durch das System, welches die
Orden in die Krankenpflege gebracht. Die im heiligen Lande im
Dienst für die leidenden Brüder geschulten Hände waren mit dem
Aufgeben des heiligen Landes in reichlicher Anzahl vorhanden, um
in der Heimat das Werk der Liebe und Barmherzigkeit zu fördern,
für welches sie herangebildet waren. Wenn wir trotzdem bis etwa 1400
noch Feldsieche treffen, so ist das nur ein Beweis der ungeheuren
Verbreitung der Krankheit; die Leproserien genügten eben nicht,
um alle zu fassen. Das Loos der armen Feldsiechen war in der
That ein entsetzliches ; so lange sie sich bewegen konnten, fanden
sie wenigstens auskömmliche Nahrung ; denn Speise und Trank,
auch Geld wurde ihnen oft so reichlich gespendet, dass einzelne
Orte strenge Verordnungen gegen solche erlassen mussten, welche,
ohne lepros zu sein, sich unter die Siechen begaben, um mit ihnen
Almosen einzusammeln. Aber wenn die Krankheit den armen
Feldsiechen aufs Lager warf, er, von Fieberschauern und Schmerzen .
geschüttelt, sein regenfeuchtes Strohlager nicht verlassen konnte,
dann war sein Schicksal nur dem Mitleid seiner Leidensgenossen
anheimgestellt und der Aufopferungsfähigkeit edler Menschen, welche
Abscheu und Furcht vor Ansteckung überwanden und diese Un-
glücklichen auf ihrem Schmerzenslager aufsuchten. Namentlich
Frauen sind es, die Grosses in solchem Samariterdienst geleistet.
Mögen auch die Legenden dieser zum grössten Theil heilig ge-
sprochenen Frauen ihrem Wirken manches angehängt haben, was
uns heute ein Lächeln auf unsere Lippen bringt, so darf das unsere
Die Lepra und ihre Gefahr für Riga.
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Bewunderung ihrer aufopfernden Nächstenliebe nicht schmälern. —
Der erste uns überlieferte Name ist die heilige Odilie. Als ein
Leproser vor den Mauern des Klosters erschien, in dem sie gott-
geweihten Dienstes pflog, und alles sich scheu und voll Entsetzen
von ihm wandte, da eilte sie auf den Aermsten zu, umarmte ihn,
half ihm eine Strohhütte in der Nähe des Klosters errichten,
pflegte und verband seine Wunden bis an sein Lebensende. Die
heilige Odilie lebte vor der Zeit Karls des Grossen. — Zu Anfang
des 12. Jahrhunderts war weit und breit die Aebtissin des Klosters
auf dem Rupertsberge bei Bingen — die heilige Hildegard — be-
kannt und verehrt als Wohlthäterin der Aussätzigen. Wol hatte
sie es damals nicht mehr ausschliesslich mit Feldsiechen zu thun,
sondern konnte in Leproserien Curen vollziehen, welche ihren Ruf
immer weiter ausbreiteten. Ihre guten Erfolge sind der ausge-
zeichneten Pflege und der consequenten Anwendung von Bädern
zuzuschreiben, welche sie in ihren nachgelassenen Schriften so sehr
betont ; sie selbst sieht freilich das Heilkräftige in einer Salbe, die
sie aus Hühner- und Gänsefett und Hühnerdünger bereitete. Man
sollte damit nur die Kranken recht tüchtig einreiben, dieses lange
fortsetzen und sie würden genesen, wenn nicht der Tod sie früher
hin wegraffte, oder Gott sie überhaupt nicht heilen wolle, — fügt sie
vorsichtigerweise hinzu.
Aus dem 13. Jahrhundert sind uns die Namen der heiligen
Hedwig und ihrer Schwiegertochter, der Herzogin Anna in Schlesien,
überliefert. 1234 gründet Hedwig bei Neumarkt ein Asyl für aus-
sätzige Frauen, welches in den wenigen Jahren, welche Hedwig
noch lebte, eine grosse Berühmtheit erlangte.
Die grösste Aufopferung in der Pflege der Leprosen hat ge-
wiss die heilige Elisabeth, die Landgräfin von Thüringen, bewiesen.
Es ist zu beklagen, dass der Einfluss eines Konrad von Marburg
in schwärmerische Excentricität ein Frauenherz getrieben, das
warm für alle Unglücklichen schlug, ein zartbesaitetes Gemüth in
Conflicte gedrängt, aus denen es befriedigenden Ausweg nicht ge-
funden. Zu früh starb eine Frau, die unter anderen Verhältnissen
berufen gewesen wäre, noch lange zum Segen der Armen und
Kranken zu wirken, in gesunder Thätigkeit die Reihe der Wohl-
thaten fortzusetzen, mit denen sie ihr kurzes Leben verschönt.
Grausig widerwärtig ist, was ihre Zeit ihr als hohes Verdienst ange-
rechnet, dass sie das Wasser, mit dem sie die Füsse der Leprosen
gewaschen, einstmals getrunken habe, um ein Gott wohlgefälliges
BftltUcho MotwU.cluift. Bd. XXXIV, Heft 4. 23
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Die Lepra und ihre Gefahr für Riga.
Werk zu üben. Ob sie ihrem Gatten grosse Freude bereitet, als
sie einen Leprosen in sein Bett gelegt, weiss die Legende nicht
zu berichten, wol aber geschah das Wunder, dass sie nach einigen
Stunden an Stelle des Kranken das Bild des gekreuzigten Heilands
in dem Bette fand. Einstmals äusserte sie, ihr Herzenswunsch
sei, man möge sie wie die gemeinen Aussätzigen behandeln, ihr
wie diesen eine kleine Hütte von Heu und Stroh bauen und vor
die Thür ein Leintuch hängen und einen Kasten aufstellen, dass
die Vorübergehenden ihr ein Almosen hineinwürfen. Wenn dieser
Wunsch der frommen Landgräfin unausgeführt geblieben, so hat
Ulrich von Lichtenstein es möglich gemacht, einen Tag lang unter
den Feldsiechen als ihres Gleichen zu leben. Freilich trieben ihn
dazu ganz andere Wünsche als die der heil. Elisabeth, da er das
<schwache Kleid > der Aussätzigen angelegt und sich die Näpfe
hatte bereiten lassen, wie sie die Aussätzigen zum Einsammeln von
Speise und Trank gebrauchten. So ausgestattet, klopfte er an die
Thür seiner Herzensdame, Agnes von Meran, auf deren über-
müthige Laune hin er diese ganze Mummerei unternommen. Mit
den erhaltenen Gaben geht er unter die Aussätzigen, die, wol
dreissig an der Zahl, vor der Burg sassen und denen ihr Siechthum
wehe that, um das Empfangene zu theilen ; sie sprachen cja, das
soll sein, wir theilen alles mit einander und leben geselliglich.»
So sassen sie alle zu Ringe und setzten die Speise in die Mitte.
Herrn Ulrich grausete vor den Siechen und er hätte nicht gegessen,
wenn er nicht die Ehre seiner Dame hätte hüten müssen. Als er
aber zuletzt von jedem aufgefordert wurde, zu ihm in die Hütte
zu kommen, dort zu übernachten, konnte er sich dazu doch nicht
entschliessen uud blieb lieber in Frost und Regen auf dem Felde.
Leider versichert Ulrich, dass seine Zucht ihn verhindere, all die
Krankheit, die er an den Siechen sah, zu erzählen ; so hätte diese
Episode seines Lebens doch einigen Werth für die Nachwelt
erhalten.
Die Bestimmungen, welche die Städte für die Feldsiechen in
ihrem Weichbilde trafen, beschränkten sich auf Vorschriften über die
Kleidung, die, grau oder schwarz, so zugeschnitten sein musste, dass
man schon von weitem die Träger als Sieche erkennen konnte ;
ferner auf die Tage und Stunden, in denen die Siechen der Stadt
nahen und ihre Bettel gäuge machen durften. Wo die Noth dieser
armen Ausgestossenen zu drückend geworden, da sehen wir sie, oft
im Verein mit den Juden, einen Aufstand gegen die Stadt insceniren,
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Die Lepra und ihre Gefahr für Riga. 345
der jedoch stets mit der grausamsten Bestrafung dieser Aermsten
endete.
Ein besseres Loos wurde den in den geschlossenen Anstalten
— den Leproserien — Behandelten zu Theil. ffereits 636 unter
der Regierung König Dagoberts werden Aussätzige zu Verdun,
Metz und Maastricht genannt, denen durch Schenkung Dörfer zu-
gewiesen werden. Das weist darauf hin, dass dieselben offenbar
in corporativer Gemeinschaft gelebt haben müssen. Hundert Jahre
später sammelt der heil. Othmar die Aussätzigen auf den Feldern
von St. Gallen und vereinigt sie in ein Siecheuhaus. 992 wird von
Siegfried, Grafen von Lützelburg, das von Irmina, der Tochter
Dagoberts, gestiftete und vom heil. Willibrord erbaute Kloster
Echternach mit einem Heim für die von der Miselsucht Befallenen
verbunden ; hier wird dann — zum ersten Mal — urkundlich der
Name Miselsucht genannt, den später die Aussätzigen in der
vulgären Sprache führten. Dann folgen weitere Klöster mit der
Gründung kleiner Leprahäuser, der wachsenden Notli suchen dann
die Städte durch Gründung grösserer Siechenhäuser gerecht zu
werden. Würzburg und Bremen sind allen anderen darin voraus-
gegangen, und in rascher Aufeinanderfolge sind ihnen die übrigen
gefolgt. Zu Anfang des 13. Jahrhunderts, als noch die Zahl der
Leproserien stetig im Wachsen war, zählte man 19000 Leprahäuser
in allen christlichen Ländern zusammen, in Frankreich allein
deren 2000.
Die Leprahäuser befanden sich stets ausserhalb der Mauern
der Stadt, meist waren sie dem heiligen Lazarus und Johannes
geweiht. Im Norden und Osten Deutschlands sehen wir die Georgs-
hospitäler diesem Zwecke dienen, dann werden neben den Georgs-
auch ein Lazarus- und ein Johannisspital genannt, und alle drei
beherbergen Leprose. Einzelne Städte im Süden und Westen
Deutschlands verwandten dazu die heil. Geistspitäler, die nun eben-
falls ausserhalb der Stadtmauer liegen mussten. Alle die uns
näher interessirenden Städte Norddeutschlands, Bremen und Lübeck,
zu denen ja unsere Vaterstadt in engsten Beziehungen gestanden,
sie haben ihr Jürgenhaus ausserhalb der Mauern für Leprose und
ihr Spital zum heiligen Geist innerhalb derselben für Gebrechliche
gehabt. Die Hausordnung dieser Anstalten, in Einzelheiten ab-
weichend, stimmte im Grossen und Ganzen in allen Städten über-
ein. Der Spitalmeister hatte die Oberaufsicht, ihm standen ver-
schiedene Wirthschaftsbeamte zur Seite. Von Aerzten, welchen
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Die Lepra und ihre Gefahr für Riga.
die Beaufsichtigung der Behandlung, die Untersuchung neu Aufzu-
nehmender von Rathswegen vorgeschrieben wird, ist erst nach
1500 und auch keineswegs allgemein die Rede. Bis dahin ent-
scheiden die Aussätzigen des Leprosoriums selbst, ob der sich zur
Aufnahme Meldende in der That hineingehört; oder der Spital-
meister sendet den Bettelknecht, dessen Obliegenheit sonst war, die
milden Gaben für das Leprosorium einzusammeln, und den Spital-
knecht dem Aufnahme Begehrenden ins Haus, und erst wenn diese
die Hingehörigkeit des Kranken erforscht und die Diagnose ge-
stellt hatten, konnte seine Ueberführung ins Leprosorium erfolgen.
Die Frage liegt nahe, ob denn die Diagnose dieser beiden Knechte
nicht dazwischen eine falsche gewesen ? Zweifellos ist später solches
vorgekommen, als die Lepra zu erlöschen begann und eine neue
Seuche ähnliche Erkrankungsformen schuf. Da mögen die beiden
Abgesandten des Spitalmeisters dazwischen in ein arges Dilemma
gekommen sein und manchen Unglücklichen ins Leprosorium spedirt
haben, der nicht dahin gehörte. Indessen bis gegen das 16. Jahrh.
ist die Kenntnis der Lepra eine so allgemeine gewesen, ihre Herr-
schaft eine fast ausschliessliche unter den chronischen Seuchen,
dass ein Irrthum wol recht unwahrscheinlich erscheint. Ein Bild
des älteren Holbeiu, welches gegenwärtig sich in der münchener
Pinakothek befindet, stellt die heilige Elisabeth dar, wie sie, von
der Wartburg herabkommend, ohne Gefolge unter eine auf der Erde
kauernde Gruppe von Leprosen tritt; drei von diesen und ein Bein
aus der übrigen Gruppe sind deutlich zu unterscheiden und sind
an diesen allen die Merkmale der beiden verschiedenen Formen
des Aussatzes in grösster Vollkommenheit wiedergegeben. Das
sind dieselben Köpfe, wie sie die Spedalske Norwegens haben, wie
wir sie in einzelnen Gegenden Livlands erblicken, wie sie uns hier
in den Strassen unserer Stadt dazwischen begegnen.
Reimchroniken, Hartmann von der Aues Dichtung <Der arme
Heinrich» schildern uns die Miselsucht. Die beste Beschreibung
derselben hat uns jedoch Konrad von Würzburg in seiner Dichtung
Engelhardt hinterlassen ; wenn auch diese dem Kritiker poetisch
verfehlt erscheint, so bleibt ihr ungetheilt das Lob treffender Zeich-
nung. Sie lautet:
Und also seines Lebens Freude
Ward bald in trübes Leid verkehret :
Sein Leib, der stattlich, wohlgenähret,
Ward nun getroffen und geschlagen
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Die Lepra und ihre Gefahr für Riga. 347
Mit einer schlimmen, bösen Plagen,
Man nennt sie hier die Miselsucht.
Die fiel auf ihn mit grosser Wucht
Und also aussätzig er ward.
Von seinem Haar und seinem Bart
Verlor er viel, wie ichs berichte,
Nur wenig blieb ihm im Oesichte.
Sein1 Augen gaben gelben Schein,
Als sassen Milben ihm darein.
Auch fiel ihm aus des Auges Brauen.
Des Leibes Farbe, sonst zu schauen
In früh'rer Zeit so licht und gut,
Sie ward viel röther noch denn Blut
Und gab so sonderbaren Schein.
Die harfensüsse Stimme sein,
Die ward ohn' Massen heiser.
Ihm schuf des Himmels Kaiser
Gross Leid an allen Enden,
An Füssen und an Händen.
Da waren seine Ballen
So gänzlich eingefallen,
Dass kaum ich's konnte fassen.
Der Arme musste lassen
All', was das Leben schmücket,
Und wurde arg bedrücket,
Gar jammervoll beladen
Von dieser Krankheit Schaden.
Den edlen Fürst, dem so geschehen,
Den konnte männiglich erspähen
Gar traurig, aller Freuden baar.
Mit dem IG. Jahrhundert ist eine entschiedene Abnahme der
Lepra zu constatiren ; bereits während des 17. werden mehrfach
Leproserien aufgehoben, und im 18. Jahrhundert sehen wir nach ein-
ander die letzten Leprahäuser ihre Thore schliessen. Nur an der
Südküste von Frankreich, an einzelnen Orten der Riviera, in Dal-
matien und den Donauländern, in der Krim hat sie sich erhalten
bis auf unsere Tage.
Den Hauptherd der Lepra in Europa repräsentirt jedoch Nor-
wegen. Trotzdem sein Jürgenhospital zu Bergen bereits seit mehr
als sechs Jahrhunderten den Leprosen offen steht, trotzdem im
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Die Lepra und ihre Gefahr für Riga.
Lande noch mehrfach andere Leproserien bestehen, ist die Abnahme
. der Seuche nur sehr allmählich vor sich gegangen. Erst jetzt, seit-
dem vor etwa fünf Jahren das Gesetz erschienen, das eventuell
durch Zwang jeden Leprosen in die Anstalt abzufertigen befiehlt,
hat sich eine beträchtliche Abnahme der neuen Erkrankungsfälle
gezeigt. Vom Bergener Georgenhospitale aus ist die Lepralehre
zu einer Zeit, als in Deutschland auch in der medicinischen Welt
dieselbe in unklaren und verschwommenen Vorstellungen aufzugehen
drohte, mit exactester Schärfe und Klarheit wieder aufgerichtet
worden. Danielisen und ßoeck, langjährige Leiter des erwähnten
Krankenhauses, haben sich durch ihre vollendete, klassische Schilde-
rung der Lepra und die subtile Differenzirung ihrer beiden Formen
ein unvergängliches Denkmal gesetzt. Das Ergebnis ihrer Beob-
achtungen gipfelt in dem Schlussatz: Die Lepra ist nicht an-
steckend. So wären denn die Ansichten der verflossenen Jahrhun-
derte Thorheit, alle Massregeln, welche man ergriffen, Grausam-
keiten gewesen, mit denen man die durch ihr physisches Leiden
ohnehin schwer Getroffenen nutzlos gemartert hat.
Daniellsen und Boeck stützen ihre Ansichten auf die That-
sache, dass sie während langjähriger Beobachtung in den Hospitä-
lern nie Wartepersonal oder andere Kranke haben angesteckt werden
sehen ; die Familien, welche Leprose bei sich aufnahmen und ver-
pflegten, haben niemals Erkrankungen unter ihren Angehörigen
dadurch entstehen sehen. Endlich habe auch das Volk selbst keine
Furcht vor Ansteckung, sei jedoch von der Vererbung der Krank-
heit völlig überzeugt. Und diese sei denn auch wissenschaftlich
als der Hauptfactor für die Ausbreitung der Seuche anzusehen.
Als die Seuche eingeschleppt, da habe sie in den Wohnungsverhält-
nissen, den Lebensgewohnheiten der armen norwegischen Bevölke-
rung, in der Feuchtigkeit und Rauhheit ihres Klimas, in ungeeig-
neter und einförmiger Nahrung Bedingungen gefunden, welche ihr
eine rasche Entwickelung ermöglichten und denen es zuzuschreiben
sei, dass die Lepra in Norwegen sich so hartnäckig gehalten.
Und einige Jahrzehnte später tritt der neue Leiter des Ber-
gener Hospitals Armauer Hansen für die Ansteckungsfähigkeit der
Lepra ein. Es ist dasselbe Beobachtungsmaterial, das ihm und
das Danielisen und Boeck zur Verfügung gestanden, und doch gehen
ihre Ansichten diametral aus einander. Es ist zweifellos richtig,
dass von einer Anzahl Leproser ein grosser Theil von leprakranken
Eltern stammt, nach einer Zusammenstellung von 1400 Kranken
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Die Lepra und ihre Gefahr für Riga.
349
hallen 800 leprakranke Vorfahren; allein noch ist nie ein Neu-
geborenes mit Lepra behaftet gesehen worden, und spricht die That-
sache, dass Kinder selten vor dem achten Jahr, meist aber noch
später, an dieser Seuche erkranken, doch viel eher gegen die Ver-
erbung und für eine Ansteckung durch den täglichen innigen Ver-
kehr mit den Eltern oder Verwandten. Wenn wir die 600 Krauken
ohne leprose Ascendenz mit den 800 mit einer solchen vergleichen
— spricht die Verhältniszahl von 3 : 4 nicht schon gegen die all-
gemeine Giltigkeit eines Vererbungsgesetzes und findet die Erkran-
kung der 600 nicht ihre zwanglose Erklärung bei Annahme einer
Ansteckung, die sie sich ausserhalb ihrer Familie zugezogen?
Danielisen giebt selbst eine Handhabe gegen seine eigene Lehre,
wenn er von den Erkrankten aus der besseren Gesellschaftsschicht
sagt: cdie Erblichkeit ist in diese Familien nicht gedrungen, trotz-
dem sie bei der armen Bevölkerung ringsum in Blut he steht, t
Zweifellos haben die Beobachtungen Daniellsens und Boecks
es zur Thatsache erhoben, dass die Gefahr der Ansteckung eine
minime, sobald der Kranke unter günstige Verhältnisse versetzt
wird, sorgfältige Pflege und grosse Sauberbeit die Factoreu fort-
räumen, welche eine Verbreitung des Ansteckungsstoffes ermöglichen.
Allein sich heutzutage den Thatsachen verschliessen zu wollen,
welche für die Ansteckungsfähigkeit sprechen, ist nicht mehr mög-
lich. In einem Lande, wo die Lepra herrscht, die Zahl der Kran-
ken eine derartige ist, dass Berührung und Verkehr mit ihnen nicht
mehr zu den vereinzelten Ereignissen des Lebens gehört, kann es
sehr schwer sein, die Quelle festzustellen, aus der das arme Opfer
seine Plage geschöpft. Um sichere Beobachtungen über die An-
steckungsfähigkeit zu macheu, müssen die Gegenden ins Auge ge-
fasst werden, wo die Seuche frisch aufgetreten, oder wo die Zahl
der Erkrankungsfälle eine geringe, übersehbare ist.
Amerika, welches bis vor Kurzem frei von Lepra war, hat
jetzt dieselbe; von Osten her ist sie durch norwegische Einwanderer
nach Canada verschleppt, von Westen haben die Einwanderungen
der Chinesen sie gebracht. Wenn die Seuche keine grossen Dimen-
sionen angenommen, so ist es den energischen Isolirungsmassregelu
zuzuschreiben, welchen die Regierung die Kranken unterworfen. —
Auf der Insel Mauritius wurde 1745 von einem dänischen Schiff
ein Aussätziger ausgesetzt, zehn Jahre später zeigen sich die ersten
Erkrankungsfälle auf der Insel, und jetzt beträgt die Zahl der
Leprosen daselbst mehrere Tausende. Auf den Sandwichsinseln
350
Die Lepra und ihre Gefahr für Riga.
beginnt mit den vierziger Jahren unseres Jahrhunderts die Einwande-
rung von chinesischen Kulis. Anfang der fünfziger Jahre wird der
erste Leprose, ein Chinese, der in der Nahe von Honolulu lebte,
notirt und im Jahre 1880 zählt man bereits 2000 Kranke, von
denen nur 900 in Leproserien sich befanden; dabei zählt die Ge-
sammtbevölkerung 44,000 Personen.
Endlich sind unsere baltischen Provinzen ein für die Erfor-
schung der Lepra höchst interessantes Land. Wann die Seuche
hierher gekommen, wissen wir nicht ; die erste Notiz, welche sich
in einer skandinavischen Bischofschronik findet, giebt an, dass der
Erzbischof Andreas von Lund sein Amt niederlegen musste, weil
der Aussatz bei ihm ausgebrochen, den er sich von einem Feldzuge
in Livlaud geholt. Die Aufzeichnungen über die Verbreitung wäh-
rend des 13., 14. und 15. Jahrhunderts sind höchst spärliche; ver-
einzelte Notizen stammen aus späterer Zeit. Ueber Altlivland ver-
theilt waren, heisst es, etwa hundert Krankenhäuser, einige der-
selben mögen ausschliesslich für Leprose bestimmt gewesen sein,
bei den meisten wird nur eine gesonderte Abtheilung des Gebäudes
diesem Zweck gedient haben. Die sichersten Nachrichten haben
wir über Reval. Hier bestand ein Johannishospital ausserhalb der
Mauern der Stadt für die Leprosen. Reiche Schenkungen an das-
selbe haben es bis zum Jahre 1370 zu einem grossen Landbesitz
gedeihen lassen. — Für Riga liegt die Vermuthung nahe, dass das
Georgenhospital zu der Zeit, als es ausserhalb der Stadt am. Mühl-
bach lag, in einer Gegend, wo jetzt die stolzen Häuser am Nikolai-
und Todleben-Boulevard sich erheben, ebenfalls Leprose beherbergt
haben mag. Nach Analogie der anderen Hansestädte spricht der
Name dafür, denn der bedeutende Grundbesitz, der es von den
übrigen Spitälern auszeichnet, und ferner der Umstand, dass das
Georgenhospital c Sieche» beherbergte, ein Ausdruck, der wieder-
holt für Leprose vorkommt, im Gegensatz zu den «Bresthaften»
der heil Geistspitäler im Inneren der Stadt. Allein Aufzeichnungen
darüber fehlen im Archiv des Georgenhospitals, welches übrigens
durch die Wechselfalle, denen das Hospital ausgesetzt gewesen, so
mangelhaft ist, dass uns das schliesslich nicht Wunder nehmen
kann. Es bleibt uns nur zu hoffen, dass eine Durchforschung des
Rathsarchivs Belege für unsere Muthmassuugeu bringt». Sicher
1 Ann», der Red. Der St. Jürgenshof an der Weide wird der gef.
Mitteilung de» Hrn. Stadtarehivar Dr. Hildehrand zufolge vor 1551 nicht er
wähnt, womit allerdings nicht gesagt int, da*« er sich nicht doch früher daselbst
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Die Lepra und ihre Gefahr für Riga.
3öl
hat ausserhalb der Stadtmauern im sog. Ellernbruch ein Aussatz-
haus bestanden ; hiess dasselbe zuletzt schlechtweg das Siechenhaus
im Ellernbruch, so war es ursprünglich dem heil. Lazarus geweiht
uud kommt spater z. B. im Vermächtnis der Mechthildis Rapesylver
vom Jahre 1324 als Aussatzhaus des heiligen Johannes vor. Es
werden bereits im Jahre 1225 hospitalarii des heil. Lazarus genannt;
es lässt diese Bezeichnung den Zweifel ollen, ob damit nur Pflege-
befohlene des Hospitals gemeint sind oder ob sie vielmehr Hospital-
brüder bedeutet, Brüder des Ordens, der ausschliesslich der Pflege
Aussätziger geweiht war, ja, dessen Ordensmeister, nach den vor-
handenen Angaben, selbst ein Aussätziger sein musste.
Versetzen wir uns ums Jahr 1800 ins alte Riga. Es ist
wieder ein Aussätziger angezeigt worden. Da ein Stadtarzt noch
nicht existirt, so ist anzunehmen, dass Spital- und Bettelknecht
den Auftrag erhalten, den Kranken zu untersuchen. Nach ge-
schehener Meldung wird der Unglückliche von den beiden Knechten
zur Johanniskirche geführt, von Angehörigen und Freunden in
scheuer Entfernung begleitet. Der Priester tritt ihm in vollem
Ornat entgegen, er ermahnt ihn, in Demuth und Geduld das von
Gott gesandte schwere Leid zu tragen, dann wird er mit Weih-
wasser besprengt, eine Todtenmesse wird für ihn gelesen, eine noch-
malige Ermahnung folgt und dann setzt sich der Zug in Bewegung,
befunden haben kann. Ist das von Bischof Albert in der Neustadt gestiftete
Hospital, wie anzunehmen, das Georgenhospital, so spräche dessen Luge gegen
seine Verwendung als Leprosorium. Die Annahme, dass der St. Jürgeushof an
der Weide ein Filial für Leprose gewesen, ist immerhin zulässig, obschou die im
Text angeführten Motive kaum ausschlaggebend sein dürften. Namentlich fallt
die Berufung auf den Grundbesitz, als eine die Leproseuhänser auszeichnende
Eigenschaft, in sich zusammen, da die bezügliche Angabe Amelnngs in seinen
"Baltischen Culturstudien» p. 174 ganz und gar aus der Luft gegriffen ist Es
heiset da: Der Legat Wilhelm von Modena habe 1237 jedermann gestattet, dem
Hause der Aussätzigen bewegliche uud unbewegliche Güter zu schenken, wah-
rend es im übrigen nach wie vor in Riga und Keval verboten blieb, Immnhi
lien an die Kirche und die sog. todte Hand zu vergeben. Die Urkunde, auf
die Amelung sich beruft Livl. V. U. 148), nicht aus Riga, sondern ans Reval
datirt, verleiht nicht dem Hause oder den Häusern der Aussätzigen ein Privileg,
sondern publicirt daa Gesetz Kaiser Friedrich» II. über die Aufhebung aller der
Freiheit der Kirche entgegenstehenden Bestimmungen. Der Legat folgert aus
diesem die Ungiltigkeit des bis dahin in Liv und Estland bestandenen Verbots
der Schenkungen und Vermächtnisse an die Kirche, «woher denn auch jeder, der
dem Hause der aussätzigen Brüder von seinen beweglichen oder unbeweglichen
Gütern für seine Seele opfern wolle, freie Macht hierzu habe».
352
Die Lepra and ihre Gefahr für Riga.
hinaus nach dem Ellernbruch. Hier wird der neue Ankömmling
vom Spitalmeister empfangen und eingekleidet: Ein schwarzer oder
grauer Mantel, ohne farbiges Unterfutter, fein ehrbar gemacht,
nicht zu kurz, nicht verbrämt, c sondern schlecht >, wie von alters
Herkommen ist: Rock, Beinkleider, eine Kappe aus wollenem Zeug
oder Linnen. Ausdrücklich bestand das Verbot, furnirte Hüte zu
tragen. Nur zu bestimmten Zeiten durften die Aussätzigen aus-
gehen, dann wurden ihnen zwei weisse wollene Hände auf die
Brust geheftet, oder sie erhielten eine Klapper in die Hand, um so
weithin sieht- und hörbar die Gesunden zu warnen. War eine Be-
gegnung unvermeidlich, oder namentlich wenn ein Herr vom hohen
Rath den Leprosen auszuforschen hatte, so musste sich dieser in
respectvoller Entfernung unter den Wind stellen, damit sein Hauch
den hohen Herrn nicht treffen könne. In strengster Abgeschieden-
heit verbrachten die Aermsten die Jahre, die ihnen noch unter
Schmerzen und Qualen zu leben bestimmt war.
Allein die strengen Massregeln haben ein Erlöschen der
Seuche in dem Masse zur Folge gehabt, dass mit dem 17. Jahr-
hundert die Leprahäuser in Livland bereits geschlossen werden.
Zu Anfang unserer sechziger Jahre stellte Prof. Wachsmuth in
Dorpat das Vorkommen der Lepra in den baltischen Landen über-
haupt in Abrede. Jedoch war seine Ansicht irrig ; mit der grösseren
Verbreitung des Rufes der dorpater Klinik, mit der Verbesserung
der Communicationswege tauchten bald aus Riga, dann aus Tarwast,
von Pemau her und von den Ufern des Peipussees Leprakranke
in der Klinik auf. Fortgesetzt wird von der Klinik aus an einer
statistischen Erhebung über die Zahl der Kranken gearbeitet. Im
Landvolk sehen wir vielfach Indolenz diesen Kranken gegenüber
herrschen, an anderen Orten regt sich, namentlich mit der Zunahme
der Erkrankungsfälle, die Furcht, so haben wir in Tarwast noch
augenblicklich Feldsieche, die in elenden Hütten, fern von mensch-
licher Wohnung, im Walde ihr trostloses Dasein führen müssen. —
Auch unsere Vaterstadt zeigt jetzt wieder Lepraerkrankungen.
Seit zwanzig Jahren etwa nimmt das Krankenhaus alljährlich
Leprose auf, anfangs waren es nur zwei oder drei pro Jahr, jetzt
melden sich schon fünf bis sechs und darüber, die tlieils aus Riga
selbst, theils aus nächster Umgebung stammen. Dabei ist zu be-
rücksichtigen, dass das Krankenhaus nur solche Leprose aufnimmt,
die an irgend einer heilbaren Krankheit erkrankt sind. Leprose
als solche gehören, weil sie bisher unheilbar, nicht ins Krankenhaus.
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Die Lepra und ihre Gefahr für Riga.
853
Weitere Nachforschungen ergaben, dass die Zahl der Kranken
eine erheblich grössere ist, als man bisher angenommen. Drausseu
in Mühlgraben, an der rothen Düna, in den Vorstädten, auch selbst
in der inneren Stadt leben Leprose. Anfangs schienen alle Er-
krankungen isolirt aufgetreten zu sein, dann aber gelang es, An-
steckung nachzuweisen. Eine Wäscherin will durch die Wäsche
einer Leprosen angesteckt worden sein, die sie ständig gewaschen ;
eine andere Kranke hat mit Leprosen in einer Stube gewohnt, eine
dritte ist durch ihre Köchin, eine vierte durch eine Nähterin, ein
kräftiger Mann durch seinen Bruder angesteckt worden, welche alle
mit richtiger Lepra behaftet waren. Wenn die Aufschlüsse, welche
wir von den Kranken über etwaige Ansteckung erhalten, so mangel-
hafte sind, so liegt das an der Thatsache, dass nach stattgefundener
Ansteckung mehrere, oft fünf bis sechs und noch mehr Jahre ver-
gehen, ehe die Krankheit zum Ausbruch kommt. Natürlich ent-
schwinden da die Daten dem Gedächtnis, namentlich bei etwas
indolenter Anlage, und im besten Glauben mag dann der Kranke
die Berührung mit Leprosen in Abrede stellen. — Die bisher fest-
gestellte Zahl der in Riga lebenden Aussätzigen beträgt ca. 25 ;
sicher ist diese Ziffer zu klein, und müssen wir annehmen — nach
den bisherigen Erfahrungen — dass sie stetig zunehmen wird. Die
nächste Umgebung Rigas von Sehlock bis nach Peterscapelle ist
im vorigen Sommer von Dr. Paulson, ehemaligem Assistenten unseres
Krankenhauses, durchforscht worden. Die Untersuchung hat höchst
interessante Ergebnisse geliefert, als deren wichtigste ich die Er-
krankungen auf dem Gut Holmhof, das etwa 1000 Seelen zählt,
hervorhebe.
In Holmhof ist zu Anfang der sechziger Jahre die Lepra un-
bekannt gewesen. Da wanderte ein aussätziger Soldat aus der
Krim ein und trat beim Schulmeister in Arbeit. Einige
Jahre darauf erkrankte der Schulmeister ; noch ahnte niemand,
was es mit den Knoten und Knollen im Gesicht, mit der Ent-
stellung des früher wohl aussehenden Mannes für eine Bewandtnis
habe. Der Schulmeister starb, und neue Erkrankungen tauchten
auf. Das Sallatsch-, Rudsiht- und Stehkelgesinde zeigen die meisten
Erkrankungsfälle, die heute dort lebenden Leprosen — elf an
der Zahl stellten sich Dr. Paulson zur Untersuchung — be-
schuldigen die Ansteckung als Grund ihrer Erkrankung; theils ist
sie von Onkeln, Tanten, Eltern überkommen, welche jedoch aus-
nahmslos aussätzig wurden lange nach der Geburt ihrer«Kinder,
354
Die Lepra und ihre Gefahr für Riga.
so dass Vererbung hier völlig ausgeschlossen ist, theils werden
ausserhalb der Familie Stehende als Ansteckungsquelle bezeichnet.
Mit dieser Ueberzeugung wachst denn auch die Ansteckungsfurcht.
Man soll die Kranken anfangen zu isoliren, jedoch in primitivster,
roher Form. Noch ist keine rationelle Massnahme zur Linderung
des Elends getroffen worden. Die Mehrzahl der Leprosen lebt
unter den alten Verhältnissen weiter. Wenn die Kräfte den Kranken
verlassen, dann bildet ein Winkel des allgemeinen Wohnzimmers
seine Krankenstube, hier bleibt er auf feuchter Strohschütte, auf
eiterdurchtränktem Lager liegen bis zu seinem Ende — eine stete
Ansteckungsquelle für die übrigen Bewohner des Zimmers.
Herrn Pastor Schröder in Holmhof haben wir eine höchst
sorgfältig geführte Zusammenstellung der Leprosen daselbst zu
danken. Im Jahre 1863 ist der erste Todesfall verzeichnet, dann
einer 1876 und in den Jahren 1878 bis 1886 acht.
Die elf augenblicklich in Holmhof lebenden Kranken und
sechs aus Holmhof stammende, jedoch nach Majorenhof, Assern und
Riga verzogene Leprose haben bis auf zwei den Ausbruch ihrer
Krankheit in den letzten Jahren bemerkt.
Wir haben zwei Erkrankungen aus den sechziger Jahren, zehn
aus den siebziger Jahren (einige von diesen sind möglicherweise
bereits Ende der sechziger Jahre erkrankt) und fünfzehn aus den
sechs ersten Jahren des laufenden Jahrzehnts ! — Diese Reihe
enthält eine ernste Mahnung, sie gebietet uns, einzuschreiten und
hemmend einzugreifen in die Entwickelung einer Progression, die
verderbenbringend werden muss auch über die Grenzen Holmhofs
hinaus.
Zum Schluss wollen wir nochmals betonen, dass unter guten,
geregelten hygieinischen Verhältnissen die Ansteckungsgefahr eine
minime ist ; dass sie aber auch unter solchen Verhältnissen vor-
handen, haben wir hier in Riga in einem Fall zur Evidenz nach-
weisen können. Für das in Schmutz und Elend lebende Proletariat
bietet jeder Leprose eine tägliche Gefahr — eine Gefahr, welche
für das Gemeinwesen oder private Wohlthätigkeit die Aufgabe
involvirt, durch Gründung eines Lepraheims den Gesunden sicher
zu stellen und dem unglücklichen Kranken eine Zufluchtsstätte zu
schaffen, wo er Pflege seiner Leiden, inmitten gleicher Leidens-
genossen Ruhe vor den entsetzten Blicken seiner Mitmenschen hat,
die ihm voll Scheu und Entsetzen ausweichen, wo sie ihm begegnen.
Utssen Sie mich schliessen mit dem Wunsch, dass Riga bald
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Die Lepra und ihre Gefahr für Riga.
355
ein derartiges Heim erstehen sehen möge, jetzt, wo es mit geringen
Kosten herzustellen, ehe die Krankheit um sich greifend von einer
späteren Generation ganz andere Opfer heischen wird, als sie es
jetzt von uus thut.
Benutzte Literatur:
W. v. Gutziit, Rigas älteste Wohlthätigkeitsanstalten. Mitth. aus d. Geschichte
Liv-, Est- und Kurlands, Bd. 11.
F. Ainelung, Baltische Culturstudien.
Daniellsen u. Boeck, Tratte de la Spedalskhed.
Daniellsen, TraiU de la forme anaesthetique de la Spedalskhed.
Leloir, Tratte pratique et theorique de la Lipre.
Virchow, V. Archiv, Bd. XVIII, XX, XXII &c.
L. Brucq, Annales de Dermatologie 1885.
F. Paulson, Ein Beitrag zur Kenntnis der Lepra. Pissert.
Dr. A. Bergmann.
59
Religionstatistisches aus Livland für das Jahr 1886.
jm Aprilhefte des vorigen Jahres ist bereits auf die Bedeutung
hingewiesen worden, welche statistische Nachrichten über die
Häufigkeit des Confessionswechsels und der Mischehen für die Ver-
hältnisse unseres Heimatlandes besitzen. Es wurde an jener Stelle
auch betont, dass die relative Häufigkeit der Mischehen zwischen
Lutherischen und Griechisch-Orthodoxen in den Ostseeprovinzen
namentlich für das verflossene Jahr von besonderer Bedeutung sein
werde, weil man aus der Zunahme resp. Abnahme solcher Ehen
im Jahre 1880 einen Schluss werde ziehen können auf die Stellung-
nahme der lutherischen Bevölkerung zu der gegen Ende des Jahres
1884 erfolgten Wiedereinführung des sog. Reversalz wanges.
Für Estland und Kurland stehen uns die betreffenden Angaben
z. Z. nicht zur Verfügung, daher wir uns auf Livland beschränken
müssen.
Wir erinnern uns, dass in Livland nach griechisch-orthodoxem
Ritus getraut wurden :
Paare überhaupt
1880 1643
1881 1591
1882 1721
1883 1584
1884 1678
1885 1550
Dagegen wurden im
orthodoxen» Ritus getraut
darunter mit
Lutherischen
788
797
946
744
813
766
vergangenen
1566 Paare,
pCt.
47,,
50,o
54,,
48,,
48,«
49,..
Jahre nach griechisch-
worunter sich nur 601
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Religionstatistisches aus Livland.
357
gemischte Paare oder 38,37 pCt. befanden. Die absolute Zahl der
griechisch-orthodoxen Eheschliessungen hat also gegen das Vorjahr
um 16 getraute Paare zugenommen, die Zahl der Mischehen zwischen
Griechischgläubigen und Lutherischen hat sich dagegen um 165
Paare vermindert, wodurch eine Verhältnisziffer entsteht, so niedrig,
wie sie sich in den verflossenen sieben Jahren nie gestellt hat.
Wir überlassen es unseren Lesern, über die Bedeutung dieser
Ziffern nachzusinnen.
Dass ein Rückgang in der Häufigkeit lutherisch-griechischer
Trauungen in allen einzelnen Theilen Livlands stattgefunden hat,
lässt sich aus der nachstehenden Zusammenstellung ersehen :
griech. 1
""ranungen
darunter Mischehen
auf 100 Trauungen
überhaupt
mit Lutherischen
kamen Mischehen
1885
1886
1885
188G
1885
1886
in Riga . . .
209
200
96
70
45,»
35,o.
« Dorpat . . .
38
34
25
18
65„
52„
c Pernau . .
13
13
6
2
46„
15,.
t d. übr. Städten
15
22
8
5
53,,
22,,
im Kr. Riga . .
129
133
75
75
58,,
56,.
t c Wolmar .
81
87
55
43
67,.
49,t
« c Wenden .
220
197
124
84
56,,
42,.
< « Walk . .
45
39
32
22
71„
56,.
« « Dorpat
160
164
79
62
49,,
37,.
t t Werro. .
95
117
40
42
42,,
35„
c € Pernau .
231
240
74
62
32„
25,.
« « Fellin . .
123
118
70
43
56„
36,.
c « Oesel . .
191
202
82
73
42„
36,0
in d. Städten zus.
275
269
135
95
49,.
35,,
« c Kreisen zus.
1275
1297
631
506
49,.
39,,,.
Wir sehen also eine Reaction auf der ganzen Linie. Dieselbe
ist im lettischen Theile Livlands fast die gleiche wie im estnischen
Theile. Es sank nämlich der Procentantheil der Mischehen
in den lettischen Kreisen von 59,,, pCt. auf 49,,, pCt.
c c estnischen f « 43,,, < < 33,,, «
Auf die Frage, welche Combination bei den in Rede stehenden
Mischehen die häufigere sei, Mischehen zwischen givorthod. Männern
und lutherischen Frauen oder zwischen gr.-orthod. Frauen und lutheri-
schen Männern, antwortete die Statistik für das J. 1885, dass unter
100 gemischten Paaren bei 66,,, der männliche Theil dem griechisch-
orthodoxen, der weibliche Theil dem lutherischen Bekenntnisse an-
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358
Religionstatistisches aas Livland.
gehörten, während bei 33,« Paaren das entgegengesetzte Verhältnis
anzutreffen sei. Im Jahre 1886 hat anch in dieser Beziehung eine
Verschiebung der betreffenden Verhältniszahlen stattgefunden. Der
Fall nämlich, dass ein lutherischer Mann eine Griechisch-Orthodoxe
zum Weibe wählte, trat unter je 100 Mischehen nur 16,», mal
ein, während in je 83,0 Fällen lutherische Frauen von griechisch-
orthodoxen Männern zur Ehe begehrt wurden.
Bs folgt also hieraus, dass neuerdings die lutherischen Männer
gegen früher in der Wahl griechisch-orthodoxer Frauen bedächtiger
geworden sind, während das weibliche Geschlecht lutherischen Be-
kenntnisses noch weniger als früher Bedenken trägt, mit Männern
griechisch-orthodoxer Confession die Ehe einzugehen.
Schliesslich wollen wir noch hervorheben, dass im Jahre 1885
in nur 8 griechisch-orthodoxen Gemeinden gar keine Mischehen
mit Lutherischen stattgefunden haben, während diese Erscheinung
im Jahre 1886 uns in 15 Gemeinden entgegentritt.
Was den Confessionswechsel in Livland betrifft, so traten im
Jahre 1886 zur griechisch-orthodoxen Kirche über ■ 656 Personen,
d. h. 194 Personen weniger als im Jahre 1885. Alle diese Con-
vertiten gehörten mit nur wenigen Ausnahmen dem lutherischen
Glaubensbekenntnisse an. Von der Gesammtzahl der Convertiten
entfielen auf
1885
1886
4- oder -
Riga
51
63
1
12
12
23
i
T*
11
Pernan
11
8
3
die übrigen Städte . . .
36
24
12
alle Städte zusammen .
110
118
-+-
8
den Rigaschen Kreis . .
42
40
2
< Wolmarschen Kreis .
11
7
4
t Wendenschen <
42
55
+
13
« Walkschen «
12
7
5
die lettischen Kr. zus.
107
109
+
2
den Dorpater Kreis . .
346
79
267
t Werroschen Kreis
27
52
+
25
c Pernauschen «
97
118
+
21
« Fellinschen <
44
100
+
56
c Oeseischen <
119
80
39
die estnischen Kr. zus.
633
429
204
auf d. flache Land überh.
~T40
538
202
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Religionstatistisches aus Livland.
359
Nach dem Civilstande und Geschlecht vertheilen sich die
Uebergetretenen des Jahres 1886, wie folgt1:
männl. weibl.
Die Altersverhältnisse der Convertiten des verflossenen Jahres
sind denen des Jahres 1885 sehr ähnlich. Eine hervorragende
Stelle bei der Vertheilung nach Altersklassen nehmen diejenigen
Convertiten ein, welche das 15. Lebensjahr noch nicht erreicht
hatten ; sie betrug (mit Ausschluss der Stadt Riga) 132 oder
22.15 pCt. der Gesammtzahl, darunter vier Kinder unter einem Jahr.
Die Gesammtzahl der in Livland zur griechisch-orthodoxen
Kirche im Jahre 1886 Uebergetretenen betrug, beiläufig bemerkt,
nicht mehr denn 0,ne pCt. der gesammten lutherischen Bevölkerung
unserer Provinz. Uebrigens ist es leicht möglich, das3 in der an-
gegebenen Anzahl Convertiten auch solche Individuen mit enthalten
sind, welche ehedem schon in den Büchern der griechisch-orthodoxen
Kirche als zu dieser gehörend verzeichnet standen.
Im Jahre 1886 wurden innerhalb der griechisch-orthodoxen
Gemeinden Livlands geboren 5134 Kinder, d. i. 609 Kinder mehr
als im Jahre 1885. Gestorben sind innerhalb dieser Gemeinden
3380 Individuen. Es hat somit die griechisch-orthodoxe Kirche
in Livland durch Ueberwiegen der Geburten über die Sterbefälle
einen Zuwachs von 1754 Individuen erhalten.
Ledig 220
218
81
4
2
Verheiratet 57
Verwittwet 7
ohne Angabe 4
zusammen 288
305.
• Hier fehlen die Angaben für die Stadt Riga.
Baltische MunaUtclirin. Itd. XXXIV. Urft 4.
24
Die Akademie der Künste zu St. Petersburg.
Historischer TJeberblick der Entwicklung der Kaiserlich russischen Akademie der
Künste iu Petersburg. Ein Beitrag zur Geschichte der Kunst in
Russland von Julius Hasse lblatt. Petersburg, Verlag von
F. A. Mareks, und Leipzig, Franz Wagner, 1886'.
ie Aufgabe, durch eine eingehende Charakteristik russischer
Kunst und Kunstgeschichte das grosse Ostreich auch in
ästhetischer Beziehung dem Verständnis des Westens näher zu
rücken, dürfte heute zu den schwierigsten zählen und zu ihrer Lö-
sung Eigenschaften voraussetzen, wie alter Culturboden sie hier
und da zu zeitigen pflegt; einstweilen ist es gut, dass die Materia-
lien für eine künftige allseitige Würdigung russischer Kunst sorg-
fältig gesammelt und gesichtet werden und entsprechend dem Gange,
welchen russische Kunstgestaltung geuommen, namentlich die äussere
Kunstgeschichte, die Geschichte der Kunstinstitute, wie sie sich seit
Peter dem Grossen auf Initiative und durch Förderung der Regie-
rung ausgestaltet, von befugten Kräften rüstig in Angriff genommen
werde. Julius Hasselblatt in St. Petersburg hat sich die Mühe
nicht verdriessen lassen, das weit zerstreute und zum Theil schwer
zugängliche Material für die Geschichte des centralen Instituts
russischer Kunstentwickelung, der Petersburger Kunstakademie,
zu sammeln, in leicht übersichtlicher und geschmackvoller Form
für weitere Leserkreise zu verarbeiten und so ein Buch zu schaffen,
• Obwol daa genannte Bnch in diesen Blättern eine kurze kritische Be-
sprechung bereits erfahren, geben wir dem nachstehenden Aufsatz Raum, weil
er die eingehendere Keuntuisnahme des interessanten Inhalt« zu vermitteln ge-
eignet ist. D. Red.
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Die Akademie der Künste zu St. Petersburg.
3C,1
das auch für unsere baltischen Provinzen — und wie mancher
Künstler aus baltischen Landen verdankt ganz oder theilweise seine
Ausbildung der Petersburger Akademie — kein geringes Interesse
beanspruchen dürfte. Wir gehen hier zuvörderst auf den Inhalt
ein, uns für den Schluss einige kritische Bemerkungen und Aus-
stellungen aufsparend.
Nach kurzer Darstellung der byzantinischen und westeuropäi-
schen K im stein Iltisse », wie letztere namentlich seit Mitte des 17.
Jahrhunderts durch Vermittelung Polens sich in Russland geltend
machten, geht Hasselblatt auf die Schilderung von Peters des
Grossen Stellungnahme zur Kunst über. Der grosse Reformator
des äusseren Lebens seines Volkes kounte die Bedeutung der Kunst
im Völkerleben unmöglich ignoriren, und Russland, dem letzten
Ankömmling an der gedeckten Tafel des Culturlebens, stand es in
dieser seiner Eigenschaft wol an, ein hochzeitlich Gewand umzu-
thun, doch lag es in der Natur der Sache und in der Denkweise
des grossen Zaren, dass die Kunst des petrinischen Russland einen
vorzugsweise technischen Charakter tragen musste, und wir finden
sie deshalb eng verschwistert mit all den Zweigen angewandter
Wissenschaft, die nicht an letzter Stelle den Hebel in Bewegung
setzten, welcher das Zarenreich auf das Culturniveau der übrigen
europäischen Mächte emporheben sollte. Paläste und Kirchen, Colle-
gien und Festungswerke, Museen und Akademien wuchsen am
blauen Newastrom empor, Lust- und Jagdschlösser schlössen sich
an das Weichbild der neuerstandenen Residenz, an erster Stelle dem
Architekten, an weiterer dem Maler und Sculpteur ein reiches Be-
thätigungsrevier eröffnend. Selbstverständlich waren es Ausländer,
deren Namen die plötzlich und mit einem Schlage erfolgte Ein-
bürgerung westeuropäischer Kunst in Russland bezeichnen: die
Architekten Leblond, Michetti, Schwerdtfeger, Förster, Brandt,
Hamann, Münnich, der Medailleur und Bildhauer Graf Rastrelli
der Aeltere, die Maler Tannhauser, Oaraval, Gsell und dessen Frau
Marie Dorothea, Tochter der bekannten Frankfurterin Maria Sibylla
Merian, jene Maria Dorothea Gsell, welche zuerst in der von
Peter I. bei der petei-sburger Typographie eingerichteten Zeichen-
schule, später in der Figurenklasse der Akademie der Wissen-
schaften wirkte. Die Zweiseitigkeit, die jede durch einen mächti-
' Ueber die ans erforderlich scheinende Einschränkung des byzantinischen
Einflntj«e» vgl. B. M., Bd. 33, p. 616. P. Red.
2V
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302
Die Akademie der Künste zu St. Petersburg.
gen, individuellen Willen auferlegte Cultur für deren Empfänger
birgt, machte sich auch an deu Werkzeugen geltend, welcher Peter
sich bei Einbürgerung westeuropäischer Kunst in Russland bediente;
die Kunst läuft Gefahr, unter ihren Händen zur Technik zusammen-
zuschrumpfen, die mannigfachen Aufgaben, die das rasch geweckte
('ulturbedürfnis auf dem der europäischen Civilisation jüngst ge-
wonnenen Boden an den Jünger der Kunst stellen mnsste, entfalten
in ihm eine überschwängliche Vielseitigkeit auf Kosten des Gehalts
der einzelnen Leistung, und was an Breite gewonnen, geht oft an Tiefe
verloren : Caraval, ursprünglich Schlachtenmaler, legt sich auf Blumen-
und Plafondmalerei, Rastrelli der Aeltere, ursprünglich Architekt und
Bildhauer, wird zugleich Lehrer der Mechauik. und der Porträtmaler
Tannhauser entwickelt gar in seiner neuen Heimat ein neues und un-
gemein lucratives Talent für Reparatur von aller Art Uhren. Hier
und da tauchen bereits einheimische russische Talente auf, und Peter
nimmt ihrer sorgsam wahr: die Brüder Iwan und Roman Nikitin,
sowie Matwejew werden zur Erlernung der Malerei, Jeropkin und
Issakow zum Studium der Architektur, Korowin um die Graveur-
kunst zu erlernen, ins Ausland geschickt. Das Schicksal dieser
Pensionäre Peters ist mit wenigen Ausnahmen dunkel, nicht durch
ihre Schuld, sondern durch den Wechsel, welchem die Geschicke
Russlands nach dem Tode des grossen Zaren unterlagen. Schon
zu Peters des Grossen Zeit macht sich der Gedanke geltend, dem
Bedürfnisse nach Künstlern durch Errichtung einer eigenen Kunst-
akademie Rechuung zu tragen ; die Bemühungen Awramows, des
Directors der ersten Typographie von St. Petersburg, zuvörderst
Peter und hernach Katharina I., letztere durch ein interessantes
und noch vorhandenes Memoire, die Gründung einer vollständigen
Akademie der Malkunst betreffend, zur Schaffung einer einheimischen
Pflegstätte der Kunst zu veranlassen, blieben einstweilen erfolglos.
Doch fehlte der uuter Katharina I. im December 1725 ins Leben
gerufenen Akademie der Wissenschaften eine besondere Abtheilung
für die Künste nicht, in welcher insbesondere die Pflege der Graveur-
kunst im Dienste der Wissenschaft zu Erläuterung und Belebung
der von den ersten Akademikern herrührenden Editionen ihre
Stätte fand.
Unter den nächsten Nachfolgern Peters des Grossen tritt der
allgemeine Charakter der Kunst in der ersten Hälfte des 18. Jahr-
hunderts, ihre Aufgabe, den Grossen dieser Welt Altäre zu er*
richten,, auch in Russland immer deutlicher hervor. Was Peter als
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Die Akademie der Künste zu St. Petersburg.
363
unerlässlich für die äussere Repräsentation des jüngsten Gliedes
europäischer Staatengemeinschaft erachtet, Kunst und Kunstgewerbe,
sie dienen von nun ab dem prunkenden Zeitvertreib von Hof und
Hofadel. Die Akademie entwirft in ihrer bereits erwähnten Kunst-
abtheilung die Pläne für Feuerwerk und Illumination, für das
Arrangement von Festen und Lustbarkeiten aller Art; es war die
Zeit, wo der Akademiker und Dichter Tredjakowski auf Wolynskis
Geheiss seine Ode zu Ehren der Feier des bekannten Eispalastes
dichtete, die Zeit, wo in ganz Europa, von Versailles bis Dresden
und St. Petersburg hin, die Welt ein einziger grosser Lustgarten
geworden, ein ä la mode zugestutztes Tempe, in dem die modernen
Olympier in sorgloser Unbefangenheit dem Muster der antiken
nachlebten. Was man auch über die französische Aufklärungs-
literatnr des 18. Jahrhunderts, über die Voltaire, Rousseau, Diderot
sagen mag, uuleugbar bleibt, dass sie in das bisher ausschliesslich
dem Genuss gewidmete Leben der höheren Klassen ein geistiges
Ferment hineingetragen, welches, wenn auch vielfach in verlogenen
Humanitätscultus ausartend, doch in mehr als einer Richtung ver-
edelnd gewirkt hat. Jener Graf Iwan Iwanowitsch Schuwalow,
welcher unter der Kaiserin Elisabeth I., als am Hofe von St.
Petei*sburg der deutsch-holländische Einfluss dem französisch-italie-
nischen Platz gemacht, die Akademie der Künste gründete, war
einer der ersten Grandseigneurs Russlands, die den Errungenschaften
der französischen Aufklärungsphilosophie ernstlich nachgegangen,
und besass unstreitig tieferes Verständnis für die Bedeutung west-
europäischen Kunstlebens und die hohe Mission, die diesem Kunst-
leben auch in seinem Vaterlande zustehe. Dem Grafen 1. 1. Schuwalow
gelang es 1757, die Regierung zur Annahme seines Plaues der
Gründung einer Kunstakademie zu bestimmen, welche letztere auch
in der That 1758 auf Wassili-Ostrow eröffnet und von der Krone
einstweilen mit 26000 Rbl. jährlich dotirt wurde. Was in alten
Culturstaateu Frucht eines reichen Kunstlebens ist, die Gründung
einer Akademie der freien Künste, das sollte in Russland mit seinen
von oben her geschaffenen neuen Culturbedingungen Ausgang für
die Gestaltung einer einheimischen , nationalen Kunst werden.
Wunderlich und den Maximen Peters I. entsprechend sind die An-
fänge der petersburger Akademie : wer irgend zur Kunst befähigt
scheint, wird von der Universität Moskau, die Schuwalow im Jahre
1755 ins Leben gerufen und deren Curator er war, als Schüler in
die Kunstakademie von St. Petersburg versetzt, die etwa noch leer
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364
Die Akademie der Künste zu St. Petersburg.
gebliebenen Bänke der Lehrsale des Instituts werden mit Soldaten-
söhnen der Residenz gefüllt, aber ehrend für Schuwalows Bestreben
ist doch die bewusste Werthschätzung des geistigen Gutes um seiner
selbst willen, welche aus dem vom Gründer der Akademie her-
rührenden Reglement derselben spricht. Ihre 8chüler sollen ins-
gesammt zur Zahl der Freien gehören; kein Leibeigener, es sei
denn, dass sein Herr auf das Eigenthumsrecht an ihm verzichtet,
Aufnahme finden, Bestimmungen, die bedeutungsvoll waren in einer
Zeit, wo der begüterte russische Landedelmann sich aus seinen
Leibeigenen eine ständige Schauspielertruppe oder Musikcapelle zu
eigener und fremder Belustigung heranbildete, oder gar die intelli-
genteren leibeigenen Dienstboten in allerlei Wissen unterweisen
liess, um sie später zu Lehrern und Erziehern der eigenen Kinder
zu machen. Talentvolle Schüler — so bestimmte ferner das Regle-
ment der Akademie — werden behufs weiterer Ausbildung von der
Krone ins. Ausland geschickt; nach ihrer Rückkehr besitzen sie
ein Anrecht, bei der Akademie Anstellung zu finden, dürfen jedoch,
wofern sie dieses vorziehen sollten, nach eigener Wahl arbeiten
oder Dienste, selbst solche in auswärtigen Staaten, nehmen. Die
bei der Akademie thätigen Personen sollen zu Arbeiten für den
Allerhöchsten Hof nur mit eigener Einwilligung und Erlaubnis der
Akademie verwandt werden. Auch die Rechte, welche ein bestan-
denes Schlussexamen dem scheidenden Schüler gab, waren beträcht-
lich ; eine Massnahme, die zu jener Zeit um so mehr geboten er-
schien, als die unteren und mittleren Klassen des damaligen Russ-
land mit unverhohlener Verachtung auf den Künstlerberuf herab-
zusehen pflegten. Schuwalows Schöpfung trug übrigens, wenn man
von einigen durch specitisch nationale Bedingungen bestimmten
Momenten absieht, ein durchaus französisches Gepräge; als Muster
hatte ihr die pariser Kunstakademie gedient und Franzosen, die
Lorrain, Gillet u. s. w., waren ihre ersten Lehrer. Den Bedürf-
nissen der Zeit gemäss wurde ihr ein Gymnasium beigegeben, in
dem moderne Sprachen, Mathematik, Geschichte und Geographie,
sammt russischer Orthographie tractirt werden sollten; für Ge-
mäldegallerie und Bibliothek sorgte die Munificenz des Grafen, der
ausser einem Theil seines Bücherschatzes nicht weniger als hundert
Gemälde der eigenen Bildersammlung seiner Schöpfung spendete
und dafür die Genugtuung hatte, dass die Kaiserin Katharina II.
gleich nach ihrer Thronbesteigung das neu geschaffene Institut mit
ihrem Besuche beehrte (28. Juni 17(32). — Russland besass jetzt
Die Akademie der Künste zu St. Petersburg. 365
seine eigene Kunstakademie ; nach fremdem Vorbilde geschaffen und
in der ersten Zeit ihres Bestehens ausschliesslich durch fremde
Kräfte belebt und geleitet, hat sie trotz Indifferenz der Mehrzahl
der höheren und ausgesprochener Abneigung der ganzen Mittel-
klasse — soweit im damaligen Russland von einer solchen die Rede
sein kann — es vermocht, die Keime des Kunstinteresses allmäh-
lich von der Hauptstadt aus in die entfernteren und künstlerisch
vollkommen rohen Theile des Reichsinnern zu tragen.
Es ist bekannt, dass die politischen Alchymisten des 18.
Jahrhunderts, dass all die glaubensseligen Welt- und Menschheits-
beglücker der tonangebenden pariser Salons, von Voltaire bis auf
die Encyklopädisten , in dem Russland der Kaiserin Katharina II.
das gelobte Land für ihre socialpolitischen Experimente erblickten.
Hier schien das wildgewachsene Unkraut feudaler Ordnungen, das
planmässig angelegte Hecken- und Mauerwerk hierarchischer Orga-
nisation ihren Plänen eines eben so rationellen, wie imposanten Neu-
baues der Gesellschaft am wenigsten im Wege zu stehen, hier hatte
vor nicht allzu langer Zeit ein einzelner Mann es vermocht, einem
ganzen grossen Volke anscheinend seine Vergangenheit abzunehmen
und es wider seinen Willen fest eingefügt in eine ihm fremde und
von Grund aus antipathische Welt. Jetzt stand au der Spitze jenes
wunderbaren Reiches, das sich von der Ostsee bis zum Behrings-
meer erstreckte, eine Frau, die, zugänglich, wie es schien, den
neuen Weltbeglückungstheoremen, dem Glauben der französischen Auf-
klärer nach 1 nur ein Wort zu sprechen brauchte, um dem Menschen-
geschlechte in ihrem ungeheueren Reiche ein neues Paradies zu
schenken, das dauerhafter wäre als das alte.
Es war der Generallieutenant ßetzkoi, gewöhnlich Betzki
genannt, ein natürlicher Sohn des Fürsten Trubetzkoi, dem die
Kaiserin Katharina II. die Aufgabe zugewiesen, die Maximen der
ueuen französischen Pädagogik in ihrer ganzen Reinheit auf russi-
schem Boden zur Anwendung zu bringen. Der Mensch ist ein
Product seiner Erziehung ; um ein vernünftiges und mithin glück-
liches Geschlecht zu erzielen, hat man blos nöthig eine gegebene
Generation von möglichst zartem Alter an von allen schädigenden
Einflüssen abzusperren, ihr, getrennt von der übrigen Welt, eine
Erziehuug im Sinne der ewigen und unwandelbaren Principien der
Vernunft zu geben und die lächerliche Fabel von der sogenannten
' Und nicht uur dieser, sondern auch der heimischen Schwärmer. D. Red.
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366 Die Akademie der Künste zu St. Petersburg.
Erbsünde wäre aus der Welt geschafft, das Reich des Lichtes und
der Tugend für alle Zukunft dauernd gegründet. Das jüngst er-
schienene Buch des Ministers Grafen Tolstoi f Geschichte des
akademischen Gymnasiums» giebt eine eingehende Schilderung der
Betzkischen Erziehungsmaximen und der durch sie erzielten Re-
sultate in letztgenannter Anstalt, und Betzki war nicht allein
Präsident der Akademie der Wissenschaften, der das Gymnasium
beigegeben war, sondern auch Nachfolger Schuwalows in der
Präsidentschaft der Akademie der Künste und hatte sein System
auch in der dieser letzteren zugeordneten Schule in Anwendung
gebracht. Als Vorbereitungsanstalt für die eigentliche Kunst-
akademie ward ein Lehr- und Erziehungsinstitut, ein Iuternat
klösterlicher Art eingerichtet, in Welches Kinder von dem fünften
bis zum sechsten Lebensjahre Aufnahme fanden ; in drei Alters-
gruppen getheilt, rückten die Zöglinge in je drei Jahre dauernden
Cursen im Laufe von 15 Jahren bis zu ihrem Eintritt in die
Akademie herau, deren Absolvirung wiederum zwei Curse von je
drei Jahren in Anspruch nahm. Die Kinder, aus denen sich die
Zöglinge der Erziehungsanstalt rekrutirten, wurdeu dem moskauer
Findelhause entnommen oder von Leuten aus dem niedrigen Volke
hergegeben, da, wie schon erwähnt, die mittleren Klassen auf
Kunst und Künstlerberuf mit Mistrauen und Verachtung herab-
sahen. Französische Lehrer, französische Gouverneure und Gouver-
nanteu, die der russischen Sprache gar nicht oder doch sehr mangel-
haft kundig, schalteten hier, mangelhafter Oontrole unterworfen,
und es wiederholten sich in dem der Akademie der Künste beige-
gebenen Vorbereitungsinstitut all die zahlreichen durch Rohheit
und Pflichtvergessenheit des Lehr- und Erziehungspersonals hervor-
gerufenen Misstände, deren Grat Tolstoi bei seiner Schilderung
der Anwendung des Betzkischen Systems auf das Akademische
Gymnasium gedenkt. Ein glücklicher Gedanke war es, dass mau
dem Umstände, dass einige Eleven der Erziehungsanstalt wol weder
Lust noch Talent für die bildenden Künste haben könnten, durch
Gründung von Werkstätten aller Art an der eigentlichen Akademie
Rechnung getragen ; es konnten dergestalt die für die Kunst un-
tauglichen Zöglinge nach ihrem Austritt aus dem Erziehungs-
institute sich der Uhrmacherei, Drechslerei, Kunsttischlerei, der
Instrumentenmacherei, Schlosserei, Giesserei &c. widmen. Was
die Schüler der eigentlichen Kunstakademie betrifft, so befolgte
man auch unter dem Regime Betzkis die von Schuwalow inaugu-
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Die Akademie der Künste zu St. Petersburg. 367
rirte Massnahme, sie nach bestandenem Examen behufs weiterer
Ausbildung ins Ausland zu schicken, bis die französische Revolu-
tion und die ihr auf dem Fusse folgenden welterschütternden Er-
eignisse diesem Verfahren eine Grenze setzten. Innerhalb der
Jahre 17G0 — 88 sind im ganzen 60 Schüler, deren Arbeiten heute
zum Theil die Gallerie der Akademie enthält, auf Kosten der
Regierung ins Ausland geschickt worden. Aus dem von der
Kaiserin Katharina II. gelegentlich der Grundsteinlegung des neuen
Gebäudes der Akademie — es ist das noch heute existirende —
dieser letzteren ertheilten Privilegium (Nr. 1764) heben wir die
erneuerte Einschärfung der schon aus dem Reglement Schuwalows
bekannten Bestimmung über deu Ausschluss der Leibeigenen vom
Künstlerberufe, sowie das strenge Verbot hervor, Künstler der
Akademie oder deren Kinder zu Leibeigenen zu machen ; die frei-
willige Verschreibung eines Künstlers zu Erb und Eigen eines
Anderen solle rechtsungiltig sein, die Ehe einer Leibeigenen mit einem
Künstler der ersteren und allen aus dieser Verbindung entsprosseneu
Kindern die Freiheit geben. In Betreff der Pensionäre hebt das
Privileg ausdrücklich hervor, dass deren auf Kosten der Krone
erfolgte Entsendung ins Ausland keine Gegenleistung, welcher Art
sie auch sei, im Gefolge haben solle, sie solle nicht den Charakter
der Verpflichtung, sondern ausschliesslich den der Anerkennung
für das bereits Geleistete tragen. Man sieht, die grosse Kaiserin
verstand es, Kunst und Künstlern das Ihre zu geben.
Indessen machte Betzki mit seinen Erziehungsmaximen nicht
nur in der Vorschule der Akademie der Künste, sondern auch im
Akademischen Gymnasium bedenklich Fiasko, in den letzten Jahren
der Kaiserin Katharina II. begann überhaupt eine für die Akademie
der Künste schlimme Zeit, Unredlichkeiten der Autoritäten und
Zügellosigkeiten der Schüler führten zu wiederholten Amtsentsetzun-
gen und Ausschliessungen, und doch kann man sagen, dass der
Hauptzweck des Instituts, das zu seinen Ehrenmitgliedern einen
Joseph II. und Gustav III. von Schweden zählte, auch für jene
Zeit nicht unerreicht blieb, indem die künstlerische Anregung, die
von ihm ausging, sich nicht allein unter dem hohen russischen
Adel, sondern auch in immer weiteren Kreisen geltend machte.
Berühren wir hier in aller Kürze die auf einander folgenden
Präsidentschaften, des Nachfolgers Betzkis, Grafen Mussin Puschkin,
der, ein unerhörtes Exempel für die damalige Gesellschaft, aus
eigenen Mitteln eine Prämie von 200 Rubeln für das beste Kunst-
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368 Die Akademie der Künste zu St. Petersburg.
werk aussetzte, des französischen Emigranten Grafen Choiseul
Gouffier und des Grafen Stroganow, welche in das Ende der
Regierung Katharinas II. und in die der Kaiser Paul I. uud
Alexander I. fallen. — Der Einfluss J. J. Rousseaus hatte am
Schluss des Jahrhunderts auch in Russland das Interesse für Land-
schaft und Landschaftsmalerei geweckt. Kaiser Paul theilte dieses
Interesse in hohem Grade und gab dadurch Veranlassung zur Grün-
dung einer besonderen landschaftlichen Kupferstecherei bei der
Akademie der Künste. In Betreff des Betzkischen Systems einer
Brütofenerzieliung stellte sich bei Regierung und Gesellschaft all-
mählich eine skeptische Haltung ein ; der Gedanke, das Kind von
der Fülle der Bedingungen, die das Menschenloos bestimmen, herme-
tisch abzuscliliessen, eine phantasieertödtende Erziehjing für die
gerade dem künftigen Künstlerberuf vorzüglich zweckentsprechende
zu erachten, konnte denn doch vor Erfahrung und psychologischer
Einsicht auf die Dauer nicht stichhaltig bleiben, und dennoch ist
der Uebergang zu neuen Erziehungsmaximen nur ein sehr all-
mählicher. — Der Vicepräsident Bashenow — im Jahre 1799 war
der Posten eines Vicepräsidenten der Akademie geschaffen worden
— legt Kaiser Paul I. ein Memoire, betreffend die Widersinnigkeit
des Betzkischen Systems vor, aber erst die Erziehungsstatuten des
Jahres 1802 brachten unter Alexanderl. eine Milderung desselben,
indem der Kaiser verfügte, dass künftighin Kinder nicht vor dem
achten oder neunten Jahre iu die Vorschule der Kunstakademie
aufgenommen werden sollten. Die lange unterlassene Entsendung
fähiger Schüler ins Ausland wird vom Präsidenten Grafen Stroganow
bei zeitweiliger Aufheiterung des politischen Horizontes wieder
aufgenommen, muss aber bald wieder eingestellt werden, da der
Krieg von 1812 sie schon in Ansehung der durch ihn ganz in An-
spruch genommenen Finanzen untersagt. Wichtig für jene Zeit
ist vorzüglich die Thatsache, dass die bis dahin geltende ausschliess-
liche Nachahmung fremder, insbesondere französischer und italieni-
scher Kunstschöpfuugen bei der damaligen Isolirtheit Russlands
vom Westen wenigstens vorübergehend dem Bestreben Platz macht,
das Einheimisch-Nationale künstlerisch zu würdigen und zu ver-
werthen, und zugleich der Wirkungskreis der Akademie sich er-
weitert, indem die Regierung gelegentlich alles dessen, was mit Bei-
hilfe der Kunst in den Provinzen zu schaffen war, sich an die petens-
burger Akademie zu wenden beginnt. Indes, die Zeit der grossen
Napoleonischen Kriege konnte dem Gedeihen der Kunst in Russ-
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Die Akademie der Künste zu St. Petej-sburg. 369
land und also auch dem der Akademie nicht förderlich sein, Un-
ordnungen in der Administration, Anhäufung von Schulden, durch
die Zeitverhältniase gebotene Beschränkung des Etats lassen die
Vicepräsidentschaft Tschekalewskis 1811 — 1817 als eine der schlimm-
sten Zeiten erscheinen, welche die inzwischen dem neugeschaffenen
Ministerium der Volksauf klärung unterstellte Akademie der Künste
durchgemacht, und erst die Präsidentschaft Olenins 1817—1843,
die allerdings von einem etwas weit gehenden Bureaukratismus
nicht freizusprechen, brachte ihr wenigstens die conditio sine qua
nun ihres Bestehens, die Ordnung in Administration und Finanzen
und hat daneben noch das grosse Verdienst, die schon früher wieder-
holt durch Gesetze eingeschärfte Bestimmung, welche den Leib-
eigenen den Eintritt in die Akademie versagte, zu end gütiger
Geltung gebracht zu haben. Immer -wieder war früher durch die
Schwäche der Directoren diese Bestimmung umgangen worden,
nicht zu Gunsten der Akademie und noch weniger zu dem ihrer
leibeigenen Schüler, von denen viele, die bei Vollendung ihrer
Studien seitens ihres Leibherrn die Freiheit nicht erlangen konnten,
dem Trünke verfielen oder sich das Leben nahmen.
Die Kunstliebe des Kaisers Nikolaus ist bekannt ; der Besuch,
mit dem er 1829 die Akademie der Künste beehrte, hatte deren
Ueberführung aus dem Ressort des Ministeriums der Volksaufklä-
rung in das des Hofministeriums und ihre Unterstellung unter das
unmittelbare Protectorat des Kaisers zur Folge, und die Consequenzen
dieses für die Akademie so ungemein wichtigen Actes Hessen nicht
lange auf sich warten. Sie waren theils finanzieller, theils organi-
satorischer Art. Die neuen Statuten von 1830 hoben das Internat
für Erziehung jüngerer Zöglinge, das Gesetz vom 4. Mai 1840 die
Gymnasialklassen, d. h. den bei der Akademie ertheilten Schul-
unterricht auf, und die Lehrtätigkeit der Akademie hat sich seit-
dem auf den praktischen Unterricht in den schönen Künsten uud
einige kunsttheoretische Vorlesungen, wie die über Anatomie und
Kunstgeschichte beschränkt. Das jährliche Budget des Instituts
wurde auf 221825 Rbl. erhöht, und der rege Antheil, den der
Kaiser selbst durch wiederholte Besuche, reichliche Bestellungen
und Stipendienspenden an der Thätigkeit der Akademie nahm, konnte
nicht verfehlen anspornend auf ihre Leistungen einzuwirken. Ein
Aufschwung künstlerischen Schaffens war unverkennbar, wir brauchen
hier nur auf die Namen eines Brüllow, Feodotow, Bruni, Schtsche-
drin &c. hinzuweisen. Auch das Innere des Reiches ward mehr
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Die Akademie der Künste zu St. Petersburg.
und mehr in den Kreis der Thätigkeit der Akademie gezogen, deren
Lehrer und Schüler dasselbe künstlerisch verwerteten und daselbst
den Samen des Kunstinteresses streuten. Kunstinstitute beginnen
aus privater Initiative in der Provinz hervorzugehen ; zu der schon
in den zwanziger Jahren eröffneten Stupinschen Zeichen- und Mal-
schule in Arsamass (Gouvernement Ssamara) gesellen sich die
Nadeshdinsche Schule in Koslow, die Tschirikowsche in Woronesh,
vor allem die Kunstklasse in Moskau, heute die Schule für Malerei
und Sculptur und die c Gesellschaft zur Aufmunterung der Künstler»
in Petersburg. Olenin war der letzte Präsident der Akademie ge-
wesen, welcher der Zahl der blossen Würdenträger angehörte; seit
seinem 1843 erfolgten Tode haben Glieder der kaiserlichen Familie
als Präsidenten die Interessen der Akademie der Künste vertreten.
Es war eine besoudere Gunst des Kaiser Nikolaus, dass er seinen
Schwiegersohn, den Herzog Maximilian von Leuchtenberg, einen
Sohn des kunstsinnigen ehemaligen Vicekönigs von Italien, dessen
nach Russland übergeführte Gemäldegallerie eine der schönsten
Zierden der Museen der Petersburger Akademie bildet, am 24. Mai
1843 zum Präsidenten der Kunstakademie machte ; konnte der neu
ernannte Präsident dem seiner Obhut anvertrauten Institut gleich
wenig Zeit widmen, so stand ihm doch als Vicepräsident in der
Person des Grafen F. P. Tolstoi ein Mann zur Seite, der durch
künstlerische Bildung und regen Antheil an den Interessen der
Kunst für die Entwicklung der Akademie von grosser Bedeutung
geworden ist. — In den vierziger und fünfziger Jahren sehen wir
die Regierung in Betreff der sonst ins Ausland gesendeten Zöglinge
der Akademie eine neue und originelle Praxis befolgen, der maleri-
sche Kaukasus sollte an Stelle des damals revolutionären West-
europa die hohe Schule vielversprechender Kunstjünger werden und
mag auch wirklich für den Schlachten- und Genremaler wie für den
Landschafter manch glückliches Motiv geboten haben. Nachfolgerin
des Herzogs von Leuchtenberg, in dessen Todesjahr 1852 die Ein-
weihung des prachtvollen neuen Gebäudes der Eremitage fällt,
ward seine hohe Gemahlin, die Grossfürstin Marie Nikolajewna,
1852—1876, unter deren Präsidentschaft die gelegentlich des Baues
der Isaakskathedrale angeregten und durch den Kunstmäcen Fürsten
G. G. Gagarin geförderten Bestrebungen, die byzantinische Heiligen-
malerei als Unterrichtsgegenstand bei der Akademie einzuführen,
fallen, Bestrebungen, welche die Gründung des Museums für alt-
christliche Kunstdenkmäler bei der Akademie zur Folge hatten.
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Die Akademie der Künste zu St. Petersburg.
371
Wichtiger für jene Zeit sind die 1859 bestätigten neuen Statuten,
die das Gesetz von 1840 wesentlich modificiren, indem sie der
theoretischen Vorbildung des Künstlers durch Einrichtung von Vor-
lesungen allgemein bildender oder fachwissenschaftlicher Art und
Verpflichtung der Zöglinge der Akademie zum Besuche derselben
wieder energischer Rechnung zu tragen suchen. Die Statuten ver-
fügten ferner die Uebertragung des im Gebiete wissenschaftlichen
Unterrichts geltenden Systems eines Parallelismus wissenschaftlicher
Grade und staatlicher Rangstufen auf das des künstlerischen, dem
zufolge die Schüler der Akademie mit der sogenannten grossen
silbernen Medaille den Rang des Collegienregistrators, mit der
kleinen goldenen den des Gouverneinentsseci etärs, mit der grossen
goldenen den des Collegiensecretärs erwerben sollten. Ein Auf-
nahmeexamen, in seinen Anforderungen etwa denen einer Mittel-
klasse des Gymnasiums entsprechend und ausserdem ein gewisses
Mass von Fertigkeit im Zeichnen erfordernd, sollte fürderhin Be-
dingung des Eintritts sogenannter < Akademisten» in die Akademie
bilden; sogenannte «freie Zuhörer» wurden unter ausschliesslichem
Vorbehalt von Rechten und Privilegien für die eigentlichen Schüler
der Akademie gegen Entrichtung von 25 Rbl. zum Kunstunterrichte
zugelassen.
Eine derartige Sichtung, der die Aspiranten zum Eintritt in
die Akademie seit dem Jahre 1859 unterlagen und die 1881 durch
die Bestimmung, welche diesen Eintritt an die Absolvirung eines
Abiturientenexamens knüpfte, noch beträchtlich verschärft wurde,
erklärt zum Theil wenigstens die seit 1859 erfolgte beträchtliche
Abnahme der Frequenz des Instituts, welches bei 666 Schülern
im Jahre 1859 1866 nur 433 und am 4. November 1885 gar
blos 323 zählte. Klagen über mangelnde allgemeine Bildung
unter den jüngeren russischen Künstlern haben wesentlich die
Regierung zu den betreffenden Massnahmen der Jahre 1859
und 1881 veranlasst. — Die Präsidentschaft Sr. kaiserlichen
Hoheit des Grossfürsten Wladimir Alexandrowitsch, weicher bereits
1869 an Stelle des Grafen Tolstoi zum Adjuucten der Präsidentin
und 1876 zum Präsidenten ernannt wurde, ist durch zahlreiche
Massnahmen bezeichnet, die, unter Vermittlung der Kunstakademie
ins Werk gesetzt, die Verbreitung von Kunst und Kunstinteresse
im Reich zum Zwecke hatten. Wir nennen hier die Bemühungen
um Hebung des Zeichenunterrichts in allen Instituten des Ministe-
riums der Volksaufklärung und in denen der Kaiserin Maria, die
372 Die Akademie der Künste zu St. Petersburg.
Schöpfung von Wanderausstellungen und Kunstmuseen in der
Provinz, die Gründnng periodischer Zeitschriften zur Pflege der
schönen Künste (B^cthmk e. Haamnuxi hckvctm, und XyAOxecTBeHimfl
hobocth) und die Bemühungen um Katalogisirung und zweckent-
sprechende Anordnung der Kunstsammlungen der Akademie, welche
lange Zeit nicht einmal den an ihr wirkenden Lehrern recht zu-
gänglich waren.
Bücher, wie das Hasselblattsche, haben der Mehrzahl ihrer
Leser gegenüber keinen leichten Stand; der Verfasser mag sie noch
so sehr daran erinnern, dass es ihm nicht sowol um eine Darstel-
lung der Geschichte der Kunst in Russland oder, wenn man die
Gegenwart und jüngste Vrgangeuheit in Betracht zieht, um eine Schil-
derung russischer Kunst, als um eine solche der Mittel und Maximen
zu thun ist, deren sich die Regierung, entsprechend ihrem jeweili-
gen Charakter, zur Kunstförderung bedient hat — der Leser wird
sich schwer zufrieden geben. Denn wer ein Buch, welches das
Wort Kunst auf seinem Titel tragt, aufschlägt, erwartet nun ein-
mal mit geistigem Auge zu sehen, und wenn Basselblatt gleich
hin und wieder uns ein russisches Kunstwerk nennt oder eine vor-
zugsweise bezeichnendeEntwickelungsphase russischen Kunstschaffens,
wie es die ist, deren Beginn sich an den Namen Iwanows knüpft,
schildert, so können derartige Charakteristiken und Schilderungen
doch nur episodischer Art sein und müssen dem verwaltungsrecht-
lichen Elemente, das den Grundton des Ganzen bestimmt, gegen-
über völlig zurücktreten. Es ist deshalb eine Ergänzung des
Buches dringend wünschenswerth, und hoffen wir, dass Hassel blatt
seiner Geschichte der Akademie in Bälde eine entsprechende Kunst-
geschichte folgen lasse. — Was die formale Behandlung betrifft, so
ist das Bestreben des Verfassers, dem oft etwas spröden Stoff die
künstlerische Abrundung zu geben, unverkennbar; das Buch liest
sich im ganzen durchaus angenehm, hie und da hat uns ein Satz
als etwas aufdringlicher Deuunciant tagespresslicher Gewohnheiten
stutzig gemacht; so 8. 11 : «Die Technik (die byzantinische näm-
lich) steckte noch immer in den Kinderschuhen, in denen sie aus
Konstantinopel hinübergetragen wurde» — der Relativsatz ist be-
kanntlich ein eingefleischter Realist und geschworener Feind der
Metapher. S. 6: «Gleich dem Christenthum verdankt das russische
Volk jegliche Aufklärung in den ältesten Zeiten seiner Geschichte
— Byzanz. » Unerfindlich ist, weshalb der Verfasser den Byzantiner
Basilius S. 7 zu einem Wassili macht. «Peter beschloss, junge
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Die Akademie der Künste zu St. Petersburg.
373
Russen auf Kosten seiner Schatulle ins Ausland zu schicken»,
eVor allem fiel schon die geplante glänzende Feier des hundert-
jährigen Jubiläums der Akademie ins Wasser, oder wenigstens- nur
ganz bescheiden aus». Wenn es S. 2 heisst, dass das Culturleben
Russlands erst seit den Zeiten Peters datire, und gleich darauf
S. 7 der Cultureinflüsse von ßyzanz auf Kirchen- und Profanstyl
des mittelalterlichen Russland gedacht wird, so ist das ja durch
blosses Vergessen eines Beiwortes hinlänglich entschuldbar, frappirt
aber durch enge Nachbarschaft. Das alles sind Dinge, auf die wir
hier im Interesse des Verfassers, der gewiss in der Lage sein wird,
sein Buch in erneuerter Auflage erscheinen zu lassen, hinzuweisen
für geboten erachteten. Der Verleger hat das Seinige gethan, dem
c historischen Ueberblick» eine elegante äussere Erscheinung zu
geben, die beigegebenen Stiche, die heutige Akademie der Künste,
ihre inneren Räumlichkeiten, Pläne u. s. w. darstellend, sowie die
die Abschnitte einführenden und abschliessenden Vignetten sind
hübseh und sauber ausgeführt. Für einen Neudruck erlauben wir
nur zu empfehlen, die Gedankenstriche nicht unmittelbar zwischen
zwei Worte zu zwängen. — Verfasser und Verleger haben ihr
Werk Ihrer Kaiserl. Hoheit der Grossfürstin Maria Pawlowna ge-
widmet. Th. P.
Aoaaoieao uea3jrpoD. — Peiieib, 15-ro Aopufl 1887 r.
Gedruckt bei Lindfora Erbon in ReraL
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Die Generation vor uns.
ie baltische Provinzial- und Landesgeschichte hat eine
nicht ganz unbedeutende Zahl von Mannern aufzuweisen,
die über das Mittelmass hervorragten und ihren Namen ein blei-
bendes Gedächtnis erwarben. Während der beiden letzten Jahr-
hunderte ist die Reihe dieser Begünstigten besonders ansehnlich
gewesen. Die Namen Patkul, ßiron, G. E. Loudon, J. J. Sievers,
Barclay de Tolly, Todleben, M. R. Lenz, K. E. von Baer gehören
einem verhältnismässig kurzen Zeitraum an, haben innerhalb des-
selben aber so vollen Klang gehabt, wie diejenigen der meist ge-
nannten Staatsmänner, Generale und Gelehrten ihrer Zeitgenossen-
schaft. Sieht man näher zu, so findet man indessen, dass — den
einzigen Patkul ausgenommen — die berühmteren unserer Lands-
leute für ihre specielle Heimat von ungleich geringerer Bedeutung
gewesen sind, als gewisse Männer, deren Namen kaum jemals über
den Narew und den Njemen hinausdrangen. Es hat das eines-
theils daran gelegen, dass für gewisse Thätigkeiten innerhalb des
Rahmens unserer Provinzialentwickelung kein Spielraum vorhanden
war, anderenteils an der Anziehungskraft, welche grösser und
reicher entwickelte Verhältnisse für bedeutend angelegte Menschen
zu haben pflegen, lieber die Thatsache selbst ist eine Verschieden-
heit der Meinungen nicht möglich. Den bekanntesten der oben ge-
nannten Namen begegnet man auf den Blättern der Provinzial-
geschichte überhaupt nicht oder nur beiläufig, während unter den
Urhebern der grössten innerhalb Landes gemachten Fortschritte
kein einziger zählt, der es auch nur zum Schatten europäischer
Berühmtheit gebracht hätte. Indessen London die Welt mit, seinem
BtUtMke MonaLafhrifl, Hand WX1V, Heft 5. 25
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376
Die Generation vor uns.
Ruhm erfüllte, Graf Sievers die Geschicke Polens in Händen hielt,
hiess am heimischen Herde C. F. Schoultz von Ascheraden «der
Mann des Landes», Rathsherr Berens <der Mann der Stadt». In
den Annalen zweiten, geschweige denn ersten Ranges wird man
diese Namen ebenso vergeblich suchen, wie diejenigen der Vor-
kämpfer unseres Aufklärungszeitalters. Karl Gottlob Sonntag.
Sivers-Ranzen, Graf Mellin sind der Weltgeschichte ebenso unbe-
kannt geblieben, wie J. C. Schwartz und A. W. Hupel; nicht ihren
Verdiensten um die Förderung unserer Bildung und Cultur, son-
dern den Diensten, welche sie Herder erweisen durften, haben
Berens und Hartknoch ihre beiläufige Nennung in der Literatur-
geschichte zu danken, und wenn in derselben von Lenz die Rede ist,
wird nicht der livländische Generalsuperintendent, sondern der un-
glücklichste von dessen Söhnen gemeint: Herr Garlieb Merkel aber
heisst niemals «Verfasser der Letten», sondern höchstens «der Mann,
der gegen Goethe geschrieben». Aber nicht das allein; dank der Enge
und Festigkeit der um das Pro vinzial leben jener Zeit gezogenen Schran-
ken blieben manche in der halben Welt bekannt gewordenen Liv-, Erst-
und Kurländer ihrem Heimatlande homines obscuri. Dass einer der
hervorragendsten Marschälle Ludwigs XIV. ausRoop, der berühmteste
österreichische Feldherr des späteren 18. .Jahrhunderts aus Tootzen
stammte, ging an der Mehrzahl ihrer L indsleute so spurlos vor-
über, dass noch in den achtziger Jahren Urtheile, wie «aus einem
ausländischen Feldmarschall machen wir uns nichts», möglich waren
und dass Goethes genialer Jugendfreund der eigenen Familie Zeit
seines Lebens für den verlorenen Sohn eines ausgezeichneten Vaters
galt. Und selbst später, als die Berührungen zwischen unserer
kleinen und der grossen Welt häufiger und lebhafter zu werden
begannen, kam es vor, dass so viel genannte Männer, wie die Publi-
cisten Lindner und Jochmann und der Archäologe Stackelberg, nir-
gend unbekannter waren als in der eigenen Heimat. In dieser
wie in anderer Rücksicht machte sich geltend, dass unsere Gewohn-
heit, Separatconten zu führen, nicht nur mit Vortheilen, sondern
auch mit Nachtheilen verbunden war. Die den Rahmen unseres
Provinziallebens hinausgewachsenen Figuren haben beinahe aus-
nahmslos ihre Maler gefunden. Anders diejenigen, die ausschliess-
lich die unsrigen geblieben sind. Es mag darum gestattet sein,
auf den nachstehenden Blättern ausschliesslich von den letzteren
zu handeln.
Wie allenthalben, haben auch bei uns Zeiten der Reichlich-
Die Generation vor uns.
377
keit mit denen der Armuth gewechselt und ist die Zahl hervor-
ragender Söhne des Landes bald grösser, bald geringer gewesen.
Auf das Zeitalter der ausgezeichneten Persönlichkeiten, welche den
Entwicklungsgang der Pauluccischen Periode bestimmten, folgte
während der nächsten beiden Jahrzehnte ein Regiment von Mittel-
mässigkeiten, die den schwierigen an sie gestellten Aufgaben nicht
gewachsen waren und deren Schwäche mit der Stärke ihrer Vor-
gänger in verhängnisvollem Zusammenhang stand. Die Gunst der
Zeiten Kaiser Alexanders I. und seines rigaer Vertrauensmannes
hatte einen Optimismus gross gezogen, der an den durch die Mängel
des Emancipationsgesetzes von 1819 hervorgerufenen Schwierig-
keiten arglos vorüberging, einen Umschlag der Verhältnisse für
ausgeschlossen hielt und der schliesslich kaum mehr vou Theilnahm-
losigkeit zu unterscheiden war. Die Vertrauensseligkeit und Selbst-
zufriedenheit der Väter waren auf Söhne übergegangen, denen im
übrigen die entscheidenden Tugenden des früheren Geschlechtes
fehlten. So war man um die Mitte des Jahrhunderts einem
Rankerott nahegekommen, dessen thatsächl icher Eintritt allein da-
durch abgewendet werden konnte, dass im letzten entscheidenden
Augenblick die rechten Männer plötzlich da waren und in die
Bresche sprangen. Genannt brauchen dieselben auch heute nicht
zu werden. Wenn auch vielfach ins Schwanken gerathen, ist die
Tradition des Landes immer noch fest genug geblieben, um den
Namen derer, die die provinzielle, städtische und kirchliche Haupt-
arbeit der letzten vierziger und ersten fünfziger Jahre besorgten,
bei den Nachfahren ein Gedächtnis zu sichern.
Um den Verdiensten der leitenden Männer unserer vierziger
und fünfziger Jahre gerecht werden zu können, muss man die Ver-
hältnisse, unter denen dieselben emporkamen, bis ins einzelne
kennen. Kaum jemals früher haben zwischen zwei auf einander
folgenden Generationen so tiefgehende Verschiedenheiten bestanden,
wie zwischen der unsrigen und der vorigen. Das beste Theil desseu,
was wir als Besitz und Errungenschaft der letzten fünfundzwanzig
Jahre rühmen dürfen, fehlte jenen, während ihre entscheidenden
Vorzüge uns versagt geblieben sind. Beruhte die öflentliche
Leistungsfähigkeit allein oder vornehmlich auf rationeller Thei-
lung der Arbeit, fachmässiger Abgrenzung der von den Einzelnen
übernommenen Aufgaben, auf systematischer Vorbildung und schnl-
gerechter Fähigkeit zu planraässigem Zusammenwirken, so müsste
jeder Vergleich zwischen Sonst und Jetzt ausgeschlossen erscheinen.
378
Die Generation vor uns.
Auf einen leidlichen Arbeiter von damals kommt deren gegen-
wärtig ein Dutzend, auf ein Dutzend Männer von geschlossener
akademischer Bildung die zehnfach stärkere Zahl. Wer theoretische
Vorbereitung auf die öffentliche Thätigkeit überhaupt für noth-
wendig hielt, glaubte zu damaliger Zeit durch Absolvirung des
Cursus der dorpater Juristenfacultät das Seiuige gethan zu haben.
Wie gering die Zahl derer war, die auch nur dieser Pflicht ge-
nügten, ist aus Osenbrüggens viel citirter Abhandlung (Inland, Jahrg.
1848, Nr. 42) ebenso bekannt, wie dass verschiedene, heute für un-
entbehrlich gehaltene Disciplinen vor dreissig .Jahren überhaupt
nicht getrieben wurden. Volkswirtschaftslehre und Statistik galten
für brodlose Künste, deren Erlernung man den sogen. Cameralisten
überliess und von deren Bedeutung für das Staats-, Provinzial- und
Communalleben nur wenige eine Vorstellung besassen. Geschicht-
liche Studien wurden alle Zeit mit einer gewissen Vorliebe, zu-
meist indessen unmethodisch und in belletristischer Absicht getrie-
ben ; bei Napiersky und Bunge sind eigentlich erst die Enkel ihrer
Zeitgenossen in die Schule gegangen. Unter den Berufenen aber
bildete die Zahl der Halbstudirten immer noch eine begünstigte
Minderheit, — die Mehrheit hatte bereits mit der Schulbank von allem
Studium Abschied genommen und die entscheidenden Lebensjahre
auf dem Husaren- oder dem Jagdsattel verbracht und öffentlichen
Dingen erst in reiferen Jahren eine gewisse Aufmerksamkeit zu-
zuwenden begonnen.
Aus der Unfertigkeit des damaligen Bildungszustandes er-
klärt sich, warum der Zusammenhang zwischen den Strebsamen,
Gebildeten und Gleichgesinnten der verschiedenen Landschaften und
Gesellschaftsklassen ein höchst loser war. Adel, Geistlichkeit,
rigasches und ausserrigasches Bürgerthum gingen getrennte Wege,
die nur selten auf einander trafen und deren Zusammentreffen noch
seltener fruchtbar genannt werden konnte. Im einzelnen wussten
die Einzelnen allenfalls, was sie sollten und wollten, — von einer
Zusammenfassung dieser Einzelaufgaben zu einem Gesammtbilde
war nicht die Rede. In dem Streben nach behaglicher und an-
strengungsloser Gestaltung der Privatexistenz ging für die grosse
Mehrzahl auch der Gebildeten das gesammte Leben auf. Nicht
Gemeinsamkeit der Pflichten und der Interessen, sondern Gewohn-
heit und Gleichartigkeit der Neigungen, Sym- und Antipathien be-
stimmten die gesellschaftlichen Zusammenhänge und die Berührungen.
Mit der Bescheidenheit des herkömmlichen Zuschnitts ging eine
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Die Generation vor uns.
379
Genusssucht Hand in Hand, die gerade ihrer Harmlosigkeit wegen
ansteckend und verderbend wirkte, für den höchsten aller Genüsse
aber sah man das gesellige Behagen an, dessen Cultus mit Meister-
schaft getrieben wurde. Von dem Drang modernen Wettbewerbes
war man so weit entfernt, dass die Nachfrage nach gebildeten
Arbeitskräften das Angebot häufig überwog. Im ersten Anlauf
Lebensstellungen zu gewinnen, bei denen bis an das Ende der Tage
beharrt werden konnte, kostete leidlich brauchbaren Juristen, Theo-
logen und Medicinern kaum Mühe, — bei Besetzung wichtigerer
Lehrämter aber musste in der Regel die Beihilfe des Auslandes
angegangen werden. Mit der Begründung eines eigenen Herdes,
die heutzutage ein Lebensziel bildet, wurde damals der Anfang
gemacht, und das Drücken, Bücken und Drängen, in welchem die
Jugend der «Ausländer! verging, wurde für einen unleidlichen und
unmöglichen Zustand gehalten. Von Ausnahmen abgesehen war
jedermann, dem es darauf ankam, vor Erreichung des dreissigsten
Lebensjahres unter Dach und Fach gebracht und auskömmlich,
weungleich bescheiden versorgt.
Diese auf die Pflege privater und gesellschaftlicher Interessen
gerichtete Tendenz war von weitgreifendstem Einfluss auf die öffent-
lichen Angelegenheiten und deren Behandlung. Einfluss und erfolg-
reiche Wirksamkeit erschienen nicht sowol durch Herrschaft über
die Rede und den schriftlichen Ausdruck, als durch den Besitz
geselliger Tugeuden bedingt. Während die Zahl erträglicher Redner
und leidlich geübter Publicisten eine so geringe war, dass ein
einziger öffentlicher Vortrag oder eine druckbar geschriebene Ab-
handlung zu localer Berühmtheit, mindestens zum Ruf besonderer
Befähigung verhelfen konnten, gab es einen Ueberfluss an Meistern
feiner und geistreicher Unterhaltung. Die heute fast verloren ge-
gangene Kunst, anziehend zu erzähleu und durch ein paar glück-
lich eingestreute Bemerkungen einen ganzen Kreis zu wecken und
zu beleben, hat kaum irgend wo in üppigerer Blüthe gestanden als
im alten Livland. Nahezu alle bedeutenden und einflussreichen
Männer jener Zeit waren liebenswürdige Gesellschafter, manche
von ihnen unerreichte «Virtuosen der Persönlichkeit», die vermittelst
ihrer gesellschaftlichen Talente Wirkungen erzielten, die wohlein-
studirten Reden oder glänzend geschriebenen Aufsätzen versagt
geblieben wären. Damit hing zusammen, dass die wichtigsten Ent-
scheidungen nicht sowol in öffentlichen als in privaten Versamm-
lungen getroffen und in eng geschlossenen Kreisen vorbereitet
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380 Die Generation vor uns.
wurden. Auf eigentliche Reden waren in der Regel nur Theologen,
auf grössere schriftliche Auseinandersetzungen höchstens einzelne
Juristen eingerichtet, — die einen wie die anderen aber mussten
sich gesellschaftlich geltend zu machen verstehen, wenn
sie Bleibendes ausrichten wollten. Die wirksamste Art der Pro-
paganda für Gedanken, welche in Thaten umgesetzt werden sollten,
bestand in Rundreisen durch das Land, die nicht zum Zweck öffent-
licher Ansprachen , sondern behufs freundschaftlicher , an der
Tafel oder auf dem Jagdausfluge gepflogener, zumeist gelegent-
licher Unterredungen unternommen wurden. Durch das Einsetzen
der eigenen Persönlichkeit, nicht durch gesprochene oder ge-
schriebene Worte gewannen die damaligen Beherrscher der öffent-
lichen Meinung ihre Leute, — als Menschen, nicht als Führer
und Leiter mussten sie die Anhänglichkeit der Gesinnungs- und
Parteigenossen erwerben und festhalten. Was auf Landtagen,
Synoden &c. Gegenstand der ßerathungeu bilden sollte, musste in
einer Anzahl kleinerer Kreise durchsprachen und durchlebt worden
sein, wenn es entsprechende Würdigung finden sollte.
Mit den Licht- und Schattenseiten des vorstehend geschilderten
Zustandes hingen die Vorzüge und Mängel der massgebenden
Personen aufs engste zusammen. Prüft man dieselben auf die
Gründlichkeit ihrer Vorbildung und das Mass ihres technischen
Könnens, so wird die Mehrzahl schlecht bestehen. Mit gutem
Grunde haben die Mängel, Lücken und Inconsequenzen des wichtig-
sten Werkes der vierziger Jahre, der Ii vi. Agrar- und Bauer-
verordnung von 1849, sowie ihrer Nachtrage und Ausführungs-
verordnungen den Gegenstand der Verwunderung neuerer Beur-
theiler gebildet. Um wie viel strenger würden diese Kritiker noch
urtheilen, wenn sie wüssten, dass der geistreiche Urheber des ge-
nannten Gesetzbuches gute Gründe hatte, der eigentlich redactio-
nellen Arbeit überhaupt fern zu bleiben, dass das schriftstellerische
Können desselben sich wesentlich auf die Abfassung von Briefen
und flüchtig skizzirten Denkschriften beschränkte und dass die
Männer, die für ihn eintraten, zu den fähigsten und tüchtigsten
ihrer Zeit zählten, die ihrer eigentlichen Berufssphäre abliegende
Mühewaltung aber lediglich aus Patriotismus übernahmen. Von
Ausnahmen abgesehen, waren die das öffentliche Leben der vierziger
und fünfziger Jahre beherrschenden Männer sammt und sonders
Naturalisten oder (wie man heute zu sagen pflegt) Dilettanten.
Nichtfachleute, denen Drang und Noth der Zeit Arbeiten auf-
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Die Generation vor uns. 381
nöthigten, auf welche sie sich niemals vorbereitet hatten, weil es
für die einen an der Gelegenheit, für die anderen an der Veran-
lassung zu solcher Vorbereitung gebrach. Vergegenwärtigt man
sich die Schwierigkeiten, mit welchen die Besetzung gewisser Aus-
ländern nicht zugänglichen dorpater akademischen Lehrstühle noch
vor dreissig Jahreu zu kämpfen hatte, so wird man für die Mängel
gleichzeitiger provinzial - politischer Leistungen die richtige Er-
klärung besitzen.
Den unbestreitbaren Mängeln und Unvollkommenheiten des
Geschlechts, auf dessen Schultern wir stehen , waren indessen
grosse und entscheidende Vorzüge gepaart. Zunächst Vorzüge des
Charakters. Die Breite der damaligen Verhältnisse brachte mit
sich, dass auch den mittleren Gesellschaftsschichten entstammende
Männer, sobald sie eine gewisse Leistungsfähigkeit bewiesen, ver-
hältnismässig rasch emporkamen. Sorge und Entbehrung hatten
manche von ihnen kennen gelernt, Druck und Demüthigung der
Armuth waren ihnen dagegen fast ausnahmslos erspart geblieben.
Von Jugend auf gewöhnt aufrecht zu stehen, andere als mit ihrer
Würde verträgliche Arbeit nicht zu thun und nicht Unterordnung
unter, sondern Herrschaft über die Verhältnisse als Aufgabe
des Mannes anzusehen, waren bürgerliche und adelige Genossen jener
merkwürdigen Zeit geborene Aristokraten. Souveräner, als zu den
Zeiten der Fölkersahm, Walter, O. Mueller &c. seitens der mass-
gebenden Personen und Kreise geschah, sind die Unterschiede des
Vermögens, des Ranges und der äusseren Lebensstellung schwerlich
irgend wo in der Welt behandelt worden. Was bei den einen
angeborene innere Vornehmheit war, mochte bei anderen auf Leicht-
sinn, Unwirthschafilichkeit und Nachahmungssucht zurückzuführen
sein. Allesa um it. huldigten sie einem Idealismus, der von moderner
Glücks- und Erwerbsjagd nicht einmal die Namen kannte. Jeder
andere Culttis schien ernster genommen, eifriger verfolgt zu werden,
als derjenige der mitunter arg vernachlässigten materiellen Inter-
essen. Wo es die Verfolgung gewisser Ziele galt, schien die Frage
nach den mit denselben verknüpften Opfern ein für alle Male aus-
geschlossen zu sein. Weil man es in mehr wie einem Falle mit
unlösbar erscheinenden und dennoch unabweisbaren Aufgaben zu
thun hatte, war man gewohnt, die Methode des <Draufgehens> auf
Dinge zu übertragen, bei welchen eine andere Art der Behandlung
ebenso gut, wenn nicht besser angebracht gewesen wäre. Der
fröhliche Uebermuth, mit welchem private Verhältnisse behandelt
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Die Generation vor uns.
wurden, übertrug sich nicht selten auf öffentliche Angelegenheiten;
zwischen diesen und jenen eine scharfe Grenze zu ziehen, war man
ohnehin nicht gewöhnt. Dafür wurden die Dinge, welche den
Besseren am Herzen lagen, aber auch mit einem Feuer und einer
Hingebung getrieben, welche für den Maugel an sorgfältiger und
methodischer Vorbereitung entschädigte. Dieses Geschlecht zumeist
ungeschulter Naturalisten zählte ausserdem eine Auzahl von Talenteu,
wie sie auf gleich engem Boden nur selten neben einander gefunden
worden sein mögen. Der führende Geistliche war ein Manu, der
allenthalben, wo er erschien, durch die Wucht seiner Persönlich-
keit, die Gewalt seines sittlichen Ernstes, die Tiefe seiner Bildung
und seines Geistes imponirte, der überall und unter allen Verhält-
nissen eine bedeutende Rolle gespielt haben würde. Ihm stand
eine Schaar von Seelsorgern und Kanzelrednern zur Seite, welche
das kirchliche Leben des Landes binnen eines Menschenalters un-
kenntlich veränderte und das Niveau der sittlichen uud intellec-
tuellen Bildung um eine ganze Stufe hob. Im Bunde mit diesen
Geistlichen, welche zu verschiedene theologische und philosophi-
sche Richtungen vertraten, als dass von pastoralen Einseitigkeiten
hätte die Rede sein können, befanden sich Schulmänner, deren Einfluss
auf unsere öffentliche und private Moral noch heute nachgewiesen
werden kann. Unter den städtischen Juristen, welche iunerhalb
ihres besonderen Berufskreises auf Erfüllung der Zeitforderungen,
ausserhalb desselben auf Beseitigung der alten ständischen Schranken
und auf Zusammenfassung aller gesunden Kräfte des Landes hin-
zuwirken versuchten, war der Verfasser der « Li vi ändischen Landes-
privilegien t der hervorragendste, aber keineswegs der einzige, und
erst während der letzten Periode seines Lebens der einflussreichste
und bekannteste. Unter seinen Zeitgenossen nahm Otto Mueller
auch dadurch eiue Ausnahmestellung ein, dass er die charakteristi-
schen Vorzüge unserer Landesart theilte, ohne mit den Mängeln
derselben behaftet zu sein. An Festigkeit der Gesinnung, innerer
Unabhängigkeit und gesellschaftlicher Liebenswürdigkeit den Besten
ebenbürtig, verband er mit umfassender allgemeiner Bildung gründ-
liches juristisches und staatsmännisches Wissen und echt bürger-
liche Gewissenhaftigkeit. Während die Ursprünglichkeit und Frische
seines Wesens auf einen tüchtigen Naturalisten und Praktiker hätte
schliessen lassen können, besass er alle Eigenschafteu eines streng
geschulten Kopfes und durchgebildeten Geschäftsmannes. Unter
den Genossen seiues Berufs kam er darum ebenso zur Geltung, wie
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Die Generation vor uns.
383
in dem Kreise, den der universellste und genialste Livländer der
vorigen Generation, Hamilkar Fölkersahm, um sich gesammelt hatte.
Dass Fölkersahm weder Jurist noch Volkswirth war und
dass sein staatsmänuisches Wissen ebenso bestimmte Grenzen hatte
wie sein technisches Können, ist bekannt. Eben darum war er
der typische Repräsentant und der einflussreichste Agitator seiner
Zeit. Die Herrschaft, welche Fölkersahm durch eine Reihe vou
Jahren über Menschen der verschiedensten Bildungsstufen und
Lebenstendenzen übte, war nur zur Hälfte auf seine ausserordent-
liche ßeredtsamkeit zurückzuführen, eine ßeredtsamkeit, für deren
Würdigung übrigens wenige seiner Zuhörer den gehörigen Massstab
besessen haben. Mindestens eben so hoch müssen die Anziehungs-
kraft seiner Persönlichkeit und die hohe Kunst angeschlagen wer-
den, mit welcher er starke wie schwache Seiten unserer Landsleute
in den Dienst seiner Ideen zu zwingen wusste. An Begabung und
Bildung drei Viertheile seiner Umgebung weit überragend, landes-
und standesüblichen Vorurtheilen längst entwachsen und in mancher
Rücksicht zum einsamen Menschen geworden, war er dem Kreise,
welchem seine Wirksamkeit zunächst galt, dennoch durch hundert
Fäden verbunden. Wenn Fölkersahm cmit jedem Kesselflicker in
seiner Sprache zu reden wusste>, so lag das nicht nur an der Be-
weglichkeit seines Geistes, sondern vornehmlich daran, dass er die
anscheinend heterogenen Eigenschaften des Idealisten und des Lebe-
mannes, des liberalen Theoretikers und des selbstbewussten Aristo-
kraten, des allenthalben heimischen Gesellschaftsmeuschen und des
in sich selbst versenkten Denkers verband, — dass er im Salon,
an der Tafel und auf dem Jagdsattel mindestens ebenso heimisch,
wenn nicht heimischer war, denn am Studirtisch und auf der Tri-
büne. Dass er vom geistreichen und vornehmen Dilettanten ungleich
mehr hatte als vom Gelehrten oder technisch geschulten Beamten,
wurde von der aus Naturalisten und Praktikern zusammengesetzten
Gesellschaft seiner Zeit nicht als Mangel, sondern als Vorzug an-
gesehen. Mit dem Abstände, der ihn von anderen trennte, ver-
söhnte es, dass er den Durchschnittsmenschen gewohnten Schlages in
mehr als einer Beziehung ähnlich sah und dass er ihre Gewohnheiten,
ihre Rede- und Denkweise so genau kannte, als sei sie seine eigene.
Lessings «Weniger wäre mehr» konnte auf Fölkersahm in der
Umkehrung angewendet werden: Mehr wäre weniger gewesen.
Zu den Eigenthümlichkeiten der Menschen, von denen hier
die Rede ist, gehörte ein Zug unverwüstlichen Humors, der dem
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384
Die Generation vor uns.
heutigen Geschlechte verloren gegangen zu sein scheint. Inmitten
der schwierigsten Umstände, angesichts der unttbersteiglichsten Hemm-
nisse wussten sich die Männer der vierziger und itinfziger Jahre
ein Stück schier studentischer Freude am Leben und insbeson-
dere am Verkehr zu erhalten, um das man sie herzlich beneiden
könnte. Es mag das mit der grösseren Bequemlichkeit des dama-
ligen äusseren Zuschnitts und mit den bescheidenen Ansprüchen
zusammengehangen haben, die an die Arbeitsleistung gestellt wur-
den. Dass nach der Arbeit gut ruhen ist und dass Thätigkeit
die Genussfähigkeit erhöht, ist ein vortrefflich klingender, bedauer-
licherweise aber nur innerhalb gewisser Grenzen wahrer und zu-
treffender Moralsatz. Ueber ein gewisses Mass getiieben und
durch gebieterische Umstände erzwungen, führt die auf die Berufs-
arbeit gewendete Anstrengung zu Trübsinn, Einseitigkeit und Ge-
nussunfahigkeit. Arbeit kann ebenso blasirt raachen wie Genuss,
— dem Druck beständigen Zwanges unterliegt schliesslich die
beste natürliche Laune, und was der Arbeit allenfalls widersteht,
bricht schliesslich unter der Sorge zusammen. Von solchem Drucke
war vor dreissig und vierzig Jahren nur ausnahmsweise die Rede.
Auf einzelne, welche dank der Ungleichheit der Arbeitsverthei-
lung für zehn andere zu thun hatten, kamen viele, die im gehöri-
gen Gleichgewicht blieben und in jede gesellschaftliche Vereinigung
ungebrochene Lebenskraft und frischen Humor mitbringen konnten.
Dieser Eigenschaften aber bedurfte es, weil die Geselligkeit selber
ein Stück Arbeit, eine Gelegenheit zur Klärung und Erörterung
zahlreicher wichtiger Fragen war, bei welcher seine Gedanken zu-
sammennehmen musste, wer mit einigem Anstände bestehen wollte.
■
Den Untergrund der heftigsten und ermüdendsten Discussionen bil-
dete indessen ein die Gegensätze bändigendes Zusammengehörigkeits-
gefühl, die Empfindung, dass das Leben selbst wichtiger sei als seine
einzelnen Probleme und dass, wenn man über diese Probleme streite,
man es eben wolle und nicht müsse. In der Regel war es ein an
rechter Stelle eingeworfenes Scherzwort, das dem Streit die Spitze ab-
brach und die Streitenden daran erinnerte, dass eine Welt von
Dingen übrig bleibe, über welche man ebenso einig sei, wie dar-
über, dass < unter uns> wol über die zum Ziele führenden Wege,
nicht aber über das ein fiir alle Male feststehende Ziel verschie-
dene Meinungen bestehen könnten!
Der zwischen damals und heute bestehenden Verschiedenheiten
sind so zahlreiche, tiefgehende und handgreifliche, dass es eines
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Die Generation vor uns. 385
Nachweises derselben nicht bedürfen wird. Einige besonders bemer-
kenswerthe Punkte verdienen indessen besonderer Erwähnung. Allen
Klagen über zunehmende Lauheit und Gleichgiltigkeit zum Trotz
darf behauptet werden, dass die Zahl derjenigen, die an öffentlichen
Angelegenheiten theilnehmen, seit den letzten zwanzig Jahren be-
ständig und erheblich zugenommen hat. Was damals Privilegium
einzelner eng geschlossener Kreise war, ist mindestens so weit Ge-
meingut geworden, dass Betheiligung an allgemeinen Interessen
niemandem verwehrt, den Meisten sogar nahe gelegt worden ist.
Was während der vierziger und fünfziger Jahre geflüstert uud
allenfalls geschrieben zu werden pflegte, durfte während der folgen-
den Jahrzehnte gesagt und gedruckt werden. Begreiflicherweise
ist das nicht ohne Wirkung geblieben. Hat an der im Verlauf der
letzten fünfundzwanzig Jahre erfolgten Klärung der Ansichten
auch eine an und für sich bedauerliche Verschärfung der Gegen-
sätze den Hauptantheil gehabt, so ist diese Klärung immerhin ein
Gewinn gewesen. Die unvermeidliche Periode der allgemeinen Phrasen
und Redensarten ist verhältnismässig rasch zurückgelegt und durch
nothgedrungene Gewöhnung an nüchterne und genaue Formulirungen
ersetzt worden. Wie anderswo, weiss man auch bei uns, dass
Theilung der Arbeit, technische und methodische Schulung der Ar-
beitskräfte und Beschränkung auf erreichbare Ziele unveräusser-
liche Bedingungen jedes Erfolges sind und dass der Vogel in der
Hand mehr bedeutet als die Taube auf dem Dache. Für den
Mangel an hervorragenden und anerkaunten Führern bildet die ge-
steigerte Leistungsfähigkeit der Durchschnittsarbeiter einen wenig-
stens annähernden Ersatz. Als schlechthin ungünstiges Zeichen
darf das Zurücktreten von Einzelnen geübter Einflüsse überhaupt
nicht angesehen werden. Sich über das Mittelmass zu erheben,
hält eben nicht mehr so leicht wie früher, wo (um ein bekanntes
Wort Goethes anzuführen) «die Tafel noch unbeschrieben» und die
Zahl der Schriftkundigen eine beschränkte war. Als Fortschritt
darf weiter angesehen werden, dass der Vermischung privater und
öffentlicher Interessen gesteuert und dass mit der Gewohnheit ge-
brochen worden ist, die letzteren wie Unterhaltungsgegenstände zu
behandeln. Mag die Methode, nach welcher das Gemeinwohl be-
treffende Angelegenheiten heutzutage erörtert werden, auch sehr
viel unliebenswürdiger als die ehemals beliebte sein, — an Männ-
lichkeit und Reife haben unsere öffentlichen Sitten unzweifelhaft
gewonnen. Das Nämliche lässt sich von der Beschaffenheit der
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386
Die Generation vor uns.
modernen Bildung sagen, die an Reichthum, Mannigfaltigkeit und
Reiz hinter derjenigen der vorigen Generation erheblich zurück-
steht, dieselbe in Bezug auf praktische Ergiebigkeit und Anwend-
barkeit auf das Leben dagegen weit übertrifft. Rücksichtlich dessen,
was gewöhnlich als « allgemeine Bildung > bezeichnet wird, dürfte
die Sache allerdings so liegen, dass die Zunahme der Zahl ihrer
Theilhaber auf Unkosten ihrer Qualität erfolgt und die Bildungs-
substanz dünner und immer dünner geworden ist. Zu der
Höhe philosophischer, ästhetischer und geschichtlicher und damit
allgemein menschlicher Bildung, auf welcher die ausgezeichneten
Männer der cvorinärzlichen» Zeit standen, ragen nur wenige Zeit-
genossen empor. Rückgang der philosophischen Studien und Ent-
wöhnung von den Klassikern der älteren und neueren Literatur
haben zusammt gesteigertem Anspruch an das Special wissen eine
Bildungsunfertigkeit der Gebildeten möglich gemacht, die von Un-
bildung sehr häufig nicht mehr zu unterscheiden ist. Wohl kamen
sogenannte Gebildete, die überhaupt nicht lasen und kaum jemals
gelesen hatten, in älterer Zeit sehr viel häufiger vor, als in un-
seren « gebildeten > und civilisirten Tagen: dafür wurde an die-
jenigen, die für voll gebildet gelten wollten, der Anspruch ge-
stellt, über alle literarischen Erscheinungen ersten und möglichst
auch zweiten Ranges einigen Bescheid zu besitzen. Wohlbestellte
und im Rufe der Fachtüchtigkeit stehende Candidaten der Theologie,
die Schleiermacher und Hegel nur dem Namen nach gekannt und
niemals ein Shakespearesches Stück gelesen hatten, waren damals
ebenso unerhört wie < anerkannt tüchtige» Juristen und Staats-
wissenschaftler, denen zur Leetüre des Rousseauschen amtrat social
und des Gansschen t Erbrecht» die Zeit gefehlt haben sollte, oder
wie Gymnasiallehrer, denen Voltaire ein Atheist und Ernst
Theodor Amadeus Hoffmann ein Jugendschriftsteller bedeuten
konnte. Das hat sich geändert, aber nicht nur zum Schlechteren.
Was der allgemeinen Bildung verloren gegaugen (und dieser Ver-
lust wird in anderen Ländern, z. B. in Deutschland, noch stärker
empfunden als bei uns), wird aufgewogen durch das Wachsthum
der Zahl derjenigen, die an Bildungsinteressen überhaupt theil-
nehmen und durch die grossen in Sachen des Fachstudiums ge-
machten Fortschritte der letzten Jahrzehnte. Mit Zunahme der
Concurrenz um höhere Aemter und gesicherte Lebensstellungen hat
der an die Leistungsfähigkeit der Bewerber gestellte Durchschnitts-
anspruch sich beträchtlich gehoben. Trägt der Arbeitseifer der
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Die Generation vor uns.
887
Neueren auch nicht selten ein zünftiges, auf die Erreichung be-
stimmter und greifbarer Ziele gerichtetes Gepräge, so bedeutet
derselbe doch einen Gewinn für die Allgemeinheit. Nach dem
Schwung und der idealen, um äussere Rücksichten und Erfolge
unbekümmerten Begeisterung der vorigen Generation wird man
sich dabei wol vergeblich umsehen, vielleicht auch die nüchterne
Lebensklugheit und lebeuskluge Nüchternheit der von metaphysi-
schem Bedürfnis unberührt gebliebenen Allerneuesten unjugend-
lich schelten : dass dieselben durchschnittlich reichlicheres und sorg-
fältiger gearbeitetes Rüstzeug für den Lebenskampf mitbringen,
als die Streiter der vierziger und fünfziger Jahre, bleibt darum
nicht weniger wahr. Der demokratische Zug der Zeit hat mit sich
gebracht, dass die aristokratischen Bildungsmomente des ästheti-
schen Geschmacks, der harmonisch abgerundeten Menschlichkeit
und der Fähigkeit zur Abstraction von kleinlichen Interessen in
der allgemeinen Schätzung verloren haben; durch Beseitigung der
früheren Schranken unseres Provinziallebens ist dem Zeitgeist wei-
terer Einfluss und Spielraum eröffnet worden, als damals vorhanden
war, wo wir wesentlich auf uns selbst angewiesen zu sein schienen.
Starke Strömungen haben enge und hohe Ufer zur Bedingung, wo
diese fehlen, geht es ins Breite, Weite und Flache. Wer wenige
äussere Dinge zu sehen bekommen hat, denkt und empfindet bei
Betrachtung derselben mehr und stärker, als wer früh an wechseln-
den Gestalten vorübergegangen und mit der Mannigfaltigkeit der
Erscheinungen vertraut geworden ist. Um die grossen Eindrücke,
welche ein mühsam erlangtes neues Buch, ein bedeutender Mann,
eine nach Ueberwindung von hundert Schwierigkeiten errungene
Reise über die Grenze zurückliessen, ist es geschehen, wenn man
sich neue Bücher und neue Menschen förmlich vom Leibe halten
muss, wenn man bereits als Student ein Stück Welt gesehen und
Vergleichungen anzustellen gelernt hat. Was der Kopf dabei ge-
winnt, verliert nicht selten das Herz: caus dem Herzen aber kom-
men die grossen belebenden Gedanken des Menschen ».
Wichtiger noch erscheint freilich eine andere Frage : diejenige
nach dem Einfluss, den die stattgehabte Veränderung auf die
Oharakterent Wickelung übt. Kein Zweifel, dass «die
einzigen Tugenden, deren der Mensch sich zu rühmen das Recht
hat>, dass Fleiss und Ausdauer heutzutage anstrengungsloser und
wol auch häufiger erworben werden als damals, wo der Kampf
ums Dasein leichter erschien und die Zahl der Unfleissigen grösser
388
Die Generation vor uns.
war. Lässt dasselbe sich aber auch von den übrigen, namentlich
von eigentlich männlichen Charaktertugendeu sagen? Lieber das
oft beklagte Verschwinden der originellen Figuren und Denker «auf
eigene Hand> könnte man sich trösten, wenn man nicht wüsste,
dass zwischen Eigenart des Kopfes und Unabhängigkeit des Charak-
ters ein verhängnisvoller Zusammenhang besteht. Die Kunst, auf
eigenen Füssen zu stehen, lässt sich weder in der Schule, noch auf
der Universität erlernen, und die am meisten gelernt haben, ver-
stehen dieselbe zuweilen am schlechtesten. In dieser Kunst waren
die im übrigen naturalistisch geschulten älteren Söhne unseres
Landes und ganz besonders diejenigen der vierziger und fünfziger
Jahre vielfach Meister. Auf sich selbst ruhend gingen sie ihre
Wege, weil sie andere nicht kannten und weil die Unterordnung
unter vorgeschrittene Etappen sie um die Freude und Freudigkeit
des Lebens gebracht hätte. Erfüllt von idealen Bedürfnissen, gingen
sie diesen mit einer Leidenschaftlichkeit nach, die ihnen über tausend
Lebensschwierigkeiten hinweghalf. Kein Zweifel, dass man dabei
vielfach in Illusionen lebte, dass man Erfolge zu sehen glaubte, wo
keine da waren, dass man Menschen und Beziehungen einen Werth
zumass, den sie nicht besassen : das Resultat war aber doch, dass
Lebenskraft und Lebensfreude durchschnittlich stärker als heutzu-
tage waren und dass sie Quellen der Leistungsfähigkeit bildeten,
die seitdem versiegt zu sein scheinen. «Sehr viel vermag die
Pflicht — unendlich mehr die Liebe», nämlich die Liebe zur Sache,
die genährt wurde durch einen Verkehr zwischen den Gesinnungs-
genossen, wie er lebhafter und ausgiebiger kaum gedacht werden
kann. Damals zählten die dem Gedankenaustausch gewidmeten
Stunden zu den wichtigsten des Tages, während die neuere Ge-
selligkeit mit den Brocken fürlieb nehmen muss, welche die alles
verzehrende Berufs- und Erwerbsarbeit übrig lässt.
Bei diesem letzteren Umstände darf einen Augenblick verweilt
werden. Die Beschäftigung mit gedruckten Gedanken für wichtiger
zu halten als den mündlichen Gedankenaustausch, ist ein modischer,
mit der Veräusserlichkeit der Geselligkeit zusammenhängender
Irrthum. Wie anders zu den Zeiten höchster geistiger Productivität
über diesen Punkt gedacht wurde, lehrt u. a. die in Taines be-
rühmtem Buche enthaltene Bemerkung, dass die historisch gewordenen
Mittagsmahlzeiten der Encyklopädisten bereits um drei Uhr be-
gonnen zu werden pflegten, weil die Genossen der Holbachschen
Tafelrunde für ihre Unterhaltungen volle geistige Frische mit-
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Die Generation vor uns.
389
bringen wollten ; dass der Rest der diesen Zusammenkünften ge-
widmeten Tage dem einmal begonnenen (Tedankenaustausch ge-
hörte, sah man dabei für selbstverständlich an. — Im kleinen galt
das nämliche von den Vereinigungen gewisser hervorragender Männer
der hier besprochenen livländischen Periode. Wo eine der vor
vierzig und dreissig Jahren massgebenden Personen erschien, war
nahezu Regel, dass an die mit derselben verbrachte Zeit kein Mass
gelegt und dass die einmal gebotene Gelegenheit zum Verkehr im
höheren Styl bis auf die Neige ausgekostet wurde. Uns erscheint
unbegreiflich, wie im höheren Lebensalter stehende Männer zu zehn-
uud zwölfstündigen Unterhaltungen Kraft und Zeit haben übrig
behalten können: wer an denselben theilgenommen, weiss, wie
das zugegangen und dass er seine Zeit nicht verloren habe. Weil
man weniger las und schrieb als im Zeitalter der Zeitungsseuche,
hatte man einander unendlich mehr zu sagen ; man tauschte nicht
nur Gedanken, sondern auch Empfindungen aus und war schon
darum niemals um den Stoff verlegen. Dass der sonst von Person
zu Person geführte Meinungsaustausch gegenwärtig durch Delegirte,
nämlich durch Zeitungen geführt werde, ist eine blosse Ausrede,
im günstigsten Falle ein halber Trost. Abgesehen von der immer
grösser werdenden Zahl von Dingen, die sich schriftlicher Erörte-
rung entziehen, steht erfahrungsmässig fest, dass publicistische Dis-
cussionen zumeist rechthaberischer und unehrlicher geführt werden
als Disputationen, und dass sie fast niemals zur Annäherung, sehr
häufig aber zur Entfremdung der Streitenden tühren'. Die Zeitungs-
debatte lässt den Betheiligten in der Regel nur Aerger zurück,
während glücklich und geschmackvoll geführte Dispute Kämpfer
und Zeugen mit wohlthuender Wärme erfüllen und fest verbinden
konnten.
Zu den früheren Formen des Verkehrs und der Geselligkeit
können wir eben so wenig zurückkehren wie zu den Verhältnissen,
die ihre Entstehungsursachen waren. Heilsam wird indessen sein,
dass wir wenigstens gelegentlich daran erinnert werden, wie der
• Die gewohnliche Art der Zeitungspolemik hat L. Bücher in seinem
«Parlamentarismus, wie er ist» höchst zutreffend gekennzeichnet: «Der eine hat
Gründe, der andere hat Gründe, der eine beweist und der andere heweist ; jeder
sucht sich ans den Gründen des anderen d i e aus, mit denen er am leichtesten
fertig werden kann, jeder Inhalt Recht, wo nicht handgreifliche Thatsachen die
Entscheidung Oedingen. Diese Art des Kaisonnirens, halb nnehrlich, halb
nachlässig, wird zuletzt Gewohnheit.»
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390
Die Generation vor uns.
Wechsel der Zeiten nicht nur Gewinn, sondern auch Verlust und
umgekehrt gebracht hat und dass mit vornehmer Aburtheilung
derer, die vor uns waren, eben so wenig gesagt ist wie mit ein-
seitiger Verhimmelung vergangener Zeiten und Menschen. Wer
sich seiner besonderen Art und ihrer Berechtigung bewusst bleiben
will, wird sich darüber Rechenschaft geben müssen, auf wessen
Schultern er steht : gelegentlich wird er sich auch wol sagen müssen,
dass der Zwerg, der auf den Schultern eines hochgewachsenen
Mannes steht, zwar weiter sieht als jener, dass das aber kein Ver-
dienst und noch weniger einen Vorzug ausmacht. Erhalten kann
uns das Bewusstsein der Continuität unserer Bntwickelung nur
bleiben, wenn wir zur Vergangenheit unseres Landes das richtige
Verhältnis gewinnen. Aus der Gegenwart in die Vergangenheit
zu flüchten, wird sich darum nur für diejenigen verlohnen, die
aus derselben Bleibendes zu holen wissen — die Ueberzeugung
nämlich, dass es auch zu den schwierigsten Zeiten (und zu diesen
müssen die vierziger und fünfziger Jahre gezählt werden) etwas
gegeben hat, was des Schweisses der Edlen werth war und dass es
an solchen Edlen nicht gefehlt hat.
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Beiträge zur Bevölkerungsstatistik Estlands.
Die E h e s c h 1 i e s s u n g e. n.
i e Heiratsfrequenz. Bei einer Arbeit, welche die
Factoren der Bevölkerungsbewegung — also die Geburten
und Sterbefälle — umfasst, wird man jedenfalls auch die Ehe-
schliessungen berücksichtigen müssen, obgleich ja gewichtige Gründe
vorhanden sind, die uns veranlassen, die Statistik der Heiraten
nicht zur Statistik der Bevölkerungsbewegung zu rechnen. Denn
wahrend die Geburten sowol wie die Sterbefälle eine Veränderung
in dem Stande der Bevölkerung eines Landes hervorrufen, bewirken
die Eheschliessungen nur Verschiebungen im inneren Gefüge der
Gesellschaft, sie veranlassen nur Aenderungen in der Gliederung der
Bevölkerung nach dem Civilstande. Ferner ist zu beachten, dass
die Heiraten doch stets auf eine freie Willenshandlung zurückzu-
führen sind, während bei den Geburten und Sterbefällen der persön-
lichen Willensfreiheit nur sehr enge Grenzen gezogen sind. Wenn
ich daher die Eheschliessungen im Zusammenhange mit der Statistik
der Geburten und vor Untersuchung der Sterblichkeitsverhältnisse
behandele, so geschieht es der engen Verbindung wegen, in welcher
Heiraten und eheliche Geburten unter einander stehen.
Hatten wir schon in dem ersten Abschnitt unserer Abhandlung,
dem die Betrachtung des Werdens der Bevölkerung zu Grunde
lag, Gelegenheit, hie und da auf den Zusammenhang zwischen
statistischen Erscheinungen und ökonomischen Zuständen in unserer
Baulich« MonUMchrift. Bd. XXXIV. H«ft 5. 96
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:592
Beiträge zur Bevölkerungsstatistik Estlands.
Provinz hinzuweisen, so werden wir das nicht minder hier bei
einer statistischen Untersuchung der Eheschliessungen thun können
und erkennen, dass dieselben vortrefflich geeignet sind, ein charakte-
ristisches Bild der jeweiligen socialen und ökonomischen Verhältnisse
eines Landes zu bieten. Zu diesem Zwecke müssen wir hier wie
bei der Statistik der Geburten einen Ausdruck suchen, der uns die
Möglichkeit gewährt, jenen erwähnten Zusammenhang scharf und
treffend nachzuweisen. Einen solchen Ausdruck finden wir in dem
Begriffe sowol der allgemeinen, wie auch ganz besonders der
speciellen Heiratsfrequenz oder Verehelichungsziffer, wobei ich unter
der ersteren das Verhältnis der in einem Jahr geschlossenen Ehen
zur Gesammtbevölkerung verstehe, während die specielle Heirats-
frequenz das Verhältnis der ersteren zur heiratsfähigen Bevölkerung
ausdrückt. Es ist selbstverständlich, dass die letztere Ziffer einen
weit exacteren Ausdruck gewährt als die erstere, obgleich ihrer
genauen Ermittelung häufig grosse Schwierigkeiten im Wege stehen.
Haben wir aber einmal diese Ziffer ermittelt, dann besitzen wir in
ihr eine der wichtigsten und werthvollsten statistischen Zahlen;
wir haben dann eine Ziffer gefunden, die, um mit Hermann zu
reden, die Hoffnung ausdrückt, welche zu dieser Zeit in Bezug auf
das ökonomische Gedeihen einer Familie im Lande bestand und
zwar desto deutlicher, je grösser die Freiheit des Erwerbsbetriebes
in einem Lande ist. Die Heiratsfrequenz veranlasst uns die Motive
zu untersuchen, die, sei es hemmend, sei es fördernd, auf das Ein-
gehen von Ehen in einem bestimmten Zeitraum gewirkt haben.
Wenn nun aber auch das Eingehen einer Ehe auf einer freien
Willenshandlung beruht, so darf man doch nicht etwa annehmen,
dass nichts leichter sei als der Entschluss zweier Menschen, einen
Bund für das Leben zu schliessen ; eine Reihe von Ursachen und
Motiven von der aufopferndsten, hingehendsten Liebe bis zum
krassesten, schmutzigsten Egoismus beeinflussen diesen Willen, —
Motive, die doch nur meist erst dann die Eheschliessung gestatten,
wenn die wirthschaftlichen Zustände die Hoffnung auf ein gedeih-
liches Fortkommen in der Ehe gerechtfertigt erscheinen lassen.
Bevor ich jedoch die Matrimonialität einer Betrachtung unter-
ziehe, möchte ich kurz einige hierher gehörige absolute Zahlen an-
führen. Es wurden nämlich in den 25 Jahren 1860—84 überhaupt
in Estland 66081 Trauungen vollzogen. Auf die einzelnen Kreise
und Städte vertheilen sich diese Ehen in folgender Weise : es ent-
fielen auf
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Beiträge zur Bevölkerungsstatistik Estlands.
393
Harrien
15754
Reval
8329
Wierland
17788
Haltischport
109
die Wiek
13601
Wesenberg
707
Jerwen
9076
Hapsal
385
Weissenstein
332.
Von den getrauten Paaren gehörten an den
Protestanten . . . 63481
Griechen .... 1042
Katholiken ... 72
Juden 150 . ♦
Muhamedanern . . 2
Die übrigen 1334 Ehen waren Mischehen.
Die Ermittelung der Heiratsfrequenz, sowol der allgemeinen,
als auch der speciellen, wird uns selbstverständlich nur für solche
Jahre möglich, für die wir eine genaue Kenntnis der Bevölkerungs-
zahl besitzen, in Estland also für das auf die Volkszählung folgende
Jahr. Wenn sich auch die Bevölkerungsgrösse für die späteren
Jahre im allgemeinen berechnen liesse, so beschränke ich mich
doch — um Ungenau igkeiten zu vermeiden — auf die Feststellung
der Heiratsziffer für das Jahr 1882. Es entfielen nun in dem er-
wähnten Jahre Eheschliessungen auf 1000 Individuen der Gesammt-
bevölkerung bei den*
Protestanten Griechen Katholiken Juden überhaupt
in Estland 7,0» 5,t, 4,n 5,„ 6,,?
« den Kreisen 6,.t 2,»« — — 6,,i
« « Städten 7 ,,2 7,7, 5,,« 6,,i 7,T>.
Die kleinste Verehelichungsziffer besitzen also die Katholiken,
darauf folgen die Griechen, dann die Juden und endlich die Prote-
stanten. Die niedrige Heiratsziffer der Juden ist auch in anderen
Ländern beobachtet und wird von E. von Bergmann» auf ihre
grössere wirtschaftliche Vorsicht zurückgeführt. Während aber
sonst überall die slavische Leichtlebigkeit und Sorglosigkeit eine
hohe Verehelichungsziffer bewirken, finden wir hier eigentümlicher-
weise eine ungewöhnlich niedrige Ziffer. Schon die Heiratsfrequenz
Estlands ist im Vergleich zu den europäischen Staaten (nach den
Angaben Stiedas1) eine niedrige, immerhin aber doch bedeutend
1 Fr. J. Naumann «Heitrage zur Geschieht« der Bevölkerung in Deutaeh
land». Th. I «Zur Geschichte der Entwickelung deutscher, polnischer und jüdi-
scher Bevölkerung in der Provinz Posen». Von Eugen von Bergmann. S. 69.
« «T>. Eheschliessungen in Elsass-Lothr. i. d. J. 1872 -76.» Straash. 1879. S.4.
26*
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394
Beiträge zur Bevölkerungsstatistik Estlands.
höher als die unserer Griechen. Der starke Männerüberschuss. der
durch das active Militär bei den Russen veranlasst wird, ist jeden-
falls kein Grund der niedrigen Heiratsziffer, denn wenn wir auch
die Militärbevölkerung unberücksichtigt lassen und die Zahl der
Eheschliessungen in Relation zur Civilbevölkerung setzen, erhalten
wir doch nur eine niedrige Ziffer, indem die Heiratsfrequenz in
Estland in diesem Fall bei den Protestanten 7,n, bei den Griechen
6,ti beträgt. Alles dieses berechtigt uns zu der Annahme, dass
die wirtschaftlichen Verhältnisse der Deutschen und Esten in
unserer frovinz bessere sind als die der anderen Nationalitäten.
Dass aber die Heiratsziffer in den Städten eine grössere ist
als auf dem Lande, ist noch kein Zeichen grösseren Wohlbefindens
der städtischen Bevölkerung gegenüber der ländlichen ; es ist diese
höhere Ziffer nur eine Folge der grösseren Zahl heiratsfähiger
Personen in den Städten. Dass eine Abnahme der allgemeinen
Matrimonialität stattgefunden , können wir an der Bevölkerung
Revals erkennen. Hier entfielen nämlich Heiraten auf 1000 Indivi-
duen der Gesammtbevölkerung bei den
Bei sämmtlichen Nationalitäten ist also die Heiratshäufigkeit
zurückgegangen ; am unbedeutendsten ist dieser Rückgang bei den
Protestanten. Ob auch im übrigen Estland eine derartige Er-
scheinung zu Tage getreten, lässt sich aus einem schon früher er-
wähnten Grande nicht bestimmen ; anzunehmen ist es, da auch
Carlberg 1 in unserer Nachbarprovinz ein derartiges Zurückgehen
beobachtet, wie es Haushofer» überhaupt für die meisten europäischen
Staaten findet.
Bei Betrachtung der speciellen Heiratsfrequenz wird es zu-
nächst unsere Aufgabe sein, die Grösse der heiratsfähigen Be-
völkerung festzustellen. Die untere Grenze des Heiratsalters ist
nun meist durch Gesetz bestimmt, und zwar dürfen in Estland
von den Angehörigen christlicher Confessionen Männer nicht vor
dem 18. und Frauen nicht vor dem IG. Jahre in die Ehe treten.
1 a. a. O. 8. 186, 187. - ■ a. a. 0. S. 399.
Katholiken
Juden
Protestanten
Griechen
überhaupt
»
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Beiträge zur Bevölkerungsstatistik Estlands. 395
Die eigentliche obere Grenze dürfte mit dem Aufhören der Gebär-
und Zeugungsfähigkeit erreicht sein, also etwa mit dem 50. Lebens-
jahre, weil ja bei einem späteren Heiraten der Hauptzweck einer
Ehe, als welchen wir in nationalökonomischer Beziehung doch die
Zeugung und die Erziehung von Kindern ansehen müssen, aufhört.
Thatsächlich ist diese Grenze jedoch weiter gezogen, da auch nach
dem 50. Jahre noch Ehen eingegangen werden. Wir werden daher
nicht fehlgreifen, wenn wir die im Alter von 16—60 Jahren stehen-
den ledigen, verwittweten und geschiedenen Personen als zur heirats-
fähigen Bevölkerung gehörig betrachten, da nach dem 60 Jahre doch
nur verschwindend wenig Ehen geschlossen werden. 1882 betrug nun
die specielle die heiratsfähige Be-
Heiratsfrequenz völkerung in pCt.
Estland 26,,, 26,„
Land 27,T, 24,,,
Stadt 21,8. 36,, 7.
Wie ersichtlich, ist die Heiratshäufigkeit auf dem Lande eine
viel grössere als in der Stadt, obgleich in dieser der Procentsatz
der heiratsfähigen Bevölkerung den der ländlichen bedeutend über-
trifft. Die wirthschaftliche Lage der Bewohner des Landes ist
also auch hier eine derartige, dass sie eher an die Gründung eines
eigenen Herdes denken können als die Bewohner der Städte. — Auch
bezüglich der speciellen Verehelichungsziffer lässt sich eine Ab-
nahme constatiren, indem dieselbe in Reval von 31,,» im Jahre
1872 auf 21.ji im Jahre 1882 gesunken ist, eine Erscheinung, die
auf ökonomische Misstände innerhalb der städtischen Bevölkerungs-
klassen hinweisen dürfte.
Wenn wir schon bei der Betrachtung der allgemeinen Heirats-
frequenz besonders auf die niedrige Ziffer der Griechen aufmerksam
machten, können wir das bei der speciellen Heiratsziffer im erhöhten
Masse thun. Im Jahre 1882 entfielen nämlich in Reval Ehe-
schliessungen auf 1000 heiratsfähige Individuell
Protestanten . . 24,, i
Griechen . . . 12,,,
Katholiken . . . 13,,i
Juden .... 31.«,.
Die ungünstigste Stellung nehmen also die Griechen ein, was
sich zum Theil gewiss daraus erklärt, dass der grösste Theil des
activen Militärs wol im heiratsfähigen Alter steht, ohne indes im
wirthschaftlichen Sinne thatsächlich heiratsfähig zu sein. Sehen
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396 Beiträge zur Bevölkerungsstatistik Estlands.
wir daher von der Militärbevölkerung ab, so erhalten wir ein
anderes Bild ; es kamen nämlich auf 1000 heiratsfähige Griechen
der Civilbevölkerung 37, i» Eheschliessungen, eine höhere Ziffer als
selbst die Juden aufweisen.
Die hohe Heiratsziffer dieser letzteren Bevölkerungsgruppe
erklärt sich wol auch aus dem frühen Heiratsalter derselben, sowie
aus dem damit im Zusammenhang stehenden hohen, ja höchsten
Procentsatz an wiederholten Ehen. Ausserdem ist nicht zu ver-
gessen, dass der Jude bei seiner Bedürfnislosigkeit und bei den
geringes Anforderungen, die er an das Leben stellt, eher im Stande
ist zu heiraten als Personen, anderer Nationalität, die etwa in den-
selben Verhältnissen wie die Juden leben.
Schon bei der Statistik der Geburten betonten wir den engen
Zusammenhang der Häufigkeiten der Geburten mit den jeweiligen
wirthschaftlichen Verhältnissen. Aus der folgenden Tabelle können
wir nun erkennen, wie sehr der Entschluss eine Ehe einzugehen
abhängig ist von der Aussicht auf ein gedeihliches Fortkommen des
zu gründenden Hausstandes. Auch hier muss ich als Massstab
zur Beurtheilung der wirthschaftlichen Lage einer Bevölkerung die
Höhe der Roggenpreise ansehen, wie die folgende Nebeneinander-
stellung zeigt:
Jahr TreiB pr. Tachetwert Ruggeu absolute Zahl der Eheschltiiwuugen
1860
592
3131
1861
703
2830
1862
697
2916
1863
628
2750
1864
546
2976
1865
671
2585
1866
757
2206
1867
857
2129
1868
1200
1732
1869
1063
2304
1870
740
3131
1871
786
2939
1872
755
2660
1873
700
2748
1874
846
2908
1875
700
2874
1876
700
2601
1877
750
2341
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Beiträge zur Bevölkerungsstatistik Estlands. 397
Jahr Preis pr. Tschetwert Koggen absolute Zahl der Eheschließungen
1878 809 2518
1879 867 2559
1880 1049 2516
1881 1100 2573
1882 900 2624
1883 900 2789
1884 849 2741
Mit verhältnismässig wenigen Ausnahmen erkennen wir einen
Zusammenhang der Schwankungen in beiden Spalten; hohe Koni-
preise wirken in der Regel hemmend, niedrige Kornpreise fördernd
auf die Ehefrequenz ein. Die einzelnen Jahre sind in wirthschaft-
licher Beziehung schon an einer anderen Stelle charakterisirt worden
und kann ich daher hier um so eher eine Wiederholung vermeiden,
als ein Theil der hier beobachteten Periode in den siebziger Jahren
durch P. Jordan eine Behandlung in der t Baltischen Wochenschrift»
erfahren hat1; hinzufügen muss ich, dass natürlich neben den Getreide-
preisen auch andere Factoren die grössere oder geringere Heirats-
frequenz beeinflusst haben mögen. So mag die Einführung der
allgemeinen Wehrpflicht sowol eine Erhöhung des mittleren Heirats-
alters, als auch eine Verringerung der Eheschliessungen bewirkt
haben. Der Bauernbursch wird eben jetzt nur selten vor absolvirter
Dienstzeit heiraten, wie auch aus einer kürzlich im < II pami re^L-
CTBemiufl BtcTiiHKT>> publicirten Uebersicht hervorgeht, nach welcher
im Jahre 1886 von den in Estland ausgehobenen 1017 Rekruten
nur 10, d. h. 0,», pCt. schon verehelicht waren.
Der Einfluss des letzten russisch-türkischen Krieges ist durch
das Herabgehen der Heiraten im Jahre 1877 erkennbar. Gesetz-
liche Ellebeschränkungen, wie sie in einigen Ländern die Eheziffer
herabdrücken, kommen hier nicht in Betracht. Dass sich im all-
gemeinen ein Rückgang in der Häufigkeit des Eheschliessens in
Estland — wenigstens auf dem Lande — bemerkbar macht, lässt
sich nicht wegleugnen und ergiebt sich auch, wenn wir die Ehe-
schliessungen nach Pentaden ordnen.
Zahl der Eheschliessungen Preis pro Tschetwert
auf dem Lande in den Städten Roggen
1860-64 12779 1824 633
1865—69 9578 1378 910
1 Jordan «lieber dir Ehesehliessungeii in Estland im Verlaufe von 24 Jahren
(1854-77 ind.).»
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398 Beiträge zur Bevölkerungsstatistik Estlauds.
Zahl der Eheschliessungen Preis pro Tschetwert
auf dem Lande in den Städten Roggen
1870—74 12519 1867 765
1875—79 10495 2398 765
1880-84 10848 2395 960.
Ganz besonders deutlich spricht sich in dieser Tabelle die
Ungunst der Verhältnisse in den Jahren 1865—69 aus. Auch aus
den hier angeführten Zahlen ist, mit Ausnahme des letzten Quin-
quenniums, der Zusammenhang zwischen Getreidepreisen und Heirats-
häufigkeit unverkennbar, wobei ich bemerken muss, dass die Roggen-
preise hier nicht wie in der ersten Tabelle geometrische, sondern
nur arithmetische Durchschnitte darstellen.
Dass diese Abnahme der absoluten Zahl der Heiratenden bei
allen Nationalitäten bemerkbar wird, lässt sich nicht behaupten,
wenigstens zeigen hier die Russen und Juden in den letzten Quin-
quennien, wie aus nachstehenden Zahlen ersichtlich, eine Zunahme
der Trauungen. Es betrug nämlich die Zahl der eingegangenen
Ehen in Estland bei den
Protestanten Griechen Katholiken Juden Mischehen
1860—64
14116
155
11
19
290
1865—69
10552
166
10
10
218
1870—74
139U
201
16
30
228
1875—79
12833
229
20
30
279
1880—84
12569
281
13
61
319.
Wenn
man bedenkt,
dass
der grösste Theil der
Mischeben
zwischen Personen eingegangen wird, von denen entweder die
Braut oder der Bräutigam der griechischen Kirche angehört, dann
dürfte wol eine Steigerung der Heiratsfrequenz bei den Russen seit
1860 anzunehmen sein, wenn auch zugleich das russische und
griechische Element durch Einwanderung resp. Conversionen in
demselben Zeitraum in unserer Provinz bedeutend gewachsen ist.
Von sämmtlichen Mischehen betrugen nämlich 1866—84 in
Procenten ausgedrückt solche zwischen
Lutheranern und Griechen 80,5i
Lutheranern und Katholiken 15,81
Griechen und Katholiken 3,CJ
Protestanten und Hebräern 0,t».
Die Mehrzahl der Mischehen wird also in der griechischen
Kirche vollzogen. Interessant dürfte die aus der obigen Tabelle
sich ergebende Erscheinung sein, dass sich weit eher eine Neigung
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<
Beiträge zur Bevölkerungsstatistik Estlands. 399
zwischen Gliedern der katholischen und lutherischen, als zwischen
Angehörigen der katholischen und griechischen Kirche ausbildet,
indem die zuerst angeführte Ehecombination fast fünfmal so häufig
auftritt als die letzte. Mischehen sind in Estland eigentümlicher-
weise viel häufiger als Ehen zwischen griechischen, katholischen
oder jüdischen Paaren, wie folgende Tabelle ergiebt. Es beträgt
nämlich der Procentsatz sämmtlicher in den Jahren 1860—84 in
Estland geschlossenen Ehen bei den
Protestanten
96,o«
Griechen . . .
1,M
Katholiken . .
. o,,,
Juden ....
. 0.»
Mischehen . .
2,ol
Auf dem Lande sind die Mischehen, wie leicht erklärlich,
weit seltener als in den Städten, indem dieselben hier 12,*« pCt.
(Reval II*» pCt., kleinere Städte 18,it pCt.), dort aber nur 0,u pCt.
von sämmtlichen 1860—84 eingegangenen Eben ausmachen. Es
ergiebt sich dieses einmal daraus, dass in den Städten verschiedene
Nationalitäten und Oonfessionen in grösserer Zahl neben einander
leben, während den Hauptstock der ländlichen Bevölkerung die
Protestanten bilden. Dann ist aber auch zu beachten, dass es auf
dem Lande früher fast gar keine griechischen Kirchen gab und
dass die einzige katholische Kirche sich in Reval befindet ; aus
diesem Grunde mögen vielfach die .Ehen zwischen Personen ver-
schiedenen Bekenntnisses — auch wenn sie auf dem Lande lebten
— von der städtischen Geistlichkeit vollzogen worden sein.
Im Anschluss hieran will ich erwähnen, dass die Mischehen
(gleich den Ehen bei den Griechen) seit dem Jahre 1860 zuge-
nommen haben, sie betrugen nämlich von sämmtlichen Eheschliessun-
gen in unserer Provinz in Procenten :
1860—64 .
1,98
1865-69 .
1,»B
1870-74 .
• 1,M
1875-79 .
. 2,16
1880—84 .
2,n.
Auch diese Erscheinung dürfte auf den starken Zuzug
russischer Elemente aus den anderen Gouvernements, sowie auf
den Uebertritt von Esten zur griechischen Kirche zurückzu-
führen sein.
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400 Beiträge zur Bevölkerungsstatistik Estlands.
Heiratsaussicht. Dass die Aussieht der Frauen einen
Mann zu bekommen im allgemeinen geringer ist, als die des Mannes
eine Frau zu bekommen, ist eine bekannte Thatsache, die sich
uberall dort beobachten lassen wird, wo innerhalb einer Bevölkerungs-
gruppe ein Frauenüberschuss vorhanden ist. Estland — wenigstens
das flache Land — hat bei der letzten Zählung, wie die meisten
Länder, einen Frauenüberschuss aufzuweisen, und geht daher aus
den folgenden Ziffern hervor, wie zu erwarten stand, dass die Aus-
sicht der Männer auf Verehelichung eine grössere ist als 4*e ^er
Frauen. 1882 heirateten nämlich von 1000
Männern Frauen heiratsfähigen
der Gesammtbevölkerung Männern Frauen
in Estland
14.,,
13„,
54,,,
51
auf dem Lande
14...
13,,,
60,,,
51
in den Städten
15,ci
16.,0
37.,,
50
Während das flache Land mit Frauenüberschuss mehr Männern
als Frauen Aussicht auf Verheiratung gewährt, zeigen die Städte
das entgegengesetzte Bild, weil diese einen Männerüberschuss be-
sitzen, der durch das active Militär veranlasst wird. Interessant
dürfte die Berücksichtigung der heiratsfähigen Personen im speciellen
sein. Hier zeigt sich, dass sowol die factische Heiratsaussicht der
Frauen, als auch die Heiratstendenz der Männer auf dem Lande
eine höhere ist als in den Städten. Es dient dieses also als Be-
weis dessen, dass die sociale Stellung, die ökonomische Lage der
ländlichen Bevölkerung mit ihren grösseren Ansprüchen an das
Leben das Heiraten der städtischen gegenüber erleichtert. Auch
hier erkennen wir, dass die Stadtbewohnerinnen leichter zur Ehe
gelangen als die Städter, was jedoch anders wird, wenn wir das
active Militär von der heiratsfähigen Bevölkerung in Abzug bringen.
In diesem letzteren Fall heirateten von 1000 heiratsfähigen Männern
der Civilbevölkerung 59,,,, also mehr Männer als Frauen.
Wenn wir auch hier wieder die einzelnen Confessionen be-
trachten, ergiebt sich Folgendes. Es heirateten 1882 in Reval
von 1000 heiratsfähigen
bei den
Männern
Frauen
Protestanten
49,,,
47,,.
Griechen
15„.
80,.,
Katholiken
20,.,
43„,
Juden
50,,,
85,,, .
Wie ersichtlich, zeigen die protestantischen Männer eine grössere
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Beiträge zur Bevölkerungsstatistik Estlands. 401
Tendenz zum Heiraten als die Frauen, nicht so aber die Griechen
nach Abzug des activen Militärs, indem auf 1000 heiratsfähige
Männer der griechischen Civilbevölkerung 69,«, Eheschliessungen
kommen.
Betrachten wir jetzt die einzelnen Civilstandsklassen bezüglich
ihrer Heiratsaussichten, wobei ich bemerken muss, dass sich in den
officiellen Listen keine Angaben über die Geschiedenen finden, sei
es, dass dieselben bei den Trauungen zu den Verwittweten gezählt
sind, oder sei es, dass in den 24 von uns beobachteten Jahren keine
Wiederverheiratung Geschiedener stattgefunden hat. Im Jahre 1882
heirateten von 1000 heiratsfähigen
Jungges. Jungfr. Wittwern Wittwen Ledigen Verwittw.
Estland
47,,.
00,.,
245(ü,
lö,,„
53,.«
48...
Land
61«
60,,«
260,, a
15,..
56,, i
5i,,0
Stadt
34*,
6l,„
17G„0
16.»,
44,.,
37.,.
Zunächst ergeben sich aus der vorstehenden Tabelle die
besseren Aussichten sowol der Protogamen, als auch der Palingamen
auf dem Lande den Städten gegenüber, und zwar ist die Differenz
zwischen diesen beiden Gruppen auf dem Lande geringer als in
den Städten. Das Streben der Wittwer zur Ehe ist ein bedeutend
stärkeres als das der Jungesellen. Es ist eben zum Theil die
Gewolinheit, zum Theil der schon bestehende Familienhaushalt der
Grund, welcher dem Wittwer das Eingehen einer neuen Ehe
erleichtert.
Aus den angefühlten Tabellen geheu so recht deutlich die
besseren Erwerbsverhältnisse der ländlichen Bevölkerung gegenüber
der städtischen hervor. Die ledigen sowol, wie auch die ver-
wittweten Männer, von deren günstiger ökonomischer Lage meist
die Heirat abhängig ist, vermögen diese auf dem Lande leichter
auszuführen als in den Städten, während die weiblichen Protogamen
und Palingamen, auf deren wirtschaftliche Verhältnisse es viel-
leicht weniger ankommen dürfte, mehr Aussicht haben in der Stadt
als auf dem Lande ihr Glück zu machen. Allerdings ist auch die
Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass die materiellen Verhältnisse
der Städterinnen bessere sind als die der Landbewohnerinnen, und
dass auch dadurch die Aussichten der ersteren gehoben werden.
Wenn ich von der ungünstigeren Lage der Stadtbewohner sprach,
so will ich damit keineswegs gesagt haben, dass dieselbe für die
einzelnen Junggesellen im allgemeinen unvortheilhaft ist ; die allein-
stehende Person mag ja sogar in der Stadt unter besseren Ver-
402 Beiträge zur Bevölkerungsstatistik Estlands.
hältnissen leben als auf dem Lande ; ich meine aber nur, dass der
Unterschied zwischen dem Aufwände einer Einzel- und Familien-
haushaltung in der Stadt weit grösser ist als auf dem Lande und
dass daher die Gründung eines eigenen Herdes dort viel reiflicher
überlegt werden will als hier.
Berücksichtigen wir auch hier wieder die Civilbevölkerung
allein, so wächst die Heiratstendenz der städtischen Junggesellen
auf 55,,,.
Aus dem Folgenden können wir die Verteilung der Heirats-
aussicht der einzelnen Civilstandsklassen auf die verschiedenen
Confessionen ersehen. Es heirateten nämlich 1882 in R e v a 1
von 1000 heiratsfähigen
Junggesellen Jungfrauen Wittwern Wittwen
Protestanten
M6,„
57,„
149,.,
i7„.
Griechen
13,»
lOU
98,,,
20,,,
Katholiken
17,„,
45,.,
125.„
38,,,
Juden
33,Ja
78„.
375„io
133,»!».
Auffallend ist hier die grosse Heiratsaussicht der griechischen
und jüdischen Jungfrauen , sowie der jüdischen Wittwen. Im
übrigen bedarf diese Tabelle kaum eines Commentars. Zur Be-
leuchtung der Heiratsaussicht resp. der Heiratstendenz der einzelnen
Altersklassen möge folgende Tabelle dienen. Im Jahre 1882
heirateten nämlich vom 1000 der betreffenden Altersklassen
auf dem Lande
in den Städten
Männer
Weiber
Männer
Weiber
unter 20 Jahren
4„5
31,M
2,„
32„.
21-25
74,,
112,,,
45,,,
94,,,
26-30
15U
119,,,
141,,,
93,,o
31—35
152,,,
68,»
116,,,
96,,7
36-40
103,,,
34.37
76,.,
36,,7
41-45
126,,,
19,.
56,8!
23„,
46-50
99,t
8,04
43„
6,,,
51 u. mehr c
63,4»
2.,,
56,i,
2,,i .
Vorauszuschicken wäre, dass auf dem Lande die Gesammt-
bevölkerung, in den Städten dagegen nur die Civilbevölkerung be-
rücksichtigt ist. Betrachten wir zunächst die Heiratstendenz der
Männer, so ergiebt sich, dass dieselbe auf dem Lande bis zum
35. Jahre steigt, darauf sinkt, um zwischen dem 41. und 45. Jahre
wieder zu steigen, worauf mit dem 45. Jahre eine Abnahme zu
Tage tritt. Am stärksten ist die Heiratstendenz also bei Personen
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Beiträge zur Bevölkerungsstatistik Estlands. 403
zwischen dem 31. und 35. Lebensjahre. In den Städten tritt diese
stärkste Tendeuz um fünf Jahre früher ein, sinkt dann bis zum
50. Jahre, um hierauf eine ziemliche Hebung zu zeigen. Die
grösste Heiratsaussicht der Frauen auf dem Lande fällt in das
26.— 30. Jahr und tritt bei den Frauen in den Städten um fünf
Jahre früher ein. Sowol auf dem Lande als auch in den Städten
nimmt die Aussicht auf Verehelichung darauf stetig ab und zeigt
sich nur bei den 31—35 Jahre alten Frauen in der Stadt eine
wenn auch kleine Aufbesserung ihrer Aussichten.
Zum Schluss seien mir noch einige Bemerkungen über die
procentuale Betheiligung der einzelnen Civilstandsklassen an den
Eheschliessungen gestattet. In den Jahren 1866—84 waren unter
100 Personen, die in die Ehe traten,
Estland Land Stadt Protest. Griechen Kathol. Juden
Junggesellen
41,«,
41,..
42,,.
41,«
43,o.
44,o5
41,.,
Jungfrauen
45,»j
46,u
44,,,
45,,8
46,, 7
45,,.
42,,.
Wittwer
8,71
8,»8
7,,7
8,71
6,o&
5,.»
8,»i
Wittwen
4,o7
3,81
5*1
4,07
3,«3
4,7«
7,7.
Im Laufe der erwähnten 24 .fahre sind bei allen Confessionen
in den Städten, wie auf dem Lande mehr ledige Frauen als ledige
Männer in die Ehe getreten, weil die Wahl der Wittwer eher auf
ein Mädchen als auf eine verwittwete Frau fällt. Junggesellen
und Wittwen haben häufiger in den Städten als auf dem Lande
geheiratet, während das Umgekehrte von den Jungfrauen und
Wittwern gilt. Ledige traten am häufigsten unter den Griechen,
Verwittwete am häufigsten unter den Juden in die Ehe.
Protogame und palingame Ehen. Oass die ersten
Ehen in jedem Lande weit häufiger sind als die wiederholten, ist
eine Thatsache, die keiner weiteren Erklärung bedarf. Das Ver-
hältnis zwischen den ersten und späteren Ehen ist nun in den ver-
schiedenen Staaten bedeutenden Schwankungen unterworfen, und
mag gewiss viel zur Oharakterisirung der wirtschaftlichen Ver-
hältnisse beitragen, wenn die Voraussetzung richtig ist, dass gerade
in wirthscbaftlich ungünstigen Zeiten die Wiederverheiratung Ver-
wittweter häufiger ist als in günstigen. Stieda« giebt für Elsass-
Lothringen den Procentsatz der ersten Ehen mit 82,,, Carlberg*
für die livländischen Städte mit 79,,., für das flache Land mit 79,,,
' a. a. (). S. 109. - • a. ft. O. S. 19t>.
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404 Beiträge zur Bevölkerungsstatistik Estlands.
an. Ist nun, wie erwähnt, der grössere Procentsatz an wieder-
holten Ehen ein ungünstiges Zeichen für das wirtschaftliche Leben
einer Bevölkerung, dann müssen wir allerdings sagen, dass die
Verhältnisse in unserer Provinz minder gute sind als die Livlands.
In den Jahren 1866—84 waren nämlich von sämmtlichen Ehen
e/ste Ehen wiederholte Ehen
Estland
Land
Stadt
Estland
Land
Stadl
Protestanten
77,,,
77„,
76...
22,.o
22,,.
23,,,
Griechen
80,, 7
82*.
79,.,
19,,,
17t0.
20,o,
Katholiken
79„,
79„,
20,.,
20,..
Juden
75„,
75,.;
24,o.
24,o,
sämmtl. Confess.
77,,,
77,«
77,,,
22,.,
22,..
22,.,
Die wiederholten Ehen sind also in den Städten etwas häufiger
als auf dem Lande und am häufigsten unter der jüdischen Be-
völkerung anzutreffen. Am seltensten wurden wiederholte Ehen
von den Griechen geschlossen, während nach Carlberg' in Livland
die Wiederverheiratung verwittweter Griechen häutiger ist als selbst
die verwittweter Juden. Dass die Zahl der ei-sten Ehen in Estland
stetig zunimmt, geht aus folgenden Ziffern deutlich hervor. Es
betrug die Zahl der ersten Ehen m Procenten
auf dem Lande in den Städten
1866-69
73,„.
70,T,
1870-74
74,..
72„o
1875-79
80,oi
80,,.
1880-84
80,,.
80,,..
In Livland hat eiue Abnahme der wiederholten Ehen nur in
den Städten stattgefunden, während die Ziffern für das Land keine
Schwankungen aufweisen.
Wenn wir jetzt im Folgenden eine weitere Gliederung der
wiederholten Ehen nach dem Familienstande der Getrauten vor-
nehmen, so werden sich für die verschiedenen Confessionen einige zum
Theil. recht charakteristische Unterschiede ergeben. Betrachten wir
zunächst die Civilstandsgruppirung sämmtlicher Getrauten, so finden
wir in den JJ. 1866-84 von je 100 Ehen solche geschlossen zwischen
Junggesellen und Wittwern und
Jungfrauen Wittwen Jungfrauen Wittwen
Estland
77„,
5,ia
14,.»
2,..
Land
77,,,
4,„
14,.o
3,u,
Stadt
77*,
7„.
12,M
2,13.
• a. ft. O. S. 193.
Digitized by Googl(f
Beitrage zur Bevölkerungsstatistik Estlands. 405
Es wird sich also ein Wittwer viel häufiger mit einer .Jung-
frau als mit einer Wittwe vermählen und hat eine Wittwe weit
mehr Aussicht, einen Junggesellen zum Mann zu bekommen als
einen Wittwer. Ferner ergiebt sich,-dass Wittwen auf dem Lande
häufiger als in den Städten von Wittwern erwählt werden, während
der Junggeselle in der Stadt sich eher dazu entschliesst, eine
Wittwe heimzuführen als der auf dem Lande. Die ländlichen
Jungfrauen dagegen scheinen bereitwilliger einem Wittwer zu folgen
als die städtischen. Der Wittwer heiratet überhaupt häufiger auf
dem Lande, vielleicht weil die ländliche Wirthschaft weniger als
die städtische der Stütze einer Hausfrau entbehren kann. Die
erwähnten Unterschiede zwischen Stadt und Land sind in Livland
noch schärfer ausgeprägt als in unserer Provinz.
Betrachten wir jetzt die verschiedenen Combinationen, wie
sie bei den einzelnen Confessionen zu Tage traten. Von je 100
Ehen wurden in den Jahren 1866—84 in Estland geschlossen
zwischen
Junggesellen und Wittwern und
bei den Jungfrauen Wittwen Jungfrauen Wittwen
Protestanten
77*.
14,.,
2„o
Griechen
80,7,
5,32
11*1
u
Katholiken
79,,t
8,7»
Ii*,
0,7,
Juden
75„,
6,#7
8,»i
8,»j.
Am wenigsten Beifall scheinen demnach die griechischen
Wittwen zu finden, während die der Protestanten erst in zweiter
Linie folgen. Gesuchter sind dagegen, und zwar besonders von den
Junggesellen, katholische Wittwen. Die günstigsten Aussichten
auf Verehelichung haben jedenfalls, wie schon erwähnt, die Wittwen
der Juden, da sowol Junggesellen als auch ganz besonders Wittwer
diese als fgute Partie» zu betrachten scheinen. Dass die protestan-
tischen Jungfrauen eher bereit sind, einen Wittwer zu beglücken
als die griechischen, katholischen und jüdischen, wird sich zum
Theil aus dem Frauenüberschuss der ersteren gegenüber dem Frauen-
mangel der letzteren erklären, denn wo ein Frauenüberschuss vor-
handen ist, wird die Jungfrau sich nicht so lange bedenken, einem
Wittwer die Hand zu reichen wie dort, wo ein Frauenmangel
herrscht.
Heiratsalter. Die Ermittelung des mittleren Heirats-
alters für Estland ist bei der mangelhaften Gliederung des Materials
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406
Beiträge zur Bevölkerungsstatistik Estlands.
leider nicht möglich, und wir können nur immer Altersklassen von
fünf zusammengenommenen Jahrgängen betrachten. Aus , dem
Folgenden ergiebt sich die procentuale Betheifigung der einzelnen
Altersklassen für eine längere Reihe von Jahren. In den Jahren
1866—84 heirateten nämlich von 100 Personen im Alter von
Estland
M W.
Land
M. W.
Stadt
M. W.
unter 20 Jahren
21—25
26—30
31—35
36—40 «
41—45 c
46—50
51 u. mehr <
2,91
29,«c
30,00
15,.,
8,31
5, tu
3,s»
4,
1 1
18,,,
43,t,
19„,
8,«o
4„,
2,«i
l»4ü
0,»,
3,jj
81,«i
29,,«
14,,.
7
< ,78
3,ao
4,99
18,,7
45,»9
19, JJ
7,»i
418
1,»
0,
SB
u
18,..
33,4t
22,08
11...
5,97
3,47
3,9«
15,„
33,94
23„,
13,30
7,..
3,9 8
1*1
0,7,.
In dem erwähnten Zeitraum haben also am meisten Männer
auf dem Lande zwischen dem 21. und 25., in den Städten um ein
Quinquennium später geheiratet ; die meisten Frauen sind sowol in
den Städten, als auch auf dem Lande zwischen dem 21. und 25.
Lebensjahre in die Ehe getreten. Dass das mittlere Heiratsalter
auf dem Lande ein weit niedrigeres sein dürfte als in der Stadt,
ist nach den angeführten Ziffern entschieden anzunehmen, also
wieder ein Beweis der besseren ökonomischen Verhältnisse des
flachen Landes gegenüber den Städten.
Bei Betrachtung der einzelnen Confessionen erhalten wir für
Estland folgendes Bild. In demselben Zeitraum heirateten nämlich
von 100 Personen bei den
im Alter
Protestanten
Griechen
Katholiken
Juden
von
M
W.
M.
W.
M.
W.
M.
w.
unter 20 J.
2,93
1 8,, 3
2,48
21,7,
19,08
6,20
48,08
21-25 «
29,,,
43,8o
27,,.
42,,4
22,22
38,10
27„,
38,7«
26—30 «
29,»a
1 9,49
34,3.
19,,7
31,7.
19,08
39,53
6,98
31—35 <
15,,3
8,42
16,87
8.33
20,84
10,32
U..I
3,,o
36-40 c
8,J8
4.4
7,93
4,,7
11,90
7,,.
6,20
41—45 «
5,48
2,8 8
4,7,
2,.,
2,38
3,,7
3,89
2,3,
46-50 «
3,«o
1,39
1,15
2,97
2,18
1 |M
0,77
51 u. m. c
4,-«
0,8.
3,81
0,73
7,,.
0,78
3j,o
Dass
das mittlere
Heiratsalter
bei den Angehörigen
der
einzelnen Confessionen ein sehr verschiedenes ist, geht deutlich aus
der obigen Tabelle hervor. Was zunächst die Männer betrifft, so
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Beiträge zur Bevölkerungsstatistik Estlands. 407
heiraten diese bei den Protestanten etwas früher als bei den
Griechen, während noch nicht 20 Jahre alte Männer bei den Katho-
liken überhaupt nicht getraut sind. Am grösssten ist der Procent-
satz der unter 20 Jahren heiratenden Männer bei den Juden, die
- also früher wirtschaftlich selbständig werden als die anderer
Nationalitäten. Nichts desto weniger wird ihr mittleres Heiratsalter
ein etwas höheres sein als das der Protestanten; ebenso werden
diese im Durchschnitt etwas früher heiraten als die Griechen und
Katholiken, wenn auch bei allen das durchschnittliche Heiratsalter
zwischen dem 26. und 30. Lebensjahr zu suchen sein dürfte. Be-
züglich der Frauen wäre zu bemerken, dass bei den Katholiken,
Griechen und ganz besonders bei den Juden mehr Frauen vor dem
20. Lebensjahre heiraten als bei den Protestanten. Wir sehen aus
den angeführten Ziffern, dass fast die Hälfte aller Jüdinnen in
dem bedenklich frühen Älter von unter 20 Jahren heiratet, woraus
E. von Bergmann« wol mit Recht den Schluss zieht, dass die Zahl
der wiederholten Ehen bei solchen Bevölkerungsgruppen eine sehr
grosse sein muss, da ja bei einem so niedrigen Heiratsalter auch
relativ mehr Ehen durch einen frühzeitigen Tod getrennt werden
und die Verwittweten sich daher in einem jüngeren Alter befinden,
welches ihnen mehr Aussicht auf Wiederverheiratung gewährt. Dass
.dieses Verwittwungsalter der Jüdinnen ein niedrigeres ist, ergiebt
sich auch aus der angeführten Tabelle, denn obgleich gerade ganz
besonders viel jüdische Wittwen in die Ehe treten, wie wir an einer
anderen Stelle sahen, finden wir, dass unter ihnen über 51jährige
Frauen überhaupt nicht und über 45jährige nur sehr wenige ge-
heiratet haben ; die Wittwen müssen demnach jüngeren Alters-
klassen angehört haben. Dass die Höhe des mittleren Heiratsalters
in nicht geringem Umfange die eheliche Fruchtbarkeit beeinflussen
wird, darauf ist in dem betreffenden Abschnitte schon hingewiesen
worden.
Wenn wir, der Hornschen' Eintheilung folgend, die Ehen in
vorzeitige (unter 20 Jahren), frühzeitige (20—25), rechtzeitige
(25—35), nachzeitige (35—50) und verspätete (50 und mehr)
trennen, wobei ich bemerken will, dass es wol richtiger wäre, die
rechtzeitigen Ehen für Frauen schon mit dem 20. Jahre eintreten
zu lassen, so traten in den Jahren L8G6 -84 von 100 Personen in
die Ehe:
~>TI~0. S.88.
■ tBevulkeran^wissinsch. Studien am Belgien». Leipzig 18.r)7. B T, 8. 180ff.
HaltiHche MomWwbrift. Bd. XXXIV. Urft .V 27
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408
Beiträge zur Bevölkerungsstatistik Estlands.
Estland
M. W.
2,91 18,33
29,,0 43,7.
45,m 28,3J
17,3, 9, oi
4,83 0,»»
Land
Stadt
vorzeitig
frühzeitig
rechtzeitig
nachzeitig
verspätet
W.
18,,,
45,»,
26,.*
8,3*
0,5«
M. W.
l,sn 15,9«
18,«« 33,s5
55,», 36,3i
20,», 13,,,
3,9» 0,7 I .
Wahrend also die Männer in unserer Provinz im Durchschnitt
rechtzeitig heiraten, thun die Frauen dieses nur in der Stadt ; auf dem
Lande dagegen treten sie frühzeitiger in die Ehe. Vorzeitige Ehen
sind auf dem Lande sowol bei Männern, als auch bei Frauen häufiger
als in der Stadt, während das Umgekehrte von den nachzeitigen
Ehen gilt, die häufiger von Männern als von Frauen geschlossen
werden. Verspätete Ehen gehen Männer seltener in der Stadt ein
als auf dem Lande ; die Städterinnen treten früher verspätet in die
Ehe als die Bewohnerinnen des flachen Landes.
Ob die einzelnen Confessionen Verschiedenheiten aufweisen,
wird sich aus der nachstehenden Tabelle ergeben. Es traten in
Estland 1866—84
von
100 Personen in
die Ehe
Protestanten
Griechen
Katholiken
Hebräer
M.
W.
M. W.
M. W.
M.
W
vorzeitig 2,, 3
18„3
2,<j 2l,7|
— 19,o»
6,20
48,o« •
frühzeitig 29,»,
43,bo
27,, , 42„,
22,32 38,io
27„,
38,7«
rechtzeitig 45, Jt
28,*,
51,,» 27,3,
52,,, 29,,,
51,,«
10,„.
nachzeitig 17,,,
9,08
15,19 8,03
18,2» 12,6,
U,«,
3,io
verspätet 4,,«;
0,»»
3,81 0,73
7,,« 0,7,
3,,o
Bei den Griechen sowol wie auch bei den Katholiken und
Hebräern tritt mehr als die Hälfte aller heiratenden Männer recht-
zeitig in die Ehe. Was das Heiraten der Frauen betrifft, so zeigen
die Jüdinnen einen bedenklich kleinen Procentantheil an recht-
zeitigen Ehen, was seinen Grund zum Theil in der früher ein-
tretenden Geschlechtsreife der jüdischen Mädchen hat.
Anders erscheinen jedoch die Verhältnisse, wenn wir unserer
Betrachtung die Hoffmannsche« Eintheilung der Ehen zu Grunde
legen. Hoffmann unterscheidet nämlich rechtzeitige Ehen (Männer
unter 45, Frauen unter 30), verspätete (Männer 45—60 und Frauen
30—45) und zur gegenseitigen Unterstützung geschlossene Ehen
(Männer über 60, Frauen über 45). Im Folgenden umfasst die
1 «liebe reicht <1<t Geburten, neuen Ehen und Todesfall«' in den Jahren
1818-41». Berlin 1843. 8. 8.
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Beiträge zur Bevölkerungsstatistik Estlands. 409
letzte Gruppe über 50 Jahr alte Männer und Frauen über 45 Jahre.
Es heirateten nun 1866—84 von 100 Personen
-
rechtzeitig
verspätet
zur gegens. Unterst.
M.
W.
M.
w.
M.
W.
Estland
91,»,
8l„.
3,B»
16,oj
4,g3
U
Land
9l,„
83,6»
3,ao
14„,
4,„
u
Stadt
92,&9
72,,,
3, »7
24,80
3.«
2„.
Protestanten
9U<
81*
3„.
16,.,
l»i
Griechen
93,i i
83,oi
3,o(
14,..
3,»i
2„.
Katholiken
88,1»
76,m
3,»i
20,fjl
7.«
3,1 T
Juden
95,,»
93, <0
u
5,,i
3.io
0,17.
Hiernach sind die von Männern rechtzeitig eingegangenen
Ehen in den Städten, die von Frauen eingegangenen dagegen auf
dem Lande zahlreicher. Gerade das Entgegengesetzte gilt sowol von
den verspäteten, als auch von den zur gegenseitigen Unterstützung
geschlossenen Ehen. Ferner ergiebt sich bei dieser Gruppirung,
dass weit mehr Frauen als Männer verspätet in die Ehe treten.
Am meisten rechtzeitige Heiraten kommen bei den Juden zu Stande,
am wenigsten bei den Katholiken. Die Protestanten heiraten
häufiger verspätet als die Griechen, am häufigsten aber die Katho-
liken und am seltensten die Juden. Unterstützungsehen sind am
zahlreichsten bei den Katholiken, am seltensten bei den Juden ; die
protestantischen Männer heiraten häufiger als die griechischen zur
gegenseitigen Unterstützung, während sich das Gegentheil von den
Frauen sagen lässt.
Leider ist die Gliederung des Materials nicht weitgehend
genug, um eine Betrachtung sowol der monströsen, als auch der
perversen Ehen vornehmen zu können ; bei diesen letzteren tritt
ja der volkswirtschaftliche Zweck der Ehe völlig in den Hinter-
grund und wäre daher die Ermittelung der Häufigkeit ihres Auf-
tretens von nicht geringer Wichtigkeit für die richtige Beurtheilnng
der Heiratsverhältnisse unserer Provinz.
Vertheilung der Trauungen nach Monaten.
Die ungleichmässige Vertheilung der Trauungen in einem Lande
auf die einzelnen Monate des Jahres wird sowol durch religiöse
Satzungen als durch ökonomische Momente, vielleicht auch durch
klimatische Einflüsse — wie Oeningen1 meint — bedingt. Dieser
' n. a. O. S. 115.
'J7*
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410 Beiträge zur Bevölkerungsstatistik Estlands.
Einfluss kirchlicher Gebräuche und wirtschaftlicher Factoren lässt
sich auch vollständig durch die für Estland berechneten Ziffern er-
klären, während ein Nachweis für die Einwirkung physischer
Momente in unserem Lande nicht geführt werden kann. Es ent-
fielen nämlich in den Jahren 1866—84 von sämmtlichen Ehe-
schliessungen auf deu
Monat
Estland
Land
Stadt
Januar
3459,,.
2908,07
551*i
Februar
6576,43
5736,4s
840,0„
März
6622,2.
6085,,,
537,io
April
6120,oo
5458,oo
662,oo
Mai
4637,7,
3950,„
687,,o
Juni
3871,oo
327i,o.
600,oo
Juli
I483ll5
957,, o
526,.9
August
1233..T
732,5,
501,,,
September
1708„o
1000,oo
708,oo
October
2562,.,
1765,,,
797,4,
November
3884,oo
3l96,oo
688,00
December
6297,,,
5788,07
509,0,
Die Monate sind alle, wie ich vorausschicken muss, sowol
hier wie auch im Folgenden auf 30 Tage reducirt. Wenn wir
zunächst das flache Land berücksichtigen, so fällt das Maximum
der Eheschliessungen auf den März, was sich auf wirthschattliche
Verhältnisse unserer Landbevölkerung zurückführen lässt. Da der
Landmann, sobald die Feldarbeiten einmal begonnen haben, nur
mit grossem Zeitaufwande, also mit Verlust für seine Wirthschaft,
die Hochzeitsfeier — die doch in der Regel einige Tage in An-
spruch nimmt — ausführen kann, so benutzt er eben die letzten
Monate vor Beginn der Landarbeit zur Gründung seines neuen
Hausstandes, wozu gewiss auch der Wunsch beitragen mag, für
die beginnenden Arbeiten mit dem Weibe eine neue Arbeitskraft
in die Wirthschaft zu bringen. Vom März nimmt die Zahl der
Eheschliessungen ab, die Saatarbeiten haben begonnen, es folgt die
Heuzeit und die Erntezeit, die Anforderungen an die Arbeitskraft
erreichen im August ihren Höhepunkt, die ganze Thätigkeit des
Landmannes wird in Anspruch genommen und sinkt daher die Zahl
der Trauungen auf ihren minimalsten Stand. Kaum ist die schwerste
Arbeitszeit überstanden, so beginnt auch schon mit dem September
ein Ansteigen der Eheschliessungen, deren Zahl jetzt, wo die
Ernten eingebracht und der Bauer in besseren ökonomischen Ver-
Digitized by Google
Beiträge zur Bevölkerungsstatistik Estlands. 411
hältnissen lebt, von Monat zu Monat zunimmt, um im December
das zweite Maximum aufzuweisen. Darauf macht sich zum Januar
ein plötzliches und sehr starkes Fallen der Trauungszahl bemerk-
bar, die vielleicht darauf zurückzuführen ist, dass der Januarmonat
mit den verschiedenen Arbeiten, die noch vor Beginn des Frühjahrs
ausgeführt werden müssen, wie Fuhren &c, dem Laudmanne nicht
die Zeit, gewährt zu heiraten, worauf es ihm vielleicht auch gar
nicht ankommt, da er für die Gehilfin erst im Frühjahr nutz-
bringende Verwendung findet. Dass die Märkte, worauf Stieda« Ge-
wicht legt, im Januar durch Inanspruchnahme der geschäftlichen
Thätigkeit des Bauern dazu beigetragen hätten, die Zahl der Ehe-
schliessungen zu vermindern, mag wol möglich sein, da auf diesen
Monat allerdings mehrere Märkte fallen (Rosenthal Hapsal, Lohde,
Keblas und Wesenberg, ferner ein livländischer Markt, der vielfach
von unseren Landleuten besucht wird, nämlich Pernau). Auch die
vorhergehende Festzeit mit den grösseren Ausgaben wird vielleicht
hemmend auf das Eingehen von Ehen im Januar gewirkt haben.
Im Februar erreicht die Zahl der Eheschliessungen schon fast die
Höhe des Decembermaximums.
Während auf dem Lande durchaus den wirtschaftlichen Ver-
hältnissen der massgebende Einfluss zuzuschreiben ist, tritt dieser
in den Städten völlig zurück. Wir sehen hier zunächst das Maximum
der Eheschliessungen auf den Februar fallen, im März ihre Zahl
durch das gänzliche Fehlen von Heiraten bei den Griechen sinken.
Das Frühjahrsmaximum wird in den Städten wol auf Sitte und
Herkommen, auf religiöse Gebräuche zurückzuführen sein, während
die Zunahme der Trauungen in den folgenden Monaten möglicher-
weise auf physische Factoren zurückzuführen ist. Mit dem Juni
beginnen die Heiraten seltener zu werden und erreichen im August
ihr absolutes Minimum. Der Hauptgrund für die geringe Zahl der
Eheschliessungen im Sommer wird wol darin zu suchen sein, dass
das Familienleben im Sommer überhaupt ein minder reges in den
Städten ist ; vielfach wird der Sommer zum Aufenthalt auf dem
Lande ausgenutzt und die Feier der Hochzeit bis zur Rückkehr
der Familien zur Stadt, also auf die Herbstmonate verschoben.
Den arbeitenden Klassen fehlt durch ihre grössere Beschäftigung,
durch lebhafteren Handelsverkehr, Bauten oder Uebernahme von
Landarbeiten für den Sommer die Zeit zum Heiraten. Im Herbst,
■ a. a. 0. S. 24.
412 Beiträge zur Bevölkerungsstatistik Estlands.
wo alle diese Hindernisse fortfallen, steigt daher die Zahl der Ehe-
schliessungen, fällt darauf wieder zum December, wo ein zweites
Minimum bemerkbar ist, das durch die Festzeit und den damit für
den einzelnen Hausstand verbundeneu grösseren Aufwand veranlasst
wird, wobei auch hier der Sitte eine nicht zu unterschätzende Ein-
wirkung eingeräumt werden mag. Dass überhaupt gesellschaftliche
Eigentümlichkeiten die ökonomischen Einflüsse in den Städten zu
verdrängen im Stande sind, dürfte sich deutlich aus den angeführten
Zahlenreihen ergeben.
Bei den einzelnen Confessionen gilt das von der ländlichen
Bevölkerung Gesagte im vollen Umfange auch von den Protestanten,
die ja die Hauptgruppe der Landbewohner bilden ; sie sind also
bezüglich des Moments der Eheschliessung in erster Linie wirth-
schaftlichen Einflüssen unterworfen, während die übrigen Confessionen
sich hierbei mehr von religiösen Gesichtspunkten leiten lassen. Es
entfielen nämlich 1806—84 von sämmtlichen Eheschliessungeu iu
Estland bei den
den Monat
Protestanten
Griechen
Katholiken
Juden
Januar
3038,, ,
400,6.
12,..
ll„.
Februar
6271,,,
28 U
11,,»
März
6609>ea
2,0.
9,«»
April
5983,110
127,ou
7,00
3,0«
Mai
4480,«.
140,,,
7.,.
8,,i
Juni
Sit 3, DU
71,„o
13,00
14,.0
Juli
1319,oS
187,.,
14,63
11,«,
August
1135,u
74,.,
9,ö8
14*,
September
1577,„o
1 12,oo
1 1,00
8,ou
October
2394,30
138,,.
11,..
18,,.
November
3698,ü0
160)Oo
19,1,0
7,00
December
6282,..
3,»,
10,...
Bei den Griechen tritt das Maximum der Eheschliessungen
im Januar ein, weil vielfach Trauungen, die im December der
Adventsfasten wegen nicht vollzogen werden konnten, auf den
Jauuar verschoben wurden. Diese Anhäufung der Ehen ist ver-
ständlich, wenn man bedenkt, dass die Weihnachtsfasten eben be-
endigt, von Weihnachten bis zum 6. Januar keine Trauungen voll-
zogen werden dürfen und die Quadragesimalfasten im Anzüge sind.
Im März, als dem eigentlichen Fastenmonat, sind in den beob-
achteten 24 Jahren keine Paare getraut worden. Im Juni und
August, auf welche Monate die mehr wöchentlichen Apostel- und
Beiträge zur Bevölkerungsstatistik Estlands.
413
Mariä-Hinimelsfahrtsfasten fallen, werden nur wenige Ehen ge-
schlossen. Dass im December wie im März keine Heiraten statt-
finden, ergiebt sich aus den erwähnten Adventsfasten, die bis zum
Weihuachtsfest reichen.
Wie von der griechischen, so ist es auch von der katholischen
Kirche nicht gestattet, Ehen während der Fastenzeit vorzunehmen.
Nichts desto weniger setzt sich das religiöse Gefühl des Katholiken
eher über diese kirchliche Satzung hinweg als das des Griechen,
denn wenn auch nur wenige, so sind doch eben einige katholische
Paare in den Fastenmonaten, d. h. im März und December, den
einzigen längeren Fasten der Katholiken, getraut worden. Das
Minimum der Trauungen fällt bei ihnen auf den März, das Maximum
auf den Juli. Die Judeu heiraten am häufigsten, wie ersichtlich,
im October, am seltensten dagegen im April, d. h. zur Zeit des
Passahfestes.
Bei einer Vertheilung der Eheschliessungen nach Jahreszeiten
wäre zunächst die Frage zu entscheiden, ob man sich der von
Wappäus oder der von Oettingen befolgten Eintheilungsmethode
zu bedienen hätte ; in dem ersten Falle müsste man den December
zum Winter, im zweiten dagegen zum Herbst rechnen. Mir scheint
die von Wappäus befolgte Methode — besonders für unsere Pro-
vinzen — die richtigere zu sein, da diese auf die factischen klima-
tischen Verhältnisse mehr Rücksicht nimmt, denn dass der December
mit grösserem Recht als der März zum Winter, dass der Juni
richtiger zum Sommer zu zählen ist als der September &c, unter-
liegt wol keinem Zweifel. Nichts desto weniger will ich im Folgen-
den die absolute Zahl der Eheschliessungen für die einzelnen
Jahreszeiten nach beiden Eintheilungen anführen, um zu zeigen,
wie ganz anders die Verhältnisse in beiden Fällen sicli gestalten.
Es entfielen nämlich von sämmtlichen Eheschliessungen in den
Jahren 1866-84 auf Land Stadt
Januar— März
April— Juui
Juli— September
October — December
14647
12811
2746
11001
1909
1972
1770
2038.
Oder :
December— Februar
März— Mai
Juni— August
September— Nov.
14340
15828
5017
6020
1880
1927
1662
2220.
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414
Beiträge zur Bevölkerungsstatistik Estlands.
In dem ersten Fall finden wir auf dem Lande das Heirats-
maximum im Winter, im anderen im Frühling. Ferner sind nach
der zweiten Tabelle die Differenzen zwischen Winter und Frühjahr
einerseits und zwischen Sommer und Herbst andererseits bedeutend
geringer als nach der ersten. In den Städten fällt in beiden
Tabellen das Maximum auf den Herbst, und ist es bemerkenswert h ,
dass hier die Unterschiede zwischen Winter und Frühling auf der
einen und Sommer und Herbst auf der anderen Seite gerade in
der zweiten Tabelle grösser sind als in der ersten. Ueberhaupt
ist aber, wie wir sehen, die Vertheilung der Heiraten auf die
einzelnen Jahreszeiten in der Stadt eine weit gleichmässigere als
auf dem Lande, und scheint es, als ob die socialen Factoren nicht
so starke Schwankungen hervorzubringen im Stande wären, wie
die rein wirtschaftlichen».
1 Im enteil Theil dieser Arbeit ist Heil 3, p. 246, 247, 248, 251 statt
Düring D ü h i n g zu lesen.
J. Nieländer.
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Revals Garnisonsfreiheit
im Conflicte mit der schwedischen Regierung.
(1658—1660.)
as den unerquicklichen Mishelligkeiten, welche zwischen
Bstland und Gustav Adolf in den letzten Jahren seiner
Regierung obgewaltet1, hat sich schliesslich doch die Klärung einer
Angelegenheit ergeben, die für Reval als ein Gewinn bezeichnet
werden konnte, wenn auch nur als ein Gewinn, der nicht ohne Opfer
zu erlangen war. Mittelst königlicher Declaration vom 5. Mai 1629
wurde nämlich Reval — von der Erhaltung der Stadtwälle und
Mauern und von der Verteidigung derselben im Kriegsfalle abge-
sehen — von allen anderen Kriegsauflagen befreit, musste aber
dafür die Beibehaltung des halben Zolls zu Gunsten der Krone in
den Kauf nehmen. Diese Befreiung sollte nun nicht etwa so viel
heissen, dass Reval für militärische Zwecke fortan nichts mehr zu
leisten habe — denn, wie schon bemerkt, blieb mit der Selbst-
verwaltung auch das Recht und die Pflicht der Selbstverteidigung
bestehen; nur sollte die Krone nicht mehr das Recht haben, von
der Stadt Leistungen irgend welcher Art, mochten sie nun in natura
oder in Zahlungen bestehen, zu beanspruchen, die der Krone un-
mittelbar für ihre Kriegszwecke zu gute kämen. Zu diesen Leistungen
gehörte auch die Einquartierung königlicher Truppen ; seit 1629
1 W. Greiffenhagen, Heimische Conflicte mit Gustav Adolph, Beiträge zur
Kunde Ehst-, Liv- und Kurlands. Bd. III, S. 1. Reval 1882.
416
Revals Garnisonsfreiheit.
stand es also fest, dass Reval zur Aufnahme solcher nicht ver-
pflichtet sei. Doch sollte, wie wir sehen werden, sein Recht
darauf nicht auf allzu lange Zeit unbestritten bleiben Kaum
dreissig Jahre später wurde es die Veranlassung zu einem heftigen
Conflicte, der, wenn auch ohne tiefer gehende Spuren zu hinterlassen,
anziehende Streiflichter auf die ganze innere und äussere politische
Lage jener Zeit wirft.
Eine Vorbemerkung über das Unhaltbare des durch die citirte
königl. Declaration geschaffenen Zustandes selbst wird gestattet sein.
Krone und Stadt theilten sich in die Verteidigungs p f 1 i c h t ,
damit also auch in das Verteidigungs recht. Mit dem Zuge-
ständnisse, dass die Stadt keine Garnison in ihre Mauern mehr
aufzunehmen verpflichtet sei, verzichtete die Krone auf das Recht,
nöthigenfalls die Verteidigung der Stadt selbst in die Hand zu
nehmen. Ein solcher Pact widerstritt schon zu Zeiten Gustav
Adolfs, geschweige denn später, der gänzlich veränderten Krieg-
führung Was zu Zeiten der grossen Belagerungen Revals im
16. Jahrhundert möglich war, den Angriff eines weit überlegenen
Feindes mit den Verteidigungsmitteln des Mittelalters zurückzu-
schlagen, das konnte fast achtzig Jahre später kaum mehr gelingen.
In dieser veränderten Lage der ganzen Kriegführung und ihrer
Mittel haben wir den Grund dafür zu suchen, dass die königlich
gewährleistete Befreiung Revals von der Garnisonspflicht im ent-
scheidenden Augenblicke nicht aufrecht erhalten werden konnte
und, da man städtischersei ts auf seinem Rechte bestand, zu einem
Conflicte führen musste.
In den gewaltigen Kämpfen, welche Karl Gustav von Schweden
während seiner ganzen Regierungszeit gegen Dänemark, Polen und
Russland, zu Zeiten gar auch gegen Holland und England zu be-
stehen hatte, blieb Estland verhältnismässig verschont. Nur an
seinen Grenzen, und zwar im Osten diesseits der Narowa und des
Peipus und im Süden über Dorpat hinaus, fanden verheerende Ein-
fälle der Russen statt, die sich zwar wiederholten, aber weder die
Folge von auf estländischem Gebiete ausgefochtenen Kämpfen, noch
überhaupt von längerer Dauer waren. Im Vergleich zu dem, was
Livland und namentlich die Städte Riga und Dorpat durch einen
mehrjährigen, nur selten unterbrochenen Krieg an der Düna, der
Ewst, dem Embach und der Pernau zu erdulden gehabt, waren
jene Einfälle kaum von Belang. Dennoch trat die Forderung der
Kriegsbereitschaft auch an Estland und besonders an Reval von
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Revals Garnisonsfreiheit.
417
Zeit zu Zeit recht dringlich heran. Schwedens tollkühnes Beginnen,
mit den mächtigsten Nachbarstaaten jener Zeit, Polen und Däne-
mark, gleichzeitig anzubinden nnd dabei stets der Gefahr ausge-
setzt zu sein, in Russland einen dritten mächtigen Gegner zu
finden, zwang die schwedische Kriegsleitung, alle vorhandenen
Streitkräfte meist im Westen und Süden zur Verwendung zu
bringen. Die Folge davon war, dass Estland und speciell Reval
von Truppen ganz entblösst wurden. Und als nun schon im Jahre
1656 die ersten Einfälle der Russen an der Narowa stattfanden
und etwa ein Jahr später Dorpat gefallen war, da wurde die Ge-
fahr für Estland eine dringende. Der Adel musste mit eigenen
Kräften ins Feld rücken und Reval wurde ernstlich gemahnt, auf
seiner Hut zu sein. So erging im Jahre 1656 ein vom 16. April
aus Riga datirtes Schreiben des Grafen Magnus de la Gardie an
die Städte Pernau und Reval, in welchem sie aufgefordert wurden,
ihre Festungswerke unter Anleitung und Aufsicht des General-
quartiermeisters Georg v. Borchardt ungesäumt in guten Stand zu
setzen. Wie Gadebusch meldet, befanden sich damals die Festungs-
werke dieser und anderer baltischer Städte in schlechtem Zustande
und mussten damals alle, Bürger und Fremde, Adelige und Un-
adelige, Knechte und Mägde, Menschen und Thiere schanzen, um
plötzlichen Anläufen gegenüber verteidiguugsfähig dazustehen. Das
Jahr 1657 verlief bekanntlich, so weit es sich um eine Betheiliguug
Russlands am Kriege handelte, einigermassen ruhig. Scheinbar
wurde am Friedenswerke gearbeitet, in der That aber wurde
russischerseits der Krieg vorbereitet. Gegen Ende des Jahres
traten unverkennbare Anzeichen dessen zu Tage und daraus er-
wuchs für Schweden von neuem die Sorge, auch Estland zu schützen.
Magnus de la Gardie, der unermüdliche Mann, wo es galt, der
drohenden Gefahr, sei es nun im Felde mit den Waffen in der
Hand oder fern vou ihm mit Mahnungen und Rathschlägen, zu be-
gegnen, hat zu Beginn des Jahres 1658 in Veranlassung jener
Anzeichen ein Schreiben an den reval sehen Rath gerichtet, in
welchem er unter Beifügung eines besonderen Memorials für das
Fortifications wesen, sowie eines Verzeichnisses von Specialpunkten
über alles das, was er im Interesse ausreichender Verteidigungs-
fähigkeit von der Stadt begehrt, dieselbe aulfordert, sich schriftlich
darauf zu erklären und Delegirte für eine commissionelle Erledigung
dieser Angelegenheit zu ernennen. Aus den Specialpunkten sei
hier hervorgehoben, dass von der Stadt erwartet wurde : die Auf-
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418
Revals Garnisonsfreiheit.
nähme einer königlichen Garnison, die Beschaffung von Ammunition
und Faschinen, die Lieferung von Stahl, Eisen, Hanf und Heede,
Theer, Aexten, Beilen, Piken, Nägeln und anderen benöthigten
Sachen gegen Ausstellung von Schuldverschreibungen der Krone und
die Beschaffung von Baannitteln gegen gleiche Verschreibungeu.
Rücksichtlich des ersten der genannten Punkte liegt ein besonderes
Schreiben des Grafen vom selben Tage (14. Januar) vor, in welchem
es heisst, die Aufnahme der Garnison werde nur für den Fall
äusserster Noth begehrt und solle den Freiheiten und Privilegien
der Stadt, d. h. also der Garnisonsfreiheit, in keiner Weise prä-
judiciren. Das Begleitschreiben zu den beiden Memo Halen verdient
besonders um der politischen Nachrichten willen, welche ein so
einflussreicher und weitblickender Mann wie Magnus de la Gardie
in demselben giebt, die vollständige Mittheilung1.
<Obzwar der muscovitische Feind die Zeit hero einige An-
zeigungen zu einem Frieden geben lassen, wie denn der von den
königl. Herren Legaten aus der Moschau abgefertigte Hofjuuker
Conrad von Barner dergleichen berichtet ; so hat man doch alsbald
bei dessen Ankunft all Iiier von des Zaren starken Präparatorien ge-
wisse Nachricht erhalten, als es auch die kgl. Herren Legaten von
dar vermeldet haben, und zwar dergestalt, dass der Zar gegen den
6. December verlaufenen 1(357. Jahres in seinem Lande einen
starken Aufbot ergehen und eine grosse Force zusammenziehen
lassen. Nun ob man zwar annoch nicht eigentlich wissen kann,
wo diese seine zusammengezogene Macht hin gerichtet sei, da es
vielleicht Polen der Ursachen gelten dürfte, weil der Zar sowol
des Hauses Oesterreichs als derer Polen Dissimulationes und listige
Praticquen zur Genüge in dem verspüret hat, dass er wegen ge-
machter Hoffnung zur polnischen Krone ziemlich illudiret worden
ist ; weil demnach aber in Ingermanland die russische Parteien
nach gegebener Anzeigung eines friedliebenden Gemüths dennoch
eingefallen zu unterschiedlichen Malen, alles ausgehauen und ein-
geäschert, der Hr. Generalgouverneur daselbst, Hr. Christer Horn,
auch berichtet, dass man sich eines feindlichen Ueberzugs gewiss
zu befürchten hätte und gemeiniglich der Russen Actiones dahin
1 Bei der Wiedergabe der Text« ist das von den Herausgebern der «Ur-
kunden und Actenstücke zur Geschichte des grossen Kurfürsten und der «Publi-
cationen aus den Preussischen Staatsarchiven» eingeschlagene Verfahren befolgt :
die grammatischen und etymologischen Eigentümlichkeiten sind beibehalten,
die orthographischen beseitigt worden. D. Red.
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Revals Gamisonsfreiheit.
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gehen, dass, wenn sie Friede im Munde führen, sie nur auf Krieg
und Blutvergiessen gedenken, wozu der Zar durch Instigation der
Krön Dänemark möchte animiret sein, um I. königl Maj. von
dero Progressen gegen solche Krön so kräftig ab zu divertiren ;
als wird billig das Rathsamste und Nöthigste sein, dass man diesen
Feind nach dessen bisher von allen Zeiten gethanen Actionen judicire
und die Muthmassung daraus mache, dass seine zusammengezogene
Macht gegen keinen anderen als gegen diese Oerter angesehen sei
und also bei Zeiten, ehe die höchste Gefahr und Noth eingebrochen,
auf eine allgemeine Gegenverfassung und unser aller Selbsterhaltung
gedenke. — Es kann E. E. hochw. Rath nicht unentsunken sein,
wie die Zeithero I. kgl. Maj., unser allerseits gnädigster König
und Herr, von Seiner Armee und fast von dem Herzen ein gut
Theil der Militie gerissen und zum Secours anhero geschicket,
dasselbe aber von der schweren Seuche aufgerieben worden, hat es
der gerechte Zorn Gottes und die Hand des Herrn gethan und
unsere Sünden gar wohl verdienet. Es hat aber hiebei E. E. hochw.
Rath ganz nicht zu zweifeln, dass I. kgl. Maj. ferner dero allgemeine
landesväterliche Vorsorge für sie und die ganze Stadt ganz gnädigst
trage und mit erwünschter Hilfe diesen bedruckten und ganz ge-
horsamsten Orte zu Hilfe zu kommen in königl. Regard nimmt,
wenn sowol itzo einen Secours zu schicken es die ungelegene
Winterzeit nicht verbietete, als auch der Zustand der Krön, welche
mit so vielen Feinden ringsum engagiret ist, füglich zulassen wollte.
I kgl. Maj. sparen keinen Fleiss in dem nicht, dass Sie mit einem
oder dem anderen sich vergleichen und einen erwünschten Frieden
abhandeln mögen. Wie denn zu den dänischen Tractaten allbereits
einige Reichsräthe, als der Hr. Reichstruchs, Hr. Schering Rosen-
han und Hr. Christer Bonde, deputirt sind ; auch die polnische
Friedenscomposition in so weit incaminiret ist, dass anitzo zu
Bromberg und Thorn dieselbe unter der Direction des Hrn. Generalis-
simi fürstl. Durchl. befördert werden soll. Wie wir denn auch
hie an diesen Orten, so bald als uns nur die Hoffnung zu einem
Stillestand mit den Russen augebracht worden ist, nichts in dem,
was die Ruhe und Frieden allhier auch bei der Stadt Reval zu-
wege bringen möchte, ermangeln und alsbald um ferneren und
eigentlichen Vergleich eines gewissen Stillestands an die Woiwoden
nach Nougarden, Pleskau und Dorpt schreiben lassen, wie es
I. kgl. Maj. allergnädigster Wille und ernstlicher Befehl auch
solches zu beobachten und zu thnn imponirt hat. Dass aber die
420
Revals Garnisonsfreiheit.
vielfaltige, gegen I. kgl. Maj. und die hochlöbl. Krön aufgeworfenen
Feinde sich noch nicht zu einigen Friedensgedanken lenken und
dadurch unseren Zustand schwerer machen wollen, so müssen wir
auf unserer Seite desto wach- und behutsamer gehen und dergestalt
die Actiones in einer allgemeinen Verfassung einrichten, damit
gleichwol auf allem Fall bei einer oder der anderen feindlichen
Attaque der Stadt eine männliche und tapfere Gegenwehr von
E E. hochw. Rath und der gesammten Bürgerschaft als I. kgl. Maj.
getreuwen Unterthanen geschehen möge. Wie ich nun von der
ersten Zeit an des muskowitischen Kriegesstreichs eine dergleichen
allgemeine Verfassung bei diesem Herzogthum Estland ersuchet
und schriftlich die Proposition gethan, als habe ich solches nicht
allein, als ich bei Dörpt mit der königl. Armee gestanden, wiederum
gereget, sondern auch bei meinem Zurückmarsch aus der Moschau
wiederholen, endlich auch durch öffentliche Patenta, sowie aus
dem Feldlager bei Hirwen, als von Hapsal sowol zu der Stadt als
zu des ganzen Herzogthums Estland Besten, intimiren und also
diese Provinz und Stadt nebenst dero Eingesessenen Von einem
vermerkten Untergang durch einhellige Macht retten wollen. Wie
ich denn Selbsten keine Mühe, Reisen, noch Gefahr gesparet, sondern
mich mit den noch wenigen Truppen jederzeit in der Campanie
gehalten und, so viel möglich gewesen, sowol von einer Seiten auf der
Russen, als von der anderen auf der Littawer Dessinsr Acht geben,
und diese letztere auch bei der Pernauschen Belagerung selbst
durch starke Parteien incommodiren lassen. Nunmehr, da der
barbarische Feind vermuthlich auch seine Tyrannei gegen diese
Stadt zu verüben im Herzen beschlossen und mit ehestem dies sein
blutdurstiges Beginnen zu eftectuiren suchen mag, als wird E. E.
hochw. Rath und die gesammte Bürgerschaft sich der alten In-
ländischen Treu und Tapferkeit, und was sie vordem schon einmal
bei dieses moschowitischen Feiudes vorgenommenen schweren Attaque
zu derer allerseits währendem Ruhm prästiret haben, erinnern und
derer Vorfahren löblichen Exempel nach einen so crudelen und
barbarischen Feind mit unerschrockenem Muth und vordem schon
bezeigter tapferer Resolution zu begegnen, und also zu Defension
der Vaterstadt ihren allgemeinen Rath und Hilfe mitzugeben nicht
unterlassen, da E. E. hochw. Rath und die gesammte Bürgerschaft
leicht schliessen kann, wenn diese Hauptfestung und Mutter des
Landes periclitiren sollte, das doch der Höchste gnädigst verhüten
wolle, in was für Noth und Elend sowol sie allerseits selbst mit
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Revals Garnisonsfreiheit.
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den ihrigen, als denn auch das ganze Herzogthum gestürzet wurde.
Wie sonsteu E. E. hochw. Rath sich gewiss versichern kann, dass
I. kgl. Maj., mein allergnädigster König und Herr, dieses, was zu
derer aller gedeihlichen Aufnahme durch die uralte erlangte kgl.
Indulten und Privilegien gereichen mag, in genaue Consideration
nehmen und aus königl. Hulde und Clemenz für deren Städte als
ganzer Communs Wohlfahrt grosse Vorsorge tragen lassen, das
besonders die Zeitjiero für die Stadt Reval geschehen, da gegen
I kgl. Maj. auch E. E. hochw. Rath nebeust der gesammten Bürger-
schaft durch dero allergehorsamste Treu ganz devot sich bewiesen :
als wird E. E. hochw. Rath vernünftig schliessen, dass I. kgl. Maj.
allgemeiner Stadtsvorsorge nicht zuwider, noch der Stadt Privilegien
einiger Eindrang geschehe, wenn bei diesen schweren Zeiten ein
und das andere Mittel möchte zu aller unser Rettung ergriffen
werden, dazu uns die allgemeine Notli besonders in Manutenirung
dieser Hauptfestung treiben wollte. Denn gegen einen so mächti-
gen Feind nunmehr mit denen wenigen Truppen das platte Laud
zu manuteniren will es die eigentliche Unmöglichkeit sein, ob man
gleich das Aeusserste dabei thun wollte, dass also nichts mehr
übrig blieb, als dass man in Manutenirung dieses Orts die Salva-
tion dieses Fürstenthums Völker, dero Land- und Stadtsglieder
suche. Dannenhero erheischenden Nothdurft nach unter der Dis-
position des königl. Hrn. Gouverneuren ein Memorial einliegend
abgeschicket und was bei dieser Stadt Reval Defension gegen
einen feindlichen Anfall annoch desideriret werden möchte, kürzlich
deduciret worden, welches denn zu E. E. hochw. Rathes Berat-
schlagung hiemit übergeben, zugleich aber derselbe um eine schrift-
liche Resolution darüber auszufertigen ganz freundlich ersuchet
wird. Wobei E. E. hochw. Rath des gewissen Vertrauens zu meiner
Person leben kann, ob von I. kgl. Maj. mir zwar nun die generalis
Cura concreditiret ist und ich weder an diesem noch an einem
anderen Orte verbunden bin, dass ich demnach meiner Vaterstadt
bei ihnen allerseits zu I. kgl. Maj. und der Krön Schweden treue
Dienste, alles und besonders dasjenige, was mir hierin der höchste
Gott gegeben hat, hie wieder aufsetzen will, da ich nur hierbei
von E. E. hochw. Rathe dergestalt und in der That versichert bin,
als ich daran ganz nicht zweifele, dass sie auch das Ihrige hierbei
thun, und in der treuesten Devotion gegen I. kgl. Maj. wider diesen
barbarischen Feind bis auf den letzten Blutstropfen verharren
wollen, wozu ich im Namen I. kgl Maj. selbe hiemit annoch will
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Revals Garnisonsfreiheit.
ermahnet, im übrigen aber auf das eingelegte Memorial eine schrift-
liche Resolution zu erwarten habe.
Magnus Gabriel Delagardie.»
(Familiensiegel.)
Schon am 30. Januar erfolgte die Antwort des Raths und
der Bürgerschaft. Im wesentlichen erklaren sie sich, so weit die
Möglichkeit der Erfüllung vorhanden, mit allem einverstanden. Nur
wegen Lieferung der verschiedenen zur Ausführung der Befestigung
und Verstärkung der Kriegsmittel erforderlichen Materialien wird
ein directes Contrahiren der Krone mit den Lieferanten empfohlen;
auch die Aufbringung von Baarmitteln habe ihre grosse Schwierig-
keit, da sich in so unsicherer Zeit kaum jemand zum Besitze von
Capitalien bekennen würde. Die Garnisonsfrage wird nur leicht
gestreift : für einen Theii der Truppen sei schon gesorgt ; für den
Rest werde, sobald es die Noth verlange, in den Gildehäusern, dem
Gymnasium und den übrigen Schulen, sowie auf den grossen Plätzen
Raum angewiesen werden können, indessen dies alles nur in der
Voraussetzung, dass die Gerechtsame der Stadt dabei nicht in
Frage gestellt würden nnd die Stadt von der Krone eine sog.
Assecuration, eine schriftliche Zusicherung ihrer Garnisonsfreiheit
erhalte. Die Deputirten zu den Commissionsverhandlungen sollten
so bald erforderlich ernannt werden.
Die einleitenden Verhandlungen über die von der Krone be-
anspruchten Hilfleistungen seitens der Stadt, unter ihnen auch über
die Aufnahme einer Garnison, gestalteten sich also in ganz günsti-
ger Weise. Namentlich ist auch der Ton, in dem die Vertreter
beider Theile schriftlich mit einander verkehren, ein denkbarst
friedlicher und zuvorkommender. Das änderte sich leider bald
in Folge von Vorgängen, die theils mit den wechselvollen Ge-
staltungen des Krieges in Verbindung standen, theils auf die
principiell verschiedene Auffassung der städtischen Freiheiten zurück-
zuführen sind. Aus jenem ersten Stadium besitzen wir ein Schreiben
de la Gardies an den Rath, in welchem er sich, nachdem er vom
Könige den ehrenvollen Auftrag erhalten, die Friedensverhandlungen
mit Polen au der Spitze einer schwedischen Legatiou in die Hand
zu nehmen, vom Rathe verabschiedet. Das Schreiben legt ein so
rühmliches Zeugnis ab sowol für die trefflichen Gesinnungen des
Vertreters der Krone, als für den Werth und die Bedeutung, welche
er zunächst Reval, dann aber auch ganz Livland beimisst, dass
man auch jetzt, nach über 200 Jahren, nur mit Genugthuung und
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Revals Garnisonsfreiheit.
423
Wohlgefallen der Stimme der Gerechtigkeit und des mathvollen
Vertrauens sein Ohr leiht. Das Schreiben trägt ausser der Jahres-
zahl nur das Monatsdatum Februar und befindet sich im hiesigen
Archive nur in 2 Abschriften.
Dasselbe lautet :
«Wohledle, Feste, Hoch- und Wohlgelehrte, wie auch Hoch- und
Wohlweise, sonders hochgeehrte Herren und Freunde.
Es haben I. K. M., mein allergnädigster König und Herr,
mir durch neulich erhaltene Schreiben allergnädigst Befehl ertheilet,
weil allbereit die polnische Friedenstractaten incamminiret wären,
dass ich mich dabei einfinden und nebenst andern denen darzu
Deputirten dies heilsame Friedenswerk als Caput legationis mit be-
fördern sollte. Wie nun I. K. M. allergnädigsten Befehl unter-
thänigst zu gehorsamen ich mich mit ehistem von hier ab nach
Oesel begeben und ferner zusehen lassen werde, ob ich über Eis
bei diesem harten Winter nach Churland und Preussen zu gehen
könne , um in diesen I. K. M. und Dero Krön so importirenden
Negotio nichts abzusäumen : als habe diesen an mich ergangenen
allergnädigsten Befehl meinen hochgeehrten Herren notificiren und
meine Abreise ihnen kund machen wollen. — Wie ich mit allen
Kräften und so viel immer möglich gewesen nun ins dritte Jahr
gesuchet habe, diese Länder bei meinen geführten Gouverno von
dem gedräuten Untergange zu erretten, wozu denn allein die All-
macht des Allerhöchsten bei der Menge der starken und grossen
Feinde, die sich an dies kleine Häuflein machen und ganz es ver-
tilgen wollen, sein Gedeiheu gegeben, dass es dennoch mit uns
noch nicht ganz ausgemacht worden ist : als verwünsche ich meinen
hochgeehrten Herren allerseits von Herzen, dass dieselbe der treue
Gott ferner unter seinen gnädigen Schutz nehmen und sie ins
künftig aus aller Gefahr väterlich erretten möge. Und wiewol
ich die Zeit hero selbsten wol herzlich ge wünschet habe, dass der
Zustand unseres geliebten Vaterlandes besser hatte mögen in Auf-
kommen kommen und nicht so gar zerrüttet und zerschüttelt werden
— was aber hiebei geschehen, werden es meine hochgeehrte Herren
den trüb- und drangseligen Zeiten billig zuzumessen haben, die
ausser unser Macht und Gewalt alleine der Zorn Gottes wegen unser
gehäufter Schuld über uns verhänget hat. So aber meine geführte
Actiones bei meinen hochgeehrten Herren in Consideration kommen
sollten, hätte ich zu wünscheu, dass sie die Beschwerde, so sie
vermeinen herrühren aus einiger gethaner Generaldisposition, oder
baltisch« MonaU.chrifl. lid. 1XX1V. Heft 5. 29
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Revals Garnisonsfreiheit.
so man hätte reraediren können, noch vor meine Abreise mir kund
thun wollten, da icli denn verhoffe ihnen demonstrireu können, dass
es niemalen an sorgfältige Vorsorge gemangelt, sondern dass dazu
andere Ursachen sich finden, welche man alsdann recht wird bei
einen solchen Scrutinio kennen lernen. Dass ich es mit aller ihrer
Wohlfahrt getreu gemeint und mein Aeusserstes dabei gethan,
kann ich meinen hochgeehrten Herren versichern und es mit Gott
und vielen ehrlichen Leuten gewissen bezeugen ; gänzlich aber
zu heben eine so schwere Last, dazu sind meine Kräfte dis-
proportioniret gewesen , wünsche , dass es andern besser ge-
lingen möge.
Unterdessen will ich verhoffen und meinen hochgeehrten Herren
ermahnet haben, nach löblichem Exempel ihrer Vorfahren und bis
hero selbst erwiesene rühmliche Treue und Resolution sich nicht
von den schweren Zeiten überwältigen zu lassen dermassen, dass
sie den Muth und die Hoffnung einer schleunigeren Besserung
schwinden lassen, sondern auf die väterliche allergnädigste Vor-
sorge L K. M., so Sie bishero sowol ihnen als dem ganzen Reich
so sorgfältig erwiesen, getrost und gänzlich sich reposiren, von
Gott und L K. M. siegreichen Waffen eine erfreuliche Besserung
ihres Zustandes gewiss verhoffen und mittlerweilen alle ungefärbte
Treue nochmalen, wie bishero, t K. M. und Dero Krön, auch zu
ihrer Selbsten Rettung, Maintien und Besten was möglich prästiren,
welches ihnen zu stets währenden Nachruhm verbleiben wird und
zu Ausbreitung bei der ganzen Welt des vorhin rühmlichen In-
ländischen Namens. Es hat Gott herrlich seine Wunder bei ihnen
erwiesen, indeme nicht alleine vor einem und ein halb Jahr die
grosse moscowitische Macht, so dieses Land gleichsam als ver-
schlingen hätte können, gleich wol allhie sich hat zerstossen müssen
und gestuzet hat können werden, welcher ganz Littauen und
Polen nicht zu widerstehen mächtig gewesen ist, so solcher Krön
Ruin und Verlust genugsam bezeiget. Wer hätte sich die Hoffnung
machen können, dass im Lande das Geringe sollte überbleiben bei
solcher Beschaffenheit, da zwei so mächtige Armeen, die eine vor
Riga, die andere vor Dörpt stunden i Gleichwol ist noch (Jamalen
das Grösste des Landes conserviret worden, so gewiss nicht ge-
schehen wäre, da Gott selbsten nicht diese grosse Flut gedämmet
und selbsten durch seine Allmacht gestuzet hätte. In vorigem
und diesem Jahr hat Gottes Hand ebenermassen den littauischen
Feind geschlagen, dass dero Force zerbrochen worden, sie itzo das
»
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Revals Gamisonsfreiheit. 425
Land räumen müssen, da sie uns gedachten zu fressen, und über
ihr so grosse Avantage insonderheit bei Riga emportiret worden,
dass sie uns bishero drei Stücke und 20 Fahnlein haben müssen'
in unterschiedlichen Occasionen zu Theil werden lassen, mit vielen
Gefangenen. Haben auch unser wenige Oerter, so durch die Un-
treu einiger schreckhafte Leute und unbeständige Geraüther, wie
auch die schwere Seuche, so alle Mannschaft und darinnen be-
stehender Defension consumiret, ihnen in Händen gerathen, nichtes
ausrichten können und nunmehr Selbsten de salute sua mehr als
(um) Occupation des Livlandes bekümmert sein müssen, dass hin-
ftiro dieses Land von diesem Feinde leichtlich gereiniget kann
werden. — Das moscowitische grausame Wesen will auch fast eine
andere rerum faciem annehmen, indeme die durch den kgl. Hof-
junker Monsieur Barnern geschehene Relation wegen einiger In-
clination I. Zar. Maj. zu Frieden dadurch bestätiget werden will,
dass meine Briefe, so ich nach Naugarden abgesandt, wohl ange-
nommen sein worden mit Vertröstung schleuniger Antwort ; ist
auch der grösste Theil des Feindes eben in deme von Jarno
abgewichen nach ihren Grenzen zu. — Gott wolle sich dieses
Landes ganz väterlichen noch weiter hinwiederum annehmen und
nicht so scharf in seinem Zorne, als wie die Zeit hero aus ge-
rechtem Eifer geschehen, gegen diese Provincien verfahren, sondern
den vielfältigen Feinden steuern und dadurch den trübseligen Zu-
stand lindern und mindern. Wie ich es denn meinen hochgeehrten
Herren von Grund meines Herzens ganz treulich wünsche, da mir
keine grössere Freude soll zu vernehmen sein, als wenn meine
nachkommende Herren Successores bessere, Zeiten, als auch bei
diesem meinem Generalgouvernement, bis noch betroffen haben,
allhie antreffen und dabei diese gute Provincien in voriger Ruh
und Sicherheit setzen mögen, mit welchem angehängten Wunsch
ich hiebei meinen hochgeehrten Herren bis weitere I. K. M. aller-
guädigste Disposition valediciret, mich derer aller sämmtlichen
Freundschaft und Affection, die sie gar rühmlichen verspüren
lassen, ferner anbefohlen, dieselbe alle aber zu steten Wohlergehen
dem grossen Schutz des allgütigen Gottes ergeben haben will.
Reval, den . . . Februar 1658.
Meiner hochgeehrten Herren
bereitwilligster Freund
Magnus Gabriel De La Gardie.»
Der Rath bedankt sich in einem t Valedictionsschreiben» vom
2»*
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Revals Garnisonsfreiheit.
3. März für die vom Generalgouverneur ausgesprochenen Gesinnungen
und empfiehlt sich seiner einflussreichen Vertretung städtischer
Interessen beim König. Uebrigens scheint de la Gardie die ihm
anvertraute Friedensmission erst viel später, vielleicht auch gar
nicht angetreten zu haben, da die andauernde Anwesenheit des
Grafen in Reval bis in den April hinein urkundlich belegt ist. So
schreibt er am 4. März dem Rathe, er möge es sich angelegen sein
lassen, zum Zweck der Unterhaltung der königlichen Miliz bei den
Bürgern Revals eine darlehnsweise Summe von 8—10000 Thlr. auf-
zubringen und ergänzt dieses Begehren in einer sog. Proposition
vom 30. März dahin, es möchte die Stadt 100 Last Getreide vor-
schiessen. Der Schluss des letzteren Schreibens berührt auch die
Garnisonsfrage. Da dieselbe zur Zeit ohne Effect sei — wie der
Graf sich ausdrückt — d. h. wol bei geminderter Gefahr eines
Ueberfalles und Angriffs die Garnison wieder zurückgezogen sei,
so bäte er sich die von ihm zugefertigte Assecu rationsschrift zurück.
Die Antwort des Raths auf diese Proposition vom 6. April
lautet ablehnend. Die Mittel der Stadt seien so erschöpft, dass
sie nicht wisse, wie sie sich der drückenden Schuldenlast erwehren,
ja, wie sie ihre Officianten und Bedienten besolden solle. Handel
und Wandel stockten gänzlich ; die Gebäude, Gärten und sonstigen
liegenden Gründe der Bürger seien ruinirt und trügen nichts ein ;
auch habe die Einquartierung der königlichen, sowie die Besoldung
und Unterhaltung der eigenen Truppen der Stadt und ihren Ein-
wohnern viele Kosten verursacht. Dazu sei endlich noch die Pest
gekommen, welche zahlreiche Opfer fordere und lähmend auf den
Erwerb einwirke. Die Assecurationsschrift glaubt der Rath nicht
früher ausliefern zu können, als bis alle Kriegsgefahr beseitigt
und damit der Grund für eine in Reval aufzunehmende Garnison
geschwundeu sei.
Während dieses Schriftwechsels dauerte das zweifelhafte Ver-
hältnis zwischen Schweden und Russland, von dem schwer zu sagen
war, ob es mehr Krieg oder Frieden sei, fort. An der Narowa
standen die Truppen beider Mächte sich gegenüber. Chowenski
belagerte an der Spitze von 5000 Mann Jamburg, bis ihn Bengt
Horn aus Narva herzueilend von dort vertrieb. Doch musste
letzterer, als grössere Truppenmassen der Feinde zu Hilfe kamen,
wieder weichen , um seinerseits in Narva belagert zu werden.
Plötzlich stellten die Russen alle Feindseligkeiten ein ; am 16. April
wurde ein Waffenstillstand vereinbart, der erst am 17. Nov. zu
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Revals Garnisonsfreiheit.
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Friedensunterhandluugen in dem nahe bei Narva belegenen Dorfe
Wallisaar führte.
Nicht lange nachdem diese Unterhandlungen zum Abschlüsse
gelangt, kam es hier zu einem Zusammenstoss, der die Frage über
die Garnisonsfreiheit Revals zu einer brennenden machte. Einge-
leitet und vorbereitet wurde derselbe durch eine arge Verstimmung,
welche um diese Zeit am Stockholmer Hofe gegen Reval Platz ge-
griffen hatte. Wie aus den auf diese Verstimmung bezüglichen
Schriftstücken sich ergiebt, ist sie auf Verdächtigungen zurückzu-
führen, welche ihren Ursprung in der Misgunst hatten, unter der
Graf Magnus de la Gardie als Schwager des Königs bei dem Ein-
flüsse anderer hochstehender Männer, welche der schwedische Ge-
schichtsschreiber Carlson zu bezeichnen nicht unterlässt, zu leiden
hatte. Die liebenswürdige und freundliche Art, mit welcher der
Graf, wie wir gesehen, die motivirte Ablehnung der Stadt, die
ihr zugemutheten grossen Opfer und Lasten ohne jegliche Cautel
zu übernehmen, aufgenommen, mag, seitdem er den hiesigen Schau-
platz verlassen, seinen Gegnern dazu gedient haben, ihn wegen
seines entgegenkommenden Verhaltens gegen Reval beim Könige
zu discreditiren. Ein Mittel hierzu konnte es ihnen sein, die be-
dingte Ablehnung der Stadt zu einer unbedingten aufzubauschen
und namentlich ihre Berufung auf die privilegienmässige Garnisons-
freiheit zu einer halsstarrigen Widergesetzlichkeit zu stempeln.
Auch muss es dem dienstfertigen Delatorenthum gelungen sein,
beim Könige den Verdacht zu erregen, dass die Stadt oder wenig-
stens einige Vertreter derselben in verrätherischem Connexe mit
dem Feinde ständen. Sei dem, wie ihm wolle : jedenfalls macht
sich der Unwille des Königs über Reval schon im Sommer 1658
in ungestümster Weise Luft. Ein von Gothenburg vom 5. Juni
datirtes, vom Könige eigenhändig unterschriebenes und mit dem
königlichen Siegel versehenes Schreiben (in schwedischer Sprache)
hält dem Rathe in herben Worten vor, wie sträflich das Verhalten
der Stadt sei, wenn sie sich unter dem Vorwande von Privilegien
der Aufnahme einer Garnison widersetze. Er habe seinen Geh.
Rath und Feldmarschall Graf Robert Duglas und den Hofrath
Silverstierna beauftragt, die Sache zu untersuchen und ihm Bericht
zu erstatten, gleichzeitig aber die Direction der Stadtverteidigung
zu übernehmen. Diese Zornesaufwallung des Königs hat, wie
es scheint — wenigstens was die beregte Untersuchung betrifft —
keine Folgen gehabt, bis einige Monate später der König zu einer
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Revals Garnisonsfreiheit.
weiteren ungnädigen Kundgebung veranlasst worden ist. Bs liegt
nämlich ein vom 29. October von der Festung Kronenborg datirtes,
aber erst am 1. December hier angelangtes Schreiben vor, welches
den früher geäusserten Verdacht verrätherischen Einverständnisses
mit dem Feinde gegen gewisse Personen richtet. Wir haben es
wol dem Umstände beizumessen, dass Karl X. unter dem ver-
stimmenden Einflüsse seines zweiten gegen Dänemark eröffneten,
so wenig Glück verheissenden Feldzuges und von einer dänischen
Festung aus, die ihm täglich klarer machen musste, wie wenig
Hoffnung er habe, Kopenhagen einzunehmen, dazu kommt, luftige
Verdachtsfäden weiter auszuspinnen und damit Dinge in Verbindung
zu bringen, die mehr üble Laune als die Notwendigkeit für den
Staat, wichtige und unaufschiebbare Geschäfte schuell und praktisch
zu erledigen, zum Ursprünge gehabt haben müssen. Wol habe er
• — schreibt der König im Eingange — sich dessen gefreut, aus
den Zuschriften des Raths die Gesinnungen alter Treue und Hin-
gebung entnehmen zu können; allein um so unlieber sei es ihm
gewesen, zu erfahren, dass der Syndikus Revals, Heinrich Tunder-
feldt, ohne sein Wissen und Willen, auch ohne des Königs Antwort
und Resolution auf die von der Stadt ihm committirten Geschäfte,
welche er, der König, im Senate bereits vorgenommen, zu debattiren,
abzuwarten, sich entzogen und heimlich von Stockholm auf den
Weg zur Rückreise sich begeben. < Dieses ermeldeten, eures ab-
geschickten Syndici ungewöhnliches plötzliches Abreisen und Ent-
weichung» — fahrt der König fort -r that Uns Anleitung gegeben,
zurück zu gedenken an das, was Unsere Ministri bei euch Uns
vor diesem advertirt haben, angehend die Opiniatrete\ welche Wir
bei der Stadt gefunden haben, ohne Zweifel durch derer Schuld
und Getriebe, welche das Werk geführt und dirigirt haben.» Es
folgen nun die früheren, darin gipfelnden Recriminationen, die
Stadt habe sich in die Verteidigungsmassregeln der Krone mischen
und sie durch verweigerte Aufnahme der Garnison erschweren
wollen. Als Urheber dieser « schädlichen Pratiquen» müsse er —
der König — den Bürgermeister Rosenbach und seine Adhärenten
bezeichnen und habe er in Uebereinstimmung mit seinen geliebten
Reichsräthen für noth wendig befunden, sich des Bürgermeisters
Rosenbach Person versichern zu lassen, bis dass derselbe vor des
Königs Hofgerichte in Stockholm sich purgire und seine Sache,
wie er am besten könne und vermöge, justificire.
Damit tritt eine Persönlichkeit in den Vordergrund der Be-
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Revals Garnisonsfreiheit.
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gebenheiten, welche im weiteren Verlaufe derselben in so fern die
Hauptrolle spielt, als die Frage über die Gerechtsame und Be-
fugnisse der Stadt in Sachen der militärischen Verteidigung und
speciell der Verpflichtung, eine königliche Garnison aufzunehmen,
nun als Einschlag in ein Gewebe dient, welches uns fortan in Ge-
stalt einer peinlichen Untersuchung wider Rosenbach und Consorten
zu beschäftigen haben wird.
Bevor wir diese und den schon angekündigten Vorgang kennen
lernen, welcher die bisherige Verstimmung des Königs in die Bahnen
eines politischen Processes drängte, wird es Zeit und Ort sein,
uns mit der Person des Hauptangeklagten in diesem Processe be-
kannt zu machen.
Bernhard von Rosenbach1 ist ein Findling, der an dem
Bache, von dem die bei Reval belegene Besitzung Schwarzenbeck ihren
Namen hat, ausgesetzt war. Er wurde — in Folge welcher Um-
stände, ist unbekannt — nachdem er den Familiennamen zur Beche
erhalten, aus Stadtmitteln erzogen und auf die Universität geschickt.
1624 trat er in städtische Dienste als Substitut im Secretariate,
wurde bald darauf Rathssecretär und als solcher in Stadtangelegen-
heiten nach Stockholm deputirt ; 1642 zum Syndikus gewählt,
wurde er im Jahre darauf, also zur Zeit Christinens, in den Adel-
stand erhoben, wobei er den Namen v. Rosenbach erhielt ; 1653
wurde er Bürgermeister. Er ist der Stammvater des bekannten
adeligen Geschlechts dieses Namens, also der directe Ahnherr des
jetzigen Generalgouverneurs von Turkestan. Ueber seine Begabung
und seinen Charakter, in Sonderheit auch über seine politische Ge-
sinnung erfahren wir manches aus den später zur Sprache kommen-
den Process Verhandlungen.
Der mehrfach erwähnte Vorgang aber, der den bisher latenten
Conflict zu einem acuten machte und in dessen Folge der Process
in Scene gesetzt wurde, war in kurzem folgender.
Nachdem im Laufe des Jahres 1658 und vielleicht schon
früher — die mir zu Gebote stehenden Archivstücke geben darüber
keine genügende Auskunft — bei herannahender Kriegsgefahr zeit-
weilig schwedische Kriegsvölker in die Stadt aufgenommen worden
waren, und zwar namentlich das Gartensche Regiment, beanspruchte
der Gouverneur Bengt Horn um die Weihnachtszeit noch die Auf-
nahme einer kleinen Partie rückständiger Truppen desselben
■ Unser Gewährsmann für diese Angaben ist Bunge (Revaler Raths
linie;, der, wie es scheint, aus Harpes Repertorium geschöpft hat.
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Revals Garnisonsfreiheit.
Regiments. Städtischerseits machte man Schwierigkeiten , weil
diese Truppe aus einer pestverseuchten Gegend kam und man
weiteres Umsichgreifen der Epidemie in der Stadt befürchtete. Es
fanden darüber Verhandlungen statt, welche einen Aufschub des
Einmarsches zum Gegenstande hatten. Bevor jedoch ein Einver-
ständnis erzielt war, erschienen die Truppen am dritten Weihnachts-
tage mit klingendem Spiele, um durch die Lehmpforte ihren Einzug
zu halten. Dazu kam es aber nicht. Denn so wie sich die Truppe
der Pforte näherte, wurde diese auf Befehl des Bürgermeisters
v. Rosenbach resp. des seiner Weisung folgenden Befehlshabers der
städtischen Miliz, Obristlieutenant Kon ra d Ni eroth, geschlossen,
so dass die Soldaten Kehrt machen mussten.
Dieses Vorgehen der städtischen Behörden erregte begreiflicher-
weise in hohem Grade den Unmuth des Gouverneurs und der ihm
zur Seite stehenden Militärbefehlshaber, welche es nicht unterliessen,
dem Könige darüber zu berichten. Dass bei der ungnädigen Stimmung,
welche, wie wir gesehen, hier schon obwaltete, die Ruhe der Ueber-
legung dem Ungestüme sofortiger Massnahmen weichen musste,
kann uns bei dem bekannten leidenschaftlichen Charakter Karls X.
nicht Wunder nehmen. Die Idee, der Bürgermeister Rosenbach
sei ein geheimer Feind und Verräther des Landes und der Krone,
faud in dem Schliessen der Thore vor einer im Einrücken be-
griffenen königl. Truppe einen so günstigen Nährboden, dass eine
Specialcommission, bestehend aus dem finnländischen Gouverneur
Baron Gustav Horn und dem Hofrath Silverstierna, vom König
den Auftrag erhielt, ungesäumt wider Rosenbach und alle diejenigen,
welche ihm in seinem sträflichen Gebahren zur Seite gestanden,
untersuchend vorzugehen, demnächst aber das Ergebnis dieser Unter-
suchung dem Stockholmer Hofgerichte zur Aburtheilung zu übergeben.
Ueber die Thätigkeit dieser Commission liegen uns verschiedene
sich ergänzende Aufzeichnungen vor, nämlich einmal die zwischen
der Commission in der Rolle der klägerischen Partei und dem
Rathe als Vertreter des angeschuldigten Theils nach Analogie
eines Civilprocesses gewechselten Satzschriften und dann ein Schrift-
stück, das sich selbst Auszug aus dem Coramissionsprotokolle be-
nennt, in Wahrheit aber als ein Memorandum zu bezeichnen ist,
in dem sich alle auf die Rosenbachsche Affäre stattgehabten Ver-
handlungen, mochten sie nun im Schosse des Raths und der Gemeinde
oder vor der Uutersucliungscommission stattgefunden haben, ver-
zeichnet fiuden. Bei der Commission gehen nämlich eine mündliche
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Revals Garnisonsfreiheit.
4SI
und eine schriftliche Verhandlung neben einander und ist daher,
um vollen Einblick in die Sache zu gewinnen, auf beide Rücksicht
zu nehmen, wenn auch auf letztere, als das eigentliche Vehikel
der Conflictspunkte. das Hauptgewicht zu legen ist.
Die betr. Verhandlungen beginnen am 13. Febr. 1659 damit,
dass vor versammeltem Rathe den Vertretern der Gilden eröffnet
wird, wie die königlichen Commissarien an sie eine Einladung zum
Erscheinen vor ihnen und zur Entgegennahme dessen, was ihnen
laut königlicher Instruction zu eröffnen sei, gerichtet hätten.
Tags darauf begiebt sich die städtische Vertretung, bestehend
aus dem Bürgermeister Elias Hiiner, den Rathsherren Coort Meusler,
Christian Strahlborn , Hinrich Bade , Christian Buchow nebst
Secretären Hinrich Fonn und je vier Vertretern der drei Gilden,
zu den Commissaren. Anrede und Erwiderung fliessen über von
den Versicherungen der Ergebenheit und Treue einer- und landes-
väterlicher Fürsorge und gnädiger Gesinnungen andererseits; der
König, versichert Horn, hege schon lange den Wunsch, «dies Liv-
land und absonderlich dies gute Reval» in Person zu besuchen, der
Krieg und wichtige Staatsgeschäfte hätten ihn aber bisher daran
gehindert. Plötzlich und unvermittelt schlägt aber der Ton des
Wohlwollens in den des Unwillens um. «Es hätten aber I. Maj. —
fährt Horn fort — mit höchster Befremdung vernehmen müssen,
wie die Stadt Reval nunmehr so gar halsstarrigerweise nicht allein
ihrer königl. Maj. heilsamen und gnädigst abgefassten Meinungen
contraminiret, sich widersetzet und trotziglich widersprochen, sondern
auch dem königl. Gouverneur Hrn. Bengt Horn, als welcher jussu
regis zu mehrerer Versicherung die Thore und Wälle der fast aus-
gestorbenen Stadt mit seinen bei sich habenden königl. Soldaten
versehen wollen, den Schlagbaum vor der Nase zuschliessen lassen,
ja wohl mit des Königs Feinden und absonderlich mit dem barbari-
schen und treuwbrüchigeu Muscoviter colludirten.» Der König
habe daher eine Untersuchung des Verhaltens der Stadt durch be-
sondere Commissare angeordnet und müsse er, Horn, in Erfüllung
dieses Auftrages zunächst um Aushändigung des von dem Grafen
de la Gardie der Stadt zugefertigten Versieherungsschreibens bitten.
Der Bürgermeister Hiiner verwahrte sich namens der Stadt aufs
entschiedenste wider die eben verlautbarten Anschuldigungen der
Untreue und Verrätherei und trat insbesondere , so weit diese
Anschuldigungen gegen den Bürgermeister Rosenbach und den
Obristlieutenant Nieroth gerichtet seien, mit grosser Wärme für
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Revals Garnisonsfreiheit.
diese Personen ein, weil das, was sie angeordnet hätten, nur auf
Beschluss des Raths und mit Zustimmung der ganzen Gemeinde
geschehen sei. — In dem Zeiträume vom 15. Februar bis zum
19. März finden nun fast taglich Sitzungen im Rathe und Oonferenzen
mit den Vertretern der Gilden statt, an die sich, wenigstens bis
zum Schluss des Februar, fast eben so oft Deputationen an die
Oommissare und den Gouverneur anschlössen. An einer dieser
Deputationen nahm auf Zureden des Raths Rosenbach selbst Theil,
wurde aber, nachdem er sich in beredter Weise gegen die wider
ihn erhobene Anklage mündlich verteidigt, von den Commissaren
zurückgewiesen, weil es ihm in seiner Stellung als Angeklagter
und von seinem Amte Suspendirter nicht zustände, in der Ver-
tretung der Stadt zu erscheinen. Die Commissare mochten übrigens
die bisher mündlich geführte Verhandlung für den nicht geeigneten
Modus halten ; denn als Gustav Horn inzwischen einmal verreist
war, eröffnete sein College Silverstierna den Deputirten, dass fortan
der schriftliche Weg einzutreten habe. Ein Zwischenfall verlängerte
aber dennoch die mündlichen Verhandlungen. Nachdem nämlich
der Bürgermeister Rosenbach bereits früher, wol schon im Herbste
1658, auf Befehl des Königs und seines örtlichen Vertreters Grafen
Duglas verhaftet, aber gegen Caution wieder auf freien Fuss ge-
setzt worden war, wiederholte sich dieser Haftbefehl, als Rosen-
bach am 25. Februar aufs Schloss gehen musste. Einige Tage
später wurde der Arrest auch auf den Obristlieuteuant Konrad
Nieroth ausgedehnt. Rath und Bürgerschaft wurden durch diese
Massregel aufs höchste erregt und Hessen es an unausgesetzten
Bemühungen nicht fehlen, gegen Cautionsleistung zuerst des ganzen
Raths, dann aber der Stadt die Entlassung der beiden Männer
aus der Haft oder wenigstens Verwandlung der gefänglichen
Haft auf dem Schlosse in Hausarrest herbeizuführen Alle des-
halb gethanen Schritte blieben aber fürs erste wenigstens völlig
erfolglos. Weder der Gouverneur noch die Commissare Hessen sich
darauf ein und auch dann nicht, als sogar der Superintendent und
die gesammte Stadtgeistlichkeit dafür intercedirten. Die Weigerung
der um Freigabe Angegangenen stützte sich immer wieder auf den
ausdrücklichen Befehl des Königs. Das Einzige, was endlich von
Rath und Bürgerschaft erlangt wurde, war, dass den beiden Ver-
hafteten bessere Haftlorale im Schlosse angewiesen wurden.
Aus dem bisher Mitgetheilten ist zwar der status causae et
controversiae in Sachen Rosenbach und Consorten der Hauptsache
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t
Revals Garnisonsfreiheit 433
•
nach bekannt; einige Momente desselben, namentlich die Fragen,
ob die 8tadt selbst um eine Garnison gebeten und hinterdrein sie
zurückgewiesen habe und ob der Einmarsch des Restes des Garten-
schen Regiments am dritten Weihnachtstage den kurz vorher-
gegangenen Verhandlungen und Abmachungen zwischen Gouverneur
und Stadt zuwidergelaufen, bedürfen aber doch noch einer weiteren
Aufklärung. Und diese können uns nur die bei den Commissaren
gewechselten Schriftstücke bieten.
Von letzteren fehlt die Anklageschrift vom 17. Februar 1659.
Doch ist ihr Verlust kein erheblicher ; denn sowol aus der Beant-
wortung derselben, als aus den mündlichen Verhandlungen vor den
Commissaren und aus früheren Schriftstücken ergiebt sich der Inhalt
der Anklageschrift zur Genüge. Schon eine Woche spater wurde
die Beantwortung derselben den Commissaren übergeben. Es er-
scheint rathsam, diese möglichst vollständig kennen zu lernen.
Nach Fortlassung des Höflichkeitseinganges begegnen wir folgenden
Ausführungen :
< Erlauchter, hochwohlgeborener Herr Baron, Reichsrath und General,
auch wohlgeb. Herr Hofrath, hochansehliche kgl. Herrn Commissarii.
cEs ist anfänglich unleugbar wahr, dass wir nunmehr in die
98 Jahren unter der hochlöblichen Krone Schweden Botmässigkeit,
auch gnädigstem Schutze und Schirme gewesen und uns in den
beiden schweren reussischen Belagerungen wider den Moscowiter,
wie auch hernachher in polnischen und dänischen Kriegen dermassen
getreuw und redlich bezeiget, dass auch unsere Misgünstige uns
den Titel einer getreuen Stadt gönnen müssen. Waunenhero uns
die durchlauchtigste, grossmächtigste Könige und die hochlöbliche
Krone zu Schweden niemalen mit einer Garnison beleget, besondern
gern gestattet, dass wir diese gute Stadt mit unseren eigenen ge-
worbenen Soldaten und «Artolerey»- Bedienten wider alle feindliche
Anfälle bewachen und vorsehen mögen, dannenhero auch König
Gustavus der Grosse, glor würdigster Gedächtnus, in anno 1626
dieser guten Stadt das hiesige Schloss und dessen Garnison auf ge-
wisse Masse mit untergeben wollen. Und wird über dieses aus
keiner Historien beigebracht werden können, dass diese Stadt einiger
Untreue ihrer hohen Obrigkeit jemalen erwiesen. Diesen Ruhm
unserer geliebten Vorfahren wollten wir nicht gerne in uns er-
löschen lassen, besondern auf unsere Posteritet hinwider verstammen.
Haben derowegen so bald nur die Moscowiter sich gegen die hoch-
löbliche Krone Schweden feindlich bezeiget, erstlich bei der in
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434 Revals Garnisonsfreiheit
Schweden anwesenden königl. Regierung durch Hrn. Jürgen Müllern
um Hilf und Beistand, wie auch bald hemacher bei I. kgl. Maj.
selbsten durch unseren damaligen abgefertigten Hrn. Simon Lanting
in Preusseu um eine gnädigste Assistence an Ammunition und Volk
allerunterthanigst anhalten lassen, haben über dieses in Preussen
und zu Lübeck etliche 1000 Rtlr. zu Beibringung allerhand Am-
munition employiren lassen, zu geschweigen der vielen 1000 Rtlr..
die wir auf Erbauung der Stadt Wälle, Thürme und Festungen,
daran auch unsere eigene Bürgern in Person eine Zeit lang mitge-
arbeitet, verwendet; in Summa, wir haben nach unsern geringen
Vermögen nichts unterlassen, was zu nöthiger Defension dieser
Stadt thunlich gewesen ; haben zu dem Ende auch eine Compagnie
Soldaten von 1 20 Mann mit denen (Meieren sammt einem Obersten
Lieutenant über die Bürgern und Soldaten in Bestallung genommen
und dazu taglich, wenn es die Nothdurft erheischet, vier Com-
pagnien Bürger auf die Wache ziehen lassen. Ueberdera so haben
wir uns sammt und sonders als getreue Untersassen gegen alle
und jedwede Feinde vor I. kgl. Maj. und diese Stadt bis auf den
letzten Blutstropfen zu fechten höchst verbunden. Und obwol zu-
weilen in Ab Wartung der Wache einige Fehler vergangen, so kann
man doch solche von Privatpersonen begangenen Irrungen die ganze
Stadt nicht imputiren, absonderlich weilen die Verbrecher zur ge-
bührlichen Straf gezogen worden. Die Gartensche fünf Compagnien
haben wir gutwillig (weilen die Noth wegen Belagerung der Städte
Riga und Dörpt da war) in die Stadt genommen und die Soldaten
beinahe ein Jahr mit freier Kost und nothdurftigem Unterhalt der-
gestalt versehen, dass sie uns bei ihrem Abzüge vor die gute Be-
wirthung bedanket und rühmlich hinter sich verlassen, dass sie
niemalen einige bessere Quartiere gehabt. So haben wir auch zu
Bezeigung unseres guten Willens den Gartenschen Ober- und
Niederofficieren auch etliche Monat Lohnung reichen lassen ; her-
nacher haben wir den Bohtschen und letzlich diesen norwegischen
Völkern mit Gelder nach unserm Vermögen assistiret, wiewol
wir solche Spesen auf unsere eigene geworbene Völker zu ver-
wenden sehr nöthig gehabt, alles zu dem Ende, dass wir an unserem
geringen Orte an unserer Hilfe nichts erwinden lassen wollen.
Und obwol König Gustav der Grosse uns in anno 1629 gegen die
Einwilligung in die Licenten von allen Kriegsbeschwerden befreiet,
so haben wir dennoch necessitate ita flagitante ein solch herrliches
Privilegium gutwillig aus den Augen gesetzet und bei uns erwogen,
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Revals Garnisonsfreiheit.
435
dass in Zeit der Noth alle Privilegien cessiren müssen. Wie wir
denn in solcher Consideration der Krone innerhalb wenig Jahren
eine ansehnliche Summe theils vorgestrecket, theils aus unter-
tänigsten getreuen Herzen contribuiret ; und wollten noch gern
unsere untertänigste Treue in diesem Passu blicken lassen, ob wir
gleich nun ins dritte Jahr hero ganz nahrlos gesessen, wenn wir
das Unsere, welches im Lande ausstehet, in Händen hätten.
<Dass wir uns I. kgl. Maj. allergnädigster Disposition oder
Dessein jemalen freventlich widersetzet haben sollen, hoffen wir nicht,
dass uns ein solches Uberbracht werden solle : zumalen uns nie-
malen einige königl. Disposition vorgezeiget worden. In vorigen
Zeiten haben die kgl. Maj. der Stadt selbsten in Schriften ihren
gnädigsten Befehlich immediate überschicket oder auch durch die
Herrn Gouverneure mit Vorzeigung der königl. Mandaten zu wissen
gemachet, welches nur eine Zeit hero unterlassen. Und wie durch
dieses Mittel viele Irrungen gehoben werden könnten, wäre zu
wünschen, dass es nach solchen löblichem Alten annoch gehalten
werden möchte.
«Was nun die Beschuldigung an reichet, dass wir die königl.
Soldaten in die Stadt nicht admittiren, besondern das Thor vor
selbige schliessen lassen, so verhalten Ew. hochwohlg. Excellenz
und wohlgeb. Herrn wir zum Gegenberichte hiermit nicht, dass
der Hr. kgl. Gouverneur in den Wochen vor Weihnachten begehret,
dass wir die annoch übrigen Gartensche Soldaten, deren noch 60
in 70 Mann ungefähr nach der Pest übrig waren, einnehmen und
die Thore und Wälle bewachen lassen sollten. Weilen aber die
anwesende Personen des Rathes vor sich darin nicht willigen
können, besondem das Gewerb mit der Gemeine zu bereden ange-
nommen, hat man solches folgenden Tages der anwesenden Gemeine
proponiret, welche gebeten, man wollte vor dieses Mal, wo möglich,
die Inquartierung und Wacht der Soldaten differiren, weilen sich
die Pest in etlichen Häusern in der Stadt sowol als bei denen
Soldaten annoch vermerken Hesse. Denn wenn die Soldaten bei
denen gesunden Bürgern, die neulich vom Lande wieder zur Stadt
kommen, verleget werden sollten, würde die Stadt de novo inficiret
werden, welches ja als ein Gewissenswerk unverantwortlich und
darum billig zu verhüten wäre, voraus bei der Zeit, da sich kein
Feind, von dem man sich einiger Attaque zu befahren hätte, im
Lande vermerken lassen. Im Falle aber solches nicht abzuschaffen
wäre, so baten sie Dilation, bis ihre andere Mitbürger zur Stadt
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Revals Garnisonsfreiheit,
kamen, denn sie ohne deren Gegenwart nichts schliessen könnten.
Und wenn sie dann die Soldaten einnehmen müssten, wäre ja billig,
dass man solches mit gewissen Conditionen thÄte, zumalen man
taglich vor Augen sähe, wie Übel die Soldaten im Lande, ja ärger
als der Feind hauseten, die Wege nach der Stadt unsicher macheten,
die Gärten und Vorstadt ohn einige Noth ruinirten, plünderten
und abrissen, wodurch der Stadt über 50000 Thlr. Schaden ohn
einige Noth zugetllget. Müssten sich auch besorgen, dass man
täglich mit militärischen Executionen wider den einen oder andern
verführe, wie man leider den Anfang bereits gemacht. So wüsste
man auch nicht, ob I. kgl. Maj. solches anbefohlen, zumalen man
des halber keine kgl Order gesehen. Weilen nun dieses alles
notorium, müssten die anwesende Personen des Rathes der Gemeine
hierin zustimmen, citirten durch einen öffentlichen Anschlag alle
ausgewichene Bürger gegen das Weihnachten fest zur Stadt, in
Meinungen, einen einhelligen Schluss zu fassen und den Hrn. kgl.
Gouverneuren denselben anzutragen. Ob wir nun wol dieses alles
Sr. hochwohlgeb. Excellenz anfügen und zugleich um Dilation bis
den ersten heiligen Weihnachtentag bitten lassen, haben dieselben
dannoch am Weihnachten Abend die Einführung der Soldaten werk-
stellig machen wollen, da wir denn unserro damaligen Stadtmajoreu
an Seine Excellenz abgeschicket und abermaleu um Dilation bis
den ersten heiligen Tag bitten lassen. Ob Sie nun wol anfänglich
etwan difficultiret, hätten Sie doch endlich Ihm zum Bescheide er-
theilet : Es sollte die Einführunge der Soldaten bis den ersten
heiligen Tag verbleiben, doch dass alsdann die Antwort gewiss
einkäme. Wie nun Ihr. Excellenz nach diesem Abschiede von der
Lehmpforten weggeritten, sind eine Weile hernach 40 oder 50
Soldaten mit vollem Trommenschlag anmarschiret, und haben das
Thor einnehmen wollen. Weilen aber solches dem Abscheide des
Hrn. Gouverneuren directe zuwider war, ist ja nicht unbillig das
Thor vor selbige, als welche wider des Hrn. Gouverneuren Ab-
scheid und der Stadt Freiheit gehandelt, geschlossen worden. Und
hätten wir uns vielmehr der Gewälde halber, so unser Stadt ob-
gedachte Soldaten zufügen wollen, bei I. kgl. Maj. Ursach zu be-
schweren gehabt, da es die Zeiten zugeben wollen.
cEs sei aber, wie ihm wolle, so können wir bei dem wahren
lebendigen Gott bezeugen, dass wir in diesem Passu nichts ge-
suchet, als die von der Pest überbliebene ehrliebende Bürgerschaft
zu conserviren, wissen also von keinem Urheber, der uns zum
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Revals Garnisonsfreiheit.
437
Bösen wider T. kgl. Maj. Disposition angesehener Consilien gereizet
haben sollte. Unserer Stadt Wohlfahrt, die hohe Noth, annoch
glimmende Pest und die feindselige Proceduren unserer eigenen im
Lande und hiesigen Vorstädten grassirenden Soldaten haben uns
veranlasset, bei dem Hrn. kgl. Gouverneurn die Inquartierung gar
abstellig zu machen oder zum wenigsten zu differiren, bis wir gute
Conditiones dabei erhalten. Und was sollte wol die itzige kgl.
Maj. von uns judiciren, wenn wir uns von etlichen wenigen Soldaten
wider des Hrn. Gouverneurs Ordre, die Stadtthore, die uns von
der hohen Obrigkeit anbetrawet und wir nunmehr in die 500
Jahren wider alle feindliche Anfälle getreu und ehrlich defendiret,
hätten benehmen lassen? Denn damalen war es ausser Noth,
weilen kein Feind, den wir sonderlich zu fürchten hatten, im Lande
vorhanden, und hierüber die von uns gebetene Dilation gar kurz
war. Wir lassen Ew. hochwohlgeb. Excellenz und wohlg. Herrl.
nebenst der ganzen ehrbaren Welt urtheilen, ob wir aus diesem
Acte einiger Untreue oder Widerspenstigkeit wider I. kgl. Maj.
convinciret werden mögen. Wir haben uns jeder Zeit erkläret, die
königl. Soldatesque einzunehmen, wann es die Noth erheischet, und
weilen diese unsere Erklärung in Disput gezogen werden wollen,
hat endlich des Hr. Graf Magni hochgräfliche Excellenz der Sache
in ihrer uns abgegebenen Versicherunge, welcher wir vor etlichen
Tagen commissionaliter überreichen lassen, einen Ausschlag gegeben,
wodurch aller voriger Streit gehoben worden. Wie aber I. kgl.
Maj. mit expresser Reservation unserer Privilegien uns hernacher
die Soldaten einzunehmen anbefohlen, haben I. kgl. Maj. gnädigstem
Mandat wir unserer eidespflichtigen Schuldigkeit nach billige Pari
tion geleistet, in ungezweifelter Hoffnung, I. fcgl. Maj. uns solcher
Einquartierung cessanie necessitate allergnädigst wieder enthoben
werden. Inmittelst beklagen wir von Herzen, dass wir über unseren
zur Stadtdefension angewandten Fleiss und erwiesener Treue dennoch
mit solcher schweren Beschuldigung durch Angaben unserer Mis-
günstigen beleget worden ; hoffen aber, dass der all waltende Gott
aus diesen und anderen Drangsalen uns väterlich erretten und
unsere Unschuld an das Tageslicht bringen wird. Wann I. kgl.
Maj., unser allergnädigster König und Herr, diese unsere Schutz-
schrift allergnädigst bei sich in Consideration nehmen werden,
zweifeln wir nicht, Sie werden nach der höchst angeborenen Clemenz
und Gütigkeit diese gute Stadt von sothanen erwähnten schweren
Beschuldigungen allergnädigst absolviren und in hohen königlichen
438
Revals Garnisonsfreiheit.
Gnaden wiederum ansehen. Womit wir schliesslich Ew. hochwohlg.
Excellenz und wohlgeb. Herrlichk. dem Schutz des Allerhöchsten,
uns aber Dero gnädiger Affection bestermasseu recommendiren.
Reval, 24. Febr.
anno 1659. Bürgermeister und Rath sammt Aelter-
leuten, Aeltesten und ganzen Gemeine
der Stadt Reval.»
Auch die Commissare sind mit ihrer Replik schnell bei der
Hand ; vom 5. März datirt, wird sie schon folgenden Tages den
Vertretern der Stadt insinuirt und alsbald darauf im Rathe vorge-
tragen und ihre scbliessliche Beantwortung beschlossen. Aus dieser
Replik dürfte Folgendes hervorzuheben sein. Nicht ohne einen
leisen Anflug von Ironie bekennen sich die Verfasser derselben zu
den gegentheiligen Versicherungen stets bewiesener Treue und steter
Bereitschaft, die Stadt selbst zu verteidigen. Zum Oonflictsfall
hinüberleitend — «wegen dessen I. k. M. bewogen gewesen, diese
Commission anzuordnen, weil man vorgiebt, dass die Stadt Reval
für dero prästirte Treue von den vorigen Königen und der Krone
Schweden niemals mit einer Garnison belegt, sondern von deren
eigenen Bürgern und Leuten defendiret worden, so befinden wir
— meinen die Commissare — die Sache von solcher Beschaffenheit,
dass sie müsse mit klaren Documenten bewiesen und dargethan
werden». Es sei dabei die Aufmerksamkeit darauf zu richten, dass
vor Zeiten Garnisonen nach Reval verlegt worden, nicht etwa
weil man an der Treue dieser Stadt gezweifelt, sondern weil man
sie vor feindlichen Angriffen und Ueberfällen habe schützen wollen.
Was anders habe die Unterwerfung Revals unter Schweden auch
bezweckt ? Hätte man sich vor 98 Jahren selbst verteidigen können,
so hätte man schwerlich eine schwedische Besatzung in die Stadt
genommen. Und nun in dem letzten polnisch-dänisch-russischen
Kriege — wie sei da die Stadt den König mit ihren Anliegen an-
gegangen, sie gegen den Feind zu schützen ; nur schwer sei es
ihm geworden, von seinen Truppen in Schweden und Preussen
einige zu missen und hierher zu schicken ; zum Essen und Trinken
— fügt die Replik nicht ohne Sarkasraus hinzu — seien sie nicht
nach Reval beordert worden, sondern weil die Stadt nicht im Stande
gewesen, sich selbst zu verteidigen. «Es hat sich aber in der That
erwiesen - fahren die Commissare fort — wie I. M. heilsame
Intention ist eludiret worden, auch was für unachtsame Oppositionen
dawider geschehen seien, indem man das Volk zur Wehr weder
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Revals Garnisonsfreiheit.
439
bei den Pforten, noch auf den Wällen zugelassen, ungeachtet der
grossen Desordre und groben Excessen, so zur selben Zeit bei der
Bürgerwacht vorgekommen. Nachher, als die Seuche in der Stadt
nachgelassen habe und die ßothschen Völker von Narva angekommen
seien, da habe man, obschon zweeu Feinde, als der Moskowiter und
der Pol, allhier im Lande streufeten, so dass man keine Nacht fast
vor Entreprisen hat können sicher sein, und da alle noch so wohl
fundirten, zu dieser Sachen Billigkeit und Fug gerichteten Re-
monstrationes nicht hätten gelten können, sich mit Zuschliessung
der Lehmpforten vor I. k. M. Soldaten ausgelassen und nachher
während der ganzen verflossenen Zeit bis nächstverwichenen
Decembris-Monat sich zu keiner Kronen- Wacht bestimmen wollen.
Die Berufung auf Gustav Adolfs Privileg treffe nicht zu ; denn als
dasselbe gewährt und gleichzeitig die Licentsteuer zu Gunsten der
Krone eingeführt worden, hätte dieselbe 4 pCt. betragen, sei aber
später zum Besten der Stadt auf l'/i P^t. herabgemindert worden:
cessante causa, cessat effedus ; das Privileg sei hinfällig geworden,
seitdem das dafür bezogene Aequivalent so sehr verringert worden.
Zum Schluss erklären die Commissare, dass sie sich bei der Ant-
wort des Raths und der Bürgerschaft nicht beruhigen könnten ;
sie müssten darauf bestehen, dass entweder die für die Garnisons-
freiheit angeführten Privilegien urkundlich nachgewiesen, oder ohne
alle weiteren Umschweife diejenigen Personen genannt würden,
welche es veranlasst hätten, dass den heilsamen Absichten der
höchsten Obrigkeit in so schimpflicher Weise widerstanden worden
wäre. Iusonderheit habe man auch eine genügende Erklärung dar-
über abzugeben, welche Bewandtnis es damit habe, dass, nachdem
der Befehlshaber der städtischen Miliz Major Nieroth die Schlies-
sung des Thores angeordnet, derselbe am nächsten Tage, zur Re
compense für sein Wohl verhalten, zum Obristlieutenant promovirt
worden.
Die am 11. März überreichte Duplik des Raths und der Gilden
wiederholt im wesentlichen die früheren Ausführungen und Ver-
sicherungen : der ganz unvermuthet beabsichtigte Einmarsch der
Soldaten habe im Widerspruch nicht nur zu der de la Gardieschen
Assecurationsschrift resp. der verbrieften Freiheit der Stadt von
Garnisonspflichten, sondern auch zu dem zwischen dem Gouverneur
und dem Major Nieroth vereinbarten Aufschübe des Einmarsches
gestanden. Die königliche Ordre, auf welche sich die Commission
berufen, sei dem Rathe nie zu Gesichte gekommen. Von einer
Baltiach« MonutMchrift, Hand XXXIV, Heft 5. 09
440
Revals Garnisonsfreiheit.
besonderen Gefahr, in der sich die Stadt befunden, hätte keine Rede
sein können, da sich keine Feinde in der Nähe befunden, und wenn
Gefahr vorhanden gewesen wäre, so hätten die 60 oder 70 Mann,
deren Aufnahme man begehrt, auch wenig dazu beitragen können,
sie zu mindern. An Urkunden, welche die Garnisonsfreiheit er-
härten sollen, sind der Duplik neun Abschriften aus dem corpus
privilegiorum beigefügt und zwar Abschriften des Subjectionsacts
von 1501 nebst zwei weiteren Zusicherungen König Erichs XIV.
und sechs Abschriften von königlichen ßriefeu seiner Nachfolger.
Auf die etwas höhnisch klingende Frage, ob Reval etwa, als es
den Schutz der Krone Schweden im Unterwerfungsjahre angerufen,
sich Manns genug gefühlt habe, mit seiner eigenen Besatzung dem
Feinde die Stil n zu bieten, antwortet die Duplik: gewiss nicht,
die Unterwerfung resp. die Aufnahme schwedischer Truppen sei
aber trotzdem keine bedingungslose gewesen ; eine damals getroffene
und während der 98 Jahre nach der Unterwerfung stets respectirte
Olausel habe der Stadt die unbedingte Verfügung über die Schlüssel
der Pforten belassen, von der nur die Dompforte zum Auf- und
Abmärsche der königl. Besatzung auf dem Dom eine Ausnahme
gemacht habe. — Der Hinweis der Commissare auf den herabge-
setzten Zoll und die dadurch verringerte Einnahme der Krone wird
zwar nicht bestritten, zugleich aber darauf aufmerksam gemacht,
dass diese Massregel nicht von der Stadt, sondern vom Staate aus-
gegangen sei und nur im Interesse des letzteren bezweckt habe,
den Handel von Archangel zu Gunsten baltischer Häfen und damit
zugleich zu Gunsten der Reichseinkünfte abzuziehen. Dass letztere
dabei eine Einbusse erlitten, stehe noch sehr in Frage ; sollte es
aber der Fall sein, so treffe eine ähnliche Einbusse auch die Stadt. —
Was schliesslich die Beförderung des Majors Nieroth zum Obrist-
lieutenant betreffe, so sei diese keineswegs am Tage nach dem
ärgerlichen Vorfalle, sondern erst einige Tage später erfolgt, und
habe keine Demonstration, sondern eine wohlverdiente Belohnung
dafür bezweckt, dass cder Mann in der Pestzeit für diese gute
Stadt nebst der wenigen anwesenden Bürgerschaft so treulich vigi-
lirt und gesorgt, dass er aus Liebe gegen diese Stadt und Considera-
tion seiner Pflicht lieber alle seine Kinder verleihen als von uns
weichen oder diese Stadt verlassen wollen >.
Damit ist der Schriftenwechsel noch nicht geschlossen : die
Commissare haben nicht umhin - gekonut, in einer Sehl ussschrift
auf früher schon erörterte Dinge nochmals zurückzukommen und
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Revals Garnisonsfreiheit. 441
besonder ihre Kritik an den vorgestellten Urkunden zu üben.
Sie erklären diese nur auszüglich mitgetheilten in so lange für
ganz ungenügende Beweisstücke, als die Stadt nicht ein verum et
totum Corpus privilegiorum hujus Civitatis, bestehend iu rein ge-
schriebenen und verificirten Copien, insinuirt habe. Der Berufung
des Raths auf den Umstand, dass im letzten .fahre der Stadt keine
Gefahr gedroht habe, wird mit dem Hinweise darauf begegnet, dass
man sich in Kriegszeiten nie auf die augenblickliche Stellung des
Feindes und auf des Glückes Faveur verlassen könne, c Sonderlich
sei man bei dem volanten und listigen Feinde, dem Polen, welcher
nun sowol in der Nähe hiesiger, als gegen andere I. k. M. Provinzien
und Städte seine blutdürstigen Waffen mit List und Geschwindig-
keit führet und ausbreitet gezwungen, jeder Zeit auf seiner Hut
zu sein. Auch sei vom Rathe aus dem so hoch gehaltenen Rechte,
über die Schlüssel der Thore verfügen zu können, unrechtfertiger
Weise das Recht der Garnisonsfreiheit hergeleitet worden. Nicht
Reval allein stehe dieses Recht zu, sondern auch Riga, Pernau u. a.,
und doch könnten diese Städte nicht die in Rede stehende Freiheit
für sich in Anspruch nehmen. Der beste Beweis, dass Reval auch
vor der schwedischen Herrschaft verpflichtet gewesen, fremde Be-
satzungen aufzunehmen, liege darin, dass noch kurz vor dem Ende
der herrmeisterlichen Zeit polnisches Kriegsvolk , zu der Zeit
jn-aesidia polonica genannt, hier einquartiert gewesen. Wenn aber
städtischerseits immer wieder behauptet werde, es sei die Stadt
niemals verpflichtet gewesen, ausserhalb ihrer Ringmauern Kriegs-
dienste zu leisten, so werde das Gegentheil davon durch folgende
Facta erwiesen. Anno 1573, wie Hr. Claes Akeson Tott die russische
Kriegsmacht bei Lohde in der Wiek geschlagen, ist der Haupt-
mann oder Anführer der revalschen Knechte Michael Schlöyer
selbiges Mal geblieben. Ingleichen Anno 1578 im Monat Octobris,
als Hr. Jürgen Boie und Andreas Sapieha den Muscowiter bei
Wenden im Stifte Riga schlugen, hat die Stadt Reval dabei eine
Compagnie deutsche Knechte gehabt. Gleichermassen Anno 1581
ist ein Fähnlein revalscher Knechte bei der Belagerung von Witten-
stein gewesen : zu welcher Zeit eiu Fähnlein zu Fuss in die
6—800 Mann stark gewesen. cSchliesslichen» — erklären die
Commissare — «weil wir sehen, beides, E. E. Rath und die löbliche
Gemeinde nebst deren Vorstehern, gleich als ein Corpus aus einem
Munde dero Actione« entweder verfechten oder entgelten wollen,
so werden wir unserer Schuldigkeit nach auch I. k. M. gnädigem
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Revals Garnisonsfreiheit.
Befehle zufolge dieses, auch was weiteres bei dieser Commissiou
ist vorgelaufen, unterthänigst referiren.>
Damit hat das Untersuchungsverfahren in Reval, wie es
scheint, ein Ende genommen, und ist die ganze Sache an das Hof-
gericht in Stockholm devolvirt worden. Auch der Bürgermeister
Rosenbach musste als Gefangener den Acten dahin folgen. Wann
das geschehen und welchen weiteren Verlauf die Sache dort ge-
nommen, ist den bez. Archivstücken oder sonstigen Aufzeichnungen
nicht zu entnehmen. Nur das Endergebnis ist bekannt : Rosenbach
ist nicht nur seiner Haft entlassen und nach Reval zurückgekehrt,
sondern auch in sein Bürgermeisteramt wieder eingesetzt worden.
Ob dieser Restitution ein förmliches freisprechendes Erkenntnis zu
Grunde gelegen hat, bleibt fraglich, da die dafür vorhandenen
Quellen nichts darüber enthalten. Kelch und nach ihm Gadebusch
— aus beiden schöpfend aber Richter — geben weder Jahr noch
Monat an, sondern sprechen nur von einer alsbaldigen Befreiung.
Auch Bunge in seiner Revaler Rathslinie weiss darüber nichts Ge-
naueres anzugeben. Dagegen besitzen wir im Revaler Privilegien-
buche eine königliche Resolution vom 17. März 1660, laut deren
8. Punkte die Sache wider Rosenbach und Consorten niederge-
schlagen worden ist. Der darauf bez. Schluss dieses § lautet :
tWas die beiden arrestirten Personen BM. R. und Synd. Tunder-
feldt anlanget, so haben I. k. M. aus selbigem gnädigsten Bedenken
ermeldter Stadt unterthäniger Intercession hiemit gnädigst deferiren
wollen, dass dieselbe ihres Arrestes relaxiret, wieder auf freie Füsse
gestellet werden mögen, auch zu ihren vorigen Diensten und Aemtern
treten. Die Caution für den Stadts-Obrist L. C. Nieroth ist auch
nunmehr aufgehoben. > Nicht unwahrscheinlich ist es, dass der im
Jahre 1660 erfolgte Tod Karls X. den ganzen Conflict zu Grabe
trug. Wie sehr letzterer als Frucht persönlichen Unmuthes des
durch unausgesetzte Kriege in stetem Athem erhaltenen, von Natur
schon zum Zorn geneigten Regenten und weniger als das Ergebnis
rulliger Ueberlegung und objectiver Beurtheilung der ganzen Sach-
lage anzusehen, ergiebt sich wol auch daraus, dass seine Gemahlin
Hedwig Eleonore schon so bald nach seinem Tode in derselben
Privilegien bestätigung die Garnisonsfreiheit der Stadt, wie letztere
es beansprucht hat, auf den Fall kriegerischer Gefahr beschränkt
hat. Bis zum nordischen Kriege erfreute sich die Stadt des Ge-
nusses-dieses Rechts ; während desselben konnte von ihm nicht die
Rede sein, bis die Gapitulation vom Jahre 1710 in ihrem 14. § der
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Revals Garnisonsfreiheit.
443
Stadt Garnisonsfreiheit in der Weise zugesteht, dass in Friedens-
zeiten das Militär in Baraken untergebracht werden solle, welche
die Krone auf ihre Rechnung ausserhalb der Stadtmauern aufführen
werde. Dass es auch dabei auf die Dauer nicht sein Bewenden
haben konnte, vielmehr das, was in der Capitulation zugesichert
worden, wenn auch unter dem mildernden Umstände, dass der Stadt
zeitweilig eine Art Ablösungs- und Entschädigungssumme für die
eingebüsste Freiheit gezahlt wurde, sich in sein Gegentheil ver-
kehrte, kann uns um so weniger Wunder nehmen, als — worauf
schon oben hingewiesen worden — die inzwischen noch weiter fort-
geschrittene Kriegskunst die Selbstverteidigung der Stadt schlechter-
dings zur Unmöglichkeit gemacht hat, mit ihr aber im Princip
auch die Garnisonsfreiheit fallen musste.
Welche Bewandtnis es mit dem sowol in dem Schreiben
Karls X. vom 29. October 1658, als in der Resolution seiner Nach-
folgerin vom 17. März 1660 erwähnten Syndikus Tuuderfeldt —
beiläufig bemerkt, einem Schwager des Bürgermeisters v. Rosen-
bach — und ob und welchen Zusammenhang seine Inhaftnahme
mit dem Garnisonsconflicte gehabt, hat sich aus den bisher zu-
gänglich gewesenen Quellen nicht ergeben.
W. G.
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Communale Statistik.
er revaler < Gotteskasten», das Vermögen, aus welchem
die eTangelisck-lutherischen Kirchen Revals seit deren
Bestehen den überwiegenden Theil ihrer Unterhaltsmittel bezogen
haben, ist bekanntlich durch Senatsentscheidung der Stadtverwaltung
unterworfen worden. Die c Estländische Gouvernements-Zeitung»
giebt ihrer Freude über die Veränderung Ausdiuck, weil sie hofft,
dass nunmehr der Stadt die angeblich bisher mangelnden Mittel
für die Zwecke der öffentlichen Gesundheitspflege nicht mehr fehlen
werden, und legt dabei ihr Bekenntnis ab, welches dahin lautet,
dass die öffentliche Gesundheitspflege in Reval arg darniederliege,
dass man beispielsweise die Cholera sehr zu fürchten hätte, falls
nicht Wandel geschafft werde.
Sehr mit Recht wendet sich die <Revalsche Zeitung»1 gegen
diesen Schreckensruf und forscht nach dessen Begründung. Sie
findet keinen zwingenden Beweis für die Behauptung, dass die
öffentliche Gesundheit Revals sich in so schlimmer Lage befinde,
als es die Ausführungen der * Gouvernements-Zeitung» glauben
macheu sollen. Aber die cRevalsche Zeitung» vermag der Be-
hauptung auch ihrerseits nur eine gute Meinung entgegenzusetzen.
Man kanu nicht sagen, dass es der Mühe nicht verlohnt hätte,
mehr als Worte der Beruhigung herbeizutragen. Wenn auch that-
sächlich für Reval nichts ferner liegen mag, als eine Cholerapanik,
so handelt es sich doch im vorliegenden Falle nicht um die Abwehr
einer solchen allein.
* Nr. 88 vom 18. ^30.) April 1887.
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Communale Statistik.
44ö
Die «Revalsche Zeitung» hat es an gutem Willen nicht
fehlen lassen, der Wahrheit zu ihrem Rechte zu verhelfen . und
man kann sagen, dass es ihr auch gelungen ist, diejenigen, die ihr
Glauben schenken wollen, zu überzeugen. Aber welche Mittel
stehen ihr zu Gebote, ihre Behauptungen zu beweisen V Leider
muss man eingestehen, dass ihr so gut wie keine Mittel zu Gebote
stehen, um das zu beweisen, was zwar jedem guten Bürger Revals
als keines Beweises zu bedürfen scheint, was aber thatsächlich
— und wer will sagen s ohne Erfolg — doch angezweifelt wird.
Um ihre Behauptung, dass die öffentliche Gesundheitspflege Revals
zu aussergewöhnlichen Besorgnissen keinen Anlass biete, zu begründen,
schickt die cRevalsche Zeitung» den Zweifler zu denjenigen Aerzten,
welche lange genug am Orte thätig gewesen, um sich darüber ein
berechtigtes Urtheil bilden zu können ; sie führt einige Zahlen an
über frühere Choleraepidemien in Reval, welche, wenn für jene
Zeiten, auf die sie sich beziehen, auch von beschränktem Werthe,
für das Reval von heute, das seit Eröffnung der Eisenbahn eine
neue Physiognomie erhalten hat, jedenfalls ohne alle Bedeutung
sind; sie spricht endlich von der cMorbilität» und «Mortalität»
Revals, aber ohne das bedeutungsvolle Wörtchen c Ziffer» demselben
anfügen zu dürfen. Und das ist der Punkt, auf den es mir dies-
mal ankommt.
Es sei ferne von mir, mit meinen Ausführungen einen Angriff
gegen die Schlagfertigkeit der cRevalscheu Zeitung» einleiten zu
wollen. Sie hat aus dem Rüsthause die vorhandenen Waffen sich
redlich geholt. Dass aber das Rüstzeug nicht ausreichend versehen
war, das ist es, was mir aus diesem Streite hervorzugehen scheint.
Es liegt hier ein Mangel zu Tage, der nicht Reval allein
eigentümlich ist. Ausser Riga entbehren alle unsere baltischen
Städte, so viel mir bekannt, desjenigen Organs, dessen alleinige
Aufgabe die Pflege exacter Massenbeobachtung ist, des statistischen
Amtes. Was jener Beweisführung der «Revalschen Zeitung» die
Spitze abbricht, das ist der Umstand, dass sie die «Mortalitäts-
ziffern», die «Morbilitätsziffern» nicht ins Feld zu führen vermag.
In solchem Streite ist aber eine Ziffer mehr Werth als spalten-
lange Ausführungen, ja, eine Ziffer kann alles entscheiden.
Die Mortalitätszifler einer Stadt zu finden, ist nicht Sache
einer Zeitungsredaction ; ohne weiteres kann — wenigstens für
unsere baltischen Verhältnisse — gesagt werden, sie zu fixiren ist
die Pflicht einer jeden Stadtverwaltung. Die Mortalitätszifler ist
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446
Communale Statistik.
die Verhältniszahl der innerhalb eines gewissen Zeitraumes an
einem gewissen Orte Gestorbenen zu den Lebenden, in ähnlicher
"Weise ist die Morbihtätsziffer, die Krankheitsziffer, zu verstehen.
Diese Ziffern und nur sie allein geben beweisende Antwort auf die
Frage, ob es in einer Stadt mit der öffentlichen Gesundheit gut
oder schlimm bestellt sei.
Wer will leuguen, dass die Antwort auf eine derartige Frage
nicht nur aus Gründen des Streites gegen übelwollende Gegner
Werth habe ? Wie der Arzt nicht früher das Messer führt, als
bis ihm seine eigenen Sinne mit Hilfe entsprechender Instrumente
klare Einsicht in den Zustand des Kranken eröffnet haben, ebenso
kann auch nur diejenige Stadtverwaltung ihre Aufgaben richtig
erfassen, welche klare Einsicht in den Zustand ihrer Verwaltungs-
gegenstände zu gewinnen vermag. Diese Einsicht ermittelt aber
für gewisse Zustände nur die Statistik. So wenig die grösste Ver-
trautheit mit den örtlichen Verhältnissen selbst den scharfsinnigsten
Mann befähigt, die Mortalitätsziffer eines Ortes zu nennen, eben
so wenig vermag man ohne die Hilfe der Statistik auch für viele
andere wichtige Verhältnisse einer Stadt den allein ausreichenden
exacten Ausdruck zu finden.
Auch ist die Pflege der communalen Statistik nicht so
schwierig, wie man es sich in unseren Städten wol vorstellen mag.
Allerdings wäre ein statistisches Amt ohne eine wissenschaftlich
geschulte Leitung ein Unding. Aber dennoch braucht ein solches
Amt sich eines Specialist en nicht ungetheilt zu bemächtigen. Zunächst
kommen in dieser Hiusicht wol nur unsere Mittelstädte in Betracht.
In den drei mittelgrossen Seestädten Reval, Libau, Pernau findet
die Handelsstatistik bereits die Pflege, die ihr gebührt, resp. sollte
sie doch finden, und weder in der Gouvernementsstadt Mitau, noch
in der Universitätsstadt Dorpat dürfte es unmöglich sein, sich fach-
männischen Rath dauernd zu sichern. In beiden Städten sind
Statistiker von Fach bereits amtlich thätig. Was speciell Dorpat
anlangt, so könnte es der Pflege der Statistik an der Universität,
welche — bekanntlich eine Seltenheit — einen eigenen Lehrstuhl
für Statistik hat, nur förderlich sein, wenn diese durch Beziehungen
zu einem örtlichen statistischen Amte die so nothwendige Fühlung
mit der Praxis der amtlichen Statistik gewänne. Die Interessen
stimmen zu sehr überein, um die Annahme aufkommen zu lassen,
dass der Berührungspunkt nicht gefunden werden sollte.
Seitdem die baltische Volkszählung erfolgreich durchgeführt
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Comm anale Statistik.
447
und die Stadtgrenze nothdtirftig geregelt worden ist, fehlt der
communalen Statistik unserer baltischen Städte nicht mehr der
feste Ausgangspunkt. Dass es ihr an Aufgaben und, wenn be-
friedigend gelöst, auch nicht an Anerkennung fehlen werde, dafür
werden die allgemeinen Verhältnisse schon sorgen. Hier soll auf
die Aufgaben jetzt nicht näher eingegangen werden. Handelt es
sich doch zunächst nur darum, das Verständnis für die Sache der
communalen Statistik zu wecken, wozu mir der Streit zwischen
jenen beiden revaler Zeitungen gerade darum geeignet erscheint,
weil es sich um anscheinend evidente Thatsachen handelt, die dennoch,
nicht durch das Spectrum des Localpatriotismus betrachtet, anderen
Augen in anderem Lichte erscheinen konnten.
Der exponirte Posten, auf welchen unsere Stadtverwaltungen
gestellt sind, erheischt und rechtfertigt das Bedürfnis nach klarer
Einsicht in die eigenen Angelegenheiten.
Gustav Stryk
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Richard Baron Wolff f.
ie Gruppe der Männer, welche zu Ende der schweren vier-
ziger Jahre als Hoffnung des Landes und als Bürgen
einer besseren Zeit angesehen zu werden pflegten, wird nächstens
ausgestorben sein. Minder fest gefügt als ihre Väter, sind die
jüngeren Zeugen der Fölkersahmschen Reformperiode zumeist
in einem Lebensalter dahingegangen , das von der äussersten
Grenze menschlicher Existenz durch ein reichliches Decennium ge-
schieden war.
Ihnen hat der vor einigen Wochen im dreiundsechzigsten Lebens-
jahre verstorbene livländische Landrath und Consistorialpräsident
Richard Baron Wolff angehört. Ein Zeitgenosse Schirrens und
Hoheisels, P. v. Brunnows, des Akademikers L. v. Schrenk, des
Landraths Nikolai v. Oettingen und anderer in der Landesgeschichte
bekannt gewordener Männer, stand der Heimgegangeue bereits als
Student im Rufe, jedes Verhältnis von seiner moralischen Seite an-
zusehen, übernommene Verpflichtungen ernsthaft zu nehmen und
eben so gewissenhaft wie strebsam und vorurtheilsfrei zu sein. Den
Ruf eines thomme sirieux> (der französische Ausdruck sagt mehr
als der deutsche) hat er unter den verschiedensten Umständen und
Bedingungen bewährt und Zeit seines Lebens zu den Glücklichen
gehört, denen niemand Ungünstiges und nahezu jeder Gutes
nachsagt.
In weiteren Kreisen wurde Baron Richard Wolff zum ersten
Male genannt, als er — kaum fünfundzwanzigjährig — interimi-
Richard Baron Wolff f.
449
stisch die Vertretung des schwer erkrankten und bald darauf
(1850) zu Rom verstorbenen Ritterschaftsnotare Rudolf v. Engel-
hardt übernahm. Die Aufgabe erschien weder leicht noch dankbar.
Da es die Einführung der Agrar- und Bauerverordnung von 1849
galt, standen wichtige Dinge auf dem Spiel, — Engelhardt aber
war einer der Urheber des neuen Gesetzes gewesen, hatte lür
einen der besten Köpfe des Landes und für Fölkersahms rechte
Hand gegolten und ein Ansehen erworben, das seinem Nachfolger
schweren Stand bereiten musste. — Der interimistische junge
Notar wusste seine Sache indessen so vortrefflich zu machen, die
auf seinen Fleiss und seine Energie gesetzten Erwartungen so
entschieden zu rechtfertigen, dass die besten Männer des Landes
ihn zu Engelhardts Nachfolger zu machen wünschten und dass
das Bedauern allgemein war, als diese Absicht scheiterte. Dieser
Miserfolg diente dem bei der Wahl unterlegenen Candidaten in-
dessen zum Ehrenzeugnis , weil man wusste, dass Fölkersahms
Gegner dem damaligen Landmarschall keinen Notar hatten bei-
geben wollen, der seinen Eifer für die Sache der Agrarreform so
entschieden bekannte und bethätigte, wie Richard Baron Wolff
gethan hatte.
Für die erlittene Enttäuschung bot dieses Ehrenzeugnis
freilich keinen Ersatz. Dem strebsamen jungen Patrioten hätte
die Thätigkeit in der Ritterschaftskanzlei nicht nur eine in ihrer
Weise unschätzbare Schule, sondern zugleich die Möglichkeit
geboten, früher zu höheren und wichtigeren Landesämtern auf-
zurücken.
Wenn dem Verstorbenen solche Aemter dennoch beschieden
gewesen, wenn er in die Lage gekommen, seinem Vaterlande als
Mitglied des Landrathscollegiums , als permanent residirender
Landrath und als Consistorialpräsident grosse und bleibende Dienste
zu erweisen, so hat er das lediglich denselben Eigenschaften zu
danken gehabt, die bereits dem Jüngling nachgerühmt worden
waren: hohem sittlichen Ernst, strenger Gewissenhaftigkeit und
unermüdlicher Treue im Kleinen. Weil er sich nirgend an der
hergebrachten und äusserlichen Seite amtlicher Verpflichtungen ge-
nügen Hess, sondern jede Stellung darauf ansah, was aus der-
selben gemacht werden könne, ist der Liebling seiner
Jugend- und Studiengefährten als Vertrauensmann seiner Lands-
leute gestorben. Dass er ausserdem ein edler, wahrhaft frei-
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450
Richard Baron Wolfff.
sinniger und humaner Mensch war, brauchte in einem Lande
nicht erst gesagt zu werden, in welchem von jeher der Satz ge-
golten, <dass der Mensch mehr werth ist, als die Summe seiner
Leistungen >.
Baron Richard Wolft' war das Musterbild eines guten Liv-
länders ! So sollte man auch sein.
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Notizen.
Li vollieft, vornehmlich ans «lern 13. Jahrhundert, im Vaticaniaeheii Archiv.
Von Hermann H i 1 tl e b r a n d. Riga, Denhner 1887. S. 71.
Lex. 8»
ie kleine Thür beim Thurm des Galilei im Vatican, welche
zu dem grossartigsten Archiv der Welt führt, ist Jahr-
hunderte hindurch nur wenigen Begünstigten geöffnet gewesen, bis
endlich der jetzt regierende Papst diesen historischen Quellenschatz
allen, selbst ketzerischen Historikern zur Erforschung freigab.
Alle (Kulturländer Europas sendeten alsbald Fachmänner in
die alte Welthauptstadt, um aus der neu erschlossenen, fast uner-
schöpflichen Fundgrube historischer Erkenntnis Material für die
eigene Geschichte zu gewinnen. Unsere Provinzen blieben nicht
zurück. Hat doch unsere Heimat ein ganz besonderes Interesse
an der neuen liberalen Archivordnung Leos XIII.
Denn wenn auch die Gründung des deutschen Staatswesens
an der Düna in der Hauptsache eine That nationaler, speciell
sächsischer Expansivkraft war, so fragt sich doch, ob dieselbe aus-
reichend hätte wirken können ohne Unterstützung von Seiten der
universalen Tendenzen der römischen Kirche. Jedenfalls hat das
Papstthum einen wesentlichen Vortheil in der Ausbreitung der
lateinischen Kirche gerade in unseren Grenzen gesehen und darum
die Bestrebungen der livländischen Colonisatoren mit besonderem
Eifer unterstützt. Namentlich in der Zeit der Begründung und
ersten Entwickelung unseres Staatswesens hat die römische Curie
den grössten Einfluss auf unsere Geschichte ausgeübt.
Haben nun auch schon frühere Forscher, z. B. Turgenew in
seinen Historica Russiae Monimenta oder Theiner in seinen Vetera
monumenta Poloniae et Lithuaniae, viele Livonica aus dem vaticani-
schen Archiv veröffentlichen können, und sind auch in anderen
452
Notizen.
Urkundensammlungen für Livland wichtige Stücke bekannt gemacht
worden, so war doch damit der Reichthum des päpstlichen Archivs
für die livländische Geschichte noch keineswegs erschöpft. Die
Durchforschung jener Actenvorräthe durch Hermann Hildebrand,
den Herausgeber des von Bunge begründeten livländischen Urkunden-
buches, hat erwiesen, dass selbst für das 13. Jahrh. noch neue hoch-
interessante Bullen und andere Documente ergraben werden konnten.
H. hatte zunächst die Aufgabe, die Zeit von ca. 1435 bis
ca. 1550 bei seinen Studien für die noch herauszugebenden Bände
des Urkundenbuches zu erledigen. Es ist ihm aber gelungen,
ausserdem die Zeit von den ersten Anfängen der Colonisation bis
zum Jahre 1304 vollständig zu bearbeiten und auch für die über
dieses Jahr hinausliegende Zeit manches wichtige Stück zu ver-
zeichnen. Berücksichtigt man, edass, abgesehen von den grösseren
Unterbrechungen zu Weihnachten, zum Carneval und zu Ostern,
das Archiv an allen katholischen Kirchen festen und einigen speciell-
vaticanischen Feiertagen geschlossen bleibt, dass man dort nicht
allein an den Sonntagen, sondern auch an allen Donnerstagen von
seinen Werken ausruht und die tägliche Arbeitszeit nur von 8H bis
12 Uhr währt», so wird man das in einem halben Jahre Geleistete
um so höher anschlagen. Um dem Laien auch nur einen ungefähren
Begriff von der Grösse dieses Bücheroceans zu machen, führe ich
beispielsweise au, dass die eine Abtheilung: edas päpstliche Bullen-
register» für die Zeit von 1431 — 1559, nach Abzug der 113 auf
Alexander VI. entfallenden Bände, welche trotz aller Liberalität
noch nicht herausgegeben werden, im ganzen 1383 meist sehr
starke Foliobände enthält. An dieser Stelle scheint es mir nicht
angezeigt, genauer auf die Beschreibung der einzelnen Theile des
Riesenarchivs, wie sie H. den Fachgenossen auf den einleitenden
Seiten liefert, einzugehen.
Den Inhalt der uns vorliegenden neuen Publication H.s bildet
an erster Stelle ein Verzeichnis sämmtlicher im Registrum von
1198—1304 enthaltenen, auf Livland bezüglichen Bullen, ferner
(im Anhang) 47 im Verzeichnis aufgeführte Nummern, die theils
bisher unbekannt waren, theils unvollständig oder endlich an sich
leicht der Aufmerksamkeit der Forscher entziehenden Stellen ab-
gedruckt standen. Daran schliessen sich acht bisher uubekannte,
aus dem 14. und dem Anfange des 15. Jahrhunderts herstammende
Nummern an, die gelegentlich gesammelt wurden.
Entsprechend dem Fortschreiten des livländischen Urkunden-
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Notizen. 453
buches soll im 9. und in den folgenden Bänden desselben die Aus-
beute von 1436 an veröffentlicht werden ; die aus der früheren
Zeit, welche einen Nachtrag zu den bisher erschienenen Banden
bildet, glaubte der Herausgeber schon jetzt den Fachgenossen vor-
legen zu müssen.
Dieselben werden mit ihrem Dank nicht säumen. Freilich
der beste Dank, die richtige Verwerthung des reichen neuen
Materials für die Darstellung, wird doch wol noch etwas auf sich
warten lassen. Gerade die interessanteste Urkunde (Nr. 21) bringt
mit der wünschenswerthen Auflösung mancher alten auch neue
Räthsel. Es handelt sich da um die Citation des Bischofs Nicolaus
von Riga, des Ordens und der Stadt Riga vor den Richterstuhl
des Papstes Gregor IX. aus dem Jahre 1234. Diese Citation
stützt sich auf eine Anklage, die der Bischof von Semgallen,
Balduin von Alna, über die genannten Stände bei der römischen
Curie eingebracht. Der Mönch Balduin von Alna spielte eine sehr
bedeutsame Rolle im ältesten livländischen Staatswesen. Er wurde
nämlich vom Papste hierher gesandt, um der Entwickelung der
Gründung des Bischofs Albert zu einem deutschen Territorium
hemmend entgegenzutreten und, die universalen Tendenzen der
Kirche vertretend, aus Livland eine dem heiligen Petrus direct
untergebene Provinz zu gestalten. Schon der Bischof Albert hatte
einen ähnlichen Kampf zu bestehen gehabt, jetzt, nach dem Tode
des bedeutenden Staatsmannes, erneuerte die Curie durch ihren
Abgesandten Balduin den Angriff auf die geschichtlich gewordenen
Verhältnisse mit der ihr eigenthümlichen Schroffheit. Die römischen
Ideen aber zogen den Kürzeren. Die Curie hat selbst die Anordnungen
Balduins wieder aufgehoben und den Legaten, Bischof Wilhelm
von Modena, der mit liebevollem Eingehen ein richtiges Verständnis
der Bedingungen livländischen Staatslebens während seiner ersten,
noch in die Regierungszeit Alberts fallenden Reise nach Riga er-
worben hatte, beauftragt, die von den livländischen Ständen als
nothwendig erkannten Massnahmen zur Eroberung und zur Be-
festigung der Organisation des Landes zu bestätigen.
Die der erwähnten Anklageschrift Balduins entnommenen
neuen Nachrichten der Citationsbulle Gregors IX. verbreiten nament-
lich über die Eroberung des bis dahin dänischen Estland durch
den Schwertorden werthvolle Streiflichter. Wir erfahren hier ferner
zum ersten Mal, dass nicht allein der erste Meister des livländi-
schen Christritterordens (vulgo Schwertbrüder) Vinno, sondern auch
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4f>4
Notizen.
der Meister Volquin heftige Gegner in seiner Genossenschaft ge-
habt hat. Heinrich von Lettland hat offenbar absichtlich ver-
schwiegen, dass Volquin von seinen Rittern drei Monate gefangen
gehalten wurde, weil er sieh der römischen Sache gegenüber zu
connivent gezeigt habe. Noch so manches Andere erfahren wir
hier zum ersten Mal. Die Schwierigkeit der Verwerthung dieser
neuen Daten liegt einestheils in der parteiischen Färbung des
Mitgetheilten, anderenteils in dem Mangel chronologischer An-
gaben in der Bulle. So weit es des Herausgebers Pflicht war,
hat derselbe diese Schwierigkeiten in den Anmerkungen beseitigt1.
Mir scheint es indessen für denjenigen, der den Uebergang Nord-
estlands aus dänischem in deutschen Besitz in der zweiten Hälfte
der zwanziger Jahre des 13. Jahrhunderte schildern will, eine un-
erlässliche Pflicht, die Beziehungen festzustellen, in denen die Ur-
kunde Nr. 21 bei H. zu dem vielbesprochenen Uber cetisus Daniae
steht. Denn dass die Andeutungen in der eben erwähnten rätsel-
haften Aufzeichnung über die gewaltsamen Vorgänge bei der Besitz-
ergreifung Estlands durch den Orden zum Theil in dieser Nummer
bei H. eine Erklärung finden könnten, dürfte sich bei eingehenderem
Studium der beiden Urkunden ergeben'.
An dieser Stelle erlaube ich mir nur noch auf zwei weitere
Urkunden hinzuweisen, die auch dem Laien Interesse einflössen
würden. Das eine Document (Nr. 48) enthält die Rechnungs-
ablegung des päpstlichen Collectors Jacobus de Rota über gewisse
für die römische Curie in Livland gesammelte Gelder aus dem
Jahre 1319. Hier finden sich Angaben über Zahlungen, die von
vacanten geistlichen Stellen an den Papst gemacht werden mussten.
Die Einkünfte der livländischen Pfarren müssen darnach schon da-
mals sehr verschieden gewesen sein. Von der Petrikirche in Riga
waren z. ß. 10 Mark, eine für jene Zeit ansehnliche Summe, von
1 Hervorzuhelwu wäre u. a. die Citation des Pfarrers Heinrich vou Papen-
dorf als Zeugen. Nach einer Vermuthung von Ö. Berkholz (Li vi. Matth. 13,
S. 39 ff. i wiire der in einer Urkunde von 1259 vorkommende Heinrims plebanus
de Papendorpc identisch mit dem Chronisten Heinrich von Lettland. H. weist
darauf hin, dass der hier erwähnte Zeuge wahrscheinlich auch der bekannte erste
Schriftsteller Livlands sein dürfte.
' Die «remoti», texpulsh und «occisi» des Uber c. 1). eriuuern besonders
an den von mir vermnthungsweise ausgesprochenen Zusammenhang. Uelegent
lieh bemerke ich : Paldessen in § 53 dürfte vielleicht ans Poltsamn (estnischer
Name für Oberpahlen entstanden sein.
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i
Notizen. 455
der Pfarre zu Kubezala 6, von Loddiger nur 2 Mark zu zahlen1.
Wir hatten von derartigen Angaben über Einnahmen oder Zahlungen
livländischer geistlicher Aemter nur einige Notizen aus dem 15.
Jahrhundert1. Daher bildet die Urkunde 48 einen sehr erwünschten
Beitrag zur noch ganz in den Anfängen liegenden Finanzgeschichte
Livlands.
Endlich lenke ich die Aufmerksamkeit auf ein culturhistorisch
wichtiges Inventar aus den vierziger Jahren des 14. Jahrhunderts.
Dasselbe bietet ein Verzeichnis von Büchern, Kleidungsstücken,
Kirchengewändern und Kleinodien, die ein rigascher Erzbischof,
der in der angegebenen Zeit gestorben ist, hinterlassen hat. Der
Herausgeber hat die Vermuthung ausgesprochen, dass das Inventar
sich auf den Nachlass des Erzbischofs Friedrich beziehen werde.
Denn wir wissen aus einer Urkunde von 1332 (UB. 6, n. 2798),
dass dieser Erzbischof eine ansehnliche Bibliothek besessen hat,
und die mehr als 30 Codices, die im Inventar verzeichnet stehen,
sind nach mittelalterlichen Begriffen schon ein reicher Bücherschatz;
mir ist es nur bedenklich, dass die meisten verzeichneten Werke
einen kircheurechtlichen Inhalt haben, wahrend man in ihnen eine
vorzugsweise Berücksichtigung der Geschichte des Minoritenordeus
voraussetzen sollte. Erzbischof Friedrich hat diesem Orden,
dem er selbst angehörte und dem er zum Theil seine Bücher-
sammlung verdankte, ohne Zweifel grosse Theilnahme gewidmet.
Man weiss, dass er ein Leben des h. Franciscus verfasst hat'.
Es ist geradezu erstaunlich, welche Massen von Gewändern
and Geräthen ein rigascher Erzbischof zur Verfügung hatte ; dabei
sind so manche Stücke von üppigster Pracht*.
Es wäre an dieser Stelle kaum möglich, alle einzelnen Punkte
aufzuzählen, in denen die Kenntnis unserer Geschichte durch die
«Livonica> H.s gefördert worden ist. Durch Hervorhebung des
Wichtigeren und für Laien Interessanteren habe ich nur auf die
Bedeutung derselben hinweisen wollen. In Fachkreisen ist H.s
Herausgeberkunst längst anerkannt. So darf ich die Darbringung
1 Yskeshusen halte ich für eine Verdrehung von Ykescule.
» Vgl. H. Diederichs in den Sitz.-Bcr. d. Alt.Ges. 1873, S. 28.
» G. Berkholz in den Sitz. Ber. der Alt.Ges. 1881, S. 168 nach M. Perl
hach im *Xenen Archiv der Ges. für alt. dciit. Geschichtskunde (VI, 3).»
4 Das hei Ducnnge fehlende *abba* ist wol überhaupt kein Wort, sondern
vom mittelalterlichen Abschreiber verderbt ans alba, der gewohnlichen Bezeich-
nung für Messgewand.
naltUche Monatwchfift. Bd. XXXIV. Heft 5. 30
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450 Notizen.
aus dem vaticanischen Archiv als in jeder Beziehung dankenswert»
und hoch verdienstlich bezeichnen.
Joseph Girgen söhn.
Russisches N o v e 1 1 e n b u c h. Eine Sammlung rnssischer Erzählungen.
ITebenetSt vi»n Constantin J ü r g e tt a. Erster Hand. M i i.iu
Verlag von Victor Fclsko. ins»;. S. 27«. h»
Es lag im Reformwerk Peters des Grossen tiefbegründet,
dass sich die Fehler seiner Tugenden ganz vorzugsweise beim
weiblichen Theile derjenigen Gesellschaftsklassen Russlands geltend
machten, die von dem Schaffen des grossen Zaren unmittelbar be-
rührt wurden. Ein Attentat auf die überkommene Sitte rächt sich,
wie selbige auch beschaffen sein mag, am schwersten an denen,
deren ganze Existenz unbewusst im Banne dieser Sitte stand. Der
halborientalischen Clausur gewaltsam entrissen, trat die russische
Frauenwelt der höheren Klassen an der Wende des 17. und 18.
Jahrhunderts auf das schlüpfrige Parquet der aus Frankreich her-
rührenden Convenienz, ohne gleichwol in ihrer historischen Ent-
wicklung die Phasen durchgemacht zu haben, welche die Gestal-
tung des ritterlich höfischen Tones im Lande der Troubadours und
Chevaliers vom mittelalterlichen Turnier bis zum Hoffeste eines
Ludwig XIV. der Geschichte der Frau dieses und der ihm cnltur-
verwandten Länder vorgezeichnet. Vom souveränen Willen octroyirt,
stand das äussere Leben zur Zeit Peters gebieterisch zwingend der
russischen Frau gegenüber, ins Innerste des Hauses dringend, überall
beschränkend, überall erweiternd, von dem Alten etwa nur das ge-
heimnisvoll in die Vergangenheit hinüberweisende Lämpchen übrig-
lassend, welches in der Ecke des Frauengemachs das altehrwürdige
Heiligenbild beleuchtete. Spuren der Veräusserlichung in der Sinnes-
weise der russischen Frau bezeichnen unzweifelhaft die Geschichte
von Russlands achtzehntem Jahrhundert. Eine Bewegung grund-
verschiedener Art und nicht minder tief in die Geschicke der rus-
sischen Frauenwelt eingreifend ist diejenige, welche durch die
grossen Reformen Kaiser Alexanders II. bedingt wurde. Hatte
Peter der Grosse bei seiner Umbildung Russlands sich den stän-
disch- bureauk ratischen Staat des Westens , etwa Preussen zum
Muster genommen, so sollte das Reich jetzt auf staatsbürgerlich-
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Notizen.
457
selbstverwaltlicher Basis reorganisirt werden. Mit der Aufhebung
der Leibeigenschaft brachen die Schranken, die Stand von Stand
trennten, zusammen, die höheren Klassen wurden mitten in den
Daseinskampf hineingestellt, die traditionelle Standessitte machte
Anschauungen und Ideen Platz, die sich auf der Suche nach dem
allgemein Menschlichen, so weit ein solches unter Voraussetzung
nationaler Eigenart denkbar, auf der Suche nach einem praktischen
Lebensideal befanden, welches der sich neu gestaltenden Welt des
Staatsbürgerthums entsprechen sollte. Durch rege Berührung mit
dem Westen, durch Milderung der Censur mächtig gefördert, stellte
sich das freie Bildungswesen neben das staatliche, Autodidaxis und
Leetüre nehmen einen früher nie bekannten Aufschwung, und es
war vorzüglich das weibliche Geschlecht, das ehemals in seiner Er-
ziehung die Spuren des durch das Leibeigenschaftsrecht bedingten
häuslichen Absolutismus am beträchtlichsten empfunden, welches
die Einflüsse der Alexandrinischen Epoche am energischsten durch-
leben, seine Eigenart durch dieselbe in den mannigfachsten Typeu
zu sprechendstem Ausdrucke bringen musste. Es ist vorzugsweise
das trotzige Festhalten an der eigenen Individualität, am Selbst-
bestimmungsrechte der Persönlichkeit, das uns in den weiblichen
Typen jener Zeit entgegentritt. Verschieden sind die Wege, die
dieses Selbstbestimmungsrecht nach den sittlichen Voraussetzungen
nimmt, wie Naturanlage und Erziehung sie vorgesehrieben ; die Be-
reitschaft, sicli selbst zum Opfer zu bringen für den Mann, der dem in-
dividuellen sittlichen Ideal zu entsprechen scheint, tritt hart neben
die Bereitschaft, die Welt der Sitte selbst niederzutreten, wo diese den
Ansprüchen des <Ich> zu widerstreben scheint. All die Extreme
des Empfiudungslebens, deren die weibliche Natur fähig, der russi-
sche Publicist-Poet hat sie mit der ihm eigenen Feinfühligkeit für
den Pulsschlag seiner Gegenwart dauerndem Gedächtnis bewahrt,
und wir finden in dem russischen Novellenbuche von C. Jürgens
eine Reihe weiblicher Typen, die alle mehr oder weniger ihr Hei-
matsrecht aus der Zeit der grossen Reform ära her datiren.
Die erste Novelle: «Des Wurdalak Familie» von Graf Alexei
Tolstoi, hat anscheinend mit dem russischen Leben nichts zu thun
und kommt uns auf den ersten Blick wie eine Art unberechtigter
Eindringling in das Gebiet russischen Geisteslebens vor. Wer
jedoch die Gogolschen Dichtungen kennt, und Gogol war wie sein
Landsmann Tolstoi ein Kleinrusse, der wird in des Wurdalak Fa-
milie unschwer kleinrussische Motive in Fabel und Färbung Wieder-
au*
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458
Notizen.
finden. Die Geschichte hat eine gewisse ent feinte Aehnlichkeit mit
Prosper Merimäes bekannter Novelle cColombat, mit dem Unter-
schiede, dass die französische Erzählung fest an dem Boden der
Realität haftet, die russische ganz in Gespenster- und Zauberwerk
aufgeht. Hier wie dort das Hineintragen der Welt der Cultur in
die der Barbarei, hier wie dort der Blutdurst kampfgewohnter
Clane, wie er sich in Corsica, dem Schauplatze der «Oolomba», in
dem Institute der Blutrache, iu Bosuien, wo die Erzählung Tolstois
spielt, in dem unheimlichen Glauben äussert, der den nach Krieg
und derbem Lebensgenuss durstenden 'Bosniaken nach seinem Hin-
scheiden sich am Blute der Lebendigen berauschen lässt. Der fran-
zösische Seigneur des ancien regime, ein Typus in der Art des
prince de Ligne, wie ihn das 18. Jahrhundert zu zeitigen pflegte,
tischt sein Märchen mit dem ganzen zuversichtlichen Aplomb und
all den sprachlichen Schnörkeln des alten Versailles der blasirten
Gesellschaft des Wiener (Kongresses auf, ein Lichteffect der La-
terna magica im traulich dunkeln Salon, die unheimlichen Gräuel
barbarischer Sagenwelt grell auf die finsteren (iobelins der Wand
werfend, im wilden Gespensterspuk hinhuschend über den Fond
verfeinertster Cultur.
In < Jefimow» von Dostojewski finden wir all die Schrecken
wieder, die der Dichter auf seiner Wanderung durch das Inferno
des Daseins gesehen und mit Flammenschrift in die Weltliteratur
hineingezeichnet hat. Dostojewski ist hier ausnahmsweise nicht
jener versöhnungsfindige Besucher der Bajadere, der da, wo die
letzten Häuser stehen, unter tiefem Verderben noch ein mensch-
liches Herz zu entdecken weiss; das Bild des verkommenen Musi-
kanten Jefimow ist ohne jeglichen versöhnenden Zug gezeichnet.
Jefimow, ein musikalisches Genie und leibeigener Hofclarinettist
eines liberal denkenden ländlichen Grand-Seigneur, wird durch Be-
sitz einer trefflichen Cremoneser Geige zum Violinvirtuosen; ur-
plötzlich nistet sich der Hochmuth mit krankhafter Ausschliesslich-
keit in ihm, dem moralisch völlig Haltlosen, ein; von seinem Herrn
mit der Freiheit beschenkt und in die weite Welt hinausgeschickt,
taumelt er in einem durch fortgesetzten Trunk gesteigerten Traum-
leben durchs Dasein, in der festen Ueberzeugung, dereinst ein welt-
berühmter Violinist zu werden, und ohne ein Füukchen jenes Masses
von Ausdauer, welches allein die bedeutende Leistung ermöglicht.
Nachdem ein Fachgenosse, ein Deutscher ~- der Deutsche, ich er-
innere an den mit grosser Liebe gezeichneten deutschen Arzt in
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Notizen. 459
den «Gebrüdern Karamasow», kommt bei Dostojewski gemeiniglich
besser weg, als sonst bei russischen Autoren — sich vergeblich
bemüht, den durch Trunksucht völlig verkommenen Jefimow zu
retten, heiratet ihn eine tüchtige, lebensgeschulte Frau, Wittwe
und Mutter eines Töchterchens Nettchen Neswanow, welche Dosto-
jewski die Geschichte ihres Stiefvaters als Erinnerung aus ihrer
Kindheit erzählen lässt. In dem bizarren Spürsinn nach dem sein
Unglück verschuldenden Causalitätsnexus, einem Spürsinn, welcher
dem jedem Eindruck von Aussen widerstandslos Folge Gebenden
eigen zu sein pflegt, hat Jefimow. der von seiner Frau zärtlich
geliebt wird, es sich in den Kopf gesetzt, sie sei an all seinem
Unglücke schuld und ihr Tod allein könne ihn seinem wahren Selbst
wiedergeben, ihn zu jener Meisterschaft in der Kunst führen, an
der er als an ein ihm unentwendbares Erbe glaubt, bis das Hin-
scheiden der Frau, zusammenfallend mit dem gebieterisch bei An-
hören einer ausgezeichneten Geigenleistung geweckten Bewusstsein
vom völligen Versiegtsein der eigenen Kraft, den Unglücklichen in
Wahnsinn und Tod treibt. Was dieser tief wahren und vortrefflich
erzählten Geschichte ihren eigentümlichen Werth giebt, das ist
der Versuch, den der Verfasser in ihr gemacht, dem inmitten einer
AVeit von Elend aufkeimenden kindlichen Bewusstsein seine Ge-
heimnisse abzulauschen. Nettchen Neswanows Kindheitserinnernn-
gen beginnen mit ihrem neunten Jahre. Was sie um sich sieht,
als ihr Bewusstsein erwacht, das ist das Bild, welches jedem gross-
städtischen Kinde armer Eltern, die ihre Kleinen der Strasse mög-
lichst fern halten möchten, als schier einzige Erinnerung aus ihrer
Jugend stets im Gedächtnis bleiben wird: die nackten, feuchteu
Wände hoch oben im fünften Stock. Und in diese vier Wände
tritt nun die Phantasie des Kindes, gesättigt von den Eindrücken
der Strasse, und schmückt sie und ihre Insassen in ihrer Weise aus, und
des schönsten Schmuckes wird dasjenige sicher sein, was die meisten
Räthsel in sich birgt, was ein Geheimniss ahnen lässt, was sich
am meisten der durch einen Blick in die Aussenwelt zum Bewusst-
sein gekommenen trüben Alltäglichkeit entrückt. Wunderbar —
die gute, sorgsame, die leibliche Mutter, ihr Bild tritt bei Nettchen
Neswanow zurück vor dem des geistig abgestumpften, stets halb-
berauschten Stiefvaters, er ist ein Unglücklicher und er ist ein
Künstler, ein Wesen ganz und durchaus eigener Art, und die An-
ziehungskraft, die das Phantastische auf ein Kindergemüth übt,
lässt sie den Jefimow lieben, mit einer Art mütterlicher Zärtlich-
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400
Notizen.
keit lieben, als ein bedürftiges, des Mitleids würdiges und doch zu
so Hohem, Ausserordentlichem bestimmtes Wesen.
Die kleine Studie <Wera» von Frau Krestowskaja ist ein
Meisterwerk, wie es nur weiblicher Scharfblick für das Seelenleben
des eigenen Geschlechts zu schaffen im Stande war. Wera ent-
stammt einer Familie, wie es deren ehemals vielleicht mehr als
heute gab, in denen das Gemüthsleben des Kindes zu einer Kraft
und Innigkeit gedeihen konnte, welche das spätere Dasein leicht
zu einer Reihe schmerzlicher Illusionen aufzulösen vermag. Bei
aller Liebebedürftigkeit ledig geblieben , nach Bethätiguug der
kräftig arbeitenden Individualität suchend, findet sie ihre Lebens-
aufgabe schliesslich in der Arbeit und Fürsorge für einen bei
weitem jüngeren, talentvollen Künstler, der dem Erblinden nahe,
wobei die ergreifende Tragik, die auf dem Geschicke derartiger
liebender und sich ihre Liebe nicht eingestehen wollender weiblicher
Existenzen ruht, auch in diesem Falle in der wohlberechtigteu An-
klage des Künstlers, die Freundin habe ihm durch das Uebermass
der Wohlthat den freien Schwung der selbstbewussten Kraft ge-
nommen, nicht ausbleibt.
Ebenso der Wirklichkeit abgelauscht und in ihren kleinsten
Zügen motivirt ist das Gegenstück zu Wera, die zweite Novelle
der Frau Krestowskaja : «Ade!> Zwetkow, ein junger Gymnasial-
lehrer, der sich die Reinheit und Frische seiner Natur in der
Prövinz bewahrt hat, macht eine in seinen Augen nicht unbeträcht-
liche Erbschaft und begiebt sich in dem guten Glauben in die
Residenz, dass es ihm nun nicht fehlen könne, das Jawort seiner
ehemaligen geliebten Schülerin Alexandra Galewskaja zu erhalten,
der Tochter eines früher wohlsituirten höheren Beamten, welcher
sich Veruntreuungen erlaubt und nach seinem Tode seine ganze
Familie in bedrängten Umständen zurückgelassen hat. Die Galewskis
sind, wie das unter ähnlichen Umständeu zu geschehen pflegt, völlig
verlumpt ; das Prestige von Rang und Stellung soll gewahrt werden,
und das rohe Mitleid der alten Bekannten dient nur dazu, die
Familie sittlich noch tiefer zu entwürdigen. Zwetkow bringt sein
Anliegen, tief erschüttert von allem, was er gehört und gesehen,
vor und wird schliesslich abschlägig beschieden, da Alexandra laut
nüchternster Vereinbarung sich anheischig gemacht, die Maitresse
eines wohlbetagten und verheirateten Grafen zu werden, der über
ein grosses Vermögen verfügt und ihr freie Disposition für Wahl
dieser oder jener Villa an der Riviera zum künftigen Flitterheim
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Notizen.
4<J1
der Maitresseujahre litsst. Die Heldin philosophirt wie ein Usur-
pator, dem es um eine Handvoll hausbackener Moral mehr oder
weniger nicht ankommt ; an die Stelle von Religion und Pflicht ist
bei ihr der Cultus des Schönen getreten, jenes Schönen, von dem
Heine sagt: c Stets wird das Gute hadern mit dem Schönen», die
Moral hat sie mit Anwendung des Causalitätsbegriffs just ebenso
aus der Welt hinausescamotirt, wie der verlumpte Jefimow es zu
seiner Selbstrechtfertigung gethan.
«Tatjana», von Alexei Potechin, ist eine russische Dorf-
geschichte von vierschrötiger Wahrheit, die hie und da etwas ans
Brutale streift. Wahrend in den übrigen Geschichten des Novellen-
buchs das Sichloslösen der That sich aus oft widerstreitenden, inneren
Motiven von innen heraus vollzieht, herrscht hier die Sitte that-
bestimmend wie eine Art magischer Macht, ei*scheint die kirchliche
Ceremonie als ein Talisman, der dem Willen des Menschen Be-
wegung und Stillstand gebietet, seinen Lebensgang gleichsam will-
kürlich in verschiedene gesonderte Stücke brechend1. Die eigen-
willige Tatjana verzichtet ohne weiteren Widerspruch auf den
Verkehr mit ihrem ehemaligen Geliebten, sobald einmal alles von
der Bewerbung bis zur kirchlichen Einsegnung, wie sichs gebührt,
hergegangen ist, und beginnt ohne sonderliche Anstrengung ein
neues Leben mit ihrem neuen, ihr im Grunde herzlich unsympathi-
schen Manne. Die Charaktere der einzelnen Personen, des haupt-
• städtisch verlumpten Dorfgecken Ilga, der ceremoniösen und dorf-
klugen Matrjona Polikarpowna, des verschmitzten und geschmeidigen
Brautwerbers Demjan und des phlegmatischen Praktikus Dimitri
Petrow sind in wenigen Strichen musterhaft gezeichnet und alle
charakteristischen Momente russischen Dorflebens kommen in rascher
Folge zur Geltung. — Die Uebersetzung der fünf Novellen ist,
wie alles, was Jürgens auf diesem Gebiete geleistet, vortrefflich,
und können wir diese Anzeige nur mit dem Wunsche schliessen,
der Herausgeber möge dem ersten Bande seines russischen Novellen-
buches recht bald einen zweiten folgen lassen.
Th. P.
1 Der Herr Ree gestatte den Einwand, dasB neben der Sitte nls sehr be
stimmende Factoren der kräftig entwickelte Wahrheitssinn und da« energische
Pflichtgefühl der Heldin ihr Verhalten beeinflussen dürften. D. Red.
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»
Zu berichtigen:
Heft 4. S. 338 Z. »R d e in Scaliero «t. der Scaliero.
S. 350 Z. 28 «Inn n st. denn und vor st. von.
S. 3H8 Z. 2 Goufficr M. GnlifhYr.
;V>3oojeuo ueinypo». — Peoejb, 16-ro Man 1887 r.
OeJrurkt bei Ltadfoft' Erbon in Ilm al.
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Eine Nachlese zur deutschen Mundart in Estland.
fthrend W. v. Gutzeits Arbeit in Erforschung der
heimischen deutschen Mundart stetig und sicher fort-
schreitet, hat dessen fLivländischer Wörterschatz > nuu sclion seit
einer längeren Reihe von Jahren auf eine nennenswerthe Unter-
Stützung aus der eigenen engeren Heimat sowol, wie aus den
beiden Schwesterprovinzen verzichten müssen. In mehr als einer
Hinsicht ist dieses Feiern zu beklagen. Durch die staatlichen
Verhältnisse der Neuzeit nur unvollkommen erklärt, sollte die zur
Unzeit geübte leidige Zurückhaltung in ihnen gerade eine dringende
Aufforderung sehen, in die reichen Schätze, welche der baltischen
Dialektforschung sich darbieten, mit um so gespannterer Aufmerk-
samkeit und um so regerem Fleiss sich zu vertiefen. Denn das
ist gewiss, wer ihr nur einmal näher getreten, der weiss auch, wie
freigebig sie der ihr zugewandten Liebe und Treue lohnt, wie sie
nach Art der rückwärts gewandten Geschichtsbetrachtung Math
und Zuversicht für die kommenden Tage stärkt und doch auch
wieder die Freude an der Gegenwart kräftigt und aufrichtet, indem
sie ja ein noch nicht Vergangenes, trotz alledem und alledem in
lebendigem, kräftigem Wachsthum Stehendes uns vor Augen rückt.
Und ist, wie alles Schöne, auch die Schönheit und freie Bewegung
der Mundart der Zerstörung feindlicher Mächte ausgesetzt, nun so
soll uns das nicht irren, sondern zu um so eifrigerer Pflege und
Sorgfalt anspornen. Was von all den anderen geistigen Gütern,
die wir zu bewahren haben, gilt, das bewähre und übe sich
auch hieran :
Balti.cne Monatsschrift, »and XXXIV, Heft 0. 31
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4G4 Eine Nachlese zur deutschen Mundart in Estland.
Das Schöne stammet her vom Schonen, es ist zart
Und will behandelt sein wie Blumen edler Art.
Wie Blumen vor dem Frost und rauher Stürme Drohen
Will es geschonet sein, verschont von allem Rohen.
Die bescheidene Nachlese auf dem Felde heimischer Mundart,
deren Ertrag hier geboten wird, folgt der Richtung, welche des
Verfassers «Neue Beiträge zur deutschen Mundart in Estland»
(Reval, 1880) einschlugen. Was seit jener Zeit, im Laufe der
letzten Jahre, aus der Sprechweise seiner Umgebung als bemerkens-
werth erkannt und aufgezeichnet wurde, ist unter den Gesichts-
punkten zusammengestellt, die in der genannten Schrift eingehalten
wurden, so dass es als eine Ergänzung derselben gelten darf.
Nachdem, der diese Aehren sammelte, die in Estland gefundene
neue Heimat mit der älteren des deutschen Mutterlandes wieder
vertauscht hat, werden es die letzten sein, die seine Hand auflas.
Abei- die Erwartung, dass andere die begonnene Arbeit fortsetzen
werden, um die reiche Ernte, die noch ungeborgen auf dem Felde
liegt, einzuheimsen, wird hoffentlich kein frommer Wunsch bleiben.
Dass weitere Entlehnungen aus dem Estnischen, als sie früher
vermerkt wurden, nicht zu verzeichnen sind, erklärt sich aus den
Umständen. War von vornherein ihre Zahl eine sehr beschränkte,
so wird sie vermuthlith in der Zukunft sich nicht vermehren.
Eher steht zu erwarten, dass ein oder das andere Lehnwort mit
der Zeit wieder abwelken und zu Boden fallen wird. Eben so
wenig wird in absehbarer Zeit das Schwedische unsere Sprache
noch weiter beeinflussen. Ob das Russische in Zukunft mehr als
bisher auf die deutsche Sprechweise einwirken wird, steht dahin.
Bis jetzt war von solchen Einwirkungen nichts zu bemerken, es
wäre denn die in der amtlichen Schulsprache uns begegnende Aus-
lassung, wenn damit wie im Russischen nicht blos der Act der
Entlassung, sondern auch die Gesammtheit der zur Entlassung
kommenden Schüler bezeichnet wird. Dagegen will sich die Reihe
der dem Niederdeutschen entstammenden Ausdrücke, die sich aus
der Zeit erhalten haben, wo in Estland die niederdeutsche Sprache
die herrschende war, noch immer nicht schliessen. Zu den früher
angeführten treten jetzt weiter hinzu :
ämpern1 an. ambh, nhd. und nd. ampeln, in unserer Form über
ganz Norddeutschland verbreitet, mit Händen und Füssen sich
schwimmend abmühen.
ausnadeln von Pferden, losziehen, nd. utneihn.
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Eine Nachlese zur deutschen Mundart in Estland
405
bleiben in der Bedeutung tsein, weiden» : todt, gesund bleiben.
buchtlahm buglahm.
Buschkage wie sonst Buschlade.
Flott-Equipage, auf nd. SJcip Schiff zurückführend, Schiffs-
mannschaft der Flotte, auch amtlich.
Gcbrök, estn. padrih, herrenloses, d. h. keinem ßauerland zu-
geteiltes, mit Strauchwerk bewachsenes Feld, feuchter Busch-
heuschlag.
an dm Gräten hängen in hoffnungsloser Geldverlegenheit
sich befinden, nd. in de Graden hangen.
Kanditci- Conditor, wie auch im Russischen.
Kump, hd. Kumpf, neben üblicherem Kumme.
hurlos, nd. kurloonsk unlustig, rathlos, nach Fr. Reuter (Kein
Hüsung, p. 3): bei dem keine Cur lohnt oder anschlägt.
Linkpot Linkshänder.
Lucht Fensterrahmen. Dasselbe Wort wird dann auch für
einen Wassermoor mit grüner Oberschicht gebraucht, estn. luhha.
Paddweg Fuss- oder Feldweg, Streckweg, nicht, wie früher
angenommen wurde, von nhd. Pfad abzuleiten, sondern von nd.
pedden treten.
flirren, nicht von estn. pirrima, sondern umgekehrt auch
dieses aus dem Nd.
PladderweUer Regenwetter.
Renne, Rennstein Rinne, Rinnstein.
RofMchc Küche, deren Herdrauch unmittelbar in den darüber
befindlichen Schornstein aufsteigt.
schrofen mit zahlreichen Zusammensetzungen, geschroft, unge-
schroft, nhd. schroten.
sielen, nd. sälen, an die Schleien oder Sielen schirren.
Stüm, stümen, nd. Stom Staub, stömen stäuben.
unterhbtig unter der Haut von Eiter zerfressen, von nd. Jcüt Eiter.
Zu Kalcs möge noch bemerkt sein, dass die altschwed. Be-
deutung von c weidlicher, grosser, angesehener Mann>, auf welche
früher allein hingewiesen wurde, schon im Neuschwed. und darnach
dann auch im Niederdeutschen in die eines hohlen, aufgeblasenen,
eingebildeten Menschen übergegangen ist.
Zu den ungewöhnlich zahlreichen Bezeichnungen für G e -
fährte, die uns begegneten, sind noch nachzutragen der Zwei-
spänner-Schlitten, der Kanadische Schlitten und der Landolet, ein
zweisitziger Landauer. Den nicht minder zahlreichen Brotsorten
31*
406 Eine Nachlese zur deutschen Mundart in Estland.
aber gesellen sich noch hinzu das unsüssc und das aus geschroftem
oder ungeschroftem Korn.
Dem stattlichen Bestand 'der durch ihr hohes Alter ehrwürdigen
Ausdrücke, welche eine besondere Zierde unserer Mundart sind,
wenn auch einige derselben nur hin und wieder gehört werden,
treten als früher noch nicht erwähnt hinzu:
Agelster, die mhd. Bezeichnung für Elster, ahd. agalstra, älter
nhd. Agalster, nd. Agestcr, Exter, Hester, Heister.
Altmeister zuweilen für Anrichter, Oldermann.
Behebung Beschluss des estl. Landtags, der die Interna berührt
und als solcher keiner Bestätigung der Staatsregierung bedarf.
Landrathsstuhl Amt eines Landrathes, wol auch das Land-
rathscollegium .
Schlungs Lump, Liederjan, nach dem älteren Schlüngcl für
nhd. Schlingel.
Von eigentümlichen Redensarten wollen zwei neue verzeichnet
sein : einem einen Küster, d. h. Fusstritt geben, und in diö Brcdouille
kommen in Noth, Verlegenheit gerathen.
Als vor Zeiten gepflegte, nun allmählich in ihrem Glanz er-
bleichende Sitte möge mit ihrem Ausdruck auch noch der Quartal-
schmor erwähnt werden, eine gemeinsame Beamtenmahlzeit, in Reval
früher «Zum lahmen Frosch», in den letztvergangenen Jahren bald
hier, bald dort abgehalten.
Als hübsche Neubildungen oder mit einer neuen, eigentümlichen
Bedeutung versehene Wörter verdienen weiter vermerkt zu werden ;
ädern zur Ader lassen.
sich bahnen wund Werden.
Discipcl Apothekergehilfe, Gehilfe des Wundarztes.
Erdbeil Strauchhacke.
kclken mit einem Rutschschlitten, dem sog. Kdk, fahren.
mit Kipp und Kapp mit Sack und Pack.
Koller das zum Ausrollen gebrauchte Ei bei dem bekannten
Jugendspiel zu Ostern, im Gegensatz zum TUkser, dem Ei, das
zum Anstossen genommen wird.
Krepierling Todescandidat, ebenso glücklich geformt, wie die
zahlreichen ähnlichen Bildungen auf -ling : Aufwächsling, Anfeögling,
Frechling, Füssling (Bauer mit sog. Fusstagen), Häusling, Jaglinge,
Jährling, Keckling, Läufling (Deserteur), Miethling (auf Tagegelder
widerruflich angestellter Beamter), Schioindcrling, Wächsling, Ziehimg.
Lehrarbeit Arbeit für Lehrkinder , Coufirmaudeu auf dem
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Eine Nachlese zur deutseben Mundart in Estland. 467
Lande, in Haus, Garten, Hof und Feld. Während die Kinder,
welche den Confirmandenunterricht, die Lehre, vollständig besucht
haben, lehrfrei werden, sind diejenigen, welche nach einer blossen
Vorlehre noch die Nachlehre zu besuchen haben, vorläufig nur
Halbgelehrte.
schlicken listigen Vortheil zieheu.
speicheln von kleinen Kindern, den Speichel fliesseu lassen,
säbern.
tohoien Tohoi rufen.
trach—trach Schlag auf Schlag.
umhacken, bildlich, von einem Walde, durch Windbruch ver-
wüsten.
, UmJcosien Unkosten.
weichhaft werden entweichen, desertiren.
Wie lebendig sich fort und fort insbesondere der Trieb zu
Neubildungen durch präpositioneile Zusammensetzung zeigt, die in
der oben angeführten Schrift bereits die Doppelspalten von 34 Seiten
fülleu, bestätigt uns neuerdings eine ganze Reihe eigenartiger
Formen :
abthauen
abtilksen
anfuttern
anlangen
aufgestümt (von einem durch Stüm erhöhten Weg)
aufmessen (ein Landstück, = vermessen)
aufzeigen (vorzeigen)
ausklagen (eine Schuldsumme, wie sonst einklagen)
ausrollen (Eier)
aussprengen (Bauern aus geschlossenem Grundbesitz)
begranden (mit Kies bewerfen)
bcwählen (ein Amt, durch Wahl besetzen)
sich eindecken (gegen Coursverlust)
einhaucn (von Pferden, die beim Laufen mit den Hinterfüssen
an die Vorderbeine schlagen)
cinnivelliren (durch Nivelliren in eine Karte einzeichnen)
einsingen (eine Leiche)
verwurzelt abgearbeitet, au den Arbeitstisch wie festgebannt.
Für die Vorliebe zu pleonastischen Bildungen linden sich als
neue Zeugen :
angelangen (anlangen), annehmen (einen Fuhrmann, nehmen),
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468 Eine Nachlese zur deutschen Mundart in Estland. .
einängstigen (in Angst versetzen, ängstigen), eingelangen (zur Stadt
kommen, eintreffen).
Als früher noch nicht erwähnte absolut gehrauchte Verben
begegnen uns • verantworten (die Verantwortung tragen), versäumen,
verspäten (von ßahuzügen : der Zug versäumt, verspätet 25 Minuten),
verwurzln (durch Ueberanstrenguugam Arbeitstisch herunterkommen),
vortheilen (eineu Vortheil ziehen, oder: zum Vortheil seine Lage
■
verändern).
Auch mehrere studentische Ausdrücke sind aus der Kraft-
sprache der Hochschüler nachzutragen : Absch . . (Abfuhrhieb),
aufkrachen touchireu, klotzen zahlen, mopsen ärgern, reizen, Pütze
für den weiblichen Busen, reissen contrahiren, stürzen (einem einen
dummen Jungen, aufbrummen).
Zu dem Geschlecht yon 'Komitee, vor welchem wir den Artikel
bald masculinisch, bald femininisch, bald neutral gebraucht sehen»
ist die früher getheilte Annahme, als komme das Wort von com-
missio her, dahin zurechtzustellen, dass die Herkunft vielmehr von
comitatus nicht mehr zweifelhaft sein kann, also dem entsprechend
das masc., oder in Anlehnung au französ. indifferentes comite das
neutr. den Vorzug verdient, während das fem. keine Berechtigung hat.
Dass Substantiva von ursprünglich anderem Geschlecht nach
Gewinnung eines e als Endbuchstaben Feminina werden, kommt
auch in der neuhochdeutschen, Schriftsprache vielfach vor. Es sei
nur erinnert an Molke (mhd. das molclwn), Sitte (ahd. der situ, mhd.
der site, noch im 16. Jahrh. häufig der Sitt), Waffe (mhd. das wafen),
Wolke (mhd. das wölken). In unserer Mundart ist diesei Umbildungs-
process für fremdsprachige, aber auch für deutsche Wörter eiu
ganz gewöhnlicher. Aus der grossen Menge der betr. Wörter hier
nur einige Belege. Wir sagen : Ambare, Bärme, Brezc, Burkane,
Burke, Dessätine, Gleise, üalge, Hufe (des ft'erdes), Klete, Knute,
Kruke, Kuje, Kupitze, Latere, Majake, Moskobade, Napj>c, Palatc,
Hesche, Rossolje, Sade, Salogge, Schichte, Stadolle, Tarakane, alles
Wörter, die wir erst mit einem e als Endung versehen habeu.
Dazu gesellen sich nun auch Schmore (neben mascul. Schmor) und
Modde Schlamm (neben mascul. Modd und Modder), vielleicht auch
Trosse (eine Art Tau), dessen Geschlecht und Form aus der Schrift-
sprache schwer zu belegen ist. Dagegeu hat llökc, wie man neben
Höker zu hören bekommt, sein männliches Geschlecht noch beibe-
halten.
Den Substantiveu auf -är, -cur, -or, die, abweichend vom
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Eine Nachlese zur deutschen Mundart in Estland. 469
Schriftdeutschen, bei uns im Singular der schwachen Declination
zugewiesen werden (des Secretären, Gouverneuren, Pastoren), während,
wieder abweichend vom Schrittdeutschen, im Plural auch die auf
-or mit c tlectiren, also der starken Declination folgen (die Direc-
tore, Pastore), sind noch die auf -ar beizufügen. Denn mau sagt:
des Commissareti, des Missionaren. Im Plural dagegen wird, wie
bei denen auf -ür und -cur, dem Schriftdeutsch gemäss die starke
Form mit e gewählt.
Zur Pluralbildung der Substantiva verdient vielleicht auch
noch hervorgehoben zu werden, dass Strauch in der Mehrzahl zwei
Formen aufweist, Sträuehe und Sträuchcr, und dass Kuckel häufig
unverändert bleibt, daueben jedoch auch Kucheln bildet. Wenn
der Weck im Plural und in Zusammensetzungen in der Hegel die
schwache Endung annimmt (die Wecken, Wcckcngang), so darf man
wol annehmen, dass die Femininform Wecke oder auch die masculi-
nische Nebenform Wecken darauf eingewirkt hat.
Merkwürdig bleibt auch der Plural Gäule, nicht seiner Form
wegen, welche die gewöhnliche, sondern seiner Aussprache wegen.
Die angefühlte Form bildet die eiuzige Ausnahme zu der sonst
undurchbrochenen, festen Regel, wornach das g vor den hellen
Vocalen (c, i) und Ablauten («, ö, ü) dem ähnlich, d. Ii. weich
gesprochen wird. Man wird nicht fehlgeheu, wenn man die Ursache
dieser sonst unerklärlichen Abnormität darin sieht, dass, obgleich
allerdings schon mhd. giule, seit dem 10. Jahrb. Genie, nhd. wenig-
stens in der Regel Gr««/« uns begegnet, besonders mitteldeutsche
und norddeutsche Schriftsteller, der Volksaussprache nachgebend,
die Form Gaule vorziehen und dass diese Form, die uns z. B auch
in Unlands bekanntein Balladencyklus vom Grafen Eberhard dem
Greiner geboten wird (fDie Döffinger Schlacht» bringt: cSie
steigen von den Gatdm, die Herrn vom Löwenbund >) unwillkürlich
die Aussprache beeinflusst hat.
Und sind wir schon einmal bei Abnormem, so möge auch
gleich eine auffallende Construction Erwähnung finden : das Wort-
paar theils — theils verliert häufig seiue adverbiale Natur, um sub-
stantivisch verwandt zu werden, sogar mit folgendem Genetiv, so
dass es nun die Stellung eines Satzsubjectes einnimmt, zu welchem
das Prädicat in den Plural tritt : Theils der Feinde hielten stand,
theils derselben wichen beim ersten Angriff.
Den Beschluss dieser Nachlese endlich mache eine Ergäuzung
zu dem früher über unsere Vornamen Gesagten. Auch was die
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470
Eine Nachlese zur deutschen Mundart in Estland.
letzten .Jahre an solchen geliefert haben, bewegt sielt durchaus in
dem Kreise, wie er früher von uns umschrieben wurde, sowol was
die Vollnamen als was die Art der Veränderung bei den Kose-
namen betrifft. Bei den männlichen Vornamen ist ein in immer
weitere Kreise dringendes erfreuliches Zurückgreifen zu den schönen,
bedeutungsvollen altdeutschen Namen zu bemerken. Neben russi-
schen wie Askold (übrigens erst aus dem altschwed. Höskuldr ent-
standen), Boleslaw, Leodimir, Theobul, Wladislato, die in deutschen
Familien doch nur höchst selten und selbst dann in der Regel
neben anderen , gut germanischen begegnen , und solch fremd-
ländischen wie Carlos, Charles, Charly, Fernando^ Wallace, die
meist auf eine besoudere Veranlassung zurückzuführen sind, ebenso
wie Amalie, Wittgenstein als männliche Vornamen sich eben nur
aus ganz bestimmten persönlichen Umständen erklären, oder neben
so räthselhaften wie Ho, sind es gewisse biblische Namen, die gern
gewählt werden, Bartholomäus, Eliescr, Ephraim, Matthias, Michael,
Nathanael, Thomas, einige wenige klassische wie Arkadius, Aurel,
Carolus, Cyprian, Eusebius, Justus, Jtistinus, Marie, Timoleoti, die
immerhin selten vorkommen. Weitaus die meisten männlichen Vor-
namen, welche gegeben wurden, sind echt deutsche, darunter viele
von altem, kräftigem, volkstümlichem Schlag. Um nicht bereits
Gesagtes zu wiederholen, mögen nur einige der letzteren als früher
unerwähnt geblieben genannt sein ; man freut sich ordentlich an
dem guten, vollen, ehrenfesten Klang dieser Barnim, Christfrkd,
Divdrieh, Eckard, Egbert, Egon, Ehrenfried, Everth, Frank, Harold,
Herbert, Uildebert, Hilbert, Hilmar, Horst, Jürgcn{s), KUtus, Konradin,
Kurt, Meinhard, Vaer, Boder, Büderich, Boger, Stillfried, Tankred,
Udo, Wilfried, Witold, Wolfgang. Wünschen wir ihnen noch viele,
viele Nachfolger I
Bei der Umwandlung in Kosenamen wiegen die Endungen
auf * und o vor ; a ist selten und fehlt unter den hier zu gebendeu
völlig. Es fanden sich Eddo (Edwin), Emo (Emil), Karli (Karl),
Leo (Timoleon), Ossi (Oskar), Thommi (Thomas), Vico (Victor),
Walli (Waldemar), Willo (Wilhelm). Eine Verkürzung findet, wie
wir sehen, nicht gerade immer statt, wohl aber bei mancheu ehie
Verdoppelung des inlautenden Consonanteu. Als russisch geformter
Kosenamen ist neben Thodja für Theodor noch Wolodja für Woldemar
anzuführen.
Den mit Vorliebe gewählten weiblichen Vornamen lässt sich
nicht, wenigstens nicht dem Durchschnitt derselben, das gleich-
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Eine Nachlese der deutschen Mundart in Estland. 471
günstige Zeugnis ausstellen, wie den mannlichen. Nebeu russischen
wie Anastasia(e), Marina, Nadjeshda, einigen biblischen wie Mirjam,
zu dem aber vermuthlich einer der Ebereschen Romane Anlass ge-
geben hat, finden sich ja wol einige wohlklingende, altgermanische,
Adelgunde, Aslauga, Brigitte, Frieda, Ilmar, Ines, Irmgard, Karin,
Nora, liita, Segunde, Sigrid, Thyra, Wita, und auch sonst manche
ansprechende Mädchennamen, aber auch viel Geziertes, Geschmack-
loses, ja Unsinniges. Sehen wir uns einmal die nach den Geburts-
registern des letzten Jahrzehnts zusammengestellte neue Reihe
darauf an, was für bemerkenswerthere und früher noch nicht ge-
nannte Namen wir darunter finden. Welch bunte Gesellschaft,
diese Agla'e, Agneta, Aimee, Alma, Angelica, Aurora, Barbara, Beate,
Beatrice, Estretta, Eveline, Felke, Felicia, France, Francoise, Irene,
Ivonne, Leoeadic, Leomla, Lucy, Medea, Mcly, Sibylle, Theodosia,
Theresia, Victoria, Viola. Es lasst sich doch nicht leugnen, dass
die Fremdländerei sich hier noch ungebührlich breit macht, und
denken wir gar an die Anina, Ina, Nina, die Anine, Blandine, Egine,
Florinc, die Annette, Juliettc, Minettte, oder erst an so abenteuerliche
Namen, wie Elina, so wird zuzugeben sein, dass für die Pflege
guten Geschmacks hier noch ein weites Feld offen steht.
Für die hypokoristischen Formen wird wie bei den männlichen
% als Endung bevorzugt; daneben kommt vielfach das dort seltene
a vor, während nach den aus früherer Zeit erwähnten Ago, lledo,
Lotto, Nonno oder Nttnno die Endung auf o uns nicht weiter begegnet.
Man vergleiche Agsi neben Aga (Agnes), Ahm (Alma), Erwi
(Erwine), Hcddi (Hedwig), Jfelmi (Wilhelmine), Libi (Elisabeth),
Lisi (Elise), Mara neben Mag» und Marga (Margarethe), Mia
(Marie), Mini (Mirjam), Sonna und Sonnt (Sophie), Tori ( Victorie).
Auch hier wieder ist es nicht immer eine Verkürzung, welche ge-
wonnen wird, und mehrmals findet sich, wie wir das auch bei den
Knabennamen sahen, der inlautende Consonant verdoppelt.
Dr. K. Sali m a u u.
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Am Sarge Ferdinand Bergs,
weil. Director der Stailt-Kealsvhule zu Riga.
GoKpruchen am 18. Februar 18S7.
gern Manne, dessen sterblicher Hülle wir heute die letzte
Ehre erweisen, lag Zeit seines Lebens nichts ferner als
die Neigung, seine Person und sein Wirken gefeiert zu sehen. Bei
aller männlichen Thatkraft demüthigen Sinnes und anspruchslosen
Wesens, kannte er in Bezug auf seiu Wellen, geschweige denn
auf sein Vollbringen kein Selbstgenügen. Ernst und schlicht
trachtete er darnach, in allen Stücken den guten Kampf zu kämpfen,
in keinem selbst sich schätzend, dass er es vollkommen ergriffen
habe. Wahrlich, die ihm nahe standen, die wissen es, dass au
seinem Sarge kein tönender Pauegyrikus laut werden darf, dass
hier es nur darum sich handeln kann, in der einfach treuen Schil-
derung seines harmonisch-gleichmässigen Erdenlaufes den Grund-
ton vibrireu zu lassen, welcher seinem Leben die Klangfarbe ver-
lieheu hat. So sei mir denn gestattet, die wichtigsten biographi-
schen Züge der Standrede einzuordnen, welche die Stadt-Realschule
dem Gedächtnis ihres Organisators und ersten Directors zu widmen
sich dankbar gedrungen fühlt.
Ferdinand Berg gehörte einer Familie an, welche vor nicht
gar langer Zeit in den baltischen Landen heimisch gewordeu ist.
Sofern wir recht berichtet sind, wanderte um die Wende des Jahr-
hunderts ein jugendliches Brüderpaar aus dem jetzigen Königreich,
damaligen Kurfürsteuthum Sachsen aus und nahm L i v 1 a n d zum
Reiseziel : ein Candidat des evangelischen Predigtamts, welcher die
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Am Sarge Ferdinand Berga.
473
ihm bestimmte geistliche Herde, und eiu Buchbindergeselle, welcher
den goldenen Boden seines Handwerkes im Norden am Ostsee-
gestade suchte. Beide fanden die Stätte, an welcher sie kräftig
und gedeihlich sich einbürgern durften, der eine auf verschiedenen
estnischen Pastoraten des nördlichen Livland, von dort als liv-
ländischer Generalsuperintendent nach Riga übersiedelnd, wo ihm
ein früher Lebensabend und ein Tod mitten aus der Vollkraft ge-
segneter amtlicher Wirksamkeit heraus beschieden war, der andere
in der alten livländischen Herzstadt Wolmar, in welcher seine
Arbeit ihm ein Haus und eiue geachtete bürgerliche Stellung schuf.
Die männliche Nachkommenschaft beider Brüder ist bis auf die
Gegenwart in zahlreichen gelehrten Berufsarten thätig gewesen ;
die Prediger und Schulmänner aus ihrer Reihe aber sind in deu
letzten Decennien vorzugsweise der wolmarscheu Familienlinie ent-
stammt.
Dort in Wolmar nun wurde uuser Ferdinand Berg, als das
jüngste Kind unter mehreren Geschwistern, am 22. April 1825 ge-
boren, genoss die erste Erziehung und Unterweisung im elterlichen
Hause und verlor im sechsten Lebensjahre seinen Vater. Darauf
empfing er weiteren Unterricht in der Kreisschule zu Wolmar und
sodann zu Wenden, wo ihm die Familie seines Oheims, des da-
maligen Lehrers, späteren Inspectors der Kreisschule, Moltrecht,
liebevolle Aufnahme gewährte, deren er sich aucli erfreute, als er
nach absolvirtem Kreisschulcursus auf acht Jahre in die gymnasiale
Lehranstalt zu Birkeuruh überging, povi unter der mustergiltigen
pädagogischen Leitung des Lehrers von Gottes Gnaden. Dr. Albert
Hollander, dem auch er zeitlebens ein pietätvolles Andenken be-
wahrte, gewann Berg in nachhaltigster Weise segensvolle Eindrücke
für Herz, Gemüth und Charakterbildung. Ausgestattet mit der
trefflichen Geistesreife, den gründlichen Kenntnissen und der schönen
sittlichen Gediegenheit, welche die ehrenvoll entlassenen Zöglinge
der Erziehungsanstalt zu ßirkenruh auszeichneten, bezog Berg im
Jahre 1845 die Laudesuniversität Dorpat und wurde unter dem
fünften Rectorate Neues immatriculirt. Er widmete sich dem
Studium der Naturwissenschaften, aus welchen er zum Specialfach
die Zoologie erwählte. Seine akademischen Jahre fielen in eine
äusserst glückliche Zeitepoche ; denn gerade mit der zweiten Hälfte
des vierten Decenniums der Universität begann in Dorpat jener
mächtige Aufschwung der naturwissenschaftlichen Disciplinen, von
welchem die Forschung auf diesem Wissensgebiete uoch heute au
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474
Am Sarge Ferdinand Bergs.
der baltischen Hochschule getragen wird. Der junge Student durfte
zu einer reichen, mehrfach glänzenden Corona akademischer Lehrer
aufblicken, von welchen fast jeder zu fesseln, anzuregen und für
den Dienst der Wahrheit zu erwärmen wusste. Da entfalteten
ihre hochbedeutsam fördernde Lehrwirksamkeit der Geist und Leben
sprühende Reichert, der meisterhafte Beherrschung des Lehrinhaltes
mit klassischer Formvollendung des Vortrages verbindende ßidder,
der mit Leichtigkeit die schwierigsten Aufgaben der Unterweisung
lösende, durch rastlosen Eifer zur wissenschaftlichen Theilnahme
unwiderstehlich hinleitende Karl Schmidt, der namhafte Meteorologe
Kämtz, der tüchtige Systematiker Grube, der umfassend gelehrte
und ausgeprägt kritisch veranlagte Asmuss, der feinsinnige Alexander
Bunge, dem mühevolle Forschungsreisen den weiten Blick in das
Ganze der naturwissenschaftlichen Disciplinen, iu die tieferen Zu-
sammenhänge des organischen Geschehens und seiner physikalischen
Bedingungen eingetragen hatten. — Aber der junge Naturforscher
liess es nicht bei den nächstliegenden Fachstudien bewenden. Kaum
wol aus einer Vorahnung des Berufsfeldes, auf welches das Leben
ihn einst stellen sollte, sondern mehr aus der intuitiven Erkenntnis
heraus, dass der Leitstern der universitas literarum ihm nicht ver-
loren gehen dürfe, liess er sich den Besuch mathematischer Vor-
lesungen angelegen sein. Auch nach dieser Richtung wurde damals
Treffliches geboten ; so durfte Berg von der eminent klaren und
anschaulichen Lehrgabe Senffs, von dem gründlichen Unterrichte
Mindings und von den tief durchdachten, lebhaft anregenden Vor-
trägen Mädlers vortheilen und hat später aus diesen Nebenstudien
reichen Gewinn sowol für die Fortschritte in seinem Hauptfache,
als auch für seine didaktische Vorbildung davongetragen.
Unter dem Einflüsse so hervorragender Lehrer mit ihren
reichen Gaben und Kräften des Wissens und Könnens war es eine
Freude den Studien obzuliegen, und Ferdinand Berg hat seine
ganze Universitätszeit von dieser Freude durchglühen lassen. Zum
geselligen Freundesverkehr herzlich geneigt, hat er die wichtigste
Aufgabe seiner akademischen Jahre doch immer als die erste und
oberste festgehalten und derselben alles untergeordnet. Da hat es
denn für ihn ein ernstes, frisches, eindringliches und nachhaltiges
Arbeiten und Forschen gegeben, längere Zeit hindurch in enger
Freundesgemeiuschaft mit dem Fachgenossen Flor, dem nachmaligen
Professor der Zoologie in Dorpat. Bei guten Gaben, unermüdlichem
Fleisse und grosser Treue in der Verfolgung der gesteckten Ziele
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Am Sarge Ferdinand Bergs. 475
gelang es Berg nach vollendetem Quadriennium, den gelehrten
Grad eines Candidaten der physiko-mathematischen Facultät zu er-
werben, nachdem er die Prüfung glänzend bestanden hatte und
seine Inauguralabhandlung, welche die wissenschaftliche Bestimmung
der Brachyuren des Stillen üceans betraf, mit allseitigem Beifall
anerkannt worden war.
So war die Scheidestunde von der alma mater herangenaht;
mit ungewöhnlich umfassenden, wohl fundirten Kenntnissen ver-
sehen, zu ernster Charakterreife gediehen, verliess der junge Candidat
im Jahre 1850 Dorpat. Die wissenschaftlichen Lehrjahre im engeren
Sinne lagen hinter ihm ; was konnte dem für sein Fach begeisterten
Jünger der Naturforschung mehr das Herz bewegen als der Ge-
danke an den sofortigen Anschluss von Wanderjahren, welche die
unmittelbar persönliche Kenntnisnahme von dem organischen Natur-
leben in verschiedenen Breiten und Graden des Erdkreises ihm er-
möglicht hätten ? In der That regte sich die Sehnsucht nach solchen
Wanderjahren lebhaft in Berg; dieser Gedanke aber durfte für
den unbemittelten, von früher Kindheit an vaterlosen Jüngling das
Stadium des Wunsches zunächst nicht überschreiten. So entschloss
sich denn Berg kraft des festen Sinnes, der thfttig auszuharren ge-
lernt hatte, kurz und ohne Schwanken, erwarb 1851 das Diplom
eines Privaterziehers und war als solcher fast vier Jahre lang
thätig, zunächst auf dem Gute Friedrichshof im Hause des Herrn
Behaghel von Adlerskron, sodann zu Wolmar in der Familie des
Kreisarztes Dr. Petersen. Während dieser Zeit erfüllte Berg alle
Obliegenheiten seiner Stellung auf das gewissenhafteste, ohne die
Pläne einer einstigen Forschungsreise aufzugeben, welchen er viel-
mehr alle seine Mussestunden zu Dienst stellte. Mit der ihm
eigenen ernsten Beharrlichkeit betrieb er jetzt zusammenhängende
Studien in der Geographie, der Ethnologie uud der Meteorik und
vervollkommnete sich in der Beherrschung der englischen Sprache,
alles dieses in der Erwartung, dass eine Verwirklichung seines
sehnlichsten Wunsches ihm nicht versagt bleiben werde. Und
wirklich gelang es ihm, wie es scheint, durch Vermittelung des
Professors Bunge und des Akademikers von Middendorff, bezüglich
der Theilnahme an einer wissenschaftlichen Expedition in die süd-
östlichen Grenzländer Russlands erfolgreiche Unterhandlungen an-
zuknüpfen. Dieselben waren dem Abschlüsse schon greifbar nahe,
als der Krimkrieg ausbrach und das erwähnte Unternehmen im
Keime erstickte. Berg, um eine verheissungsvolle Hoffnung ärmer,
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Am Sarge Ferdinand Bergs.
welcher er grosse Opfer an Zeit und Arbeitsmühe gewidmet hatte,
blieb unentwegt in dem bisherigen Wirkungskreise als Jugend-
erzieher. Als solcher trat er nunmehr auf sechs Monate in das
Haus des wolmarschen Oberpastors Dr. Ferdinand Walter über
und brachte sodanu vierthalb Jahre in gleicher Thätigkeit auf dem
Gute Schloss Tirsen in der Familie des Barons Ceumern zu, bis
er endlich, nach fast achtjährigem Hauslehrerthun), im Januar 1859
in eine öffentliche Lehr Wirksamkeit an der Kreisschule zu Wolmar
einrückte, zu welchem Zwecke er die Prüfung für das Amt eines
wissenschaftlichen Kreislehrers abgelegt hatte. Zuerst stellver-
tretend angestellt und nach einem halben Jahre bestätigt, wurde
er im August 1800 nach dem Tode seines Vorgängers Hinrichsen
zum Inspector und ersten wissenschaftlichen Lehrer an der Kreis-
schule zu Wolmar ernannt, welches Amt er dreizehn Jahre lang,
bis zu seiner Ueberführung nach Riga, zu grossem Segeu seiner
Schulbefohlenen und unter wiederholt bezeugter ehrender Aner-
kennung seiner Vorgesetzten verwaltete.
Bergs Lebensbahn hatte sich jetzt nach Inhalt und Ziel ent-
schieden ; Gottes Gedanken und Wege mit ihm waren vielfach
andere gewesen als die ihm selbst vorseh webenden. Statt der
Vegetation, den organischen Lebens- und Formgestaltungen in
Steppen und Thalklüften, auf Bergkämmen und Meeresflächen nach-
zugehen, sollte er die liebevolle Erforschung und Pflege des wunder-
barsten und köstlichsten Mikrokosmus üben , des jugendlichen
Menschenherzens, dessen Keimen, Knospen und Blühen bis zur
ersten Fruchtzeitigung zu verfolgen und zu behüten ihm fortan oblag.
Und Berg beschritt den ihm gewiesenen weiteren Lebensweg
mit freudiger Entschlossenheit und bekundete und bewährte immer
mehr die ihm innewohnenden Gaben und die treulich erworbenen
Fähigkeiten eines trefflichen Pädagogen. Dazu brachte er aus der
unseren Tagen und Verhältnissen gegenüber befremdend langen
Epoche seines achtjährigen Hauslehrerberufes beim Wechsel der
privaten mit der öffentlichen Lehrwirksamkeit eine werthvolle Er-
rungenschaft mit, die hochwichtige pädagogische Kunst, bei der
Erziehung und dem Unterrichte zu individualisiren. Er sollte es
in der Folgezeit mit einer stetig wachsenden Schülerzahl in be-
suchten, ja, in überfüllten Klassen zu thun haben. Da gilt ja
allerdings das Gebot des individualisirenden Verfahrens als ein
selbstverständliches und unverbrüchliches, in Wahrheit aber vermag
demselben ohne ein beträchtliches Lehrgeld an Fehlgriffen doch
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Am Sarge Ferdinand Bergs.
477
nur ein Lehrer gerecht zu werden, welcher vorgangig die Gelegen-
heit hatte wahrnehmen dürfen, dem einzelnen kindlichen Individuum,
der, so zu sagen, in jedem Sinne unpotenzirten Kindesseele eine ein-
gehende, ungestört und un verwirrt sorgfältige Aufmerksamkeit und
Berücksichtigung angedeihen zu lassen.
In Wolmar, als Inspector der dortigen Kreisschule, hat Berg,
nach seinem eigenen, oft wiederholten Ausspruche, äusserst glück-
liche Jahre in befriedigendster Thätigkeit verbracht, insbesondere
nachdem er dort durch seine Vermählung mit Fräulein Antonie
Schwanck eine treue Lebensgefährtin und ein sonniges Eheglück
gefunden hatte. Die alten, jetzt allmählich von der ßildfläche
verschwindenden baltischen Kreisschulen waren vorzüglich orgaui-
sirte Lehranstalten , von welchen aus durch lange Decennien
reiche Segensströme der Volksbildung zu gute gekommen sind ; an
ihnen zu arbeiten und zu wirken, war ein hochehrenvoller Beruf,
dessen Charisma Ferdinand Berg allzeit thatbereit zu würdigen
nicht unterlassen hat. Aber auch das Leben an sich in der kleinen,
isolirt belegenen, von dem Weltverkehr bis zur Hoffnungslosigkeit
immer mehr abgedrängten Aastadt, welcher erst in den jüngsten
Tagen freundlichere Perspectiven sich eröffnet haben, das Leben in
Wolmar war ein frisches und gesundes zu Bergs Zeiten ; es herrschte
dort, dank der Angesessenheit einiger geistig und gemüthlieh aus-
gezeichneter Familien, ein Zug edelster idealer und humaner Ver-
bundenheit aller Stände, es pulsirte dort ein der Hochhaltung aller
Bürgertugenden in hohem Grade aufgeschlossenes und günstig be-
schaffenes Gemeinwesen , dessen intensive Bedeutung weit über
seine extensive hinausging. Berg hat an dem Wohl und Wehe
seiner Vaterstadt stets den treuesten, opferwilligsten Antheil ge-
nominen und überall, wo es Gutes und Erspriessliches zu schaffen,
zu erhalten, zu festigen und zu kräftigen galt, in erster Reihe ge-
standen ; wie er zu den besten livländischen Patrioten zählte, so
gehörte er auch zu den hervorragendsten, thätigsten Söhnen und
Bürgern Wolmars.
Habe ich bisher kein belangreiches biographisches Moment
übergehen wollen, weil es der Werdegang theurer Männer, die uns
viel geworden sind, ist, der vorzugsweise unser Interesse also er-
regt, dass uns Aufschluss über denselben erwünscht wird, so kann
ich mich kürzer fassen in der Behandlung jenes Lebensabschnittes
des verewigten Freundes, von welchem, die hier mit ihm gegangen,
aus eigener Wahrnehmung Kunde zu geben und Zeugnis abzulegen
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478
Am Sarge Ferdinand Bergs.
vermögen. Ferdinand Berg ist ihnen kein fremder Mann gewesen,
denn was er in Wolmar war, das ist er bei seinem grosseren und
somit verantwortungsvolleren Wirkungskreise in Riga geblieben :
ein wackerer Bürger im lautersten Vollsinne des Wortes, welcher,
da er zugleich ein wackerer, langbewährter Pädagoge war,
ganz besonders geeignet und befähigt sich erwies, Rigas Bürger-
schule ihrem Programm gemäss in ihr Arbeitsleben einzu-
führen.
Am 4. Juli 1873 wurde Ferdinand Berg seiner früheren
Stellung enthöben und gemäss der auf ihn gefallenen Wahl des
rigaschen Schulcollegiums zu dem Amte eines Inspectors und wissen-
schaftlichen Lehrers an der städtischen Realbürgerschule in Riga
übergeführt. Er eröffnete diese Anstalt am 23. August desselben
Jahres mit G Lehrern und ö7 Schülern, vollzog seit dem August
1880 die Reorganisation derselben zur Stadtrealschule und wurde
zum Director umbenannt. Erwägen wir, dass Berg die allererste
Begründung und die fortlaufende Completirung der Schulbibliotheken,
der wissenschaftlichen Cabinette, des Zeichen-, Turn- uud Musik-
saales besorgte, und dass während seines Directorates der Besuch
der Anstalt auf f>70 Schüler mit 29 Lehrern in IG Klassen ge-
wachsen ist, so gewinnen wir ein Bild der gewaltigen schaffenden,
erhaltenden und weiterführenden Arbeitsleistung, welcher er während
der fast vierzehn Jahre seiner Thätigkeit in unserer Mitte gerecht
geworden ist. Nehmen wir hinzu, dass Berg an zahlreichen * ja fast
an den meisten gemeinnützigen und an mehreren wissenschaftlichen
Vereinen unserer Stadt sich lebhaft betheiligt hat, — wir nennen
nur die literärisch-praktische Bürgerverbindung, den Naturforscher-
verein, den Gewerbverein, den kaufmännischen Verein und die
Taubstummenanstalt — so erhellt, dass nur eine ungewöhnliche
Arbeitskraft bei einer äusserst starken Constitution und einer bis
auf die tödtliche Erkrankung fast ungetrübten Gesundheit ihm den
geschilderten Umfang seiner Leistung ermöglichen konnte. Aber
es bleibt dabei wol die Frage offen, ob die zunächst nicht empfundene
Ueberbürdung mit Pflichten , welchen der für das Gemeinwohl
lebende Mann sich nicht entziehen mochte, die kräftige Natur
nicht so weit beeinflusst hatte, dass sie zur Keimstätte der ver-
derblichen Krankheit wurde. Es war ein schmerzlicher Anblick,
den einst so rüstigen Freund durch Monate der langsamen, aber
unaufhaltsamen Entkräftung anheimfallen zu sehen, zugleich aber
ein erhebender Trosteindruck ihn sterben zu wissen als eiuen
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Am Sarge Ferdinand Bergs.
471)
in Deniutli starken, uu verzagt seines Glaubens lebenden evan-
gelischen Christen.
Vergegenwärtigen wir uns noch einmal das Bild unseres nun
ausruhenden Freundes. Die Grundzüge seines Wesens waren die
Treue und Wahrhaftigkeit mit dem Gepräge der Schlichtheit ; aus
diesem Doppelkerne erwuchs seine unbeugsam rastlose Arbeits-
bethätigung. Und was den Menschen kennzeichnete, nichts anderes
gab ihm die Weihe zum rechten Lehrer der Jugend. Er nahm es
ernst mit dem hohen Berufe, über junge Seelen zu wachen und
deren viele zur Gerechtigkeit zu weisen ; darum war er ein abge-
sagter Gegner jeglicher pädagogischen Richtung, welche darauf
hinausläuft, es gehen zu lassen, wie es eben gehe, weil doch das
Leben erst die eigentliche Schule für die heranwachsende Generation
abgebe. Ihm gehörten Erziehung und Unterweisung unlösbar zu-
sammen, also, dass die naiözia weiset zum Guten, während die
öiöax'} ziehet und leitet zum Wahren, beide aber einheitlicher
Arbeit dienen. Milder Emst und väterliches Wohlwollen bildeten
die Signatur seines Verkehrs mit der Jugend, welche seinen Un-
willen nur da, aber da auch unausbleiblich zu gewärtigen hatte,
wo die Wahrhaftigkeit verletzt wurde.
Aus der Seele war ihm geschrieben das Wort des Tertullian :
*Nihil veritas erubescit, nisi solummodo abscondi» (die Wahrheit
eriöthet nur, wenn sie verborgen wird) — darum lag es ihm
so ernst am Herzen, dem Gemüthe der seiner Fühlung anver-
trauten «lugend in der Schule für das Leben früh und spät das
Eine unverlierbar einzuprägen, dass allein das offene Bekenntnis
zur freimachenden Wahrheit nichts zu scheuen hat.
Ein freudig dankbares Gedächtnis wird ihm in seiner Stadt-
Realschule fortleben, so lange dieses Schulhaus den ernsten und
erhabenen ßildungszwecken dient, denen zum Frommen es erbaut
wurde von den Vätern der unserem Vollendeten zur zweiten und
letzten irdischen Heimat gewordenen Stadt.
Dr. Gustav Poe 1 c h a n.
Haitische« MopüU.chria. M, XXXV, lieft c. 82
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Deutsche Schrift- und Umgangssprache.
Jährend bereits vierzig Jahre lang Philologen ersten
Ranges mit grösstem Eifer und recht lohnendem Er-
folge bemüht sind, uns ein möglichst klares Bild von dem Wesen
der römischen Umgangssprache zu verschaffen ; wahrend durch die
Forschungen Ritschis, Rönschs, Lorenz', Wölfflins, Laudgrafs und
anderer nachgewiesen ist, dass die sog. klassische Latinität ausser-
halb des Entwickel ungsganges der Sprache stehe, welcher vielmehr
von dem archaischen Latein durch den sermo vulgaris der klassi-
schen Periode und die nachklassische Latinität nach den romanischen
Sprachen hin sich erstreckt: ist der deutschen Umgangssprache,
namentlich der der gebildeten Bevölkerungsschicht, nur geringe
Aufmerksamkeit zugewandt. Denn wenn auch über die einzelnen
Volksdialekte manches veröffentlicht ist, so fehlt doch noch ganz
eine wissenschaftliche Darstellung des deutschen sermo cutidianus1.
In den vorliegenden Zeilen will der Verfasser versuchen, in populärer
Weise das Wesen und die Eigenthümlichkeiten der deutschen ge-
bildeten Umgangssprache im Gegensatz zur Schriftsprache dar-
zulegen.
Fragen wir uns zunächst, welches das Material ist, auf das
wir unsere Untersuchungen gründen können. Da ja das Deutsche
nicht wie das Lateinische eine todte Sprache ist, sondern vielmehr
zu den lebenden gehört, so werden wir uns auch nicht auf Spuren
des sermo cotidianus, die in Schriftwerken erhalten sind, zu be-
schränken haben, sondern den mündlichen Gebrauch mit herein«
1 (Jmgangtmprache di r Gebildeten.
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Deutsche Schrift- und Umgangssprache. 481
ziehen dürfen. Um aher dabei der subjectiven Anschauung nicht
gar zu viel Spielraum zu lassen, wollen wir das Hauptgewicht
stets auf die durch die Schrift fixirte Umgangssprache legen, indem
wir wiederum hierbei vor allem Goethe ins Auge fassen.
Doch wie ? Ist denn nicht der durch die Schrift erfolgte Aus-
druck der Gedanken unbedingt als Schriftsprache aufzufassen?
Nicht immer. Unter letzterer verstehen wir die höhere, gebildetere
Rede bei Völkern, die schon einen bedeutenden Grad von Cultur
erreicht haben ; diese Ausdrucksweise wird durch strenge, zuweilen
sogar pedantische Regeln bestimmt, während die Umgangssprache,
sowol die der Gebildeteren wie die des Volkes, sich zwanglos nach
den im Wesen der Sprache liegenden Gesetzen entwickelt. Somit
haben wir einerseits Producte der Schriftsprache, die blos oder
wenigstens vornehmlich für den mündlichen Vortrag bestimmt sind,
vor allem die «Rede» — lat. oratio — wie auch Erzeugnisse der
Umgangssprache, die durch die Schrift fixirt sind ; hierher gehören
namentlich die Briefe an befreundete Personen ; ausserdem auch
alle die literarischen Werke oder doch Stellen in ihnen, welche
möglichst naturwahr das Gespräch einfacher Leute oder auch die
ungezwungene Unterhaltung Gebildeter wiedergeben sollen.
Wol ziemlich allgemein ist die Anschauung vertreten, als sei
der sermo vulgaris blos eine Vergröberung der höheren Ausdrucks-
weise, der sogenannten Schriftsprache, oder umgekehrt: letztere
wäre <eine Vervollkommnung und Verfeinerung» des ersteren.
Vielmehr lassen sich beide gleichmässig auf die Zeit der Sprache
zurückverfolgen, wo eben nur eine Ausdrucksweise existirte, die
sowol Umgangs- wie auch Schriftsprache war. Die anfangs nur
geringe Kluft erweiterte sich allmählich immer mehr und mehr
und wurde für das Neuhochdeutsche am grössten während der
Blütheperiode unserer Literatur gegen den Schluss des vorigen
Jahrhunderts. Seit einiger Zeit ist das Bestreben merkbar, diese
Unterschiede wenigstens theilweise auszugleichen. Stets aber hat,
wie ja natürlich ist, eine gegenseitige Beeinflussung stattgefunden.
Sehr richtig sagt hierüber Karl Heyse in seinem «System der
Sprachwissenschaft >» : «Die gebildete Schriftsprache hat eigentlich
nur eine ideale Existenz, ist mehr oder weniger ein künstliches
Culturproduct ; es muss erlernt werden. Reisst sich aber die
Schriftsprache von der Volkssprache ganz los, so läuft sie Gefahr
1 Siebe bei Lna» Der «kiiffu-ln- l'nterri.-lit Kirim 1*72.
32*
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482
Deutsche Schrift- und Umgangssprache.
zu erstarren und endlich zur todten Sprache zu werden. Anderer-
seits muss, damit der Volksdialekt nicht verwildert, jeder iu ihm
Aufgewachsene die Schriftsprache der Nation erlernen, um an dem
geistigen Leben der Nation Antheil zu haben. > Auch Goethe
sagt im sechsten Buch von c Wahrheit und Dichtung > : «Der Dialekt
ist doch eigentlich das Element, in welchem die Seele ihren Athem
schöpft.» Und was hier speciell vom Dialekt des einfachen Volkes
gesagt ist, lässt sich auch ohne weiteres auf die gebildete Umgangs-
sprache anwenden. Wol nur vereinzelte Personen sind es, die im
Verkehr des täglichen Lebens genau all die Gesetze der Schrift-
sprache beobachten ; eine solche wird uus vorgeführt in Freytags
«Die verlorene Handschrift» im Professor Werner. Von ihm sagt
das Landkind Ilse: «Es hört sich so gut an, denn Sie sprechen
anders als wir. Sonst, wenn man von einem sagte: er spricht
wie gedruckt, meinte ich immer, es sei ein Vorwurf, aber es ist
das richtige Wort;» und an andererstelle: «Wenn er sprach und
die Worte so reich, gewählt und vornehm aus seinem Inneren
quollen » Werner bediente sich eben der Schriftsprache
auch in der Unterhaltung, Ilse der gewöhnlichen Umgangssprache.
Nachdem wir uns nun klar gemacht haben, welches die
Grenzen jener zwei Strömungen in der Sprache sind und mit
welchem Material wir es bei unserer Betrachtung zu thun haben,
wollen wir an unser Thema näher herantreten und die Unterschiede
zwischen der deutschen Schrift- und Umgangssprache näher kennen
zu lernen suchen. Hierbei wenden wir unser Augenmerk zunächst
auf den Wortschatz jener zwei Gebiete, womit die Betrachtung
einiger Eigenthümliehkeiten in der Wortbildung eng zusammen-
hängt, sodann auf die Flexion und schliesslich auf die Syntax.
I. Der Wortschatz.
Die Sprache ist ein lebender Organismus und als solcher be-
ständiger Wandelung unterworfen. Gar manches, was am Anfang
unseres Jahrhunderts als Regel galt1, ist jetzt schon ganz unge-
bräuchlich ; und auch unsere Ausdrucksweise wird nach nicht gar
zu lauger Zeit wenigstens theilweise als veraltet gelten. Das über-
kommene Material wird verarbeitet, manches wird aufgegeben,
1 g. 13. die vollständig» Declination der Personennamen : Noni. Hans.
(Jen. Hunnen?, Dat. Hansen, Aee. Hansen; bei Goethe: Wielanden, Starekens,
Lotten .*<•.
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Deutsche Schrift- und Umgangssprache. 483
Neues gebildet. Während aber die Schriftsprache bei solchen Neu-
bildungen vor allem die logische Genauigkeit im Auge hat, strebt
die Umgangssprache namentlich nach anschaulichem, concretem
Ausdruck. Daher werden in letzterer abstracte Substantiva ver-
mieden, dagegen recht drastische, sinnliche Bezeichnungen mit Vor-
liebe angewandt ; hyperbolische Ausdrücke begegnen in grosser
Menge und manche ursprünglich nur von Thieren gebrauchte Be-
zeichnungen werden auf Menschliches übertragen ; kurz, die Um-
gangssprache wendet sich im allgemeinen mehr aan die Phantasie
des Angeredeten als an den Verstand. — Bevor wir in unserer
Betrachtung weiter fortschreiten, wollen wir zum Belege für die
eben aufgestellten Behauptungen und zu ihrer Erklärung einige
aus Goethes Briefen geschöpfte Beispiele anführen.
Dass die Umgangssprache eine Vorliebe für drastische, con-
creto Ausdrücke hat, die aus der Anschauung entnommen sind,
mögen folgende Wendungen Goethes belegen: « Gewissen und Schande
sollen ihn zu Tode fressen» (Götz IV, 3) ; c meine Gesundheit
schwankt durch die Welt» (Brief an Salzmann, Juni 1771);
«hängenswerthe Gedanken» (B. a. Kestner, 10. Nov. 1772); «mir
ist wieder eine Sorge vom Halse» (B. a. Kestner, Mai 1774) ; cdick
wie ein Federsack» (B. a. Riese 1765) ; cer flucht mir den Hals
voll» (B. a. Käthchen Schönkopf 1709) ; «das Schicksal, mit dem
ich mich herumgebissen habe» (B. a. Elisabeth Jakobi, Febr. 1774).
Einem ähnlichen Zwecke wie jene Wendungen dienen die in
der Umgangssprache, auch der der Gebildeten, häufig auftretenden
hyperbolischen Ausdrücke. Als Beispiele hierfür nennen wir :
«Euer Brief hat mir himmlische Freude gemacht» (B. a. Kestner,
Dec. 1772) ; «herzinnigliche Briefe schreiben» (B. a. Kestner, 25. Dec.
1772); «der selige Inhalt meines Lebens» (B. a. Johanna Fahimer,
5. Juni 1775).
Dass manche ursprünglich nur von Thieren gebrauchte Be-
zeichnungen auf Menschliches übertragen werden, dafür lassen sich
Belege in ziemlicher Anzahl anführen : Schnabel oder Maul (statt
Mund). Fuchs (in der Studentensprache), schnattern (statt viel
sprechen), heulen (statt kläglich weinen), wiehern (statt laut lachen)
&c. ; namentlich aber gehört hierher eine grosse Reihe der gebräuch-
lichsten Schimpfwörter. Auch Goethe liefert hier eiuiges Material ;
wir führen davon an : «dass Sie statt eines Gelehrten Ihre Gesell-
schaft mit einem Rindskopf vermehrt haben» (B. a. L. von Buri,
2. Juni 1704) ; «sie ist mager wie ein Häring» (B. a. J. Riese,
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4.S4 Deutsche Schrift- und Umgangssprache.
21. Oet I7(iö); cder nlte Bock. seil. Gottsched B. (a. J.Kiese,
30. Oct. 1705); «es giebt eine Sau» säl Glück (B. a. Käthchen
Schönkopf, 30. Dec. 17(38).
Nachdem wir nun über die wichtigsten Eigentümlichkeiten
in der Phraseologie der deutschen Umgangssprache berichtet haben,
ist es doch unbedingt noth wendig, dass wir auch auf die einzelnen
Wörter unsere Aufmerksamkeit lenken. Natürlich werden wir da
das Meiste sowol in der Schrift- wie auch in der Umgangssprache
tiuden ; doch ist andererseits die Anzahl der Wörter, welche blos
in der einen oder in der anderen Ausdrucksweise uns entgegen-
treten, nicht gar gering. Wörter wie: Fittich, Ross, Frevel, Hort,
die Hut, sonder (= ohne), linde, harren, Harm &c. werden wol
schwerlich im sernto cotidianus begegnen, während wir andererseits
in Goethes Briefen eine Anzahl von Ausdrücken finden, die der
Dichter unzweifelhaft um keinen Preis in seinen Tasso oder seiue
Iphigenie aufgenommen hätte ; solche sind : mutzen, Gewäsch und
Getratsch, krabbeln, hudeln, sudeln, Gekritz und Gekratze, Rüpel &c.
Doch auch auf Einzelheiten müssen wir unseren Blick lenken.
Zunächst führen wir ein paar Wendungen der deutschen Um-
gangssprache an, welche mit der lateinischen genau übereinstimmen.
Plautus Aul. 1 V, 9. IG. pati nequeo ; Pomponius Vertn. non possutn
pati ; — deutsch : «ich kann es nicht aushalten» (= ich kann nicht
leben). Cic. ad AU. XIIL 13. id restabat; Arell. Fusctts: hoc detrat :
— deutsch: «das fehlte noch, das hätte noch gefehlt!»1 Ferner
gebrauchen wir in der Umgangssprache häufig statt des Ausdrucks
«ein solcher» die Wendung «so ein» ; ebenso bei Goethe : wo er
die Schriftsprache anwendet, steht in der Regel «solch», «ein
solcher» oder «solch ein», — in der ungezwungenen Ausdrucks weise
stets «so ein»: «Wie bedenklich ist ein solches Unternehmen!»
(Wahlverwandtschaften); «zur Ausbildung eines solchen Talentes»
(Wahl?.); «solche Lobeserhebungen aus solch einem Munde> (Olea-
rius im Götz) ; — andererseits in den Briefen ■ so eine gewisse
Traurigkeit ; so eine Sache ; so ein wahrer Trost ; so ein schöner
Name.
Ebenso verhält es sich mit den beiden Formen «etwas» und
«was» als Pronomen indefinitum ■ «Kühn genug, etwas aufzuopfern»
(Wahlv.) ; «etwas Bedeutendes und Angenehmes» (Wahlv.) ; aller-
1 Rabling ViTHiuh einer Charakteristik der römischen riiignngfttsprarhcx
Kiel 1873.
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Deutsche Schrift- und Umgangssprache.
485
diugs daselbst auch: «was Besseres» u. ä. ; in den Brieten aber
stets : da schicke ich Ihnen was ; wenn ich was malen will ; ob
daraus was wird.
Schliesslich sei noch in aller Kürze hingewiesen auf den
prägnanten Gebrauch sonst in allgemeinerer Bedeutung angewandter
Wörter: «ich muss ins Colleg, zu Gaste» (B. a. J. Riese, 21. Oct.
1765); «da er nach Persien ist» (B. a. K. Schönkopf, 1. Nov. 1768).
Ganz entsprechende Wendungen im lateinischen sermo cotidianus
führt Rebling an : cogitare Romam, velle Romam.
Was nun den Anhang zu diesem Capitel, die Wortbildung,
anbelangt, so sei da blos auf zwei besonders charakteristische Er-
scheinungen hingewiesen. — Schon seit Jahrhunderten ist die Zu-
sammenziehung von: «in dem» zu «im», «von dem» zu «vom»,
«zu dem» in «zum», «bei dem» zu «beim» gebräuchlich. Noch
weiter aber geht seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts die Um-
gangssprache : nach Analogie der angeführten Contractionen finden
wir in Goethes Briefen auch Formen gebildet wie: fürn Narren,
übern Kopf, zun Füssen, mitm Nachbar &c. — Noch charakteri-
stischer für die Umgangssprache ist aber eine audere Erscheinung
auf dem Gebiete der Wortbildung : das Streben nach anschaulichem,
drastischem Ausdruck veranlasst häufig, dem einfachen Verb ein
Adverbium, ein Präfix vorzusetzen, wodurch der Begriff mehr
Leben erhält, specialisirt wird1 : «der Begriff, den Sie sich von mir
zusammengemacht haben» (B. a. Hetzler jun., 24. Aug. 1770);
«wenn er meinen Vetter ausschalt» (B. a. K. von Klettenberg,
26. Aug. 1770); «herumspazieren» (B. a. Herder, Juli 1772) ; «sich
herumbeissen» (B. a. E. Jakobi, Febr. 1774).
Hiermit sei denn auch dieses Capitel abgeschlossen. Wir
gehen zum folgenden über.
II. D ie F 1 e x i o n.
Jedem, der, sein Augenmerk auf die Flexion richtend, Goethes
(Jorrespondenz liest, wird sofort die besondere Behandlung der
Personennamen auffallen. Wir treffen da Wendungen wie: «Gott-
scheden habe ich noch nicht gesehen» ; «Starekens Handbuch» ; «mit
Justen» ; «an Gleimen». Doch hätten wir Unrecht, wollten wir
diese Formen auf Rechnung der Umgangssprache setzen. Greifen
1 Ueber eint- ähnliche Erscheinung im lat. §. vutyari* siehe Lorenz, Einl.
zum Pseudolua-Comnientar, Anni. 3t>.
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486
Deutsche Schrift- und Umgangssprache.
wir irgend ein Stuck nmstergiltiger Prosa aus jener Zeit heraus,
so linden wir dieselbe Erscheinung. Wie bereits in einer An-
merkung kurz erwähnt, haben wir es also hier mit einem Fall zu
thun, wo sich die deutsche Sprache überhaupt seit der letzten
Blütheperiode unserer Literatur verändert hat ; jene Formen gelten
jetzt als veraltet.
Indessen unterscheidet sich auch gar wol in der Flexion die
Umgangssprache von der Schriftsprache. - Zunächst finden wir
die höchst merkwürdige Erscheinung, dass im Vulgärdeutschen die
Neigung herrscht, den Plural auf — s endigen zu lassen, obgleich
diese Endung eigentlich nur den Familiennamen und Fremdwörtern
zukommt. So finden wir bei Goethe: cden Kerls> (Götz I, 1);
*euern Bräutigams» (Götz I, 4) ; «unsere Spectakeis» (B. a. Kestner,
6. Oct. 1772) ; cdie Kerls» (B a. Kestner V); ja sogar: «Mädchens
und ßubens» (B. a. Hans Baff?) ; «die Jungens» (B. a. Hans Buff,
Juni 1773).
Ausserdem scheint die Umgangssprache das Bestreben zu
haben, die schwache Declination, welche in der Schriftsprache zu
Gunsten der starken zurückgedrängt wird, festzuhalten; so finden
sich noch in jener die älteren Formen : des Bauern, Nachbarn,
Märzen (bei Goethe auch : Mftrzens) ; im Briefe an Jakob Riese
vom 21. Oct. 1765 begegnet uns als Nom. Plr. : »Truthähnen» ; in
einem anderen : «arme Schelmen». Kurz erwähnt sei auch der
Plural «die Dinger», welcher sich in der Bedeutung von «die
Kinder > mehrfach in Goethes Briefen findet.
Erwähnenswerth sind auch einige Unterschiede auf dem Ge-
biete der Oonjugation. Zunächst treten im Vulgärdeutschen die
einfachen Formen des Conjunctivs, namentlich die des Imperfects,
immer mehr zurück vor den umschriebenen : ich höbe, er läge, wir
führen (von fahren), ihr gäbet, sie sähen n. a. gehören fast aus-
schliesslich der Schrittsprache an ; in der gewöhnlichen Ausdrucks-
weise des täglichen Verkehrs heisst es statt dessen meist : ich
würde heben, er würde liegen &c. Daneben tritt auch das Streben
nach Verkürzung in verschiedener Weise in der Umgangssprache
auf; so finden wir bei Goethe: «der Bursch furcht — statt fürchtet
— sich vor Hexen» (Götz 1,3); «den haben sie geleit» — statt
geleitet (Götz I. 1); «ich habe zu Nacht gessen» statt: gegessen;
«dass Ihr nicht mitkommen — statt : mitgekommen — seid».
Aehnlich auch in Goethes Correspondenz : französch (statt : franzö-
sisch) ; Darrscher ; Liebs, Freuudlichs und Guts.
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Deutsche Schrift- und Umgangssprache.
487
Auf dem Gebiet der Oomparation bietet sieh nur wenig der
Erwähnung Werthes. In manchen Fällen, wo die Schriftsprache
im Comparativ und Superlativ den Umlaut fordert, bleibt in der
Umgangssprache der Grundvoeal unverändert, z. B. dummer, arger
(ähnliches begegnet auch bei der Bildung der Diminutiva). Ausser-
dem zieht die Vulgärsprache, die ja überhaupt eine Vorliebe für
recht anschauliche Ausdrücke besitzt, dem verstärkenden Adverbium
csehri die hyperbolischen : furchtbar, ungeheuer, schrecklich — vor.
Hiermit wäre das Capitel von der Flexion, wenigstens in den
wichtigsten Punkten, erledigt und wir wenden uns nun dem letzten,
noch übrig gebliebenen zu. Es handelt von der
Von jeher hat die Schriftsprache eine ganz besondere Sorgfalt
auf den Bau möglichst architektonischer Perioden verwandt, und
dass hierdurch einerseits die Rede Wohlklang erhält, andererseits
das logische Verhältnis der einzelnen Begriffe und Gedanken zu
einander deutlich hervorgehoben wird, lässt sich ja nicht leugnen.
Aber dieses eben sind Punkte, auf welche die vulgäre Redeweise
nicht sonderliches Gewicht legt ; vielmehr erstrebt sie, dem Sprecher
selbst oft unbewusst, Einfachheit der Construction, Kürze und
drastische Bildlichkeit des Ausdrucks. Während es nun bei der
Periodenbildung namentlich auf geschickte Handhabung der ver-
schiedenen Nebensätze, vor allem derer, welche abstract logische
Verhältnisse ausdrücken, ankommt, — zeigt die Umgangssprache
eine Vorliebe für die Hauptsätze, und was die Nebensätze anbe-
trifft, so begegnen in der Umgangssprache stark überwiegend die-
jenigen, welche mehr sinnliche Verhältnisse bezeichnen, also Sub
stantiv-, Adjectiv-, Local- und Temporalsätze. Zählungen, welche
ich an Goethes c Wahlverwandtschaften > und seinem Briefwechsel
(bis zum Jahre 1783) angestellt habe, gaben folgendes Resultat:
Natürlich können die hier angegebenen Zahlen bei einem so
wenig umgrenzten und umgrenzbaren Gebiete, wie es die Umgangs-
sprache ist. nicht gar zu genau genommen werden. Wie sich
übrigens schon erwarten Hess, ergiebt auch die Zählung, dass das
III. Syntax.
Wahlverwandtsch.
vollst. Haupts, ca. 44 pCt.
ellipt. « c 1 t
vollst. Nebens. « 4G
verkürzte « 9 <
Briefwechsel
ca. 52 pCt.
« 4 «
. 32 «
t 12 •
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1
488 Deutsche Schrift- und Umgangssprache.
Bestreben zu verkürzen im Vulgärdeutsch ein stärkeres ist als in
der Schriftsprache.
Da, wie wir gesehen haben, in der Umgangssprache die logische
Unterordnung häufig gelockert erscheint, so darf es uns auch nicht
wundern, wenn nicht selten dort, wo die Schriftsprache den Con-
juuctiv verlangt, in der vulgären Ausdrucks weise der Indicativ
auftritt ; hierdurch wird denn oft das hypotaktische Satzverhältnis
in ein parataktisches verwandelt. Diese Erscheinung begegnet uns
übrigens nicht nur im Deutschen, sondern findet sich auch im
weitesten Umfang im Lateinischen1 und lässt sich wol auf das
Streben nach Lebendigkeit, Kraft und Anschaulichkeit des Aus-
drucks, sowie nach Vereinfachung "der Grammatik zurückführen.
Zum Belege mögen wiederum Beispiele folgen; im «Götz» finden
wir die Wendungen: «Sag ihm, er soll munter sein> ; «bitt ihn,
er soll lustig sein» ; «denkt, ihr seid wieder einmal beim Götz» ;
in Goethes Briefen : «Sagt ihm, er soll mehr ins Detail gehen» &c.
Obgleich in jeder Form des Indicativs und Conjunctivs, wenn
auch schwer mehr erkenntlich, ein pronominales Element steckt1,
welches Subject des einfachen Satzes ist, so fordert doch die neu-
hochdeutsche Schriftsprache, welche das Gefühl für jene Bildungen
verloren hat, dass das Subject durch ein besonderes Wort noch
extra ausgedrückt werde. Das Vulgärdeutsch hat sich hierin, wie
auch in gar manchem anderen, alterthümlicher erhalten ; solchem
Gebrauche folgend, schreibt z.B. Goethe: «Ende (ergänze: ich)
jetzt» ; «war gar nichts mit ihm zu thun» (ergänze: es); «werdet
(ihr) sehen» ; «wollte (ich), ich sässe noch».
In ähnlicher Weise lassen wir in der Umgangssprache zu-
weilen an Stellen, wo es die strenge Grammatik nicht gestattet,
den Artikel fort, der ja, im Grunde genommen, gleichfalls nichts
anderes als ein hinweisendes Pronomen ist. Goethe schreibt:
«Euer Brief war Trostschreiben» ; «geben Sie die vier fl. für Zeitung
Bornen» u. ä.
Auch in der mustergiltigen Prosa finden wir zuweilen den
blossen Accusativ zur Angabe der Zeitbestimmung auf die Frage
* Näheres hierüber siehe bei Schmalz in der Zeitschrift f. d. (iymn. Wesen
N. F. XV. pag. 87 ff.
* Ganz besonders deutlieh hat sich dieses in der altindischen und griechi-
schen Conjugation erhalten, während das Deutsche bereits in alter Zeit seine
vollen Kndnngen eingebüast hat. Das gricch. SiÖüVfJt Midn-mii z. B. enthält im
zweiten Theil denselben Stamm, den wir in *mh> und «mich» noch besitzen.
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Deutsche Schrift- und Umgangssprache. 489
wann V angewandt, namentlich bei der Bezeichnung der Wochen-
tage. Viel weiter geht dieser Gebrauch im sermo cotidianus ; halten
wir uns wieder an Goethe: cGott gebe mir das neue Jahr, was
mir gut ist» (die Grammatik verlangt: im neuen Jahr) ; «wenn ich
Ostern käme» (zu Ostern) ; «ich komme den Sommer» (im Sommer) &c.
Um die Aufmerksamkeit des Hörers mit möglichster Inten-
sivität auf den dem Redenden vor Augen schwebenden Gegenstand
zu richten, liebt es sowol die lateinische wie auch die deutsche
Umgangssprache, das bereits genannte Substantiv durch ein Pro-
nomen oder Adverbium wieder aufzunehmen. Rebling führt unter
anderen aus dem Plautus die Stellen an : pater tuus i s erat patcr
jxitruelis meus und pone aedem Castoris ibi sunt homines. Gross
ist die Zahl derartiger Wendungen bei Goethe ; wir nennen blos :
* Groschen die sind hier, wie Kreuzer bei euch» ; «meine Kennt-
nisse habe ich die nicht alle durch SieV»
Schliesslich erwähnen wir noch, dass sich das Vulgärdeutsch
in Bezug auf die Construetionen in jeder Hinsicht die grössten
Freiheiten gestattet, da es ihm, wie schon mehrfach bemerkt, be-
deutend weniger auf die logische Genauigkeit uud das Einhalten
all der von den Grammatikern aufgestellten Regeln, als auf Kürze
und Einfachheit des Ausdrucks ankommt. So begegnen uns denn
auch in den Briefen unseres Altmeisters in grosser Anzahl Wen-
dungen, wie sie jeder Lehrer bei seinen Quartanern und Tertianern
ohne Bedenken durch dicke rothe Striche verziert. Wir wollen
pietätvoll blos ein paar Fälle angeben : « Euer Weib, die (statt :
das) Gott segne uud ihr (statt : dem er) solche Freude gebe» ;
«Blumen, die ich aufprobirt und mich vorm Spiegel ausgelacht
habe» ; «an Euer Schicksal und (ausgelassen ist : Euere) Entfernung».
Diese rein grammatische Partie mag den Leser, wenn er sie
nicht ganz überschlagen hat, gehörig gelangweilt haben ; trotzdem
konnte sie ihm nicht erlassen werden, wenn er einen klaren Blick
über die Hauptunterschiede zwischen unserer Schrift- und unserer
Umgangssprache gewinnen wollte. Falls aber sich jemand die
Mühe gemacht hat, die Beispiele recht zu beachten, so wird es
ihm aufgefallen sein, dass gar keine Citate aus Briefen, die Goethe
in späteren Jahren (etwa nach 1786) geschrieben hat, angeführt
sind. Der Grund aber hierfür ist folgender. Nachdem Goethe
seine Sturm- und Drangperiode überwunden hatte, setzte er alles
daran, sich von jeglichen Schlacken zu reinigen und seine ganze
Persönlichkeit möglichst harmonisch und künstlerisch aus- und durch-
Deutsche Schrift- und Umgangssprache.
zubilden. Da ihm nun, namentlich seit seiner Rückkehr aus Italien,
die vulgäre Ausdrucksweise roh vorkam, so streifte er sie ab und
wandte seitdem auch in der Correspondenz fast ausschliesslich die
strengere und ausgebildetere Sprachform an.
Bisher haben wir uns damit begnügt, die beiden Haupt-
strömungen in der Sprache zu untersuchen und zu charakterisiren.
Jetzt zum Schluss sei noch ein kurzer Hinweis darauf gestattet,
dass jede dieser Hauptströmungen nicht ein untheilbares, in sich
vollständig abgeschlossenes Ganzes darstellt, sondern sich wiederum
in Unterarten zerlegt. Bei der Schriftsprache ist bekanntlich
zwischen Prosa und Poesie zu scheiden ; wir haben in unserer Ab-
handlung fast ausschliesslich die erstere berücksichtigt ; letztere
hat manche von jener abweichende Gesetze, ja in einigem stimmt
sogar die Kunstpoesie geradezu mit der Umgangssprache überein1.
— Auch in der Umgangssprache lassen sich verschiedene Richtungen
beobachten ; die lateinischen Forscher auf diesem Gebiet scheiden
folgende strmones (Redeweisen): cotidianus, familiaris, plebejus,
rusticus und pcrcgrinus ; die beiden ersteren sind nicht wesentlich
unterschieden und werden von der gebildeten Klasse im zwanglosen
Gespräch angewandt ; der plebejus bezeichnet die Sprechweise der
einfachen städtischen Bevölkerung, der s. rusticus die der Land-
bevölkerung ; der sermo peregrinus schliesslich findet sich in Grenz-
landen und sein Charakteristicum besteht in dem Durchwobensein
mit fremdsprachlichen Elementen. Interessant ist es, dass wir die
meisten dieser Sprechweisen in Goethes Götz vertreten finden.
Olearius hält sich streng an die Schriftsprache, durch die Reiter
ist die plebejische Rede vertreten, die Bauern sprechen im Land-
dialekt {s. rust.), die übrigen bedienen sich ineist des sermo cotidianus.
Beide jene, wie wir gesehen haben, von recht verschiedenen
Principien ausgehenden Hauptrichtungen, sowol die Schrift- wie
auch die Umgangssprache, haben aber ihre volle, durch die Ge-
schichte der menschlichen Geistesentwickelung nachgewiesene Be-
rechtigung. Erstere ist das hervorragendste geistige Bindemittel
zwischen den einzelneu Vertretern und Stämmen der deutschen
Nation und sichert hierdurch die nationale Einheit, wie sie es be-
reits zur Zeit der Erniedrigung Deutschlands bewiesen hat. Die
1 (Jans kurz hingewiesen Bei ss. B. auf «las Streben nach Anschaulichkeit
(abgesehen von <ler logischen Strenge) ; auch in der Fortlassung des pronominalen
Suhjects stimmen beide überein ; vergl. etwa den Anfang von Goethes Lied au
den Mond: Füllest wieder Busch und Thal &e.
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Deutsche Schrift- und Umgangssprache. 491
Umgangssprache andererseits, zu welcher ja* auch die Volksdialekte
(s. rttst.) gehören, hat ihren hohen Werth darin, dass blos sie einen
richtigen Begriff von dem allgemeinen Wesen der Sprache gewährt,
indem sie ungekünstelt und unverfälscht nur den in der Sprache
selbst begründeten Gesetzen der Entwickelung folgt, durch keine
Dressur zu Willkürlichem, wenn solches auch kunstvoll erscheinen
und wohlklingend sein mag, gezwungen. Und daher thut man
jedenfalls wohl, wenn man auch auf diesem Gebiet neben der
Zentralisation und Universalität dem Particularismus und der
Originalität ihr Recht lässt.
Oberlehrer R. W esterm a n n.
• ilv.-»v'jr^'.
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Zur inneren Colonisation in Preussen.
3fi[jn der Geschichte des preussischen Volkes und Staates nimmt
Igjjj die der inneren Colonisation zugewendete Thätigkeit eine be
deutsame und wichtige Stellung ein. Die Namen der ausgezeich-
netsten und gewaltigsten Herrscher, welche die Hohenzollernsche
Monarchie aufzuweisen hat, die Namen des grossen Kurfürsten und
des Philosophen von Sanssouci, dem die Geschichte den Beinamen
des Grossen mit besserem Rechte gegeben hat als irgend einem
Monarchen, sind in untrennbarer Weise mit dieser gewaltigen That
verbunden. Preussens Herrscher haben sich von jeher nicht nur
bemüht, durch Urbarmachen von Wüsteneien, Einöden und Jagd-
gründen das Ackerland des Staates zu erweitern und zu vermehren;
sie haben sich nicht damit begnügt, durch Austrocknung von Mooren
und Sümpfen, durch Trockenlegung wasserreicher Triften und Weiden
das der Herrschaft des Pfluges unterworfene Land zu vergrössern ;
sie haben ihre colonisatorische Aufgabe auch nicht damit als .gelöst
und erfüllt betrachtet, dass sie die einer überwundenen Rechts- und
Wirthschaftsperiode angehörigen Schranken und Fesseln der Ent-
faltung individueller Kraft beseitigten, sondern ihre Sorge auch dar-
auf gerichtet, an Stelle grosser Latifundien zahlreiche kleinere und
ertragsfähige Bauernstellen zu schaffen und hierdurch einen sess-
haften, besitzenden Bauernstand ins Leben zu rufen, welcher die
bessere und intensivere Ausnutzung des Bodens ermöglicht und zu-
gleich die gleichsam ans Granit gehauene Grundlage des Staates
bildet. Der grosse Kurfürst war der erste Herrscher, welcher in
grösserem Umfange colonisirte, und dank seiner Oolonisatinnspolitik
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Zur inneren Colonisation in Preussen.
493
gelang es, das durch die Leiden und Lasten des d reissigjährigen
Religionskrieges in schwerster Weise heinigesuchte Land wieder zu
heben, zu bevölkern und ihm einen angesehenen Platz in der Staaten-
welt zu erwerben. Bereits unter Friedrich Wilhelm I. nahm die
Colonisation einen bedeutenden Aufschwung. In der Provinz
Preussen wurden während der Regierung dieses Fürsten, der seinen
Schutz und seine Hilfe ganz besonders seinen bedrängten Glaubens-
genossen angedeihen Hess, 15508 Salzburger Protestanten ange-
siedelt, von welchen kaum der dritte Theil wohlhabend genug war,
um die Beihilfe des Königs entbehren zu können. Ausser ihnen
wurden Mennoniten, Schweizer, Böhmen, Pfälzer, Schlesier, Oester-
reicher &c. sesshaft gemacht, so dass am Schlüsse seiner Regierung
eine Menge lebens- und leistungsfähiger Besitzstellen gebildet war.
Den Höhepunkt erreichte aber die innere Oolonisationspolitik unter
Friedrich dem Grossen. Hatte dieselbe unter seinen Vorgängern nur
populationistische Zwecke gehabt, war sie im grossen und ganzen
nur von dem Bestreben geleitet gewesen, die Bevölkerungszahl
des Staates zu heben und hierdurch das Misverhältnis zu beseitigen,
welches zwischen dem Flächenraum der Monarchie und der Menschen-
menge, die sie bewohnte, bestand, so verfolgte die Politik des
grossen Königs neben jenem populationistischen auch einen natio-
nalen Zweck, nämlich den der Stärkung des deutschen Elementes
in seinen Landen. Mit der vollen Energie, die der König auf
allen Gebieteu der Staatsverwaltung entfaltete, hielt er auch diesen
Gesichtspunkt fest. Man hat berechnet, dass während der 4G
Regierungsjahre dieses gewaltigen Fürsten über 300,000 Colonisten
sich in Preussen ansiedelten, von welchen beinahe 250,000 dem
landwirtschaftlichen Beruf angehörten. Angeregt durch das Bei-
spiel des Königs, ans den Latifundien der Krone Colonistenstellen
zu schaffen, sahen sich viele der Grossgrundbesitzer veranlasst, ein
Gleiches zu thun und auf ihren Besitzungen Häuslerstellen zu
gründen. Der König begünstigte dieses Vorgehen in hohem Grade,
er gewährte den Grossgrundbesitzern reichliche Unterstützung aus
Staatsmitteln bei der Begründung von Colonistengütern und ver-
wandte seinen vollen Einfluss darauf, um auch die Geistlichkeit zu
bestimmen, auf den der Kirche gehörigen Besitzthümern in gleicher
Weise colonisatorisch vorzugehen. Nach beiden Seiten war die
Mühe des Königs von bestem Erfolge gekrönt. Seit dem Tode
Friedrichs d. Gr. wurde der Oolonisationspolitik nur noch in ge-
ringem Masse Aufmerksamkeit geschenkt. Zwar hatte Friedrich
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494
Zur inneren Colonisation in Preussen.
Wilhelm II. den Plan, in einigen Provinzen die Domänen zq zer-
schlagen und deutsche Colonisten auf den einzelnen Parcellen an-
zusiedeln ; derselbe scheiterte aber theils in Folge des Widerstandes,
welchen die Minister und obersten Beamten ihm entgegensetzten,
theils in Folge schlimmster Fehler, die bei der Ausführung gemacht
wurden. Unter Friedrich Wilhelm III. wurden zwar einige neue
Colonisten angesiedelt, die in anderen Ländern des Glaubens wegen
bedrückt waren, indessen sind die Colonisiruugen unter seiner
Regierung im ganzen nur unbedeutend gewesen. Mit der Herrschaft
dieses Monarchen schliesst die sogenannte ältere Colonisationsperiode
in Preussen ab, welche sich dadurch charakterisirt, dass man
Personen, die noch nicht dem preussischen Staats verbände ange-
hörten, in dessen Grenzen hereinzog und auf Gebieten ausiedelte,
welche zum grössten Theile noch uncultivirt waren und der Culti-
vation seitens der neuen Eigenthümer harrten.
Wesentlich anders geartet ist die jüngere Colonisation, welche,
freilich nur in sehr unbedeutendem Umfange, nach Beendigung der
Befreiungskriege eingeleitet wurde. Diese geht dahin, grössere
Gtttercomplexe, Domänen im socialpolitischen Interesse zu parcelli-
ren und auf den Parcellen Bauern als Eigenthümer oder als Pächter
anzusiedeln. Die überaus bedenklichen Zustände, welche die Ver-
theilung des Grundbesitzes in vielen Gegenden zeigte, das fort-
schreitende Verschwinden eines selbständigen Bauernstandes und
die fortschreitende Bildung eines Latifundien wesens veranlassten
die Regierung, ihr Augenmerk auf die Kräftigung und Verstärkung
des kleinen Bauernstandes zu richten. Unter der Regierung Fried-
rieh Wilhelms IV. wurden in den vierziger Jahren auf verschiedenen
Domänen in den Provinzen Preussen, Posen und Pommern Bauern
angesiedelt, indessen waren die Ergebnisse, welche man mit diesen
Colonisationsversuchen erzielte, so unbefriedigend, dass man die
Parcellirung mit dem Jahre 1853 überhaupt wieder einstellte. In
den folgenden Jahren ruhte die Colonisation gänzlich, erst im An-
fange der siebenziger Jahre entschloss sich die Regierung, veran-
lasst durch Anregungen seitens des preussischen Abgeordneten-
hauses, vier grössere Domänen zu parcelliren ; die Resultate, zu
welchen dies fühlte, Hessen sich zwar nicht als besonders günstige
bezeichnen, berechtigten aber andererseits eben so wenig zu einer
Entmuthiguug oder zu einem gänzlich absprechenden Urtheil über
die Colonisation überhaupt.
In eine neue Phase ist die preussische Colonisationspolitik
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Zur inneren Colonisation in Preussen.
495
durch die Massnahmen getreten, welche der Staat in einigen der
ehemals unter polnischer Herrschaft stehenden Landestheilen im
Interesse des Schutzes des deutschen Elementes für nothwendig
erachtete. Bereits seit einiger Zeit erregte die Zurückdrängung
des deutscheu Elementes in den Provinzen Posen und Westpreussen
durch das polnisch-slavische in Verbindung mit der Steigerung einer
auf Losreissung dieser Gebiete gerichteten Agitation ernste Be-
denken bei der preussischen Regierung, welche zunächst zu einer
umfassenden Ausweisung der slavischen Ausländer aus den östlichen
Landestheilen führten. Allein diese Massregel konnte nicht genügen,
um dem Fortschritt der «Polonisirung> der erwähnten Gegenden
ein Hindernis in den Weg zu legen. Zu Beginn der Eröffnung
der Landtagssession für 1886 kündigte deshalb die Thronrede Mass-
nahmen der Regierung zur Sicherstellung des Bestandes und der
gedeihlichen Fortentwickelung der deutschen Bevölkerung in einigen
Provinzen an. Sowol das Abgeordnetenhaus wie das Herrenhaus
erklärten sich in Anlehnung an diese Ankündigung bereit, die
Regierung auf dem von ihr bezeichneten Wege zu unterstützen
und die erforderlichen Mittel zur Durchführung der als nothwendig
erachteten Massregeln bereitwilligst zur Verfügung zu stellen.
Unter dem 8. Februar 188<J wurde demnächst seitens der Staats-
regierung der Entwurf eines Gesetzes betreffend die Beförderung
deutscher Ansiedelungen in den Provinzeu Westpreussen und Posen
dem Abgeordnetenhause vorgelegt. In demselben verlangte die
Regierung die Bewilligung von hundert Millionen Mark, um mit
denselben zur Stärkung des deutschen Elementes gegen polonisi-
rende Bestrebungen durch Ansiedelung deutscher Bauern und Arbeiter
Grundstücke zu kauten, die etwa nothweudigen Kosten der ersten
Einrichtung und der ersten Regulirung der Gemeinde-, Kirchen-,
Schulverhältnisse neuer Stellen von mittlerem oder kleinem Um-
fange oder ganzen Landgeraeinden zu bestreiten, ohne Unterschied,
ob diese auf besonders dazu angekauften oder sonstigen dem Staate
gehörigen Grundstücken errichtet werden sollten. Die Ueberlassung
an die Colonisten sollte zu Eigenthum oder iu Zeitpacht und zwar
gegen eine angemessene Entschädigung des Staates erfolgen, welche
zu dem Hundertmillionenfonds zu fliessen hätte. Die Ausführung
des ganzen Gesetzes übertrug der Entwurf einer besonderen dem
Staatsministerium unterstellten Commission, deren Zusammensetzung
dem Erlass einer königlichen Verordnung vorbehalten blieb. Der
Entwurf wurde seitens des Abgeordnetenhauses einer Commission
UaUUch« M..n»t«ol.rift, Rand XXXV!. Heft ft. 33
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496
Zur inneren Colonisation in Preussen.
überwiesen, welche wichtige Aenderungen und Ergänzungen mit
demselben vornahm. Die Commission war der Ansicht, dass" es
erforderlich erscheine, neben der Ueberlassung der Parcellen in
Zeitpacht oder als Eigeuthum gegen Capitalabfindung noch eine
dritte Ueberlassungsform einzuführen. Man erwog hierbei, dass,
wenn der Staat grosse Mittel aufwende, um einen Theil des Grund-
besitzes in den polnischen Provinzen in deutsche Hände zu bringen,
er auch im höchsten Grade ein Interesse daran habe, das Fort-
bestehen der einzelnen Colonien in deutscher Hand zu sichern.
Nicht nur das allgemeine socialpolitische Interesse, dem Latifundien-
besitz entgegenzuwirken, musste ihn veranlassen, es durch alle der
Gesetzgebung zu Gebote stehenden Mittel zu verhüten, dass der
Besitz der deutscheu Colonisten im Laufe der Zeit wieder in polnische
Hände übergehe, sondern auch politische Erwägungen und Motive
mussten ihn zu demselben Gedanken führen.- Es musste der Regie-
rung die Möglichkeit geboten werden, in durchaus bestimmender
Weise einen Einfluss auf die Besitzveränderungeu auszuüben, um
es zu verhindern, dass in Folge schlechter Wirthschaft der Coloni-
sten eine Verschiebung der ßesitzverhältnisse in nicht erwünschter
Weise eintrete und dadurch sowol der politische wie der social-
politische Zweck der grossen Unternehmung vereitelt werde. Ein
solcher Einfluss ist natürlich der Regierung bei der Ueberlassung
einer Colonistenstelle gegen Capitalleistuug zu vollem Eigenthum
von vornherein abgeschnitten und der Entwurf Hess um deswillen
auch alternativ neben der Ueberlassung zu Eigenthum die Zeitpacht
als Ueberlassungsform zu. Allein die Zeitpacht hat das grosse
Bedenken gegen sich, dass sie den Pächter niemals zu einer inten-
siven Bewirtschaftung seines Pachtgutes veranlasst ; das Bewusst-
sein, dass er nur während einer kurzen Frist sich im Besitze des
Gutes befinde, verhindert ihn, sich die Hebung und Förderung des
wirtschaftlichen Betriebes möglichst angelegen sein zu lassen ;
das mangelnde Selbstinteresse ist die Ursache, dass er die Wirth-
schaft schlendrianmässig betreibt, stets darauf bedacht, einen seine
Pachtsnmme möglichst übersteigenden Ertrag zu erzielen und immer
von dem Gedanken beseelt, jede ausserordentliche Thätigkeit und
Verwendung, jede Ausgabe sorgfältig zu vermeiden, deren Früchte
nicht ihm, sondern seinem Nachfolger zu gute kämen. Man musste
deswegen darauf ausgehen, eine Form zu finden, welche dieser
Nachtheile entbehrte und der Regierung für lange Zeit hinaus einen
massgebenden Einfluss auf den Wechsel des Besitzers bot. Die
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Zur inneren Colonisation in Preussen.
497
hierauf gerichteten Vorschläge bewegten sich nach zwei Richtungen :
von der einen Seite wurde die Wiederherstellung des altdeutschen
Rechtsinstituts der Erbpacht befürwortet, von der anderen die
Schaffung einer ganz neueu Form des Grundeigenthums, des Renten-
gutes, verlangt. Die Erbpacht war eine im früheren deutschen
Rechte sehr verbreitete Rechtsform, in welche die Ueberlassung
erblicher Nutzungsrechte an bäuerlichen Gütern eingekleidet wurde.
Das Wesen derselben bestand vom rechtlichen Gesichtspunkte aus
darin, dass das weitgehende, aber der Natur des Grundstücks ent-
sprechende Nutzungsrecht in der Familie des Bauern sich forterbte,
dass es einen dinglichen Charakter besass und dem jeweiligen Be-
sitzer eine wenn auch nur beschränkte Verfügungsbefugnis über die
Substanz des Besitzes gewährte ; sie gestattete ihm ein sog. Nutzungs-
eigenthum, während das Obereigenthum, auch volles Eigenthum
genannt, dem Grundherrn verblieb. Der generelle Name, unter
welchem die Wissenschaft das Rechtsinstitut kennt, lautet Üolonat,
wahrend man in den einzelnen Gegenden von einem Meierrecht,
Erbzinsrecht, Voigteidings-, Hubgüterrecht, einer Erbleihe &c. spricht.
Dem jeweiligen Besitzer stand das Recht zu, das Gut in ausge-
dehntestem Umfange zu benutzen, so weit dies ohne Beeinträchtigung
seines Bestandes möglich war ; wenn er auch verpflichtet war, sich
im ganzen an die herkömmliche Bewirtschaftung zu halten, so
war doch auch eine Culturveränderung aus guten Gründen gestattet.
Der Colone vertrat das Gut nach aussen hin in jeder Beziehung,
er trat sowol als Kläger wie als Beklagter auf, er war berechtigt,
eine Klage auf Wiedervereinigung der Parcellen eines Grundstücks
anzustrengen, welches früher ein ungeteiltes Ganzes bildete, er
vererbte das Gut nach besonderen Rechtssatzuugen an seine Nach-
kommen. Stand in so weit dem Colonen ein Nutzungs- und Gebrauchs-
recht zu, welches quantitativ der Befugnis des Eigentümers sehr
nahe kam, so trat doch andererseits der innerliche Zusammenhang
des ganzen Rechtsinstituts mit der Feudalzeit und dem Feudal-
staat, mit der Herrschaft des Gutsherrn über den bäuerlichen Stand
deutlich hervor. Eine Veräusserung des Gutes, sei es des ganzen
oder nur eines Theiles desselben, war ohne Einwilligung des Guts-
herrn nichtig, ohne Unterschied, ob sie unter Lebenden oder von
Todes wegen erfolgte ; ebenso war eine Autgabe des Bauerngutes
ohne gutsherrliche Einwilligung nicht gestattet. Tritt in diesen
Bestimmungen schon die Abhängigkeit des Colonen von dem Guts-
herrn zu Tage, so zeigt sich dieselbe noch weit intensiver in dem
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4<*8
Zur inneren Oolonisation in Preussen.
Umstaude, dass für die Schulden des Colonen nicht das Gut, sondern
nur sein sonstiges Vermögen haftete und er verpflichtet war, dem
Gutsherrn grössere oder kleinere Abgabeu zu leisten. Insbesondere
prägt sich der Abhängigkeitscharakter in der Thatsache unver-
kennbar aus, dass bei jedem Besitzwechsel der Gutsherr die sog.
Lehnwaare, das Laudemium, zu beanspruchen hat, eine Abgabe,
welche stets als das Zeichen der Abhängigkeit, ursprünglich auch
der politischen, später nur der wirtschaftlichen, erschaut. Nicht
minder stark wird dieser Charakter durch das Recht des Gutsherrn
zum Ausdruck gebracht, den Colonen in gewissen Fällen, insbe-
sondere bei schlechter Wirtschaftsführung , bei Rückstand im
Zahlen der Abgaben, bei Veräusserung des Gutes ohne die guts-
herrliche Einwilligung, aus dem Gute zu vertreiben ; die Rechts-
sprache bezeichnet diese Befuguis als Abmeierungsrecht oder Ex-
pulsatiousbefugnis, und die Art und Weise, wie dasselbe in früherer
Zeit vielfach angewendet wurde, bildete mit Recht eine der schwer-
sten Klagen, welche der deutsche Bauer über seine gedrückte
wirtschaftliche Stellung führte. Diese mit dem Feudalstaate und
seinen Einrichtungen zusammenhängende Abhängigkeit des Erb-
pächters von dem Gutsherrn musste notwendigerweise mit dem
Augenblick aus dem Rechtsleben verschwinden, in welchem der
Staat die vollste Freiheit des Eigenthums anerkannte. Die preussi-
sche Agrargesetzgebung der fünfziger Jahre, welche au die grossen
Thaten eines Freiherrn von Stein, eines Schön, eines Hardenberg
anknüpfte, beseitigte die mit dem modernen Rechtsbewusstsein und
der modernen National- und Agrar Wirtschaft unvereinbaren Be-
stimmungen des früheren Rechts über die Erbpacht. In Ausführung
des wichtigen, durch die Verfassung ausdrücklich verbrieften Grund-
satzes, dass bei erblicher Ueberlassung eines Grundstücks nur die
Uebertragung des vollen Eigentums statthaft sei, bestimmte sie,
dass die Constituirung des sogenannten geteilten Eigenthums bei
der Uebertragung eiues Grundstücks mit vererblichen flechten hin-
fort untersagt sei. Hiermit erfüllte die preussische Regierung das .
von ihr in einer Vorlage an die Nationalversammlung unter dem
10. Juni 1848 aufgestellte Programm j es sei eine der dringendsten
Anforderungen der Gegenwart, das durch die Gesetzgebung von
1810 unvollkommen gebliebene Werk der Befreiung des Grund-
besitzes und der Personen zu vollenden und die mit dem Geiste
der Zeit nicht weiter vereinbaren Bande des gutsherrlich-bäuer-
lichen Verhältnisses zu lösen. Die Aufhebung des Obereigenthums
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Zur inneren Oolonisation in Preussen
499
bei den Erbzins- und ErbpachtverhMtnissen ohne Entschädigung
der bisherigen Obereigenthüraer, wie sie durch § 2 des Gesetzes
vom 2. März 1850 erfolgte, bedeutete eine Einlösung des in den
voi-stehend angeführten Worten gegebenen Versprechens und die
endliche Verwirklichung einer Reform, welche das Edict vom 8. Oct.
1807 und vom 14. Sept. 1811 bereits angebahnt hatte, die aber
nach 1815 an dem mächtigen Widerstande des Adels gescheitert war.
Seitens eines Theiles des Abgeordnetenhauses glaubte man
nun anfangs in der Einführung der natürlich den heutigen Ver-
hältnissen und Anschauungen entsprechend modificirten Erbpacht
die Ueberlassungsform erblicken zu sollen, welche die Erreichung
der von dem Gesetze ins Auge gefassten Zwecke in der sicheisten
Weise verbürge. Man betonte dabei ausdrücklich, dass man weit
von dem Gedanken entfernt sei, abgeschaffte Rechtsinstitutionen
der Feudalzeit, wieder einführen zu wollen ; man verwahrte sich
mit der grössten Bestimmtheit gegen die Unterstellung, als ob man
beabsichtige, an der Freiheit des bäuerlichen Grundbesitzes und des
Bauernstandes auch nur irgend wie zu rütteln ; man wollte nur ver-
hüten, dass die mit grossen Opfern angekauften Stellen in längerer
oder kürzerer Zeit wieder in die Hände polnischer Besitzer ge-
riethen und hielt zur Erreichung dieses Zweckes die Erbpacht um
deswillen für besonders geeignet, weil sie für die gesetzliche Aus-
führung der einfachste und sicherste Weg sei und für beide Con-
trahenten klare und bestimmte Rechte schaffe. Indessen stand der
Wiedereinführung der Erbpacht sowol die Staatsregierung als auch
die Mehrheit der Parteien, welche das Colonisationsunternehmen
mit Eifer unterstützen wollten, entschieden feindlich gegenüber.
Vor allem wurde bemerkt, dass der Bauernstand mit Recht gegen
alles ausserordentlich mistrauisch sei. was auch nur entfernt an
die Wiederbelebung der Einrichtungen des Feudalstaates erinnere
und dass man sich um deswillen seitens desselben gegen die Ein-
führung eines so sehr verhassten Instituts wie die Erbpacht durch-
aus ablehnend und antipathisch verhalten werde. Sodann sei es
aber auch eine Täuschung, wenn man glaube, dass die Erbpacht
überhaupt die von der Gesetzgebung ins Auge gefassten Ziele zu
erfüllen vermöge ; trotz seiner Beschränkung geniesse der Erb-
pächter in mancher Richtung, so insbesondere bezüglich des Rechts
der Veräusserung und Verschuldung, kraft des Gesetzes so weit-
gehende Befugnisse, wie sie im Interesse der Erreichung der Ziele
der Colonisationsgesetzgebung ihm nicht eingeräumt werden könnten.
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500
Zur inneren Colonisation in Preussen.
Die Erbpacht habe ihre innere Berechtigung in den wirtschaft-
lichen Verhältnissen der früheren Zeit gehabt, die von den jetzigen
völlig verschieden seien ; sie hänge im früheren Recht mit anderen
Instituten, insbesondere dem Erbzinsgut. so untrennbar zusammen,
dass eine einfache Wiederinkraftsetzung der beseitigten gesetzlichen
Vorschriften gänzlich ausgeschlossen erscheine, vielmehr eine solche
Modifikation eintreten müsse, dass das Institut nur dem Namen
nach die alte Erbpacht darstelle, während es in Wahrheit mit dem
alten Rentengut identisch wäre, dessen gesetzliche Einführung als
Verleihungsform von Grundeigenthum neben dem Kauf gegen Capital
schon seit längeren Jahren seitens der "verschiedensten Parteien
im luteresse der inneren Colonisaton verlangt wurde.
Das Rentengutsystem charakterisirt sich dadurch, dass. ein
Grundbesitz einer Person zu völlig freiem Eigenthum gegen Zahlung
einer Rente, Natural- oder Geldrente, überlassen wird, welche nach
den Anschauungen des früheren Rechts auf Seiten des Renten-
Schuldners im allgemeinen unkündbar war. Die Rentenform bildete
im früheren Rechte eine sehr beliebte und sehr verbreitete Rechts-
form. Nicht nur in Deutschland war die Verleihung gegen eine
unablösliche Rentenleistung sehr verbreitet, sondern nicht minder
in Frankreich und anderen Ländern. Die Aehnlichkeit, welche
äusserlich zwischen dem Rentengut und solchen Rechtsinstituten
bestand, die auf einer Erbunterthänigkeit beruhten, bewirkte, dass
mit der Beseitigung dieser auch die Unablöslichkeit der Rente fiel.
Es schien dem Begriff des freien Eigenthums zu widersprechen,
dass für ewige Zeiten eine Abgabe von demselben zu leisten war.
Der Code civil bestimmte im Artikel 1011 : La rente constituce en
perpctuel est csseiüicllcment raehetable. Lcs partics peuvmt seulemcnt
cotivenir, que le rachat nc scra pas fait avnnt un delai qui nv pourra
exceder dix ans, ou sans avoir averti Je ercancier au terme d'arancc
qucllcs auront dctcrminc1, eine Vorschrift, welche im Interesse der
öffentlichen Ordnung und Staats wohl fahrt erlassen wurde, so dass
eine vertragsmässige Abänderung ihres Inhalts rechtsungiltig ist.
In demselben Sinn bestimmte Artikel 5 der preussischen Verfassung:
tBei erblicher Ueberlassung eines Grundstücks ist nur die Ueber-
1 Die beständige Pente ist ihrem Wesen nach ablösbar. Die Parteien
können mir übereinkommen, dass die Ablösung nicht vor einer bestimmten Zeit,
welche jedoch nicht über zehn Jahre hinan» gesetzt werden darf, wie auch, dass
sie nicht anders, als nachdem der Gläubiger eine unter ihnen bestimmte Zeit vor-
her benachrichtigt worden, geschehen solle.
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Zur inneren Colonisation in Preussen.
501
tragung des vollen Eigenthums zulässig, jedoch kann auch hierin
ein fester ablösbarer Zins vorbehalten werden», und das Gesetz
vom 2. März 1850 schrieb in §92 vor: «Die Kündigung von
Capitata, welche einem Grundstück oder einer Gerechtigkeit auf-
erlegt werden, kann künftig nur während eines bestimmten Zeit-
raums, welcher 30 Jahre nicht übersteigen darf, ausgeschlossen
werden ; Capitalien, welche auf einem Grundstücke oder einer Ge-
rechtigkeit angelegt sind und seitens des Schuldners bisher un-
kündbar waren, können von jetzt ab, sobald 30 Jahre seit der
Verkündigung dieses Gesetzes verflossen sind, mit einer sechs-
monatlichen Frist seitens des Schuldners gekündigt werden.» Nach
Massgabe dieser Bestimmungen war die Oonstituirung eines Renten-
gutes unter Unablöslichkeit der Rente unmöglich. Die Auferlegung
. von Naturalienrenten war durch das Gesetz schlechtweg ausge-
schlossen.
Wie erwähnt, ist nun seit geraumer Zeit die Wiedereinführung
des Reutengutes mit einer weitergehenden Unablöslichkeit der Rente,
als sie das bestehende Recht gestattete, Gegenstand der Erörterung
hochangesehener Körperschaften Preussens gewesen. Schon im Jahre
1878 faud in dem Landesökonomiecollegium Preussens», der Central-
stelle für landwirtschaftliche Angelegenheiten, welche als Mittel-
und Verbindungspunkt zwischen den landwirtschaftlichen Vereinen
und der Regierung dient, eine eingehende Verhandlung darüber
statt, ob es sich nicht empfehle, behufs energischer Förderung der
Colonisation und Besiedelung Rechtsformen wiederherzustellen.Svelche
es ermöglichten, Grundbesitz unter der Garantie zu parcelliren,
dass die Parcellen zur Errichtung und dauernden Erhaltuug kleiner
Wirthschaften seitens einer ländlichen Bevölkerung benutzt würden.
Wenn man auch bei der Erwägung der Vortheile der Erbpacht
und des Rentengutes weder zu Gunsten der einen noch des anderen
sich entschied, sondern nur den Beschluss fasste, der Frage ein
gründliches Studium zu Theil werden zu lassen, so war doch er-
sichtlich, dass die Wiederbelebung der Erbpacht nicht auf den Bei-
fall der Mehrheit zu zählen habe. — Noch früher als das Landes-
ökonomiecollegium hatte sich die preussische Central-Moorcommission
mit der Frage befasst. Schon im Jahre 1878 wurde von ihr bei
' Nach dem Regulativ vom 24. April 187« besteht es aus nenn von dem
landwirthschaftlichen Minister ernannten und aus 19 von den hmdwirthsehaf't
liehen Centraivereinen auf 3 Jahre gewühlten Mitgliedern und tritt in der Regel
jahrlich zu einer Sitzung zusammen.
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502
Zur inneren Colouisation in Preusseu.
Erörterung der zweckmässigsten Vei-pachtungsbedingungen für Torf-
und Moorländereien die Erbpacht eingehend erörtert. Nachdem in
den folgenden Jahren seitens der Commission durch Sammlung
eines reichen Materials die Beschlussfassuug über die Frage vor-
bereitet worden war, gelangte die Versammlung im Jahre 1882 zu
dem ßeschluss, der Regierung anheimzugeben, ob es zur Beförde-
rung der Colonisation in den Moorgegenden Hannovers angemessen
erscheine, die bestehende Gesetzgebung in der Weise zu ändern,
dass bei erblicher Ueberlassung von Grundstücken die Unablösbar-
keit einer vorbehaltenen, festen Geldrente auf längere Zeit und
über 30 Jahre hinaus festgestellt, für die Dauer der Rente die
Untheilbarkeit des Grundstücks gesichert und schliesslich eine Er-
höhung der Ablösungssätze über das gesetzliche Mass hinaus ver-
einbart werden könne. Auf Grund dieser Beschlüsse und Vor-
arbeiten unterbreitete die Regierung dem Landesökonomiecollegium
eine sehr interessante Denkschrift über die Rentengüter und legte
ihm die Fragen vor, welcher Inhalt dem Institute der Rentengüter
bei seiner Einführung zu geben sein würde, um es lebensfähig und
den gegenwärtigen Rechtsanschauungen entsprechend zu organisiren.
und welchen Nutzen man sich aus ihm für die Staats- und Volks-
wirthschaft in Preussen versprechen dürfe. Die Denkschrift, deren
Inhalt wir mit Rücksicht auf den uns zur Verfügung gestellten
Raum nur ganz kurz angeben können, geht davon aus, dass kein
beschränktes, sondern ein volles Eigenthum übertragen
werde Vinter Vorbehalt gewisser auf demselben ruhender unablös-
barer Rechte des Veräusserers. Sie gestattet die Auferlegung von
festen Geldrenten, sowie die vertragsmässige Festsetzung der Un-
ablöslichkeit der Rente ; in Ermangelung einer Vereinbarung über
die Ablösbarkeit gilt die Rente als unablösbar. Die Denkschritt
will ferner die Zerstückelung des Rentengutes durch geeignete Be-
stimmungen und die Naturaltheilung desselben bei einem Todesfall
durch Constituirung eines Anerbenrechts verhindern Das Landes-
ökonomiecollegium verhandelte am 9. und 10. November 1885 über
diese Vorlagen. Fast alle Redner sprachen sich mit grosser Sym-
pathie für die Schaffung von Rentengütern und die Aenderung der
bestehenden Gesetzgebung in der von der Denkschrift bezeichneten
Richtung aus, nur zwei Mitglieder erklärten sich dagegen. Pro-
fessor Schmoller von der berliner Universität betonte unter warmer
Befürwortung der Denkschrift, dass die grossen Reformatoren der
inneren Verwaltung, die Stein und Hardenberg, bei Erlass ihi*er
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Zur inneren Colonisation in Preussen.
503
Agrargesetzgebung nicht nur das Ziel, den Bauemstand von den
Reallasten zu befreien, sondern auch die Gefahr im Auge gehabt
hätten, welche daraus entstehen könne, dass einem Latifundien wesen
ein besitzloser Taglöhnerstand gegenüberstehe und dass sie um des-
willen auch von dem Bestreben erfüllt gewesen seien, einen be-
sitzenden Taglöhnerstand zu schaffen. Das Oollegium erklärte
demgemäss, dass die Einführung des Rentengutes behufs Stärkung
des Standes der bäuerlichen Grundbesitzer und Förderung der
inneren Colonisation auch im nationalen Sinne ein Versuch zur
Erreichung eines Zieles von grosser socialer, politischer und wirt-
schaftlicher Bedeutung sei, für welchen es sich ohne Bedenken aus-
spreche, auch wenn der Erfolg zweifelhaft sei. Das Collegium
erklärte weiter, dass die gegenwärtige Vertheilung des Grund-
besitzes in der Monarchie, namentlich in den östlichen Theilen der-
selben, wo die Latitundienbildung vorherrsche, sowie die immer
mehr zunehmende Zerschlagung bäuerlicher Besitzungen im Westen
des Staates, welche theils zu einer immer bedenklicher werdenden
Bildung von Kleinbesitz einer- und zur immer mehr zunehmenden
Bildung grösserer Besitzungen andererseits führe, schon jetzt ge-
nügenden Anlass biete, um einen Versuch mit der Schaffung von
Rentengütern zu machen. Diese sympathische Stellungnahme der
massgebenden Vertretung der landwirtschaftlichen Kreise gegen-
über dem Rentengut blieb nicht ohne Wirkung, und es ist wol
theilweise ihrem Einflüsse zuzuschreiben, dass man sich seitens der
Regierung und der Mehrheit des Abgeordnetenhauses darüber einigte,
die Colonisation in Westpreussen und Posen mittelst dieser Rechts-
form durchzuführen. Zwar wurde gegen das Rentengut geltend
gemacht, es leide in rechtlicher Hinsicht an Unklarheit, es enthalte
eine Rückbildung der Agrargesetzgebung , es gebe zu grossen
Schwierigkeiten bei der Erbtheilung im Falle des Todes des Renten-
schuldners Anlass, und der übertriebene Parteieifer ging so weit,
in seiner Einführung eine Wiederherstellung der Schollengebunden-
heit des alten Rechts, der glrbae adscriptio, einer milderen Form
der Leibeigenschaft zu erblicken. Mit Recht wurde seitens der
Regierung dem entgegengehalten, dass die Klärung der rechtlichen
Detailverhältnisse sich mit der Zeit schon einstellen werde, dass
das Rentengut in keiner Weise an das getheilte Eigenthum des
Feudalstaates erinnere, dass nur bezüglich der facultativen Verein-
barung der Unablösbarkeit und des Ausschlusses der Parcellirung
eine Ausnahme von dem geltenden Rechte stattfinde, während im
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504
Zur iuneren Colonisation in Preussen.
übrigen die vorgeschlagene Regelung sich vollständig im Rahmen
der preussischen Traditionen bewege und die grossen befreieuden
Ergebnisse der preussischen Agrargesetzgebung auch nicht entfernt
antaste. Ein Beweis, dass das Rentengut keine reactionäre Rechts-
bildung darstelle, liege, abgesehen von anderem, insbesondere iu
dem Umstände, dass das nur für eine beschränkte und übersehbare
Zahl von Ansiedelungen ins Auge gefasste Institut in verschiedenen
Staaten mit streng liberaler ( Gesetzgebung und Verwaltung, wie
in dem Königreich der Niederlande und im Grossherzogthum Olden-
burg, zu Recht bestehe und in der jüngsten Zeit noch erheblich
ausgedehnt bezw. erweitert worden sei. Es wurde noch hervorge-
hoben, dass man lediglich der durch die geltende Gesetzgebung
sehr eingeschränkten Vertragsfreiheit wieder zu ihrem Recht ver-
helfe, wenn man die vertragsmässige Ausschliessung der Ablösbar-
keit gestatte, und dass es in der Hand der Regierung liege, die
Rente so zu vermindern, dass nur noch eine nominelle Belastung
übrig bleibe, womit eins der wesentlichsten Bedenken, welches die
Gegner gegen das Rentengut hatten, die Abschwächung der wirt-
schaftlichen Spannkraft und der Sparthätigkeit des Besitzers, der
seine Ersparnisse doch nicht zur Verminderung der auf ihm ruhen-
den Last verwenden könne , beseitigt wurde. Aus all diesen
Gründen wurde das Rentengut seitens der Mehrheit der beiden
Häuser des Landtages als Ueberlassungsform für die durch die
Colonisation geschaffenen Stellen gebilligt und ging demgemäss in
die endgiltige Redaction des Gesetzes über, welches unter dem
26. April 1886 verkündet wurde. Die Debatten, welche gelegent-
lich der Vereinbarung des Gesetzes in den Plenarsitzungen des
Abgeordneten- und Herrenhauses stattfanden, gehören, so ausser-
ordentlich interessant und wichtig sie sind und so sehr sie sich
zu Staats- und Hauptactionen ersten Ranges gestalteten, in erster
Linie dem politischen Gebiete an und sind darum im Rahmen dieser
Darstellung, welche die socialpolitische Bedeutung der grossen
Reform zum Gegenstande hat, ausser Betracht zu lassen. Der In-
halt des Gesetzes ist in Kurzem folgender :
Zum Zwecke der Stärkung des deutschen Elementes gegen
die polonisirenden Bestrebungen in den Provinzen Westpreussen
und Posen wird der Regierung ein Fonds von hundert Millionen
Mark zur Verfügung gestellt. Derselbe kann zum Ankauf von
Grundstücken sowie zur Bestreitung derjenigen Kosten verwendet
werden, welche durch die Schaffung neuer Stellen von kleinem oder
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Zur inneren Colonisat km in Preussen. »05
mittlerem Umfange, sowie ganzer Landgemeinden entstehen. Der
Ankauf soll nur in dem Masse erfolgen, als zur Bestreitung dieser
Kosten stets die erforderlichen Mittel vorhanden sind. Die Ueber-
lassung der begründeten Stellen erfolgt gegen eine entsprechende
Entschädigung des Staates; sie geschieht zu Eigenthum gegen
Capital- und Reutenleistung oder auch in Zeitpacht. Bei Ueber-
lassung gegen Rente kann die Ablösbarkeit von der Zustimmung
beider Contrahenten abhängig gemacht werden ; das Nähere über
die Höhe der Ablösung und die Kündigungsfrist ist der vertrags-
mäßigen Vereinbarung überlassen, jedoch darf der Ablösungsbetrag
das Fünfundzwanzigfache der Rente nicht übersteigen, wenn die
Ablösung auf Antrag des Rentenempfängers erfolgt ; die sich hier-
auf beziehenden Vereinbarungen sind in das Grundbuch einzutragen,
anderenfalls Rechtsnachtheile gegenüber Dritten eintreteu. Die
Theiluug und Zerstückelung des Gutes kann vertragsmässig von
der Zustimmung des Rentenberechtigten abhängig gemacht werden,
welche jedoch durch richterliche Entscheidung der dafür bestimmten
Auseinandersetznngsbehörde aus wirtschaftlichen Gründen ergänzt
werden kann. Dem Erwerber kann bei der Verleihung die Pflicht
auferlegt werden, die Erhaltung der wirtschaftlichen Selbständig-
keit des Gutes durch die erforderlichen baulichen Aulagen, durch
Erhaltung der Vollständigkeit des notwendigen landwirtschaft-
lichen Inventars oder durch sonstige Leistungen dauernd zu sichern ;
eine Befreiung von dieser Pflicht kann durch Entscheidung der
dazu berufeneu Auseinandersetzungsbehörde erfolgen, wenn gemein-
wirthschaftliche Interessen der Aufrechthaltung der Selbständigkeit
entgegenstehen. In letzterem Falle, sowie bei Ergänzung der Zu-
stimmung des Rentenberechtigten zur Theiluug oder Zerstückelung
kann letzterer Ablösung der Rente zum fünfundzwanzigfachen Be-
trage fordern. Die Beträge für die Ueberlassung fliessen zum
Hundertmillionenfonds und sind in den Staatshaushaltsetat all-
jährlich aufzunehmen ; vom Jahre 1907 an treten sie den allge-
meinen Staatseinnahmen hinzu. Das Verfahreu vor der Ausein-
andersetzungsbehörde ist Stempel- und kostenfrei ; das Gleiche gilt
bezüglich aller Acte der freiwilligen Gerichtsbarkeit, zu welchen
das Gesetz Anlass giebt. Dem Landtage muss jährlich über die
Ausführung des Gesetzes, insbesondere über An- und Verkäufe,
über die Ansiedelungen, die Verwaltung der angekauften Güter
Rechenschaft gegeben, ferner muss über die Einnahmen und Aus-
gaben des Fonds nach Massgabe der allgemein giltigen Grundsätze
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.-1
506 Zur inneren Colonisation in Preusseu.
Rechnung abgelegt werden. Die ganze Ausführung des Gesetzes
liegt in den Händen einer Commission, welche dem Staatsministe-
rium untersteht und deren Zusammensetzung im Wege königlicher
Verordnung erfolgt. Diese Verordnung ist unter dem 21. Juni
1886 erlassen worden und bestimmt, dass die Commission aus den
Oberpräsidenten von Posen und Westpreussen, den Commissarien
des Ministerpräsidenten, der Ministerien der Landwirtschaft, des
Inneren, der Finanzen und des Unterrichts, sowie den besonders
von dem König auf die Dauer von drei Jahren ernannten Mit-
gliedern1 besteht. Die Verordnung regelt die Befugnisse des Vor-
sitzenden und die Aufsicht über die Commission und charakterisirt
sich insbesondere durch das unverkennbare Bestreben, die Aus-
führung des Gesetzes nicht in bureaukratischem Geiste zu ordnen,
sondern dem individuellen Ermessen der Commission den weitesten
Spielraum zu lassen. Die Commission ist in Wirksamkeit getreten
und alsbald mit umfassenden Gutsankäufen vorgegangen. Bis zum
l. Jan. 1887 wurde für den Gesammtpreis von 6761745 Mark Areal
erworben. — Die überaus verschuldete Lage eines Theiles der
polnischen Grundbesitzer ermöglicht die Ueberleitung des Grund-
besitzes in deutsche Hände, und wenn auch seitens des polnischen
Adels Versuche gemacht werden, durch Gründung von Rettungs-
banken dies ganz oder wenigstens zum Theil zu verhüten, so sind
dieselben bisher wenigstens durchaus erfolglos geblieben und es
hat nicht den Anschein, als ob sich dies in Zukunft ändern sollte.
Nur durch ganz bedeutende Geldmittel könnte von deu polnischen
Grandseigneurs das Schicksal des Auskaufens abgewehrt werden
und solche herbeizuschaffen ist ihnen zur Zeit nicht möglich. Die
Begeisterung der Polen wallt allerdings rasch und feurig auf, und
wenn mit Worten und schönen Reden das deutsche Colonisations-
unternehmen lahm gelegt werden könnte, wäre es längst geschehen ;
allein die Begeisterung hält nicht Stand, sie verflüchtigt sich rasch
und geht vorüber, ohne bedeutsame und zweckdienliche Thatsachen
hervorzubringen.
Die Colonisation in Posen und Westpreussen wurde aus
nationalen und politischen Interessen ersten Ranges begonnen ; der
Gedanke, durch sie auf eine gleichmässige und gesunde Vertheilung
des Grund und Bodens hinzuwirken, kam als massgebend dabei
1 endlich aus den GenerallandHchaftadireetoren, d. i. den Vorstanden der
laiulwirthachaftlicheu Creditiustitnte beider Provinzen. I). Red.
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Zur inneren Colonisation in Preussen.
507
nicht in Betracht. Trotzdem wird der Erfolg der Colonisation
aber gerade nach dieser Richtung von der grössten Wichtigkeit
uud Bedeutung sein, und um deswillen handelt es sich vielleicht
hier um den ersten Schritt zur Durchführung eines der grössten
und gewaltigsten Umwaudlungsprocesse, welche das Leben der
Völker überhaupt und des deutschen insbesondere kennt. Mit Recht
äusserte sich nach dem Erlass des Gesetzes im Juliheft 1886 der
«Preussischen Jahrbücher» eine sachverständige Stimme in dieser
Beziehung folgendermassen : c Gelingt, wie wir hoffen und wünschen,
der schwierige Versuch, dann wird die Ausdehnung der Wirksam-
keit dieses oder eines anderen Fonds und dieses oder eines ähn-
lichen Gesetzes auf alle die grossen nicht aus politischen, sondern
aus wirtschaftlichen Gründen der Besiedelung mit mittlerem und
kleinem Besitz dringend bedürftigen Gebiete der Monarchie nur
eine Frage der Zeit sein. Die Notwendigkeit der Erhaltung und
Vermehrung unseres Bauern- und Kleinbesitzerstandes, der Her-
stellung einer richtigen Mischung uud Stufenleiter vom kleinsten
bis zum grössten Besitz, der Unterbringung wenigstens eines Theiles
unseres sonst zur Auswanderung oder zum Verkümmern verdammten
jährlich wachsenden Bevölkerungsüberschusses im Vaterlande selbst
wird dem Staate diese Aufgabe aufzwingen, sobald er an diesem
Versuch gezeigt hat, dass seine Beamten dieser colonisatorischen
Thätigkeit, die einst den Ruhm der preussischen Verwaltung ge-
bildet, noch gewachsen sind.» Mit diesen Worten ist sehr gut
gesagt, dass, wenn die zunächst für zwei Provinzen unternommene
Colonisation sich bewährt, der preussische Staat auch von ihr in
solchen Gebieten Gebrauch machen wird und muss, in welchen die
Vertheilung des Grund und Bodeus unter die einzelneu Klassen
eine ungesunde ist, in welchen, um den Schwerpunkt der ganzen
Frage sofort zu bezeichnen, der Mittelbesitz fehlt und ein umfang-
reicher Grossgrundbesitz, ein ausgedehntes Lati fundien wesen in
gröS8tem Masse vorhanden ist. Das alte Wort lati/undia perdidere
rempublicam hat heute noch ebenso seine uneingeschränkte Geltung,
ist heute noch eben so wahr und richtig, wie vor tausend und mehr
Jahren, und der Staatsmann könnte wahrlich nicht mit Recht ein
weitsichtiger genannt werden, welcher der fortschreitenden Lati-
fundienbildung gleichgiltig und mit Passivität gegenüberstände. Die
Verhältnisse in einzelnen Theilen des preussischen Staates sind
aber derartige, dass die Regierung im höchsten Grade Veranlassung
hat, sich an die Richtigkeit dieses Satzes zu erinnern. Nach den
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508 Zur inneren Colonis&tion in Preussen.
Mittheilungen, welche Professor Schmoller auf der Generalversamm-
lung des Vereins für Socialpolitik am 25. September 1886 zu Frank-
furt a. M. machte, die sich mit der eingehenden Erörterung der
inneren Colonisation befasste, muss an der Ansicht festgehalten
werden, dass in verschiedenen Provinzen Preussens der Gross-
grundbesitz an der Vertheilung des Grund und Bodens viel zu
stark betheiligt ist. In der Provinz ' Sachsen fallen nach einer im
Jahre 1882 vorgenommenen Erhebung auf den Grundbesitz im Be-
trage von mehr als 300 Morgen 27 pCt., also ein Antheil,
welcher noch ein normaler genannt werden kann. In einer Reihe
anderer Provinzen gestaltet sich dagegen das Verhältnis bedeutend
ungünstiger ; so beträgt der Antheil in Brandenburg 36 pCt., in
Ost- und Westpreussen 52, in Posen 61 bis 62, in Pommern
68, in Schlesien 55 pCt. Die Latifundien mit einem Flächenraum
von mehr als 400 Morgen zählen in Pommern 57 bis 58 pCt.,
in Posen 55, in Westpreussen 47, in Ostpreusseu 38, in Branden-
burg 36 pCt. Man berechnet, dass der jetzige Grossgrundbesitz
etwa .30 Millionen Morgen, also 7 bis 8 Millionen Hektare umfasst,
eine ganz ausserordentliche Höhe, welche es begreiflich erscheinen
lässt, wenn der besitzlose Taglöhner des Ostens, der von einem
Ort zum anderen zieht, dem Staate ohne Interesse gegenübersteht
und der sozialdemokratischen Agitation das aufmerksamste Gehör
entgegenbringt, in immer erheblicherem Umfange d i e Stelle in der
Bevölkerung einnimmt, welche vormals der besitzende, spannfähige
Bauer ausfüllte. Die fortschreitende Concentration des Grund-
besitzes in den erwähnten Landestheilen der preussischen Monarchie
ist die Ursache der Verdrängung des Mittel- und Kleinbesitzes, ist
wenigstens mit die Ursache, dass in ihnen die ländliche Bevölke-
rung in Schaaren zu der Fahne der Socialdemokratie schwört. In
Gebieten, in welchen nach einer ungefähren Schätzung 1 >/» bis 2
Millionen Arbeitern nur 20 bis 30000 Grundbesitzer gegenüber-
stehen, in den Gebieten, in welchen der Mittelbesitz völlig fehlt,
kann sich unmöglich in der Masse der Bevölkerung der Geist der
Stabilität bilden, an dessen Existenz der Staat doch in so überaus
hohem Grade interessirt ist. Es ist ein sehr richtiges Wort,
welches Professor Schmoller auf der erwähnten Versammlung des
Vereins für Socialpolitik gesprochen hat, dass die sociale Pyramide,
in deren unterster Schicht eine überwiegende Majorität von Grund-
eigentümern sitzt, eine ganz andere Festigkeit in sich trägt als
die, deren Basis aus besitzlosen Leuten besteht. * Es fehlt darum
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Zur inneren Oolonisation in Preussen. 509
in diesen Gebieten an einem Element, welches den destructiven
und subversiven Bestrebungen unserer Zeit einen unzerstörbaren
Damm in der Weise entgegensetzt, wie ihn der französische Bauern-
stand, der Parcellenbesitzer gegenüber allen co in mun istischen und
collectivistischen Bewegungen bildet, gebildet hat und bilden wird.
Ist es ja bekanntlich vielleicht das grösste Verdienst der französi-
schen Revolution, einen sesshaften besitzenden Bauernstand ge-
schaffen zu haben, welcher das eigentliche stabile Element inmitten
der brausenden Wogen des erregten politischen Lebens, inmitten
des fortwahrenden Wechsels der Regierungen und Verfassungen mit
grösster Zähigkeit repräsentirt. Die absolut ungenügende Zahl
der spannfahigen Bauern in den oben erwähnten Provinzen zu ver-
mehren, hierdurch einen entsprechend grossen Mittelbesitz ins Leben
zu rufen, das besitzlose Taglöhnerthum dieser Gegenden in ein
sesshaftes, mit Eigenthum ausgestattetes Häuslerthum umzugestalten,
alles dies durch entsprechende Verminderung des Grossgrundbesitzes,
das ist die Aufgabe, welcher sich die preussische Regierung gegen-
übersieht und welche sie lösen muss, will sie anders es verhüten,
dass der Äccumulationsprocess der Latifundien noch weitere Fort-
schritte mache und so die Grundlage der Monarchie, die Grundlage
des ganzen Staats- und Gesellschaftsbaues lockere und erschüttere.
In diesem Sinne hat der Verein für Socialpolitik in seiner
Sitzung vom 25. September 1886 auf Vorschlag des Professors
8chmoller und des Abgeordneten Sombart folgende Resolutionen
gefasst: «Die durch das Gesetz vom 26. April 1886 für die staat-
liche Colonisation in Posen und Westpreussen facultativ eingeführte
Form des Rentengutes ist durch ein allgemeines Gesetz für den
ganzen preussischen Staat zuzulassen ; die für Posen und West-
preussen beschlossene Art der Schaffung einer grösseren Zahl mitt-
lerer und kleinerer bäuerlicher und Häuslerstellen hat nicht nur
eine nationale, sondern auch eine socialpolitische Bedeutung; sie
muss daher nach und nach auf die übrigen Theile des deutschen
Ostens ausgedehnt werden, welche an einer ähnlichen Vertheilung
des Grundeigenthums leiden.» Diese Meinungsäusserung einer hoch-
angesehenen Vereinigung von Männern, welche sich des bedeutend-
sten Ansehens nicht nur im deutschen Reiche, sondern in der ge-
sammten wissenschaftlichen Welt erfreuen, ist bezeichnend für die
Stellung, die man zur Zeit in Deutschland, und zwar seitens der
Wissenschaft wie seitens der praktischen Politik, gegenüber den
socialen Problemen einnimmt. Vor einem halben Menschenalter
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510
Zur inneren Colonisation in Preussen.
noch wäre es als ein schlechter Scherz bezeichnet worden, wenn
jemand die Behauptung aufgestellt hatte, nach zwei .Jahrzehnten
werde eine Versammlung hervorragendster Gelehrten, Staatsmänner
und praktischer Politiker, die allen extremen Anschauungen durch-
aus abhold sind, die Ausführung von Massregeln seitens des
Staates verlangen, welche einen Eingriff der öffentlichen Gewalt in
die Gestaltung der Eigenthums- und Besitz Verhältnisse in intensivem
Masse darstellen. Nur dem ungeheuren Umschwung, welcher auf
dem Gebiete der socialpolitischen Anschauungen seit dieser Zeit
eingetreten ist, muss es zugeschrieben werden, dass man heute Ziele
verfolgt, die damals unbedingt mit dem Vorwurfe des Utopismus
und Gommunismus gebrandmarkt worden wären. Professor Schmoller
sagte in seinem mehrfach angeführten' Frankfurter Vortrage, es
gelte den Grossgrundbesitz auf mindestens 40 püt. zu reduciren,
so dass für den Umfang des Mittel- und Kleinbesitzes mindestens
60 pCt. übrig bleiben. So massvoll und begrenzt dieser Vorschlag
im Vergleiche mit weiter gehenden Plänen, welche dem Gross-
grundbesitz höchstens 20 pCt. lassen wollen, auch ist, so muss
dennoch die ihm innewohnende Tragweite eine geradezu gewaltige
genannt werden. Käme er zur Ausführung, so würden etwa
vier bis sechs Millionen Morgen, also 1 bis l1/» Millionen
Hektare, dem Mittel- und Kleinbesitz zugewiesen werden können.
Derselbe würde hierdurch auf etwa 50 pCt. erhöht, während die
Verminderung des Grossgrundbesitaes nur ein Achtel bis ein Siebentel
seines derzeitigen Gebietsum langes betrüge. Gleichwol würde dies
hinreichen, um die Zahl der spannfähigen Bauerubesitzungeu um
60 bis 80000 zu vermehren und von der nomadisirenden Taglöhner-
bevölkerung, welche mit jedem Tage dem Staate und der Gesell-
schaft feindseliger gegenübertritt, 2 bis 300000 zu sesshaften Eigen-
thüraern eines Häuschens mit ein paar Morgen Landes umzuwandeln,
genügend, um den zur Ernährung einer Familie erforderlichen Er-
trag zu liefern. Ist es zu viel gesagt, wenu Schmoller behauptete,
dass dann der flutenden Masse der Besitzlosen ein fester Halt ein-
gefügt und dieser ganzen Gesellschaftsklasse die Aussichtslosigkeit
genommen sei? Ist es übertrieben, wenn er meinte, dass alsdann
zwischen Reichthum und Armuth ein Mittelglied hergestellt und
für das Gesellschaftsleben auf dem Lande, für das Gemeindeleben
wieder eine ganz andere Stufenleiter geschaffen sei, als sie jetzt
vorhanden ist V Auch der nüchternste socialpolitische Denker, sollte
er auch der Ideologie eben so kalt und ohne jedes Verständnis
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Zur inneren Colonisation in Prenssen.
511
gegenüberstehen wie der erste Napoleon, wird zugeben müssen, dass
die socialen Wirkungen dieser Massregel wol noch weit über diese
Perspective hinausgingen. Freilich erfordert dieselbe die bedeutend-
sten Anstrengungen und. Opfer seitens des Staates. Man denke
nur einmal an die Geldmittel, welche diese Staatsaction in grösstem
Style erforderlich machte. Mit den hundert Millionen, welche durch
das Gesetz vom 26. April 1886 bewilligt wurden, glaubt die Re-
gierung 100000 Hektare in Posen und Westpreussen ankaufen und
colonisiren zu können. Um die Colonisation auf eine Million Hektare
auszudehnen, bedürfte es also einer Summe von tausend Millionen
Mark. Es braucht nun nicht erst besonders bemerkt zu werden,
dass Preussen ein solch colossales Capital nicht auf einmal für
colonisatorische Unternehmungen aufwenden kann, und es ergiebt
sich hieraus mit Notwendigkeit die Folge, dass es sich nicht darum
handeln kann, von heute auf morgen die Ausführung der inneren
Colonisation in dem bezeichneten Umfange zu decretireu, sondern
dass es eine Massregel gilt, die nur während einer Reihe von
Generationen zu volleuden ist. Dadurch unterscheidet sich diese
wahrhaft staatsmännische, der socialen Gerechtigkeit in vollstem
Masse Rechnung tragende Agrarpolitik von den utopischen Zielen
des Socialismns und Communismus; sie erstrebt nicht Erwerbs-
formen, welche mit der heutigen Rechts- und Wirtschaftsordnung
jedes Zusammenhanges absolut entbehren, sie will nicht zurückkehren
zu Besitz- und Eigenthumsformen, welche den überwundenen Zeiten
der Barbarei angehören und die Entfaltung der Cultur unmöglich
machen, sondern sie will vom Boden der bestehenden Verhältnisse
aus die bedenklichen Erscheinungen der Gegenwart beseitigen, die
ungesunden Verhältnisse verbessern ; sie will die Reform, aber
nicht die Revolution. Sie knüpft lest und einfach an die
Formen des wirtschaftlichen Lebens an, wie sie seit Jahrhunderten
und Jahrtausenden bestehen; sie will alles Berechtigte, was besteht,
sorgfältig erhalten, sie will nur so weit, als es notwendig ist, eine
massvolle Correctur in der bestehenden Verteilung des Grund-
eigentums eintreten lassen«. Ob der preussische Staat sich ent-
schliessen wird, die innere Colonisation in diesem Umfange zu be-
ginnen und durchzuführen, ob er in Anknüpfung an die Traditionen
der Friedericianischen Monarchie die Agrarreform des Freiherrn
1 Vgl. G. Schmoller in Beinem Referat auf der Generalversammlung des
Vereins für Socialpolitik, abgedruckt in den Schriften des Vereins für Social
Politik Bd. 33. Leipzig, Duucker & Humblot 1887. S. 90-101.
BaltUrho Monatwehrift, Band XXXVI, Ihm 6. 34
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512
Zur inneren Colonisation in Preussen.
von Stein und des Fürsten Hardenberg fortsetzen und weiterbilden
wird, dafür wird der Erfolg der Colonisation in Posen und West-
preussen von massgebender Bedeutung, dafür wird bestimmend sein,
ob der preussische Beamte heute noch eben so gut zu colonisiren
versteht wie vor einem Jahrhundert, ob die Nachkommen jener
Manner, welche mit Kelle und Pflug nicht minder wie mit Schwert
und Spiess am Ostwall des Reiches deutsche Cultur und deutsches
Wesen verbreiteten, die gleiche Fähigkeit besitzen wie die Vor-
fahren, und um deswillen rechtfertigt es sich vollkommen, wenn
im Eingang dieser Darstellung gesagt wurde, das Colonisationswerk
in den beiden Provinzen habe nicht nur eine nationale, sondern
auch eine socialpolitische Bedeutung von grosster Tragweite
«Ziemlich die Hälfte des Gebietes, welches in Europa die
Deutschen jetzt inne haben, ist nicht blos durch das Schwert,
sondern mehr noch mit Axt und Pflug, mit Mauerkelle und Ellen-
stab erworben. Jede Form von Colonisationsthätigkeit war dabei
vertreten. Deutsche Fürsten legten Dörfer und Städte an, Ritter
und Gewerker kamen im Hofgefolge oder jeder auf eigene Hand.
Bauern familienweise oder in ganzen Zügen, hier betrieben Unter-
nehmer planmässig die Ansiedelung, dort baute jeder sich einzeln
den Wohnsitz, Kaufleute gründeten Factoreien und zogen die Er-
oberung hinter sich her, Mönchsorden nahmen sich ganze Land-
striche zum Ziele für Feld-, wie für Schul- und Kircheubau, Ritter-
orden richteten sich im Neuland fürstliche Herrschaft ein, Fürsten
und vornehme Frauen im Slavenlande wandelten ihre Städte und
Dörfer zu deutschen um'.» In diesen anschaulichen Worten hat
ein hervorragender deutscher Historiker ein zutreffendes Bild von
dem Umfang und der Wirksamkeit der deutschen Colonisation im
Osten gegeben, wie sie seit den Zeiten Karls des Grossen betrieben
wurde. Galt es damals der Cultur und Civilisation neue, ausge-
dehnte Gebiete zu erwerben, so gilt es heute die culturwidrige
Gestaltung der Grundeigenthumsverhältnisse zu ändern und durch
eine Vertbeilung des Grund und Bodens zu ersetzen, welche die
Existenz solcher Zustände, wie sie die antike Welt zur Zeit Neros
gekannt hat und wie sie die moderne Welt in Irland kennt, un-
möglich macht. Es wird eine der gewaltigsten Thaten in der Ent-
wirkelung des preuss'schen Volkes sein, wenn der preussische Staat
* F. v. UAu-r. Beitrüge zur Gceehiriit* und Völkerkunde II, S. 1. Frank
um u m. IHK*}.
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Zur inneren Colonisation in Preussen.
513
sich dieser Aufgabe unterzieht. Die Agrarreformgesetze alter und
neuer Zeit, die Beseitigung der Leibeigenschaft und die Aufhebung
der Grundlasten weiden neben ihr an Bedeutung zurücktreten. Was
frühere Generationen an dem Bauerstand gesündigt, was die Feudal-
zeit an ihm durch das Bauernlegen verbrochen hat, wird durch die
Colonisation wenigstens zum Theile wieder gut gemacht und ge-
sühnt werden, und so darf man mit einem der Männer, welche be-
geistert die Fahne der inneren Colonisation hochgehalten, mit dem
Pastor von Bodelschwingh, dem Vater der < Arbeitercolonien», die
Hoffnung hegen, dass sie ein Mittel bieten wird, «aus hoffnungs-
losen Menschen, die niemals eine Verbesserung ihrer Lage hoffen
können, hoffnungsvolle zu machen, die taglich sich weiter empor-
arbeitend, einem friedlichen Lebensabend entgegensehen und auch
ihren Kindern ein kleines Erbtheil überlassen können«».
Main z. Dr. L u d w i g F u 1 d.
* VerhftmHmitfeii d«'s Wivins für Sozialpolitik n * <> S 110.
34'
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Russlands Volkswirtschaft.
HapojRoe xo3aficTDo Poccih, B3CJt*OBaH*ifl B. II. Be3o6pa30Ba, ji»RcTBBTe.ii.naro
Hjciia IlrnieparopcKofi A kucmih Haysi. MocKOicsai npoMunuciiHaa
o6^aCTb, Theil I, 1882, Thcil II und Beilage 1885. St, Petersburg.
(Französische Ausgabe unter dein Titel: E tu des sur l'economie na
titmale de la Iiuxsie. 1886.)
as vorliegende Werk des auch in Westeuropa wohlbekannten
Nationalökonomen, Akademikers und Senateurs Geheim-
rath W. ßesobrasow ist die Frucht mehrjähriger Studienreisen, die
er in amtlichem Auftrage zur Klarlegung der bedeutungsvollen
Frage ausführte, wie die Volkswirtschaft Russlands und insbe-
sondere sein gewerbliches und Handelsleben in den zwei ersten
Decennien nach Abschaffung der Leibeigenschaft und dem Insleben-
treten der vielen, die ökonomischen wie die gesammten socialen Be-
dingungen umgestaltenden Reformen sich gestaltet hat. Der Ver-
fasser war für die Ausführung dieser durch den Maugel an den
erforderlichen Vorarbeiten in der Literatur besonders erschwerten
Aufgabe ganz vorzüglich geeignet, da er während des ganzen in
Rede stehenden Zeitabschnitts sich dem Studium der einschlägigen
Fragen, an die sich vielfache Excursionen in die verschiedenen
Theile des Reiches knüpften, gewidmet hatte. Den Ausgangspunkt
hatte hierbei ein Hauptcentrum des russischen gewerblichen Lebens,
die Messe zu Nishni-Nowgorod, gebildet, deren geschichtliche und
gegenwärtige Bedeutung er im Jahre 1804 untersucht hatte. Die
Frucht dieser Studien war die den Charakter einer Monographie
überragende, werthvolle Schrift: OicpKH HiiseropoACKofl apiiapicn,
Russlands Volkswirtschaft.
515
Moskau 1886. Es sei noch bemerkt, dass der Verlasser auch mit
der Redaction des Berichts über die moskauer Ausstellung vom
Jahre 1882 betraut ward, der unter dem Titel Ot'ictt» o Bcepoccifl-
CKofl XYAoacecTBenuo-npoMLiiflJteuuofl BucTaBKt 1882 ro^a ot> MockbIi
in sechs grossen Bänden 1883 und 1884, St. Petersburg, er-
schienen ist.
Das uns an dieser Stelle beschäftigende Werk, cDie Volks-
wirtschaft Russlands >, nimmt eine eigen thümliche Stellung in der
russischen volkswirtschaftlichen Literatur ein. Wer mit national-
ökonomischen und statistischen Fragen Russlands sich zu beschäfti-
gen hat, wird zuerst freudig überrascht sein über die reiche Fülle
des Materials, das in den letzten Jahrzehuten gesammelt und mehr
oder weniger verarbeitet ist. Dringt man aber näher in das
Material ein, so macht sich sogleich eine empfindliche Lücke fühl-
bar. Es ergiebt sich nämlich, dass die eine Gruppe des rohen,
wie auch des verarbeiteten Materials nur Specielles, Locales, die
andere nur Allgemeines bietet. In der ersteren Gruppe sieht man
den Wald vor lauter Bäumen, in der anderen die Bäume vor lauter
Wald nicht. Entweder erhält man einen allgemeinen, abgeblassten
Durchschnitt, der die Gegensätze, das Unterscheidende, das Be-
sondere, aus welchem sich schliesslich doch das Allgemeine ver-
söhnend, vermittelnd und verbindend gestaltet, verschwinden lässt,
oder man verirrt sich im tiefsten Detail des Localen, Accidentellen
und verliert die Fäden des Zusammengehörigen und jeden Mass-
stab zur Beurteilung selbst des Einzelnen, da die organische Be-
ziehung des Einzelnen zu grösseren Gruppen und schliesslich zum
Allgemeinen fehlt. Dieser Misstand zeigt sich selbst in den
Specialfragen gewidmeten Schriften. Aus der reichen Fülle greifen
wir zur Illustrirung dieser Behauptung ein Gebiet, das dem Re-
ferenten näher liegt, heraus — die Agrarfrage im weiteren Sinne
und in dieser Frage einige Specialgebiete. Das grosse Werk des
statistischen Centralcomite" über die Verteilung des Grundbesitzes
in Russland ist auf Grund von Materialien zusammengestellt, die
nach einem gemeinsamen Programm, nach einer Schablone einver-
langt sind. Die grosse Bedeutung dieses Umstandes, der den
Werth dieser grossen Arbeit erheblich schmälert, in manchen Be-
ziehungen ihn auf den Nullpunkt bringt und den Uneingeweihten
geradezu irreführt, wird dem Leser aus dem Hinweis auf ein Bei-
spiel klar werden. In Betreff des bäuerlichen Grundbesitzes geht
das Programm vom Gemeindebesitz aus, und nach dieser Schablone
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516
Russlands Volkswirtschaft.
sind die Materialien gesammelt, zusammengestellt, und verarbeitet
auch in Betreff der Gouvernements, in welchen die bäuerliche Be-
völkerung im individuellen Grundbesitzrecht lebt. Wenn nun auch
neben der Zahl der Revisionsseelen und der vorhandenen (männ-
lichen) Seelen, sowie dem Lande des Gemeindebezirkes die Zahl
der bäuerlichen Höfe vermerkt ist, so erhalten wir doch kein oder
ein falsches Bild der thatsächlichen Vertheilung des bäuerlichen
Grundbesitzes, zumal der Begriff des Hofes sowol beim Gemeinde-
besitze, als auch bei parcellirtem individuellen Grundbesitz kein
fest begrenzter ist. Der Fehler des Schablonenhaften tritt um so
greller hervor, je mehr wir auf das Detail (Kreise, Gruppen der
bäuerlichen Bevölkerung, Grösse des ßauerlandes pro Hof &c.) ein-
gehen, und zum Schluss erhalten wir eine Caricatur der thatsäch-
lichen Verhältnisse.
Ein Gegenstück zu dieser alles nivellirenden Statistik bietet
uns die seit dem letzten Decennium aufblühende landschaftliche
Statistik, insbesondere so weit sie die wirthschaftlichen Verhältnisse
zum Object hat. Hier finden sich die speciellsten Detailunter-
suchungen : die Gruppirung erstreckt sich, wenn auch freilich nur
als Ausnahme, auf die Wolost. sonst auf den Kreis. Nur eine
Landschaft hat es bisher zu einer Darlegung und zusammenfassenden
Schilderung eines ganzen Gouvernements gebracht (Moskau). Er-
innern wir uns jedoch dessen, dass die russischen Gouvernements
nicht, wie etwa z. B. unsere baltischen Provinzen, die preussischen
Provinzen, die bayerischen Kreise &c, historisch und social-ökono-
misch ausgeprägte Individualitäten sind, sondern vielmehr aus
praktischen Erwägungen der Verwaltung hergestellte Bezirke dar-
stellen , wie etwa die französischen Departements , so ergiebt
sich, dass auch solch eine Gruppirung uns kein Ganzes bietet.
Mau hat nun freilich andererseits in der allgemeinen Statistik
Gruppirungen von Gouvernements je nach ihrer historischen und
wirthschaftlichen organischen Zusammengehörigkeit aufgestellt, aber
wegen der anderen, zum Theil oben berührten Mängel dieser
Statistik tritt das Typische der Gruppen nicht plastisch entgegen.
Von den Versuchen, diese beiden gegensätzlichen Methoden
der Untersuchung und der Schilderung der wirthschaftlichen Ver-
hältnisse organisch zu verbinden, ist der gelungenste und in wesent-
lichen Beziehungen der erste Versuch das Werk Besobrasows. Er
hat es verstanden, in geradezu künstlerischer Gestalt in seinen
Darstellungen das Allgemeine aus dem Besonderen und das Be-
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Russlands Volkswirtschaft.
517
sondere aus dem Allgemeinen hervortreten und entstehen zu
lassen. Ein besonderes Verdienst uud dem weiten Gesichtspunkt
des Verfassers entsprechend ist es, dass überall das wirtschaftliche
Leben und seine Gestaltung in dem inneren Causalnexus mit der
geschichtlichen Entwickelung, mit den sittlichen uud socialen Ver-
hältnissen aufgefasst und geschildert wird. Wir bezeichnen dieses
Verdienst als ein besonderes, weil gerade die Loslösung des wirth-
schaftlichen von dem culturellen Leben, wie sie in den volkswirt-
schaftlichen Schriften üblich ist, die volle Ergründung selbst des
wirtschaftlichen Lebens unmöglich gemacht hat.
Es würde den mir zu Gebote gestellten Raum überragen,
wollte ich auch nur in allgemeinen Umrissen den Inhalt des reich-
haltigen Werkes skizziren. Ich beschränke mich daher auf nach-
folgende Bemerkungen, um dem Leser ein Bild seines Charakters
zu bieten, sowol was die Methode der Untersuchung als auch was
die Art der Behandlung des Stoffes anbetrifft, Das erste Capitel
bietet uns das Gruudthema des Werkes : das moskausche Industrie-
gebiet. Nach einer kurzen äusseren Umgrenzung dieses Moskau
zum Hauptcentrum habenden Gebietes, die sich in ihrer Speeialisi-
rung, in der Kennzeichnung der Nebencentren &c. vorteilhaft von
der usuellen schablonenhaften Einreihung der Gouvernements unter-
scheidet, erhalten wir eine plastische Skizze der natürlichen Be-
dingungen dieses grossen Landstrichs, dem schon durch die Natur
ein gesonderter, in gewisser Beziehung in sich abgeschlossener
Charakter gegeben ist, sodann einen geistvollen historischen' Ueber-
blick der Entstehung und durch die natürlichen und ökonomischeu
Bedingungen geförderten Ausbildung Moskaus zum moskauschen
Staat, des aus vielen Stämmen und Völkern sich durch- und aus-
arbeitenden Grossrussenthums und seiner Bedeutung für das wirt-
schaftliche und staatliche Leben Moskaus und Russlands. Besonders
wohltuend in der heutigen Zeit der nationalen Schwindeleien wirkt
es auf den Leser, dass der Verfasser bei all seiner Liebe für sein
Volksthum, die stets sympathisch wirkt, sich durchaus von jeder
nationalen Ueberhebung, wie sie heute so beliebt ist, freihält ;
nirgends verdrängt das Nationale das Allgemeinmenschliche. Auch
müssen wir als einen besonderen Vorzug hervorheben, dass in einer
Zeit des herrschenden Pessimismus, wo insbesondere auf ökonomi-
schem Gebiet nur Grau in Grau gemalt, das günstig Auf knospende
nicht beachtet wird, er die Ansätze einer gesunden Entwickelung
überall, wo sie sich zeigen, nach Gebühr hervorhebt, Licht und
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518
Russlands Volkswirtschaft.
Schatten gerecht vertheilt und sich hierbei nicht durch das Schlag-
wort «unberechtigter Optimismus » beirren lässt. Das erste Capitel
stellt sich gleichsam als Leitmotiv für das ganze Werk dar, die
folgenden Capitel führen im einzelnen aus und begründen somit
das im ersten Capitel in allgemeinen Umrissen Dargelegte. Diese
Capitel behandeln: «Die Wolga von Twer bis Nishni-Nowgorod
«Die Messe in Nishni-Nowgorod und den allgemeinen Stand unseres
gewerblichen Lebens» (im ersten Band), «Das Gouvernement Nishni-
Nowgorod und die Oka von Nishni-Nowgorod bis Räsan>, «Das
Gouvernement Jaroslaw». Jedes Capitel liest sich wie eine span-
nende Erzählung, da es dem Verfasser geglückt ist, den schweren
Apparat des statistischen und anderen Materials, des speciellen
Nachweises für das Geschilderte in der ersten, an den Schluss des
ersten Bandes gebrachten und in der zweiten, einen besonderen
Band bildenden Beilage zu deponiren ; einige in diesen Beilagen
gebotene Artikel tragen den Charakter werthvoller Monographien,
die um ihrer selbst willen Beachtung verdienen, indem sie wichtige
Specialfragen klarstellen. — Iu den geistvollen Schilderungen geht
der Verfasser vielfach auf geringste Einzelheiten ein, bietet Detail-
malereien aus dem Leben des kleinen Handwerkers, eines durch
eigene Tüchtigkeit heraufgekommenen Bauers, aus dem glücklichen
und tieftraurigen Leben des Hausindustriellen und des Fabrik-
arbeiters, oder er schildert Scenen, wie sie sich auf der Reise boten
(zufällige Reisebekanntschaften &c). Der aufmerksame Leser findet
aber schnell heraus, dass der Verfasser nicht einer Liebhaberei
ungebührlich nachgiebt, sondern dass das Detail wesentlich zum
Verständnis des Ganzen erforderlich ist : es sind das alles typische
Erscheinungen, die die verschiedenen Bevölkerungsgruppen, Gewerbe
und die social-ökonomischen Verhältnisse charakterisiren. Das Be-
sondere wird immer unter dem Gesichtspunkt des Allgemeinen und
das Allgemeine unter dem des Besonderen betrachtet und beurtheilt,
dabei tiberall mit einem Zurückgehen auf die historische Erklärung
der Erscheinungen verbunden.
Unter diesen Capiteln möchte ich die Palme dem letzten
reichen — sowol in Betreff der Vielgestaltigkeit der behandelten
Fragen, als auch in Betreff der geistvollen und anregenden Be-
handlung. Wir befinden uns hier, im Gouv. Jaroslaw, auf alt-
slavischem Culturboden (Besiedelung aus Gross-Nowgorod , das
Rostow-Ssusdaler Land), das weniger als irgend ein anderer Land-
strich — nach Abschluss der Kämpfe um die Vorherrschaft mit
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Russlands Volks Wirtschaft.
510
Wladimir uud Moskau — von den späteren Wirren und Stürmen
der Geschichte Russlands (nur noch vom polnischen Einfall am
Anfang des 17. Jahrhunderts betroffen) berührt worden ist. So
hat denn auch dieses Gebiet mehr als ein anderes sich die alten
Cnlturelemente erhalten können, die, beeinflusst und modificirt durch
die moderne Entwicklung, ein eigenartiges Leben sowol in allen
gewerblichen Zweigen wie in der socialen Ausgestaltung geschaffen
haben, das viel mehr individuelle Ausprägung zeigt als sonst irgend
ein inneres Gouvernement. Das eigenartige Gepräge tritt uns ent-
gegen sowol in der bäuerlichen Wirthschaft: besondere Gestaltung
des Gemeindebesitzes, hohe Eutwickelang des weit berühmten Garten-
baues, der Hausindustrie in allen ihren Formen, als auch im Fabrik-
und Handels wesen, in der harmonischen Vertheil ung des Grundbesitzes
(in seinen Hauptarten) und eudlich noch im geistig-sittlichen und
religiösen Leben (die grösste Verbreituug der Kenntnisse des Lesens
und Schreibens, Sectenwesen, Klöster <fec. &c). Als R&sultat der
gesonderten, allmählichen, weniger unterbrochenen culturellen Ent-
wickelung begegnen wir hier mehr gefestigten Formen in Handel
und Wandel, im Denken und Fühlen — gegenüber dem Unfertigen,
Schwankenden, Verschwommenen in den anderen Landstrichen. Der
eigentümliche Charakter dieses Gebietes ist so hervorstechend, dass
bei Behandlung irgend welcher Specialfrage des social-ökonomischen
Lebens dieses Gouvernement und selbst Theile desselben eine ge-
sonderte Darlegung beanspruchen; so hat auch schon Haxthausen
in seinem berühmten Werk über Russland (in den vierziger .fahren)
mit seinem tiefen Verständnis, man möchte fast sagen instinctiven
Feingefühl für alles Organische einer volkstümlichen Entwickelung
diesem Landstrich die eingehendste Behandlung zu Theil weiden
lassen. Wer die historischen und natürlichen Erklärungsgründe
jenes Entwickelungsprocesses kennen zu lernen trachtet, den ver-
weisen wir auf diesen glänzend geschriebenen Aufsatz.
Wir können es nicht unterlassen, die Aufmerksamkeit des
Lesers auf eine Specialfrage, die der Verfasser an mehreren Stellen
seines Werkes behandelt, zu lenken. Wir meinen die in mehr-
facher Beziehung charakteristische und lehrreiche Gestaltung des
wirthschaftlichen und communalen Lebens in den sogenannten « Dorf-
Stadten>. Es sind das Dörfer, die, durch je nach der Oertlichkeit
verschiedene Umstände begünstigt, ein reich entwickeltes gewerb-
liches Leben zeigen, das Aussehen und den Charakter wirklicher
Städte haben, doch aber officiell als Dörfer gelten, da sie nicht
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520
Russlauds Volkswirtschaft.
in die Rangklasse der Städte einrubricirt sind. Sie bilden ein
interessantes Gegenstück gegen die in Russland sich so zahlreich
tindenden officiellen Städte, die sich in der äusseren Gestalt und
in der Beschäftigung der Bewohner als vollständige Dörfer er-
weisen und nichts anderes vom Städtischen haben, als dass sie
die betreffenden Kronsbehörden beherbergen und mit der allgemeinen
Städteordnnng bedacht sind — ein Kleid, das für die einfachen
ländlichen Verhältnisse viel zu weit ist, eine Verfassung, deren
complicirter Verwaltungsapparat die Entwicklung des Gemeinde-
lebens nicht fördert, sondern erstickt. Das entgegengesetzte Bild
zeigen uns nun die « Dorf-Städte >, die sich vielfach im « Industrie-
gebiet > Russlauds, vornehmlich in den Gouv. Jaroslaw, Nishni-
Nowgorod. Wladimir &c. finden ; sie haben nichts Dorfartiges als
den Namen. Der letzte thatsächliche Nachklang an das ursprüng-
liche Dorf leben ist das Verhältnis zum Grundbesitz und das ge-
nossenschaftliche Recht an demselben. Hier ergiebt sich nun die
wissenschaftlich sehr bedeutungsvolle, bisher nur aus kümmerlichem
Material und Combinationen ermittelte, eigentlich nur hypothetisch
aufgestellte (Keussler) Erscheinung, dass in Russland ganz wie in
der germanischen Welt (Maurer, Arnold u. a) die alten Städte sich
aus dem markgenossenschaftlichen Verbände der Dörfer entwickelt
haben. Während in germanischen Landen der Umwandlungsprocess
vom markgenossenschaftlichen Grundbesitzrecht zum Corporations-
gut im Sinne des römischen Rechts sich fast nur uoch aus ver-
gilbten Acten ermitteln lässt, finden wir in russischen « Dorf-
Städten > diesen Process im Werden begriffen. Hier sehen wir die
volle Stufenleiter der Umwandlung noch lebendig vor Augen : in
der einen Gruppe dieser Dorf-Städte wird noch ein Theil des Landes
nach markgenossenschaftlichem Recht genutzt, in einer audereu
aber schon nur von einem Theil der Genossen, in der dritten wird
endlich das ganze Gemeindeland (mit Bevorzugung der berechtigten
Genossen) verpachtet und der Erlös nach Entrichtung der Ablösungs-
zahlungen, so weit solche vorliegen, zur Befriedigung von Gemeinde-
bedürfnissen verwandt ; der letzte Rest des altmarkgenossenschaft-
lichen Besitzrechts am Gemeindelande besteht dann noch in dem
Recht des herangewachsenen Genossen, der sich ein eigenes Heim
zu gründen wünscht, auf eine Landparzelle zu einer Hausstätte
und zu einem Gärtchen, sowie in dem Recht der gemeinsamen
Viehweide. Die Genossen beanspruchen nämlich nicht mehr Land,
denu sie sind nicht mehr Ackerbauer, sondern treiben Gewerbe
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Russlands Volkswirtschaft.
521
und Handel aller Art. Je längere Zeit aber das markgenossen-
schaftliche Recht nicht ausgeübt wird, um so mehr verschwindet
es im Rechtsbewusstsein der Genossen und das ursprünglich mark-
genossenschaftliche Besitzthum wird zum Corporationsgut (im Sinne
des römischen Rechtes) erst der Gemeindegenossen und dann mit
Einführung der neuen Städteordnung auf einseitigen Befehl der
Staatsregierung, die hierdurch das alte Recht bricht, zum allgemein
städtischen Corporationsgut, d. b. aller Stadtbewohner, wie bereits
vielfach geschehen. Dieser Eingriff in die alten Rechte droht auch
den noch bestehenden < Dorf-Städten Und diese begründete Be-
fürchtung mag auch ihrerseits die Gemeinde davon abhalten, sich
um die Erhebung zur Stadt, die den Genossen und dem Gemein-
wesen viele Vortheile wirtschaftlicher und communaler Natur
bringen würde, zu bewerben. So behelfen sie sich also noch mit
der alten Landgemeindeverfassung. Es ist dieses Kleid viel zu
eng für Ortschaften mit entwickeltem Gewerbe- und Handelswesen,
wo, wie z. B. in Lyskowo an der Wolga gegenüber dem officiell
als Stadt geltenden Makarjew, das schon längst in Wirklichkeit
wieder zum Dorf geworden ist, täglich Leute aus den verschieden-
sten Theilen des Reiches heran- und wieder hinausströmen, wo aus-
ländische Comptoirs beständige Agenturen (zum Ankauf von Getreide)
unterhalten, wo täglich die verschiedenartigsten und entgegen-
gesetzten Ökonomischeu und öffentlichen Interessen an einander
stossen, wo Millionäre ihren Standort für die ausgebreitetsten
Handelsoperationen und reiche Fabrikthätigkeit ihren Wohnsitz
haben. In solchen Ortschaften ist der oberste Administrator
ein einfacher Gebietsältester, in dem genaunten Ort ein früherer
Leibeigener, der seit Aufhebung der Leibeigenschaft mit bewunde-
rungswürdigem Geschick und zur allgemeinen Zufriedenheit das
Scepter führt. Aehnlich in auderen «Dorf-Städten».
Solche Erscheinungen haben eiue allgemeine commuual-poli-
tische Bedeutung. Sie zeigen auch auf russischem Boden — in
Westeuropa ist solches schon längst anerkannt — die Wahrheit
des Satzes, dass eine tüchtige Selbstverwaltung, und damit jeglicher
politische Fortschritt und gesunde Entwickelung, sich nur organisch
aus den gegebenen Verhältnissen und aus der alten Verwaltung
heraus ausbilden und erhalten kann. Während die allgemein auf-
tretenden Klagen über die geringe und ungeeignete Thätigkeit der
Verwaltung auf Grundlage der Städteordnung ihreu letzten Grund
in dem unvermittelten Aufpfropfen dieser westeuropäischen, mit
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522 Russlands Volkswirthscliaft. '
bureaukratischer Bevormundung vermengten Institution auf Gemein-
wesen, die unter ganz anderen Vorbedingungen als die west-
europäischen Städte sich entwickelt und dazu vorher keine Uebung
und Schulung in der freien Selbstverwaltung gehabt haben, finden,
zeigen uns viele «Dorf-Städte> die Tüchtigkeit altgewohnter freier
Selbstverwaltung. Es ist charakteristisch, dass wir solches vor-
nehmlich, wenn auch nicht ausschliesslich, in früher gutsherrlichen,
also leibeigenen Dörfern finden. In diesen grossen Dörfern (mit
sich ausbildendem Gewerbe- und Handelsleben) begnügten sich die
Gruudherren mit dem Empfang der Pauschalsumme des Obrok und
überliessen es der Gemeinde, sich nach eigenem Ermessen zu ver-
walten. Thaten sie ein Uebriges, so war es die Beschützung ihrer
Leibeigenen und deren Verwaltung gegen Eingriffe der alten Be-
hörden. Und so konnte sich eine wahrhaft nationale, den gegebenen
Verhältnissen innerer und äusserer Natur entsprechende, ursprüng-
liche, freie Selbstverwaltung erhalten und ausbilden. Und diese
alte Uebung und Schulung in der Ordnuug der eigenen communalen
Angelegenheiten verlieh den sonst ungebildeten Leuten die sittliche
Kraft und die Geschicklichkeit, auch grösseren und weit verzweig-
teren Aufgaben, die sich aus der Entwickelung des Gewerbe- und
Handelslebens naturgemäss ergaben, gerecht zu werden und zwar
in weit höherem Masse als in den Städten mit der neuen Städte-
Ordnung, ungeachtet dessen, dass diese in formaler Beziehung un-
streitig dem städtischen Leben mehr entspricht als jene ländliche
Verfassung. Es ist hier nicht der Ort, diese Gedanken, zu denen
uns die lehrreichen Schilderungen Besobrasows angeregt haben,
weiter zu verfolgen. Sie haben Interesse und Bedeutung auch für
andere, scheinbar fernliegende Verhältnisse.
Der Leser des uns beschäftigenden Werkes wird auch noch
zu anderen Gedanken angeregt werden und manche Belehrung
und tiefere Erkenntnis in der Ergründung vieler die Welt be-
wegender socialer Probleme finden bei den Schilderungen und Dar-
legungen der eigenartigen Gestaltung des wirthschaftlichen und
socialen Lebens in diesen in wesentlichen Beziehungen sich
selbst überlassenen Ortschaften. Mit feinem Verständnis hat es
der Verfasser auch hier verstanden, das Typische aus den wechsel-
vollen und bunten Erscheinungen herauszuschälen : hier harmonische
und kräftige Entfaltung der Hausindustrie, dort, mit Anlehnung
an das Fabrikwesen, anderweitige gesunde Fabrikthätigkeit, wo die
Arbeiter ein festes Heim und in ihrem verhältnismässigen Wohl-
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Russlands Volkswirtschaft. 523
stand einen Stützpunkt ihrer socialen Selbständigkeit gegen die
üebergriffe des Grosscapitals haben, dann aber auch volle, rück-
sichtslose Herrschaft des Capitals mit materiellem und moralischem
Niedergang der Gedrückten &c. Die wechselvollsten, aber immer
lehrreichen Bilder.
Wir schliessen, indem wir der Hoffnung Ausdruck geben,
dass es dem Verfasser gelingen wird, bald auch die folgenden
Bande zu vollenden.
J. K
Kunstgeschichtliches aus Narva.
in prächtiges Städtebild, wie es in den baltischen Provinzen
nur noch von dem malerisch am Meer sich dehnenden
Reval übertroffen wird, bietet Narva, einst die mächtige Grenzfeste
gegen Russland. Wie ein Bild aus Merians c Beschreibung der
vornehmsten Stätte und Oerthor &c.» liegt es vor den Augen des
Beschauers, der von der Bahn her sich der Stadt nähert. Hohe
trotzige Wälle, die oft genug die Gewalt der gegen sie geschleuder-
ten Stein- und Eisenkugeln auszuhalten hatten, umgürten die Alt-
stadt und zeugen auch heute noch von der einstigen hohen kriege-
rischen Bedeutung des Ortes. Wol hat die Wuth der Geschosse
tiefe Wunden in diese Steinkolosse gerissen, doch ganz sie zu zer-
stören vermochten sie nicht. Heute deckt die Mauern moosiges
Grün und saftiges Laubwerk rankt sich an ihnen empor; keine
eisengepanzerten Kriegstruppen spähen mehr von den Wällen auf
den nahenden Feind, an ihre Stelle sind fröhliche Kinderscharen
getreten, die sich im lustigen Spiel auf den zu freundlichen Park-
anlagen umgestalteten Bewehrungen umhertummeln, uud nur den
Alten mag zuweilen beim Anblick der alten Befestigungen der Ge-
danke an die vergangene Zeit aufsteigen, wo Waffenlärm und
Palverrauch die Luft erfüllten und der Schlachtenruf der Kämpfen-
den sich mit dem Aechzen und Stöhnen der Gefallenen mischte,
die mit ihrem Blute den Boden düngten, dem heute grünendes
Laub und bunte Blumen entspriessen.
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Kunstgeschichtliches aus Narva.
525
Weit hinaus über die altersgrauen moosübersponnenen Wälle
ragen die steilen Dächer der Häuser, die schlanken Thürme der
Kirchen und des Rathhauses empor und als ein Zeichen gewaltiger
Kraft strebt wie ein Titan des Schlosses riesenhafter Thurm, der
lange Hennann, vom Ufer der Narowa ins Blau hinauf. Dräuend
lagert sich ihm die alte vielthürmige Feste Iwangorod gegenüber,
die einst Iwan Wassiljewitsch, der Fürst von Moskau, als Trutz-
burg am rechtsseitigen Ufer des Stromes errichtete, doch auch
ihre Mauern sind zerfallen
und der Wind streicht durch die Hallen ;
Wolken zieh'n darüber hin.
Heute schauen diese beiden Giganten, die sich einst wie feindliche
Brüder gegenüber standen, friedlich auf einander hin und zugleich
verwundert auf das Treiben zu ihren Füssen, auf die rauchenden
Essen der Fabriken am Ufer der Narowa, auf die pfeilschnell
dahinschiessenden Dampfer und Böte und auf das Getümmel der
Menschheit, die in Emsigkeit und Fleiss ihrem friedlichen Gewerbe
obliegt. In den Mauern der alten Schlösser ist es dagegen einsam
und still. Kein Horn ruf ertönt mehr vom Bergfried, der das Nahen
reisigen Kriegsvolks verkündete, nur der Schritt des die alten
Stätten aufsuchenden Wanderers weckt ein dumpfes Echo von den
Wänden oder schreckt ein girrendes Taubenpaar vom Nest, das
es sich unangefochten in den zerbröckelnden Schiessscharten gebaut.
Vorüber am Schloss betreten wir die Stadt, die sich längst
über das alte Weichbild hinaus ausgebreitet hat und weiter auszu-
breiten bestrebt ist. Wir sehen geschäftige Arbeiter, wie sie mit
Mühe einen Theil der alten Stadtmauer niederlegen, damit sie
neuen friedlichen Anlagen das Feld räume und ihr festes Material
zur Aufrichtung dieser hergäbe. Uneben und eng ziehen sich die
Strassen innerhalb der alten Mauerbegrenzung durch einander, mit
geringen Abweichungen noch dem Plane von 1684 folgend, der
eine recht regelmässige Anlage erkennen lässt und nach dem grossen
Brande vom 5. Juni 1659 entstand, an welchem Tage die ganze
Stadt sammt allen Kirchen eingeäschert wurde.
Wann die Gründung des Schlosses und der Stadt Narva er-
folgte, ist nicht genau nachweisbar. Der Aeltermann Johann
Heinrich Hansen, der in liebevoller und gewissenhafter Weise der
Geschichte seiner Vaterstadt nachgegangen ist und diese veröffent-
licht hat, berichtet nach der Nowgoroder Chronik, dass um die
Zeit von 1268 -1294 am estländischen Ufer eine Burg bestanden
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526
Kunstgeschichtliches aus Narva.
habe, die im letztgenannten Jahre auf das ingermannländische Ufer
übertragen worden sei ; auch citirt er die Nachricht bei Russow,
worin es heisst : Desgelilcen hehbcn de Deutschen och na der tydt
(d. i. nach der Gründung Revals) de Schlote Wesenberg unde Narue
gebutcet, de ummeliggcnden lande daruth tho dtcingende unde tho be-
schüttende. Erst im Anfang des 14. Jahrhunderts wird das jetzt
bestehende Schloss gegründet worden sein, das später unter der
Regierung des Ordens (seit 1347) entsprechend umgestaltet und
vergrössert sein mag. Zu seinen Füssen entstand dann die Stadt,
die sich im Laufe der Jahrhunderte, begünstigt durch ihre vor-
treffliche Lage an dem breiten ins Meer sich ergiessenden Strome,
bald zu einer nicht unbedeutenden deutschen Handelsstadt aufzu-
schwingen vermochte. Die fast unausgesetzten Kämpfe um den
Besitz der baltischen Provinzen mussten Narva am schwersten
treffen und ausserdem vernichteten wiederholte grosse Feuersbrtinste
die Stadt oft ganz. Zu den schrecklichsten Feuersbrünsten, von
denen Narva heimgesucht wurde, gehörte diejenige vom 12. Mai
1558, die in dem Hause eines Baders Kort Ulken ihren Ursprung
genommen haben soll und bei welcher die Russen, indem sie die
in der Stadt herrschende Verwirrung benutzten, einen Ausfall aus
Iwangorod machten und schonungslos alles niedermetzelten. Nach
, den Berichten des russischen Geschichtschreibers Karamsin, wie
auch in der Pleskauer Chronik, die J. H. Hansen* citirt, ist diese
Feuersbrunst durch einen Esten entstanden, der in seinem Hause
Bier braute und das Bild des heil. Nikolaus des Wunderthäters,
wie dasjenige der Mutter Gottes unter seine Braupfanne schob,
welcher Frevel dann zur Folge gehabt, dass die ganze Stadt in
Flammen aufgegangen sei. Als aber die Russen unter der Führung
des Wojewoden Alexei Basmanow die Stadt mit stürmender Hand
genommen, habe man beide Bilder unversehrt in der Asche ge-
funden. Eine zweite fast vollkommene Einäscherung der Stadt er-
folgte am 20. August 1610, während eine dritte am 5. Juni 1659
stattfand, welche denn die obenerwähnte Veränderung der Strassen-
züge zur Folge hatte. Ein Verbot des Holzbaues im engeren
Stadtgebiet war schon früher erfolgt ; laut Decret der Königin
Christine vom l. Juli 1646 wird auch der Fach werkbau untersagt
und nur der Steinbau gestattet.
Das älteste Gebäude der Stadt, dessen Kern wenigstens trotz
aller Kriegs- und Feuersnoth unverändert auf die heutige Zeit ge-
kommen , ist die ehemalige deutsche Kirche St. Johannes von
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Kunstgeschichtliches aus Narva.
527
Jerusalem, jetzt russische Kirche, deren Entstehung in den Anfang
des 15. Jahrh. gesetzt werden inuss. Diese Kirche ist um so be-
merkenswerther, als sie das einzige in den baltischen Provinzen
erhaltene Beispiel einer Hallenkirche ist und dazu eine Säulen-
basilika. Die Schilfe haben eiue gleiche Breite von 21 Fuss und
eine Jochlänge von 28 Fuss und sind mit Kreuzgewölben über-
spannt, die sich auf zierliche Säulen von achteckigem Querschnitt
setzen. Der Durchmesser der Säulen beträgt 26 Zoll. Die
Arcadenbogen zeigen einen etwas gedrückten Spitzbogen und
sind den Gurtbogen der Gewölbe gleich mit einem auch den
meisten revaler Kirchen eigentümlichen, aus zwei birnenförmigen
Wülsten gebildeten Querschnitt gestaltet. Die Säulen schliessen
mit einem kräftigen, aus Rundstab, Hohlkehle und Platte zusammen-
gesetzten Capitäl ab, während die Säulenbasen eine der attischen
Form nahe kommende Gliederung zeigen. Der Chor ist umgestaltet
und lässt seine frühere Form nur schwer erkennen. Es scheint,
er sei geradlinig geschlossen gewesen. Das Aeussere ist prunklos
und einfach. Die schweren Strebepfeiler reichen nur bis zu drei-
viertel der Wandhöhe und sind pultdachartig abgedeckt ; die Fenster
zwischen ihnen mit glatten, abgeschrägten Laibungen spitzbogig
geschlossen. Der Thurm ist im oberen Theil neu und gehört
der letzten Umgestaltung der Kirche für den griechischen Gottes-
dienst an. In derselben Weise, wie an der Kirche zum heil. (Jeist
zu Reval der Thurm in minaretartig schlanker Gestalt entwickelt
ist, zeigt sich auch derjenige der alten narvaschen Kirche, jedoch
mit dem Unterschiede, dass dieser kreisrund, jener polygon gebildet
ist. Die Bedachung, welche übrigens in Folge eines Blitzschlages
in der Nacht vom 13. auf den 14. Juni 1784 abbranute, weicht
dagegen vollständig von dem revaler Thurme ab. Gehört derselbe
mit seinen geschwungenen Kuppeln und luftigen Säulengallerien
noch dem Ausgange der Renaissancezeit an, so scheint dieser nach
dem Muster der Petersburger Peter-Pauls-Kathedrale gebildet zu
sein : ein Kuppeldach, aus dem sich eine dünne schlanke Spitze
hinausschiebt. Die Herstellung dieser Bedachung geschah im .Jahre
1842 auf Kosten des narvaschen Bürgers Abrain Lawrezow. Ein
von geflügelten Engelsköpfen unterbrochenes gefälliges Ornament
und ein mageres, auf Langconsolen gestütztes Hauptgesims bilden
den Schmuck des runden Mauerkörpers. Absolut hässlich ist die
ebenfalls 1842 aufgeführte Kuppel vor dem Ohor. Sie ist aus
Holz gebaut, verputzt, mit einem grün gestrichenen halbkugel-
Raltische MonuUaelirilt. RaoJ XXXIV. lieft 0. 35
528 Knnstgeschichtliches aus Narva.
förmigen Dach und aufgemalten gothischen Fenstern versehen und
nur als rituelles Bedürfnis entschuldbar. Nach der Einnahme
Narvas durch Peter den Grossen am 9. August 1704 wurden die
beiden steinernen Kirchen, die deutsche (in Rede stehende) und die
schwedische Domkirche, eingezogen und letztere vorläufig zur russi-
schen Kirche geweiht, bis im Jahre 1708 am 29. Juni in Gegen-
wart Peters und der kaiserlichen Familie die ehemalige deutsche
Kirche dem griechischen Gottesdienste geweiht wurde. Sie führt
seit jener Zeit den Namen Cnaco-IIpeo6paxeuia.
Die zweite grössere Kirche Narvas ist die schon erwähnte
ehemalige schwedische Domkirche zu St. Johann, eine dreischiffige,
gewölbte Säulenbasilika mit geradem in das Schiff hineingebauten
Chorschluss und hohem achteckigen Thurme. Sie wurde zwischen
1630 und 1G48 erbaut, zeichnet sich aber durch nichts besonders
aus. Die Arcaden- und Gurtbogen ruhen auf acht kräftigen tosca-
nischen Säulen und sind im Halbkreis geschlossen. Die Länge
der Kirche beträgt 189 Fuss, ihre Breite 77 und ihre Höhe 35 Fuss.
Der Thurm hat eine Höhe von 207 Fuss. Die deutsche Gemeinde
hatte, während ihre frühere Kirche zerstört dalag und die schwedi-
sche Domkirche für die Abhaltung des russischen Gottesdienstes
benutzt wurde, zuerst auf dem Rathbause, dann im Börsensaale
ihre Andachtsübungen abgehalten, bis die Kirche im Jahre 1732
auf Befehl der Kaiserin Anna Iwanowna den Lutheranern zurück-
gegeben wurde ; auch schenkte die Kaiserin zur Wiederherstellung
des Gebäudes tausend Rubel. J. H. Hansen bringt in seiuer Ge-
schichte der Stadt Narva den Auszug eines Manuscripts des ehe-
maligen Bürgermeisters Gerhard Heinrich Arps, der mit grosser
Ausführlichkeit die zu jener Zeit an dem Kirchengebäude unter-
nommenen Arbeiten beschreibt. Am 23. April 1747 wurde durch
ein in der Nähe ausgebrochenes Feuer der Thurm der Kirche zer-
stört und erst am 22. September 1789 konnte durch den Stadt-
baumeister Heinrich Wilhelm Zappe Kugel und Kreuz aufgebracht
werden. Dieser Thurm zeigt eine eigenthümlich geschwungene,
aber nicht unschöne Spitze, die ein rühmliches Zeichen für das
Kunstverständnis des alten narvaschen Stadtbaumeisters ablegt.
Zappe starb im Alter von 90 Jahren im Jahre 1839, wie Hansen
berichtet, und ihm folgte sein Sohn Johann im Amte.
Das jetzige Rathhaus wurde an Stelle des durch den Brand
von 1(559 zerstörten aufgeführt und lf>71 vollendet. Zwar ist es
styl ist isch nicht, von hohem Werth, doch wirkt die gefällige Ver-
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Kunstgeschichtliches aus Narva. 529
theilung der Massen und die imposante Freitreppe mit dem schwung-
voll gearbeiteten Eisengeländer, in welchem sich die Wappenzeichen
des Stadtwappens (Fische und Schwerter) abwechselnd wiederholen,
sehr wohlthuend. Ueber der Mitte des Daches erhebt sich ein
schlanker, achteckig gestalteter Dachreiter mit geschwungenen
Kuppeln, deren obere in einen zierlichen Spitzhelm ausläuft und
von einem vergoldeten Kranich, als Zeichen der Wachsamkeit, ge-
krönt wird. Das Oberlicht des rundbogig gestalteten Hauptein-
ganges ziert ebenfalls ein hübsches Eisengitter, indes über dem
Eingange das in Stein gehauene Wappen der Stadt prangt, welches
König Johann III. von Schweden der Stadt im Jahre 1585 ver-
liehen haben soll. In der Mitte eines blauen ovalen Schildes, den
ein geflügelter Engelskopf überragt, während seine Flanken von
schilfartigen Blättern begleitet werden, sieht man unter einander
zwei nach verschiedenen Richtungen schwimmende Fische, unter
ihnen einen liegenden krummen Bojarensäbel und eine schwarze
Kanonenkugel ; über den Fischen, zwischen zwei ähnlichen Kugeln
ein nach links aufwärts gerichtetes Ritterschwert. — Die Frei-
treppe emporschreitend, tritt man durch den Haupteingang in einen
geräumigen Vorflur, in dessen Hintergrunde die Treppe zum zweiten
Stockwerk emporführt. Die Decke dieses Flurs lässt die sehr eng
gelegten, kräftig profilirten Balken sehen, die, wie die Vertiefungen
zwischen ihnen, mit einem polychrom gehaltenen Ornament bemalt
sind. Die Treppe emporsteigend, gelangt man in einen grossen,
etwas niedrigen Vorsaal, dessen Decke ein grosses Oelgemälde auf
Leinwand bedeckt. Die Mitte dieses Gemäldes stellt eine thronende
Königin dar, vielleicht die Königin Christine von Schweden, um-
geben von den allegorischen Gestalten der Wissenschaften und
Künste, denen sich rechts vom Thron die allegorische Figur der
Stadt Narva, eine zarte weibliche, mit der Mauerkrone geschmückte
Gestalt, die in den Händen das Stadtwappen hält, anschliesst. Zu
Häupten der thronenden Königin mit dem goldenen Scepter in der
Rechten schwebt eine weibliche Gestalt, die der Königin die Krone
zu reichen im Begriffe ist. Dieses runde Mittelbild umgiebt ein
breiter architektonisch behandelter Fries, in welchem reich decorirte
Oartouchen mit lateinischen Sinnsprüchen angebracht sind , die
wieder mit den grau in grau gemalten Gestalten der Cardinal-
tugenden abwechseln. Die Arbeit ist zwar keiue besonders hoch-
stehende, doch zeigt sie viel Gewandtheit in der Anordnung der
Decoration und in der Behandlung des Colorits. Das Mittelbild
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530
Kunstgeschichtliches aus Narva.
namentlich erinnert an die Plafondmalereien eines Pesne. Ob die
Arbeit ausländischen oder heimischen Ursprungs ist, habe ich nicht
in Erfahrung bringen können. Ausser diesem Plafondgemälde sind
hier noch einige Tafelbilder erhalten, darunter ein Urtheil Salomos
und ein jüngstes Gericht. Die Malereien sind sehr nachgedunkelt
und an einzelnen Stellen fast unkenntlich geworden. Durch ein
schmales Voizimmer von diesem vestibülartigen Räume getrennt
liegt ein kleinerer Saal, der eine bemalte Holzdecke besitzt. Sie
stellt den nördlichen Sternhimmel dar. Die einzelnen vergoldeten
Sterne sind plastisch, in verschiedener Grösse angebracht und die
symbolischen Gestalten der Sternbilder darunter gemalt. Diese
Arbeit wird wol einem narvaschen Handwerksmeister zuzuschreiben
sein, dem die Gesetze der plastischen Anatomie weniger geläufig
waren wie seinem Collegen im Vorsaale. Von der früheren Aus-
stattung der übrigen Räume ist nichts erhalten geblieben, oder
mochte man sich auf die Schmückung der Haupträume beschränkt
haben? Am 12. Juli 167 L wurden die Arbeiten am Rathhause be-
endet, wie die unter dein Kranich in dem Knopfe des Dachreiters
vorgefundene Denkschrift meldet. Diese ist von J. H. Hansen in
seiner Geschichte der Stadt Narva pag. 123 u. f. abgedruckt und
in ihrer Art ein Curiosum, besonders was die vielfachen hoch-
trabenden und weitschweifigen Titulaturen anbelangt. Sie lautet :
* Nachdem Ein Ehrb. und Hoch weiser Rath hieselbst die
Gedanken dahin gewendet, dass in dieser guten Stadt Narva
zum Rathhaus ein bequemes Gebäude aufgerichtet und der
Posterite hinterlassen werden möchte, also ist es durch Göttlichen
Segen und Königlich-Hochpreisliche Liberalität damit endlich so
weit gekommen, dass auf dessen aufgeführte Thurmspitze dieser
wachsame Kranich seinen Fuss zum ersten Male gesetzet im
Jahre nach Christi Geburt MDCLXXI den 12. Juli, als diesen
mitternächtigen Ländern unter der Aufsicht Seiner Königlichen
Frau Mutter und Hochgeborner Regierungsräthe vorgestanden
der Durchlauchtige Grossmächtige König Carolus, der XI. dieses
Namens, der Schweden, Gothen und Wenden König &c. &c, diese
Stadt aber nebst der angränzenden Provinz Ingermannland guber-
nirte der Hoch wohlgeborene Herr Herr Simon Gründel Helmfeld.
Königlicher Feldmarschall und Kriegsrath und das Consistorium
bekleidet gewesen mit den respectiven und Hoch- und Wohl-
erwürdigen, Hoch- und Wohlgelahrten Herrn D. Abrahamum
Tavonio , Superintendente, Mag. Erico Albogio, Pracposilo et
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Kunstgeschichtliches aus Narva.
531
jiastore Iwangorod, Simone Blankenhagen, past. eccles. gcrm., M.
Herberto Ulrich, past. eccles. gcrm., Jena Alladino, Diacono ccclcs. succ.
Im hiesigen Rathstuhle haben gesessen die Wohledlen, Vesten.G ross-
achtbaien,Hoch- und Wohlgelahrteu, Hoch- und Wohl weisen Herren :
Johann von Liliendahl, Königlicher Burggrav, Laurens von
Nammens, Bürgermeister, Johann Christoph Schwartz, Bürger-
meister, Carsten Barfft, Levin Nammens, Gerd von Düren, Caspar
Poorten, Ulrich Herbers, Jürgen Tunder, Allesammt Raths-
verwaudte.
Gott lasse dieses Haus sein eine Stütze der Kirche Gottes,
eine Wohnung der Gerechtigkeit, ein Oracul der Trostbedürftigen,
ein Asyluni der Unschuldigen und Bedrängten, ein Schrecken
der Verbrecher und bewahre es vor allem Unglück, auf dass es
mit der Erde, die es trägt, in die Weite ausdauern uud seine
Verwüstuug eher nicht , als in der allgemeinen Verwüstung
finden möge. Fiat. Magistro Wolff Teuffei.»
Die sog. Börse. 1G98 von dem Baumeister David Küntler auf
Kosten narvascher und ausländischer Kaufleute erbaut, ist ein
zweigeschossiger Bau ohne besonderen künstlerischen Werth. Das
Thürnichen des Gebäudes ist mit einem vergoldeten Mercur ver-
sehen, der im Jahre 1741 am 25. November durch einen Sturm
von seiner Höhe herabgeschleudert wurde und bei seiner Wieder-
aufrichtung zu einer scherzhaften Denkschrift Anlass gab, die iu
die Kugel unter dem Mercur hineingelegt wurde uud bei J. H.
Hansen pag. 294 abgedruckt ist. Im Jahre 1801 wurde der Mercur
wiederum reparirt, da er abermals auf die Strasse zu fliegen drohte.
Jetzt befindet sich das Theater in diesem Gebäude. Der Bau-
meister David Küntler ist auch der Erbauer der ersten Brücke
über die Narowa, die Narva mit Iwangorod verband.
Das sog. Palais Peters des Grossen in der Nähe der Dunkel-
pforte ist in seiner Architektur bedeutungslos. Die Zimmer des
grossen Kaisers sind noch erhalten.
Die Profangebäude Narvas gehören in der Altstadt fast aus-
nahmslos der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts an, haben sich
aber auch fast eben so ausnahmslos die Modernisirung des 11). Jahr-
hunderts gefallen lassen müssen. Nur sehr wenige Gebäude be-
wahren noch ihr früheres Aussehen, aber unter diesen wenigen
sind wiederum einige erhalten, die dank der vorsorglichen Weise
ihrer Besitzer noch den ganzen Reiz ihrer früheren Erscheinung
tragen. Eine besondere Eigenthümlichkeit Narvas scheint darin
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Kunstgeschiehtliches aus Narva.
zu bestellt*!), dass man die Häuser nicht mit den Giebelseiteu zur
Strasse hin errichtete, wie solches in früheren Jahrhundeilen überall
gang und gäbe war, sondern vorzugsweise mit den Langseiteu,
eine Eigentümlichkeit, die sich in Deutschland in eben so ausge-
breitetem Masse meines Wissens nur in ßraunschweig wieder-
rindet. Daneben scheint man in Narva die Anlage hübscher Erker
sehr bevorzugt zu haben, denn es haben sich ihrer noch mehrere
erhalten. Zum Theil sind diese auf den Hausecken auf weit vor-
springende, kelchartig sich entwickelnde Consolen gesetzt, oder sie
lagern in thurmartiger Anordnung dem Hause vor. Ein ganz vor-
zügliches Beispiel solcher Erkeranlagen bildet das inschriftlich
aus dem Jahre 1066 stammende Wohnhaus Nr. 93 in der Oster-
gasse. Es hat eine vierfenstrige, zweigeschossige Fassade und
wird von zwei zierlichen Erkern flankirt, deren prächtige ge-
schwungene Hauben als schlanke Spitzen aufsteigen und von
eleganten schmiedeeisernen Verzierungen mit Wetterfahnen gekrönt
werden. Die Fenster der Erker umsäumt ein reiches Holzschnitz-
werk, das sich mit seinem braunen Ton wohlthuend von dem Grau der
Mauern abhebt. Den mit einem Flachbogen überdeckten Eingang um-
schliesst eine hübsche Holzschnitzerei. Die das Hauptgesims stützen-
den beiden Halbfiguren wachsen aus zwei gut stylisirten Masken
hervor und stellen den Sommer und den Winter dar. Der Sommer
wird durch ein jugendliches Weib repräsentirt, mit einem Aehren-
kranze im Haar, in der Rechten eine Sichel, in der Linken eine
Korngarbe ; der Winter zeigt sich dagegen als ein bärtiger Mann
im Pelzrock. Sein Haupt bedeckt eine Fellmütze und die Hände
stecken in einem Muff. Ueber die Köpfe der beiden Figuren legt
sich eine jonisirende Volute. Der Schlussstein des Thorbogens ist
in Gestalt eines geflügelten Knaben gebildet, dessen Leib in eine
Volute endet. Ist die Arbeit auch künstlerisch nicht bedeutend,
so zeugt sie doch von einem mehr als handwerklichen Können.
Die beiden auf dem Giebelgebälk lagernden Figuren sind werthlos
und wahrscheinlich später von irgend einem Pfuscher an Stelle
der früheren, vielleicht zerstörten, ersetzt. Das ganze Gebäude
ist mit einem steilen Mansardendache abgedeckt und gewährt trotz
seiner Einfachheit einen äusserst malerischen Anblick. In der
Nähe dieses Hauses befindet sich eine zweite Erkeranlage in thurm-
artiger Entwicklung von weniger glücklichen Verhältnissen.
Ausser den hübschen Erkeranlagen bewahrt die Stadt eine
Anzahl gut erhaltener Portale, meistens jedoch aus dem 18. Jahr-
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Kunstgescliichtliches aus Narva.
hundert, darunter aber mehrere, die die Steinmetzkunst Narvas auf
einer nicht zu unterschätzenden Höhe erscheinen lassen. Ebenso
zeugen sehr viele erhaltene Kunstschmiedearbeiten an Windfahnen,
Giebelbekrönungen, Geländern und Gittern, dass auch dieses Ge-
werbe in Narva tüchtige Vertreter fand und hinter den anderen
Kunsthandwerken nicht nachstand. Auch scheint die Kunsttischlerei
auf nicht geringer Stufe gestanden zu habeu, wie die im Rathhause
noch heute im Gebrauch stehenden Stühle des Raths beweisen, die,
überreich geschnitzt, ihre Entstehung dem Anfange des 18. Jahrb.
zu verdanken haben.
Da hier gerade von Kunsttischlerei die Rede ist und dieser
Kunstzweig nicht zu den wenigst gepflegten in den baltischen
Landen gehört, wie das prächtige Gestühl der Nikolaikirche zu
Reval beweist, welches inschriftlich dem Jahre 1556 angehört, und
namentlich die geschnitzte Wand hinter dem Schwarzhäuptergestühl
unter der Orgelempore in derselben Kirche, die sich durch ein
ebeu so anmuthvoll stylisirtes Ornament, wie durch einen in hohem
Grade elegant behandelten bildnerischen Schmuck auszeichnet, mag
hier in kurzem einer Sammlung alter Möbel Erwähnung geschehen,
die zwar nicht auf baltischem Boden gefertigt wurden, aber doch
in den baltischen Provinzen zu finden sind und nicht nur einen
Beweis für die feine Kunstkennerschaft ihres Eigenthüraers, sondern
auch für die Liebe desselben zur Kunst in schöner Weise abgeben. Es
ist eine reiche Anzahl verschiedener Schränke, Tische, Stühle &c, die
sich im Besitze des Freiherrn Rudolf von Ungern-Sternberg auf Leetz
befinden und neuerdings in dessen Wohnung in Reval Aufstellung
gefunden haben. Mir wurde freundlichst eine eingehende Besichti-
gung dieser Kunstschätze vermittelt und in entgegenkommendster
Weise eine öffentliche Besprechung derselben gestaltet, die zwar
nur eine allgemeine und oberflächliche sein kann, da sie der Ab-
bildungen, die allein im Stande wären, ein anschauliches Bild dieser
Kunstgegenstände zu gewähren, entbehren muss, vielleicht aber
trotzdem nicht ganz unwillkommen sein wird, da sie die Bekannt-
schaft mit einem Schatze zu vermitteln sucht, der in unserer Heimat
vereinzelt dastehen dürfte.
Als älteste Stücke sind zu nennen zwei Truhen aus dem 15.
Jahrhundert mit sehr edel gearbeiteten Ornamenten. Das Speise-
zimmer enthält nächst einem köstlichen grossen Schenktisch mit
Aufsatz einen Esstisch, der italienischen Frührenaissance angehörend,
der allerdings in Folge seiner schou eingetretenen Schwäche mit
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534 Kunstgeschichtliches aus Narva.
Holz neu ausgefüttert werden musste. Die Stühle desselben Zimmere
gehören der venetianischen Kunst an und scheinen aus der Be-
hausung eines Dogen zu stammen, nach der die Lehnen krönenden
bekannten Dogenmütze zu schliessen Es sind reich sculptirte
Brettstühle, deren Sitze auf Schildbrettern an Stelle der Füsse
ruhen. Die Lehne zeigt eine fein geschnitzte Maske. Daneben
ist zu erwähnen eine alte Wanduhr vom Jahre 1630, die nur in
Nürnberg noch ihres Gleichen findet. — Im grossen Saal sieht
man einen kleinen Schrank auf einem Untersatz mit Schildkrott-
fournirungen und Ebenholzeinfassungen in italienischer Spätrenais-
sance vom Jahre 1620. Der Aufsatz, in Gestalt eines Porticus
mit Flügeln, ruht auf Bronzelöwen, während in einer mittleren,
von zwei gewundenen Säulen flankirten, halbkreisförmig geschlossenen
Nische die Bronzestatuette der Themis angeordnet ist. Femer
haben hier zwei Commoden Aufstellung gefunden mit vorzüglichen
Intarsiaarbeiten auf dunklem Grunde. Das Ornament, theils aus
gelben Holzarten, theils aus Perlmutter gefertigt, ist naturalistisch
gebildet, doch voll prächtigen Schwunges. Der figürliche Schmuck
ist ebenfalls mit grossem Geschick gefertigt: liegende Figuren,
deren Gesichter und Hände aus Elfenbeiu gearbeitet sind. In
demselben Zimmer befindet sich ein neuer Schrank mit alten Re-
naissanceeinlagen in Eichenholzschnitzwerk, unten Capitäle tragende
Hermen mit über der Brust gekreuzten Armen, darüber herrliehe
Friese und F'üllungen, auf denen eine reiche Rankenornamentik
mit Figürlichem abwechselt. Ein grosses Doppelbett von überaus
schöner Arbeit stammt aus Rom. Während hier alles italienische
Arbeit ist, ist der grosse Rococoschrank im Schlafzimmer eiu
Meisterstück aus Wimpfen vom Jahre 1730. Das Bedeutendste
aber ist jedenfalls eine Anzahl aus Rimini stammender Ebenholz-
möbel mit Elfenbeiueinlagen. Sie gehörten der Stiftung einer
religiösen Congregation daselbst an und sind im Jahre 1760 be-
stellt oder verfertigt, erscheinen aber in ihrer Formgebung und
namentlich in der Reinheit und Eleganz ihrer Zeichnung als einer
früheren Zeit angehörig, wodurch die Vermuthung nahe gelegt und
auch von Kennern bestätigt wird, dass Rimini eine Kunstnachblüthe
erlebt habe, die an die grossen Meister des Cinquecento erinnert.
Das Meublement besteht aus dreizehn Gegenständen, darunter ein
hoher Schrank, mehrere Tische, ein köstlicher Schreibtisch und
sechs Stühle. Die ganze reiche Ornamentik ist durch Elfenbein-
einlagen hergestellt, die durch eingeritzte schwarze Zeichnung noch
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Kunstgeschichtliches aus Narva.
535
Ihm ausgehoben und auf das wirkungsvollste gestaltet ist. In diese
Omamentation sind in reizendster Weise Putten und allerhand
figürliche Darstellungen verwobeu. So zeigen z. B. die Tische auf
der Mittelplatte den Raub der Proserpina, die Thüren des Schreib-
tisches und des Schrankes Allegorien in flotter Federmanierzeichnung*
ausserdem trägt der Schreibtisch die Inschrift: Bertini fece. Die
Elfenbeinornamentiruug erstreckt sich aber nicht nur auf die Haupt-
architekturtheile, sondern zieht jede Gliederung und jede Fläche
in den Bereich ihrer Kunst und trotzdem erscheint dieselbe nirgend
überladen, sondern so fein abgewogen, so lebhaft und doch wieder
so bescheiden, dass man in Bertini einen Künstler von hoher Be-
deutung bewundern muss, der seines Gleichen selten finden dürfte.
Einmal in Reval, möge es mir vergönnt sein, noch eines Werkes
der Steinsculptur eingehender Erwähnung zu thun, das nicht nur
seiner vortrefflichen Ausführuug wegen, sondern auch als Arbeit
eines heimischen Meisters von grossem Interesse ist und, meiner
Ansicht nach, viel zu wenig Beachtung gefunden hat. Es ist das
Grabmai des schwedischen Feldherrn Pontus de la Gardie und
seiner Gemahlin Sophie Guidehelm im Chor der Domkirche zu
Reval von dem Bildhauer Arnold Passer. Der untere Theil des
Grabmals stellt einen Sarkophag dar, auf dessen Oberfläche die
Gestalten der beiden Gatten ruhen. Der Feldherr ist in voller,
reich ornamentirter Rüstung gebildet, über die sich die Feldherrn-
binde legt. Das Haupt mit dem feinen Antlitz, das ein spitz zu-
laufender Bart umrahmt, ruht auf einem Kissen, dessen stylvolle
Ornamentik vergoldet ist, ebenso wie diejenige der Rüstung und
der Korb des langen Degens. Um den Hals legt sich eine an den
Enden vergoldete Tellerkrause. Zu den Füssen des Ritters liegen
die Eisenhandschuhe und der mit Federn geschmückte Helm mit
geschlossenem Visir, ebenfalls theilweise vergoldet. Nicht minder
schön gearbeitet ist die dem Feldherrn zur Seite ruhende Frauen-
gestalt. Das Haupt derselhen bedeckt eine Schneppenhaube und
ein kleines spanisches Hütchen mit einer Straussfeder, den Hals
umgiebt ebenfalls eine feingefältelte Tellerkrause mit vergoldeten
Enden. Den Körper umhüllt ein langer Mantel mit stehendem,
etwas zurückgeschlagenem Kragen. Derselbe ist vorn offen und
lässt das reich gestickte Kleid und den Halsschmuck sehen, der
wie die schön gezeichnete Stickerei des Kleides und die Aermel
des Mantels vergoldet ist. Die Hände der beiden Ruhenden sind
auf der Brust zum Gebet zusammengelegt. Die Vorderseite des
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536
Kunstgeschichtliches aus Narva.
Sarkophags wird von zwei Eckpilastern begrenzt, welche schon
geformte Urnen tragen und deren Füllungen mit kriegerischen
Emblemen geschmückt sind. Die Mitte zwischen den Pilastern
nimmt das von einem Barockrahmen umgebene Bild der Stadt
Narva, der Festung Iwangorod und des Narowaflusses ein, in dessen
Wellen Pontus de la Gardie am 5. November 1586 den Tod fand.
Links von diesem Bilde hält ein Genius mit einer gesenkten Fahne
in der Hand das . sechsfach getheilte Wappen des Feldherrn, rechts
ein ebenso gestalteter das Wappen von dessen Gemahlin, einer
natürlichen Tochter des Königs Johann III. von Schweden. Die
Sculptur der Gliederungen des Sarkophags, wie die vorspringenden
Leisten der Umrahmung des Bildes zeigen wiederum Vergoldung.
Auf den Schmalseiten des Sarkophags, welche mit einer giebel-
artigen Bekrönung abschliessen. deren dem Eisenbeschlage nach-
geahmte Verzierungen Vergoldungen zeigen, ist die lateinische,
etwas phrasenhafte Inschrift angebracht. In der Mitte der Be-
krönungen erblickt man ein Relief: eine sich auf einen Schädel
stützende liegende Knabengestalt mit einer Sanduhr; daneben die
Inschrift : hodie mihi cras tibi.
Ueber dem Sarkophag ist ein mit reichem Sculpturschmuck
versehenes Epitaph augebracht. Zwei korinthische Säulenpaare,
mit Schäften von rothem Marmor, auf sculptirten, von Consolen
getragenen Postamenten schliessen zwei schmale und eine breite
Nische ein, die mit reichen Reliefs geschmückt sind. Die links
vom Beschauer halbkreisförmig gebildete Nische enthält die Gestalt
des Glaubens, der auf der rechten Seite die Gestalt der Hoffnung
entspricht. Zwischen den mittleren Säulen erblickt man unter
einem gebrochenen Bogen, dessen Schlussstein die Buchstaben I. H. 8.
trägt, eine Darstellung der Auferstehung Christi, dessen Gestalt
in einer Glorie von Engelsköpfen erscheint. Im Vordergrunde hat
der Künstler eine symbolische Darstellung angebracht: einen Drachen,
der ein Todtengerippe verschlingt, daneben die Erdkugel, um die
sich eine Schlange ringelt, und die Gesetzestafeln. Dieses Relief
hat eine Höhe von 341/» Zoll und eine Breite von 25 Zoll. Auf
den Säulenpostamenten sind die vier Evangelisten dargestellt, und
zwar sieht man links St. Matthäus, dem ein Engel zur Seite kniet
und die Schrifttafel hält, und St. Marcus mit dem Löwen ; rechts
St. Lucas mit dem Stier und St. Johannes mit dem Adler. Die
vier Evangelisten sind schreibend gebildet und über jedem ein
fliegendes Band mit dem Namen des Betreffenden angeordnet.
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K u n st gescb ich tl icl i es aus Narva. 537
Ueber dem mittleren Relief der Auferstehung erhebt sich eine mit
einem feingegliederten Gesims abgeschlossene Tafel, die nochmals
die beiden Wappen zeigt und am Friese des Gesimses die Inschrift
trägt : ANNO . DOM . 1595.. woraus hervorgeht, dass das Denkmal
zwei Jahre nach dem Tode der Gemahlin Pontus' de la Gardie
hier aufgestellt wurde. Den oberen Abschluss des Ganzen bildet
eiue von einer Aschenurne überragte kreisförmige Verzierung, die
inmitten einer Sonne den Namen Jehova mit hebräischen Buch-
staben trägt und darunter die Worte: FORTITUDO NOSTRA.
Das ganze Werk macht einen schönen, in allen seinen Theilen mit
feinem Tactgefühl abgewogenen Eindruck und erhebt sich hoch
über die mannigfachen, oft so kraus und unentwirrbar componirteu
Epitaphien derselben Zeit.
Kehren wir nach dieser Abschweifung nach dem alten Narva
zurück, so verbleibt uns noch, hier einen Blick auf die alte Burg
und das gegenüberliegende Iwangorod zu werfen, um dann bei den
hervorragenderen Kunstschöpfungen der Neuzeit einen Augenblick
zu verweilen. Die Burg zu Narva gehört zu den wenigen erhaltenen
in den baltischen Provinzen, die heute noch den ganzeu Apparat
der früheren Kriegs- und Vertheidigungskunst in ihrer Anlage und
gleichzeitig die Lebensweise ihrer einstigen Bewohner erkennen
lassen. Die Zerstörungen durch die Kämpfe und Belagerungen
sind thunlichst durch liebevolle Sorgfalt verwischt, und man ist be-
dacht gewesen, die nöthigen Reparaturen in historisch treuem Sinne
auszuführen. Man beschränkte sich dabei auf die Bedachung der
Räume und Wiederaufführung derjenigen zerstörten Baulichkeiten,
die ein charakteristisches Abbild von der ehemaligen Anlage, wie
diese wenigstens zur Schwedenzeit bestanden haben mochte, zu
liefern im Stande sein konnten. Es ist dieses im vollsten Masse
gelungen. Die Burg bildet wie die meisten ihresgleichen ein Recht-
eck, an dessen einer Ecke sich ein Erkerthürmchen erhebt, während
die zur Stadt gewendete Ecke der Luginsland, der sog. lange
Hermann, flankirt, ein mächtiger, von dicken Mauern umschlossener,
mit mehreren gewölbten Räumen versehener viereckiger Thurm.
Er beherrscht weit hinaus die Gegend und soll durch den Herr-
meister Hermann von Bruggeney erbaut worden sein. Der Zugang
zu den einzelnen Geschossen führt zum grössten Theile über in
der Mauerdicke gelegene schmale Stiegen, die durch kleine Scharten
spärlich beleuchtet werden. Das Hauptgeschoss hat noch seine
Gewölbe und den riesenhaften Kamin. Auch die übrigen Räume
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538
Kunstgeschichtliches aus Narva.
der Burg sind mit wenigen Ausnahmen noch alle unversehrt, so
der grosse Remter, der mit kräftigen Kreuzgewölben überspannt
ist, deren Gurte uud Grate sich von einfachen, pyramidal gestalteten
Consolen erheben. Die Fenster sind sehr klein und haben zu
beiden Seiten ihrer Laibungen kleine Sitzplätze, zu denen man
über eine oder mehrere Stufen gelangen kann. Sehr interessant
ist das noch erhaltene Brunnenhaus mit dem zum Spiegel der
Narowa hinabgesenkten, an 100 Fuss tiefen Brunnen. Das hohe
Gebäude springt aus der Fronte des Schlosses, Iwangorod gegen-
über, in den Fluss vor und trägt sehr zu der malerischen Ge-
staltung der ganzen Burganlage bei. Zur Stadtseite hin liegt das
von hohen Mauern umgürtete Burggärtlein, durch welches der Weg
in den inneren Schlosshof führt. Die weiterhin sich erstreckenden
Festungsmauern und Wälle mögen in der Schwedenzeit entstanden
und nach der Eroberung Narvas noch erweitert worden sein. Sie
schliessen einen grossen Hot' mit Gebäuden ein, die zu Militär-
zwecken benutzt werden.
Einen ganz anderen Charakter hat die Burg Iwangorod am
anderen Ufer der Narowa. Sie bildet ein grosses unregelmässiges
Polygon, an dessen Ecken runde Thürrae vorgelegt sind und ist in
eine kleinere und eine grössere Burg getrennt, von denen erstere
dem Flussufer zunächst liegt. Inmitten des grossen Burghofes
liegen die Ruinen einer ehemaligen russischen Kirche, die nach
einem bei J. H. Hansen wiedergegebenen Bilde von Narva vom
Ende des 16. oder Anfang des 17. Jahrhunderts einen hohen Kuppel-
thurm zeigt. Neben dieser wurde um die Mitte des 18. Jahrh.
eine neue Kirche errichtet. Im übrigen bieten die Mauern dieser
alten Festung nichts Rühmenswerthes.
Unter den der Neuzeit angehörigen Monumentalbauten sind
zu nennen die finnische und die estuische Kirche. Erstere ist ein
Langbau mit vorgelegtem Thurm von guten Verhältnissen, ohne
dabei über das Mass des Gewöhnlichen hinaus zu gehen, während
die letztere in Gestalt eines Rundbaues angelegt ist, dem sich ein
kräftiger, oben ins Achteck übersetzender Thurm vorlegt. Die
architektonischen Verhältnisse der Kirche sind im ganzen sehr
glückliche. Die einfachen wirkungsvollen Formen des romanischen
Styls, in denen das Gebäude aufgeführt ist, passen zu den schweren
Kalksteinquadern sehr gut und würden von noch besserer Wirkung
sein, wenn sie mit mehr Consequenz durchgeführt wären, als dieses
leider geschehen ist. Besonders tritt diese Ungleichmässigkeit an
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Kunstgeschichtliches aus Narva.
539
dem Polygon, in welchem sich die Predigtkirche befindet, unange-
nehm zu Tage. An demselben legen sich acht Risalite vor, von
denen die beiden in der Hauptachse belegenen zum Chor resp.
zum Anschluss an den Thurm erweitert sind, während die übrigen
sechs mit Giebeln abschliessen und von schönen grossen, rundbogig
geschlossenen Fenstern durchbrochen werden. Die Abschluss wände
zwischen diesen Risaliten haben aber eine doppelte Reihe einfacher,
scheitrecht geschlossener Fenster und eine Thür, die in keinem
schönen Verhältnisse zu den mächtigen Fenstern in den Risaliten
stehen und eine mehr künstlerische Lösung verdient hätten. Ueber
dem Rundbau erhebt sich eine Kuppel mit Zeltdach, die von einer
zierlichen Laterne überragt wird. Eine entzückende Aussicht er-
öffnet sich auf die Kirche von dem hohen Walle an der Narowa
her, links begrenzt von dem vielthtirmigen Iwangorod, rechts von
dem Narvaschen Schlosse, den alten Häusern der Ostergasse und
der .Tohanniskirche, während unterhalb der Strom mit der prächtigen
Bogenbrücke, die 1829 dem Verkehr übergeben wurde, das maleri-
sche Bild abschliesst.
Die neuen Profanbauten Narvas folgen mit wenigen Aus-
nahmen der Petersburger akademischen Hauptrichtung, die sich
vergeblich abmüht, aus einer Vereinigung von Renaissance und
Byzantinismus einen nationalen Styl zu destilliren.
Eins aber steht fest: dass der letzte Grenzpunkt des balti-
schen Landes immer noch zu seinen schönsten Orten gehört und
in der baltischen Kunstgeschichte eiue nicht unbedeutende Stellung
einnimmt.
W. Neu m a n n.
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Notizen.
Conan larrecht, von Geheimrath Dr. A. v. B n 1 m e r i n c q , Professor
den Staats- und Völkerrechts an »hr lliiivernitüt Hehlclber«?. Ham
Imnr, Verla« von J. F. Richter. 1887. 8.
^pPie«es neueste Werk unseres Landsmannes liegt uns als
\s£&Mi Separatausgabe aus dem (Handbuch des Völker-
r e c h 1 8 , in Einzelbeiträgen, herausgegeben von Franz v. Hol t zen-
dorff> vor und legt wiederum Zeugnis ab von dem eminenten
Fleisse des Verfassers. Es ist diese Arbeit die reife Frucht eines
mühevollen Quellenstudiums und muss dieselbe auch ganz besonders
unser Interesse in Anspruch nehmen, da das Consularreglement
Russlands gerade gegenwärtig in der Umarbeitung begriffen ist.
Das Werk ist in 4 Capitel getheilt, von denen das erste die
geschichtliche Entwicklung des Consularwesens und die allgemeinen
Bestimmungen darstellt, das zweite die Rechte der Consuln und
das dritte die Functionen derselben behandelt. Das 4. Capitel
trägt die Ueberschrift « Uebereinstimmung, Unterschied und Reform
des geltenden Consularrechts».
In knapper Form wird ein Ueberblick über den erschöpfend
behandelten Stoff geboten und zum Schluss für ein int e r n a t i o -
n ales Consularreglement plädirt, für welches die vergleichende
Studie Bulmerincqs als Vorarbeit dienen soll.
Die Schrift ist nicht nur für die Fachgelehrten von Interesse,
auch unserer am internationalen Haudel betheiligten Kaufmann-
schaft können wir dieselbe nur auf das wärmste empfehlen.
Bulmerincqs «Hand buche desVölkerrechts, t Frei-
burg 1884, schliesst sich das vorliegende Werk würdig an. Mit
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Notizen. 54 t
Spannung sehen wir der Monographie Bulmerincqs fStaats-
Streitigkeiten und ihre Entscheidung» entgegen,
deren Erscheinen in nächster Zeit in Aussicht steht. Für die Ent-
wickelung der verhältnismässig wenig cultirten Völkerrechtslehre
sind die Bulmerincqschen Studien von hervorragender Bedeutung,
zu gleicher Zeit haben sie aber aucli einen hohen praktischen
Werth, da sie meist brennende internationale Tagesfragen zu er-
fassen und zu lösen suchen.
Riga, d. 9. Juni 1887. S.
Dr. Axel Harnack, Leibniz' Bedeutung in der Geschichte der Mathematik.
Rede zur Feier des Geburtstage« Sr. Majestät des Königs, gehalten
in der Aula des Polytechnikums zu Dresden. Dresden, v. Zahn
U. Jaensch. 1887.
Bei der Knappheit des Raumes war es dem Verfasser eine
keineswegs leichte, ihm aber wohlgelungene Aufgabe, dem Leser
in fesselnder Darstellung ein möglichst vollständiges Bild von der
genial-schöpferischen, auf verschiedenen Gebieten mathematischer
Forschung bahnbrechenden Thätigkeit Leibniz' zu bieten. Wir
verfolgen in der Rede, wie Leibniz bei streng-speculativer mathe-
matischer Denkweise, mit Leichtigkeit und Schärfe der Erfindung
begabt, die Fähigkeit verband, die abstractesten Fragen tiefen und
weiten Blickes zu umfassen und doch ein unermüdlich thätiges
Interesse für das gesammte Leben, das religiöse, nationale und ge-
werbliche, sich zu bewahren.
Durch die Erfindung der Infinitesimalrechnung bereicherte
Leibniz nicht nur den Schatz geistigen Vermögens damaliger Zeit,
sondern eröffnete auch der mathematischen Forschung, die auf den
Universitäten Deutschlands nicht in besonderer Blüthe stand, neue
Wege, so dass der Strom geistigen Lebens, der von ihm über
Deutschland sich verbreitete, auf allen Schulen, den mittleren so-
wol wie den höheren, sehr bald bemerklich wurde. Auf den
deutschen Hochschulen fand die Infinitesimalrechnung alsbald ihre
Vertreter, in den mittleren vertiefte und erweiterte sich der mathe-
matische Unterricht, zum Theil mit viel zu weit gehender An-
wendung auf technische Handfertigkeiten und Künste. Damals
entstanden die neuen Realschulen, welche freilich zuerst bedenk-
liche Vermischungen des Gymnasialunterrichtes mit gewerblichen
Fachschulen darboten. Denn es erhob sich jene wohlberechtigte
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542 Notizen.
Forderung einer zugleich mathematisch - naturwissenschaftlichen
Bildung, die gegenwärtig noch zu einer Trennung unserer Mittel-
schulen geführt hat. — An diese Thatsache anknüpfend, sieht sich
der Verfasser zu einigen sehr beachtenswerthen Andeutungen und
Winken veranlasst, die, tsine ira et cum studio* niedergelegt, dar-
auf abzielen, den zur Zeit noch bestehenden Zwiespalt wenn nicht
zu lösen, so doch zu mildern und dadurch zur Einigung beizutragen.
Diese Bemerkungen sind es vornehmlich, die uns bestimmen, diese
nicht nur für Fachmänner allein interessante kleine Broschüre
unseres geschätzten Landsmannes auch unserem Leserkreise bestens
zu empfehlen 0. F.
W. N e u m a n n , (iiundrisa einer Geschichte der bildenden Künste und des
Kunstgewerbes in Liv , Est- und Kurland vom Ende des 12. bis
zum Ausgang des 1K. Jahrhunderts. Mit H<> Abbildungen und 1
Tafel in Lichtdruck. Reval, F. Kluge. 1X87. S. X und 184. 8.
Preis 3 Rbl.
Kaum nach irgend einem anderen Buch dürfte in allen ge-
bildeten Kreisen unserer Provinzen mit gleicher Theilnahme und
Freude gegriffen werden, wie es gegenwärtig Neumanns Grundriss
der baltischen Kunstgeschichte widerfährt. Der historische Sinn
unserer Lande hat sich in den letzten Jahren ganz naturgemäss
der heimischen Cultur- und besonders der Kunstgeschichte zuge-
wandt in der richtigen Empfindung, in ihrer Betrachtung die
Nahrung und Befriedigung, die Erhebung zu finden, welche das
Vertiefen in die politischen Entwickelungsphasen ihm versagt oder
doch zu versagen scheint. Sehr allmählich ist dieses Interesse ge-
weckt, nach und nach vorbereitet worden. Die wachsende Theil-
nahme am Kunststudium und der kunstgeschichtlichen Forschung
in Deutschland öffnete auch hier Einzelnen die Augen für die
heimischen Denkmäler der Kunst, deren Vorhandensein oder wenig-
stens deren Bedeutsamkeit auch von hochgebildeten Männern vor
etwa zwanzig Jahren noch in Abrede gestellt werden konnte. So
wenig war der Sinn zur Wahrnähme der alltäglichen Umgebung
geschärft, dass 1865 eine der geistig hervorragendsten Persönlich-
keiten den bei der Betrachtung der unter dem dicken Kalkbewurf
nur mühsam erkennbaren Capitäle und Consolen des rigaer Dom-
kreuzganges verweilenden Ref. scherzend fragte, ob er sich etwa
auch aus den Steinen Material zu geschichtlichen Studien sammeln
wolle, und die zuversichtliche Antwort, dass über kurz oder lang
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Notizen .
543
eine topographische baltische Kunstgeschichte vorliegen werde, mit
geringschätzendem Unglauben aufnahm. Die Zeiten haben sich
eben geändert! Dass aber die Theilnahme für unsere Kunstgeschichte
und die Freude an ihren Werken sich unter uns zu einer selb-
ständigen Bestrebung aus dem allgemeinen culturhistorischen Be-
hageu herausgestaltet hat. darf wol dem Vorgehen Reinhold Gulekes
zugeschrieben werden. Sein Versuch der Reconstruction des dorpater
Domes ; die Ausstellung des von ihm angefertigten Modells auf
der Gewerbeaussteilung zu Riga 1883 ; der glückliche Umstand,
dass die rigaer Domkirche im Bürgermeister Emil v. Bütticher einen
Administrator erlaugt hatte, der Begeisterung und Verständuis für
die Kunst mit Thatkraft und der Befähigung in den gegebenen
Augenblicken selbstlos dahinter zu treten verbindet ; der Aufsatz
Gulekes über den rigaer Dom im Jubiläumshefte unserer Monats-
schritt, die ihm unmittelbar folgende Begründung des rigaer Dom-
bauvereins und die von diesem beeinflussten Restaurationsarbeiten
an dem ehrwürdigsten Bau unserer Lande; die Vorbereitungen
Gulekes zur Herausgabe eines kunsthistorischen Atlas der balti-
schen Provinzen ; die Vereine zur Wiederherstellung der Hapsaler
Domkirche und des Schlosses zu Döhlen , endlich auch die drei
culturhistorischen Ausstellungen mit ihren Erzeugnissen des Kunst-
gewerbes das wären etwa die Momente, die den Boden
genugsam vorbereitet haben, um das Bedürfnis nach einer zusammen-
hängenden Beschreibung und Besprechung der bei uns vorhandenen
Denkmäler der Kunst zu erweckeu.
Der erste Versuch einer solchen liegt nun vor und zwar in
so gefälliger Form, in so prächtiger Ausstattung, dass man seine
• herzliche Freude daran hat, wie einmal das beredte Wort und der
anmuthige Stift des Verfassers sich unterstützen, und wie seine Be-
strebungen mit Feingefühl für die Bedeutung der Aufgabe von der
altbewährten Verlagshandlung ergriffen und ihrerseits mit allen
Mitteln zur Geltung gebracht sind.
Stadtarchitekt Willi. Neumann zu Dünaburg, einst ein Zög-
ling des rigaer Polytechnikum, auf Reisen in Deutschland und
Italien in seiner Kunstanschauung gereift, den Lesern der t Balti-
schen Monatsschrift» schon durch Aufsätze bekannt, in welchen
seine Befähigung zu kritischem Urtheil wie sein Künstlerblick und
seine Darstellungsgabe im Wort zu Tage getreten, hat mit seinem
«Grundriss> das Gebiet der beschreibenden Kunstgeschichte durch
Schilderung der baltischen Kunstwerke in Text und Bild in sehr
BaltUche Monat s*.-hrift. Band XXXIV. Heft 6. 3<i
Digitized by Google
544
Notizen.
bemerkenswerther Weise räumlich erweitert und zur Vertiefung der
Anschauung über den Gang landschaftlicher Kunstentwickelung
die Hand geboten. Die Wissenschaft wird es ihm Dank wissen,
dass die Grenzen ihres Forschuugsbereichs östlich nun nicht mehr
wie bisher mit dem Frischen Haff abschliessen, dass ihr wiederge-
wonnen, was kraft des gemeinsamen geistigen Mutterschosses zu
ihr gehört. Und wir werden dem Verfasser erkenntlich sein, dass
der Culturwelt in Erinnerung oder auch erst zur Kenntnis gebracht
wird, wie hinter den Namen Jurjew, Rugodew, Kolywan <fcc. alte
Keimstätten abendländischer Civilisation sich verbergen ; nicht
weniger aber auch, dass wir selbst in breiteren Massen erst jetzt
recht die Fülle des Schönen, das unser Heimatland birgt, kennen
zu lernen vermögen.
Hierbei aber wolle, um den billigen Massstab an das Buch
zu legen, der Leser eingedenk bleiben, dass sein Verfasser es nur
einen «Grundriss» nennt. Damit bekennt er, den Stoff allerdings
derart übersehen und durcharbeitet zu haben, dass er in den
Stand gesetzt war die Gliederuug zu treffen, die Grenzen zu be-
stimmen, die Kennzeichen der Perioden nach ihren verschiedenen
Richtungen nachzuweisen, wie sie sich aus der kritischen Be-
trachtung der Denkmäler ergeben, und dieses in dem Masse zu
thun, dass die aufgestellten Sätze im grossen uud ganzen dauernde
Geltung zu behaupten beanspruchen dürfen. Er lehnt mit dem
gewählten Titel aber jeden Anspruch auf erschöpfende Aufzählung
und Darstellung, wol auch auf erschöpfende Erforschung des Auf-
gezählten und Dargestellten ab. Es ist eben ein Erstlingsversuch
in diesem Zweige unserer Geschichte, der einmal gemacht werden
musste. Da haben wir allen Grund dem Verfasser zu danken,
dass er das Wagnis unternommen und durch muthige Ueberwindung
aller entgegenstehenden Bedenken es uns erspart hat zu klagen,
dass wieder einmal «das Bessere der Feind des Guten» sei. Ret.
hebt dieses hervor, weil es ganz natürlich eintreten wird, dass einer
und der andere manches ihm liebe und bekannte Kunstwerk gar
nicht erwähnt, manches andere ganz kurz besprochen findet ; manche
Irrthümer in den Angaben werden sich entdecken lassen. Dadurch
soll der Genuss am Gebotenen nicht verkümmert werden. Es ist
reich und schön genug und in der Sculptur, Malerei uud Klein-
kunst werden in ausgezeichneter Wiedergabe Schätze erschlossen,
von denen in weiteren Kreisen einfach keine Ahnung vorhanden war.
Jeder Leser findet leicht das ihm bisher unbekannt Gebliebene heraus.
Digitized by Gopgle
Notizen.
545
Eine zweite Auflage, die über die Absatzfähigkeit des Buches
ihre Erfahrung gemacht hat, wird unzweifelhaft an Vollständigkeit
der ersten voraus sein. Einmal wird der Verfasser einen kühneren
Griff in seine, dem Vernehmen nach, noch reichlich gefüllte Mappe
thun können, wenn die Verlagshandlung erfahren, dass das Publicum
bereit ist ihr die beträchtlichen Auslagen für eine so vorzügliche
Darstellung zu vergüten ; dann werden auch mancherlei Mitthellun-
gen über hie und da noch Uebersehenes dem Verfasser als einer
Centralstelle zufliessen. Gelegenheit zu Verbesserungen und Be-
richtigungen wird sich im Laufe der Zeit bieten, und vielleicht
werden Gedanken über eine andere Methode des Aufbaues inner-
halb der gezogenen Grundlinien Platz gewinnen. Zunächst be-
grüsseu wir, was wir so zu sagen über Nacht erlangt haben, mit
ungetrübter Freude und in der Hoffnung, dass das Buch, wie es
ganz dazu angethan ist, wirklich in keinem gebildeten Hause auf
die Länge fehlen werde.
Unter den wenigen begegnenden Flüchtigkeiten der Schreib-
weise wäre zu verzeichnen im Vorwort die Erwähnung der Arbeiten
von G. Berkholz, wo es Chr. Aug. Berkholz heissen muss, und der
durchgängige Ausdruck St. Johanneskirche statt Johanniskirche
während die Correctur sonst gut besorgt ist. F r. B.
G. Tb. Hof fh eins, Eine Wanderung durch Kiinigsbirg vor 280 Jahren.
Königsberg, Wilh. Koch und Reimer. 1887. S. 24. 8.
Der berechtigte Wiederabdruck eines vor 19 Jahren ver-
öffentlichten lebendigen Vortrags über die topographische Gestaltung
der preussischen Hauptstadt etwa um das Jahr 1600. Fr. B.
B.Cordt, Philipp Cnuius von Knuenstiern. Ein rehabilitirter baltischer
Dichter. Dorpat, C. Mattieseu. 1887. S. 20. 8.
Der zu Anfang dieses Jahres bald nach dem Rücktritt von
seinem Amt verstorbene Pastor A. W. Fechner zu Moskau, der
verdiente Chronist der evangelischen Gemeinden der alten russischen
Hauptstadt, hatte im Jahrgang 1885 der «Balt. Monatsschrift»
(Bd. 32, p. 427) in dem Aufsatz cEin neuentdeckter livländischer
Dichterling > den Hofjunker Christopher Kraus in die Reihe der
baltischen Literatoren zum Jahr 1659 eingeführt. Hierbei hatte
er die Vermuthung aufgestellt, dass die im Recke-Napierskyschen
Schriftsteller-Lexikon nach Gadebusch dem Philipp Crusius zuge-
36*
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54(5
Notizen.
schriebenen Gedichte nicht von diesem, sondern gleichfalls von
Kraus verfasst seien und nur bei der Unbekanntheit des Kraus die
Autorschaft an falscher Stelle gesucht worden. — Im vorliegenden
Schriftchen, dem Abdruck eines in der estnischen gelehrten Gesell-
schaft zu Dorpat gehaltenen Vortrags, berichtet der Bibliothekar
der Gesellschaft über einen von ihm gemachten glücklichen Fund,
ein Manuscript von der Hand des 1850 verstorbenen Pastor Ed.
Ph. Körber zu Wendau, welches abschriftlich des Philipp Crusius
Sttspiria captivitatis Moscouiticae «ausgezogen aus desselben noch
vorhandenen Lieder-Buch im Manuscript» enthält, dieses Liederbuch
von 256 Seiten in kl. 8« beschreibt und eine Copie des diesem
Büchlein beigefügt gewesenen Inhaltsverzeichnisses bringt. Die
Fechnersche Entdeckung des Christopher Kraus in allen Ehren,
wird durch Cordt die Dichtereigenschaft des Philipp Crusius ausser
jeden Zweifel gestellt. Fr. B.
Dr. O. C Ii o m s e , Ein Beitrag zur (Jasnistik der Lepra in den Ostseeprovinzen
KnsBlands, speciell Kurlands. Mitau, V. Felsko. 1887. S. 121. 8.
Vorliegende Arbeit soll ceine klinische Casuistik der Lepra»
zur Mittheilung bringen und entzieht sich somit eigentlich einer
Besprechung in dieser Zeitschrift, da der Autor durch obige Er-
klärung seine Arbeit ganz unter die Kritik der faehwissensehatt-
lichen Presse stellt.
Allein das stetig wachsende Interesse, welches allseitig von
dem gebildeten Laienpublicum der Lepra zugewandt wird, mag
eiue Besprechung der genannten Arbeit auch in dieser Zeitschrift
erklären, um so mehr, als das Interesse unseres baltischen Publicums
ein intensiveres, da die Lepra für dasselbe aus der Perspective
rein theoretisch-wissenschaftlicher Fragen heraustritt und durch
ihre stete Ausbreitung innerhalb der baltischen Provinzen immer
eindringlicher die Mahnung laut werden lässt, dem Feinde auf der
ganzen Linie den Kampf zu erklären und durch energisches, ziel-
bewusstes Vorgehen in der Entstehung die Seuche zu unterdrücken,
welche schon vor Jahrhunderten in unseren Marken so bedeutende
Verheerungen angerichtet.
Im Brennpunkt des Interesses steht nächst dem Voischreiten
der Lepra die Frage : ist dieselbe ansteckend oder nicht ¥
Die Chomsesche Arbeit bringt zu der bisher bekannten Anzahl
Lepröser 30 neue Fälle hinzu. Von diesen ist bei zweien der
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Notizen.
547
Aussatz während der Feldzüge 1876 und 1877/78 in Serbien und
Bulgarien zum Ausbruch gekommen. Zwei sind in Riga erkrankt,
woselbst sie seit einer langen Reihe von Jahren ansässig waren
(14 und 35 Jahre). Die übrigen 26 Erkrankungen gehören Kur-
land au, und zwar t Fall dem Bauskesehen, 2 dem Tuckumschen
und 21 dem Doblenschen Kreise, jenem Theil Kurlands, der, an
den Sehlockschen Kreis und das Rigasche Patrimonialgebiet stossend,
mit diesen beiden Gebieten einen Leprarayon bildet. — Diese Zahl
ist offenbar nicht erschöpfend, da Chomse den Kreis nicht durch-
forscht, sondern seine Daten vorwiegend der Hospitalpraxis ent-
nommen hat. Sie beweist jedoch von neuem, dass Districte unserer
baltischen Provinzen, welche bisher für leprafrei gegolten, durchaus
nicht vereinzelte Lepraerkrankungen aufzuweisen haben, so dass
vorauszusehen ist, eine geographisch-statistische Zusammenstellung
sämmtlicher Leprafälle (und einer solchen haben wir noch im Laufe
dieses Jahres entgegenzusehen) werde Zahlen ergeben, welche die
bisher gemuthmasste Gesammtziffer um ein Beträchtliches über-
steigen.
Ein rapideres Ansteigen der Erkrankungsfälle — etwa in den
letzten Jahren — hat Chomse nicht constatiren können.
Wol aber ist ihm das Freibleiben der besser situirten Be-
völkerungsschichten aufgefallen, und mit Vorsicht sich der Lehre
der Contagiosität der Lepra hinneigend, muthmasst er eine grössere
Disposition zur Erkrankung bei denjenigen Bevölkerungsschichten,
welche ungünstigen topographischen Verhältnissen zusammen mit
unpassendem hygieiuischen Verhalten ausgesetzt sind. Ausdrücklich
betont jedoch der Autor, dass er die hygieinischen Uebelstände,
sowie die topographische Lage an sich nicht für die Verbreitung
der Lepra verantwortlich mache.
Die Vererbuug, welche bisher als wichtigster Factor für die
Ausbreitung der Lepra gegolten, schliesst der Autor in allen seinen
Fällen aus. Wol ergreift in einem Drittel der Fälle die Er-
krankung Personen, welche in engster verwandtschaftlicher Be-
ziehung stehen, immer aber war der Vater entweder lange nach
Geburt der Kinder erkrankt, oder zuerst wurde der Sohn von der
Seuche befallen und nach Jahren folgte ihm der Vater. Von einer
Familie, die aus 7 Gliedern bestand (Fall II), sind nach einander 4
(Vater, 2 Söhne, l Tochter) der Lepra erlegen. Als der Vater
erkrankte, zählte er 80 Jahre, somit ist von erblicher Uebertragung
nicht die Rede. Wie ist denn die Erkrankung zu Stande ge-
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548
Notizen.
kommen ? Wir bedauern, dass der Autor nicht strict die Antwort
gegeben : nur durch das Contagium, durch die Ansteckuug. Dass das
Krankenexamen in zwei Dritteln seiner Fälle negatives Resultat er-
geben, ist kein Argument dagegen. Die Indolenz unserer einfachen
Bevölkerung, theiis auch die Absicht, zu verheimlichen, die lange
Zeit, welche zwischen Ansteckung und Ausbruch der Krankheit
liegt, erklären die grosse Zahl negativ ausgefallener anamnestischer
Daten vollkommen.
Wichtig ist das Drittel der positiven Fälle, welches die Aus-
breit ung der Erkrankung zwischen Personen beweist, welche nach
der Natur ihres Verhältnisses zu einander in engster, fortwährender
Berührung stehen.
Wir hätten uus gefreut, wenn der Autor seine Arbeit mit
einem energischen ceterum censeo an die Bewohner Kurlauds, speciell
des Doblenschen Kreises geschlossen, mit der Aufforderung, durch
Errichtung eines Lepraheims die Kranken von den Gesunden zu
trennen, um durch diese Massregel die Möglichkeit weiterer Lepra-
verbreitung zu vernichten.
Dr. A. B.
AosBOjeiio ucosypo». — Penejb, 28- ro AurycTa 1887.
C^rucLt bot Limlfor»' ErWn in RevtL
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Bischof Dr. Johannes Rudbeckius und die erste estländische
Provinzialsynode.
I.
as man hier zu Lande über die erste estländische
Provinzialsynode weiss, ist entweder sehr lückenhaft
oder voll von Irrthümern. Selbst das jüngste Werk unserer heimat-
lichen Kirchengeschichte, Daltons < Verfassungsgescliichte der evange-
lisch-lutherischen Kirche Russlands» 1887', wiederholt blos die alten
Irrthümer Richters, Carlbloms und Pauckers ohne einen berichti-
genden Zusatz. Der einzige, welcher etwas ausführlicher auf sie
eingeht, ist A. F. J. Knüpffer in seinem: t Beitrag zur Geschichte
des Ehstländischen Prediger-Synodus», einem auf der Synode des
Jahres 1827 gehaltenen Vortrage. Knüpffer benutzte zu demselben
für die Synode von 1627 als Quellen: 1) die (revaler) Stadt-
Ministerialprotokolle, 2) das Visitationsprotokoll von 1627 und
3) eine Sammlung von pastoralen Amtsberichten aus dem Jahre
1627, genannt : «Status Ecclesiarum Esthonicarum > . Ob diese Quellen
noch in Reval existiren oder seit der Benutzung durch Knüpffer
verloren gegangen sind, hat der Verfasser dieser Studie nicht in
Erfahrung bringen können. Zwar verdankt er der Gefälligkeit des
früheren revaler Stadtarchivars, Dr. Th. Schiemann, die Mittheilung,
dass die gegenwärtig noch vorhandenen Stadt-Ministerialprotokolle
sämmtlich nicht über das Jahr 1638 zurückgehen und dass sich
im Stadtarchiv nichts über Rudbeckius findet ; ob sich aber die
1 Das Buch hat in der B. AL> nocli keine Anzeige erfahren können,
ila weder Verfasser noch Verleger es eingesandt, haben. I>. Rod,
Baltische lIonaLschrift, Band XXXIV, Heft 7. 37
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550 Bischof Rudbeck.
beiden anderen Quellen nicht doch im Archiv des estländischen
Oberlandgerichts versteckt haben, wo Paucker sie zum Theil be-
nutzt zu haben scheint, hat der Verfasser nicht in Erfahrung
bringen können.
Durch einen Zufall gelangte der Verfasser dazu, die beiden
Hauptquellen zur Geschichte der Visitationsarbeit Rudbecks in
Estland zu bearbeiten, als er 1885 in den Stockholmer Archiven
nach Quellen zur Geschichte der livländischen Gegenreformation
suchte. Die in Winkelmanns Bibliotheca Livoniar sub Nr. 2404
verzeichneten : *Aeta visitatiotiis generalis in Esthonia, Livonia et
Inyria per Dr. Joh. Rudbechium ao. 1027 saseeptae* schienen ihrem
Titel nach für die Geschichte des Ausgangs livländischer Gegen-
reformation vielversprechend zu sein. Allein es stellte sich gar
bald heraus, dass Rudbeck weder in Liv-, noch Ingermanland ge-
wesen, seine Thätigkeit nur auf Estland beschränkt geblieben war.
Durch die Güte des Cand. Agathon Hammarskjöld wurde nun
der Verfasser mit dem Vortrage W. Greiffenhagens : c Heimische
Oonflicte mit Gustav Adolt», bekannt, der ihm einen Impuls zur
erneuten Beschäftigung mit den je länger desto mehr fesselnden
Visitationsacten Rudbecks gab. Doch hätte er gar bald, bei seiner
damaligen Unkenntnis der schwedischen und noch dazu alt-schwedi-
schen Sprache, von seiner Beschäftigung abstehen müssen, wenn
ihm nicht von Seiten der schwedischen Geschichtskenuer und zahl-
reichen Verehrer Rudbecks das regste Interesse für seine Arbeiten
und die denkbar grösste Opferwilligkeit zur Ueberwiudung der
sprachlichen Hindernisse entgegen getragen worden wären. Nach-
dem es dem Verfasser erst in diesem Sommer, wo sich am 6. Aug.
260 Jahre seit der Eröffnung der estländischen ersten Provinziai-
synode vollendeten, möglich gewesen ist, seine Excerpte auszu-
arbeiten und zu componiren, um dem bedeutungsvollen Ereignis
ein Gedächtnisblatt zu widmen, treibt es ihn, allen den Herren
seinen inuigsten Dank zu sagen, welche ihm bei der Uebersetzung
der schwedischen Documenta und durch Uebersendung erforderlicher
Notizen so überaus liebenswürdige Hilfe zu Theil werden Hessen,
insbesondere dem Herrn Bibliothekar Dr. Harald Wie sei-
gren und seinem lieben Freunde Cand. Johann Nord-
lander, Oberlehrer am Gymnasium auf Norrmalm.
Die Hauptquellen nachfolgender Arbeit sind :
l) Acta Visitatiotiis EsUmiae1. Es ist dies ein 2 Finger
1 Dir Titel in Whikeliimntw Bibl. Liv. ist heute nicht mehr vorhandeu.
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Bisehof Kudbeck.
551
dicker, gut gebundener Quartband der kgl. Bibliothek, welcher
ein sauber geschriebenes, aber nicht immer fehlerfreies Copialbuch
der in der bischöflichen Kanzlei während der Visitationszeit ein-
gelaufenen und von ihr ausgegangenen Schreiben darstellt, Schreiben,
die au und von Estlands Geistlichkeit in Stadt und Land, an den
revaler Rath und von ihm, an die estländische Ritterschaft und
von ihr und an andere verschiedentliche Amtspersonen geschrieben
sind. Sie enthalten manches für die Synodalgeschichte in engerem
Sinne nicht unwesentliche Material, sind meist in lateinischer, aber
auch in schwedischer und deutscher Sprache verfasst. Den grössten
Raum nehmen jedoch die in den beiden Conflicten zwischen Rud-
beck einerseits und dem revaler Stadtconsistorium und der est-
ländischen Ritterschaft andererseits ausgetauschten Schriftstücke
ein ; wobei es auffällig ist, dass die erste Antwort der Ritterschaft
auf Rudbecks Proposition, welche freilich im <Liber Aschanaeus»
als «mächtig in Continuo» bezeichnet wird, darin keine Aufnahme
gefunden hat. Alle diese Schreiben waren, wie überhaupt die
Visitationsacteu, für eine Durchsicht des Königs Gustav II. Adolf
bestimmt.
2) Die zweite Quelle, ein 27a Finger dicker, locker gehefteter
Quartband im Reichsarchiv, führt den Titel : e Sum Uber Marthini
Aschanaei de Visitatione Esthoniae, Livoniae et Ingriae, Pi27 nien-
sibus Jutiii. Julii, Augusti, Sepiembris, Octobris Revaliae omni
laude dignata, MA (= manu proprio)» ; wir nennen sie der Kürze
wegen «Liber Aschanaei».
Aschanaeus, Martin Laurentii', ist auf dem Hof Aske in
Uppland geboren. Am russischen Kriege Gustav Adolfs nahm er
als Feldprediger Theil ; hernach war er Pfarrer in Uppland und
wurde 1627 dem Bischof Rudbeck für seine Visitation in Estland
als Secretär und Notar beigegeben. 1630 wurde er zum Antiquarius
(im Reichsarchiv V) befördert und war in diesem Amte sehr fleissig
und eifrig; er soll 1640 gestorben sein.
Unter den im Liber Aschanaei enthaltenen Documenten sind
folgende von besonderer Bedeutung: 1. Die Vollmacht und Instruc-
tion Rudbecks von Gustav II. Adolf (eine Copie). 2. Rudbecks
Reisepass. 3. Ein Brief an Aschanaeus, worin er zum Begleiter des
Bischofs ernannt wird, weil er durch seine Kriegszüge des Landes
kundig sei. 4. Beschlnss des estnischen Prediger-Synortus im Juli
1 Xaeh dein Hohwedisclieii Schriftsteller-Lexikon.
37»
Digiti
552 Bischof Rudbeck.
und August des Jahres 1627. 5. Ein treuer und wohlgemeinter
Rath und Vorschlag, wie dem armen . . . Estland . . . geholfen
. . . werden kann, den estnischen Ständen von Rudbeck am 1. Oct.
1027 zu Reval übergeben. 6. Vorschlag zu einem Schulstatut.
7. Intimatio ad disputationem Revaliae 1(127. 8. Propositiones de
praeeipuis fidai et religiotiis christianac capitibus. 9. Itinerarium.
Da der Verfasser für die Benutzung der beiden genannten
Quellensammlungen nur drei Wochen Zeit hatte, so war genug zu
thun, um mit den sog. <Acia Visitationis», die er ganz durchge-
arbeitet hat, fertig zu werden. Aus dem Lib. Asch, konnte er
jedoch nur das Wichtigste herausnehmen ; nämlich die Nummern :
l, 4, 5 und 9; Nr. 4 noch dazu in gekürzter Form in einem
anderen Sammelbande des Aschanaeus, worüber in nachfolgender
Arbeit selbst Auskunft gegeben wird. Der hervorragendste Bestand-
teil des Lib. Asch, ist das sog. < Itinerarium > (in einer dein Ver-
fasser gehörigen Abschrift 24 Folioseiten lang), da es eine de-
taillirte, meist in schwedischer Sprache geschriebene Uebersicht
über alle Ereignisse der Visitation in leider nur oft genug dürftiger
und trockener Form bietet. Für die an einigen Stellen ausser-
ordentlich schwierige Uebersetzung konnte sich der Verfasser der
Hilfe des Herrn Archivars Dr. Victor Granlun bedienen, wofür er
ihm hier Dank sagt Für die Authenticität des Berichts bürgt
einmal die Stellung des Aschanaeus und die mehrfach emendirte
Durchsicht des Ganzen von feiner anderen Hand», wahrscheinlich
vom Bischof selbst, worauf die eingehenden Correcturen schliessen
lassen. Die Aufzeichnung der Thatsachen ist mithin als eine
«offieiöse» zu bezeichnen. Die Ereignisse sind nach Art eines
Tagebuches eingetragen. Unsere Darstellung ist mehrfach genöthigt,
ganze Partien des Itiuerars wörtlich wiederzugeben, daher der
Verfasser zur Charakteristik desselben auf diese Stellen verweist.
Von der Nüchternheit und Naivetät des Aschanaeus legt es ein
beredtes Zeugnis ab, ebenso aber auch von seiner Pedanterie und
Gewissenhaftigkeit. Nach mehreren auf die Visitation bezüglichen
Notizen folgen oft allerhand Kriegsnachrichten und private Annota-
tionen, so z. B. unter irgend einem Datum: «Eine alte Frau auf
dem Dom fiel vom Stuhl auf den Boden und war gleich todt»,
oder ein anderes Mal: «Heute hatte Biscopus Zahnschmerzen».
Dagegen lassen die Schilderungen von der Eröffnung der Synode
und der für die kirchlichen Verhältnisse bestimmten Landtags-
session an Trockenheit nichts zu wünschen übrig. Ist schon vieles in
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Bischof Rudbeck.
553
dem Itinerar mit selir störenden Abkürzungen und in recht schlechter
Handschrift niedergeschrieben, so ist das namentlich der Fall mit
Punkt 4, wo sich die Beschlüsse der Synode in breiter Ausführung
tin Jen. Rine eingehende Durchsicht dieser Abtheilung und der im
ganzen Bande zerstreut eingehefteten Notizen und Protokollblättchen
wird zwar sehr zeitraubend sein, aber gewiss manches Goldkörnchen
aus Tageslicht fördern. Der Verfasser hat darauf mit Schmerz
verzichten müssen. Wenn er somit auch nicht eine Geschichte der
Synode und Visitation schreiben konnte, so glaubt er doch die
Grundzüge für eine solche geschaffen zu haben.
1. Ueb er sieht der kirchlichen Verhältnisse
Estlands von t 5 b' l — 1 027.
Die zermalmende Wirkung der Invasionen Iwans des Schreck-
lichen hatte Estland kaum minder hart als Livland betroffen.
Bis in die Wiek hinein waren die entmenschten Banden des
moskowitischen Zaren schon in den letzten Jahren Inländischer
Selbständigkeit vorgedrungen. Und als die Estländer, bei dem
stamm- und glaubensverwandten Schweden Schutz suchend, sich
der schwedischen Krone unterwarfen, besass diese in den ersten
Jahren noch nicht die Kraft, das Land vor Verheerungen zu
schützen. Gerade die Jahre 1570 und 1577 überboten alles bisher
Dagewesene an übernatürlicher Grausamkeit.
Bis 1583 dauerten hier die Kämpfe gegen Russland ununter-
brochen fort, um 1 590 aufs neue aufgenommen zu werden und nach-
mals in den Polenkriegen Karls von Södermauland und Gustav
Adolfs gegen Sigismund III. von Polen eine unliebsame Fortsetzung
des Kriegsnothstandes im Lande zu erhalten. Solche Zeiten all-
seitiger Inanspruchnahme der materiellen und geistigen Reichskräfte
waren nicht dazu angethan, in der armen estländischen Provinz
bessere Zustände anzubahnen. Mochte das Land auch frei geblieben
sein von den Livland so überaus hart treffenden Peinigungen der
polnischen Gegenreformation, ganz frei von der Furcht vor einer
Rekatholisirung war die Provinz doch auch nicht geblieben in den
Tagen Johanns III., des schwedischen Theologen auf dem Königs-
thron, und seines Sohnes Sigismund. Und stand Estland auch
nicht halb so viel Qualen wie Livland aus während des welthistori-
schen Kampfes, ob das Balticum der sarmatischen oder germani-
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554 Bischof Rudbeck.
sehen Oultur dauernd gewonnen werden solle, an schwerlastenden
Kriegssteuern, drückenden Sorgen vor den Einfällen der bösen
Nachbarn war kein Mangel, behaglicher Lebensgeuuss längst etwas
Unbekanntes geworden.
In Schweden selbst war unter solchen Verhältnissen wenig
Zeit für Reorganisationen auf staatlichem oder kirchlichem Gebiete,
um wie viel weniger konnte dergleichen von Estland erwartet
werden ! Und doch war auf kirchlichem Gebiete hier manches ge-
than, was für die Zukunft Hoffnung einflössen konnte.
Erich XIV. ernaunte den Prediger an der Domkirche Johann
von Geldern 1561 zum Superintendenten der Stadt Reval und her-
nach zum Ordinarius oder Bischof von Estland (f 1572), welch
letzteren Titel ihm Johann III. neu bestätigte«. Was er als solcher
gethan, hat die Geschichte uns nicht überliefert, wol weil er nichts
zu thun vermochte. Von seinem Nachfolger Christian Agricola
aus Finnland ist uns auch nicht viel mehr bekannt, als dass er
auf dem Lande einige Prediger ordinirte und einige Visitationen
vornahm, deren Ausdehnung begreiflicherweise nur gering sein
konnte. Der erste Mann, dem eine positive, fruchtbringende Thätig-
keit beschieden war, ist der revaler Domprediger David Dubberch*.
Ihm ward — entweder noch zu Agricolas Zeiten oder etwas
später — die überaus schwierige Aufgabe zu Theil, das zerstörte
Kirchenwesen als Visitator der Landkirchen einigermassen wieder
in Ordnung zu bringen. <Dubberchs Thätigkeit verdanken die
Landkirchen grösstenteils die Erhaltung ihrer Grundstücke, die
Wiederherstellung oder doch wenigstens die officielle Sammlung
ihrer Rechte, wie seine bei mehreren Kirchen noch vorhandenen
Kirchenvisitationsacten und deren Extracte im Oonsistorialarchiv
solches bewahren, und auch den Anfang, der hie und da mit dem
Wiederaufbau der Kirchen und Pastorate gemacht wurde». > Vou
seinem regen Eifer zeugt auch die Kirchen Visitationsordnung von
1595, die heute im Stockholmer Reichsarchiv aufbewahrt wird*.
Seine Visitationsacten aber entrollen ein trauriges Bild von der
schrecklichen Verwahrlosung der kirchlichen Zustände Estlands.
Ungehört war ein Mahnschreiben Agricolas vom Jahr 1584 an die
* cf. A. F. J. Knüpfler : Beitrag zur Geschichte des Ehstlundischen Prediger-
Synodus- Synodalvortrag im Juni 1827 gehalten; und Gustav Carlblora: «Ent-
wurf zur Kirchen and ReligionsGesehhhte Estland«) in Banges Archiv Ii. VI.
* auch Duhherg geschrieben. — " cf. Kniiwffer.
4 cf. Wiiikehnauns Bibl. Liv. 3845.
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Bischof Rudbeck.
555
Ritter- und Landschaft der vier Kreise Estlands («auf Befehl der
himmlischen Majestät und des schwedischen Königs Johann») ver-
hallt, worin sie ihre Gotteshäuser wieder zu erbauen aulgefordert
wurde; Kirchen und Schulen lagen ganz darnieder, unwürdige
Prediger walteten ihres pastoralen Amtes in unvollkommenster
Weise und Adelige und Bauern lebten in grösster Unwissenheit
dahin. Von ärgster sittlicher Verwilderung, bösem Aberglauben,
Rohheit und heidnischem Götzendienst der Bauern — stand doch
die Verehrung Thors an manchen Orten noch in Blüthe oder
lebte wieder auf« — weiss Dubberch zu berichten. Aber Dub-
berch starb schon im ersten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts,
und seitdem steigerten sich die Gebrechen der Zeit in immer
verderblicherer Weise. Der von Karl von Södermanland zum
Vicarius Episcopi und Domsuperintendenten ernauute Nikolaus Gaza
(1604—1618') erwies sich als unfähig und träge für sein
Amt. Hätten daher das revaler Stadtconsistorium und der städti-
sche Superintendent sich nicht des platten Landes nach Massgabe
von Zeit und Gelegenheit angenommen, man würde von einer
schrankenlosen Anarchie in Estlands Kirchengeschichte zu berichten
haben. Die Stadt Reval jedoch, welche sich auf Grund des Privile-
giums Erichs XIV. ein eigenes Stadtconsistorium und eine eigene
Superintendentur geschaffen, hatte die unter Mitwirkung des be-
rühmten Dr. David Chyträus in Rostock verfasste und von Herzog
Gotthard Kettler 1570 in Kurland eingeführte und 1572 in
Rostock in den Druck gegebene sog. «Kurländische Kirchen-
ordnung» angenommen, besass also ein auf deutscher Basis er-
bautes eigenes Kirchenthum, wohlgeeignet, den Stürmen der Zeit
zu trotzen.
Schwedens grösster König, über dessen administrative Thätig-
keit in Staat und Kirche inmitten seiner grossgearteten auswärtigen
Politik man wahrhaft erstaunen muss, fand erst gegen Ende seiner
ereignisvollen Regierung Zeit, sein Augenmerk auf die kirchlichen
Zustände Estlands zu richten. — Am 22. Januar 1626 traf Gustav
Adolf, von Birsen kommend, nur von einem Diener begleitet, ganz
unerwartet in Reval ein, wo er, ohne von jemandem bemerkt zu
werden, am Morgen um 8 Uhr in den Hof des revaler Schlosses
1 Ueijer ' Oechk-hte Schweden») B. II, p. 297, berichtet uns als Pendant
hierzu, «las« in Schweden an einigen Orten noch die Odinsverehrung um dieselbe
Zeit vorgekommen ist.
* ef. Knüpffer.
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556
Bischof Badbeck.
hineingeritten, in welchem die ihn vergötternde Gemahlin Marie
Eleonore seiner seit vielen Monaten vergeblich harrte.
Bald nach der feierlichen Begrüssung von Seiten der Stadt
und der Landräthe begannen jene Verhandlungen, in denen Gustav
Adolf zum ersten Mal seinen grimmigen Zorn über die Estländer
ausschüttete, weil sie seinem Dafürhalten nach in der Leistung
von Abgaben und Steuern zum Besten des Reichsganzeu nicht nur
säumig, sondern widerspenstig waren und ihren Übeln Willen hinter
dem Vorwande des Unvermögens verbargen. In der diese < heimi-
schen Conflicte mit Gustav Adolf> behandelnden, hochinteressanten
Monographie von W. Grebenhagen 1 wird darauf hingewiesen, dass
sie ihre Ursprungsquelle in dem von Gustav Adolf repräsentirten
«aufgeklärten Despotismus» haben. Der König raisachtet die 1613
und 1617 J von ihm beschworenen Privilegien des Laudes, indem er
die durch Personalunion mit Schweden verkuüpfte Provinz, welcher
das Recht der Reichsstandschaft nicht zustand, in gleicher Weise
zur Steuerpflichtigkeit heranziehen will wie seine im schwedischen
Reichstage vertretenen schwedischen Reichsstände. Es liegt auf
der Hand , dass die estländischen Provinzialstände nicht ohne
weiteres zu Leistungen angehalten werden durften, für die Reichs-
tagsbeschlüsse vorlagen, an denen sie nicht mitgewirkt hatten ; dass
der König ihnen gegenüber ebenso durch die Privilegien gebunden
war, wie in Schweden durch die Reichsconstitution ; dass gleiche
Leistungen der Provinzialstände allein aus einem freier Verein-
barung entspringenden Compromiss abgeleitet werden konnten. Wenn
also der König in den letzten allegirten Privilegienbestätigungen
die Clausel anbrachte: «nicht aber unseren königlichen Regalien
und Hoheiten zuwider», so stellte er sich auf den Standpunkt <des
aufgeklärten Despotismus», vor dem alle Rechte als Wahnvor-
stellungen des beschränkten Unterthanen Verstandes ius Mauseloch
zu kriechen haben.
An dieser Stelle ist der scharfen Gegensätze zwischen König
und Provinz in Anlass der Steuerbewilligungen nur aus dem Grunde
gedacht, weil sie in Parallele zu den kirchlichen Massnahmen der
schwedischen Regierung stehen.
Nachdem sich Gustav Adolf in der Begrüssungsaudienz der
Landräthe am 23. Jan. 1626 im allgemeinen höchst betrübt über
1 In «Beitrüge zur Kunde Ehst-, Liv- und Kurland*», Bd. TU, Heft 1.
* et'. Kichters Gesch. d. Usteeepr. Theil II, I. Bd., p. 23ö.
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Bischof Rudbeck
557
die kirchlichen Zustande Estlands und die Notwendigkeit ihrer
Aenderung geäussert hat, richtet er an das Landrathscollegium
sowol die Bitte, mitzuhelfen mit Rath und That, damit ein «Reme-
dium» gefunden werde, als auch zugleich die Frage, wie es mit
dem Kirchenregiment in früherer Zeit bestellt gewesen und annoch
bestellt sei ; auch macht er auf das dringende Bedürfnis der Er-
richtung «einer guten Schule und Universität» aufmerksam, zugleich
anfragend, was man für ihren Unterhalt von den Klostereinkünften
zu verwenden gesonnen sei.
Aus dem vom 3. Februar datirten Antwortschreiben — für
welches, wie überhaupt für diese Vorverhandlungsfrageu zur nach-
folgenden Kirchenvisitation, der Kürze wegen auf die beregte
Schrift Greiffenhagens verwiesen sei — sei nur das hervorge-
hoben, dass Ritter- und Landschaft von der Kirchen verfassuug
in vorschwedischer Zeit wegen des Verlustes der Kirchenbücher
nichts wissen wollen, dagegen das als sicher bekannt anführen,
dass das Amt Fegfeuer zum Unterhalt der kirchlichen Institutionen
in schwedischer Zeit bestimmt worden und in einem Vertrage des
Bischofs von Reval mit dem Orden v. J. 1542 der Zehnte für ewige
Zeiten auch durch das Amt Fegfeuer abgelöst sei. Die in Aus-
sicht gestellte Akademie wird mit Dank angenommen, doch wegen
der Unbedeutendheit der Klustereinkünfte die Gründung derselben
auf die Zeit des Friedenseintritts verschoben.
In der kgl. Replik vom 10. Febr. heisst es sub p. 2 : « Wenn die
Landräthe es auch nicht wissen wollten oder desselben sich nicht
erinnern könnten, wie die Geistlichkeit zur Zeit des Papstthums
und der Reformation unterhalten worden, so sei es doch nicht
glaublich, dass sie «das Bettelbrot gefressen, wie sie es jetzt fressen
müsste». Jetzt seien sie auf Almosen gewiesen, während jedes
gute Regiment nur auf bestimmte Einnahmen fundirt werden könne.
. . . Wenn * fegenden*, wie sie in der Urkunde Erichs V. von
Dänemark 1282 genannt wurden, wirklich «Zehnten» bedeute, so
sei doch unter diesem nur der Zehnte der Bischöfe und nicht der
der Parochialgeistlichkeit gemeint. . . Der Zehnte müsse, wenn
nicht anders, wieder eingeführt werden.» Auch mit dem Aufschub
der Einrichtung einer Schule erklärt sich der König- keineswegs
zufrieden.
Acht Tage später lief die Duplik der Landräthe ein, worin
dieselben der Bitte und Hoffnung Ausdruck geben, «der König
möchte und werde sich einen genauen Bericht über den Stand der
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I
558 Bischof Rudbeck.
Dinge erstatten lassen, der ihn dann nicht darüber im Unklaren
lassen werde, dass die Prediger, von ihren Einkünften aus Aeckern
und Heuschlägen ganz abgesehen, von jedem besetzten Haken
Landes jährlich 5 Külimit reines Korn bezögen. Allerdings fände
der frühere Ueberfluss jetzt nicht mehr statt ; allein die Prediger
ständen darin nicht besser da als alle übrigen Bewohner des Landes,
ja, als der König selbst, der von den wüst gewordenen Kron-
gütern auch keine Einnahmen bezöge. Sie gäben sich auch der
Hoffnung hin, dass der König sie mit der Einführung des Zehnten,
der ohne Widerspruch des Papstes im Wege der Verhandlung ab-
geschafft sei, in Gnaden verschonen werde» &c.
Zwei Tage vor seiner am 24. Febr. erfolgten Abreise aus
Reval versammelte der König noch einmal die ritterschaftliche
Vertretung auf dem Schlosse und eröffnete ihr betreffs der kirch-
lichen Fragen : cdass man den Zehnten wieder einführen sollte,
sei nicht seine Absicht, sondern nur, dass die Geistlichkeit ihren
gebührenden Unterhalt erhalte, als welchen er die 5 Külimit Koni
vom besetzten Haken erachte, da dies mehr ausmache, als in
Schweden gegeben werde. Eine gute Schule für die Jugend, müsse
er wiederholen, sei hochnöthig. und zwar je eher je lieber zu
gründen. Könne man sich wegen des Klosters mit der Stadt nicht
vereinigen, so werde im Reiche die Entscheidung erfolgen.» Endlich
theilte er mit, dass er behufs Abschlusses der eingeleiteten Ver-
handlungen (in weltlicher u n d kirchlicher Hinsicht) Commissare
ernennen werde.
2. Johannes Rudbeckius und die königliche
Instruction.
Die schwedische Reichskirche befand sich in der gustav-
adolfinisehen Epoche in einem gewaltigen Aufschwünge ; denn die
gefahrvollen Zeiten eines Johann III. und Sigismund waren über-
wunden, durch die Kirchenordnung des Jahres 1571 und die auf
der so wichtigen Upsalaer Synode vom Jahr 1593 allgemein aecep-
tirten Beschlüsse über ein einheitliches lutherisches Bekenntnis der
schwedischen lutherischen Kirche ein festes Fundament geschaffen
worden, auf dem, fanden sich nur die rechten Männer, ein statt-
liches Gebäude aufgerichtet werden konnte. Und welches Land
vermochte jener Zeit glücklichere Umstände für eine gedeihliche
organische Ausgestaltung der Kirche aufzuweisen? Eine glaubeus-
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Bischof Rudbeck.
559
starke und streng protestantische Regierung einerseits und an der
Mntterquelle des reformatorischen Geistes, in Wittenberg, und an
der schnell autblühenden Universität Upsala gebildete, hochbegabte
Theologen und Kirchenfürsten andererseits reicliten sich die Hand
zum geraeinsamen Werke. Das gründliche, in edler Sprache und
mit warmer Empfindung geschriebene Werk Theodor Norlius :
c Schwedische Kirchengeschichte nach der Reformation» 1 verräth an
so mancher Stelle den berechtigten Stolz des schwedischen Ver-
fassers auf die grosse Vergangenheit seiner Kirche. « Die schwedi-
sche Kirche,» sagt er, «stand während der vormundschaftlichen
Regierung Christinens — und zur Zeit Gustav Adolfs, hätte er
vorher sagen können — auf der Höhe ihrer ßlüthe. Selbständig
und in hohem Grade unabhängig von der weltlichen Gewalt, wurde
sie dieser gegenüber von Männern repräsentirt, welche ausgezeichnet
waren durch die höchste Bildung, die die Zeit zu geben ver-
mochte, achtunggebietend durch Frömmigkeit, Redlichkeit und un-
zerstörbare Arbeitsamkeit3.» Der Erzbischof von Upsala: P.
Kenicius, der Bischof von Westeräs : Johannes Rudbeckius, der
Bischof von Strengnäs; Laar. Paulinus, der edle Bischof Johannes
Bothvidi von Linköping, der Superintendent von Calmar: Nikolaus
Eschilli, der Superintendent von Göteborg : Andreas Prytz, der
Bischof von Abo : Isaak Rothovius, persönlicher Freuud Axel
Oxenstjernas. dessen theologisch-humanistische Bildung er in Witten-
berg geleitet, — das sind neben vielen anderen die klangvollsten
Namen, die unserem Ohre verständlich zu machen hier nicht der
Ort ist. Einem Manne aber - und er war der bedeutendsten
einer — müssen wir unsere ganze Aufmerksamkeit widmen, denn
er war dazu ausersehen, der Nordprovinz unserer Heimat diejenige
kirchliche Neugestaltung zu geben, der sie ihre nachmalige Ent-
wicklung und Blüthe verdankt».
eDer schwedischen Kirche erster Mann,» sagt Norlin, «was
Kraft, Tüchtigkeit und Anseheu anbetrifft, war Johannes Rud-
beckius, Bischof in Westeräs.» Er war geboren im Jahre 158t
im Dorfe Ormesta bei Örebro (f 1646). Nach dem Besuch der
1 Theodor Norlin : „Svenska ki/rkans Historia efter Reformationen". Für un-
sere Verhältnisse kommt hier nur in Betracht desl. Bundes 2. Ahtheilunif. Lund 1871.
• Norlin ]>. 38.
" Nuch Theodor Norlin p. 84 uud 85 und dem «Schwedischen Schriftsteller-
lexikon , aus welchem ich einen Auszug durch die (tüte des Herrn ('and. Johann
Nordländer in Stockholm erhielt.
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560
Bischof Rudbeck.
Schulen in Örebro und Strengnäs und Studien zu Upsala besuclite
er die Universität Wittenberg, wurde Magister der Philosophie und
hierauf Professor der Mathematik in Upsala. Er entwickelte in
diesem Amt eine grossartige Wirksamkeit und wurde, nachdem er
im Jahre 1009 von einer neuen Reise nacli Deutschland, wo er in
Wittenberg Hebräisch und Griechisch studirte, zurückgekehrt war,
zur Professur in der hebräischen Sprache in Upsala befördert.
Im J. 1611 vertauschte er diesen Lehrstuhl mit einem theologischen
und schrieb seine erste grössere Schrift: * contra Scholastarum et
Jesuitarum deliria»1. Meinungsverschiedenheiten, vorzüglich aber
seine grössere Beliebtheit bei den Studenten, brachten ihn in einen
hitzigen Streit mit seinem Collegen, dem Professor Messeuius, wo-
bei nach damaligem Brauch nicht blos in Wort und Schrift, sondern
auch mit Faust, Degen und Knüttel gekämpft wurde. Der er-
bitterten literarisch-militärischen Fehde machte Gustav Adolf da-
durch ein Ende, dass er Messenius zum Assessor des Hofgerichts
und Rudbeck zum kgl. Hofprediger ernannte. Als solcher be-
gleitete er Gustav Adolf in den Feldzügen der Jahre 1614, 1615
und 1616 nach Russland, während welcher Zeit gerade das Ver-
hältnis des Königs zu Margaretha Kabeljau seinen Anfang nahm,
von der ihm ein Sohn Gustav Gustavi de Wasaborg 1616 geboren
worden sein soll. Wir besitzen noch die prächtige Ermahnungsrede
Rudbecks an den König vom 20. Juni 1617, welcher, wie überhaupt
dem Einflüsse Rudbecks, Norlin die gewaltige Sinnesänderung
Gustav Adolfs zuzuschreiben geneigt ist. Sicher ist es, dass um
diese Zeit die Kabeljau für immer entfernt ward, dem Leichtsinn
der Sturm- und Drangperiode jene aufrichtige Frömmigkeit und
tiefernste Sittlichkeit folgte, die einen wesentlichen Bestandteil im
Charakter des grossen Königs ausmacht. Doch darf auch nicht
vergessen werden, dass zur selben Zeit neben Rudbeck auch der
edle Johannes Bothvidi Hofprediger im Feldlager des Königs war».
Aus jener Feldpredigerzeit stammt eine sehr interessante Schrift
Rudbecks, gerichtet an die Priester in lwangorod, worin er die
Vorzüge des lutherischen Glaubens zu erörtern versucht. Im An-
schluss an die feierliche Krönung Gustav Adolfs 1617 fanden die
ersten Doctorpromotionen in Gegenwart des Königs statt ; die
1 1616 begann er eine Uebersetzung der Bibel, die jedoch nicht ganz voll-
endet worden ist. Er schrieb auch 26 theologische nnd 6 philosophische Dis-
putationsschriften.
1 cf. Norlin p. 5 u. ff.
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Bischof Rudbeck.
561
zwei ersten, denen diese Ehre zn Theil ward, sind Bothvidi und
Rudbeck.
Johannes Rudbeckius war mithin schon eine sehr angesehene
Person, als er nach Berufung des Stiftes vom Könige zum Bischof
von Westeras ernannt wurde. Von den vielfältigen, nach allen
Seiten durch Rudbeck ausgeführten Verbesserungen kann hier nur
das Wesentlichste Platz finden. Es genügt anzuführen, dass er
die gänzlich in Verfall gerathene Domkirche restaurirte, drei Schul-
häuser baute und das Hospitalwesen auf eine sehr vollkommene
Stufe hob. Er liess eine ausführliche Beschreibung aller Gemeinden
in seinem Stift verfassen und hielt die Prediger an, ihm statistische
Angaben über die Bevölkerung, die Mortalität und andere Ver-
hältnisse einzusenden. Man kann ihn deshalb als den Begründer
der schwedischen Statistik betrachten. Eine besondere Kirchen-
ordnung und ein Schulgesetz wurden auch von ihm ausgearbeitet.
Er führte Prediger- und Hausverhöre ein. Durch häufige Visita-
tionen und zweimal jährlich abgehaltene Predigersynoden führte er
in seinem Stift eine vortreffliche Ordnung ein und entfernte er mit
kräftiger Hand die mannigfachen Misbräuche, welche in den früheren
unruhigen Zeiten eingerissen waren. Ein ganz besonderes Ver-
dienst erwarb er sich aber durch die verständige Reorganisation
resp. Neugründung des Gymnasiums zu Westeräs. Durch Ein-
führung der griechischen Sprache als Unterrichtsgegenstand ist er
nach dieser Seite hin für ganz Schweden bahnbrechend gewesen.
Einen gewissermassen gemüthlichen Zug an ihm verräth es, wenn
wir erfahren, er sei ein Freund sittsamer Geselligkeit gewesen und
habe es auch nicht verschmäht, mit fleissigen und strebsamen
Schülern ab und an eine kleine Schmauserei abzuhalten ; während
solche, die Bubenstreiche begingen, in langem Haar und mit grossen
Stöcken in der Umgegend umherstreiften, ihren Thatendrang bei
Wasser und Brot im Schulcarcer von Westeräs zu verbüssen hatten.
Verheiratete Männer aber nahm er nicht als Schüler an, denn sie
könnten <aliis scandalum praebere*. Als guter Lutheraner liebte
er auch Musik und kam diese Kunst durch ihn zu grosser Blüthe.
Der Vollständigkeit wegen sei noch erwähnt, dass er in
Westeräs ein Heim für arme Predigerwitt wen, eine Herberge für
arme Reisende, eine Töchterschule (Parthenagogium genannt), ferner
eine Handfertigkeitsschule und ein Waisenhaus anlegte. Auch
gründete er eine Gymnasialbibliothek, eine Buchdruckerei, einen
Buchladen und einen botanischen Garten.
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502
Bischof Rudbeck.
Die Wirksamkeit des Bischofs Rudbeckius beschränkte sich
jedoch keineswegs auf sein Stift Westeräs, er nahm an allen Vor-
gängen des kirchlichen und innerstaatlichen Lebens als Mitglied
des geistlichen Standes und Hauptführer der hierarchischen Partei,
deren Streben auf möglichste Trennung von Staat und Kirche und
Einschränkung der Privilegien des Adels ausging, den lebhaftesten
und oft genug bestimmendsten Antheil. Keiner von den zahlreichen,
auf die Fortentwickelung des kirchlichen Glaubens- und Verfassungs-
lebens in Schweden bezüglichen Reichstags- oder Synodalbeschlüsse
ist ohne Beihilfe oder Antrieb Rudbecks zu Stande gekommen.
Aber andererseits ist auch die Begründung einer heilsamen und
nothwendigen Institution : des schwedischen Generalconsistoriuras,
dem der König die Oberaufsicht über alle rein kirchlichen oder
gemischten Verhältnisse übertragen wollte , hauptsächlich durch
seine Schuld — wir glauben uns darin nicht zu irren, wenn auch
Norlin anderer Meinung zu sein scheint — nicht zu Stande ge-
kommen. Es handelte sich bei der Organisation dieses General-
consistoriums um die Frage nach der Zusammensetzung desselben,
ob man ein Consistorium mixtum aut purum errichten solle. In
Deutschland entschied man sich durchaus für ersteres, in Schweden
wollte man (d. h. der geistliche Stand) blos von letzterem etwas
wissen. Namentlich in den Jahreu 1624—26 ist über die von
Gustav Adolf dieserhalb den Ständen und insbesondere dem geist-
lichen Stande eingereichten Propositionen verhandelt worden, und
dürfte es dem über das Mislingen seines Planes sehr erzürnten
Könige nicht fremd geblieben sein, dass Rudbeck in beregter Sache
eine so masslos heftige Entgegnungsschrift abfasste, dass seine Mit-
brüder sie deshalb zurückweisen mussten. Was sie entgegneten,
war auch schon scharf genug und schmeckt mindestens nach des
Rudbeckius Tinten-
Für uns ist ein Eingehen auf die Details der Streitfrage
durch nichts geboten, und sei daher nur das noch erwähnt, dass
das Project eines Generalconsistoriums 1630 nochmals aufgenommen
und besondere durch Rudbecks Widerstand gegen Axel Oxenstjerna,
den Hauptvertreter des Staatskirchenthums, zum Scheitern ge-
bracht ward'.
1 1). Herrn. Dalum: <Vcrfa8fmngt<geHehichtc der evangelisch - lutherischen
Kirch»' in KuksI I T, ltfH7 \>. 10'J, irrt aehr bedeutend, wenn er Radbeck mit
A\. < Keustjerna in der Frage von der Errichtung de« (Teneralcoiirtistoriunis an einem
Strange ziehen lüswt. Rudbeck war gerade OxeiHtjerna* Hauptgegner. Ob er
uiyiiizeci
by Goog||:
Bischof Rudbeck.
503
Dasselbe .Jahr 1636 brachte aber auch einige Züge im Charakter
Radbecks zum Vorschein, die für seine estländische Wirksamkeit
von instructivster Bedeutung sind ; daher wir es uns, an der Hand
Norlins darauf näher einzugehen, nicht versagen können».
«Dem mit ausserordentlichem Herrschertalent, ja gleichsam
wie mit einem Uebermass von Herrscherkraft begabten Bischof
Rudbeckius fiel es unter anderem schwer, gegenüber den sicherlich
unbedeutenden Magistratspersonen der kleinen Stadt Westerts die
Stellung einzunehmen, welche ihm in bürgerlichen Dingen gebührte.
Er gerieth mit ihnen in mehrere heftige Streitigkeiten. Im Jahre
1636 verweigerte er es einem Gyrnnasiallector, Gabriel Holstenius,
in einem Process von rein bürgerlicher Natur Rede und Antwort
vor dem Rathsgericht zu stehen ; er wollte denselben vielmehr vor
dem Domcapitel aufnehmen. Auch betreffs des magistratlichen
Rechts, die Schüler des Gymnasii zu verhaften, wurde zwischen
dem Magistrat und Rudbeck ein erbitterter Streit geführt. Doch
nicht genug damit. Die vormundschaftliche Regierung, welche der
Leitung des in Deutschland weilenden Axel Oxenstjerna entrieth,
hatte in der Verwaltung der Regierungsangelegenheiten bisher
keineswegs die Klarheit und Bestimmtheit der Ansichten oder die
Kraft und den Nachdruck ihrer Handlungsweise an den Tag ge-
legt, welche wünsclienswerth waren. In der Regierung und im
Reichsrath war dazu während der Abwesenheit Axel Oxenstjernas
kein einziger Mann zu finden, vor welchem Rudbeck die Hoch-
achtung haben konnte, dass er sich leicht vor ihm gebeugt hätte.
Das alles bot die Veranlassung dazu, dass Rudbeck in seinem Ver-
hältnis zur Regierung grosses Selbstbewusstsein an den Tag legte
und sich Massregeln erlaubte, die nur geraisbilligt werden konnten.
Indem er den allgemeinen Unwillen des unfreien Standes gegen
den sehr übermüthigen Adel theilte und sah. dass die Regierung,
welche ausschliesslich aus Adeligen bestand, es nicht vermochte, sich
über die Standesvorurtheile zu erheben, nahm er sich vor, die Regie-
rung in einem Schreiben an die Pröpste seines Stifts ziemlich un-
verhohlen abzukanzeln. Er klagte darin unter anderem über die
ungewöhnlichen Steuern, womit das Landvolk geplagt werde, von
denen es zu Lebzeiten nie befreit werden könnte, und über die
grossen Häuser und hohen Thürine Babylons, welche gegenwärtig
daher an der livlftndi&chen ConRifttorisdarrinnng mitgearbeitet hat, ist mindestem
zweifelhaft.
• cf. Norlin p. 107 -113.
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f>r>4
Bischof Rudbeck.
von manchen hohen Herren gebaut würden. Diese unpassende
Schrift hatte Rudbeck dem Busstagsplacat der Regierung vom Jahre
16ß6 nachfolgen lassen, und dieselbe war, wenigstens in einigen
Gemeinden, von der Kauzel verlesen worden, wenn auch gegen
Rudbecks Absicht. >
Schliesslich brachte er die ganze Regierung gegen sich in
Harnisch durch die 1636 von ihm im Druck herausgegebene Schrift:
<Privileyia quaedam doctomm* &c, worin er eine ganze Reihe von
längst ausser Gebrauch gesetzten, ja vielfach dem katholischen
Mittelalter entnommenen Kirchenprivilegieu publicirte und im Vor-
und Nachwort dazu andeutete, dass sie als noch zu Recht bestehend
angesehen werden müssten. Die Regierung und der Adel des
Reichs geriethen in die gross te Aufregung, und es war Gefahr
vorhanden, dass sie den Kopf verloren, wenn nicht der allgewaltige
Axel Oxenstjerna, der mit manchem Vorgänger und Nachfolger im
Amte eines Reichskanzlers die herzerquickende und oft so wirkungs-
volle Gabe des treffenden Wortes zu rechter Zeit theilte, durch
sein Eingreifen Unheil verhütet haben würde. Er sagte: c Einem
Schulfuchs, der so was Unit . könnte man das Fell streicheln, bei
einem Jüngling würde man es als ad ingenii lusum gethan be-
trachten — und toleriren, aber dass ein Mann wie Rudbeck so
etwas thue, sei mindestens wunderlich.» Seinen überlegenen staats-
männischen Blick legte Axel Oxenstjerna damit an den Tag, dass
er im Gegensatz zu seinen erschreckten Amtsbrüdern Rudbecks
Schrift für nicht gefährlich erklärte. Wol fand er, dass der Ver-
fasser fein grosses Stück vom Rocke St. Peters an habe» ; aber
tum sein Buch zu widerlegen,» meinteer, t bedürfe es nicht grosser
Kunst, da sein Fundament nichts tauge und das, was er darauf
gebaut, in gleichem Masse unbrauchbar sei.» Gleichwol rieth er
an, mit der Sache nicht zu spassen, da der Bischof ein Mann von
Begabung, energisch und tj/ertinax sei. einer, der sich eher ver-
brennen lasse, als dass er von seinem Platze weiche».
Auf dem Westeräser Reichstage desselben Jahres wurde
Rudbeck zu einer entschuldigenden Erklärung gezwungen, sein
Buch aber ward eingezogen, und seinem ganzen Verhalten hatte
er es zuzuschreiben, wenn die Wahl eines neuen Erzbisehofs nicht
auf ihn, sondern auf Laurentius Paulinus, bisherigen Bischof von
Strengnäs, gelenkt wurde.
Norlin äussert sich in seiner Schlussbetrachtung zu dieser
Sache also : «Was in dem ganzen Streit auf den Betrachter einen
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Bischof Ruilbeck.
565
für Rudbeck besonders unvorteilhaften Eindruck macht, ist der
Mangel an Offenheit und Wahrheitsliebe, welchen er in den Debatten
vor der Regierung an den Tag gelegt zu haben scheint. Man muss
zwar die für einen Mann von Rudbecks Herrschernatur ausser-
ordentliche Schwierigkeit berücksichtigen, sich unter seine Gegner
zu beugeu und den begangenen Fehler einzugestehen. Aber das
entschuldigt doch nicht den Versuch, auf die Weise aus der Ver-
legenheit zu kommen, dass er erklärte : er misbillige die Privile-
gien, welche Priester und Studenten in früheren Zeiten gehabt,
und habe mit seinem Buch im allgemeinen blos die Notwendigkeit
von Privilegien für die Geistlichkeit erweisen wollen.» «Eben so
unwahr,» meint Norlin, «sei die Behauptung Rudbecks: mit seinem
Tadel in dem Rundschreiben an die Stiftspröpste hätte er nicht
Schweden, sondern das, was im allgemeinen in der Welt geschehe,
gemeint.» Wenn aber Norlin bemerkt, in Rudbecks Angabe • «von
seinem citirten Buche seien blos 70 Exemplare gedruckt worden
(während der Buchdrucker den Druck von 150 Exemplaren eidlich
erhärtete),» habe man entweder einen Gedächtnisfehler zu erblicken,
oder die Discrepanz der Angaben lasse sich einfach aus dem Um-
stände erklären, dass der Buchdrucker eben mehr Exemplare ge-
druckt, als der Verfasser verlangt habe, so scheint eine solche
Auffassung mindestens sehr milde zu sein.
Von dem in Reval ausgesprochenen Entschlüsse des Königs,
die kirchlichen und weltlichen Verhältnisse Estlands durch eine
Gommission untersuchen und ordnen zu lassen, wozu die Ritter-
schaft in einem ihrer Antwortschreiben, wie wir sehen, indirect
aufgefordert hatte, bis zum Erlass der an das Haupt der geist-
lichen Cominission, den Bischof Rudbeckius, gerichteten königlichen
Instruction vom 27. April 1627 ist eine Lücke in der Ueberliefe-
rung. Wir wissen nicht, in welcher Form die Aufforderung an
ihn erging, wann und unter welchen Bedingungen er seine Bereit-
willigkeit zur Uebernahme des schwierigen und verantwortungs-
vollen Amtes aussprach. Da der König vom Charakter Rudbecks
selbstverständlich nicht die Kenntnis haben konnte, wie Ax. Oxen-
stjerna im Jahre 1636, so darf man sich über die Wahl Rudbecks
nicht wundern. Wer in dem arg verfallenen Westeräser Stift in
kurzer Frist Ordnung geschaffen und eine fast unglaublich wirk-
same Thätigkeit entfaltet hatte, mochte für die Neuordnung einer
seit einem halben Jahrhundert sich selbst überlassenen Kirchen-
Baltiicbo MonaUi-cbrifl, Band XXXIV. Heft 7. 38
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506
Bischof Rudbeck
provinz als der geeignetste Manu erscheinen, ohne dass man in der
Wahl den Ausdruck einer kleinen Bosheit gegen die Estländer zu
suchen braucht.
Die Bedeutsamkeit der königlichen Instruction erfordert ihre
fast unverkürzte1 Wiedergabe an dieser Stelle.
Uebersicht (designatio) dessen, was nach S. K. M. gnädigstem
Willen der edle Herr Philipp Schedingk', des Königs und schwedi-
schen Königreichs Rath, und auch der verehrungswiirdige Herr
Bischof von Westeräs, Dr. Johann Rudbeckius, in Hinsicht des
Kirchenregiments in Est-, Liv- und Ingermanland im kommenden
Sommer verordnen und feststellen sollen. Geschehen zu Stockholm
den 27. April 1G27.
1. Wenn es das Interesse des Staates erfordert, dass in ihm
alles wohl geordnet werde, dann ist fürwahr nichts für die Sitten
der ünterthanen heilsamer und dazu, dass die Fessel des Gehor-
sams gegenüber dem Reiche selbst gekräftigt werde, geeigneter, als
dass Religion und Gottesdienst in rechter Weise geübt werden.
2. Da nun dieses Reiches grosse Provinzen Est-, Liv- uud
Ingermanland einerseits durch das dazwischenliegende Meer vom
Reiche S. K. M. so getrennt sind, dass sie nur selten inspicirt
werden können, andererseits infolge der Nachbarschaft der Barbaren
so verdorben worden, dass sie eine eifrige Pflege erfordern, hat
S. K. M. es für nöthig befunden, dass der Herr Bischot nicht allein
Art und Weise der wirtschaftlichen Verwaltung besser einrichte,
sondern auch all das, was sich auf das Kirchenregiment bezieht,
inspiciren und kennen lernen, also die Fehler und Mängel nebst
ihren Ursachen notiren, über die Mittel und Wege sowol ihrer
Beseitigung als auch einer allgemeinen Wandlung zum Besseren im
Verein mit den Superintendenten und Pastoren jener Lande in
ernstliche Erwägung treten solle.
3. S. K. M. will nun, dass der Herr Bischof sich mit unserem
Gefolge» zuerst nach Reval begebe und dorthin, oder wo es ihm
anders passend erscheint, die Diener der Kirchen berufe und von
ihnen den gesammten Zustand der Kirchen daselbst (ejus loci) erforsche.
1 Ausgelassen i«t allein die ganz überflüssige, weil in allen nachfolgenden
Artikeln erweiterte Einleitung, die sog. konigl. Vollmacht. Die Uebersetxung
int nach der im Libcr Aschanaens enthaltenen Copie des lat, Originals vom Ver-
fasser angefertigt.
-* Chef der weltliehen Commissiou.
* netito nostro comitatti*, d. h. hier die weltl. Herren, wie i. B. Schedingk.
Bischof Rudbeck. .567
4. Insbesondere, wie viel Diöcesen in der ganzen Provinz und
wie viel in jeder Diöeese Pfarren sind ; welche Kircheuordnung von
altersher und namentlich seit der Reformation dort gewesen, und
welche anhero ist; wer die Generalinspection über sämmtliche
Kirchen gehabt hat, was für Pröpste, was für Pastoren dort sind
oder gewesen sind und was jedes einzelnen Unterhalt (conditio) dort
ist oder gewesen ist.
5. Welcher Art Examination über das Leben, die Sitten und
die Erziehung der Ordinanden bisher beobachtet worden ist ; unter
welchen Verhältnissen die Synoden zusammengetreten sind und
welchen Brauch man befolgt und befolgt hat in der Aburtheilung
über kirchliche Fälle (in casibtis ecclesiasticis).
6. Ob sie (d. h. die Estländer) eine Art von geistlichem Con-
sistorium haben, wo alle derartigen Fälle untersucht und entschieden
worden, und wer über alles Obige (in omnia superiora), die Kirchen
und die Schulen die Iuspection hat.
7. Wie die Unterweisung der Jugend in den Schulen ist, wie
viele Schulen da schon sind und wie viele den unsrigen ähnlich
sind (et qttot nostrac videantur), und ob für die Gründung einer
Akademie oder eines Gymnasiums zu Reval die Möglichkeit und
das Bedürfnis ist, wo die Jugend jener Oerter in allen freien
Wissenschaften unterwiesen werden möchte, da sie sonst nur mit
grossen Kosten in auswärtige Schulen gesandt werden könnte.
8. Ferner, welche Einkünfte die Kirchen einst gehabt haben
und welche sie jetzt haben ; woher die Pastoren ihren Unterhalt
beziehen, die Kirchen die erforderlichen Reparaturen erhalten, die
Schulen und die für sie nöthigen Personen unterhalten worden.
9. Aber da die Zehnten hierzu von altersher bestimmt sind
— mögen sie auch hernach aufgehoben sein — wann und durch
wen, mit welchem Recht oder Unrecht das geschehen ist.
10. Wenn nun der Herr Bischof dieses alles, und was dem
noch mehr ist, fleissig im einzelneu untersucht und erforscht und
den ganzen früheren und gegenwärtigen Zustand erkannt hat, dann
erst soll er in Erwägung ziehen, was im ganzen und im einzelnen
anerkannt zu werden verdient und was hinwiederum noch zu er-
streben ist.
11. Und wenn er alle Mängel erkannt und zugleich ihre Ur-
sachen eingesehen hat, dann erst soll er damit beginnen, insbesondere
die Ursachen nach Vermögen zu entfernen.
12. Und alldieweil es wahrscheinlich ist, dass es dort wenige
38'
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5«>8 Bischof Rudbeck.
Pastoren an den einzelnen Kirchen giebt, die in den Wissenschaften
tüchtig sind, und dieses wegen des Mangels an Schulen so ist, die
Schulen aber ohne Aufwand nicht in bessere Ordnung kommen,
wie auch nicht die Pastoren ohne Zehnten unterhalten werden
können — während der Grund aller Uebelstände mit der Abwesen-
heit der nöthigen Einnahmen verhüllt wird — so soll der Herr
Bischof mit geistlichen und weltlichen Personen Uebereinkunft
treffen über die Festsetzung bestimmter Einnahmen sowol für die
einzelnen Kirchen als auch die öffentlichen Schulen, und soll er
emsig darauf bedacht sein, dass genügende (Quellen) dafür be-
schafft werden.
13. Und weil die Adeligen behaupten, dass sie das Recht, den
Zehnten zu zahlen, schon längst und noch in päpstlichen Zeiten
für eine bestimmte Summe Geldes von den Geistlichen abgelöst
haben und deshalb, bereits von aller Zahlung des Zehnten frei
und eximirt, dagegen Protest erheben, so soll der Herr Bischof
ihre frivolen Argumente zu widerlegen versuchen, die Besseren
hiervon zu überzeugen und dahin zu bewegen bestrebt sein, dass
sie zur Zahlung des Zehnten für den Unterhalt von Kirchen und
Schulen sich bereit erklären.
14. Und damit man um so besser wisse, was und wie viel Auf-
wand für ihren Unterhalt nöthig sei, so hat der Herr Bischof das
zu bestimmen, was und wie viel unterhalten werden soll.
15. Und damit es um so richtiger geschehen möge, soll er
wissen, dass S. K. M. insbesondere im Sinne hat, es möchte jede
Pfarre im einzelnen wohl geordnet werden, es sollten die Kirchen
mit den nöthigen Requisiten, wie es sich gebührt, versehen und die
Pastoren oder Pfarrer mit einem anständigen Salar, auf dass sie
nicht gleich Bettlern zu leben brauchten1, sondern ihres eigenen
Amtes um so beflissener walten könnten, ausgerüstet werden.
16. Da nun öffentliche Schulen für nöthig befunden werden,
auf dass man gute und gelehrte Diener {seil, des Wortes Gottes)
erhalten könne, so soll der Herr Bischof bestimmen, wie viel Schulen
für die ganze Provinz erforderlich sind, wie viel Lehrer und Schüler
im einzelnen auf öffentliche Kosten {ex publico) zu ernähren sind ;
und wenn eine Akademie oder Gymnasium zu Reval errichtet
werden soll, was zur Errichtung und Erhaltung derselben er-
heischt wird.
1 Diese Stelle stammt offenbar <lireet vom Könige.
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Bischof Rtulbeck.
569
17. Da man aber gemeiniglich eine bestimmte Wohnung ein-
richtet, worin ex publico die studiosi und scholares leben können,
und S. K. M. zu diesem Zweck die Errichtung einer sog. «Oommu-
nitas» (d. h. Convict) für nützlich hält, deswegen soll der Herr
Bischof auch über die cCommunitas» Bestimmung treffen und wie
viel zu ihrem Unterhalt gebraucht werden sollte.
18. Einer gewissen Anzahl Kirchen pflegt man auch eine ge-
wisse Zahl Pröpste überzuordnen ; und allen Pröpsten wird irgend ein
Bischof oder Superintendent vorgesetzt, welchem über alle Kirchen
und jede insbesondere, über die Schnlen und deren Glieder, Lehrer
und Schüler, deren lieben, Wandel und in Summa die Religion die
höchste Inspection anvertraut ist. Was nun für den Unterhalt des
Bischofs oder Superintendenten und der Pröpste allda gebraucht
wird, das soll er gleichermassen nicht nur wahrnehmen, sondern
darüber auch mit Hilfe unserer Commission und der Landräthe
(provincialium consiliarium) und aller übrigen Unterstützung, denen
daran gelegen, bestimmte Verfügung treffen.
19. Da endlich auch viele kirchliche Streitfragen, vorzüglich
in Kirchen, die mehr beunruhigt worden sind, auszubrechen pflegen,
welche zur Zeit ein Bischof ohne Collegen und qurtsi Assessores
und gewisse Rathgeber im einzelnen passend heilen kann, hält es
Erlauchte K. M. für nothwendig, dass ein kirchliches Consistorium
zu Reval errichtet werde. Mit welchen Kosten es unterhalten uud
aus welchen Personen es zusammengesetzt werden möge, darüber
soll er ebenfalls bestimmen und entscheiden.
20. Wenn er dieses alles geprüft und die Ausgaben auf einen
festen Grund gestellt hat, dann erst soll der Herr Bischof nach
dem Willen S. K. M. mit Unterstützung der gelehrten Männer da-
selbst (ejus loci) eine bestimmte Ordnung, Form und Norm schrift-
lich abfassen, insbesondere wie ein Kirchenconsistorium, eine Aka-
demie, Schulen und die « Communitas » eingerichtet und nach welchen
Gesetzen und Regeln sie gelenkt werden müssen; ferner soll er
auch einen genaueren Entwurf anfertigen über Rang und Obliegen-
heiten (qualitiis et nfficiu) eines Bischofs oder Superintendenten, der
Pröpste und Pastoren sowie der Professoren, Rectoren und Lectoren
im einzelnen und zugleich über die Lectionen. Und endlich soll
er eine allgemeine und eine kurze sog. «Kirchenordinanz> für diese
Provinz, welche aus der unsrigen entlehnt uud den dortigen Ver-
hältnissen angepasst ist — welcher nachzuleben alle gehalten sind
— abfassen und ausführen.
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570 Bischof Rudbeek.
21. Dieses alles hat der Herr Bischof S. K. M. nach der Rück-
kehr zu unterbreiten, und hat S. K. M. allergnädigst beschlossen,
es zu revidiren und zu emendiren, durch Aufhebung oder Ergänzung
zu vervollkommnen und endlich zu vei öffentlichen zur Ehre Gottes
und der Kirche und des Staates Christi Erbauung.
22. Bevor aber der Herr Bischof von dort abreist, möge er
Lebenswandel und Sitten der Geistlichen untersuchen; und wenn
er einige weniger taugliche Pastoren gefunden haben sollte, so soll
er sie entfernen und bessere an ihre Stelle setzen.
23. Und wenn auch zugleich welche kirchlichen Streitigkeiten
dort ausgebrochen sein sollten, soll er sie unter Beirath der übrigen1
untersuchen und entscheiden.
24. Und hat er auch das mit Erfolg wahrgenommen, so soll
er eine bestimmte Form einer Ordinanz und eines Kirchenconsistorii
ihnen hinterlassen, dergemäss in der Zwischenzeit» die Diöcese ver-
waltet und die Fälle (casus) entschieden werden können.
25. Hat er dies alles in Reval und Estland zur Ausführung
gebracht, so soll er sich nach Riga begeben und mit Hilfe und
Unterstützung des Superintendenten Samson dasselbe auch in Liv-
laud, mutatis mutandis, vollführen. Im Falle er aber die Rückkehr
nach Schweden über Ingermanland für passender ansehen sollte,
kann er sogleich von Reval nach Narva reisen und das alles, was
im übrigen gesagt worden, auch in Ingermanland fördern und ver-
ordnen, jedoch unter Beobachtung der örtlichen und persönlichen
Umstände».
Prüfen wir obige königliche Instruction etwas näher 1 Da ist
zunächst die stylistische Breite in Wortlaut und Inhalt, mancher
innere Widerspruch und eine gewisse Unbestimmtheit in der Ab-
grenzung der bischöflichen Competenzen auffällig. Ein und das-
selbe wird in einer ganzen Reihe von Artikeln hin und her ge-
wälzt, nicht ohne dass man einen anderen Grund, als den der dem
Zeitalter eigentümlichen Weitläufigkeit dafür fände. Art. 20
wiederholt beispielsweise das, was schon in früheren Artikeln aus-
führlichst auseinandergesetzt worden war ; und Art. 23 und 24 sind
nach dem Art. 19 theils überflüssig, theils im Widerspruch zu ihm.
1 Wer die -übrigen* sind, ob die anderen Mitglieder der geistl. Couiuiis-
siou oder die eutländisehen Ii ertlichen, bleibt uugewiss. Auch sonst steht Art. 23
zu Art. 19 im Widerspruch.
1 d. h. bis ein Superintendent vom König ernannt worden.
* Unterscbricbeu ist die Instruction : Gwstavus Adolphus.
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Rischof Rudbeck.
571
Am meisten beklagenswerth ist es aber, dass sich betreffs der
Corapetenzenfrage empfindliche Lücken nachweisen lasset). Im Art. 2
wird zwar der Theilnahme der Superintendenten und Pastoren an
allen Arbeiten, welche über die factischen Zustände Aufklärung
geben sollen, gedacht; aber das ist doch nicht mehr als selbst-
verständlich. Dort hingegen, wo es sich darum handelt, den Landes-
autoritäten eine bestimmte Form der Mitarbeit zu sichern, wird
ihrer entweder gar nicht Erwähnung gethan oder ihnen blos eiu
Votum consultativum zugestanden, so dass im Grunde alles der
Willensmeinung des Bischofs überlassen bleibt. Das wäre an sich
unverfänglich, weun die kirchlichen Zustände allerorten im Lande
trostlose, gar keine Ansätze zu festen Formen oder bewährte In-
stitutionen vorhanden gewesen wären. Schon das der estländischeu
Ritterschaft gegebene Privilegium Erichs XIV. macht einen Unter-
schied zwischen Stadt- und Landsuperintendenten, die Instruction
nicht ; auch nimmt sie von der Existenz eines revaler Stadt-
consistoriums einfach keine Notiz.
Ausserdem werden in der Instruction ein paar für den Visi-
tator äusserst wichtige Punkte theils übergangen, theils in für die
Landesprivilegien kränkender Weise hervorgehoben. Was soll man
z. B. dazu sagen, dass des adeligen Patronatsrechts mit keiner
Sylbe Erwähnung geschieht, vielmehr bei der Erörterung über die
Fundation der kirchlichen Einnahmen (Art. 12) dem Bischof blos
Heranziehung der Pfarrer und einiger weltlichen Personen, nicht
aber des doch direct interessirten Adels1 anempfohlen wird? Dass
der König die Restitution des Zehnten in Art. 13 anbefiehlt, wie-
wol er im Febr. 102(1 selbst die Erklärung abgegeben hatte, er
beabsichtige nicht dessen Erneuerung? Des Königs Groll gegen-
über den Estländern giebt nicht allein die Erklärung für genannte
Auffälligkeiten in der Instruction ab. Aus der schwedischen
Kirchengeschichte erfahren wir nämlich, dass die hierarchische
Partei in Schweden — und sie hatte im geistlichen Stande die
Majorität die Führung der Opposition der nicht-adeligen Stände
gegen die grossen Prärogative des schwedischen Adels übernahm ;
dass die Aufhebung des Patronatsrechts, selbst des königlichen auf
den sog. Königspfarren, von ihr mit grosser Dreistigkeit, der königl.
Bestätigung desselben in den Jahren 1612 und IG 17 ungeachtet,
1 Ausgenommen die Einnahmen für den Bischof und die Propste. (Die
«weltlichen Personen» Hessen sich zur Noth als Bezeichnung des Adels auffassen.
D. Red.)
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572
Bischof Rudbeck.
*
immer und immer wieder, wiewol erfolglos, urgirt wurde; dass
aber andererseits von der Regierungspartei die übergrosse Macht,
mit der die Bischöfe in ihren Stiften schalteten und walteten —
wovon wir ja auch in Rudbecks stiftischer Administration ein
markantes Bild gewinnen — heftig getadelt und der Versuch zur
Minderung ihrer Selbständigkeit gemacht wurde.
Diese Thatsachen sind wohl geeignet, die Annahme wahr-
scheinlich zu machen, dass Rudbeck selbst auf die Abfassung der
Instruction einigen Einfluss ausgeübt hat, um seiner Herrschsucht
und adelsfeindlichen Gesinnung in Estlaud eben so wie in Schweden
freien Lauf lassen zu können. Des Königs cäsaropapistische
Tendenzen standen diesem Wunsche diesmal nicht entgegen, weil
er 1(526 aus Estland den Eindruck mitgenommen hatte, es müsse
die Hartnäckigkeit der Provinzialstände gebeugt werden.
Ohne den Ereignissen vorzugreifen, sei daher hier ausdrück-
lich constatirt : dass die köuigl. Instruction vom 27. April an sich
eine Misachtung der livländischen und estländischen Landesprivile-
gien darstellt und in ihrer Dehnbarkeit den Keim zu Gonflicten in
sich birgt.
3. Erste Thätigkeit des Visitators und
Couflictsanfänge.
Nachdem am 23. Juni dem Bischof Rudbeck in feierlicher
Audienz vom < Reichs- und Kammerrath» die königliche Vollmacht,
Instruction und der Reisepass ausgestellt und confirmirt worden
waren, trafen allmählich die wahrscheinlich von ihm auserwählten
übrigen Mitglieder der geistlichen Commission in Stockholm ein.
Ausser vier höheren Geistlichen : Mag. Andreas, Mag. Gabrieli,
Martin Laurentii Aschanaeus und Christophorus Schilling, nennt
der Reisebericht des Ascbanaeus auch noch drei niedere Geistliche :
Johannes Elai, Sveno und Georg, so dass die gesammte Commission
mit dem Bischof aus acht Personen bestand.
Erst am 5. Juli erfolgte die Abfahrt von Stockholm zum
Blockhaus und anderen Tags von dort auf die Insel Waxholm,
woselbst die Geistlichen von dem Haupte der weltlichen Commission,
Philipp Schedingk1, empfangen, aber um Schedingks willen aus un-
, bekannten Gründen mehrere Tage aufgehalten wurden. Am 9. Juli
1 Bei Greiffenhagen wird er irrfhümlicli «Uouvernenr* genanut ; das ist
er erst spater geworden.
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Bischof Rudbeek.
573
reisten sie ohne die weltlichen Commissare ab, wurden von diesen
aber bald darauf eingeholt. Durch die romantischen Skären ging
die Seefahrt bei widrigem Winde nur langsam von statten ; eudlich
erreichte man Hangö und Sonntag, den 15. Juli, um 9 Uhr abends
Reval. Am 16. Juli stiegen alle ans Land. Der Bischof nahm
auf dem Dom beim Superintendenten Nikolaus Gaza Wohnung,
Mag. Gabrieli beim Gouverneur Johann de la Gardie. Tags dar-
auf übersandten Bürgermeister und Rath der Stadt Reval «dem
Bischof und seinem Gefolge zur Verehrung ein Ohm spanischen
Weines unter Begleitung zweier Rathsherreu. Es wurde mit
grossem Gefallen aufgenommen,» berichtet Aschanaeus.
Schon in den ersten Tagen entschloss sich Rudbeck, von einer
Bereisung des verödeten Landes Abstand zu nehmen und sich auf
die Einberufung sämmtlicher Pastoren des Landes zu einer Pro-
vinzialsynode zu beschränken. Da die «königliche Vollmacht»
allein den Sommer als Visitationszeit angab, der König auch münd-
lich dem Bischof diesen Termin genannt hatte1, so konnte aller-
dings an eine systematische Visitationsreise in Anbetracht der
schlechten Wege jener Zeit nicht gedacht werden. Hingegen that
der Bischof sogleich Schritte zur Vorbereitung der Visitation
Ingermanlands und Livlands. In einem vom 17. Juli datirten
Schreiben an den Bischof von Wiborg, Mag. Glaus Elimaeus, theilt
Rudbeck mit, «dass er seit zwei Tagen in Reval weile, um hier
mit der ihm anvertrauten Arbeit zu beginnen. Wenn er auch
hoffe, sich von hier nach Riga zu begeben, so wolle er doch noch
kurz vor Michaeli von dort nach Narva kommen. Im Falle es
jedoch zur Visitation Ingermanlands früher als zu der Livlands
kommen sollte, werde er schon nach 4—5 Wochen in Ingermanland
eintreffen, woselbst er ihn in Narva oder sonst wo rechtzeitig zu
erwarten bitte. » Eine Woche später, am 24. Juli, schrieb er auch
an den livländischen Superintendenten, Dr. Hermaun Samson, tiber-
sandte das königliche Vollmachtsschreiben und bat ihn, «seinen
Pastoren gelegentlich mitzutheilen, dass er nach 4-5 Wochen
kommen werde, damit man auf sie vorkommendenfalls nicht zu
warten brauche».
Aber den Plan, Livland, d. h. Riga, und Ingermanland, d. h.
Narva, zu besuchen, musste der Bischof bald fallen lassen. Die
grosse Arbeitslast, welche ihm allein Estland aufbürdete, wäre an
1 wie ein Hrief Kudbeck* an den est! Gouverneur vom 3. Sept. angiebt.
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574
Bischof Rudbeck.
und für sich schon eine genügende Erklärung hierfür ; doch ist die
Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass der von Gustav Adolf 1(521
zum livländischen Superintendenten ernannte, überaus thatige und
gleichfalls wenig nachgiebige Herrn. Samson von sich aus beim
Könige um Exemtion von der Visitation des Westeraser Bischofs
auhielt und Gehör fand. Was Ingermanland anbetrifft, so können
wir hier im voraus bemerken, dass am 14. Sept. der Superintendent
Nicolaus Gaza, Mag. Andreas und Christophorus Schilling, bischöf-
licher Caplan, im Wagen des Bischofs nach cAllentacken, Narva
und Ingerraanland > gesandt wurden. Von dort kehrten sie am
6. Oct. nach Reval zurück in Begleitung zweier ingermanläudischer
Pastoren, des nar vaschen Propstes Martinus Beer und des iwan-
gorodschen Predigers Johann, welche beide vor dem Bischof über
ihre Amtsführung Rechenschaft ablegen mussten. Darauf und auf
die von genannter Specialcommission etwa getroffenen Bestimmungen
beschränkt sich die Visitation Ingermanlands ; Livland blieb dies-
mal gänzlich verschont.
Von grosser Bedeutung musste es für den Bischof sein, Ein-
sicht zu nehmen von den Visitationsacten des seligen Dubberch,
daher Schreiben an den hapsalschen Pastor Heinrich Lindemann
uud die verwittwete Schwiegertochter David Dubberchs, bei denen
solche vorhanden seiu sollten, ergingen. Linderaanu hat diese Acteu
— oder wenigstens einen Theil derselben — dem Bischof zu dessen
grosser Freude am 1. August, als er zur Synode in Reval eintraf,
ausgeliefert«.
Von allgemeinerem Interesse ist es, den Inhalt des bischöf-
lichen Convocationsschreibens zur ersten estländischen Provinzial-
synode kennen zu lernen. Nach einer weitläufigen Introduction
heisst es: «Im Namen und kraft eines königlichen Erlasses fordern
wir euch verehrungswürdige und hochgebildete Männer, die ihr
ein öffentliches Lehramt bekleidet oder einer Kirche vorsteht, hier-
mit uuter Androhung des allerhöchsten Unwillens uud des Ver-
lustes eueres Amtes ernstlich auf, so viel euerer in der Revaler
Diöcese, also den Kreisen: Harrien, Wiek, Wirland und Jerwen,
Pastoren oder Capläne, Hofprediger oder Pädagogen sind, am
30. Juli in Reval zu erscheinen. Dabei habt ihr mitzubringen :
von den Bischöfen» beglaubigte Zeugnisse über eueren Lebenswandel,
* cf. das Itinerar des Aschanaeus.
* Darunter sind die früheren, von der Regierung bestätigten estländischen
Superintendenten oder Bisehöfe verstanden.
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Bischof Rudbeck.
575
euere Vocation oder Ordination, eine sog. Kirchenorduting (ordi-
nantia ecclesiastica), nach welcher ihr in (seil kirchlichen) Fällen
und Angelegenheiten zu untersuchen, richten uud zu entscheiden
pflegt, das Kircheninventar und, im Falle des Vorhandenseins,
Documente über die Pastoratsländereien (Utterae de fundis pastora-
libus) uud ausserdem euer Manuale, worin die Form, wie die Sacra-
mente verwaltet werden, enthalten ist. Endlich habt ihr noch aus
jedem Kirchspiel (ecelesia) mindestens je vier Bauern bewährten
Altere und Glaubens mit euch zu nehmen. Wir zweifeln hierbei
keineswegs an euerem Gehorsam, womit ihr ferner alle werdet gern
hören wollen, von welcher ernsten und wahrhaft väterlichen Sorge
und Bekümmernis, Frömmigkeit und Güte, von welch unerschütter-
lichem Wohlwollen gegen Seine ünterthaneu S. K. M. beseelt ist.
Gilt es doch den Ruhm Gottes, den Nutzen der Kirche uud euer
eigenes Beste. ... P. S. Weil unsere Synode jedoch aus ge-
wissen Gründen wider Erwarten lange dauern und daher mehr
Aufwand erfordern könnte, ermahnen wir die Herren Pastoren,
sich zu den notwendigen Ausgaben für mindestens drei Wochen
mit dem Notlügen zu versehen.»
Mit einiger Verwunderung müssen wir es wahrnehmen, dass
der Bischof, infolge der mehrjährigen schwedischen Administration
in Nord-Livland, Pernau und Fellin zur «Revaler Diöcese» rechnet;
denn erstens ward obiges Convocationsschreiben dem pernauschen
Pastor übersandt und zweitens liest man im Itiuerar des Aschanaeus
unter dem Datum des 26. Sept. : «Gerhard Hartmann wurde nach
Fellin geschickt, um sich dort hören zu lassen, zurückzukommen
und ordinirt zu werden * Dieser geographische Irrthum wurde
aber durch Samsons oder der Livländer Schuld reparirt ; denn
Hartmaun ward nicht nach Fellin vocirt1 und der pernausche Rath
schrieb dem Bischof, dass er «dem städtischen Pastor keineswegs
nach Reval zu kommen erlaube», an welchem Bescheid Philipp
Schedingks «sehr scharfe Antwort» wol keine Aeuderung hervor-
gerufen haben wird1. — Die Thätigkeit der geistlichen Commis-
sion beschränkte sich jedoch nicht auf die Conception und Ausgabe
von amtlichen Erlassen. Es ist erquickend, zu sehen, mit welchem
Eifer und sittlichen Ernst man sich an die Ausführung der ge-
stellten Aufgabe machte. Fast alle Tage wurde ein Morgen- und
• cf. Paucker: «Ehstlands Geistlichkeit», 1849.
" cf. das Itiuerar des Asch. s. d. 3. Aug. 1627.
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576
Bischof Rudbeck.
Abendgottesdienst in der Domkirche abgehalten, in dem eine Predigt
den integrirenden Theil ausmachte. Aufangs predigten alleiu die
Commissionsglieder, bald aber traten aus allen Theilen Est- und
Iugermanlands Pastoren ein, um sich durch eine Probepredigt die
bischöfliche Bestätigung im Amte zu erwerben. Der biedere Ascha-
naeus verzeichnet gewissenhaft jedes Predigtthema und begleitet
seine Notizen mit Censuren, welche wol dem bischöflichen Munde
entflossen sein mögen; «gut», t gelehrt», «bewunderaswerth», oder
tschwach», «gedankenlos» &c. heisst es häufig bei ihm. Der
Bischof Rudbeck erhält selbstverständlich die beste Censur: «sehr
gelehrt», z. B. als er in der Synodalzeit am grossen Busstage des
17. Aug. die Altarrede über Jeremia 6, 8 gehalten hatte. Die
Predigten werden bald in schwedischer oder finnischer, bald und
am meisten in deutscher oder estnischer Sprache gehalten. In der
Synodalsessionszeit verging kein Tag ohne längere Predigt am
Morgen und am Abend, mit dem Schluss der Synode am 26. Aug.
hörten aber die Predigten auf ; von da ab ward täglich nur eine
Bibelstelle verleseu. Ausgehend von der Ansicht, dass alle der-
zeitigen Pastoren ihr Amt eigentlich auf illegale Weise erworben
hätten, zwang der Bischof alle ohne Ausnahme, vor ihm oder den
anderen Commissionsgliedern ihre Probepredigt zu halten, so z. B.
die Glieder des revaler Stadtministeriums, den Reetor der Domschule,
ja selbst den alten Nikolaus Gaza, — gewiss ein beredtes Zeugnis
für die Energie, aber auch das grosse Selbstgefühl des Revidenten.
Und er war rührig, der Herr Bischof. Nachdem er das Domkirchen-
Inventar aufgenommen, in der Kathedralschule ein öffentliches
Examen abgehalten und von den Dom kirchen Vorstehern für die
letzten 13 Jahre Rechenschaftsablegung gefordert und erhalten
hatte, trieb es ihn hinaus aufs platte Land, um auch hier, z. B.
in St. Matthias, Kreutz und Jegelecht, zu inventarisiren. Schon
früh leitete er Conferenzen zwischen den geistlichen und weltlichen
Commissaren ein, die entweder in seiner oder des Gouverneurs
Wohnung abgehalten wurden. Ein Resultat derselben war die als-
baldige Einberufung der Ritter- und Landschaft zu einem Landtage
für den 5. Aug., auf dem sowol über kirchliche als weltliche Fragen
berathschlagt werden sollte, und die Redaction der dem Landtage
vorzulegenden bischöflichen Propositionen.
Mittlerweile begannen die wurmstichigen Früchte der könig-
lichen Instruction zu reifen. Diese wollte, wie wir sehen, von
einem revaler Stadtconsistorium nichts wissen, da des Bischofs
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Bischof Rudbeck.
577
Massnahmen durch eine ihm coordinirte Institution nur gehemmt
werden mussten. Aber das städtische Consistorium bestand, bestand
seit geraumer Zeit und besass in der königlichen Oonfirmation der
Stadtprivilegien seine rechtliche Basis* Zudem gehörten dem Stadt-
ministerium und -Consistorium Männer an, die sich nicht einfach
an die Wand drücken Hessen. Leute, wie der Pastor von St. Olai
und Superintendent Dr. Heinrich Westring, Mag. Jobann Knopius,
Mag. Erich von Beek, Simon Blankenhagen, Mag. Eberhard von
Renteln und Mag. Ludwig Dunte, hatten wol alle auf deutschen
Universitäten studirt und wissenschaftliche Schriften verfasst, be-
herrschten die lateinische Sprache und waren eifrig und wirksam
in ihrem 4mte- Der Präses des Consistoriums, der Bürgermeister
Derenthal, vollends war, wie Aschanaeus mehrfach zu verstehen
giebt, von grosser Energie und zäher Hartnäckigkeit. Wurden solche
Leute ebenso behandelt, wie die c sicherlich unbedeutenden» (?)
Magistratspersonen von Westeräs, dann gabs Kampf und Streit,
dann sprühten Funken.
Von ihrem Standpunkt aus verdiente die revaler Geistlichkeit
nur Lob und Anerkennung für ihre Leistungen und durfte sie, in
Anbetracht ihrer öffentlich-rechtlichen Stellung, wol erwarten, dass
der Bischof ihr von' seiner ihm übertragenen Befugnis Anzeige
machte. Das mag wol die Ursache sein, dass sie mehrere Tage
vergehen und ein Schreiben des weltlichen Commissars Peter Baner
an sich herankommen Hess, worin sie «zur Demuth und Reverenz
gegen S. K. M. Commissare und Visitatoren » ermahnt wurde, ehe
sie sich dazu entschloss, dem Bischof ihre Aufwartung zu machen.
« Es präsentirten sich — am 24. Juli -- Mag. H. Westring, Mag.
Jon. Knopius, Mag. Erich v. Beek und der Bürgermeister Deren-
thal mit höchster Reverenz» vor dem Bischof. Der Bischof scheint
diese verspätete Begrüssung übel vermerkt zu haben, denn er über-
sendet den revaler Pastoren das Convocationsschreiben zur Provin-
zialsynode erst am — 30. Juli. «Mit dem Bector scholae sandte Mag.
H. Westring es wieder zurück und wollte nichts lesen.» Für die
hiermit zum Ausdruck kommende grosse Erbitterung giebt wahr,
scheinlich der Umstand eine Erklärung, dass der Bischof sich ge-
weigert hatte, mit den Revalensern eine Ausnahme zu machen und
ihnen schon jetzt in die königliche Instruction Einsicht zu ge-
währen ; er hatte erklärt, das nur vor tptiblico conventu* thun zu
wollen und forderte jetzt einen Beweis für ihr fortwi privilegiatum.
Ausnahmsweise berichtet das Itinerar des Aschanaeus etwas aus-
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Bischof Rudbeck.
führlicher über diese Vorgänge. Ich lasse daher die Uebersetzung
aus dem Schwedischen nachfolgen:
«d. 31. Juli: Jetzt kamen zwei von der Stadt, ein Rath-
mann Thomas Schroben und der Stadtsyndikus Benhardus1, mit den
städtischen Privilegienbüchern , zwei Stück : ein modernes von
Gustav Adolf und ein kleines altes vom König Erich Daniae et
Episcopi Lundensis, datirt 1214 (sie), daraus sie beweisen wollen
und sich verteidigen, dass sie mit ihrem Stadtconsistorium, welches
besteht (är heslutitl) aus dem Bürgermeister, Rath und dem Mini-
sterio allhier, ihren zwei (?) Superintendenten, Pastoren und Com-
ministern, — nichts desto weniger (dock) ihr höchstes Consistorium
hätten. «Auff Ihren Ehrbaren Rath>, wie sie ihn nennen, mit
welchem Privilegienbrief sie sich stützen auf das lübische Kirchen-
recht, dass sie ihr Consistorium unbeschwert vor Magistrat™ publica
hätten. Ebendaher wollten sie nicht unterworfen werden I. K. M.
Vollmacht und Instruction in diesem Stück, dass sie nämlich com-
pariren müssten vor den Oommissaren, wann sie wollen, sondern
sie wären frei für sich und ihre Stadtpriester vor dem Bischof.
Jedoch konnten sie nicht durch diesen verlesenen Brief (Urkunde
seil.) ihre «unkluge Autorität» (sie) in diesem Fall beweisen, womit
sie also dem Herrn Bischof refutirten Sie versprachen
Oopien von den Urkunden (und erklärten), «es könnte keineswegs
irgend ein Speciale ihr Generalprivilegium derogiren, also von ihrem
zweifelhaften Consistorio1 (Hierauf) wollten Rath und
Ministerium zu Reval Copien haben von I. K. M Vollmacht und
Instruction. Das wurde ihnen versagt; sie hätteu nur zu hören,
zu glauben und darnach zu handelu. Wenn der Bischof mit allen
Ständen in Verhandlung tr&te, sollten sie weiter zu hören be-
kommen.»
Man muss für die Beurtheilung der Rechtsfrage dieses eben
begonnenen Conflicts eins im Auge behalten : noch gab es einen
«activen Widerstand», noch wehte aus den pergamentenen Privi-
legien dem Leser nicht der Modergeruch vergessener oder mis-
achteter Jahrhunderte entgegen. Es war daher eine Unvernunft
1 Nach Bunge's «Revaler Rathüliniev Thomas Sehrowen und der Raths
seereüir Bernhard zur Becli, der erst 1642 Syndikus ward. 1627 bekleidete
Bürgermeister Derenthal das Syndikat.
1 Hier tot eine schwer zu interpretirende Stelle, für «lie der Verfasser ans
Schweden keine befriedigende Uebersetzung erholten hat, ausgelassen: Rie scheint
aber von keinem Belai.ge zu »ein.
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Bischof Radbeck. 579
des Visitators, welche seiner Eitelkeit entspross und mit seinem
sonst so hellen Verstände im Widerspruch steht, eine geschlossene
corporative und bewährte Institution so vor den Kopf zu stossen.
Mit einer Ignorirung ihres Bestandes kam er nicht um einen Schritt
weiter, sondern rief einen Conflict hervor, dessen Ausgang bei der
Zähigkeit der damaligen Estländer nicht abzusehen war. Zugegeben
auch, dass man unsererseits es an Selbstbewusstsein nicht fehlen
Hess, sich durch eine gewisse Vomehmthuerei Blossen gab, das
grössere Unrecht liegt aber doch auf Rudbecks Seite. Er brauchte
ja der Stimme des revaler Consistoriums nicht zu folgen, aber seine
Existenz a priori leugnen und ihm keine öffentlich-rechtliche Stel-
lung zuerkennen, war unklug und schädlich. Wir brechen hiermit
ab, um den weiteren und traurigen Verlauf des Conflicts an ge-
eigneter Stelle wieder aufzunehmen. Wenden wir uns nun dem
Abschnitte der bischöflichen Thätigkeit .zu, wo dieselbe uns im
hellsten Lichte erscheint und, wenn auch nicht frei von Fehlem,
von der Leistungsfähigkeit des Visitators doch ein rühmliches
Zeugnis giebt.
4. DieProvinzialsynode und die Synodal-
beschlüsse.
Für den 30. Juli convocirt, traten die Geistlichen des Landes
doch nicht früher als am 6. August zur Synodalarbeit zusammen.
Ob ein Widerruf des Convocationstermins erfolgte oder man die
Säumigen abwarten wollte, bleibt unentschieden. Dass die Pastoren
der billigeren Reise mit ihren Patronatsherren wegen auf diese bis
zum 5. Aug., für welchen Tag der Landtag ausgeschrieben war,
warten wollten, ist ausgeschlossen, da der Landtag — aus ebenfalls
unbekannten Gründen — erst am 13. Aug. in cder Ritterstube im
Kloster> zusammentrat1.
Am 5. Aug., dem X. Sonntag nach Trinitatis, hielt der Bischof
selbst die Sonntagspredigt, wol schon in Gegenwart zahlreicher
Synodalen. Nach dem Gottesdienst wurden die <Intimatio synoäa-
lis» und die < Thesen» ■ an allen Kirchenthüren der Stadt ange-
schlagen.
Von dem Eröffnungstage (Montag, d. 6. August) der Synode
und ihrem allmählichen Verlauf besitzen wir leider allein den dürren
' cf. flreiffenhagen p. 19.
' lieber diese hat der Verfasser nichts Xiiheres in Erfahrung bringen
können; wahrscheinlich enthalt das Liber Asch, doch noch etwas darüber.
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580
Bischof Rudbeck.
und nüchternen Bericht« des Aschanaeus, dem, wenn auch ungern,
zu folgen unsere Pflicht ist.
«I. Es waren erschienen (in der Domkirche und etwa um
9 oder 10 Uhr morgens) alle Magistri, Pastores, Capläne, Paeda-
gogii in Livland (d. h. Est- und Ingermanland), auf den Befehl des
Bischofs und Visitators und Commissars, im *Sacrario cathcdrali*
(d. h. im Altarraum). 2. Es redete der Herr Bischof mit ihnen von
I. K. M. Commission und seinem Auftrag zu dem allen. 3. Es
wurde gesungen : eKomm, heiliger Geist, Herre Gott>. Der Bischof
intonirte ; pro introitu wurde gesungen ein Stück Discant, auch ge-
spielt. 4. Mag. Andreas hatte die Praefatio. 5. Hinwiederum
sprach der Bischof zu allen von der Procession' &c. 6. Sodann
hielt der Mag. Andreas die Synodalpredigt8. 7. Es sprach wieder
der Bischof vom Gehorsam in allen Dingen. 8. Mag. Gabriel(i)
verlas die kgl. Vollmacht. 9. Es hielt der Herr Bischof eine
scharfe Ermahnung an sie vom Fleiss und dass sie alle Tage
«nüchtern>* (sie) sein möchten, so lange die Synode
g e h a 1 1 e n w i r d. 10. Es wurde ein Stück Discant gesungen.
NB. tOrdinem sedendi: 4 rechts und 4 links» setzte er fest.>
Es trat nun offenbar eine kleine Pause ein ; denn unmittelbar
darauf fährt der Bericht mit den Worten fort :
«Nach 1 Uhr Mittag wurde geläutet; bald ging man in die
Kirche und das Sacrarium, ein jeder an seinen bestimmten Platz.
Es recitirte der Bischof den Cutalogus parochiarum*, pastorum,
sacellanorum (d. i. Capläne) et Annexarum (d. h. der Bischof verlas
den Katalog der Pfarrstellen, Pastore, Capläne und dessen, was
noch dazu gehört) &c. NB. Anwesende und Abwesende notirte
eine jede Provinz für sich : Harrien, Wiek, Wirland und Jerwen.
Ein jeder Pastor schrieb nieder seiner Kirche *descr\ptiones et In-
ventarium*, ein jeder auf sein eigenes Papier, mit eigener Hand,
nach der neuen gedruckten Ordnung. NB. Ein Exemplar zur Ab-
gabe, das andere für sich selbst; deutsch, schwedisch oder latei-
1 Schwedisch, untermischt mit lateinischen Floskeln.
1 Darunter ist wahrscheinlich eine Angahe tther den Verhandlungsmodus
verstanden.
• worüber, ist nicht angegeben.
• «vara nöchter pa alle dagar». Es kann kein Zweifel sein, dass möchten
hier für «-nyktcr* steht.
• Da« ist wol so zu versteheu, dass immer je vier auf einer Bank link*
und rechts vom Altar zusammen sassen.
6 So ist wol zu lesen und nicht tparesiarum», wie im Original steht.
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Bischof Rudbeck. 581
nisch, wie sie es selbst wollten. NB. Der Herr Bischof nahm
alle Punkte der Instruction I. K. M. durch, um zu erforschen :
<Neces$arifi ecclesiarum et ministrorum* (d. i. die Bedürfnisse der
Kirchen und Prediger).
So lautet über den ersten Synodaltag der Bericht, der Phan-
tasie mehr als erwünschten Spielraum lassend. In ähnlicher Weise
referirt der Liber Aschanaeus auch noch über die Sitzungen der
Synode am 7., 8. und 9. August; dann wird er noch kürzer und
dürftiger. Die einzelnen Decrete können wir an dieser Stelle über-
gehen, da sie in den übrigens auch durch die Sorgfalt des Ascha-
naeus erhaltenen sog. «Synodalbeschlüssen» in erweiterter und con-
creterer Fassung wiederkehren. Fragen wir uns, was ausser den
auf die Reorganisation der kirchlichen Verhaltnisse Bezug nehmen-
den Beschlüssen noch auf der Synode verhandelt worden ist, so
müssen wir uns kurz fassen.
In den Tagen vom 6.-26. August, während deren die Synode
dauerte, wurde fortgefahren mit der Examination und Ordination
der bereits fungirenden Pastoren oder sich um Pfarr- und Lehrer-
stellen neu bewerbender Candidaten. Zudem wurde über manche
Vergehen der Pastoren zu Gericht gesessen ; unwürdige wurden —
laut Art. 22 der Instruction — vom Visitator ab- und würdigere
an ihrer Statt eingesetzt. So z. B. verlor der Pastor Jacob Pavo»
wegen Ehebruchs für immer die venia concionandi, während Matthias
Finck in Rappel die Erlaubnis erhielt, sich für seine Ausschreitungen
mit den Geschädigten gütlich zu begleichen, und Josua Möllenbeck
von Jörden seine frivole Verlobung mit zwei Jungfrauen zu gleicher
Zeit mit einer Geldstrafe zum Besten der Annen büssen musste.
Nachmals ordinirt. führte Möllenbeck eine seiner Bräute glücklich
heim und feierte am Tage nach seiner Ordination fröhliche Hoch-
zeit. Gleichwie Rudbeck in Westeräs gegen «Unsitten» seiner
Pfarrer stramm vorging, so auch in Estland. Unter dem Datum
des 10. Aug. erzahlt Aschanaeus in seiner naiven Weise: «Viertens
wurde auch getadelt Herr Georg Salomon von St. Jürgens (ad Divum
Oeorgium) für sein kurz geschnittenes Haar. Fünftens wurde ge-
tadelt der Pastor in Pänälä (?)' für seine langen Haarlocken.
Er sagte, dass er sich gelobt habe, sie wachsen zu lassen.
Auch Pänäläensis musste sich strax die Locken scheeren lassen.
1 Knüpffer nennt auf Grand »einer Quellen norli zwei andere, die Mich
abgesetzt wurden.
■ Wol Pönal. D. R e d.
BaUi«ch« MnnaUaclirift, Rand XXXIV. Flofl 7. 31»
-
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■ "I
582 • Bischof Rudbeck.
Nota. Abgeschafft wurde alle derartige Unordnung, insbesondere
Naseweisheit — hatte doch schon der 8. August gezeigt, dass einige
Landpastoren naseweis (nasuttdi) waren — und unleidliche Kleider-
tracht. Darauf hatte man genaue Aufsicht. » Auch nachdem von
der Kanzel herab am 26. August, dem XITT. Sonntag nach Trini-
tatis, publicirten Schluss der Synode hörten die Examinationen und
Ordinationen nicht früher auf, als bis die Visitatoren abreisen
mussten. Desgleichen wurde noch manche Kirchenstrafe über un-
gehorsame, liederliche (Adelige, doch meist Bauern) und verbreche-
rische Gemeindeglieder verhängt ; die criminellen Falle übergaben
die Commissare jedoch den weltlichen Gerichten.
Wenden wir uns nun zu den Beschlüssen der Predigersynode,
welche die königliche Bibliothek in Stockholm aufbewahrt unter
dem Titel : « ßeschluss der Estnischen Predigersynode, welche im
Juli und August des Jahres 1627 in Reval abgehalten worden1.»
I. Betreffend den Gottesdienst.
1. Das Land ist von Pernau bis Narva 40 Meilen lang und
20 Meilen breit ; doch giebt es nur 40 Kirchen, die sehr schlecht
unterhalten sind. 2. Keine Schule, aus der man Theologen er-
halten könnte, wol aber kleine Schulen giebt es : z. B. auf dem
Dom, in Pernau, in Hapsal &c, worin nur einige kleine Knaben
unterrichtet werden; jedoch nur im «Lesen», nicht in den <Iniiia
gramtnaticac». Die Priester sind aus Deutschland und Finland
und verstehen nicht die Landessprache. 3. Es giebt keine Hospi-
täler. 4. Die Priesterhöfe (Pastorate, prastbordcn) sind so klein,
dass nicht e i n Priester einmal davon leben kann 5. Die Häuser
daselbst sind sehr schlecht erhalten ; manche haben keine Back-
stube, keinen Keller, kein Vorrathshaus ; und die anderen Häuser
sind auch sehr schlecht, so dass manche (Pastoren) ihre Speise-
vorräthe, Pflüge und Wirthschaftsgeräthe, (selbst) das Mobiliar
oben in der Kirche halten müssen, two es etwas besser ist>. Die
Junker von Hapsal sorgen nicht für die Kirche, obwol sie dazu
' «Tieshtut pa thet Esthiska Prestamötet som är hallit i Rdffle wtW
Julia och Atu/usto A. D. 1G27» ; enthalten snb Nr. 1 in der historischen »chwedi
sehen Handschrift der Reichsbibliothek F. b, 3 : tSum Uber unus de calleclianibiis
Martini Aschanaeis. Da die Uebcrsctznng dieses sog. "Besohlnsses» dem Verf.
in Stockholm in die Feder dirfirt wurde, möge man die Slylhiirten, die Mischung
von l'cbersetznng und Referat und das Fehlen ihr TTcherschriften an einigen
Stellen entschuldigen.
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Bischof Rudbeck.
583
verpflichtet sind. 6. Die Pastoren haben sehr geringe Einkünfte ;
denn nachdem ihnen der Zehnte genommen ist, haben sie nur die
Abgabe für den Küster behalten, und diese besteht in einem
kleinen Halbspann reinen Kornes und in einem Kylmet Pferde-
futter (d. h. wol Hafer) von einem jeden Bauern. Accidentieu
sind sehr wenig, so dass sie nicht c Essen und Trinken» für Weib
und Kind von ihrem Amte haben. Sie könnten nicht leben, wenn
nicht die Kirchspiele so gross (an Menschen zahl) und die Pastoren
nicht zugleich auch Capläne und Küster wären. In kleineren
Kirchspielen haben sie nicht das schwarze Brot. 7. Weil es keine
Capläne giebt, so kann der Unterricht im Katechismus nur sehr
schwach sein, auch kann der Pastor nicht alle alten Leute und
Kranken besuchen. 8. Ein Bauer verrichtet, für ein Geringes, die
Küster- und Glockenläutedieuste. Die königlichen Busstagsbriefe
und andere Publicationen können nicht immer verlesen werden.
9. Die Kirchenvormünder (Provisorcs) kommen oft gar nicht in
die Kirche und nehmen nie das Abendmahl ; sie machen auch keine
Verschlage für Debet und Credit der Kirche. So ist es jetzt seit
30 Jahren, seit David Dubberchs Zeit. Die Domkirche hat auch
keine bestimmten Einkünfte.
II. Betreifend die Zuhörer, folgende Fehler:
1. u. 2. (Die Bauern) treiben noch viel Abgötterei bei Götzen-
bildern in Wäldern und Waldcapellen, denen sie verschiedene Opfer
bringen, z. B. ihre Gesundheit, ihre Kinder, Thiere und ihr Besitz-
thum. Sie kommen selten zur Kirche, nie zum Abendmahl ; einige
sagen, dass sie die ganze Woche auf den Höfen ihrer Herren
arbeiten müssten, auch Sonnabend bis Sonnenuntergang. Sie müssen
sich deshalb am Sonntag von ihrer grossen Sklaverei (träldom) er-
holen. Einige sagen, dass ihre Priester Finnen oder Deutsche sind,
welche die estnische Sprache nicht verstehen. 3. Viele, die zur
Kirche kommen, trinken vor und nach der Kirche und spielen (seil.
Glücksspiele) ; darauf giebts Streit, Fluchen und Morden und andere
grobe Sünden. Die Krüger benutzen die gute Gelegenheit, um
Geschäfte zu machen. 4. Grosse Unsittlichkeit herrscht unter dem
gemeinen Manne ; viele nehmen sich Weiber, wann und welche sie
wollen ; sie feiern Collationen und leben mit ihnen, so lange es
ihnen gefällt, ohne gesetzliche Trauung. Viele haben auch mehrere
Weiber zur Abwechselung. Wenn die eine ihm nicht mehr gefällt
oder all. wird und nicht mehr gut arbeiten kann, wird eine neue
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Bischof Rudbeck.
für die Haushaltung genommen. Hierfür und für andere Sünden
giebt es wenig Strafen. 5. Viele begraben die Todten nicht iu
den Kirchhöfen, sondern wie es kommt. 6. Sie zahlen oft auch
nicht die Küsterabgabe.
III. Betreffend die Geistlichkeit.
Hier giebt es kein ordentliches Kirchenregiment, keinen ge-
setzlich ernannten und von der hohen Obrigkeit bestätigten Bischof
(Superintendenten) und kein Consistorium. Was den würdigen und
wohlgeachteten Herrn Nils» auf dem Dom anbetrifft, so ist er eine
lange Zeit nur Pastor gewesen und ist ihm zuerst nach Karls IX.
mündlichem Befehl die Inspection der Kirchspiele ertheilt worden ;
er hat wol ein Docume.nt über seine Anstellung erhalten, aber
keine Instruction. Er wird zwar im Document * Superintendent»
genannt und hätte als solcher wirken sollen. Das hat er aber
nicht gethan, bis der König im J. 1622 hierher kam. Er gefiel
dem König aber nicht. Ehe der König herkam, hat er in Er-
mangelung einer Vollmacht nichts thun können und hernach seines
hohen Alters wegen nicht und wegen fehlender collegialischer Hilfe.
IV. Betreffend die Macht des Superintendenten und Oapitels in
Reval
weiss Rudbeck nicht, woher sie ihre Macht haben und ob dieselbe
sich nur auf Reval oder auch aufs platte Land erstreckt. cSie»
haben auch auf dem Lande Priester ordinirt, jedoch per usum und
nicht durch ein Gesetz. Es fehlen praepositi (Pröpste), die dem
Superintendenten Hilfe leisten können. Es giebt keine autorisirte
Kirchenordnung (die schwedische Kirchenordnung gilt nur auf dem
Dom), dieselbe (d. h. die ihrige) ist vielen anderen entlehnt, z. B.
der in Pommern und Kurland, auch der Mecklenburgischen und
Nürnbergischen — oder ist eigenes Elaborat. Kurz, tdas Kirchen-
regiment ist ohne bestimmte Richter und ohne noth wendige Gesetze».
Reiche Leute auf dem Lande haben sich das Recht (jus) ge-
nommen <vocandi et dimittendi pastores*. War der (Pastor) nicht
ordinirt, so war es nicht schwer, einen Ordinator zu finden. Sie
haben die Kirchenordnung ausgeübt in consulio magistratu et mini-
sterio, schlechte (seil. Pastoren) oft angestellt, gute vertrieben. Die
Pastoren haben sich — weil ohne Superintendenten — schlecht
' Rudbeck war übrigens nahe daran, ihn wepen Heiner laxen Amtsführung
abzusetzen, cf. das Itinerar Aseban.
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Bischof Rudbeck.
585
geführt, sind aber ohne Tadel und Strafe geblieben. Gute sind oft
verfolgt und abgesetzt, ja sogar ermordet worden. — Keine Synoden
sind gehalten worden und daher die Priester ohne Hilfe gewesen.
Die letzte Visitation war vor 30 Jahren, in David Dubberchs Zeit,
bis in diesem Jahre Herr Nikolaus» 13 Kirchspiele mit wenig Er-
folg besucht hat. Visitationen aber sollten jährlich geschehen.
4 —6. Es giebt wol einige gelehrte und geschickte Prediger,
aber doch ist ein nicht sehr geringer Theil sehr ungebildet und
ungeschickt. Einige von ihnen haben wenig, andere nichts studirt,
sondern die grösste Zeit in anderen Aemtern verbracht und sind
jetzt erst cmit grauem Haar» ins Priesteramt getreten. Ein Theil
kennt die estnische Sprache nicht. Die Prediger haben keine
Kirchendisciplin, sie notiren keine *casus> und referiren nichts an
den Superintendenten, weil sie dazu nicht angehalten werden und
an ihm keine Hilfe finden.
Da der König auch Rath zu geben aufgetragen hat, so
werden folgende Propositionen gemacht:
1) Zum Unterhalt der Kirchen, Schulen und Hospitäler soll
der Zehnte wieder gezahlt werden. Von demselben soll ein Theil
den Geistlichen gegeben, der andere für Kirchen, Schulen, Gymna-
sien, Capitularen und den Superintendenten, die Hospitäler und
Armen und zum Kirchenbau verwandt werden.
2) Es giebt Kirch-, Pfarr- und Küsterhöfe.
Der Pfarrer soll wenigstens einen Haken Landes Acker (10
oder 12 Tonnen Land) jedes Jahr besäen und den dazu nöthigen
Wiesen- und Waldbestand haben ; der ^Küster soll wenigstens ein
Viertel Haken (2 oder 3 Tonnen) und etwas Heuschlag haben,
eben so schatzfrei wie der Pfarrer. Wo kein (Pfarr-) Hof oder nur
ein sehr kleiner ist, da müssen die Kirchspielsangehörigen so viel
dazu legen, dass der Pfarrer und Küster davon leben können. Die
Kirchenvormünder sollen das Debet und Credit feststellen, bis die
Revisoren des Königs kommen. Die Pröpste sollen bei den Kirchen
einen Kirchenrath * einsetzen, der die Vormünder mit Rath und
That zu unterstützen hat. Die abgöttischen Bräuche sollen durch
Unterricht, die heiligen Wälder mit Hilfe der Gouverneure, Vögte
und Statthalter zerstört werden ; eben so die Laster der Hurerei,
Völlerei &c. Wenn man die Todten ohne Pastor ausserhalb der
* Darunter ist die Inspektionsreise X. Gazas nach Ingermanland geineint,
wovon wir bereits gehandelt.
1 Wol unser Kirchenconvent,
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58«
Bisehof Radbeck.
Kirchhöfe begräbt, so unterliegt man nach Dubberchs Urtbeil einer
Strafe von 10 Mark Schw., für zweimaliges Uebertreten von 10
Thalern und hernach öffentlicher Pönitenz oder Excommuuieation.
Der Adel soll den Bauern Zeit zum Besuch der Kirche an Sonn-
und Feiertagen gewähren und seine Leute zum Gehorsam gegen
die Prediger anhalten, wenn er hier auf Erden Gottes Gnade
haben will.
Zur Herstellung eines Kirchenregiments ist ein Bischof oder
- Superintendent mit dienstlicher Vollmacht und Instruction einzu-
setzen und ihm ein Consistorium ccclesiasticum zur Hilfe zu geben.
Doch das ist des Köuigs Sache, wir können nur folgendes fest-
stellen : Es darf sich niemand gegenüber den Priestern auf dem
Lande zum Superintendenten aufspielen ; nur der, welchen die
«christliche Kirche > (Gudsförsamling, seil, in Schweden) und S.
K. M. hier auf dem Dom als Superintendenten anerkennt, anerkannt
hat oder anerkenuen wird.
Die Pröpste sind eingesetzt für alle vier Kreise und sie sollen
am lösten im Winter nach Marine jmrificatio (2. Febr.) oder im
Sommer, im Juni, ihre Präposituren visitiren, wofür sie eine Tonne
Saatkorn und 3 Thaler Schw. erhalten ; dasselbe erhält der Super-
intendent, welcher in 5 - G Wochen alle Präpositureu zu visitiren hat.
Die Pröpste sollen zweimal jährlich mit dem Superintendenten
auf dem Dom zusammenkommen (am 14. Febr. und 14. Juni), mit
ihm die Predigtamtscandidaten examiniren und resp. ordiniren und
die Kirchenangelegenheiten berathen. Sie sollen für diese Muhe
etwas erhalten, bis das Consistorium darüber genauer bestimmt hat.
4) soll auch einmal jährlich, vom 17.— 20. Febr. (incl.) eine
Synode abgehalten werden, wo alle Landpfarrer zu erscheinen und
abwechselnd {per vices) Predigten und lateinische Orationes über
die Glaubensartikel am Vormittag zu halten haben ; am Nachmittag
aber sollen sie die «Casus angeben » (casus angifva), welche sich
mittlerweile zugetragen haben, und sich hierbei bei den Pröpsten
und dem Superintendenten Raths erholen, wie in anderen Orten
geschieht. Und zwar soll man beginnen mit Wirlaud und dann
zu Jerwen, Wiek und Harrien übergehen.
5) soll von nun ab niemand hier zu Lande mehr zum Predigt-
amt, verordnet werden, welcher nicht seine *locos Theologkos» und
andere noth wendige Sachen «so ziemlich» (sie) studirt hat und in
der estnischen Sprache so bewaudert ist, dass er vorher in der
Domkirche seine Probepredigt halten kann.
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Bischof Rudbeck.
587
Zum Schluss wird den Predigern anbefohlen, dass sie von
nun ab etwas besser auf die Disciplin unter ihren Gemeindegliedern
achten und genauer die Casus, welche sich in ihren Gemeinden
zugetragen, aufschreiben und an den Propst oder Superintendenten,
unter welchen sie competiren, einsenden möchten. «Darauf sollen
die Superintendenten und die Pröpste genaue Aufsicht halten.»
< Auch sollen sie ihre Kirchendisciplin moderiren nach der schwedi-
schen Kirchenordnung und deren kurzem Extract, welcher auf der
jetzigen Synode (i välholna Synodo) verlesen und, so weit es an-
ging, angenommen worden ist. Dies {seil, den ganzen Beschluss)
sollen sich alle ausschreiben und in ihre gewöhnliche Sprache über-
tragen lassen. Der, welcher sich hiergegen vergeht und zuwider-
handelt, ehe S. K. M. selbst hieran etwas verändert hat, soll für
einen Verächter alles Guten und eiuen Verbrecher an den könig-
lichen Gesetzen gehalten und darnach bestraft werden.»
Dieser sog. «Beschluss» der Predigersynode war ein Resultat
der Berathungeu zwischen den Commissaren uud Landpastoren.
Eigentliche Beschlüsse haben letztere nur selten gefasst, sondern
die meisten darin enthaltenen Bestimmungen entflossen der Willens-
meinung des Bischofs. Wenn er ihnen die Bezeichnung «Pro-
positionen» gab, so dachte er an den Art. 21 seiner Instruction,
welcher dem Könige das Recht der Revision und Confirmation vor-
behielt. Aber auch davon abgesehen, verdienten seine Festsetzungen
nur den Titel von «Propositionen» auch aus einem anderen Grunde;
denn gleichviel, ob die Instruction es ausdrücklich betonte oder
nicht, bei der Fuudation der Pfarreinkünfte hatte der Adel ein
sehr gewichtiges Wort mitzusprechen. Ehe wir darauf eingehen,
habeu wir die Thatsache des auffälligen Fernbleibens der revaler
Stadtgeistlichkeit von den Synodal Verhandlungen zu erklären, und
das führt uus auf den Couflict zwischen Bischof und Stadt-
consistorium zurück.
T. Christiani.
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Die sibirisch-uralische Ausstellung in Jekaterinburg.
m 14. Juni d. J. fand durch den Ehrenpräsidenten, Se. Kais.
Hoheit den Grossfürsten Michael Nikolajewitsch, die feier-
liche Eröffnung der sibirisch - uralischen wissenschaftlichen und
industriellen Ausstellung statt, die von grosser Tragweite für die
fernere industrielle Entwicklung Ostrusslands zu werden ver-
spricht. Bekanntlich haben im letzten Jahrzehnt fast alle industriel-
len Unternehmungen Ostrusslands eine recht schwere Krisis zu
bestehen gehabt, die auch augenblicklich noch nicht ganz beseitigt
ist, und hauptsächlich sind es die Montanunternehmungen, die dar-
unter leiden. Da tauchte im Schosse der Gesellschaft: cYpajibCKoe
oömecTBo aioÖHTe-iefl ecTecTBoanaHia» schon im Jahre 1884 der
Gedanke auf, eine Ausstellung zu veranstalten. Dieser Verein
hatte bisher wenig von sich reden gemacht, dafür aber in aller
Stille fleissig gearbeitet, den Ural nach möglichst vielen Richtungen
zu erforschen versucht und ein kolossales wissenschaftliches Material
angesammelt ; dieses musste untergebracht und geordnet werden ;
die vorhandenen Räumlichkeiten und Mittel erwiesen sich aber
als unzureichend, und so hielt die Gesellschaft an der Idee einer
Ausstellung zähe fest, da sie darin die einzige Möglichkeit sah,
um sich die nöthigen Mittel zu verschaffen und andererseits eine
mächtige Hebeikraft zur Beseitigung der montanen Krisis. Das
lebhafteste Interesse, das von allen Seiten diesem Plan gegenüber
sich kund that, setzte die Gesellschaft in den Stand, ihr anfänglich
«
Die sibirisch-uralische Ausstellung in Jekateriuburg. 589
aufgestelltes Programm bedeutend zu erweitern ; und als sich auch
die Regierung für die Ausstellung zu interessiren begann und eine
beträchtliche Summe zur Unterstützung bestimmt hatte, so gewann
die Ausstellung an Bedeutung für das ganze Reich. In glänzender
Weise will sie dem Publicum darlegen, dass der Ural und Sibirien,
die im Westen mehr oder weniger als terra incognita gelten, auch
Wissenschaft, Kunst und Industrie besitzen und durchaus nicht
aller Cultur baar sind. Wenn die industriellen Unternehmungen
sich mit denen anderer Länder auch nicht in jeder Beziehung messen
können, so haben sie wenigstens die Aufmerksamkeit derselben
erregt, und zwar sind es hauptsächlich die Montanwerke, welche
Engländer und Amerikaner bewogen haben, Specialisten und Corre-
spondenten zu dieser Ausstellung abzuschicken. Und wahrlich, die
Abtheilung für Hüttenkunde und Montanunternehmung bildet den
Glanzpunkt der ganzen Ausstellung, hier finden sich die gross-
artigsten Vitrinen, und hier zeigt sich der unermessliche Reichthum,
den der Ural und Sibirien bergen und der nur zum geringen
Theil bisher ausgebeutet wird ; nächstdem ist entschieden die Ab-
Uieilung für Hausindustrie von Wichtigkeit, die in einzelnen Zweigen
gerade hier im Ural sich ganz eigenartig entwickelt hat. Doch
gehen wir an eine systematische Betrachtung des Ganzen.
Der frühere alte Münzhof ist in eine hübsche Anlage umge-
wandelt, in der sich mehrere Pavillons befinden, und die Ver-
waltung der Tjumener Eisenbahn hat ihre Räumlichkeiten dem Aus-
stellungscomite zur Verfügung gestellt ; ein Entgegenkommen, ohne
welches es unmöglich gewesen wäre, die Ausstellung in dieser
Ausdehnung zu veranstalten und mehr als 4000 Exponenten unter-
zubringen. — Die Ausstellung umfasst 11 Hauptabtheilungen, von
denen jede wieder in mehrere Unterabtheilungen und Gruppen zer-
fällt. Die Hauptabtheilungen sind: 1) die naturhistorische, 2) die
geographische, 3) die anthropologisch-ethnographische und archäolo-
gische Abtheilung, 4) die Abtheilung für Montanunternehmungen
und Hüttenkunde des Ural, 5) die Abtheilung für Gross- und Klein-
gewerbe, 6) die Abtheiluug für Hausindustrie, 7) die Abtheilung
für Land- und Forstwirtschaft, Gartenbau, Jagd und Fischfang,
8) die Abtheilung für importirte Waaren, 9) die Kunstabtheilung,
10) die speciell sibirische Abtheilung und 11) die Abtheilung fürs
Lehrfach.
Wir beginnen unsere Betrachtung mit dem Museum der hiesi-
gen uralischen Gesellschaft von Freunden der Naturwissenschaften,
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590 Die sibiriseh-uralische Ausstellung in .Tekaterinburg.
steigen die mit gewaltigen Stosszähnen des Mammutbs eigenartig
geschmückte Treppe hinan und begeben uns in den Saal der natur-
historischen Abtheilung. Hier erblicken wir zuerst, wie es sich
auch im Ural gar nicht anders erwarten lässt, in der Unter-
abtheilung für Mineralogie prachtvolle Mineraliensammlungen, von
, denen die eine die andere bald durch die Grösse - der seltenen
Mineralstufen, bald durch die Mannigfaltigkeit der Arten zu über-
treffen sucht. Auf einem Tische finden wir z. B. gewaltige Malachit-
blöcke, von denen einer auf 500 Rbl. geschätzt ist, und weiter-
gehend wird unsere Aufmerksamkeit von einigen Edelsteinen seltener
Grösse gefesselt : aus Mursinsk (ö7» 40' N. B. u. 30° 37* O L. von
Pulkowa), einem Hauptfundorte der Edelsteine, ist z. B. ein etwas
grünlicher Beryll von 1 25 Millimeter Länge im Gewicht von l Pfd.
4 Sol. und 34 Doli ausgestellt, dessen Werth auf 2000 Rbl. be-
rechnet wird ; danebeu liegen riesige Edeltopase, auf 400 -500 Rbl.
geschätzt &c. ; es würde hier zu weit führen, alle Raritäten zu be-
schreiben, da sich deren etliche in jeder Mineraliensammlung finden,
und ausgestellt sind 18 Mineraliensammlungen, welche theils Museen,
theils Privaten, theils verschiedenen Hüttenwerken gehören. Pro
fessor Muschketow aus dem St. Petersburger Berginstitut hat eine
sehr interessante Sammlung von Steinen, welche speciell dem Altai
angehören und dort zu den verschiedensten Gegenständen verarbeitet
werden, geliefert. Erwähnt sei noch eine Reliefdarstellung des
mittleren Ural, welche aus den am Orte gefundenen Miueralieu
derart zusammengesetzt war, dass die charakteristischen Arten der-
selben zur Reliefarbeit verwandt waren ; dieses Stück, die Arbeit
des hiesigen Edelsteinhändlers Kalugin. zierte die Ausstellung in
den ersten Wochen ; von der Stadt wurde es Sr. Kais. Hoheit dem
Grossfürsten Michael als Geschenk dargebracht und bei der Ab-
reise Sr. Hoheit mit nach Petersburg genommen.
In der Unterabtheilung für Geologie und Paläontologie zeichnen
sich die Sammlungen des Museums aus, die von dem Bergingenieur
Gebauer aus Kamenski ausgestellte Sammlung von Pflanzen-
abdrücken der Steinkohlenformation des Ural und die Sammlungen
des geologischen Comit6 zu St. Petersburg. Das hiesige Museum
befindet sich hier auch gerade an der Quelle vorhistorischer Funde:
in den Seifenlagern der Goldwäschereien finden sich nämlich sehr
häufig mehr oder weniger gut erhaltene Theile vorhistorischer
Thiere, ausser dem Mammuth (Eichas primigenius) noch Rhinocc-
ros tichorhinus, Cervus megacerus und anderer; das Skelett des
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Die sibiriseh-uralische Ausstellung in Jekaterinburg. 591
letzteren ist fast unversehrt und wurde im vorigen Jahre iu der
Nähe von Kamyschlow gefunden. — Die Unterabtheilung für
Botanik ist am schwächsten besetzt ■ ausser einigen Herbarien —
darunter nur ein forstwissenschaftliches — uud einigen botauischen
Werken ist hier nichts Interessantes, es sei denn, dass man einige
in den Anlagen angebrachte Pflanzengruppen aus Sibirien, der
Mandschurei, Daurien, dem Amurgebiete &c. hierher rechnet, die
hier in die ihnen nicht ganz richtig zukommende Abtheilung des
Gartenbaues hineingerathen sind. Dagegen bietet die Unterabtheilung
für Zoologie reiches Material dar ; auch hier zeichnen sich wieder
die Sammlungen des hiesigen Museums aus : die Collection der
Säugethiere Ostrusslands, speciell des permschen Gouvernements
ist sehr vollständig, desgleichen auch die der Vögel Sämmtliche
Präparate sind gut und naturgetreu von dem Conservator des hie-
sigen Museums, Herrn Hackel, ausgeführt. Auch die Zusammen-
stellung einiger Repräsentanten der Diluvialzeit mit den Thieren
der Jetztzeit ist sehr gelungen und der Contrast daher ein in die
Augen springender. Eine hübsche Zierde der zoologischen Unter-
abteilung bildet auch die Sammlung von Geweihen, mit denen die
Wände sehr geschmackvoll decorirt sind. Die Eier- und Nester-
sammlungen des Museums sind nicht so vollständig, doch immer
recht gut ; auch diese letzteren sind von dem Conservator des
Museums angelegt. Die niedere Thierwelt hat gleichfalls ihre
Vertreter. Ausserdem sind noch von vielen Privatpersonen ausge-
stopfte Exemplare der Thierwelt ausgestellt und grösstentheils dem
Museum geschenkt. Als in diese Abtheilung gehörig können auch
die lebenden jungen Wölfe, Füchse und Raubvögel betrachtet
werden, die draussen in den Anlagen untergebracht sind und dort
ihr munteres Wesen treiben.
Wir verlassen den Saal der ersten Hauptabtheilung und gehen,
vorüber an einem mächtigen Exemplar eines im Ural geschossenen
braunen Bären (Ursus arctos. L.), der uns vergeblich seine Tatzen
nachstreckt, in den zweiten Saal, in dem die beiden folgenden
Hauptabtheilungen, nämlich die geographische und die anthropolo-
gisch-ethnographische und archäologische, untergebracht sind. In
der Geographie ist hauptsächlich auf den Ural und Sibirien Rück-
sicht genommen, und wir finden hier ganze Bibliotheken aufge-
stapelt, die alles enthalten, was überhaupt über den Ural und
Sibirien jemals veröffentlicht worden ist ; ja, manches liegt noch
iu den Kisten verpackt, weil es wegen Mangels an Raum nicht
592 Die sibirisch-u nilische Ausstellung in Jekateriuburg:
bat ausgestellt werden können. Sehr reichhaltig ist auch die karto-
graphische Unterabtheilung, nicht so sehr die statistische ; beide
nehmen gleichfalls auf den Osten Russlands und ganz Sibirien
Rücksicht. Dasselbe ist auch in der anthropologiseh-ethuographi-
sehen und archäologischen Abtheilung der Fall. Wir finden hier
Schädel und Skelette, Zeichnungen und photographische Aufnahmen
der verschiedensten Völker Ostrusslands und Sibiriens in Bezug
auf Wohnung, Lebensweise, Kleidung, Nahrung &c. Die Kais.
Kasansche Universität hat ihr gesammtes wissenschaftliches Material
auf diesem Gebiete herübergesandt, leider liegt aber auch hier
vieles wieder wegen Mangels an Raum noch in den Kisten verpackt.
Auffallend erscheint es, dass von so vielen Privatpersonen so gute
archäologische Sammlungen ausgestellt sind, was dadurch zu er-
klären ist, dass in diesem und .den angrenzenden Gouvernements
noch fortwährend reiche archäologische Funde gemacht werden ;
manche dieser Sammlungen enthalten noch sehr viel unveröffent-
lichtes Material und wären daher einem Archäologen von grossem
Interesse. Höchst reichhaltig und interessant ist auch die Kostüm
künde der uralischen und sibirischen Völkerschaften. Etwas durch-
einandergeworfen und nicht ganz gut geordnet finden wir hier die
Werk- und Festtagskostüme der Baschkiren, Kirgisen, Wotjaken,
Tscheremissen, Permjaken, Wogulen, Samojeden, Tungusen, Jakuten,
Burjaten, Ostjaken, Chinesen, Japanesen &c. &c, daneben hängen
oder liegen ihre Waffen und die verschiedensten Geräthe, so dass
man sich aus diesem gegebenen Material ein sehr gutes Bild jeder
dieser Völkerschaften construiren kann. Wir statten unseren Be-
such auch den Vertretern der verschiedenen Eingeborenen ab, die
auf directe Aufforderung hierher auf die Ausstellung übergesiedelt
sind. Angekommen sind bis jetzt von den erwarteten Völker-
schaften : Kirgisen, Baschkiren, Ostjaken, Samojeden, Wogulen,
Tscheremissen und Permjaken; andere treffen vielleicht noch ein.
In einer etwa drei Faden im Durchmesser fassenden runden
Filzjurte sitzt der Kirgise Wali Bajembajew in einem grünseidenen
Festtagschalat auf Teppichen mit untergeschlagenen Beinen vor
einem niedrigen Tischchen, dem eintretenden Publicum seinen Kumys
anpreisend; wir lassen uns von diesem uns etwas fremdartig munden-
den säuerlichen Getränk eine Schale reichen, bei welcher Gelegen-
heit uns Wali auch eine nähere Erläuterung über das Innere seiner
Jurte giebt und uns die an den Wänden hängenden Kleidungsstücke
und Gerätschaften zeigt. Wali stammt aus dem orenburgschen
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Die sibirisch-uralische Ausstellung in Jekaterinburg. 593
Gouvernement, spricht ganz gut russisch und ist. wie er uns er-
zählt, noch nicht verheiratet ; seinem zukünftigen Schwiegervater
habe er schon viele Pferde gestellt, könne aber die Tochter noch
immer nicht zur Frau erhalten, da man mehr von ihm verlangt ;
er werde ihm aber keine mehr geben, sondern die Tochter einfach
nach Kirgisenart entführen, und der Schwiegervater werde sich
bald darein finden. — Wir treten darauf in die nebenan stehende
Baschkirenjurte, in der es bei weitem nicht so sauber aussieht ;
Teppiche decken allerdings auch hier den Boden, alles hat aber
einen ärmeren Anstrich und die Kleidung ist etwas schmutzig ; in
der Lebensweise stimmen die Baschkiren mit den Kirgisen überein.—
Die Jurte des Ostjaken ist sehr primitiv : kegelförmig zusammen-
gestellte Stangen sind von zusammengenähter Birkenrinde umgeben,
der Fussboden nur mit einigen Brettern bedeckt, auf denen Felle
liegen, die zugleich als Nachtlager dienen ; in solchem Zelte ver-
bringt er auch den Winter, nur wird dasselbe hoch mit Schnee
bedeckt und oben allein bleibt eine kleine Oeffnung ; neben dem
Zelte liegt ein kleines Boot, das von einigen am Boote angeketteten
Hunden bewacht wird. Der üstjake ist noch Heide und trägt als
Abzeichen dessen einen Ring in seinen geflochtenen Haaren; in
den nächsten Tagen soll übrigens eine feierliche Taufe stattfinden,
da er sich bereit erklärt hat, die Orthodoxie anzunehmen. — Der
Samojede steht auf einer etwas höheren Stufe der Cultur ; sein Zelt
besteht aus Seehundsfellen, ist aber sonst ganz wie das des Ostjaken
gebaut ; auch im Inneren sieht es etwas ordentlicher und sauberer
aus, wenn man hier überhaupt von Sauberkeit sprechen darf ; eine
kleine Renthierheerde bildet sein Eigenthum ; jeden Sonnabend
findet auf dem Ausstellungsplatze und in den Anlagen eine sog.
Promenade (rvaaiibe) statt, dann zieht der Samojede seinen Pelz
an, spannt die Renthiere vor einen kleinen leichten Schlitten und
fährt einmal um den Ausstellungsplatz herum, so dass der Staub
emporwirbelt, die Thiere nur mit einem langen Stabe lenkend.
Die Unterhaltung mit diesen beiden Eingeborenen ist sehr schwierig,
da sie fast gar kein Russisch sprechen, nur mit Hilfe eines
Dolmetschers verständigt man sich mit ihnen. Es sind hier zwei
Ostjaken, und das Interessante dabei ist, dass sie sich auch gegen-
seitig nicht verständigen können und nur durch Pantomimen alles
andeuten. — Gegenüber der Samojedenjurte befindet sich eine aus
Brettern und Birkenrinde bestehende kleine, kaum vier Fuss hohe
Hütte : es ist die Sommerwohnung einer Wogulenfamilie, wie sie
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594 Die sibirisch-uralische Ausstellung in Jekaterinburg.
dieselben an den Ufern der Flüsse für die kurze Sommerzeit er-
richten, um zu jagen und zu fischen ; daneben sehen wir auch
Netze und verschiedene andere Geräthe zum Fischfang ausgestellt ;
an einem Pfosten hängt ein Feuersteingewehr primitivster Con-
struction, das aber so manches Stück Wild erlegt und die Familie
bis hierzu ernährt und gekleidet hat. Der Wogule spricht ein
wenig russisch, so dass man sich mit ihm besser verständigen kann ;
er erzählt uns, dass er aus der Gegend von Obdorsk zu Hause
sei, und dass dort auch mehrere Russen Goldwäschereien besitzen ;
die Wogulen selbst aber verstehen nicht das Gold aus dem Sande
zu waschen ; der Krone leisten sie jährlich einen Tribut, der haupt-
sächlich in Fellen von Zobeln und Eichhörnchen besteht. Für den
Winter ziehen sie sich in die Dörfer zurück, müssen aber den
Sommer über so viel jagen und fischen, dass sie im Winter keinen
Mangel leiden. In der letzten Zeit sterben sie sehr stark aus.
— Die Tscheremissen und Permjaken sind des Russischen ganz
mächtig; sie stehen auf einer bedeutend höheren Stufe der Cultur
als die eben genannten Wogulen ; der Tscheremisse hat sogar eine
für seine Verhältnisse sehr gute Schulbildung, da er zu lesen und
zu schreiben versteht.
Wir wenden uns jetzt der vierten Hauptabtheilung, der für
Montanunternehmungen und Hüttenindustrie zu. Dasselbe Gefühl,
das einen beim Hinabsteigen in einen tiefen, finsteren Schacht be-
schleicht, empfindet man auch hier beim Betreten dieser etwas
finsteren Hallen des Gnomenreiches; unheimlich hohe Säulen aus
Eisen ragen bis zur Decke empor und tragen entweder ein ge-
waltiges Eisendach oder verzweigen sich oben fächerförmig ; man ist
einigermassen in Verlegenheit, was man denn eigentlich in dieser
grandiosen Abtheilung zuerst betrachten soll ; ein räthselhaftes
Dröhnen und Knirschen vernimmt man im Hintergrunde, was den
ganzen Eindruck noch erhöht. Nachdem wir die Hallen zuerst
einigemal auf- und abgegangen sind, um uns einen, wenn auch zu-
nächst nur flüchtigen Ueberbiick zu verschaffen, beginnen wir
eine etwas systematischere Betrachtung. — Gold ist hier ja das
gewöhnliche Tagesgespräch, daher sind wol auch in dieser Ab-
theilung die Goldwäschereien an die Spitze gestellt; nicht alle
haben die Ausstellung beschickt, das Vorhandene genügt aber voll-
kommen, um einen vollen Einblick in die Goldproduction im Ural
zu gewähren. Durch pompöse Ausstattung zeichnet sich die Vitrine
der bekannten Beresowskschen Goldwäschereien aus, Astaschew
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Die sibirisch-uralische Ausstellung in Jekaterinburg. 595
& Comp, gehörig : wir finden hier ein Modell des ganzen Etablisse-
ments und eine Reliefdarstellung von Beresowsk und der nahe an-
grenzenden Goldwäscherei von Pyschminsk ausgestellt, ausserdem
Exemplare goldhaltigen Quarzes und goldhaltigen Sand. Auf
Quarzgold wird daselbst das ganze Jahr hindurch gearbeitet, und
die Ausbeute betrug im letzten Jahre aus 697000 Pud Quarz
17 & Pud Gold; aus den Seifenlagern wurden 22 Pud Gold aus-
gewaschen, und zwar wird auf Seifengold nur von Mitte Mai bis
zum October gearbeitet; in diesen Monaten beschäftigt die Fabrik
im ganzen 1790 Menschen. — An der etwas weniger reichhaltigen
Vitrine von Wassilewski aus dem orenburgschen Gouv., in der wir
auch eine Sammlung von in Seifenlagern gefundenen Gegenständen
aus dem Stein- und Bronzezeitalter finden, und einigen verbesserten
und neu erfundenen Apparaten für die Goldwäschereien vorüber
wenden wir uns den in vollem Gange befindlichen Quarzraühlen
normaler Grösse Ssimanows und der Gebrüder Podwinzew zu,
jenen Urhebern des vorhin erwähuten räthselhaften Geräusches.
Die Modelle beider orenburgschen Etablissements sind fast ganz
übereinstimmend. Wir sehen hier zwei mächtige in verticaler
Richtung im Kreise um ihre Achse parallel sich drehende, iu einem
grossen eisernen Gefässe befindliche Mühlsteine (Ö-ferynu), die den
am Boden des Gefässes befindlichen goldhaltigen Quarz zu feinem
Sande zermahlen ; auf diesen zermahlenen Saud ergiesst sich ein
Wasserstrahl, der den Sand über die amalgamirten Platten des
Waschherdes leitet, so dass die im Sande befindlichen Goldpartikel
sich auf die amalgamirte Fläche in Folge ihres schwereren specifi-
schen Gewichtes niedersetzen und dort vom Quecksilber aufgelöst
werden ; einmal wöchentlich werden die amalgamirten Platten ge-
wechselt und das Gold wird dann aus diesem Amalgam durch Ver-
dampfen des Quecksilbers gewonnen. Um einen vollständigen Ein-
blick in die Goldproduction zu geben, ist von Ssimanow, der jähr-
lich 9'/i Pud Quarzgold gewinnt, auch ein Schacht mit einigen
Stollengängen aus goldhaltigem Quarz erbaut, in den wir uns hinab-
begeben : das Innere stellt einen regelrechten Schacht dar, wie er
überall sich im Ural findet, wo Quarzgold verarbeitet wird ; der
aus solchen Schachten zu Tage geförderte Quarz kommt dann in
die geschilderte Quarzmühle. Der Unterschied zwischen einem
natürlichen Schacht und dem hier künstlich erbauten ist nur der,
dass man hier etwas bequemer hinabsteigen kann und keine Ströme
Wassers auf den Nacken bekommt, wie es in den wirklichen
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596 Die sibirisch-nralische Ausstellung in .Tekaterinburg.
Schachten der Fall ist. Eine getreue Nachbildung der ganzen An-
lage im Kleinen, welche auch in Gang gesetzt werden kann, ist
von dem Exponenten dem hiesigen Museum geschenkt. — Von
Wichtigkeit für die Goldproduction ist die von dem Goldwäscher
Selenkow aus dem Orenburgschen zur Anschauung gebrachte
Methode; dieselbe hat hier alle Goldwäscher stutzig gemacht und
kann noch von grosser Tragweite für die Goldindustrie des Ural
werden • Selenkow ist nämlich der erste Goldwäscher, der im Ural
den Versuch gemacht hat, aus Ohloritschiefer auf chemischem Wege
das Gold auszuscheiden. Schon früher hatte man hin und wieder
im Ohloritschiefer Spuren von Gold gefunden, aber in so fein ver-
theiltem Zustande, dass das specifische Gewicht der Goldpartikel-
chen beim Waschen gar nicht mehr in Betracht kam, dieselben
sich nicht setzten und in Folge dessen auf keine Weise mit dem
Quecksilber in Verbindung gebracht werden konnten. Daher hatte
man den Ohloritschiefer ganz bei Seite geworfen, den Goldgehalt
nicht weiter beachtet und überall nur auf Quarzgold gearbeitet.
Durch die von Selenkow angewandte Methode zeigt es sich jetzt
aber, dass man da ungeheure Reichthümer liegen gelassen hat, da
er auf diese Weise im Laufe kaum eines halben Jahres mit 80
Arbeitern mehr als 3 Pud Gold aus Ohloritschiefer gewonnen hat. —
Die hier genannten Etablissements befassen sich nur mit der Gold-
wascherei, während mehrere Hüttenwerke dieselbe gleichsam neben-
bei betreiben. Die Goldindustrie im Ural nimmt von allen Zweigen
der Montanunternehmungen immer noch die erste Stelle ein : über
42000 Menschen finden durch sie ihre Beschäftigung, und die
Gesammtproduction beträgt in der letzten Zeit gegen 578 Pud
jährlich, d. i. gegen 13 Millionen Rbl. Metall. Ueber 600 Fund-
stätten werden augenblicklich bearbeitet, von denen auf das perm-
sche Gouvernement etwas über 300 kommen ; der Rest entfällt auf
das orenburgsche Gouvernement. Zu bemerken ist, dass auf jeder
Fundstätte immer mehrere Gruben oder Schachte existiren.
Den zweiten Hauptzweig der Montanindustrie bildet die Eisen-
production, wenngleich nur die wenigsten Hüttenwerke ausgestellt
haben. Diejenigen aber, welche es gethan, haben alle von ihnen
gehegten Erwartungen übertroffen. Durch die Mittheilung einiger
allgemeiner Daten, die sich auf die gesammte Eisenindustrie im
Ural beziehen, wird man besser im Stande sein, das hier Exponirte
zu beurtheilen. Im Ural existiren augenblicklich für Eisen 59
Hüttenwerke mit 103 Hochöfen, die zusammen ca. 21 Millionen
Die sibirisch-uralische Ausstellung iu Jekaterinburg. 597
Pud Roheisen produciren ; davon entfallen etwa 18 Millionen Pud
auf private und 3 Millionen Pud auf Kronshüttenwerke. Sehen
wir zuerst von den letzteren ab, deren Production in den vorher-
gehenden Jahren zwischen 2 und 3 Millionen Pud schwankt und
letztere Ziffer erst in den letzten Jahren überschritten hat, so be-
wegt sich die gesammte Jahresproduction im Ural auf den privaten
Eisenhütten zwischen folgenden Zahlen: von 1875—77 von 15 bis
14 Millionen Pud und zwar in fallender Reihe, von 1878—80
zwischen 15 bis 16 Millionen Pud in steigender Reihe, von 1881
bis 1886 zwischen 15 und 18 Mill. Pud wieder iu steigender Reihe.
So ungeheuer diese Zahlen auch erscheinen mögen, so stellen sie doch
nur einen geringen Theil des Reichthums dar, der im Ural noch lin-
ausgebeutet daliegt. Nur einige Beispiele mögen genügen, da es zu
weit führen würde, sich über die unausgebeuteten Reichthümer im
Ural zu ergehen. Bei Nishue-Tagil erhebt sich ein hoher Berg, der
Magnetberg oder «grosse Berg> genannt, der aus reinem Magnet-
eisenerz besteht ; seit der Zeit Peters I. existiren dort schon Eisen-
hütten und die jetzigen verbrauchen jährlich in Ii Hochöfen gegen
4 Millionen Pud von diesem Erz, — eine Abnahme desselben ist
nur sehr wenig bemerkbar : noch steht der Berg in seiner ganzen
Grösse da, nur am Fusse der einen Seite sieht man eine steile
Wand, an der die Menschen gleich Ameisen arbeiten j so weit man
auch Untersuchungen in die Tiefe angestellt hat, immer ist man
auf dieses Erz gestossen. Aehnlich ist das Verhältnis bei dem
Berge Blagodatnaja in der Nähe von Kuschwa und bei einem anderen
mehr im Süden befindlichen Magnetberge. Auf der Ausstellung
finden wir hier Proben eiues in neuerer Zeit im Tscherdynskischen
Kreise entdeckten Lagers von Eisenerz — des denkbar reichsten,
denn es enthält 99 pCt. reines Eisen — ausgestellt, das fast gar
nicht oder doch nur in sehr geringem Grade ausgebeutet wird ;
auf der Ausstellung soll eben die Aufmerksamkeit auf dieses reiche
Lager gelenkt werden; und so liegen noch hundert andere Lager
da, die der Ausbeute harren. Bei rationeller Exploitation kann
Russland mit seinem Eisen Europa förmlich überschwemmen, statt
dessen bezieht es noch 30—40 pCt. seines Bedarfes aus dem Aus-
lande. Da taucht unwillkürlich die Frage auf, warum dieser Reich-
thum nicht exploitirt wird ? Die Antwort ist einfach die : es fehlt
erstens an sachkundigen, unternehmenden Capitalisten, uirl zweitens
ist die Goldwäscherei ergiebiger; wozu sich so sehr anstrengen,
da man das Gold ja leichter haben kann und dabei gar nicht so
BaltiMbo Monatsschrift, IUnd XXXIV. Höft 7- 40
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598 Die sibirisch-uralische Ausstellung in Jekaterinburg.
vieler Kenntnisse bedarf? Daher werfen sich die«meisten Capital isten
auf die Goldwäscherei ; zumal man auf diesem Felde auch mit ge-
ringerem Capital operiren kann. Als öffentliches Geheimnis gilt
es hier übrigens, dass kolossale Massen russischen Eisens ins Aus-
land gebracht und von dort unter fremdem Stempel wieder einge-
führt werden.
Betrachten wir nun die dem Schosse der Erde entnommenen
eisernen Schatze. Wir finden zunächst die Producte des Schai-
tanskischen Hüttenwerkes aus dem permschen Gouvernement. Die
Vitrine ist recht reichhaltig ; wir sehen feuerfeste Ziegelsteine und
verschiedene Sorten von Thon, dann folgen mannigfache Eisenerze
und die angewandten Flussmittel, Gusseisen, verschiedene Sorten
von Eisen &c. Dieses Hüttenwerk beschäftigt gegen 1300 Mann
und producirt mit einem Hochofen jährlich 300000 Pud Roheisen;
nebenbei wird, wie schon oben im allgemeinen erwähnt, auch etwas
Gold gewaschen, doch ist der Ertrag ein sehr geringer, ca. 20 Pfd.
jährlich ; viel bedeutender ist der Gewinn an Chroraeisenstein, von
dem jährlich etwa 350000 Pud abgesetzt werden. Interessant sind
die Producte der mechanischen Abtheilung dieser Fabrik und sehr
originell z. B. ein metallenes Ameublement. — Neben dieser gerade
nicht sonderlich auffallenden Vitrine erhebt sich die bedeutend
stattlichere des Rewdinskischen Hüttenwerkes, den Eingang in einen
alten griechischen Tempel darstellend. Dieses Hüttenwerk liegt
gleichfalls im permschen Gouvernement, südlich von Jekaterinburg
an dem Flüsschen Rewda, und es gehören zu demselben noch
mehrere Eise^ und mechanische Fabriken ; mit zwei Hochöfen
producirt es 400000 bis 450000 Pud Roheisen, ein im Verhältnis
zu anderen Hüttenwerken geringes Quantum, was aber dadurch
erklärlich wird, dass die Eisengewinnung nur auf Holzkohle und
die Eisen- und mechanischen Fabriken auf eine sehr geringe Wasser-
kraft zur weiteren Bearbeitung des Materials angewiesen sind.
Etwas Anderes ist es aber, wodurch sich diese Vitrine vor allen
anderen auszeichnet: sie ist die einzige, in der wir Nickel ausge-
stellt finden, angefangen von den Erzen dieses Metalles durch die
verschiedenen Bearbeitungsstufen desselben hindurch bis zum Nickel-
regulus ; ausserdem verschiedene aus Neusilber verfertigte Gegen-
stände, wie Aschenbecher, Schreibzeuge &c. Etwa 7 Werst östlich
von dem Rewdinskischen Hüttenwerk findet sich dieses bis hierzu
im Ural einzig bekannte Nickellager, das nach den Untersuchungen
des französischen Ingenieurs E. Boutan das reichhaltigste und vor-
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Die sibirisch-uralische Ausstellung in Jekaterinburg. 509
züglichste in ganz Europa ist, da das Erz dort weder Schwefel
noch Arsen enthält, «und um etwas Aehnliches zu finden.» fährt
Boutan in seinen Untersuchungen und Beschreibungen fort, <kann
man sich bis nach Neucaledonien begeben.» Die Nickelerze dieses
Lagers haben zu verschiedenen metallurgischen Versuchen Anlass
gegeben, leider sind dieselben fast alle unbefriedigend ausgefallen,
da sie von Personen ausgeführt wurden, die nicht die geringste
Kenntnis von einer rationellen Exploitation dieses Erzes besassen,
so dass das Nickelmetall sehr theuer zu stehen kam und man die
Production allmählich ganz einstellte. Und so harrt denn dieses
reiche Lager — einzelne Erze enthalten bis zu 15 pCt. reines
Nickelmetall — bis hierzu immer noch eines tüchtigen Fachmannes
zur rationellen Ausbeute. Interessant sind unter anderem in dieser
Vitrine noch zwei Stufen Lasursteine aus dem Tunkinschen Thale,
aus dem die Lasursteine auch für die Isaaksche Kathedrale geliefert
wurden, und ein mächtiger Nephritblock, der auf dem Rücken des
Sajanschen Gebirgszuges zwischen Munko-Daban und Munko-Sartyk
gefunden worden ist. In der kaiserlichen Schleiferei zu Jekaterin-
burg ist dieser Block durchgesägt und die eine Fläche desselben
polirt worden.
Aus dem wologdaschen Gouvernement sind die beiden Hütten-
werke von Kaschim, den Erben Benardakis gehörig, vertreten; zu
ihnen gehören noch mehrere Eisenfabriken zur weiteren Bearbeitung
des Rohmaterials ; das ganze Etablissement beschäftigt gegen 820
Arbeiter und liefert mit zwei Hochöfen jährlieh ca. 01300 Pud
Roheisen. — Unter allen Vitrinen zeichnet sich aber durch pompöse
Ausstattung und mannigfaltigen Inhalt die von Nishne-Tagil aus,
welches Etablissement unstreitig das grossartigste im ganzen Ural
ist. Einen antiken griechischen Tempel darstellend, tragen mächtige
Säulen aus Eisenbahnschienen ein gewaltiges eisernes Dach ; unter
demselben befindet sich auf einem grossen kupfernen Tisch ein
mächtiger Block Magneteisenerz, auf welchem sich ein sauber aus-
geführtes Modell eines Hochofens befindet ; ringsumher lagern ver-
schiedene Eisen- und Kupfererze, unter denen sich etliche Malachit-
blöcke auszeichnen , ferner die verschiedensten Producte dieses
Etablissements, und letztere sind mannigfaltig genug ; ausser Stahl
und Eisen liefert dasselbe noch Kupfer, Piatina und Gold. Malachit
findet sich nur in Nishne-Tagil von so vorzüglicher Qualität, und
was das Piatina betrifft, so ist wiederum Nishne-Tagil fast die
einzige Fundstätte dieses seltenen Metalls in Russland, die jährlich
40*
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GOO Die sibirisch-uralische Ausstellung in Jekaterinburg.
etwa 74 Pud liefert. Das ganze Etablissement beschäftigte in
letzter Zeit durchschnittlich jährlich 15H Tausend Menschen und
verbrauchte bei 11 Hochöfen an Eisenerzen etwa 4 Millionen Pud,
an Kupfererzen Über 2 Millionen Pud und producirte an Gusseisen
2300000 Pud, an Kupfer 45700 Pud, an Blattkupfer 2800 Pud,
an assortirtem Kupfer 400 Pud und an Eisen 1710000 Pud;
ausserdem wurden noch 15H Pud Gold gewonnen. — Mit den
Etablissements von Nishne-Tagil sind auf der Ausstellung auch die
von der Lunjewka vereinigt, so benannt nach dem Flusse Lunjwa,
an dem die Eisenhüttenwerke und Steinkohlengruben liegen. Letztere
besonders sind von grosser Wichtigkeit für die Eisenindustrie des
Ural. Als die Uraler Bahn noch nicht existirte, waren die Eisen-
hüttenwerke grösstenteils auf Holzkohle angewiesen und daher
war die Eisenproduction mehr oder weniger eine beschränkte ; jetzt
liegen die Verhältnisse anders. In neuester Zeit hat man auch
reiche Kohlenlager gefunden, die vorzügliche Kohle zum Vercoaksen
liefern, so dass dadurch einmal die Eisenproduction sich erweitern
konnte, dann aber dem Niederbrennen der ohnehin schon stark ge-
lichteten Wälder des Ural Einhalt gethan wird ; wiewol noch
immerfort verhältnismässig viel Holzkohle gebraucht wird. Die
Kohlengruben an der Lunjewka lieferten im letzten Jahre über
1H Millionen Pud Kohle. Ein anderes Lager, das man erst im
Herbste 1886 systematisch auszubeuten begonnen hat, liegt in dem
Eisenhüttenwerk Kamenski, an dem Flusse Isset ; aus diesem Lager
können jährlich über 3 Millionen Pud Kohle gewonnen werden und
dieselbe ist von vorzüglicher Qualität, liefert gute Coaks und kostet
pro Pud 6 Kopeken. Viele andere Kohlenlager aber liegen theils
noch unberührt, theils sind sie nur sehr sparsam angegriffen worden
und harren sehnsüchtig der Zukunft entgegen.
Kehren wir nach dieser Abschweifung zu den Eisenhütten-
werken zurück. Die Fürstin Abamelek exponirt in der folgenden
Vitrine Producte ihrer vier Eisen fabriken, dreier Kohlengruben und
ihrer Salzsiedereien. Sämmtliche Etablissements liegen im perm-
schen Gouvernement und beschäftigen etwa 3000 Personen ; die
vier Eisenhüttenwerke liefern etwa 7ä0000 Pud Gusseisen gegen
800000 Pud Eisen und über 100000 Pud Stangeneisen ; die Kohlen-
gruben weiden für die uralischen Verhältnisse ganz gut bearbeitet
und liefern etwa 3»/3 Millionen Pud Kohlen im Jahr; die Salz-
siedereien, die zu den ältesten des Ural gehören, liefern jährlich
gegen 1',, Millionen Pud. — Zu deu ältesten Etablissements zählt
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Die sibirisch-uralische Ausstellung in Jekaterinburg. 601
auch unstreitig das von Newjansk, gegründet im Jahre 1698, auf
welchem nicht nur Eisen — mit zwei Hochöfen jährlich etwa
250000 Pud Gusseis,eu ; ein verhältnismässig unbedeutender Ertrag,
da ein Theil des Magnetberges zu Newjansk gehört — sondern
auch viel Gold gewonnen wird. Letzteres beschäftigt hier ca. 1200
Personen und der Ertrag im letzten Jahre betrug 29 Pud und
35 Pfund. Seit 1820 bis 1886 sind hier 1265 Pud Gold erwaschen.
In der Vitrine ist diese Quantität durch eine grosse vergoldete
Kugel bildlich dargestellt. — Die Vitrine der sechs Fabriken von
Kyschtym ist sehr interessant und nächst der der Fabriken von
Slatoust am besuchtesten, da das Publicum in diesen beiden Vitrinen
kleine Einkäufe zur Erinnerung an die Ausstellung machen kann.
In der ersten Vitrine finden wir die verschiedensten Dinge aus
Gusseisen ausgestellt, von den kleinsten Aschenbechern und Leuch-
tern bis zu den grössten Candelabern, Büsten. Kaminen &c, alles
zu einem verhältnismässig billigen Preise. Die sechs Fabriken von
Kyschtym beschäftigen im ganzen über 5300 Arbeiter und produ-
ciren über 732000 Pud Eisen ; Gegenstände aus Gusseisen werden
im Gewichte von 92000 Pud jährlich angefertigt. — Die nebenan
stehende Vitrine, die der Fabriken von Slatoust, bietet einen statt-
lichen Anblick dar: an den vier Ecken sind in hübscher Gruppi-
rung die verschiedensten Stoss- und Hiebwaffen aufgestellt ; die
Kuppel der Vitrine wird von einer Sonne gekrönt, deren Strahlen
aus blanken Rappieren bestehen. In der Vitrine finden wir die
verschiedenartigsten Gegenstände, Watten, wie Dolche, Jagd-
messer &c, chirurgische Apparate und Bestecke, vernickelte und
versilberte, ferner Gegenstände aus Gusseisen, auch Granaten,
Bomben &c. ; es würde zu weit führen, alles namentlich anzuführen.
Slatoust, das russische Sheffield, geniesst auch ausserhalb der russi-
schen Grenze einen bedeutenden Ruf und hat denselben auf mehreren
internationalen Weltausstellungen begründet. Die sämmtlichen sechs
Fabriken produciren gegen 1'/» Million Pud Gusseisen, 235000 Pud
verschiedenes Eisen, Geräthe und Gegenstände aus Gusseisen im
Gewichte von 80000 Pud, Gegenstände der Mechanik aus Guss-
eisen und Stahl im Gewichte von 10000 Pud, Bomben und Granaten
im Gewichte von 70000 Pud. — Aus dem wjatkaschen Gouvernement
sind die Eisenhüttenwerke vou Holunizscheu und die Wotkiuschen
, Fabriken vertreten. Die Zahl der ersteren beträgt vier, und es
sind dort über 6000 Personen beschäftigt, und über 2 Mill. Pud
Eisenerz kommen in denselben zur Verarbeitung ; auf den Wotkin-
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002 Die sibirisch-uralisehe Ausstellung in Jekaterinburg.
scheu Fabriken arbeiten über 5000 Mann. Aus dem permsclien
Gouvernement finden wir noch die grossartigen Vitrinen der Hütten-
werke Ssysery und Werchissetsk. Erstere, sechs an der Zahl, be-
schäftigen 6400 Mann und verbrauchen gegen 2 Millionen Pud
Eisenerz ; letztere arbeiten in elf Anstalten mit über 9000 Mann
und verbrauchen jährlich über 27a Millionen Pud Eisenerze. Da-
neben wird auch Gold in recht beträchtlicher Menge gewonnen ;
die Ausbeute des letzten Jahres betrug 45 Pud ; in der Vitrine
ist eine gewaltige Pyramide von vergoldeten Platten erbaut, welche
die jährliche quantitative Masse des bisher gefundenen Goldes bild-
lich darstellen; die Gesammtausbeute von 1813-87 beträgt fast
2635 Pud. — Aus dem ufaschen Gouvernement hat das Hüttenwerk
von Beloretzk die Ausstellung beschickt ; desgleichen sind mehrere
Kronsfabriken und Kronshüttenwerke vertreten, z. B. die gross-
artige Kanonenfabrik von Motowilicha bei Perm und das Krons-
hüttenwerk von Kamenski. das hauptsächlich für die russische
Krone Bomben und Granaten liefert.
Neben der Eisenproduction ist noch die des Kupfers im Ural
von grosser Bedeutung: im ganzen Ural werden durchschnittlich
jährlich gegen 5 Vi Millionen Pud Kupfererze verschmolzen und
etwa 234240 Pud Kupfer gewonnen ; das grosste Contingent davon
entfällt auf Nishne-Tagil ; nächstdem sind die auch auf der Aus-
stellung vertretenen Etablissements von Bogojawlenski und VVercho-
turje von Bedeutung, welche jährlich gegen 11250 Pud Kupfer
produciren. — Nicht zu übersehen ist in dieser Abtheilung die
jüngste Montanunternehmung und auch zugleich die einzige ihrer
Art in Russland, das Etablissement der Gesellschaft Auerbach &
Comp, zur Gewinnung metallischen Quecksilbers; dasselbe ist erst
im Jahre 1886 im jekaterinoslawscheu Gouvernement eröffnet und
wird wol in Zukunft für die Goldgewinnung von grosser Wichtig-
keit sein ; es beschäftigt gegenwärtig 200 Personen.
Wir verlassen mit voller Befriedigung die grossartige Aus-
stellung für Montanweseu und wenden uns der Abtheilung für
Gross- und Kleingewerbe zu. Diese gewährt uns einen sehr guten
Einblick in die derzeitige Industrie des Ural, die, nach den hier
ausgestellten Producten zu urtheileu, den Vergleich mit der Industrie
im Westen einigermassen schon aushalten kann.
Eine eingehendere Beschreibung des hier Ausgestellten würde
zu weit führen, zumal hier ja nur wenige Producte vorkommen, die
dem Ural specifisch eigen sind und nicht auch auf jeder anderen
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Die sibirisch-uralische Ausstellung in Jekaterinburg. G03
Ausstellung vertreten wären ; es finden sich hauptsächlich Producte
der Woll- und Baumwollfabrikation, der Papier-, Glas-, Fayence-
und Thonfabrikation, Producte der Talg-, Seifen- und Lederindustrie,
letztere in besonders grosser Auswahl, ferner chemische Producte,
Gegenstände und Apparate der Elektrotechnik, Producte der Möbel-
fabrikation, der Juwelierkunst, der Edelsteinschleiferei &c. Die
Producte der letzteren Gruppe zeichnen sich vor allem aus und
verfehlen nicht einen gewaltigen Eindruck auf das Publicum zu
machen ; mehrere Grosshändler haben hier ihre von Edelsteinen
funkelnden Vitrinen ausgestellt, die fast immer umlagert sind; die
kaiserliche Edelsteinschleiferei in Jekateriuburg hat eine gewaltige
Grotte aus allen im Ural sich findenden und zur Verwendung
kommenden Steinen, Halbedelsteinen und Edelsteinen erbaut, die
den Eingang in die Montanabtheilung ziert; vor dieser Grotte
stehen zwei gewaltige aus ßubellan gefertigte Vasen und ver-
schiedene andere kleinere, sehr kunstvoll gearbeitete Sachen der
kaiserlichen Schleiferei.
Die folgende Abtheilung, die der Hausindustrie, ist wol nächst
der Montauabtheilung die anziehendste. Da die Producte nach den
verschiedenen Kreisen der Gouvernements geordnet sind uud gegen
tausend Aussteller sich au der Sammlung betheiligt haben, so bieten
dieselben ein ganz gutes Material für das Studium der Haus-
industrie Ostrusslands dar. Wir greifen das Interessanteste und
dem Ural specifisch Eigene heraus, nämlich die Edeisteinschleiferei.
Sämmtliche verschliifene Edelsteine des Ural, die in die weite
Welt hinauswandern, auch die, \felche sich in der Vitrine der iu
der vorhergehenden Abtheilung genannten Grosshändler befindeu,
sind Producte der Hausindustrie ; man sollte es gar nicht glauben,
mit wie einfachen, primitiven Mitteln Korunde, Saphire, Smaragde,
Berylle, Topase, Zirkone &c. ihre Facetten und ihre Politur er-
halten. Ein Theil der Edelsteinschleifer arbeitet auch hier auf
der Ausstellung vor den Augen des Publicums, so dass sich jeder
in diese einfachen Geheimnisse einweihen lassen kann. Mit der
rechten Hand setzt der Steinschleifer eiu kleiues Schwungrad in
Bewegung, das seinerseits wieder eine in horizontaler Ebene rotirende
Scheibe treibt, auf der mit gemeinem Korunde die iu einem
Quadranten befestigten Edelsteine geschlitfen und mit Trippel
polirt werden. An einzelnen Tagen sind diese Edelsteinschleifer
förmlich umlagert, da sie die verschliffenen Steine auch gleich ver-
kaufen, und obgleich der Preis iu diesem Jahre in Folge der Aus-
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604 Die sibirisch-uralische Ausstellung in Jekaterinburg.
*
Stellung ein bedeutend höherer ist, so machen sie doch in Edel-
steinen ein glänzendes Geschält, da der Preis der hier verkauften
Steine immer noch ein geringerer ist als der in den grossen
Magazinen anderer Städte.
Die Abtheilung für Land- und Forstwirtschaft, Gärtnerei,
Jagd und Fischfang bietet einiges Interessante dar, speciell für
einen Landwirth, der die hier vom Westen abweichenden land-
wirtschaftlichen Verhältnisse studiren will ; an neuesten landwirt-
schaftlichen Maschinen mit Dampfbetrieb ist natürlich sehr wenig
vorhanden, das Vorhandene überhaupt ziemlich primitiv und natür-
lich mehr den hiesigen Verhältnissen angepasst. Von einer syste-
matischen Forstwirtbschaft kann man im Ural auch gerade nicht
viel reden, da die Wälder bisher ziemlich unbarmherzig nieder-
gehauen worden sind und man erst in letzter Zeit zur Einsicht
gekommen ist, dass es so doch nicht fortgehen kann. Die Unter-
abtheilung für Jagd und Fischfang ist in so fern interessant, als
hier auch die Jagd- und Fangapparate vieler Eingeborenen des
Ural und Sibiriens anzutreffen sind. — Die Abtheilung für im-
portirte Waaren bietet nichts dar, was man nicht auch in jeder
grösseren Stadt in den grossen Magazinen und Niederlagen finden
kann : verschiedene Möbel und Maschinen, Weine und Spirituosen,
Apothekerwaaren, Kleidungsstoffe &c.
Die speciell sibirische Abtheilung zählt verhältnismässig wenig
Exponenten, gewährt aber gleich wol einen Einblick in die Industrie
dieser ultima Thüle. Wir finden hier einiges ethnographische
Material für einige nordische sibirische Völkerschaften, dann aber
auch Producte verschiedener Montauunternehmungen, wie Eisen,
Kupfer, Silber und deren Erze, goldführenden Sand und gold-
führenden Quarz, ferner verschiedene speciell mittelasiatische Industrie-
producte, wie z. ß. baumwollene, wollene und seidene Stoffe &c.
Vou der Kunstabtheilung lässt sich auch gerade nicht viel
mehr sagen, als dass sie nur dem Namen nach existirt, denn ausser
mehreren Bildern von Kasanzew aus Petersburg hat diese Ab-
theilung nichts Besonderes aufzuweisen, es sei denn, dass ein Ge-
mäkle, die Grablegung Christi, welche von den Nonnen des hiesigen
Klosters gemalt ist und deren Figuren von der Last der ange-
brachten natürlichen Edelsteine umzufallen drohen, den eigentüm-
lichen Geschmack in der religiösen Malerei documentirt. — Inter-
essanter ist schon die Abt heil ung fürs Lehrfach, die die Arbeiten
aus den Knaben- und Mädchenschulen des permschen Gouvernements
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Die sibirisch-uralische Ausstellung in Jekaterinburg. 605
dem Publicum vorführt. Unter denen der Knaben zeichnen sich
besondere die Zeichnungen der Realschüler aus, und unter denen
der Mädchen natürlich die Handarbeiten. Dann erregen ferner
noch die mechanischen Arbeiten aus den technologischen Schulen
und Instituten allgemeines Aufsehen. — Damit hätten wir den
Rundgang durch die Jekaterinburger Ausstellung beendet, die,
wie schon anfangs gesagt, im allgemeinen wider Erwarten gut
ausgefallen ist und den Besucher vollkommen befriedigt. Hoffen
wir, dass dieselbe von wohlthätigen Folgen für den Ural und
Sibirien begleitet sein wird.
Alexander S i m o n s o n.
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Der Adel in Russland.
Historisch-ethuographische Studie.
(BhcTiiiiKL Euponu XXII r. Kitar. 3. 4. 5.)
^(T^elegentli. h der Reformen in der Organisation der laud-
tl*&£** schaftlichen Gouvernements- und Kreisverwaltung, die von
der russischen Presse vielfach besprochen wurden, ist es wiederum
der «Westnik Jewropy», unbestritteuermassen das bedeutendste,
bestredigirte Journal Russlands, welcher eine Reihe von Artikeln
über diese Frage brachte, die in erschöpfender Weise den Beweis
dafür zu liefern suchten, dass in Russland auf ständischer Basis
keine Administration denkbar sei. Insbesondere derjenige Stand,
welcher in erster Linie die Leitung der Kreisverwaltung über-
nehmen sollte — der russische Adel, wurde in seiner historischen
und socialen Bedeutung auf das eingehendste beleuchtet, um dann,
auf Grund dieser gründlichen Ausführungen, als gänzlich ungeeignet
für die leitende Rolle in der reorganisirten Administration erklärt
zu werden.
Die nachstehenden Zeilen verfolgen den Zweck, dem deutschen
Leser die Grundzüge der erwähnten Artikel zu übermitteln und
in verkürzter Form diese Beiträge zu einer Geschiebte des Adels
in Russlaud zu reproduciren. Das reiche statistische und histori-
sche Material, welches Herr Sch . . . . , der Verfasser dieser
Aufsätze, seinen Lesern im «Westn. Jewropy» vorführen durfte,
kann bei dieser Reproduction jedoch nur in seinen Resultaten be-
rücksichtigt werden, um die Geduld des deutschen Publicums nicht
auf eine zu harte Probe zu stellen.
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Der Adel iu Russland.
G07
Vergleichen wir die Aufänge stäudischer Institutionen in der
Geschichte Russlands mit gleichartigen Erscheinungen iu den west-
europäischen Staaten, so muss uns die gänzliche Verschiedenheit
in der Gestaltung des politischen Lebens hier und dort auffallen.
Im Westen war es der ununterbrochene Kampf der verschiedenen
Gesellschaftsklassen, welcher dem politischen Leben dieser Staaten
zu Grunde lag. Im Mittelalter beherrschte der feudale Adel als
Grossgrundbesitzer gemeinsam mit der höheren Geistlichkeit die
anderen Stände, bis die gewerbliche und commerzielle Thätigkeit
der Städte das Bürgerthum, die Bourgeoisie, zu einer socialen
Macht gestaltete, die den Kampf gegen die feudalen Privilegien
aufnehmen konnte und schliesslich dem dritten Stande zum Siege
verhalf. In der neuesten Zeit endlich scheint die Arbeiterbevölke-
rung ihrerseits bestrebt, den Schwerpunkt des politischen Lebens
in die Hand der besitzlosen Masse zu verlegen und dem vierten
Stande zu der massgebenden Bedeutung im Staatsleben zu verhelfen.
Iu der Geschichte Russlands finden wir nichts diesem socialen
Ringen um die Vorherrschaft Entsprechendes ; zwar fehlt es auch
hier nicht an aufständischen Bewegungen und an iuueren Wirren,
diese tragen aber keineswegs den Charakter ständischer Bestrebungen
und es mangelt ihnen das politische oder sociale Programm ; die
Initiative zu diesen Aufständen ergriffen gewöhnlich die Kosaken
unter der Anführung raublustiger Usurpatoren oder Banditen, wie
Stenjka Rasin und Pugatschew, und diese Bewegungen trugen das
Bauner der politischen Pseudo-Autorität zur Schau. Als die russi-
sche Intelligenz begann ein bestimmtes Programm ihren Bestrebun-
gen zu Gruude zu legen, fanden diese Ideen beim eigentlichen Volk
keinen Anklang. Bei einer Parallele zwischen dem politischen
und socialen Leben Russlands und Westeuropas begegnen wir
daher ganz entgegengesetzten Erscheinungen : das sociale Leben
bildet im Westen den Schlüssel zu den verschiedenen Epochen der
politischen und historischen Entwickelung ; in Russland dagegen
erhalten die socialen Klassen ihre Gestaltung und Organisation
erat von der politischen Macht, der Regierung. Wir brauchen
nur einen Blick auf die russische Geschichte zu werfen, um uns
von der Wahrheit dieser Behauptung zu überzeugen.
In der ältesten Periode finden wir keine Hiuweise auf ge-
schlossene, erbliche, gesellschaftliche Gruppen mit politischen und
socialen Privilegien. Die «Russkaja Prawda>, die auf Befehl
Jaroslaws I. im elften Jahrhundert zusammengestellte Gesetz-
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G08
Der Adel in Russlaud.
Sammlung, kennt weder nationale, noch sociale Unterschiede : die
gleiche Geldbusse vou 40 Griwen wird für die Tödtung eines
Russiuen, Kaufmanns, t Schwertträgers* &c. festgesetzt. Die Nach-
folger dieses Grossfürsten machen in der von ihnen zusammenge-
stellten tPrawda» bereits Unterschiede, denn die Strafzahlung für
den Mord eines fürstlichen Richters (thbvui), Stallmeisters, endlich
des Herdbürgers (ornumauHUb) wird auf 80 Griwen fixirt. Die
letztere Bezeichnung deutet wol auf Personen hin, die sich im Be-
sitz eines eigenen Herdes, eines Stück Landes und einiger Sclaven
befanden und lässt auf die Ansässigkeit dieser Klasse schliesseu,
während der etwas später auftretende Name «Bojarin» (CojapHui,
vermuthlich von 6o.iifl, Öojbuiifl abgeleitet) sich auf Männer bezieht,
die im persönlichen Dienste des Fürsten oder auch des Landes
eine hervorragende Stellung einnahmen — ohne dass dieser Titel
oder die Zugehörigkeit zu der fürstlichen Drushina erblich über-
tragen wurde. Formuliren wir die sociale Gestaltung der Bewohner
Russlands in dieser ältesten Periode seiner historischen Existenz,
so lässt sich behaupten, dass hier etwa folgende Berufsklassen be-
standen : die Drushinniki (Glieder des fürstlichen Gefolges), Kauf-
leute, Landbesitzer und Geistliche — es fehlte aber jegliche Ab-
grenzung unter diesen Gruppen, es mangelte an Ständen mit
socialen und erblichen Privilegien — dieser Mangel an streng-
gezogenen Grenzen ist bekanntlich für das altslavische Leben stets
charakteristisch gewesen. Von Bestrebungen, die etwa den Zweck
gehabt hätten, eine ständische Individualisirung zu erreichen, ist
auch späterbin nichts zu spüren ; die Errichtung ständischer
Schranken war in Russland die Aufgabe der Staatsgewalt und
eiue so schwierige Arbeit, dass ihre Ausführung fast die gauze
moskowitische Periode in Anspruch nimmt : die Organisation des
Beamtenstandes, die Zutheilung von Ländereien an denselben, die
Vorschriften, durch welche die Bauern mehr und mehr an die
Scholle gefesselt und von der Willkür der Gutsbesitzer abhängig
gemacht wurden, die Einfügung der auf Staatsländereien in Flecken
und Vorwerken lebenden Freien in das Hörigkeitsverhältnis — alle
diese Massregeln bezweckten die Errichtung ständischer Schranken
und gingen einzig und alleiu von den Zaren aus. Nur dem Druck
der politischen Gewalt ist es zuzuschreiben, wenn die Unterschiede
zwischen den Berufszweigen und der Vermögenslage der ver-
schiedenen Gruppen schliesslich in juristisch oder politisch be-
stimmte Rahmen gefügt wurden ; massgebend blieb dabei in jener
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Der Adel in Russland.
G09
Zeit das Bestreben, die Stäude durch ihre Beziehungen zum Grund-
besitz zu charakterisiren, das sociale Leben trug an seiner Stirn
die Worte <Kp1uiocTL», cupHKptiueuie». Als die Bauern das Recht
einbüssten, ihre Wohnplätze und ihre Herren nach freier Wahl
zu wechseln, wurden sie Leibeigene (Kp-fenocTHue j»ab) und die
Nachkömmlinge der Theilfürsten, welche in die Dienste des mosko-
witischen Zaren traten, sagten von sich, dass sie «b^ajih KptnocTt».
Die Standesunterschiede wurden nicht aus socialen oder politi-
schen Gründen fixirt, sondern verdankten ihre Entstehung einfach
gewissen militärisch-flskalischen Anforderungen: der Staat bedurfte
eines Heeres und materieller Mittel, um sich erhalten zu können;
jeder Bürger musste den Staatszwecken dienstbar gemacht werden
entweder durch persönliche Arbeit in Krieg und Frieden oder als
Steuerzahler. So unterscheiden sich die socialen Gruppen der
moskowitischen Periode nur in ihren Pflichten gegen den Staat,
während sie in Westeuropa bestrebt waren Vorrechte und
Privilegien zu erwerben ; diese bildeten die Basis der Standes-
unterschiede - während im moskowitischen Zarthum die Pflichten
massgebend blieben. Hier zerfiel die Bevölkerung in zwei Haupt-
gruppen : die der Wehrpflichtigen und die der Steuerzahler, welche
jedoch erst zu Ende des 17. Jahrhunderts allendlich geschieden
wurden. Die ständischen Adelsprivilegien bildeten den Schlussstein
in dieser künstlichen Errichtung socialer Schranken, vor zwei
Jahren konnte erst das hundertjährige Jubiläum derselben begangen
werden; ist es daher wunderbar, wenn das Standesbewusstsein auf dem
Boden dieser Privilegien keine tiefen Wurzeln hat schlagen können ?
Als Resultat dieses Rückblicks auf die ältere Geschichte
Russlands ergiebt sich, 1) dass die ständische Gliederung durchaus
keine althergebrachte ist, sondern nicht einmal auf dreihundert
Jahre sich zurück erstreckt, selbst wenn man die Periode der
staatlichen Grundsteinlegung für die Eintheilung in Stände mit
hinzurechnet; 2) dass die Stände nicht durch die eigene Entwicke-
lung der Bevulkerungsklassen. sondern durch Regierungsmassregeln
künstlich ins Leben gerufen weiden mussten ; 3) dass der Mangel *
jedes ständischen Selbstbewusstseins in dieser Entstehung der
socialen Klassen seine Erklärung findet; 4) dass die Existenz
privilegirter Stände dem alt-moskowitischen, vorpetrinischen Russ-
land ganz fremd ist und 5) dass die sociale Entwicklung West-
europas in keiner Beziehung mit derjenigen Russlands verglichen
oder ihr an die Seite gestellt werden kann.
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610
Der Adel in Rassland.
Um die Macht des privilegirten Standes, des ritterlichen Adels,
zu brechen, um das aristokratische Princip niederzuwerfen, be-
durfte Westeuropa einer ungeheuren literarischen Propaganda, eines
Zeitraumes von fast hundert Jahren, einer Reihe von blutigen,
revolutionären Bewegungen. Bis zu der Aufhebung der Leibeigen-
schaft war der Adel in Russland als socialer Factor fast mächtiger,
bedeutender als die Aristokratie des Westens im 18. Jahrhundert;
der Grundbesitz, die Bauern, der Staatsdienst und die Bildung —
alles lag in seinen Händen. Dennoch erfolgte der Verlust seiner
ganzen äusseren Bedeutung ungewöhnlich schnell, fast unerwartet —
als einfache folgerichtige Notwendigkeit.
Wenden wir uns, nach diesem kurzen Ueberblick über die
Bildung der Stände in Russland, dem Process der Entwicklung
des Adels zu, so finden wir, dass hier die grundbesitzende Klasse sich
lange Jahre hindurch nicht zu entwickeln vermochte, nachdem sie
jedoch durch die Regierung constituirt worden war, den Charakter
eines Beamtenthums annahm, welches sich den Zaren unbedingt
unterordnete, während der Adel Westeuropas, nach einer selb-
ständigen politisch-socialen Existenz strebend, sich als Peers oder
ReichsfUrsten neben die monarchische Gewalt zu stellen bemüht
war. Der Adel hat in Russland niemals ein selbständiges Dasein
geführt; das Mitglied der fürstlichen Drushina war schoirin der
ältesten Periode ein freier Mann, d. h. er konnte den Fürsten ver-
lassen, wenn er mit demselben unzufrieden war ; als jedoch Russ-
land ein einiger Staat wurde und der freie Mann nirgend mehr
einen Herrscher ausser dem Zaren finden konnte, horte dieses Recht
des freien Nomadisirens innerhalb der Grenzen des Staates auf eine
praktische Bedeutung zu haben.
In der Geschichte des russischen adeligen Standes oder,
richtiger gesagt, der Klasse der Staatsdiener lassen sich drei
Perioden unterscheiden: die der freien Drushinniki in der Zeit der
Theilfürstenthümer ; die der Staatsdiener, organisirt von den mosko-
witischen Zaren, und die der Gutsbesitzer und Edelleute, welche von
dem obligatorischen Staatsdienst befreit waren und bedeutende
Standesprivilegien erhielten in der «kaiserlichen» Periode.
Die grossen Staaten Westeuropas entstanden während und
nach der Völkerwanderung dadurch, dass die Eroberer den Grund-
besitz unter einander vertheilten und ihre Nachkommen das Gebäude
ihrer feudal-aristokratischen Machtstellung, gestützt auf die ökono-
mische Bedeutung des Landbesitzes, späterhin vollendeten. Der
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Der Adel in Russland.
611
Beginn der russischen Geschichte weist keine ähnlichen Erscheinun-
gen auf — das Häuflein von Warägern, die, ihren Fürsten be-
gleitend, in Nowgorod erschienen, hat doch so gut wie gar nichts
zu bedeuten, verglichen mit der zahlreichen Bevölkerung und der
ungeheuren Ausdehnung der skythischen Ebene. Als im elften
Jahrhundert die beständigen Streitigkeiten und Fehden der Theil-
ftirsten eine fortwährende Verschiebung der Grenzen, einen endlosen
Wechsel des Besitzstandes hervorriefen und die Ueberfälle der
wilden Nomadenvölker der Petschenegen, Polowzer u. a. die allge-
meine Unsicherheit bis aufs äusserste steigerten — fehlten that-
sächlich alle Grundbedingungen zur Begründung dauernder Besitz-
verhältnisse und socialer Gestaltung. Um fortbestehen zu können,
musste der russische Staat seinen Schwerpunkt von der südwest-
lichen Grenze mehr nach Norden verlegen, um in den Wäldern
und Sümpfen der centralen Zone vor den mongolischen Verwüstun-
gen Schutz zu suchen. Es ist daher verständlich, wenn die kiewsehe
Periode der russischen Geschichte die Gründung eines feudalen,
grundbesitzlichen Adels nicht ermöglichte, weil 1) weder die Völker-
wanderung noch eine Eroberung des Landes die Gründung des
Staates hervorrief, 2) weder der Grundbesitz noch die Bebauung
des Landes einigermassen gesichert war, 3) die Fürsten mit ihren
Drushinen beständig aus einem Gebiet in das andere umherzogen
und 4) die Drushinen nach eigener Wahl von einem Fürsten zu
dem anderen übergehen konnten.
So spärlich uns auch die Berichte der Chroniken jener ältesten
Periode über das Leben der Städte und Dörfer in dem kiewschen
Grossfürstenthum erhalten sind, in einer Beziehung lauten sie
doch deutlich genug und motiviren genügend, warum die Drushin-
niki keine Veranlassung hatten, auf die Erwerbung von Grund-
besitz bedacht zu sein. Das Faustrecht und die beständigen Ver-
wüstungen der Dorfschaften Hessen nicht einmal eine feste Be-
stimmung der besitzlichen Grenzen zu, die so weit reichten, cals
das Beil, die Sense und der Pflug gingen». Aus dem oben Be-
merkten ist es ferner erklärlich, wenn fast alle Hinweise auf den
Besitzstand der Bojaren sich auf das nördliche Russland beziehen
und auch hier nur selten und von solchen Gütern die Rede ist,
welche unweit einer Stadt belegen waren. Die Macht der Drushina
bestand also weder in Grundbesitz und Reichthümern, noch in
erblichen Titeln und ständischen Privilegien — sondern einzig und
allein in den nahen Beziehungen zu der Person des Fürsten in
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612 Der Adel in Russland.
der Bedeutung, welche ihr der Wille des Monarchen verlieh. Dieses
absolute Fehlen jeglicher feststehender, gesellschaftlicher Klassen
war denn auch der wichtigste historische Factor für die Entstehung
der Selbstherrschaft (cauoAepxaBic).
Als durch diese Uebersiedelung der grossfürstlichen Residenz
nach Norden die politischen und persönlichen Beziehungen der
Fürsten an Stabilität gewannen, den Charakter der Sesshaftigkeit
zeigten, werden die niederen Diener des fürstlichen Hofes «Aßopaue»
genannt, ohne dass diese Bezeichnung damals dem deutschen Aus-
druck «Edelmann» entsprach. Im Jahre 1175 sagte die Wosskres-
senskische Chronik bei Gelegenheit der Schilderung der Ermordung
des Grossfürsten Andrei Bogoljubski : «die Bürger und Hofdiener
(ABopsue) plünderten den Palast» ; wir begegnen hier zum ersten-
mal diesem Ausdruck, der jetzt zur Bezeichnung der grundbesitzen-
den Klasse der Staatsdiener geworden ist. Seitdem die Fürsten-
sitze ihre beständigen Residenzen hatten, begann das Bojarenthum
allmählich erblich zu werden, der Ausdruck «Bojarensöhne» (6oap-
ckiji aeth) kommt häufig in Anwendung und wechselt mit dem
Wort «ABopaiiHHi», Hofdiener oder Hofbeamter, ab, wenn diese
Bojarensöhne in der Umgebung des Fürsten Verwendung fanden.
Erbliche Familiennamen bestanden bis zum 14. Jahrhundert noch
nicht, die Bojaren führen den Vatersnamen, wie z. B. Feodor
Andreje witsch, Iwan Feodorowitsch &c. Reichte diese Bezeichnung
nicht aus, so kamen Beinamen in Anwendung, die fast immer einen
gewissen Spott zum Ausdruck bringen. So erhielt der Sohn des be-
kannten Bojaren Iwan Kaiita den Beinamen «Katze» (Koinsa), einer
seiner Enkel hiess der «Zahnlose» (Be33y<5en,T>), ferner finden sich
primitive Spitznamen wie: Hals (Ulea), Backe (U^eKa), Hinkfuss
(XpoMofl), der nacktfüssige Wolf (Bocobojokobi) u. dgl. m
Die weitere Entwicklung dieser neu organisirten Beamten-
klasse unter Iwan III. und Iwan IV. bestand in folgenden Mass-
regeln : 1) die freien Männer verloren das Recht den grossfürst-
lichen Dienst zu verlassen; 2) sie erhielten Landstücke zu ihrer
persönlichen Benutzung gegen die Verpflichtung, ihrem Herrscher
zu dienen ; 3) das moskowitische Hofbeamtenthum i b pahctbo)
wurde organisirt und an der südlichen Grenze (yicpaflna) eine
Grenzwache ins Leben gerufen ; 4) es wurde festgesetzt, wie viel
Männer von jedem einzelnen Grundstück für den Kriegsdienst zu
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Der Adel in Russland.
ßl3
stellen seien ; 5) der Uebergang der Bojarensöhne und der Nach-
kommen von Staatsdienern unter die Leibeigenen wurde verboten
und die Bezeichnung c^Bopainiuti dadurch verallgemeinert und zu
einer ehrenvollen Bedeutung erhoben.
Die beiden oben erwähnten Monarchen Hessen es sich ange-
legen sein, durch Zutheilung von Landbesitz ihre Diener an sich
und den moskowitischen Staat zu fesseln, indem sie besonders be-
strebt waren, dieselben in ihrer Nähe, in der Umgegend von Moskau
festzuhalten. Iwan IV. (der Schreckliche) befahl im Jahre 1550,
dass die Bojaren und ihre Söhne nicht weiter als 60 — 70 Werst
von der Residenz ansässig sein dürften ; die Zaren bedurften ihrer
für den Dienst bei Hofe, in den Rathsversammlungen, für ver-
schiedene Sendungen und Aufträge. Diese landbesitzenden Beamten
bildeten den Moskauer Adel und geuossen gewisser ständischer
Privilegien. Die Summe der Vertheilungen von Landbesitz wird
gegen Ende der Regierung Iwans des Schrecklichen auf mehr als
50 Millionen Tschetwert Land, die Zahl der belehnten Staatsdiener
auf 13— 15000 geschätzt.
Eine Folge dieser materiellen Sicherstellung der durch diesen
Act privilegirteu Beamtenklasse war unter anderem auch die Ver-
änderung, welcher allmählich die Bedeutung des Ausdrucks cjibo-
paiiiMt» unterworfen wurde; f^BopauHUL» hiess von jetzt ab ein
Staatsdiener, welchem ein Grundbesitz, ein Hof (wopt) zugetheilt
worden war und der sowol in eigener Person, als auch durch ein-
gelieferte Leibeigene Wehrpflicht abzuleisten sich verpflichtete.
Der Uebergang von Mitgliedern dieser socialen Klasse in den
Sclavenstand erklärt sich durch den Umstand, dass bald die zu-
geteilten Landparcellen nicht mehr zum Unterhalt der Familien
ausreichten, die Dienstpflicht drückend empfunden wurde und die
heranwachsende Schuldenmasse schliesslich so gross war, dass an
einer Bezahlung derselben verzweifelt werden musste. Es ist ge-
wiss eine merkwürdige Erscheinung, dass der russische Adel so zu
sagen von seiner Wiege an mit Schulden und materieller Noth zu
kämpfen hat und bis in die neueste Zeit diese ihm angeborene
Krankheit niemals zu überwinden im Stande war.
Die Verbote, Nachkommen der Beamten unter die Leibeigenen
aufzunehmen, wurden beständig wiederholt und beweisen genügend,
dass die Zugehörigkeit zum grundbesitzlichen Beamtenstande als
ein sehr zweifelhaftes Glück angesehen wurde und durchaus nicht
als Privilegium galt, welches von den Gliedern dieser Klasse ge-
Ballischo Monntm»chrifl, IUn.1 XXXIV, Jlofl 7. 41
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G14
Der Adel in Russland.
schätzt wurde. In seinem Testament tiberlieferte Iwan der Schreck-
liche seinen Nachfolgern folgende Worte, die als Grundzüge der
moskowitischen ständischen Politik angesehen werden können und
für dieselbe massgebend blieben : <man muss die Menschen fest-
zuhalten suchen, aber sich hüten, sie an sich zu fesseln in allen
Stücken — daran solltet auch ihr euch gewöhnen!»
Als die moskowitische Regierung zu voller Machtentfaltung
gelangte, erschienen die meisten Theilfürsten in Moskau und traten
in die Dienste des Grossfürsten, sie blieben im Besitz ihrer Stamm-
güter und ihres Titels ; andere verkaufteu ihre Souveränitätsrechte
oder vermachten ihre kleinen Fürstentümer dem Grossfürsten von
Moskau mit der Bedingung, die Tilgung der auf denselben haften-
den Schulden zu übernehmen. Die hierbei in Betracht kommenden
Ziffern erscheinen uns fast lächerlich durch ihre bescheidene Klein-
heit, selbst wenu wir annehmen, dass zu jeuer Zeit der Geldwerth
den gegenwärtigen um das hundertfache übertraf : der Fürst Jurij
Wassiljewitsch Dmitrewski hinterliess z. B. Schulden in der Ge-
sammtsumme von 752 Rubeln, Fürst Michail Wereiski von nur
267 Rubeln. Allmählich geriethen also die Ländereien und deren
Beherrscher unter die Botmässigkeit des moskowitischen Gross-
fürsten ; traten sie in die Dienste desselben, so bewahrten sie
ihren Fürstentitel. Dieser Titel blieb demnach die einzige erb-
liche Bezeichnung, welche von Anbeginn der russischen
Geschichte an vom Vater auf den Sohn überging, daher können
die von Rurik herstammenden russischen Fürstengeschlechter sich
einer weit älteren Genealogie rühmen, als die meisten Familien des
hohen Adels in Westeuropa, denen es schwer werden dürfte, ihren
Ursprung bis auf das neunte Jahrhundert zurückzuführen.
Diese Ueberbleibsel unabhängiger Fürstengeschlechter schienen
nebst den Nachkommen einiger fremdländischen Herrscherfamilien,
wie z. B. der ausgewanderten littauischen und verschiedener tatari-
scher und asiatischer Fürsten — ganz dazu geeignet, den Kern
zu einer höheren Landesaristokratie mit politischen und socialen Vor-
rechten zu bilden ; ihre Herkunft, die Erblichkeit ihres Titels und
Besitzes befähigten sie dazu, als Peers des Grossfürsten zu figuri-
ren, mit dem sie gleichen Ursprungs waren. Das geschah aber
keineswegs : die russischen Fürsten verwandelten sich Äusserst
schnell und ohne alle Schwierigkeiten in einfache Diener des Zaren,
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Der Adel in Russlaiul.
Gin
ihm gegenüber nannten sie sich eben so gut « Knechte > (xojionn)
wie alle übrigen Unterthanen — der fürstliche Titel hatte weder
im Dienste, noch in der socialen Stellung irgend welchen be-
stimmten Werth. Die Nachkommen der ehemals souveränen Fürsten
vertheilten sich auf alle Stufen der Diensthierarchie und die
Zaren räumten dem persönlichen Dienst überall die erste
Stelle ein.
Der Vortritt bei Hofe (iifccTunqecTBo) gab bekanntlich die
Veranlassung zu endlosen Streitigkeiten , Klagen und Fehden
zwischen den Bojaren des altmoskowitischen Staates, aber der
Fürstentitel hatte für dieselben gar keine Bedeutung ; massgebend
für den Vortritt war nicht die Herkunft, sondern die dienst-
liche Stellung der Streitenden und ihrer Vorfahren. Die
Schuld an diesem Mangel jeglichen Prestiges der Fürstengeschlechter
trug wol auch der Umstand, dass die Nachkommen Ruriks sich
kolossal vermehrt hatten, so dass im 15. Jahrb. 1G7 Geschlechter
existirten, in denen sämmtliche Familienglieder den Fürstentitel
führten. Dieser Ueberfluss an Fürsten trug natürlich dazu bei,
dass dieselben im Volke eben so wenig Achtung und Sympathie
genossen, wie das Institut der Theilfürstenthümer selbst. Die
öffentliche Meinung schrieb dieser politischen Gestaltung die Schuld
an den meisten unglücklichen Ereignissen zu, welche über Russland
gekommen waren ; ohne die Unterstützung des Volkes konnten die
Fürsten nichts anderes werden als c Knechte > des Zaren, weil sie,
stets mit einander in endlosem Streite liegend, keiu einigendes
Princip kannten und jeder Solidarität baar blieben. Die Auf-
lehnungen der Fürsten oder auch der Bojaren trugen daher immer
den Charakter zufälliger Feindseligkeiten, von corporativer Oppo-
sition konnte niemals die Rede sein. Die in den Staatsdienst
tretenden Fürsten verschwanden, nach der Auffassung des Volkes,
unter den übrigen Bojaren, welche gleichfalls nichts weniger als
populär waren, die Regierung räumte ihnen gern eine hervorragende
Stellung unter den übrigen Hofbeamten ein, war aber bestrebt,
den Landbesitz vollständig dem Einfluss der Regierung zu unter-
werfen. So wurde das Erbrecht eingeschränkt, den ehemals
souveränen Fürsten verboten, ihre Ländereien zu verkaufen, gegen
andere zu vertauschen, den Klöstern testamentarisch zu vermachen,
ja, der Zar Alexei Michailowitsch verbot sogar dem Fürsten
Romodomowski, den Titel seiner Ahnen (Fürst von Starodub-Rja-
polski an der Kljasma) weiter zu führen und gestattete es ihm
41«
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G16
Der Adel in Russland.
erst nach langem demtitbigen Bitten seitens des tum den Verlust
seiner Ehre> besorgten Fürsten.
Auch unter den übrigen Bojaren spielten die Nachkommen
R iiriks nie eine Rolle und bildeten niemals eine gesonderte Gruppe;
selbst als der Thron unbesetzt war, dachten sie nicht daran, einen
der ihrigen für denselben auszuersehen, und der neue Zar Boris
Godunow erhielt die Herrschaft über das Reich dank seiner Ver-
wandtschaft mit der Gemahlin des letzten Herrschers aus dem
alten Stamme — gehörte aber seiner Herkunft nach nicht einmal
zu den vornehmeren Bojaren. Als späterhin der polnische Prinz
Wladislaw von dem Rath der Bojaren als Beherrscher von Russ-
land anerkannt wurde, dachten diese wiederum nicht daran, die
günstige Situation zu Gunsten einer feudal-aristokratischen Privile-
girung ihres Standes auszubeuten — so sehr blieb jede aristokra-
tische Organisation des Staates Russland fremd. Auch bei der
Wahl des ersten Romanow Michael Feodorowitsch zeigte sich
wieder dieser Mangel einheitlichen Standesgefühls und das Vor-
herrschen rein subjectiver Interessen und Absichten. Wenn der
Fürst Scheremetjew z. B. schreiben konnte: <Mischa Romanow ist
noch jung, sein Verstand unreif, wir werden ihm leicht beikommen
können,> so hatte er hierbei nicht etwa die Absicht, von dem neuen
Zaren Privilegien für seinen Stand zu erlangen, sondern es handelte
sich einfach um die Erreichung egoistischer Zwecke. Als Diener
ihres Fürsteu und des Staates waren die Bojaren mitunter in der
That «weise Männer und zuverlässige Heerführer>, traten sie aber
selbständig in die Arena des politischen Lebens, so zeigten sie
sich als engherzige Menschen, welche rein persönliche, kleinliche
Ziele verfolgten. Am meisten wird das wol durch die endlosen
Streitigkeiten um den Vortritt bei Hof (MtonimecTBo) bewiesen,
auf welche näher einzugehen wir uns nach dem oben Gesagten
ersparen können.
Die Klasse der Staatsdiener erhielt das Privilegium des all-
einigen Güterbesitzrechtes, «damit das Land nicht seine Dienste
versage», d. h. um die Ableistung der Wehrpflicht, den regel-
mässigen Eingang der Steuern für den Staat sicher zu stellen.
Um dieselbe Zeit fiel ihnen noch ein anderes Vorrecht zu, das-
jenige, Leibeigene zu besitzen — eigentlich nur eine Folge des
zuerst erwähnten Privilegiums, da die Bauern gesetzlich an die
Scholle gefesselt waren. Im Jahre 1G82 befahl der Zar Feodor
Alexejewitsch die Einführung von vier Geschlechtsbüchern ; in das
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Der Adel in Russland. (517
erste derselben sollten die fürstlichen und anderen Familien einge-
tragen werdeu, welche die Stellungen von Bojaren und Mitgliedern
des hohen Ratlies einnahmen oder seit der Regierung Iwans IV.
als Gesandte, Statthalter (uoeuo^x) und Heerführer eine Rolle ge-
spielt hatten. Das zweite war für diejenigen Geschlechter be-
stimmt, welche der Regierung Michaels Feodorowitsch die gleichen
Dienste geleistet hatten &c. Die Zugehörigkeit zu dem einen
oder anderen dieser Adelsregister verlieh jedoch keine besonderen
Rechte ; diese Massregel verdankte nur dem Umstände seinen Ur-
sprung, dass der Zar unter polnischem Eiufluss herangewachsen
und darauf bedacht war, tdass die Geschlechtsbücher den Zeit-
genossen und der Nachkommenschaft die Erinnerung an ihre Her-
kunft erhalten sollten >.
Die Klasse der Staatsbeamten, welche wir von jetzt an als
Dienstadel betrachten können, war immer zahlreicher geworden,
im Jahre 1616 bestand sie aus 23049 Männern, diese Edelleute
wurden in ihrer Gesammtsumme jedoch nur dann zu der Ausübung
ihrer Kriegs- und Dienstpflicht angehalten, wenn die äusserste
Noth eine solche Anstrengung erforderte.
Beriefen die Zaren eine Landesversammlung (3esicKifl coöopi»),
so gehörten zu dieser Leute aller Berufsklassen, die Adeligen bildeten
aber die ungeheure Majorität der Theilnehmer, da die Regierung
die auderen Elemente der Bevölkerung nur selten zu diesen Be-
rathungen hinzuzog — waren sie doch, abgesehen von den Kauf-
leuten, grösstenteils zu Leibeigenen geworden. Eine Mittelklasse,
ein Bürgerstand fehlte aber selbst in den grösseren Städten.
Die verschiedenen Dienstklassen des altmoskowitischen Adels
entsprechen übrigens durchaus nicht der später von Peter dem
Grossen eingeführten Rangtabelle, die Glieder desselben mussten
zur Erfüllung ihrer Obliegenheiten abwechselnd in der Residenz
leben und lösten einander vier- bis fünfmal im Laufe des Jahres
ab. Trotz aller Verworrenheit in dieser obligatorischen Höflings-
pflicht lassen sich etwa folgende Gruppen unterscheiden : 1) der
Dienst und die Theilnahme an den Rathsversammlungen der höchsten
Reichsbeamten ; 2) das Amt der Kämmerlinge und anderer die
Person des Zaren bedienender Hofbeamten ; 3) der Kriegsdienst
der einfachen Edelleute und «Bojarensöhne» ; 4) die Civilchargen
in den Behörden (DpiiKa3uue IDAR) ; 5) verschiedene Stellungen
theils civiler, theils militärischer oder höfischer Art, welche die
Inhaber derselben verpflichteten, au gewissen Tagen in Sammet-
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Der Adel in Russland.
gewändern oder Kaftans aus Goldbrocat bei Hofe zu erscheinen.
Ausser diesen Chargen, welche den Edelmann mit dem Hof in
Berührung brachten und ihm Aussicht auf eine mehr oder weniger
glänzende Laufbahn eröffneten, gab es aber noch einen anderen,
obligatorischen Dienst, zu dessen Ausübung der Besitzer eines
Landgutes verpflichtet war — die Wehrpflicht. Der Edelmann
hatte bewaffnet und beritten zu erscheinen und eine bestimmte
Anzahl gleichfalls bewaffneter und berittener Leibeigener dem
Heere zuzuführen. Das verursachte bedeutende Unkosten; der
Edelmann musste oft genug Schulden machen, um dieser militä-
rischen Lehnspflicht zu genügen ; der Ertrag seines Landbesitzes,
welcher allenfalls diese Ausgaben hätte decken können, verkleinerte
sich durch die Abwesenheit des Gutsherrn und so vieler kräftiger
Männer, und es ist verständlich, wenn der Adel alle denkbaren
Mittel anwandte, um der Theilnahme an diesen militärischen Aus-
zügen zu entgehen. Die Regierung führte daher einen beständigen
Kampf gegen den moskauer Adel, um ihn zu der Erfüllung seiner
militärischen Lehnspflicht zu zwingen ; das gelang aber niemals
ganz und die Zahl der Dienstverweigerer (ni>TiniKOBT>, d. i. Nein-
sager) blieb eine bedeutende. Eine grosse Anzahl von Ukasen be-
droht den c faulen, ungetreuen» Adel mit den härtesten Strafen.
Iwan der Schreckliche befahl, die nicht erschienenen lehuspflichtigen
Edelleute «ausfindig zu machen, mit der Knute zu prügeln, von
ihnen Caution zu nehmen und sie in den Dienst zu schicken >.
Alles dies muss jedoch wenig geholfen haben, denn die Ukase aus
dem 17. Jahrhundert drohen den ■ Neinsagern > sogar mit der Todes-
strafe und versprechen den Denuncianten die confiscirten Güter
der dienstverweigemden Edelleute.
Parallel mit diesen Erscheinungen trug sich die Gesetzgebung
des moskowitischen Zarthums im 17. Jahrhundert mit der Absicht,
die Lehnsgüter (uoM-fccTbe) den Erbgütern (BOTinna) gleichzustellen.
Noch vor einem Jahrhundert hatte die Regierung das Erbrecht und
die freie Verfügung über die Erb gtiter einzuschränken versucht,
jetzt erlaubte sie es, dass die L e h n s güter vertauscht oder ver-
kauft wurden. So hatten sich die Zeiten verändert, so schnell war
jede Besorgnis geschwunden, dass die Nachkommen der ehemals
souveränen Fürsten politisch gefährlich werden könnten, so bald
war es klar geworden, dass jegliche Eintracht, jedes Standes-
bewusstsein, jeder esprit de corps dem locker zusammengewürfelten
Adel Russlands gänzlich fehlten.
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Der Adel in Russland.
619
Als die Zaren allmählich begannen stehende Heere zu halten
und es nicht mehr galt, mit tatarischen und mongolischen Horden,
sondern gegen militärisch organisirte Armeen zu kämpfen, verlor
• der Kriegsdienst und die militärische Lehnspflicht des Adels alle
Bedeutung. Der wehrpflichtige Lehnsträger wurde zum Guts-
besitzer, zum Erbherrn. Die Regierung verwandelte schliesslich
den lebenslänglichen Besitz in ein erbliches, beständiges Eigenthum ;
die dem Adel bedingungsweise verliehenen Güter und Leibeigeuen
gingen, nach der Befreiung dieses Standes von der obligatorischen
Dienstpflicht, gänzlich in seineu vollen, bedingungslosen Besitz
über, gestützt auf die Formel ■ beati possidentcs !
Diese bedeutungsvolle Veränderung in der Lage des adeligen
Standes geschah während der t kaiserlichen Periode * der russischen
Geschichte, wo im 18. und 19. Jahrhundert der Einfluss West-
europas auf die Gestaltung des socialen und politischen Lebens
immer stärker wurde. Die Beziehungen der Zaren zu den Edel-
leuten waren stets patriarchalisch-primitiver Natur gewesen. Als
Feodor Alexejewitsch die Einführung der Geschlechtsbücher anbe-
fahl, wurden die Glieder der auf diese Weise geehrten Familien
nicht von der Körperstrafe befreit, ja, die mit der Knute gezüchtigten
Edelleute blieben sogar nach wie vor Glieder des Adels. Wenn
der Kaiser Peter I. befahl, die Bärte zu scheeren und c deutsche»
Kleider zu tragen, so übertrat er durch solche Vorschriften keines-
wegs die Grenzen der patriarchalen Beziehungen seiner Ahnen zu
dem Adel. Peter der Grosse war es auch, der den letzten Unter-
schied zwischen den Erb- und Lehnsgütern vernichtete und den
Staatsbeamten nicht mehr Ländereien, sondern bestimmte Geld-
summen als Gehalt aussetzte. Von jetzt ab kommt es zwar auch
noch oft genug vor, dass Landbesitz von den Monarchen vertheilt
wurde, jedoch nicht mehr mit der Absicht, durch diese Schenkungen
den Staatsbeamten gegen gewisse Verpflichtungen dienstlicher Art
die Mittel zum Unterhalt zu gewähren, sondern mit dem CMiarakter
einfacher Landschenkungen als materieller Beweise der kaiserlichen
Huld und Gnade. Im 18. Jahrhundert breitete sich das russische
Reich über ungeheure Territorien aus und wurde es daher den
Monarchen, besonders aber den Herrscherinnen leicht möglich,
ihren Günstlingen grosse Landstrecken zu schenken, die das Funda-
ment zu enormen aristokratischen Besitzungen legten. Kaiser
Paul verlieh an seinem Krönungstage Güter mit einer Bevölkerung
von 82000 Seelen an seine Hofbeamten und im Jahre 1800 er-
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G20 Der Adel iu Russland.
hielten verschiedene Beamte 213000 Dessätinen als dienstliche Be-
lohnungen im Gouvernement Ssaratow angewiesen. Erst Alexander I.
begann diese Schenkungen angesiedelten Landes einzustellen und
bis zu der Regierung Alexanders II. wurde nur noch unbebautes
Land verliehen.
Peter der Grosse war es ferner, der, nach Vernichtung der
altraoskowitischen ßeamtenhierarchie , den Versuch machte, die
Glieder des bedeutungslos gewordenen Standes der Staatsdiener zu
einem Ganzen zu vereinigen. Die jetzt erst definitiv formirte
Adelscorporation erhielt den unrussischen Namen «m.iaxeTCTBo», ver-
mutlich weil die Bezeichnung «ABopjincTno» ihre alte Bedeutung
einer niederen Beamtenklasse noch nicht ganz verloren hatte ; erst
in der Mitte des 18. Jahrhunderts erlangte das Wort <ARopaii-
ctbo» die volle Bedeutung des höchsten privilegirten Standes,
des Adels.
Als besondere Privilegien verlieh Peter I. dem neu constituir-
ten Stande das Recht, Wappenschilder und den Titel e Wohlgeboren»
zu führen, legte den Grund zu den localen Adelsinstitutionen in
den Gouvernements und befahl die Einführung von Landraths-
collegien, die gemeinsam mit dem Gouverneur t allen administra-
tiven Geschäften vorstehen sollten». Der Einfluss baltischer Vor-
bilder für diese Adelscorporationen ist schon in dieser Verfügung
sichtbar, unter der Regierung Katharinas II. sollte derselbe noch
fühlbarer werden, als sie vor Erlass des Gnadenbriefes für den
russischen Adel (sa.ioBanuaH rpaHOTa ABopxncTßy) mit den balti-
schen Edelleuten Ulrich und Sievers über die Einführung des
Instituts der Adelsmarschälle correspondirte (siehe : Bienemann,
Die Statthalterschaftszeit, Seite 32 ff., 258 und 260).
Unter den Nachfolgern Peters des Grossen war es der Gemahl
Katharinas, Peter III., welcher den Adel definitiv von der Ver-
pflichtung freisprach, dem Staat im Civil- oder Militärdienst dienen
zu müssen. Durch das Manifest vom 18. Februar 1762 wurde dem
Adel diese endliche Aufhebung der Lehnspflicht verkündet, als deren
Ueberreste nur noch bestehen blieben : l) dass die Edelleute, welche
nirgendwo dienten, verachtet und vernichtet sein sollten» (natürlich
nur im figürlichen Sinn) und dass talle treuen Unterthanen als
echte Söhne des Vaterlandes die Anwesenheit solcher Edelleute
nicht dulden sollten, weder bei Hofe, noch bei öffentlichen Ver-
sammlungen und Festen», 2) die Massregel, dass der Adel eines
jeden Gouvernements jährlich 30 Mann aus seiner Mitte für den
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Der Adel in Russland.
G21
Dienst im Senat und 20 für den Dienst in dein Senatscomptoir
abzusenden habe ; 3) dass der Monarch berechtigt sei, die Edel-
leute behufs Ableistung ihrer Dienstpflicht einzuberufen, wenn es
die Umstände erforderten ; 4) dass die Edelleute verpflichtet seien,
«ihre Kinder in den Wissenschaften unterrichten und erziehen zu
lassen, wie es eines wohlgeborenen Adels würdig ist» .
Erst mit Erlass dieses Manifestes kann von der eigentlichen
Existeuz eines Adels, als eines wirklich privilegirten Standes, die
Rede sein, wenn auch die Freiheiten und Vorzüge des russischen
Adels erst in dem oben erwähnten Gnadenbrief Katharinas II. end-
giltigen Ausdruck fauden. Dieser tragt das Datum des 2t. April
1785 und verleiht den Edelleuten Vorrechte negativer und positiver
Art. Zu den ersteren gehört die Befreiung vom persönlichen Dienst
und allen Abgaben, welche an der Person haften (Kopfsteuer), Be-
freiung von jeglicher Einquartierung und von den Körperstrafen ;
zu den letzteren das Privilegium, Landgüter und Leibeigene zu
besitzen, gewisse Vorrechte bei der Beförderung von einer Rang-
stufe zur anderen beanspruchen zu können und endlich das Prä-
rogativ, eine besondere corporative Organisation zu bilden. Als
jedoch im Jahre 1801 allen russischen Unterthanen das Güter-
besitzrecht zugesprochen wurde, behielt der Adel nur noch das
Privilegium des Besitzes von bewohnten Landstücken, d. Ii. die
anderen Stände konnten Leibeigene weder kaufen noch verkaufen.
Endlich muss hier noch des Rechtes Erwähnung geschehen, welches
dem Edelmann als Gutsbesitzer zustand, nämlich der Ausübung
der polizeilichen Gewalt über seine Leibeigenen. Wenn schliess-
lich der Gnadenbrief versprach, dass alle diese ständischen Vor-
rechte «unrüttelbar und unverletzlich» sein sollten und der Edel-
mann nur durch einen Richterspruch seiner adeligen Mitbrüder
seiner Privilegien verlustig erklärt werden könne, so ist diese an
das mittelalterliche Gericht der Pairs erinnernde Verordnung nie-
mals zur Ausführung gelangt'. Der Adel jedes Gouvernements
erhielt von jetzt ab eine corporative Organisation und seit 1785
das Recht, Kreis- und Gouvernements-Adelsmarschälle aus seiner
1 Wenn sie irrthümlich als Selbstbescbränkung der allerhöchsten Gewalt
aufgefasst wird - allerdings nicht. Der im (inadenbrief ausgesprochene (Jntnd-
satz kar.n aber nur den Sinn haben, dass der Edelmann zunächst nur vor die
durch Wahl des Adels besetzten (ierichte gestellt, nur von seinen Standesgenosseu
gerichtet werden solle, wie das mit dem bürgerlichen Stande ebenso der Fall
war. D. Red.
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622
Der Adel in Russland.
Mitte zu wählen1, welche die ständischen Interessen zu wahren
und der Eegierung gegenüber zu vertreten hatten. Der Adel
durfte Uniformen tragen, welche anfangs je nach den Gebieten
und Gouvernements von mannigfaltigem Schnitt und verschiedener
Farbe sein mussten, bis der Kaiser Nikolai im Jahre 1832 für
den gesammten Reichsadel die Uniform des Ministeriums des Innemi
obligatorisch machte.
Durch das Gouvernementsinstitut von 1775 war der Adel
berechtigt, eine beträchtliche Anzahl von Aemtern im Gerichts-
wesen und in der Polizeiverwaltung durch Wahlen aus seiner
Mitte zu besetzen. Es scheint uns nicht noth wendig, hier näher
auf die Details und die Competenz dieser vom Adel gewählten
Beamten einzugehen. Es bedarf nicht einmal der Hinweise auf
offizielle Verurtheilungen der Thätigkeit jener adeligen Isprawniks
und der anderen Adelsbeamten in Russland, denn wer erinuert
sich nicht dieser typischen Gestalten im «Revisor» oder den
«todten Seelen» Gogols und der späterhin veröffentlichten scharfen
Verurtheilungen durch die Anklageliteratur, vor allem des
Satirikers Schtschedrin (Ssaltykow) in seinen «Skizzen aus
dem Gouvernementsleben» V Als 1860 und 1865 dieses Wahl-
recht des Adels aufgehoben wurde, fand daher die öffentliche
Meinung in Russland keine Veranlassung, über den Verlust dieser
Prärogative zu trauern, die neuen Gerichtsinstitutionen wurden im
Gegentheil mit einer Begeisterung begrüsst, die erst neuerdings
einer kritischen Stimmung Platz macht. Es wäre übrigens un-
billig , den adeligen Wählern die Schuld an dem Mangel an
Pflichttreue und Redlichkeit zuzumessen, da die Beamtenwelt jener
Zeit sich überhaupt durch Corruption auszeichnete; mit mehr Recht
Hesse sich aber behaupten, dass die ständische Abgeschlossenheit
der Wahlen noch keine Gewähr für die moralische Qualität der
Gewählten in sich schliesse.
Seit Einführung der Landschaftsinstitutionen ist dem Adel
in Russland die leitende Rolle in den Semstwos zugefallen, und es
lässt sich nicht leugnen, dass er hier Tüchtiges geleistet hat und
die bedeutungsvollen Verbesserungen auf dem Gebiete des Schul-
wesens, des communalen Wegebaues und des Medicinalwesens der
1 Das Datum ist uurichtig angegeben. Vgl. darüber Bieneraann, Statt-
halterschaftszeit, p. 40—47 und Sitzungsberichte der Gesellschaft für Gesch. und
Alterth. der Ostseepruvinzen f. 1886, p. 109—111. D. Red.
Der Adel in Russland.
(323
Initiative des Adels in den Landschaftsversammlungen zu danken
ist. Es lässt sich hieraus der Schluss ziehen, dass der Adel in
der ständisch gegliederten Periode der rassischen Staatsentwicke-
lung weniger für die sociale Weiterentwickelung und das allgemeine
Wohl gethan hat, als in der neuesten Zeit, in der Periode der
Landschaftsinstitutionen.
Zum Schluss ist es nicht ohne Interesse, einen Blick darauf
zu werfen, welche der genannten Adelsprivilegien noch fortbestehen
oder, richtiger gesagt, ein Prärogativ dieses Standes bilden ? Wir
haben weiter oben schon darauf hingewiesen, dass die meisten
dieser Vorrechte negativer Art waren ; die Befreiung vom obliga-
torischen Dienst und den an der Person haftenden Abgaben haben
ihre Bedeutung verloren nach Einführung der allgemeinen Wehr-
pflicht und Aufhebung der Kopfsteuer für alle Stände. Auch die
Befreiung von den Körperstrafen ist auf die Mehrzahl aller russi-
schen Unterthanen ausgedehnt worden. Von seinen positiven Vor-
rechten hat der Adel seit Aufhebung der Leibeigenschaft dasjenige
verloren, Alleinbesitzer von Land und Bauern zu sein, auch im
Staatsdienst ist nicht mehr die Abstammung massgebend ; was
bleibt also übrig ? Die Befreiung der dem Adel gehörigen Häuser
von Einquartierung, der Titel »Hoch wohlgeboren >, die Wappen und
die corporative Organisation, welche neuerdings mehr eine Last
als ein Privilegium genannt zu werden verdient, seitdem die
specifischen Adelssteuern mehr und mehr steigen, während die
Zahl der gruud besitzenden Edelleute abnimmt. Auch der Titel
kann leicht genug erworben werden, seitdem ebeu alles durch
Bildung, Dienstalter und Geldmittel erreichbar ist.
Bevor wir auf die gegenwärtige Lage des russischen Adels
und auf eine statistische Ueberschau seiner Vertheilung über die
verschiedenen Gebiete des weiten Reiches übergehen, sei noch eiu
Hinweis darauf gestattet, dass in Russland die ständischen Privile-
gien zu einer Zeit festgestellt wurden (zu Ende des 18. Jahr-
hunderts), wo in Westeuropa die Idee der Gleichheit und der
Triumph des demokratischen Bürgerthums im Anzüge war. Wie
konnte das Interesse für eine corporative Organisation unter den
jüngeren Gliedern des Adels angeregt werden, das Standesbewusst-
sein Wurzel schlagen zu einer Zeit, wo die «neuen Ideen», die
Begeisterung für die französische Revolution alle jungen Köpfe
erfüllte?
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024
Der Adel iu Russlaud.
»
Fragen wir endlich, welches Facit sich aus dieser flüchtigen
Skizze der historischen Entwickelung des Adels in Russland ziehen
lässt, so lautet die Antwort, dass jede Seite der ständischen Ge-
schichte Russlands von folgenden Zügen Kunde giebt : 1) Mangel
an Einigkeit und Verständnis für die Rechte und Interessen des
Standes ; 2) Mangel an Thatkraft selbst in den Beziehungen unter
den einzelnen Gliedern einer Corporation. Es giebt eben in Russ-
land Edelleute, Kaufleute und Bauern, es giebt aber keinen
Adel, keine Kaufmannschaft, keinen Bauer-
stand! Die Rahmen für die einzelnen Stände bestehen, das
Standesgefühl aber fehlt. Die Stände siud hier Organismen ohne
Skelette.
Sehr falsch wäre es zu glauben, dass etwa der Druck seitens
der Regierungsgewalt die ständische Krystallisirung iu Russland
verhindert hätte ; im Gegentheil, die politische Gewalt hat alles
dazu gethan, um den Ständen, insbesondere dem Adel, eine ständi-
sche Organisation zu ermöglichen1, es ist ihr aber nicht gelungen,
denn die russische Nation neigt nicht zu der Entwickelung von
leitenden Persönlichkeiten und Ständen, wol aber zu der Bildung
primitiver Vereinigungen der Familie, der Dorfgemeinde oder des
Artel. Bei der grossen Macht der politischen Gewalt, der Regie-
rung in Russland konnten es die Stände niemals zu der festen
Organisation, zu der socialen Bedentung bringen, wie in West-
europa, und die Verleihung neuer, administrativer Privilegien an
den russischen Adel würde das Hinschwinden des adeligen Besitz-
standes nicht mehr aufzuhalten vermögen. Als Beweis für diese
letztere Behauptung erlaube ich mir hier die Wiederholung einiger
Zahlenangaben, welche ich im März d. J. in der «Zeitung für
Stadt und Land» aus dem «Westn. Jewropy» veröffentlichte. Hier
war darauf hingewiesen worden, dass der russische Adel in drei
wesentlich verschiedene Gruppen zerfiele, und biess es weiter : « Die
wichtigste derselben sind die Grossgrundbesitzer, welche
vorherrschend in den Residenzen leben, höhere Titel führen und den
aristokratischen Kern des Standes ausmachen. Die meisten seiner
Vertreter sind darauf bedacht, im höheren Staatsdienst oder in
der grossen Welt Carriere zn machen, die übrigen werden einfach
' Wie ansserlich die Massnahmen der Regierung waren, wie Katharina
die corporative Gestaltung durch Vertagung des Selbstbestenernngsrechts mit
Erfolg zu hindern Buchte, ist auf den Seiten 44 -47 des vorstehend citirten
Werkes dargelegt. Die K e d.
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Der Adel in Russland.
025
Viveurs, die den Rest ihres Wohlstandes sorglos verleben. Für
das Laudieben, die Landwirtschaft und die communalen Interessen
des Kreises haben sie keine Neigung, kein Verständnis. Die Zahl
solcher Grossgrundbesitzer ist schliesslich eine sehr beschränkte,
in den 49 Gouvernements des europäischen Russland giebt es iin
Ganzen 122G Landbesitzer, welche Güter von mehr als 5000 Dess.
besitzen.
Auch die Gruppe der kleinen Landbesitzer ist nicht
dazu geeignet, die Bildung einer localen, gewählten Administration
zu erleichtern. Ihre Lebenslage, ihr Horizont ist zu eng, zu be-
schränkt, als dass sie in der Gesellschaft oder unter den übrigen
Edelleuten eine Rolle spielen könnten. So bleibt also nur die
Gruppe der mittleren Landbesitzer mit Gütern von
100 — 1000 Dessätinen. Dieses zahlreiche Element unter dem Adel
lebt auf seinen Gütern und wäre dazu geeignet, seinem Stande das
Ueberge wicht in den Kreisverwaltungen zu sichern. Hier muss
jedoch in Betracht gezogen werden, dass in Folge der beständigen
Erbtheilungen russischer Adelsgüter sogar ein Besitz von 500 Dess.
als auf der Greuzscheide zu dem Kleingrundbesitze befindlich an-
gesehen werden muss, wie denn überhaupt der Grundbesitz des
russischen Adels einer beständig zunehmenden Zersplitterung ent-
gegengeht.
Leider gebricht es uns an Raum, um auf die interessante
Erörterung über die Folgen der Eisenbahnbauten einzugehen,
welche die Lage des grundbesitzenden Adels eben so stark beein-
flussten, wie die Bauerneinancipation ; sie lassen sich jedoch kurz
in folgendem Satze zusammenfassen : die Landwirthschaft im nörd-
lichen und centralen Rayon Russlands wurde in der jüngsten Ver-
gangenheit durch die Concurrenz mit dem Gebiet der Schwarzerde
ebenso niedergedrückt, wie gegenwärtig die Ertragsfähigkeit des
letzteren unter der Concurrenz mit Amerika und Indien leidet.
Was nun den Adel selbst anbetrifft, so ist vor allem die Er-
scheinung beachtens werth, dass die Anzahl der erblichen Edelleute
in Russland von 1858—1870 um 18 pCt. abgenommen hat; statt
609973 im Jahre 1858, gab es 12 Jahre später nur 544188 Edel-
leute im russischen Reich.
Unter diesen waren im Jahre 1877—78, also vor neun Jahren,
114716 Gutsbesitzer ; dabei ist aber die Vertheilung derselben über
das Territorium des Reiches eine so ungleichmässige, dass es grosse
Gebiete giebt, in welchen der grundbesitzende Adel vollständig
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026
Der Adel in Russland.
fehlt : im Gouvernement Archangelsk giebt es z. B. nur vier Edel-
leute, in Wjatka 147, in Perm 61 &c. Auf einer solchen Basis
lasst sich keine örtliche, adelige Kreisverwaltung begründen. Steht
es so in den östlichen an der Wolga belegenen Gouvernements, so
finden wir ähnliche Verhältnisse auch in den mehr nach Westen
hin belegenen Gouvernements Ssamara, Ssaratow, Woronesh, wo
der bäuerliche Gemeindebesitz besonders verbreitet ist. Der wald-
und seereiche Theil Russlands, die Gouvernements Petersburg,
Nowgorod, Pleskau, Twer &c, zählen in neun Gouvernements 8775
adelige Landbesitzer, also etwa 8 pCt. aller Edelleute im Reich.
Wir ersparen dem Leser die langen Zahlenreihen für die
übrigen Gouvernements und erwähnen nur die Ostseeprovinzen;
die Zahl der adeligen Gutsbesitzer beträgt in Kurland 344, Liv-
land 519, Estland 349, also im ganzen 1202, d. Ii. etwas mehr als
1 pCt. sämmtlicher Adeligen des Reiches'.
Diese statistischen Mittheilungen ergeben das Resultat, dass
43 pCt., also fast die Hälfte sämmtlicher landbesitzenden Adeligen
in folgenden neun Gouvernements zu finden ist: Charkow, Kursk,
Poltawa (mit der grössten Anzahl von 10187 Edelleuten), Tscher-
nigow, Mohilew, Smolensk, Minsk, Kowno und Wilna ; je weiter
von diesem Kern, um so geriuger wird die Ziffer des laudbesitzen-
den Adels. Ferner ergiebt sich, dass 1) die kleinen Grundbesitzer
(d. h. mit weniger als 500 Dessätinen) mehr als die Hälfte aller
Grundbesitzer adeligen Standes ausmachten, aber nar den vierzehnten
Theil der adeligen Ländereien besassen, 2) dass der mittlere Land-
besitz von 500— 1000 Dessätinen nur den fünften Theil sämmtlicher
adeligen Ländereien betrug und dass 3) der Grossgrundbesitz von
1000—5000 Dessätinen drei Viertel allen Landes beträgt, welches
der russische Adel besitzt. Diesen Berechnungen sind folgende
Ziffern zu Grunde gelegt : der Grundbesitz beträgt im europäischen
Russland 391 Millionen Dessätinen ; 19 pCt, d. h. über 73 Mill.
gehören davon dem Adel, in dessen Händen auf den
kleinen Grundbesitz 5269630
mittleren Landbesitz 13464483
Grossgrundbesitz . 54636492
7337Ö6ü5_kommen.
Erwähnen wir nun noch ganz besonders, dass im Besitze von
784 Grossgrundbesitzern sich die kolossale Ländereienmasse von
23509192 Dessätinen befindet, von denen jeder über 10000 Dess.
besitzt, so dürfte die Behauptung gerechtfertigt erscheinen, dass
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Der Adel in Russland.
027
die beständige Abwesenheit dieser Grandseigneurs von ihren Gütern
die vollständige Bedeutungslosigkeit dieser Gruppe des Adels für
das Leben des Kreises involvirt. Auch die Gruppe der mittleren
Grundbesitzer ist nur als Uebergangsstadium anzusehen, da sie
gar zu sehr Über die verschiedenen Gouvernements zerstreut sind
und durch beständige Erbtheilungen ihr Besitzthum verkleinern.
Endlich gewährt der russische Adel überhaupt nicht das ein-
heitliche Bild eines Standes, denn abgesehen von dem land-
besitzenden und besitzlosen, oder dem angestammten oder durch
Rang erworbenen Adel, müssen noch folgende Gruppen unterschieden
werden : der grossrussische moskauer Adel, der kleinrussische
Kosakenadel, die Ritterschaft der Ostseeprovinzen, die polnische
und littauische Schljachta, endlich der armenische, grusinische und
ausländische Adel.
Sonderbar ist auch die Erscheinung, dass diejenigen Gouverne-
ments, wo Adelscorporationen gänzlich fehlen , bei einem ver-
gleichenden Ueberblick über den adeligen Grundbesitz ähnliche
Resultate liefern wie diejenigen, wo die Adelsprivilegieu erhalten
sind. In Wilna, Kowno, Minsk &c. ist der Procentsatz des privaten
Grundbesitzes, der sich in den Händen des Adels befindet, der-
selbe wie in Estland, wo der Adel 92,? pCt. inne hat und in Liv-
land 95 pCt., in Kurland 94,7 pCt.
Es scheint daher, dass nicht die Privilegien dem adeligen
Landbesitz seine Dauer verleihen, sondern dass andere Ursachen
den agraren Wohlstand des Adels bedingen.
Auffallend ist die Lage der adeligen Grundbesitzer in den
westlichen Gouvernements ; hier mussten noch lange Zeit nach dem
letzten Aufstande Contributionen gezahlt werden, der Boden zeichnet
sich keineswegs durch Fruchtbarkeit aus, aber die Edelleute sind
hier dem Leben der grossen Welt und dem Staatsdienste ganz fern
geblieben, leben auf ihren Gütern und beschäftigen sich mit der
Landwirtschaft.
Im eigentlichen Russland sind die directen Folgen der Bauern-
befreiung jetzt tiberwunden, aber der Adel mit mittlerem Grund-
besitz kann niemals eine stabile, erbliche Klasse bilden. Denn er
befindet sich auf einem sich mehr und mehr senkenden Piedestal
und ist keine beständige, sondern veränderliche Grösse, eine Ueber-
gangsstufe zum kleinen Grundbesitz — dank der beständigen Erb-
theilungen. Es ist der Gedanke ausgesprochen worden, dass die
Errichtung von Majoraten diesem Niedergange Einhalt thnn könnte.
02 8
Der Adel in Russland.
Bekanntlich mislang dieses Experiment unter Peter vollständig.
Die Zeitgenossen des grossen Reformators hatten absolut kein Ver-
ständnis für die Einführung des Majorats, seine Edicte wurden be-
ständig umgangen und im Jahre 1730 musste der Senat bei der
Kaiserin Anna Iwanowna die Auf hebung dieser Erlasse befürworten.
Kann also davon die Rede sein, derartige Massregeln jetzt
wieder einzuführen, wo so viel praktische Gründe dagegen sprechen
und das Rechtsbewusstsein des Volkes sich schon einmal dagegen
geäussert hat?
Fassen wir noch einmal alle Gründe zusammen, die von dem
Niedergang des landbesitzenden Adels in Russland zeugen, so lässt
sich behaupten, dass nur derjenige Edelmann auf seinem Gute lebt,
den die Noth dazu zwingt. Die Ursachen dazu sind aber i) die
Verbreitung der höheren Bildung unter den jüngeren Edelleuten
und 2) das Verschwinden aller Vorbedingungen für eine comfor-
table Existenz auf dem Lande. Die intellectuelle Entwickelung
löst den jungen Mann von dem reizlosen Vegetiren des Kreises
los, wo ein gebildeter Mensch es auf die Dauer nicht aushalten
kann. Seine Pläne richten sich auf die weitere Perspective des
Staatsdienstes, und das Wirken in einer Semstwo bleibt immer ein
pis aller! Dabei wird das Leben des Landadels immer gröber, es
fehlt an der früheren Dienerschaft, die auch verschiedene Handwerke
verstand. Zerbricht eine Fensterscheibe, so findet sich jetzt im
ganzen Dorfe niemand, um sie einzusetzen ; es muss in die Stadt
nach einem Glaser geschickt werden !
So steht es in den Gebieten, wo die grosse Masse des Grund-
besitzes in den Händen des Adels ist. Im Norden und äusserten
Osten giebt es aber so gut wie gar keinen grundbesitzenden Adel ;
im Westen hat der Adel noch keine Wahlrechte erhalten, im
Centrum von Russland ist der Grundbesitz an die Kaufleute über-
gegangen, in Kleinrussland zerstückelt und zersplittert als kleiner
Landbesitz der Kosaken, im Süden endlich herrscht der Gross-
grundbesitz vor, welcher in keiuer directen Beziehung zu seinen
Gütern steht — lässt sich auf dieser Basis ein dauerhaftes,
administratives Gebäude errichten?
Johannes E c k a r d t.
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Notizen.
Wovon die Leute leben. Wahrheit und Dichtung. Graf Leo N.
Tolstoi. Aus dem Russischen übersetzt von Engenic Wieland.
Bern und Leipzig, Rnd. Jenni. 1887. S. 35. 8. 40 Pf.
Das Märchen von Iwan ihm Narren. Erzählt von Graf Leo
N. Tolstoi. Ans dem Russischen übersetzt von Eugenie Wie
land. Bern und Leipzig, Rnd. Jenni. 1887. S. 42. 8. 40 Pf.
W. (1 a r s c h i n , Pessimistische Erzählungen. - P. K r u s c h e w a n , Sie
ging nicht zu Grnnde. Ans dem Russischen übersetzt von W i 1 ■
heim He n ekel. München, Fr. Bassermann. 1887. S. 240. 8.
2 Mk. 50 Pf.
S t a s und Jas. Zwei polnische Erzählungen von Bolesla w P r n s.
Deutsch von Wilhelm H e n c k e 1. München, Fr. Bassermann.
1H87. S. 203. Kl. 8. •
(■jfl^pa liegen zehn slavische Erzählungen vor, alle in vortrett'.
§81111 liebes Deutsch übertragen, alle von ausserordentlichem
Talente zeugend, in verschiedener Richtung sich bewegend. So
bringen sie aucli verschiedene Wirkung hervor. Und zwar ist
diese nicht bedingt durch die idealistische oder die realistische
Natur der einzelnen Erzählungen, sondern, bis auf eine, durch die
Volksthümlichkeit der Erzähler. Von Kruschewan abgesehen,
dessen fSie ging nicht zu Gründet die einzige bisher von ihm be-
kannte Novelle sein soll, spiegeln die anderen Autoren den Seelen-
zustand, wie die errungene Culturstufe ihrer Nationen wieder.
Boleslaw Prus (Pseudonym für Alexander Glowacki) erscheint als
der Vertreter eines Volkes, das, auf altererbter Bildung fussend,
in Erfahrung gereift, von der Höhe seines gewonnenen Standpunktes
theilnahmvoll auf die Wechselfälle des Lebens und die Verschieden-
Daltuche MonatMrhrift, nan.l XXXIV, Haft 7. 42
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030 Notizen.
heit der Verhältnisse seiner Genossen blickt, ohne die Ruhe der
Betrachtung über der Wahrnehmung zu verlieren und Fehler und
Irrthum anders als durch Humor zu geissein. In der allerliebsten,
poetisch angehauchten und durchweg scherzhaft gehaltenen Er-
zählung «Stas' Abenteuer» spricht die Zufriedenheit, das neidlose
Selbstbewusstsein der kleinbürgerlichen Kreise eben so wohlthuend
an, wie das Schicksal Jas', des armen Waisenknaben, mit er-
greifender Objectivität geschildert, das Mitgefühl herausfordert,
aber nie die Vorstellung aufkommen lässt, der Verfasser mache
die gesellschaftlichen Zustände für die seinem Helden widerfahrene
Unbill verantwortlich.
Wie anders Garschins « Pessimistische Erzählungen > ! Eigent-
lich alle nur Skizzen, augenblickliche , vielleicht etwas länger
dauernde Situationen, aus denen allen aber der verhaltene Hass
gegen die bestehende gesellschaftliche oder staatliche Ordnung oder
die Geringschätzung derselben athmet. Ueberall Zerfallenheit —
und es ist kein Zweifel, der Dichter sympathisirt mit den Zer-
fallenen, auch wo er ihnen ein Gegenbild gegenüber stellt, wie in
den Tagebuchausschnitten : «Zwei Künstler >. In drei der fünf
Erzählungen ist die Tagebuchmanier angewandt : sie eignet sich
auch dazu, die trostlosen Erwägungen, die springenden, jagenden
Gedanken am unmittelbarsten zum Ausdruck zu bringen. Und
diese Gedanken sind entsetzlich, wie sie nur in Menschen auf-
tauchen, sich festsetzen können, denen es an Empfindungen wol
nicht mangelt, um so mehr aber an jedem inneren und äusseren
Halt, der sie zu dämpfen, zu überwinden vermöchte. So kommt
auch Rjabinin, der naturalistische Maler des Elends, der die Palette
wegwirft, um Volksschullehrer zu werden, «richtig auf keinen
grünen Z\veig>. «Ein Feigling», der sich in die Wehrpflicht nicht
finden kann und doch als Reservist ihr verfällt, bei jeder Kriegs-
nachricht nur die Leichen der Gefallenen vor Augen sieht, wird
beim ersten Zusammenstoss das Opfer der tödtlichen Granate. —
Wie tief psychologisch wahr und furchtbar erschütternd ist «Eine
Episode i gezeichnet! Er erschiesst sich — ob das Erlebnis für
sie denn doch nur eine Episode bleibt, ist unausgesprochen. —
«Die rothe Blume», wol die am prachtvollsten geschriebene Er-
zählung, führt von vornherein ihren Helden als Verrückten vor.
Tu welchen vergeblichen Kämpfen er seinen Verstand verloren,
lässt sich zwischen den Zeilen lesen. Andere enden durch die
eigene. Kugel oder dnreh des Henkei-s Strang. — Nur Einer,
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Notizen.
(331
Kudrjascliow in «Ein Zusammentreffen», steht heiteren Selbstgefühls
und abgeschlossener tleberzeugung in seiner Welt und über seiner
Umgebung. Vor wenigen Jahren erst einer der ärmsten Studenten,
jetzt ein reicher Ingenieur in Odessa — durch Betrug im Hafen-
bau. Nach seiner Erfahrung will die Welt betrogen werden, und
er gehört lieber zu den Betrügern. Vor seinem Raisonnemen t ver-
stummt der entsetzte Studiengenosse, den er auf dem Boulevard
getroffen, als dieser mit den idealsten Vorsätzen zum Antritt seines
Lehramts iu die grosse Seestadt gekommen ist. Seine Widerrede
erlischt und er verbleibt beim Champaguer des Freundes - viel-
leicht nur dies einzige Mal, wir wissen es nicht.
Sollen diese Zeichnungen ein Bild der ganzen Nation geben ?
Gewiss nicht. Garschin stellt auch andere Personen dar, und nicht
nur diesen begeisterten Pädagogen, der die Schlechtigkeit gar nicht
fassen kann, freilich auch nicht den Entschluss, sofort sich von ihr
zu trennen. Der Dichter führt den in sich befriedeten, natur- und
kunstfrohen Jünger der Landschaftsmalerei vor, warmblütig und
heiter, hilfsbereit seinem Nächsten, aber gelassen gegenüber den
Leiden der Masse, die er nicht zu lindern vermag. Er schildert
auch den strebsamen Studenten, der, seiner Wissenschaft hiugegeben,
die Thatsachen nimmt, wie sie einmal liegen ; das pflichttreue,
opferstarke Mädchen gesunden Gefühls und richtigen Urtheils.
Aber die dumpfe Wahrheit dieser c pessimistischen > Erzählungen
tritt durch die vollkommene Einflusslosigkeit der gesunden und ehr-
lichen Persönlichkeiten nur um so siegreicher und hoffnungsloser
zu Tage.
Der Eindruck solcher zur Unnatur, zum Wahnsinn gesteigerter
Nervosität dieses Volkes wird vertieft bei der Wahrnehmung, dass
eiu Manu, wie Graf Leo Tolstoi, die Bahn, auf der er mit Tur-
genjew um den Ruhm des ersteu Dichters Russlands wetteifert,
verlassen und religiöser wie socialistischer Schwärmerei nachgeht.
Letztere ist offen im < Märchen von Iwan dem Narren > gepredigt.
Da heisst es zum Schluss : «Iwan lebt noch bis auf den heutigen
Tag und es kommen immer mehr Leute in sein Reich ; auch seine
Brüder kamen zu ihm und auch die unterhält er. Einem Jeden,
der da kommt und sagt: «Erhalte mich!» antwortet er: «Gut,
bleib nur bei uns ! wir haben alles reichlich!»
«Es ist nur ein Gebrauch in seinem Reiche : derjeuige, welcher
Schwielen an den Händen hat, setzt sich an den Tisch — wer
aber keine hat, der bekommt die Ueberbleibsel.»
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Notizen.
»Wovon die Leute leben» ist eine poetische, phantasievolle,
ja hohem Grade ansprechende Erzähluug, eiue christliche Legende,
könnte man sagen, und ohne einen Beigeschmack und Tadel. Was
soll man aber von den Kenntnissen der schweizer Presse über
Russland sagen, wenn dies Märchen den Berner Bund in seiner
Sonntagsbeilage zum Ausruf bringt: <üb vielleicht nicht doch noch
einmal, der alten Sage gemäss, das Heil der Menschheit von Osten
kommen wird ? (NB ! als ob es nicht schon erschienen sei !) So viel
ist sicher : im russischen Volke leben noch weltüberwindende Kräfte
im Rohzustande, wenn man so sagen darf, welche in Cultureuropa
abgenutzt, ausgelebt, verholzt sind.» Namentlich auf der Folie
der Garschinschen Erzählungen !
Ganz russisch nach ihrem Inhalt wie nach der realistischen Dar-
stellung desselben, ganz uurussisch, auf der Hölie wahrhaft humaner
Weltanschauung, in abgeklärter Ruhe nach aller tobenden Leiden-
schaft, von Liebe, Glaube und Hoffnung getragen ist P. Krusche-
waus Novelle «Sie ging nicht zu Grunde», ein Meisterstück idealen
Gehaltes. Nur darf sie weder nach den dargestellten Personen,
noch nach der dichterischen Auffassung als typisch gelten. Solche
Individualitäten wie Wjera Danischewa, wie Borissewitsch, wie
den Dichter selbst kann Russland erzeugen — die Thatsache lehrt
es, sie bleiben aber Ausnahmen, an denen man sich erfreuen kann,
wie in der Publicistik am «Europäischen Boten» ; nicht um Haares
Breite erschüttern sie den Zweifel an der Vervollkommnungs-
fähigkeit der Nation, sie erhärten nur den alten Satz von der Be-
stätigung der Regel durch die Ausnahmen.
Die Erzählung führt den Leser in das Petersburger Studenten-
leben zur Zeit der zweiten Periode der in diesem Jahre aufge-
hobenen medicinischen Frauencurse. Die Excentricitäten der ersten
Zeit haben sich gegeben. Wir treten in eine gebildete, arbeitsame
Gesellschaft der so eigenthümlich gemischten männlichen und weib-
lichen studirenden Jugend. Ein wie anderer Ton herrscht in ihr
als in der, welcher Dostojewskis Raskolnikow angehört ! Hier ent-
wickelt sich die Liebe zwischen der armen charaktervollen Däni-
sche wa und dem reichen, mit aller Liebenswürdigkeit ausgestatteten,
aber unbeständigen Weligin. Mit Zartheit und hohem Reiz wird
das Verhältnis geschildert, das nach abgelegtem Schlussexamen die
Ehe krönen soll. Der schwache Verlobte bricht aber sein Ver-
sprechen gegenüber den Lockungen einer reichen Heirat. Die ihm
völlig ergebene Geliebte, im ersten Schmerz zum freiwilligen Tode
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Notizen.
1333
getrieben, gewiunt die Herrschaft über sich selbst zurück und lebt
ihrem Kinde und ihrem Beruf. Als Landschaftsärztin, eine der
wenigen weiblichen Doctoren, die diesen Beruf erwählten — nach
der trefflichen Ueberschau, die Dr. Heyfelder in St. Petersburg so-
eben über die Wirksamkeit der medicinischen Frauencurse in < Uusere
Zeit», Augustheft, gegeben hat — kämpft sie heldenhaft gegen
die Dummheit und Verkommenheit der Menschen, die Knauserig-
keit und Gleichgiltigkeit der Landschaft; sie rettet Weib und Kind
des einst Geliebten und trifft in der Geburtsstunde seines Sohnes
zum ersten Mal wieder mit ihm zusammen. Die Kraft ihrer Selbst-
verleugnung erweckt die eingeschläferten edleren Regungen im un-
glücklichen Manne, der fortan die Leere seiner Ehe durch Mit-
arbeit an den Gemeindeinteressen auszufüllen sucht. Dr. Danischewa
aber reicht einem bewährten Freunde, der sie längst entsagungs-
voll geliebt, die Hand zum Bunde.
Der Hergang ist einfach, wie mau sieht. Aber unter den
wüsten Ueberraschungen und verfänglichen Lagen, in die man bei
den modernen russischen Schriftstellern zu gerathen pflegt, beruhigt
jene Einfachheit, und mit welchen Mitteln plastischer Darstellung
kommt sie zur Geltung !
Die vorzügliche Uebersetzungskunst Wilh.Henckels in München
lässt den deutschen Leser ganz vergessen, dass er Werke fremder
Sprache vor sich hat ; auch der uns zum ersten Male begegnenden
Uebeitragerin der Tolstoischen Märchen ist die Wiedergabe der
schlichten Sprache des Dichters wohl gelungen. Fr. B.
Zeitschrift für deutsche Sprache, herausgegeben von Prof. Dr.
Daniel Sanders. Hamburg, J. F. Richter. Jahrg. 1. 1887.
12 Hefte. 19 Mark.
Fast überall lässt es sich beobachten, dass das Fremde, Ausser-
heiinatliche durch das vielversprechende mystische Dunkel, in welches
es gehüllt ist, grosse Anziehungskraft auf das menschliche Gemüth
ausübt. Ganz besonders aber sind leider bis vor nicht langer Zeit
die Deutschen diesem Zauber unterworfen gewesen. Das beweisen
u. a. ihre Literatur und ihre wissenschaftlichen Studien. Während
vom Aufblühen des Humanismus an das Gebiet der klassischen
Philologie Deutsche mit besonderer Vorliebe bebaut haben, sind
all die reichen Schätze, welche ihre eigene Sprache dem Forscher
darbietet, bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts fast unberührt
634 / Notizen.
geblieben. Doch auch jetzt noch lassen sich trotz der hervoi ragenden
Leistungen der Gebrüder Grimm u. a. die germanistischen Studien
und das Interesse für dieselben nicht als weit genug gediehen be-
zeichnen, als dass nicht das Hervortreten eines neuen diesem Ge-
biete gewidmeten Organs Anerkennung verdienen und Freude be-
reiten sollte, — namentlich wenn der Leiter kein Neuling mehr,
sondern im Gegentheil eine alterprobte Kraft ist. Uns liegt näm-
lich das erste Heft der von Prof. Dr. Daniel Sanders herausgegebenen
Zeitschrift für deutsche Sprache vor. Schon seit 25 Jahren, seit
dem Erscheinen des Wörterbuches der deutschen Sprache, welches
für alle darin behandelten Erscheinungen auch zahlreiche, inter-
essante Belege von Luther bis auf die Gegenwart bringt, hat der
Name des Prof. Sauders in weitesten Kreisen einen guten Klang.
Ist er es doch, der die von Gottsched, jenem auch durch Lessing
nicht stets ganz berechtigt angegriffenen leipziger Dictator, be-
gründeten und von Adelung fortgeführten Studien mit viel Erfolg
aufgenommen hat.
Die neue Zeitschrift ist vor allem der neuhochdeutschen
Schrift spräche gewidmet ; Mundartliches und zur Zeit Ver-
altetes soll nur so weit behandelt werden, als die Einführung oder
Wiedererneuerung zur Bereicherung des heutigen schriftdeutschen
Sprachschatzes dienen kann. Zur Hauptaufgabe aber stellt sich
die Zeitschrift, (die Zahl der sorgfältigen und aufmerksamen Leser
in Deutschland, die bisher nicht allzu dicht gesäet sind, zu ver-
grössern. Dadurch werden dann, so hofft Sanders, auch die moder-
nen Schriftsteller veranlasst werden, den gesteigerten Anforderungen
der Leser entsprechend, an ihrem Theile sorgfältiger auf Form und
Inhalt zu achten, was natürlich zum Vortheil unseres Schriftthums
ausschlagen muss. Zur Lösung dieser umfangreichen und schwierigen
Aufgabe haben sich Prof. Sanders bereits in den vorliegenden
ersteu vier Heften Mitarbeiter gesellt, wenngleich der Herausgeber
vorzugsweise seine eigene Kraft an das Unternehmen setzen zu
wollen scheint, auch finden sich fast nur Sanderssche Werke citirt,
von diesen aber eine sehr grosse Anzahl.
Eröffnet wird das erste Heft durch ein Vorwort, in dem der
Herausgeber sein Programm aufstellt : wie wir bereits andeuteteu,
soll die Zeitschrift einreissendem falschem Gebrauche entgegen-
treten, falsche Kegeln und Vorschriften berichtigen, sowie bei noch
schwankendem Gebrauch das Für und Wider möglichst eingehend
abwägen. Diese Erörterungen will der Herausgeber meistens au
o
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Notizen.
635
Masterstücke aus guten Schriftstellern anknüpfen, und zwar sowol
an Prosa wie an Poesie.
Als erste Abhandlung begegnet uns eine sehr eingehende Be-
sprechung eines Theiles des ersten Briefes in Goethes «Der Sammler
und die Seinigen» ; hierin sucht Sanders nachzuweisen, dass dieses
so wenig bekannte Product unseres Dichters, dessen Prosa nicht
immer mnstergiltig ist, einen an sich trockenen Stoff (die Klassifi-
cirung von Künstlern und Kunstliebhabern) durch die Form der
Darstellung mit frischem Leben und anmuthigem Reiz zu umkleiden
versteht. — Hieran schliesst sich ein schon früher erschienener
Aufsatz : Spracheigentümlichkeiten bei Lessing. Sanders bespricht
darin den merkwürdigen Gebrauch von: t Schuldner» statt «Gläubi-
ger» ; von «viele zwanzig Jahre» in der Bedeutung von: «lange
Zeit», und «die Gnade haben», wofür es sonst heisst: «um die
Gnade bitten». — Es folgt eine kurze Abhandlung von A. Ledebur
«Ueber die Beseitigung der Fremdwörter in der gewerblichen
Sprache». Nachdem als Princip aufgestellt ist, dass nur da der
Barbarismus beibehalten werden dürfe, wo er nicht durch ein
deutsches Wort wiedergegeben werden kann, verdeutscht Ledebur
eine Anzahl technischer, bisher durch fremde Ausdrücke bezeichneter
Begriffe. — Ferner findet sich eine Hindeutung auf den überaus
häufig auch im Druck auftretenden Fehler: «aus aller Herren
Länder» statt: Ländern; sowie in deutscher Uebertragung das sehr
abfällige, in der Revue de V Enscigncment des Langues Vivantes aus-
gesprochene Urtheil über die neue Rechtschreibung1. — Den Schluss
des ersten Heftes der Zeitschrift für deutsche Sprache bildet, ab-
gesehen von kürzeren Bemerkungen, eine Besprechung der zweiten,
von Gustav Hauff neu bearbeiteten Auflage von Kellers deutschem
Antibarbarus, an welche sich eine Untersuchung schliesst über
die Frage, ob das Pronomen «es» nach einer Präposition gebraucht
werden dürfe. Eine Entgegnung G. Hauffs bringt das vierte Heft
der Zeitschrift, wie derselbe auch Rümelins vielgenannte Schrift
über «Die Berechtigung der Fremdwörter» gründlich kritisirt.
Dass die Zeitschrift jedem Gebildeten — denn nicht nur an
Fachgelehrte wendet sich die Zeitschrift gar manche Anregung
und Aufklärung zu gewähren vermag, ist nicht zu leugnen. Ob
aber nicht bei des Herausgebers Standpunkt Behandlung und Ur-
theil leicht einseitig werden könnten, ist doch mindestens fraglich.
1 Bänder* ist ilentelben Meinung nml hat wiiic eigen* Orthographie.
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6S6
Notizen.
Jedenfalls als Druckfehler aufzufassen ist die Endung cen»
in: esonstige für allgemeinere Kreise bestimmten (statt: — te)
Geisteserzeugnisse» auf S. 29 unten, sowie: «in vielen (statt: — ler)
guten Schriftsteller Aufsätze» auf S. 34 oben. — Nicht passend
erscheint mir die Anführung der Stelle:
«Fühle , was dies Herz empfindet,
Reiche frei mir deine Hand,>
als Beleg für die Behauptung, dass «fühlen» einen stärkeren Affect
bezeichne als «empfinden», namentlich da Sanders erklärt: «Mein
Herz ist für dich in mächtiger Liebe erregt ; möge diese
meine Erregung in deinem Herzen einen Wiederklang finden >.
— Ist denn nicht jene «mächtige Liebe» selbst etwas Stärkeres
als ihr «Wiederklang*?
E. Westermann.
Aoanojeno nenaypo». — Peocji., 1-ro OicTfl6j»a 1RH".
C.:iucLt Uoi IJodbn' Erben in Ker.l.
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Bischof Dr. Johannes Rudbeckius und die erste estlandische
Provinzialsynode.
II.
5. Der weitere Verlauf d e s 0 o n f 1 i e t s zwischen
R u d b e c k und dem revaler Stadtconsistorium.
as Stadtconsistorium hatte durch den Vorweis von Privilegien-
Sammlungen für sich ein forum privilegiatum beansprucht,
hierfür aber bei dem revidirenden Bischof gar kein Verständnis
gefunden. Als nun die Synode ihren Anfang nahm, blieben die
Geistlichen der Stadt Reval den Sitzungen fern, hielten es jedocli
für nöthig, am Tage des 8. Aug. durch zwei Prediger der Stadt
eine Entschuldigung1 ihrer Absenz beim Bischof vorzubringen;
«jedoch erhielten sie die Resolution und Antwort danach' ;» worauf
sie privatim dem Bischof mittheilen Hessen, sie würden am anderen
Tage zur festgesetzten^ 'Stünde erscheinen.
Der 9. August 3' der vierte Tag der Synodalsessionen, begann,
etwa um 7 Uhr morgens, mit einer (Probe-) Predigt des Herrn
Joachim Finck zu Rappel, worauf alle um 8 Uhr in das Sacrarium
gingen. 1) «hielt der Bischof seine Ermahnungspredigt; 2) alle
setzten sich nach der Ordnung uieder«; 3) hielt Mag. Heinr. Stahl»
1 €caloam excusationem siiontm absentiae et inobcdientiae* , sagt Aschan.
1 Lib. Asch. ~p s cf. ebenfalls d. Lib. Asch.
* Es sei in Erinnerung gebracht, das« die Landpastoren Isings den Wänden
zu je vier auf einer i:£uk sismii ; der Bischof, die übrigen Comnrissare und die
Pröpste sassen an einem Tisch in Avr Mitte der Landpastoren.
BalUfdM MonaUsclirift. Ban.1 XXXIV. lieft S. tl
638 Bischof Rudbeck.
— jener damals vielleicht bedeutendste Landpastor und um die
Ausbreitung der Kenntnis des Luther- und Christenthums unter
den Esten hochverdiente Mann« — «seine Oration über die Visita-
tion und Reformation der Kirchen Livlands> (seil Estlands). Wahr-
scheinlich referirte er über die am vorhergehenden Tage zur Ein-
sicht übergebenen Acten Dubberchs ; als Correferent wird ein
f Pastor aus Cammeren> (?) genannt; 4) «hielt Mag. Andreas
seine Ermahnungsrede ; 5) ermahnte der Bischof seinerseits alle
ad honestatem (zu Tugend und Anstand)» ; G) begann nun die für
den Tag angesetzte Disputation, über deren Inhalt wir jedoch
nichts Näheres anzugeben vermögen. Erwähnt wird von Ascha-
naeus, dass an derselben, wenigstens bei der Fortsetzung am anderen
Tage (10. Aug.), auch der frühere Rector der Domschule, Paulus
Lempelius, und der gegenwärtige, Dr. Heinr. Bartholom. Aboicus
und Mag. Samuel Knopius1 theilnahmen, die beiden Schweden ;
Sveno und Johannes Elai sich durch ihre Kenntnisse im Griechi-
schen hervorthaten und Gabriel Holstenius» das Präsidium führte.
«Mitten während der Disputation erschienen nun 4 (5) aus dem
Consistorium und Ministerium von Revaki
Für den jetzt folgenden skandalösen Vorgang besitzen wir
ein schwedisches Protokoll5, das, dem Liber Aschan. beigefügt, eine
offizielle Schilderung darstellt. Es heisst darin: «Zum ersten Mal
erschienen diese Fünf aus der revaler Stadtgeistlichkeit und dem Con-
sistorium, nämlich : Mag. Heinr. Westring, Mag. Erich von Beek,
Mag. Eberhard Räntell (sie), Mag. Ludwig Donte (sie) und Mag.
Herinoldus, Conrector der Revaler Schule. Nota : zwei von diesen
eroberten den Tisch (<allaborucrunt mcnsam>): Westring und Beek;
die anderen Herren : Räntell und Donte jedoch ohne die Erlaubnis
und Berufung (sine venia et vocatione) des Herrn General visitators
und hoch würdigen Bischofs. Die Oberpastoren (primarii *prichi~
dis* [?]) waren an den Tisch nach deutschem Brauche heran-
gekommen. Nota. £)ie Worte des Bischofs nämlich : sie sollten sich
dessen erinnern, dass sie Capläne wären und dass an keinen der
1 ff. IWker: «Ehstlands LandgeistlichkeiU 1849.
1 Dass einer aus der .Stadtgeistlichkeit daran thcilnahm, ist. interessant.
* Wahrscheinlich ist das derselbe, der sonst Mag. (Tabriel(i) genannt wird.
4 Asch, nennt nur 4, das nachfolgende Protokoll aber 5. Asch, rechnet,
eben «Uerinoldns» nicht zum Consistorinm.
' Die Kenntnis davon verdankt der Verf. dem Herrn Archivar Dr. Victor
(»ranlnn. L. u. Schw.
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Bischof Rudbeck.
G39
Auftrag oder Ruf ergangen sei, sich strax dort hinzusetzen, wo die
auserwählten Herren Pröpste vom Lande sassen. Da standen sie
auf an der einen Seite und setzten sich strax nieder an der anderen
Seite desselben Tisches. Da musste der Herr Bischof sie das
zweite Mal laut abweisen, wie es sich gebührte, und mussten sie
sich mit Schande unter die anderen an der Wand ganz zu unterst
niedersetzen.»
Das Itinerar des Aschanaeus schliesst seinen Bericht' vom
9. Aug. also: cHier endete die Disputation; hernach wurden alle
aufgefordert, um 1 Uhr wieder zu erscheinen. NB. Am Nach-
mittag wurde die zusammengestellte (colligerade) Kirchenordnung
verlesen und vom Herrn Bischof auf lateinisch interpretirt. Nota.
Nachher (sedan), d. h. zur Nachmittagssitzung, kam keiner von dem
revaler Ministerium wegen der Schmach. Aber die Landgeistlich-
keit kam, hörte sie [seil die Kirchenordnuug) bis zu Ende an,
gutwillig, nahm sie an und genehmigte sie gleich» &c.
Zur Erläuterung der Umstände, die zu dieser skandalösen
Affäre führten, und für die Darlegung des weiteren Conflicts-
verlaufes verfügen wir über ein recht umfangreiches und instruc-
tives Material, bestehend in den zwischen dem Bischof und der
Stadtgeistlichkeit ausgetauschten Schriftstücken. Letztere in wört-
licher Uebersetzung wiederzugeben, ist ihres Umfanges und ihrer
Anzahl wegen nicht angebracht. Wir beschränken uns deshalb
auf eine inhaltliche Reproduction, geben aber dem Wortlaut an
der Stelle Raum, wo solches zum Verständnis und zur Charakteri-
stik der Personen dringend nothwendig erscheint.
In der Zeit zwischen dem 9. und 18. August scheint der
Conflict geruht zu haben. Unter dem Datum des 18. Aug. lief
aber folgendes bischöfliche Schreiben* an die revaler Stadtgeistlich,
keit ein : «Ihr, welche zu den Angesehensten gehört — und wir
zweifeln nicht, dass ihr es verdient — hättet als erste erscheinen
sollen. Zwar sind einige von euch als Freunde in unserem Quar-
tier (ut antici in hospitio) erschienen, im Consistorium» jedoch als
Assessoren keineswegs. Die Landpriester (rurales) haben I. K. M.
feierlich den Treueid abgelegt, ihr habt weder den Eid abgelegt,
noch dafür, dass andere es thun, euch Mühe gegeben. Die anderen
• «lern wir jedoch das nlleg. Protokoll vorzogen. D. Verf.
1 L. Die Titulaturen und UebcrHchriften werden nowol hier als an anderen
Stellen nach Möglichkeit übergangen. D. Verf.
■ bedeutet hier: Synode.
43*
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040
Bisehot Rudbeck.
haben die nach der schwedischen Kirchenordnung zusammengestellte
Ordinanz so zu sagen mit beiden Händen angenommen, ihr habt sie
nicht einmal anhören wollen. Ausser in der öffentlichen Bekannt-
machung" habe ich euch noch privatim zu erscheinen geratheil, aber
nicht zu überreden vermocht. Wie wollt ihr nun den Verdacht
des Ungehorsams gegen I. K. M. von euch wälzen ? wie euch be-
freien von dem Scheine, dass ihr auf die Kirchen Livlands (seil.
Estlands), deren Zustand durch eueren Rath zu fördern ihr euch
nicht abgemüht, nicht die schuldige Mühe verwandt habt ? Exem-
tionen und Privilegien schützt ihr vor. Wir wollen denselben keinen
Abbruch thun, aber noch haben wir das nicht gesehen, was euch
in diesem frommen und christlichen Werke von dem Gehorsam
gegenüber I. K. M. ausnehmen könnte. Schon die christliche Liebe
forderte es von euch, dass ihr dem verlassenen Zion in Livland
zu Hilfe kommt. Dass ihr uns darüber und über euer Recht der
Ordination, Promotion, Citation, Examination und Jurisdiction über
die Geistlichen, insbesondere der Landkirchen, schriftlich (besser)
unterrichten möget, als wir es bis jetzt sind, bitten wir euch
brüderlich und freundschaftlich, damit I. K. M. erkenne, dass wir
unseres Amtes eingedenk gewesen sind. Und damit nicht über die Ein-
setzung eines Consistoriums, Bischofs und Gymnasiums zu Reval hin-
künftig zwischen I. K. M. und euch und euerem Amtsbezirk (et vos
vestramque orbem) eine Discrepanz (sie) entstünde, empfehlen wir
euch alle Gott, der da ist die Zuflucht der bedrängten Kirche und
ihrer Anhänger und der höchste, weise, gute und gerechte Be-
schützer derselben.»
Wir lassen hier, ohne auf des Bischofs so wichtiges Anklage-
schreiben näher einzugehen, die erste Antwort der revaler Stadt-
geistlichkeit vom 25. Aug. in stark verkürztem Auszüge' unmittel-
bar nachfolgen :
«Schon Valerius Maximus und Lactantius sprächen es aus,
dass die weltlichen Dinge um so schlimmer würden, je mehr man
es verabsäume, der Gottheit richtig zu dienen ; dass demjenigen,
der Gott dient, alles glückt, dem Verächter Gottes aber alles mis-
lingt. Und desselben Glaubens lebten auch sie (seil, die revaler
Stadtgeistlichkeit). Doch man brauche nicht von weitem her sich
Beispiele zu holen, nicht ins Alterthum zurückzugreifen, Livland
1 Die früher erwähnte «Intimatio synorfalis».
' Im resp. Copinlhuche ixt tlaaselhe 30 Qimrtxeiten lang. L.
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Bischof Rudbeek. 641
(seil. Estland) selbst sei seit fast 70 Jahren ein sprechender
Beweis, wie bitter es dem ergehe, der Jehovah, seinen Gott ver-
lasse.» . . . Und nun muss Cyprian herhalten zum Belege dessen,
wie die Welt im Argen liegt, alle Frömmigkeit geschwunden ist
und Treu und Glauben der Lüge, dem Betrüge und der Gewinn-
sucht das Feld geräumt haben &c Und doch ! alle die
schrecklichen Greuel, die Joannes Basilides Über sie (seil die Est-
länder) gebracht — es folgt nun eine erschreckliche Schilderung —
selbst nicht der furchtbarste der Kriege, der Bürgerkrieg, habe sie
hier zu Lande besser gemacht. Sie (seil, die Geistlichkeit) hätten
nun seit lange zu Gott um Besserung der Zustände gefleht —
(zum Beweise dessen folgt hier eine Lamentation von einer Quart-
seite) — und uun seien sie erhört und sei durch den König der
Erretter gesandt worden. Mit Freuden hätten sie und das ganze
Land des Bischofs Ankunft begrüsst; — aber da sei, wie ein
Blitz aus heiterem Himmel, der Vorwurf auf sie gefallen, als
wenn sie der göttlichen uud menschlichen Majestät Verächter
wären. . . . Voll Bewunderung müssten sie die Weisheit des
Königs preisen, der ihnen in der Noth einen so weisen Mann, wie
den Herrn Bischof, der zugleich ein Theologe von Profession sei,
gesandt habe. Um so weniger begriffen sie daher, wie man gegen
sie, denen nichts mehr am Herzen liege, als die Aufrichtung der
Kirche in Estland, so schwere Anschuldigungen erheben könne
Denn was für eine Gestalt die Kirche, was für eine Form das
Ministerium haben solle, das müsse nach Gott, des Allmächtigen,
Güte zum grössteu Theile ihren Sorgen, ihren Arbeiten und Mühen
zuertheilt werden, wie nicht nur die Guten alle, sondern auch die
Gottlosen zugestehen würden«. . . . cUnd weder behaupten wir»
das aus Ruhmsucht, noch schreiben wir das unserer Tugend zu,
sondern allein der göttlichen Gnade, die mit uns gewesen ist.
Daher glauben wir das freilich hoffen zu dürfen, dass, wenn
wir auch nicht Lob oder Belohnung verdienen, wir doch wenig-
stens keines Tadels schuldig sind. Da wir aber nun jetzt wider
alle Meinung und Hoffnung in die höchste Gefahr gebracht
worden , werden wir von schier unglaublichem Schmerze er-
griffen, dass es durch die Künste des Teufels dahin gekommen
ist , dass wir nicht nur in den Verdacht so grosser Ver-
1 Es wird mithin auch das Recht betont, mitzuwirken an der Organisation
der Landeskirche.
• Auch die directe Rede ist vielfach gekürzt.
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G42
Bischof Rudbeck.
brechen gerathen, nicht blos durch die Reden der Gottlosen öffent-
lich dem Spotte preisgegeben, sondern auch von euch, hochwürdiger
Herr, im Namen des Königs öffentlich angeklagt werden. Ist es
schon bitter, mit ungeäusserten Gedanken der Guten gepeinigt zu
werden, noch bitterer ist es, in den Reden derselben getadelt zu
werden ; aber von denen angeklagt zu werden, welche mit öffent-
licher Autorität bekleidet sind, das ist wahrhaftig am bittersten.
Es müssen gewiss die zureichendsten und gewichtigsten Gründe
sein, welche Ew. Hochwürden, eines Theologen und Bischofs und
Vaters der Gemeinde (communis parentis) Sinn dahin gebracht
haben, uns mit einem so scharfen Schreiben zuzusetzen. Wir
mttssten den Muth sinken lassen und jeden Versuch der Verteidigung
aufgeben, wenn uns nicht stärkten zum Theil die Tugend, Frömmig-
keit und Milde Ew. Hochwürden, zum anderen Theil jene Reden,
welche ihr an einige von uns gerichtet habt und durch welche
ihr kundgabt, dass ihr mit uns in der Stadt Lehrenden keinen
Streit haben und nicht etwas von unseren Privilegien uns nehmen
wolltet — was ihr auch hernach schriftlich bekräftigt habt
wenn uns nicht all das den Anlass guter Hoffnung böte, ihr
würdet auch den Beweis unserer Unschuld zulassen. In dieser
guten Hoffnung machen wir uns nun an euer Schreiben selbst. >
... Es folgt nun die weitläufige Autzählung aller Anklagen. . . .
Diese* abzuwehren, falle nicht schwer, weil vor aller Augen die
Rathschläge, Sorgen, Bemühungen und Arbeiten ständen, durch
welche sie, so weit es jedem einzelnen möglich (pro virili), die est-
ländische Kirche gefördert hätten und stets, sei es auch mit Ver-
giessung ihres Blutes, zu fördern bereit seien. «Dafür Gott, der
unsere Seelen und Gewissen sieht, zum Zeugen anzurufen, scheuen
wir uns nicht. Und wenn es nur an uns liegen würde, so würde
man auf dem Erdkreise kaum eine Kirche finden, welche in grösse-
rem Glänze stünde als die livländische'.» . . . Und wenn das
auch von den Verleumdern geleugnet werde, sie wüssten es wohl,
sich auf das Gewissen des Bischofs zu berufen, des gewiss, dass es
für sie sprechen werde. . . . Nichts sei auch leichter, als jemandem
den Vorwurf des Ungehorsams zu machen, doch sei «der Verdacht
noch nicht die Wahrheit». . . . «Niemals haben wir dem Könige
den Gehorsam verweigert und werden wir ihn verweigern. Nie-
mals haben wir uusere Privilegien entgegengestellt, um so heiligem
1 Zeugt von nicht geringem Selbetbewuaatsein.
Bischof Radbeck.
643
Bemühen des besten Königs nicht zu willfahren. Solche Privilegien
wären vielmehr <Prrwilcgia> als < Privilegien zu neunen ; und ein
solches Recht wäre vielmehr als «ruchlose Freiheit» zu verabscheuen,
denn als Gerechtigkeit zu erachten. Ja, wollen wir es mit beredten,
offenen Worten und klarer Stimme gestehen : wenn es solche Privile-
gien wären, welche dem Könige den Gehorsam, der Kirche das
Heil absprechen, so müssten sie von der Stimme aller Frommen
verflucht und "von allen mit Füssen getreten werden. Weit ent-
fernt, dem königlichen Willen und dem Nutzen der Kirche das
schreckliche Gespenst der Privilegien entgegenhalten zu wollen,
können wir nicht umhin, Ew. Hw. daran zu erinnern, dass jene
Art des Argumentirens hoch gefährlich ist, diejenigen des Unge-
horsams zu beschuldigen, welche das, was ihnen im Namen des
Königs befohlen wird, nicht gleich erfüllen. Es ist ebeu auch hierin
ein Mass, es sind auch hier feste Grenzen, innerhalb deren sowol
die königlichen Mandate als der Gehorsam der Untergebenen gleich-
sam wie mit festen Marken versehen werden, so dass es nicht
gleich ein Verbrechen ist, nicht gethan zu haben, was befohlen
wird.» — — — Was die Beschuldigung beträfe,
dass sie, denen es am ehesten zugestanden haben würde, mit zu
rathen und zu thaten, sich davon fern gehalten und das den Land-
pastoren überlassen hätten, so wäre es nicht schwer, sich hiervon
zu reinigen. ... Se. Hw. wnssten sehr wohl, dass sie auf der
ersten Zusammenkunft, über die ihnen zugedachte Ehre, am Wohl
der Kirche mitzuarbeiten, hoch erfreut, ihre Hilfe als «Assessoren
im Consistorio (seil. Synodalsession) und nicht blos als Freunde in
seinem Quartier» zugesagt und zu erscheinen versprochen hätten,
wenn man sie dazu rufe. Dazu hätten sie sich auf der Audienz
bei Sr.Hw. und hernach nochmals im (Privat-) Colloquium verpflichtet.
« Es gebührte sich, dass wir, als der Tag des Consistoriums bevor-
stand, rechtzeitig eingeladen würden, es hat uns aber niemand ein-
geladen». Als wir hernach zum Disputationsact erschienen, euerer
Sitten unkundig, unkundig auch der Gebräuche, welche beobachtet
zu werden pflegen, — spazierten wir einige Zeit in der Kirche
auf uud ab, bis wir näher zu treten aufgefordert werden möchten ;
— aber wir warteten vergebens. Es war niemand da, der uns
herbeigerufen, an den für uns ungewöhnlichen Platz geführt und
uns einen Sitz angewiesen hätte. Es war aber uothwendig, dass,
1 Convcnit, ut instante consistorii die maturc vocaremur, voeavit nemo.
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044 Bischof Rudbeek.
wenn nicht gegen euere Sitten und das Decorum ein Verstoss von
uns gewünscht wurde, jemand da sein musste, der jedem den Platz,
der ihm zukam, anwies. Wie die jüngeren unter uns empfangen
und hart behandelt und in eine finstere Ecke verwiesen sind, ist
Ew. Hw. nicht unbekannt. Ziemlich hart empfangen, wurden wil-
dem Gelächter derer preisgegeben, die dies schon längst von ganzem
Herzen gewünscht und nach Möglichkeit nichts unversucht gelassen
haben, endlich einmal ihrem Uebelwollen gegen uns in Gespött
Ausdruck zu geben. Denn uns sind nicht unbekannt die Reden
gewisser Leute, welche damit prahlten, dass dies geschehen sei,
um an uns Vergeltung oder Strafe dafür zu nehmen, dass wir eine
ungebührliche Behandlung der Prediger auf dem Lande öffentlich
zugelassen hätten ; indem sie blos das beklagten, dass die Geschosse
dieser Schmach nicht gerade diejenigen trafen, für welche sie be-
stimmt waren'. > . . . Doch solche werde für ihr schändliches Unter-
nehmen schon die Nemesis treffen. . . . Und wenn ein Fehler be-
gangen worden, so sei derselbe nicht aus Absicht, sondern aus
Irrthum geschehen. . . . Und weiter heisst es: < Daher ist es ge-
kommen, dass wir es für nöthig gehalten haben, uns von eueren
Zusammenkünften fern zu halten, theils um Ew. Hw. nicht noch
mehr zu erzürnen, theils um nicht in noch grössere Schmach zu
verfallen^ . . . Wenn also jemandem das Verbrechen des Unge-
horsams beigelegt werden könne, so seien das nur diejenigen, welche
Schuld daran trügen, dass sie I. K. M. - Willen zuwider von dem
durch Dieselbe ihnen zugetheilten Platze, als Rathgeber, vertrieben
und von der Theiluahme an den Berathungen, da niemand ihnen über
dieselben Mittheilung machte, ausgeschlossen worden seien1 &c. &c.
Auch den zweiten Vorwurf, betreffs des Eides, weisen sie
gänzhch ab, da ihnen niemand, ihn zu leisten und andere zur
Leistung zu veranlassen, den Auftrag» gegeben ; auch hätten sie
keine Formel desselben gesehen, würden dieselbe auch vor das
1 Es geht daraus hervor, dass beim Bischof über das Stadtcuusistoriuw
auch Klage geführt worden ist.
' Eine indirecte Anklage gegen den Bischof.
* Es handelt sieh um den Treueid, der, weil mau sieh nicht über die
Formel einigen konnte, noch immer nicht geleistet worden war. Die hierbei bc
wiesen« Hartnäckigkeit des Adels war mit eine Ursache des künigl. Zornes üIht
die Katländer, als er 1 t>ii*> in Reval weilte. Die Landgeistlichkeit hatte, wie bc
merkt, auf dem Synodus den Treueid geleistet, die Stadtgeistlichkeit in Folge des
ansgebrochenen UonJUcts noch nicht, Die Ritterschaft legte ihn auf dem August-
Landtage dieses selben Jahres ab, cf. hierfür die Schritt üreiffeuhageus.
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Bischof Rudbeck.
045
weltliche Forum verwiesen haben &c. — Was drittens das Ritual-
buch betreffe, vulgo «Kircheuordinanz» genannt, so seien sie dessen
gewiss — habe sich doch auch der Hr. Bischof dahin geäussert
— dass eine Conformität der Cerenionien keineswegs erforderlich
wäre. Der heil. Ambrosius selbst behaupte, dass nicht einmal eine
c Dissonanz im Glauben» die Einheit desselben aufhöbe. Sie könnten
auch nicht einsehen, warum sie statt der von Luther selbst hier
getroffenen Ritualordnung, die ein Jahrhundert hindurch in Uebung
gewesen, eine andere setzen sollten, die weder reiu schwedisch
noch wittenbergisch sei. Eine Aufhebung der alten Ceremonien
sei stets gefährlich ; und dem schwedischen Reiche könne es nur
zum Lobe gereichen, dass eine von der schwedischen nur wenig
abweichende, vom seligen Luther selbst eingeführte Ritualordnung
allhier nicht widerwillig, sondern mit Freuden beobachtet werde. . .
Viertens, über die Kirchen Privilegien hätten nicht sie, sondern
der revaler Rath seinerzeit Rede und Antwort zu stehen. . . .
Eine sehr weitläuflge, die protestantische Ordinationspraxis, ins-
besondere aber die ihnen durch die Zeitlage aufgezwungenen des-
fallsigen Pflichten erörternde, geschraubte Deductiou können wir
hier übergehen. Hervorgehoben zu werden verdient jedoch, dass
alle von der revaler Geistlichkeit auf dem platten Lande ausgeübte
geistliche Jurisdiction, wobei sie nie anders als unter Beobachtung
des adeligen Patronatsrechts verfahren sei, als Consequenz der
Nothstände und sittlichen Verpflichtung aufgefasst wird, sie sich
auch gern für bereit erklärt, auf alle diese Rechte, unbeschadet
ihres Ansehens, zu verzichten, uud sich erbietet, nach Wunsch des
Bischofs, zur Organisation eines Consistoriums, so auch für die Er-
richtung eines Gymnasiunis nach Vermögen beizutragen. . . . Mit
den Ausdrücken der tiefsten Ergebenheit gegenüber dem königl.
Mandatar schliesst das zwar weitläufige, aber geschickt concipirte
Antwortschreiben.
Die bischöfliche Replik« (vom 28. Aug.) dieser ersteu Ver-
antwortungsschrift der revaler Stadtgeistlichkeit ist zwar nicht so
umfangreich, wie letztere, erheischt jedoch für die Klarlegung des
bischöflichen Standpunktes eine eingehendere Wiedergabe.
Nach der üblichen Anrede wird der Empfang der dangen,
beredten uud von Affecten erfüllten» Antwort angezeigt und die-
selbe als nicht auf die Sache eingehend bezeichnet. tEr (der
Bischof) sei nicht nach Estlaud gekommen, um ihnen (den revaler
" ■ L.
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646 Bischof Rudbeck.
Geistlichen) Gelegenheit zu Disputationen und zur Abfassung von
Commentaren zu geben, sondern allein, um den Zustand der Kirche
nach Möglichkeit zu bessern. . . . Von jeuer asiatischen (sie) Schreib-
weise glaube er Abstand nehmen zu müssen. . . . Doch wolle er auf
ihr Schreiben in einigen Worten eingehen, damit sie wüssten, was
er von ihrer Antwort halte. . . . Was sie von dem traurigen Zu-
stande der livländischen Kirche sagten, darin sei er mit ihnen ganz
einer Meinung, doch folge daraus, dass sie um so mehr um sie be-
sorgt sein müssten. Dass es ihnen nicht an Eifer fehle, wolle er
schou glauben, weil die- Natur nach Erhaltung ihrer selbst strebe.
Als es aber darauf angekommen sei, mit Hand anzulegen, daseien
sie, wie *rarae avcs>, nicht gesehen worden ; daher man mit Recht
von ihnen dasselbe sagen könne, was im Nehemia (Cap. 2) über
diejenigen stehe, die sich nicht an der Wiederherstellung der Mauern
Jerusalems betheiligt hätten. . . . Als Entschuldigung führten sie
an, dass sie nicht gerufen seien. <Wir sind aber nicht mit so
vieleu Dienern hierhergekommen, dass wir an einen jeden von euch
einen besonderen Boten senden konnten. Wir hielten es für ge-
nügend, wenn, nachdem Ew. Würden privatim ein und das andere
Mal zu unseren Zusammenkünften eingeladen waren und die kgl.
Instruction vernommen hatten, durch öffentliche Bekanntmachung,
wie üblich, und durch unseren Zettel, der von euch selbst (wenn
wir uns nicht irren) von der Kanzel herab verlesen worden ist,
Zeit, Ort und Berathungsgegenstand (causa) der Zusammenkunft
bekannt gemacht wurde. Damit haben sich alle übrigen zufrieden
gegeben, sind erschienen und haben dem kgl. Mandat demüthigst
Gehorsam geleistete . . . fWas ferner das anbetrifft, dass ihr,
unserer Sitten und Gebräuche unkundig, in der Kirche hiq und
her gewandert, von niemandem aufgefordert wäret und euch kein
bestimmter Sitzplatz angewiesen worden sei, — das ist (k)eiue«
genügende Entschuldigung. Nachdem die Rede beendet war, haben
wir über die festgesetzte Zeit hinaus euere Ankunft noch eine
Weile im Chor (wol Schiff der Kirche) erwartet, aber da Ew. W.
weder au den vorhergehenden Tagen erschienen waren, noch auch
jetzt, wiewol sie am Tage zuvor ihr Kommen versprochen, durch
jemanden ihre Verspätung entschuldigten, so sind wir, damit nicht
weitere Zeit für die vorliegenden Dinge verstreiche, in das Sacra-
rium gegangen und haben uns mit Gottes Hilfe an die Arbeit
1 Die Negation ist vom Abschreiber ausgelassen.
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Bischof Rudbeck.
H47
gemacht. Wenn jemand da hätte ahnen können, dass Ew. W.
späterhin gekommen sind und vor der Thür anwesend seien, so
würden wir uns überdies nach eueren Sitten, denen wir uns an-
passen mussten, erkundigt und, nach eigentümlichem Brauche,
einen Anordner euch entgegengesandt haben, der euch an den für
eucli bestimmten Platz in ehrenvoller Weise geführt hätte, damit
euch nicht etwas, was euerem Amte zukam, verweigert worden
wäre. Aber wenn euch entschuldigt die Unkenntnis dessen, was
öffentlich verhandelt wird und allgemein bekannt ist, so entschuldigt
uns gleichermassen die Unkenntnis dessen, was von euch privatim
geschieht oder geschehen ist. Aber wir haben geglaubt, es genüge,
dass wir nicht blos am vorhergehenden Tage dem verehrungs-
würdigen Herrn Superintendenten und seinem Begleiter, Mag. Erich,
nicht ein Mal, sondern häufiger mittheilten, zu welcher Stunde
man sich einzufinden hätte, und eben so, welche und wie viele Plätze
für euch bestimmt seien, zumal wir auch euerem Stadtsecretär das-
selbe kurz vorher mitgetheilt hatten. Wenn Ew. W. den jüngeren
unter euch die Mittheilung unterlassen haben und darauf etwas
wider Erwarten geschehen ist, so glauben wir, dass das mit euerer
und nicht unserer Schuld geschehen ist. Sobald wir bemerkteu,
dass Ew. W. an der Thür1 waren, da hat sich ein jeder, um euch
zu ehren, erhoben und wir haben fürwahr feierlich den verehrungsw.
Herrn Superintendenten au den Tisch und seinen Platz zu kommen
aufgefordert. Den jüngeren gegenüber haben wir das nicht gethan
und waren dazu, so viel wir wissen, auch nicht durch ein Gesetz
verpflichtet, so dass ich mich desselben Beweises bedienen kann, wie
ihr: cwo kein Gesetz, da ist auch keine Uebertretung1.» . . .
c Nicht blos ist die Sitte und Gewohnheit löblich und allen
bekannt, dass auf Versammlungen die jüngeren Fremden, zumal
ehe sie dazu aufgefordert sind, nicht an den Tisch der Standes-
personen (honoratorum) herantreteu , um wie viel weniger von
Aelteren besetzte Plätze eiunehmen dürfen, sondern das ist auch
des höchsten Gesetzgebers nirgendwo anders, als hier, verachtetes
Gesetz. Wenn man von irgend jemandem eingeladen wird &c,
geht einer dem anderen an Ehre voraus, und dieses Gesetz und
diese Gewohnheit hatten die Landpriester gelernt, hätten euere
• junua» ; es kann liier nur der zwischen den Banken im Altarraum frei
gelassene Eingang gemeint sein ; au die Sacristei ist nicht zu denken. D. Verf.
1 «h&i milla lex ibi non tramgressio» stand an einer Stelle der Ver-
teidigungsschrift vom 25. Aug.
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64H
Bisehot Rudbeck.
Jüngereu gelernt haben sollen, statt dass sie mit grober Ignoranz
gröblichst nicht wussten, wie immer sie sich um der Bescheidenheit
und Erziehung willen von den ihrigen auszeichnen sollten ; hätten
es gleichmüthig ertragen sollen, wenn ich, mich des Rechtes eines
Präsidenten bedienend, sie durch Wink und allerflüchtigsteu Blick
freundlich aufforderte, vom Tische wegzugehen und den Aelteren
ihre Plätze zurückzugeben. Aber wir sind über das Mass hinaus-
gegangen, und es ist Gefahr, dass wir uns desselben Fehlers, wie
ihr, im Schreiben schuldig machen.» . . . Dass sie (die Stadt-
geistlichkeit) nun diese ihren Sacellanen angethane kleine Beleidi-
gung (injuriohi) zum Anlass genommen, überhaupt nicht auf den
Sitzungen zu erscheinen, sei ganz unstatthaft. Und der wirkliche
Grund — der aber nicht offen ausgesprochen werde — sei auch
ein ganz anderer". Statt sich mit dem Gehorsam ihrem Magistrat
gegenüber zu entschuldigen und leere Versprechungen zu geben,
hätten sie erscheinen und durch ihre Theiluahme das von den Laud-
pastoren Beschlossene approbiren oder, wenn man sich geirrt habe,
durch ihren Rath den Bischof besser informiren sollen. . . .
AVenn, er nun auf alles Uebrige Puukt für Punkt (sigillaiim)
eingehen wollte, so müsste er ihre langen Homilien (sie) mit noch
längeren widerlegen ; er übergehe daher vieles und constatire blos,
dass sie vieles nicht verstanden, vieles nach Gerüchten und falschem
Verdacht beurtheilten und anderes, was ganz überflüssig sei, an-
führten.
c Euere Abwesenheit trägt die Schuld (est causa), dass wir
nichts mit euch gemeinschaftlich berathen konnten ; . . . dass wir
aber mit euch privatim zusammenkommen, das erschien mir für
königliche Oommissare bedenklich ; auch schien es nicht passend,
schriftlich mit denen zu verkehreu, die iu ein und derselben Stadt
leben. Zu dem Zweck hätten wir in Schweden bleiben können.
Es musste öffentlich verhandelt werden, und nicht konnten wir,
nachdem wir uns mit euch privatim vereinbart, die öffentlich zu
verhandelnden Dinge euch im einzelnen in conclavi mittheilen.» . . .
Damit hätte er ihnen, über die Art und Weise der Verhandlungen
zu bestimmen, Macht gegebeu . . . &c. «Aber wir begnügen uns
mit euerem Zugeständnis, dass ihr keine Privilegien vorschützt.
Indessen ist eiuer aus dem Mittel des Raths mit dem Secretär bei
1 Der Bischof meint offenbar, dass sie ihm überhaupt nicht hätten Bei-
stand leisten, sondern die kirchliche Organisation nach ihrem eigenen Willen
gestalteu wollen.
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t
Bischof Rudbeck. 649
uns gewesen und hat uns eine Confirmation der Privilegien zur
Einsicht gegeben, durch welche sie und ihr beweisen wollt, dass
euch und der Stadt alle kirchliche Jurisdiction zustehe, so dass
wir von aller Sorge für euere Kirchen los und ledig sein sollten.
Aus euerem Zugeständnis steht aber fest, dass euch keine Privile-
gien vom Gehorsam gegenüber dem höchsten Magistrat iu einem
so frommen Werke eximiren können1. Hätte doch auch diese
Meinung bei euch festere Wurzeln geschlagen!» &c. . . . «Eis
genügt, dass ihr eingesteht, keines Rechts der Ordination, Citation
und Promotion der Pastoren, insbesondere derer auf dem Lande,
theilhaftig zu sein ; aber durch die Notwendigkeit gezwungen,
hättet ihr dieses und das übrige gethan. Die Noth wendigkeit ent-
behrt der Gesetze. Euch würde die Notwendigkeit entschuldigen,
wenn es bewiesen wäre und bewiesen werden könnte, dass es
Noth wendigkeit war. Ich räume ein : Anlass und Gelegenheit
trugen die Schuld, die Noth wendigkeit kann ich nicht zugeben*.
Genügend ist auch, was ihr darauf zugebt, dass ihr I. K. M., wenn
Diese einen Bischof, ein Consistorium und eine Akademie hier ein-
führen will, nicht hinderlich sein würdet. Ob ihr auch die Juris-
diction eines Bischofs und Consistoriums über euch und euere
Kirchen zulassen wollt, ist nicht in gleicher Weise gewiss. Sollte
es sein, so nehmen wir das, was ihr so reichlich und gütig1 zuge-
steht, eifrig an, wenn ihr nur durch Unterschrift euerer Namen uns
ein Versprechen geben wolltet ; und nicht ihr allein, sondern auch
euere weltlichen Assessoren, bei denen vielleicht grössere Macht in
dieser Sache ist, als ihr zugebt*, und welche vielleicht euer so
freigebiges Geschenk verweigern könnten.» Dass der
Rath jetzt über die Privilegien der revaler Kirche Rechenschaft
ablege, dazu seien Zeit und Ort jetzt da, <da wir aus eben diesem
Grunde hergeschickt sind, um über das Kirchenregiment und seine
Fundamente, Ort und Bedingungen, gleichwie über die gesammten
Zustände der estnischen Kirchen, keine ausgenommen, aufs genaueste
1 Der Hischof giebt »ich den Anschein, als oh er glaube, das städtische
Consistorinm habe auch auf «eine kirchliche Jurisdiction iu der Stadt ver-
zichtet.
* Und da« erklärt Rudbeck, obgleich er den Mangel einer Instruction für
Nicolans Gaza und dessen Unfähigkeit früher eingestanden hat.
* *large et benigne* j natürlich ist das reiner Hohn.
* Kndbeck hat entweder die Geistlichkeit nicht verstanden oder will sie
nicht verstehen. S i e hat in der Rechtsfrage dem Rathe innner das grossere
Gewicht beigelegt.
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650
Bischof Rudbeck.
unterrichtet zu werden. . . . Und da Ew. W. dazu ausser Stande
zu sein behaupten, ja, sich auf ihren Rath berufen, halten wir es
für nöthig, dieses vom Rathe selbst zu fordern.»
Ausser einigen beissenden Bemerkungen und Wortspielen, die
wir jedoch übergehen, ist noch ein Passus von Bedeutung, mit dem wir
die bischöfliche Replik abschliessen lassen wollen. Es heisst : « Wenn
über all das (seil. Obige) uns Mittheilung gemacht worden ist und ihr
für euere Abwesenheit und Weigerung (tergiversatio) Gründe beige-
bracht habt, von denen ihr bei unserem erlauchten Könige Billigung
erhofft, oder auch noch jetzt erscheinen und, was wir anfangs wollten,
eueren Rath mit dem unsrigen vereinigen möchtet, so könnt ihr
um so sicherer davon überzeugt sein, dass wir uns auf alle mög-
liche Weise Mühe geben werden, dass ohne eueres Rechts und
euerer Privilegien Minderung für die estländischen Kirchen Für-
sorge getroffen werden soll.»
Seiner Ankündigung gemäss übersandte Rudbeck am 30. Aug.
ein Schreiben» an den revaler Rath, worin er von diesem 1) den
Nachweis seiner Ansprüche auf die kirchliche Jurisdiction über die
Stadt fordert, da er bis dato die resp. Privilegien noch nicht ge-
sehen hahe ; 2) anfragt, ob etwa der Rath seinen Predigern die
Betheiligung an der Synode verboten habe und 3) um Antwort
darauf bittet, welche Stellung das revaler Ministerium gegenüber
dem vom Könige auf dem Dom zu errichtenden Oonsistorium ein-
zunehmen gedenke; und ob das Ministerium sich etwa bereit er-
klaren würde, stets vor diesem zu compariren.
Die undatirte Antwort2 des Rathes spricht die Hoffnung aus,
dass das revaler Ministerium sich wol von der Anschuldigung und
dem Verdachte des Herrn Bischofs »werde diluiret» haben; der
Rath habe nach dem Wunsche des Bischofs das Ministerium zur
Abdelegirung einiger Prediger aufgefordert und dieses sich dazu
»willfertig erklärt». «Was aber,» fährt das Schreiben fort, «bis
dato unsere zu beiden Theilen wohlgemeinte Intention behindert,
dasselbe müssen wir an seinen Ort gestellet sein lassen. Dass
auch daneben das Ministerium ohn(e) unser Vorwissen sich zu
keinem Handeln, so künftiger Zeit dem Rathe einige Präjudicium
causiren möchte, verbunden, besondern sich auf unsere Jurisdiction
berufen wollen, ist nicht unbillig, zumalen das Ministerium sub
senatu tanguatn patronis certesiarum civitatis9 ressortiret.» . . .
■ D( rutsch). - » D.
* il. h. unter de« Hath als den Kirrhenpatroii der Stadt cnmpetirt.
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Bischof Rudbeck.
ßol
Was der Herr Bischof von den Privilegien rede, scheine gegen die
Evidenz der Thatsachen zu sprechen ; denn ihre Privilegien hätten
sie ihm durcli Thomas Schrowen und den Stadtsecretär auf sein
eigenes Ansuchen am 1. Aug. vorgewiesen. Auf die übrigen Fragen
wolle der Rath, weil sie zu wichtig seien und grössere Ueberlegung
erforderten, nicht eher Antwort geben, als bis der Herr Bischof
es eine an uns habende Co mmission gebührliche r-
m a s s e n f u n d i r t hat». &c.
Auf die Duplik des revaler Ministeriums in dem quasi pro-
cessualischen Verkehr zwischen Bischof und Stadtgeistliehkeit gehen
wir deshalb nicht ein, weil sie inhaltlich- nur dasselbe sagt, wie
die erste Verteidigungsschrift, und die Feinheiten der Antwort, die
Wortspiele und Sticheleien über die Redewendungen des Gegners
in der Uebersetzung doch nicht recht wiedergegeben werden können.
Bemerkenswerth aber ist es, dass die Revalenser jede beissende
Bemerkung des Bischofs und jede von ihm beabsichtigte Kränkung
mit fast moderner Feinfühligkeit herausspüren, ein Beweis für die
ewige Giltigkeit der literarischen Kampfgesetze.
Aus den bisherigen Verhandlungen zwischen dem Bischof und
dem Stadtconsistoriura ergiebt sich, dass im weiteren Verlaufe des
Conflicts das Schuldmoment sich immer mehr zu Ungunsten des
Stadtconsistoriums verschoben hat. Nachdem es letzterem nicht ge-
lungen war, durch seinen Widerstand eine Sinnesänderung des Bischofs
zu veranlassen, blieb kein anderer Ausweg übrig, als den für den
schwächeren Theil angezeigten Weg der Opportunitätspolitik zu be-
schreiten und an den Synodalverhandlungen bis zu dem Punkte
activ theilzunehmen, wo eine ausdrückliche Verletzung der kirchen-
rechtlichen Autonomie das Rechtsmittel des Protestes nicht nur
gestattete, sondern gebot. Stadt dessen verschloss man Auge und
Ohr für die bischöflichen Anordnungen und Publicationen und Hess
sich erst nach einer erbitterten Mahnung des Bischofs zur Theil-
nähme an der Sitzung des 9. Aug. bewegen. Der dem Delegirten
des Consistoriums an diesem Tage angethane Affront ist eine Con-
sequenz der Gereiztheit des Bischofs über die unklugen Etikette-
forderungen der Stadtgeistlichkeit. Es musste dem Bischof über-
lassen werden, über die Form zu entscheiden, in welcher die recht-
lich eximirte Stellung des Consistoriums in den Verhandlungen zum
concreten Ausdruck kommen sollte. Ein eigensinniges und wenig
tact volles Beharren auf der formellen Zusammengehörigkeit aller
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Bischof Rudbeck.
vier Delegirten brachte dieselben zu jener bemitleidenswerthen
Situation und jener Schmach, die in dem Masse empfindlicher war,
als die Landgeistlichkeit in dem Stadtconsistorium bisher ihr geist-
liches Oberhaupt erblickt hatte. Dass man nun die zweien Stadt-
pastoren zuertheilte öffentliche Rüge wieder zum Anlas's nahm,
ganz dem Synodalact fernzubleiben, ist ja sowol rein menschlich
als durch die Bedeutung, welche das Jahrhundert des westfälischen
Friedens den B'ragen der Etikette beimass, auch historisch er-
klärlich, aber nicht minder bedauerlich.
Zwar behielt die Vernunft bei der Stadtgeistlichkeit noch in
so weit die Ueberhand, dass sie am 5. Sept. (Mittwoch) ihre Bereit-
willigkeit zur Aufnahme von Privatunterhandlungen mit dem Bischof
aussprach ; denn an diesem Tage war Erich von Beek mit einem
Collegen bei Rudbeck und brachte die Mittheilung, dass sie (d. h.
die Stadtgeistlichkeit) am folgenden Tage nicht kommen könnten,
jedoch am Tage des Mercur (den nächsten Mittwoch) erscheinen
würden. «Aber sie haben sich wiederum entschuldigt,» lautet der
Bericht'.
Da zeigt nun Rudbeckius seine grössere politische Ueber-
legeuheit. So schwer es ihm fallen mochte, entschliesst er sich
dennoch dazu, seinen ersten Fehler, so weit möglich, wieder gut zu
machen. Das Itinerar des Aschanaeus berichtet hierüber also:
(Am 24. Sept. waren der Bürgermeister Derenthal und fünf Rath-
manuen von der Stadt mit den Ministris Mag. Henr. 'Westring und
Mag. Joh. Knopius das erste Mal auf dem Schloss', vop 9—11
Uhr (?), in Gegenwart Philipp Schedingks. Dort hielt der Herr
Bischof eine lateinische Rede an sie von seiner Commission und
Hess Mag. G a b r i e 1 (i) I. K. M. Vollmacht verlesen.
Hierauf antwortete Mag. H. Westring und gab die Gründe an von
ihrer um 11 Wochen verschobenen Präsentation1. .Nun widersprach
Derenthal ihm (seil, dem Bischof) und begann zu resistiren und
corrigiren I. K. M. Vollmacht. Der Herr Bischof remedirte seine
1 In den «Acta visitatioms».
* Bisher hatte man mit dem Bisehof nur privatim und in dessen Wohnung
verhandelt. Interessant ist es, dass der Bischof nach dem Wortlaut seiner In-
struction eine Convocation des gesammten ( 'ousiatoriums nicht ohne Schedingks
Approbation wagte, weil zu demselhen auch weltliche Personen gehörten, ef.
den Brief Rudbecks an Schedingk vom 11. Sept. in den «.Acta vitital.».
• Es geht daraus hervor, dass die erste Präsentation nicht für officiell an
gesehen wurde, weil der Bischof damals die Puhlieatioii seiner Vollmacht nnd
Instruction verweigert hatte.
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Bischof Rudbeek
653
Rede mit zutreffenden Gründen und gab ihnen auf
geschriebene Propositiones und forderte Antwort darauf; sie ge-
lobten sie an. thaten aber doch nichts.»
Noch dreimal berichtet uns das Itinerar des Aschanaeus von
einem scharfen Zusammenstoss der gegenseitigen Interessen. 1)
unter dem Datum des 4. Oct. : «Item waren Bürgermeister und
Rath bei Herrn Philipp Schedingk und den anderen Commissaren
wegen des Eides ; viermal hinaus und hinein zum Berathen.
Nota : grosse Bekümmernis ; sie erhielten eine recht scharfe lex«
(Lection), prueeipue (vorzüglich) Bürgermeister Dereuthal. 2) unter
dem 5. Oct. : «Mag. Gabriel und Joh. Elai giugen zu Dereuthal
wegeu der Antwort auf die Propositiouen, welche sie vorher er-
halten. NB. Tapferer Discurs, Confusion, Dereuthal mässig (lagom).
Und 3) unter dem 8. October (Montag) : « Am Sonntag wurde das
Consistorium llevaliensc aufgefordert zu erscheinen und I. K. M.
den Eid zu leisten. Nota. Ich (seil. Aschanaeus) brachte die
Eidesformel zu ihrem Senior Mag. H. Westring ; er versprach es
zu vollziehen; — nichts ist vollzogen.»
Da der Bischof das gethau hatte, was er von seinem Stand-
punkt aus thun konnte, so gebührte es sich, müsste man meinen,
dass auch Geistlichkeit und Rath Revals den seit 10 Jahren auf-
geschobenen Treueid leisteten, welchen am 28. Aug. die Ritter- und
Landschaft und noch früher die Landgeistlichkeit geleistet hatten.
Die Unbekauntschaft mit den Gründen dieser Weigerung gestattet
es uns nicht, über sie ein Urtheil zu fällen. Eben so wenig er-
fahren wir auch, wann und unter welcher Form der Eid endlich
abgelegt worden ist und ob ferner die Stadtgeistlichkeit noch weitere
ßerathungen mit dem Bischof gehabt hat«. Die Un Versöhnlichkeit
der Gegensätze, die tiefe, in den Streitschriften eben so wie in den
Unterredungen zum Vorschein kommende beiderseitige Erbitterung
macht aber eins gewiss : dass beide Theile sich in Zwietracht
trennten.
6. Der C o n f 1 i c t mit der Ritterschaft und Ab-
schlags der Visitation.
Schon einmal hoben wir es hervor, dass der sog. «Beschlüsse
der Predigersynode vom August 1627, mit Ausnahme der Be-
* Das Ttinerar erwähnt unter dem Datum de* 15. Oct., dfttt der Rath
der Stadt Reval und die Ritterschaft noch ihr- letzten Antworten schriftlich
eingereicht hatten.
RaltMdio HvnstesehriA, Bui XXXtV. Heft 8, 14
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054 Bischof Rudbeck.
Stimmungen über die Administration der Kirchenprovinz, erst dann
Fleisch und Blut erhielt, wenn die Ritter- und Landschaft dazu
tJa und Amen» sagte. Es können daher nur formelle Gründe
den Bischof zu seinem Schreiben vom IL Sept. an Philipp Schedingk
bewogen haben, worin er den Gedanken ausspricht, gleich jetzt
heimzureisen und dem König über die Resultate der Visitation
Bericht zu erstatten. Dem Inhalte seiner Instruction gemäss,
meint er, dürfe er die Landräthe nicht ohne Consilium (Rath) und
Assistenz der weltlichen Oommissare und des Guberuators con-
vociren. Schedingk möge ihm rathen, was er thun solle, und ob
es passend sei, früher abzureisen, ehe man mit der Ritterschaft
und dem Stadtconsistorium übereingekommen. Die Antwort Sche-
dingks» räth unter anderem durchaus an, zu warten, aber nicht
die Landräthe allein, sondern die gesammte Ritterschaft einzu-
berufen, da hierzu noch die Möglichkeit vorhanden wäre.
So kommt es denn am 18. Sept. zu einer vollständigen Land-
tagssitzung in kirchlichen Angelegenheiten, worüber uns das oft
erwähnte Itinerar also berichtet:
«Den 18. Sept. war der Bischof und Visitator mit den Coni-
missaren» im Ritterhause im Kloster zu Reval. Der Landrath und
der Adel von Estland waren versammelt. 1. Herr Philipp Sche-
dingk sass mit den Commissaren am ersten Platz des Tisches».
2. Der Gouverneur Hr. Johann de la Gardie. 3. Hinrich Flemming.
4. Peer Sparre und Erick Andersson &c. (Auf der anderen Seite)
des Tisches (sass) an der Spitze : der Bischof, (ihm zur Seite)
Mag. Gabriel, ich gleich nebenan und dann Herr Paulus, Job.
Elai, Sveno &c. NB. Der Landrath und alle vom Adel standen
auf der Diele.
2. Hierauf hielt der Herr Bischof seine schwedische
Rede. Mag. Gabriel verlas die Proposition an den Adel auf
Schwedisch und verhiess ihnen ein Exemplar, um darauf zu
antworten. (3.) NB. Sie begehrten vom Bischof dasselbe auf Deutsch;
er bat sie, es selbst zu transferiren; sie leugneten Schwedisch zu
verstehen. Der Bischof antwortete in Gutem : die Herren könnten
' cf. für beide Schreiben die « Acta Visitation^».
* seil, den weltlichen.
» Im Itinerar steht : «taltc* — «sprach» ; ea mnss offenbar «satte» = «sass-
heisson ; eben so ist später, wo es heisst : com sede», statt dessen zn setzen : «pa
andra sidan> . Die Situation ist die, das« am einen Ende des offenbar länglichen
Tischen das Hanpt der weltlichen Commissinn, am anderen Ende der Bischof sass.
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Bischof Rudbeck.
655
wol I. K. M. Donationsbrief verstehen, ergo auch dieses, auf
Schwedisch. 4. I. K. M. lateinische Vollmacht ward verlesen
von Mag. Gabriel. NB. Evert Bremen war ihr Vorgesetzter1 und
stand vor ihnen allen.
5. Mag. Gabriel hatte sich auf eine deutsche Rede vorbereitet;
es ward ihm jedoch keine Zeit gegeben, es auszuführen. Deindc
vaUdictio rercrentcr facta (darauf wurde ehrerbietig Abschied ge-
nommen). Nß. Sie betrugen sich raeist reverenter, gelobten Ant-
wort auf die Propositionen. Domi (zu Hause) war Episcopus
<lus(igh>.>
Die hochmüthige Natur des Bischofs tritt hier deutlich zu
Tage. Es ist ihm eben nicht allein darum zu thun, den könig-
lichen Willen zum Ausdruck zu bringen, sondern auch zugleich
den Honig einer dictatorischen Stellung zu kosten. Die verblüffende
Wirkung, welche sein Benehmen auf den Landtag ausübt, bereitet
ihm ausnehmenden Spass ; da mochte er wol zu Hause «lustigh» sein.
Die erwähnten c Propositioneu» des Bischofs, von welchen
dem Adel eine schwedische Copie eingehändigt wurde, scheinen
nicht mehr zu existiren. Um so mehr ist es daher zu beklagen,
dass auch die am l. Oct. dem Bischof überreichte Antwort der
Ritterschaft auf dieselben ebenfalls verloren gegangen ist1 ; denn
diese würde durch ihr pnnktweises Eingehen auf die bischöflichen
Vorschläge den Verlust letzterer ersetzen. Wir müssen uns daher,
um einen ungefähren Begriff von den Streitobjecten zu gewinnen,
mit den beiden noch vorhandenen Streitschriften begnügen, welche
am 4. und 9. Oct. zwischen dem Adel und der Ritterschaft aus-
getauscht wurden. Die Bedeutsamkeit der Sache rechtfertigt ihre
nur wenig verkürzte Reproduction. Ihnen voran stellen wir aber,
als geringen Ersatz für die fehlenden Propositionen, ein Excerpt
aus einer bischöflichen Denkschrift, welches heisst: «Ein treuer
und wohlgemeinter Vorschlag, wie dem armen, mittel-
losen, von Gott preisgegebenen und verheerten Estland und Liv-
land wieder geholfen werden und es wieder aufgebaut werden möge,
gegeben den estländischen Ständen in Reval am 1. Oct. 1627».»
Nach vielen biblischen Citaten folgt eine Ermahnung zu sittlichem
Leben : man solle den Sabbath recht feiern, dadurch, dass man an
1 seil. Ritterschaftshauptmann.
1 Da« haben vielfache Nachfragen und Xachforsehungcifm der kgl. Biblio-
thek und im Reichsarchiv zu Stockholm ergeben. D. Verf.
3 Schwedisch.
44*
05Ü
Bischof Rudbeck.
Sonn- und Festtagen keine schwere Arbeit verrichte, auch keine
Fuhren (Jcörslor) abgehen lasse, die Kirche besuche und das Gottes-
wort lese. Verfallene Kirchen, Schulen und Ordnungen möge man
wiederaufrichten und < von dem gesetzwidrigen und unmilden Regi-
mente gegen die Bauern und Untergebenen abstellen, welche sie
(seil, die Adeligen) gegen derer «Intent»(ion) und Absicht, die das
Land zuerst zum Ohristenthum bekehrt haben, sich angeeignet
haben1;» und zwar dadurch, dass 1) man dem Bauer zur rechten
Zeit seinen Hof (hemman) «aufsagt» und es ihm dann, wenn die
Zeit vorüber ist, freisteht, sich nach eiuem anderen Herrn umzu-
sehen1; 2) es keinem (seil. Bauer) verweigert werden möge, seine
Kinder in die Schule zu schicken, wodurch sie zur Tugend und
zum Dienst in Kirche und Staat erzogen werden können. . . .
«Wenn ein Bauer sich dir verkauft, so soll er dir sechs Jahre
hindurch dienen, im siebenten Jahre aber sollst du ihn frei geben.
Und wenn du ihn frei giebst, sollst du ihn nicht mit leeren Händen
gehen lassen, und du sollst es auch nicht ungern sehen, dass er
geht, denn er hat dir sechs Jahre als ein doppelter Knecht gedient». >
Unter anderem wird noch am Schluss dieses «wohlgemeinten Rathes»,
der offenbar eine Ergänzung zu den «Propositionen» bildete, an-
empfohlen : «das unmässige Trinken mit darauffolgendem Streit und
andersartiger Beleidigung Gottes beim Besuch der Kirchen an Sonn-
und Festtagen abzulegen » ; « Ehebruch (Hurerei), Buhlerei und andere
Unsittlichkeiten» aber mit etwas grösserem Ernst zu bestrafen.
Auf das am 1. October beim Bischof «vom Landsecretär» ein-
gereichte ritterschaftliche Antwortschreiben betreffs der sog. «Pro-
positionen», das Aschana tus als «sehr abweisend» bezeichnet, er-
hielt die Ritter- und Landschaft unter dem Datum des 4. Oct. eiue
Antwort unter dem Titel : «Ein Interim, welches dem
Adel gegeben ist nach seiner Eingabe an den
Herrn Bischof über den Zehnten*.» In der Einleitung
wird der Empfang des «weitläufigen» Antwortschreibens auf die
übergebenen Propositionen angezeigt und die Frage aufgeworfen,
ob es sich überhaupt verlohne, darauf früher, als der König davon
Einsicht genommen, zu antworten, da «E(w). L(iebden) sich nicht
zu qualificiren scheinen zu einem guten Handel und guten Ab-
1 Man sieht, es spricht der nachmalige Verfasser von • Privilegin qnae
dam * b.c. *
1 Also das Princip der Freizügigkeit.
• Also tlax Princip freier Contracto. — 1 Schwedisch.
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Bischof Rudbeck.
or>7
schied». Damit aber docli noch etwas Gutes vielleicht ausgerichtet
werden könne, «besonders E. L. diese Visitation vom Könige
selbst begehrt haben, will man E. L. über etliche nöthige Sachen
freundschaftlich zu- und bereden. Weil E. L. in dero Antwort
meist verneinen , extenuiren oder andere beschuldigen für die
Fehler . . ., welche in der oft besprochenen Proposition Ihren Ge-
meinden zugeschrieben werden, vermeinend, dass diese Beschuldi-
gungen aus unsicheren und unmilden Berichten der Pastoren ent-
nommen sind, und E. L. darum nichts antworten auf die Haupt-
proposition, nämlich durch welche Mittel diese Fehler geheilt werden
möchten, begehre ich freundschaftlichst, dass E. L. wollten ein jeder
seinen Pfarrer summt 4—6 Bauern, in einer Entfernung von zwei
oder drei Tagesreisen von Reval, binnen 0—7 Tagen einfordern,
weil nun keine Erntezeit sie daran verhindert, damit sie beweisen
ihre eingegebene Relation, und wenn von E. L. in derselben
Zeit ein jeder den Zustand seiner Gemeinde in derselben Ordnung,
wie die Priester mir schriftlich referirt haben, vorstellen wollten,
so wird man wol hernach durch Verhör von beiden Parteien und
genaue Untersuchung erfahren können, wer milder oder unmilder
berichten wird (berättandes varder). Hieraus kann man, wie E. L.
sagen, etwas Gewisses an I. K. M. referiren.> Mittlerweile
wolle er auf dem Schlosse in Gegenwart aller Commissare und
Landräthe gern die Fehler beweisen, «die in der Proposition au-
geführt sind> ; und damit der Adel sich *ex autopsia* von den
beregten allgemeinen Mängeln überzeuge, möge er sich doch mit
ihm an einer Revision von der Domkirche bis in die Stadt hinab
betheiligen, etwa am ersten Tage; am zweiten könne man dann
schon mit der Vernehmung der allmählich eintreffenden Pastoren
und Bauern beginnen und so fort1.
« Hierauf begehre ich in gleicher Weise, weil E. L. meinen
Process, welcher mir in der kgl. Instruction vorgeschrieben ist,
verurtheilen und sich auf das jus patronatus berufen, dass E. L.
binnen dieser Zeit (ca. 7 Tage) mich, ein jeder, möchten sehen
lassen, welche Kirchen er oder seine Vorfahren fundirt, dotirt und
auf ihren Gütern bis heute unterhalten haben; und wenn E. L. mir
von diesen eingesehenen Urkunden und Documenten vidimirte Copien
für I. K. M. abliefern, so wird E. L. in dero jus patronatus kein
Eindrang geschehen. Es wird auch freundlich begehrt, dass
' stark gekürzt.
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G58
Bischof Rudbeck.
beglaubigte Briefe und darnach collationirte Copien möchten ab-
geliefert werden von denen, so etwa ein Kirchengut beackern
(brücket), besonders von denen, welche Häuser und Grundstücke
(Jompter) hier auf dem Dom inne haben — (woraus zu ersehen) —
wie diese Ihnen von der Kirche zu Händen gekommen, damit man
die ausscheiden kann, welche bono titulo oder nicht possedirt werden.
Zum dritten, weil E. L. auf specielle Privilegien, insbesondere be-
treffs des Zehnten, sich berufen, den sie sich eingetauscht haben
wollen (hafva sig tiUbyl), so sollen die resp. Privilegien den Com-
raissaren vorgezeigt und ihnen vidimirte Copien abgeliefert werden.
4) Da E. L. keine Mittel vorschlagen, was doch vornehmlich
in der Proposition begehrt war, wie wenigstens die
anerkannten Fehler geheilt werden könnten, sondern selbst die
Mittel zu entkräften suchen, welche von uns noch nicht vorgeschlagen
worden sind, nämlich die Zahlung des Zehnten (iyendegifte) und
des armen estnischen Volkes Manumissio (Freilassung), so wollen
wir mehr als gern E. L. unseren einfältigen und wohlgemeinten
Rath und Vorschlag schriftlich mittheilen, wenn wir wüssten, dass
E. L. es ohne Eifer und Präjudiz aufnehmen, es erwägen und dar-
* auf Ihr Bedenken freundlich zurückgeben wollten. Ich erbiete mich
auch alle Tage, wenn es E. L. gefällt, in Anwesenheit der Com-
missare, des Gouverneurs &c. auf das freundlichste mit E. L. auf
dem Schlosse conferiren zu wollen ; besonders zu untersuchen, ob man
nicht mit guten Gründen sollte beweisen können, dass die Mittel,
welche E. L. abschlagen, nämlich den Zehnten zu geben &c, nicht
doch die besten, bequemsten, nützlichsten und zuträglichsten sind,
damit die Herrschaft den zehnten Theil behielte, Gott den neunten
oder elften Theil und der Ackermann (sädesman) die acht oder
neun Theile zu seinem ßehufe. Und nenne man es « Zehnt« >,
« Priestergerechtigkeit > oder wie man will. Aber wenn die Herr-
schaft den Zehnten behält nicht in quota, sondern tft totat werden
die Theile für Gott und den Ackerbauer zu klein. Ferner (ist zu
bemerken) dass das estnische Volk nicht ärger von Natur ist, als
Latim, Gracci, die Deutschen, Schweden, Polen und audere, und
darum nicht in unerträglicher Sclaverei gehalten zu werden brauchte,
sondern dass die Sclaverei bei ihnen, wie bei allen anderen Völkern,
Hauptursache ihrer Argheit und Bosheit ist ; denn wie gemässigte
Freiheit Ursache ist für besseren Sinn und Muth, so ist auch
schwere Sclaverei Ursache für viele Widerspenstigkeit und böse
Art (trcäslihcct och vauart) Wenn E. L. auch sehen
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Bischof Radbeck.
059
und betrachten wollten, was mit der Geistlichkeit vereinbart ist,
so bin ich erbötig, dieses E. L. vorlesen zu lassen und mit Ihneu
punktweise zu betrachten ; und wenn etwas darin fehler-
haft sein sollte, so ist es ja kein biblischer Text,
es könnte eines Tages wol gebessert und von
allen zum grossen Nutzen des Landes unter-
schrieben und publicirt werden. Ich will auch dar-
über nicht ungeduldig werden oder mich erregen, wenn mir jemand
hierin mit Ernst die Wahrheit schärfen (sie) und mich corrigiren
möchte, sondern will vielmehr, wenn ich mit guten Gründen eines
Besseren belehrt worden bin, und sei es auch vom Geringsten,
meine Meinung ändern und aeeeptireu, was besser ist, und also
noch in meinem Alter etwas Gutes lernen und erfahren ; es mir
nicht zur Schande anrechnend, dass ich noch nicht alles weiss,
sondern täglich viel lernen muss. Wenn E. h. hierüber in dem-
selben Sinne mit mir discurriren wollten, so wäre zu hoffen, dass
wir uns über ein gutes Mittel endlich einigen möchten. Dieses
(d. h. obige Gedanken) hätte ich auf sechs oder mehr Bogen mit
ausstaffirter (sie) Rhetorik von E. L. höfisch begehren und Ihnen
zumuthen (anmoda) können, um damit zu hofireu, wenn ich in einer,
zwei oder drei Wochen eine Oration oder Predigt würde geschrieben
haben, oder ich hätte auch versuchen können, E. L. durch viele
Argumente zu überreden ; — aber weil ich nicht hierher gekommen
bin, um zu streiten, peroriren und weitläufig zu disputiren, und
weil solches zur Ausrichtung guter und wichtiger Sachen nicht
dienlich ist, sondern mehr dazu, die Zeit zu verbringen, andere
mit viel Lesen zu beschweren und ihnen Ursache zum Aufschub
der Antwort zu geben, so habe ich solches nicht thun wollen,
sondern meine Meinung E. L. auf das kürzeste und freundlichste
zur Kunde gegebeu, eifrig begehrend, dass E. L. dasselbe thun
wollten. Ich bekam gestern E. L. Antwort ; könnte ich nun morgen
wieder mit wenigen Worten und vielen guten Dingen E. L. freund-
liche Antwort erhalten, so wäre damit der Sache sehr viel gedient
und wir würden um so schneller ein jeder in seine Heimat kommen.
Wenn E. L sich diese Sache (ährenäett) wollten angelegen sein
lassen, so vermuthe ich, dass ich in sechs, acht oder zehn Tagen
alles durch Gottes Gnade ausrichten und damit abschliessen könnte,
was mir zu thun befohlen ist. Ich bin E. L. und Ihren Gemeinden
zur dienstlichen Auskunft uud Berichterstattung (?) auf alle Weise,
nach meinem äussersten Vermögen und Verstand, bereit. Hiermit
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OÜU Bischof Rmlbeck.
E. Ii. sämmtlichen und besonders zur dauernden Wohl fahrt Gott
befohlen >
Wir lassen hier, ehe wir zum Vergleich der Gründe und
Gegengründe schreiten, die Duplik1 der Ritterschaft vom 9. Oct.
folgen :
«Was E. E(hrwürden) auf der Herren Landräthe und ge-
meinen Ritterschaft unlängst übergebene Resolution zur Wieder-
antwort den 5. hujus in Schriften einbringen lassen, solches haben
die Herren Landräthe in öffentlicher Zusammenkunft der Ritter-
und Landschaft wohl durchgelesen* . . . und ist den Landräthen
und der Ritterschaft «nicht ohne grosse Befremdung vorkommen,
dass E. E. mit derer rechtmässigen und billigen Resolution sich
nicht contentiren lassen, besondern Ihre Intention auf den vor-
gesetzten scopum, den unbefugten Zehenden und andere präjudicir-
liche Mittel beharrlich dirigiren und setzen, wodurch Sie ihuen und
ihro Nachkommen eine beschwerliche Nahrung und untiägliche
Last, derer sie all bereit mehr, denn sie ertragen können, empfinden,
ihren wohlherbrachten Privilegien und' Freiheiten zuwider unter
mancherlei Praetext ein- und Uber den Hals zu führen vermeinen. >
. . . Obwol sie nun in ihrer Antwort ihre Rechte und die Un-
möglichkeit der Erfüllung der bischöflichen Forderungen dargethan
hätten, so wollten sie doch . . . «solches vorübergehen und allen
dem, so in übergebenem Scripto unnöthig enthalten und zu ihrer
Verkleinerung gesetzt, per generalia contradiciret, wie auch ihrer
wohlherbrachten Privilegia und Freiheiten sich nach wie vor pro-
testundo bewahrt haben. > . . . «Erachten dennoch nicht, dass ihres
Mittels einer so Übel in seinem Christenthum fundiret, der es nicht
für billig achte, auch nicht herzlich gern sehen und wünschen
sollte, dass das zerfallene Kirchenregiment wieder aufgerichtet
werden möge» kc. &c. . . . Ferner behaupten sie (seil, die Ritter-
und Landschaft), dass das Kirchenwesen «hiebevor in rühmlicher
und löblicher Uebung gehalten (worden sei) ohne besondere Be-
drückung des Adels und der Unterthanen » . Durch welche Mittel
das geschehen, das wisse der Herr Bischof sehr wohl, cund da
diese Mittel an andere weiter verwendet'», so sei es sehr unbillig,
dass man sie bei ihren wenigen Gütern, «deren sie weniger, als
man ihnen zutrauen will», wegen der langwierigen Kriege übrig
haben, bedränge. Sie hofften, der Kijnig werde als ein geistlicher
1 Deutach. — * Ks scheint die Wegnahme Fegfeuers gemeint zu Kein.
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Bischof Gladbeck.
mul löblicher Potentat d a s von ihnen nicht fordern, und möchten
den Bischof bitten, csie mit dieser unmöglichen Anmuthung weiter
nicht zu beschweren». . ... «Was die geistlichen Güter auf dem
Thumb (Dom) betreffe», — so habe darauf nicht die Ritterschaft
Antwort zu geben, sondern die resp. Possessores c werden ihr Jus
zu rechter Zeit und Stelle zu deduciren wissen». . . . «So (= ferner)
ist ohne Noth das jus patronatus weitläufig zu beweisen, weilt) E. E.
wissen, dass die Kirchen im Land mehrentheils auf des Adel(s)
Grund und Boden stehen, von ihren Voreltern unfehlbar erbauet
und bis dato von der Ritterschaft allein repariret und noch erhalten
werden ; inmassen sie auch, m posscssione und Gebrauch solcher
Freiheit von undenklichen Jahren ruhesam und unturbirt bis dato
conservirt und erhalten, mit dem onerc probandi (Last des Be-
weises) mit Recht nicht belegt werden mögen.» . . . Dass nun
aber wegen des jetzt ausgebrochenen Streites die Landprediger und
Bauerschaft *aufs neue1» hierher gerufen werden solle, dagegen
sind sie durchaus. «Solches scheint in dieser späten Jahreszeit, da
Sommer und Winter sich scheidet und man täglich einfallendes
Frost(es) sich bewahren muss, ein unmöglich Ding zu sein, ohne das
auch die Herren Landräthe und Ritterschaft mit grossem ihrem
Schaden und Verderb fast bei einviertheil Jahr sich allbereit
hier aufgehalten, in dieser unsicheren Zeit und vorstehenden ver-
muthendeu Gefahr ihre Wirthschaft und Wohlfahrt versäumet, das
Ihrige bei den Winnen verzehren und sich in Schulden setzen, ja
auch der Mehrentheil wegen Langwierigkeit und der Zehrung
Mangelunge abziehen und gleichwol wieder anhero kommen und
sich einstellen müssen» &cs . . . <Und wann E. E. vor diesem bei
Gegenwart der Priesterschaft die Herren Landräthe mit zu Rathe
gezogen, die Kirchspielsjunkern mit den Priestern confrontirt oder
aber bei den Kirchspielen im Beisein der zugehörigen Junkern
eine Visitation, wie solches von vorigen Visitatoribus allhier ge-
schehen, gehalten hätte, (würde) nicht allein dem hiebevor I. K. M.
gegebenen Vorschlag nach etwas nützliches durch Gottes Gnade
verrichtet werden können, besondern es hätten E. E. auch in der
Zahl der Priester, welche eines schändlichen und ärgerlichen Lebens
* Dies ist die ernte Stelle, welche zu beweisen scheint, dass die Laad-
Kantoren wirklich zur Synode die gewünschten je vier Bauern mitgebracht haben.
* Der Landtag begann, wie früher bemerkt, am 18. Aug. nnd blieb bis
Knde Sept. oder Anfang (Jetober versammelt, cf. Greiffenhagen und diese Ant-
wort auf das sog. «Interim».
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GÜ2
Bischof Rudbeck.
halben infamiret, als Ehebrecher und Hurer öffentlichen angeklaget
und überwunden, aus Unwissenheit solcher groben Excessen, mit
grosser Aergernis und Verkleinerung des Standes allhier einzusetzen
wohl Bedenken getragen. Und kann die Sache nicht entschuldigen
oder in etwas releviren, dass damalen der Eid von der Ritterschaft
noch nicht praestiret, weileu der Eid ein solches nicht gehindert
oder hindern können. Wie denn auch die sechs Wochen hernach ■
wol nützlicher hätten angewandt werden können, wann E. E. die
Herren Landräthe und Ritterschaft so viel g e würdiget und
nicht als Unverständige und Tyrannen, wie sie denn mit Unfug
von ihm tituliret worden, gänzlichen ausgeschlossen hätten. Und
weilen die adelige Ritterschaft durch solche Diffamation und unbe-
fugte Tituln an ihrem adeligen Leumund nicht wenig verletzet
wird, welche S. Ehrw. mit Bestände und gutem Fundament nicht
darthun und erweisen werden, viel weniger von I. K. M., als so
einem weitberühmten und löblichen Potentaten, unserem allergnädig-
sten Könige und Herrn, als ungebührlichen mit der Ritterschaft
zu procediren und unverschuldeter Sachen zu calumniiren befehliget
sein, als (= daher) will E. E. Ritter- und Landschaft diese injüriam
an Ort und Stelle, da sichs gebührt, zurückzuweisen hiermit vor-
behalten haben. ... Es seindt aber die Herren Landräthe und
gemeine Ritterschaft mit nichten gemeint, Sr. Ehrw. habeude(n)
königliche(n) Commission im geringsten etwas zu derogiren oder
hierdurch zu verkleinern, welche sie denn in allem billigen Respect
ehren und würden jederzeit gehalten und zu halten sich schuldig
erkennen, gestalt sie auch expresse sich dessen hiermit bewahret
haben wollen, besondern weiln dieselbe extra limites commission is
(über die Grenzen des Auftrages) geschritten und die adelige Ritter-
schaft, die dann, ohne Ruhm zu melden, aller Ehren und der Ritter-
mässigkeit sich beflissen und derohalben vor I. K. M., unserem
gnädigsten Könige und Herrn, welches sie dann in aller Unter-
tänigkeit erkennen, nicht wenig jederzeit gewürdiget, unbefugter
und unrechtmässiger Weise angegriffen, seindt zu defendiren und
(zur) Erhaltung ihrer Ehren sich dergestalt zu bewahren höchst
verursachet worden. Und haben die Herren Landräthe und gem.
Ritterschaft dieses zur endlichen Resolution uud ßeschluss der
Sachen nothwendig zu beantworten E. E. nicht verhalten sollen
1 Darunter ist offenbar die Zeit nach Sellin»» der Synode am 26. Aug.
gemeint.
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Bischof Rudbeck.
P. S. Demnach man mit Schmerzen vernimmt, welcher Gestalt
der Herr Bischof in seinem unordentlichen und unrechtmässigen
Process, ungeachtet der Ritter- und Laudschaft mehrmalen deswegen
eingewandten Protestation, nach wie vor procediren und bald hier
bald dort ungeschickte Priester ohne vorhergehende Nomination
und Präsentation der Kirchspielsjunkern ihnen zu obtrudiren und
anzudringen sich unterstehen solle: als werden1 die Herren Land-
räthe und gemeine Ritterschaft wider Recht und Billigkeit und so
alte besitzliche Freiheit dergestalt nicht graviren, sondern vielmehr
mit solchen Attentaten anhalten in Betrachtung, dass solche patro-
nata bencßcia sine praescniatione patronorum nicht conferirt worden*.»
... Es folgt nun noch eine kurze juristische Begründung des
Patronatsrechts in lateinischer Sprache, die wir als unwesentlich
weglassen. Zum Schluss aber heisst es: «Und weilen hiermit auch
erscheint, dass I. K. M. Regalien und Hoheit hiermit im geringsten
nicht präjudicirt wird und auch diese Ritter- und Landschaft bei
solchem Rechte und Freiheit von undenklichen Jahren, wie Gesetz,
unturbirt erhalten: als wird dieselbe durch solche des Herrn
Bischofs Molestation und unbefugten Eingriff sich desselben nicht
begeben und ihren abwesenden Mitbrüdern und Posteritet zum Prae-
judicio nicht begeben künneu.»
Das sog. «Interim» des Bischofs, sein «treuer und wohl-
gemeinter Rath» und die in der Duplik der Ritterschaft enthaltenen
Entgegnungen lassen es deutlich erkennen, was Rudbeck im wesent-
lichen von der Ritterschaft verlangt hat. Ausser dem Wiederaufbau
der Kirchen und Pastorate sollte sie durch Verzicht auf den bäuer-
lichen Zehnten zu Gunsten der Kirche (und der ßauerschaft) zu der
Hebung des Kirchenwesens und des geistlichen Standes beitragen.
Zugleich sollte sie ihr Patronatsrecht in jedem einzelnen Falle
nachweisen und endlich mit einer agrarischen Reform in grossem
Styl den Anfang machen. Es sind wahrlich Forderungen von der
einschneidendsten Wirkung, die hier gestellt werden, so dass man
geradezu erstaunen muss über die Kühnheit des Visitators. Jedoch
helfen uns zwei Umstände das Räthsel lösen. Erstens die natur-
rechtliche Staatstheorie des Hugo Grotius und zweitens die beispiel-
los rapide und glückliche Entwicklung des schwedischen Staates.
Hugo Grotius, der in Gustav Adolf einen glühenden Verehrer
* Es scheint, dass nach «Uesen Worteu ausgelassen sei : der Herr Bischof.
• d. h. in Rücksicht dessen, dass solche l'atronatsrcchte uieniaudem von
den wirklichen Patronen ühertragen worden sind.
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664
Bisehof Radbeek.
fand, lehrte, dass die privatrechtliche Auflassung des Mittelalters
vor der Anschauung von der unbeschrankten Gesetzgebungsgewalt
des Staates zurückzuweichen und das Staatsoberhaupt, als Träger
der Staatsgewalt, das positive Recht, sei es auch auf Kosten der
Unterthanen. zu schatten habe. Dies macht die geringe Achtung
vor den Privilegien erklärlich und inusste hernach zum aufgeklärten
Despotismus führen, zu welchem das schwedische Staatsleben die
Ansätze bot. Schweden hatte auf Kosten der privilegirten Stände
Probleme gelöst, mit denen man sich auf dem Continent noch
Jahrhunderte lang abquälte. Es gab in Schweden einen persönlich
freien Bauerstand, der sich täglich mehr und mehr zu politischer
Bedeutung aufschwang ; warum sollte sich nicht in Est- und Liv-
land dasselbe erreichen lassen? Und dazu war Rudbeck nicht der
erste, der damit kam ; schon Karl von Södermanland hatte die
Livländer zur Aufhebung der Leibeigenschaft überreden wollen.
Wir können der Ansicht in der < Livländischen Rückschau'» ,
dass Livland (natürlich in weiterem Sinne) damals auf dem <Wege
war, seine Bevölkerung zu einem Volke werden zu sehen», und
dass es «vielleicht nur die unselige Kugel von Lützen» gewesen,
«welche dieses unser Heil vernichtete*, nicht beipflichten, weil wir
an der Möglichkeit der Aufhebung der Leibeigenschaft im da-
maligen Livland, in Rücksicht auf seine wirtschaftlichen Ver-
hältnisse, die durch die schwedische Reichspolitik bedingte be-
ständige Kriegsgefahr und die gelinge sittliche Reife des damaligen
Landvolks, begründeten Zweifel hegen. Uns scheinen die ins
Blaue hinein gesprochenen Worte Rudbecks nur eine Emanation
gefühlsseliger Humanität zu sein. Aber dieselben Worte, welche
die »Livländisehe Rückschau» von der livländischen Ritterschaft
aussagt, lassen sich catteris paribus auch auf Estland anwenden:
Konnte man wirklich verlangen oder nur erwarten, dass eiue
Ritterschaft, die ein Menschenalter hindurch unter den demoralisi-
rendsten Einflüssen gestanden, die sich in einem verwüsteten Lande,
hart am Rande des Verderbens befand, mitten im Kriegsgetümmel
habe zustimmen sollen einer Reform, deren Folgen zur Zeit unbe-
rechenbar schienen und die in den glücklichsten, reichsten und fried-
lichsten Ländern der abendländischen Culturwelt erst fast zwei
Jahrhunderte später und dann auch nur nach schweren Kämpfen
durchgeführt ward?!» Wir mögen den Mangel an so hochherzigem
• «Livliüulische Rückschau von Herrn, üaron Bruiuingk, 1879, p. 124, 128.
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Rischof Rudbeck.
GÖo
Empfinden, die Beschränktheit unserer heimischen Politiker jener
Zeit vom Standpunkte der Humanität tief beklagen, die Geschichte
aber darf dort nicht kühne Sprünge fordern, wo die Umstände
dazu nicht gegeben sind und die einzige Rettung in den « stabi-
lsten > Privilegien, des Landes « rocher de bronzen zu suchen war.
Fragen wir doch : welches Recht hatte Rudbeck zum Vor-
schlage einer Agrarreform ? Die Antwort wird von der Ritterschaft
selbst gegeben: er hatte gar keins';' denn er war, laut seiner
[nstruction, nur als geistlicher Visitator nach Estland gesandt, wo
er vernunftgemäss nur nach dem Erreichbaren zu streben, und in
Eintracht mit dem Adel zu conferiren hatte.
Sein ganzes Verhalten verräth aber den Doctrinär und unge-
schickten Diplomaten, so scharfsinnig in den Schlussfolgerungen
seine Deductionen und so beflissen seine Höflichkeitsäusserungen
auch sein mögen. Mit dem Vorschlage von der Aufhebung der
Leibeigenschaft sclioss er weit über sein Ziel hinaus ; und wenn er
über den Zehnten keine Einigung erzielen konnte, so blieben ja
noch andere Einnahmequellen übrig uud brauchte er sich nicht an
den Wortlaut seiner Instruction zu klammem. Statt sich über ein
Surrogat des Zehnten mit der Ritterschaft in Einvernehmen zu
setzeu, blieb er auf seinem Buchstaben stehen und beleidigte sie
Schritt auf Schritt. Ganz unnöthiger Weise verletzte er durch
beständigen Gebrauch der schwedischen Sprache in Wort und Schrift
das Landesrecht und entblödete sich nicht, als der « Landsecretär»
im Namen der Ritterschaft am 5. Oct. von ihm nochmals die t Pro-
positionen» auf Deutsch erbat, ciiein, nein» zu sagen und ihn
«schimpflich» {snöpplige)1 abzuweisen. In seiner Masslosigkeit über-
trug er in Schweden selbst noch nicht gelöste Probleme auf est-
ländischen Boden ; denn die Forderung, dass jeder Einzelne sein
Patronatsrecht schriftlich beweisen solle, war unausführbar und
kam einer Aufhebung gleich, schon weil in den Kriegszeiten die
Documente vieler verloren gegangen sein mussten ; während die
politische Vergangenheit des Landes an dem factischen Patronats-
1 In Art 2 der Instruction heisst es freilich, dass der Bischof «nicht
allein Art nnd Wci*e dor wirtschaftlichen Verwaltung besser einrichte, sondern
auch &p. ; aher darunter die Aufhebung der Leibeigenschaft an verstehen,
konnte wenigstens von der Ritterschaft nie verlangt werden; noch weniger
machte der Verfasser ineinen, dass der König hinter diesen Worten einen solchen
(»edanken feige verbergen wollte.
* cf. das ftinerar des Asch.
666
Bischof Rudbeok.
recht des Adels doch keinen Zweifel aufkommen lassen konnte.
Darin und in so manchem anderen zeigt er sich als Oppositions-
manu gegen den Adel und Führer der hierarchischen Partei.
Hingegen vertrat die Ritterschaft eine ganz schiefe Auffassung,
indem sie gegen des Bischofs visitatorische Anordnungen Protest
einlegte. Für eine Visitation in ihrem Sinn waren Zeit und Um-
stände nicht vorhanden ; auch war die Meinung der Ritterschaft,
der Bischof hätte sich über die Einsetzung jedes einzelnen Pfarramts-
candidaten mit den Kirchenpatronen in Relation setzen und das
Land von Kirche zu Kirche visitiren sollen, nicht durchführbar.
Dass die Ritterschaft durch ihren Protest sich das Patronats-
recht sichern wollte, war billig ; desgleichen ihr ablehnendes
Verhalten gegenüber der bischöflichen Requisition bäuerlicher Zeugen.
Die ländlichen und kirchlichen Zustände aber waren entsetzlich
verwahrloste, wie die Synodalberichte klar ergeben, und der Adel
selbst war — erklärlich genug — vielfach arg depravirt. Das
hätte man, wenigstens stillschweigend, eingestehen sollen. Eine
wirkliche Reform erheischte deshalb einen radicalen Eingriff in die
verrottete pastorale Wirksamkeit, ohne dass damit das Patronats-
recht für immer aufgehoben werden konnte ; es wurde eben nur
zeitweilig ausser Praxis gesetzt. Das Itinerar des Aschanaeus
und die sittliche Natur des Visitators geben dafür unleugbare
Bürgschaft, dass er es mit der Anstellung der neuen Pfarrer ernst
nahm und offenkundige Vergehen der Pastoren unnachsichtig strafte.
Er konnte natürlich nicht bessere Menschen, als sie das Land selbst
bot, aus der Erde stampfen. Gedacht sei hierbei eines charakteri-
stischen Wortes von Ax. Oxenstjerna, das er 1C43 in einer (Kon-
ferenz mit den Adelsdeputirten unter anderem äusserte : «er habe
in Estland pastores gekannt, die fast zu Stalljungen nicht tüchtig
gewesen ; er habe selbst gesehen, dass ein Pastor in der Kirche
geschlachtet und Fleisch, Speck, Hühner daselbst herumhängen
lassen1.»
Betrachten wir zum Schluss, was Rudbeckius denn eigentlich
durch seine Visitation erzielt hat, so bleibt weniger übrig, als man
von ihm zu erwarten berechtigt sein durfte. Allem voran — und
das ist sein grösstes Verdienst — hatte er eine gründliche und
heilsame Reinigung des kirchlichen Augiasstalles durch rücksichts-
lose, aber gerechte und verständige Einsetzung tauglicher Pastoren,
' cf. KiuipffVr in der ftlleir. Sehr. p. 7.
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Bischof Rudbeck.
667
so weit sich solche auftreiben liessen, und Absetzung untauglicher
erzielt ; 2) hatte er die schwedische Kirchenordnung interimistisch
eingeführt ; 3) eine feste Visitationsordnung für den Superintendenten
und die Pröpste, eine neue Diöcesaneintheilung in sechs Prä-
posituren und eine Synodalordnung hinterlassen. Alles Uebrige
blieb in Folge seiner Conflicte in der Schwebe. Die rechtliche
Stellung des revaler Stadtconsistoriums, eines altbewahrten Instituts,
war in Frage gestellt, und für die Eiunahmen der Pastoren
und die wirtschaftliche Fundation der Pastorate, für die Be-
gründung einer höheren Schule in Reval brachte er nur Wünsche
und unerfüllte Forderungen heim, kein positives Resultat. Die
grössere Schuld daran trug seine inconciliante Natur, die kleinere
die Hartnäckigkeit der Estländer.
Es ist hier nicht unsere Aufgabe, die weitere Ausgestaltung
der estländischen Kirche während der fortgesetzten Superintendentur
Gazas und des Jheringschen Episcopats (seit 1639) zu verfolgen.
Erwähnt sei nur, dass 1631 in Reval doch ein Gymnasium in dem
von der Ritterschaft auf Regierungsbefehl der Stadt überantworteten
Michaeliskloster eröffnet und die rechtliche Autonomie des Stadt-
consistoriums hernach von der schwedischen Regierung anerkannt
ward. Die Propositionen Rudbecks betreffs der wirthschaftlichen
Fundation der Landpfarren fanden jedoch — und dazu in anderer
Form — erst ganz allmählich ihre Verwirklichung.
Doch gedenken wir noch der Abreise des Bischofs. Nachdem
schon am 12. Oct. das Gepäck und Actenmaterial aufs bereit-
gehaltene Schiff geschafft worden, wurden am 13. Oct. die zurück-
bleibenden Acten , ferner eine schwedische Kirchenordnung, die
Registratur, das Kircheninventarium und Dubberchs Visitations-
protokolle «zur ewigen Richtschnur» in den Schrank der Dom-
kirche gethan. Am 14. Oct. gab dßr Sohn Philipp Schedingks,
Herr Jakob Schedingk, den geistlichen Commissaren in seiner
Wohnung ein Abschiedsmahl. Am 15. Oct. überreichten der Adel
und der städtische Rath dem Bischof ihre definitiven, jetzt ver-
muthlich nicht mehr erhaltenen Antwortschreiben, die Aschanaeus
als «schlecht genug» und «untauglich» bezeichnet ; um 7 Uhr abends
gingen alle zu Schiff und brachen bald darnach über Hangö und
Äbo nach Stockholm auf.
Finsteren Blickes und voll tiefer Erbitterung sahen die Est-
länder dem Bischof nach, als er in See stach, um heimzukehren.
Sie fürchteten aus guten Gründen, dass die schon an und für sich
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Bischof Rudbeek.
übelwollende Gesinnung des Königs gegenüber der estländischen
Provinz durch seinen Bericht nur noch gesteigert werden würde.
Und sie täuschten sich nicht, denn noch 1G29 gab der König
seiner Ueberzengung, dass die Estländer allein am Miserfolge des
Visitationswerkes schuld seien, in heftigen, an mehrere Adels-
deputirte gerichteten Worten unverblümten Ausdruck, trotzdem
sich Ax Oxenstjerna für sie verwandte1. Und wäre der König
nicht bald darauf nach Deutschland aufgebrochen, wer will es
wissen, ob er sich nicht gar im Zornesdrange zu ungerechten Mass-
nahmen gegen das Land oder einzelne Personen desselben würde
haben verleiten lassen. Uns Epigonen jener Tage liegen die
dunklen Schatten nach der entgegengesetzten Seite, wir stehen im
Lichte der ehernen Gestalten des herben Rudbeek und seines
grösseren Königs Gustav Adolf, des Dichters jenes echt protestanti-
schen Liedes: «Verzage nicht, du Häuflein klein1».
A r e u s b u r g , im August.
1 cf. die nllrg. Schrift ftrciffenhagcitft.
1 In Heft 7 int nuf p. 5;-»:» Z. 15 v. ... zu hwen: IßOI 1G38 («tatt 1618).
T. Christian i.
Digitizeö
c
Polnische Wirtschaft in Livland.
f!595 nn.l 159«}.
[ducnbis filium meum in spem utriusque regni* — so rief,
wie uns Geijer berichtet, König Johann von Schweden
mit gezücktem Schwerte über seinem Haupte dem Erzieher seines
Sohnes Sigismund zu, als er diesen einmal mit ihm aus der katholi-
schen Messe kommen sah. Dieses Mahn- und Drohwort konnte
ihm nicht von Herzen kommen, denn Johann gehörte ja mehr dem
Katholicismus als dem Protestantismus an, und daher konnte ihm
nichts ferner liegen als Misfallen an der Betheiligung seines Sohnes
an einer katholischen Messe. Aber zur Zeit war sein Kopf noch
mehr als sein Herz doch von anderen Dingen erfüllt als von kirch-
lichen Interessen. Die *si>es utriusque regni*, der Wunsch und die
Hoffnung, dereinst die Doppelkrone von Schweden und Polen auf
dem Haupte seines Sohnes vereinigt zu sehen — die waren es, die
ihn so unmuthig machten. Wäre es in Krakau oder Warschau
gewesen, Johann hätte sicherlich dazu geschwiegen. Aber in
Stockholm, in dem protestantischen Stockholm konnte es nur An-
stoss erregen, wenn der Erzieher des schwedischen Thronerben ihn
in die Messe begleitete. Der Schein also sollte gemieden werden.
Vielleicht reichte die Einsicht des Königs weiter; vielleicht musste
er sich sagen, die gänzliche Entfremdung seines Sohnes von der
protestantischen Kirche werde ihn zu der Rolle, die er dereinst
als Herrscher der beiden Reiche zu spielen haben werde, unfähig
Baltincli« Mon»Unrhrift, Rh».! XXXIV, llofl s. 45
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r,70
Polnische Wirtschaft in Livland.
machen. Eine Art religiösen Doppelwesens in der Person seines
Sohnes sollte vielleicht diesem Ausgange vorbengen.
Doch sei dem, wie ihm wolle, in dem vernommenen Droh-
worte lag jedenfalls neben richtigem Vorausblicke dessen, was
kommen musste, wenn bei der Erziehung des künftigen Beherrschers
Schwedens alle Rücksicht auf die Landeskirche bei Seite gesetzt
würde, die weit grössere Selbsttäuschung, durch Schein- und Doppel-
wesen einen Widerspruch lösen zu können, der in den mächtigsten
Dingen der Völker- und Staatengeschichte seinen tieferen Grund
hatte. Zwischen Schweden und Polen lag eine so weite Kluft
befestigt, dass der Doppel reif zweier Kronen, auch von dem er-
leuchtetsten Haupte eines willensstarken Regenten getragen, sie
nimmermehr überbrücken konnte. Und Sigismund — das wird
sich sein Vater wol schon damals gesagt haben müssen — war
weder erleuchtet noch willensstark. Dafür hatten, als er noch
Knabe war, seine Mutter und später die Jesuiten gesorgt, so weit
dabei erzieherische Einflüsse bedingend und gestaltend sind.
Aber ist denn wirklich — kann man immerhin fragen —
der von uns erhobene Vorwurf der Selbsttäuschung so unbedingt
zu unterschreiben ? Lagen die Dinge zu Zeiten Johanns III. nicht
vielmehr so, dass bei geschickter Ausnutzung der politischen Ver-
hältnisse wenn auch nicht eine einheitliche Monarchie von festem
und auf die Dauer berechnetem Gefüge, so doch eine Personalunion
erhofft werden konnte, welche tür einige Zeit der Macht und des
Glanzes nicht entbehren werde? Denn nicht handelte es sich ja bei
der Verbindung beider Reiche und Kronen lediglich um die sowol
räumlich als wesentlich disperaten Elemente von Schweden und Polen,
sondem um diese in ihrer Verbindung mit einem dritten Lande, in
ihrer Verbindung mit —Livland. Livland rückte die Grenzen
Polens und Littauens bis an die Ostsee und den finnischen Meer-
busen und durch diese in nähere Verbindung mit Schweden und Fin-
land. Und war denn nicht Livland mit seinen noch nicht erloschenen
katholischen Ordensreminiscenzen, mit der von Nationalität und
Kirche unabhängigen Lehnstreue seiner Vasallen und mit dem Be-
dürfnis aller seiner Bewohner, durch die Vereinigung zweier mächti-
ger Nachbarreiche gegen die Anstürme eines dritten Reiches und
Volkes, damit aber gegen Kriege und verwüstende Einfälle sicherer
als bisher gestellt zu werden, nicht wirklich ein ausgleichendes
und vermittelndes Element? Konnte Johann TU. im Hinblick auf
dieses Bindeglied nicht der Hoffnung leben, Livland werde je
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Polnische Wirthschaft in Livland.
Cul
langer, je mehr ein Kitt zwischen Schweden und Polen werden
und so die Wasas zu dem mächtigsten Herrscherhause in Ost-
europa erheben?
Auf alle diese Fragen muss unbedingt mit Nein geantwortet
. werden. Sollte Altlivland die Rolle des Bindegliedes übernehmen,
so musste es einheitlicher in sich dastehen, als es zur Zeit
Johanns III. der Fall war. Von Kurland ganz abgesehen, das
mit seiner relativen Selbständigkeit und seinen Sonderinteressen
mehr zu Polen als zu Schweden gravitirte, waren es besonders
das neue Livland und das neue Estland, welchen seit Untergang
des livländischen Ordensstaates das Gepräge der Einheitlichkeit zu
sehr abhanden gekommen war, um ihrerseits die Rolle der Ver-
mittlung zwischen anderen staatlichen Gebilden zu übernehmen.
Nicht als wenn Livland in den etwa 30 Jahren seit jenem Unter-
gange sein germanisches Wesen eingebüsst hätte — dazu war
dieses zu fest begründet. Aber Polen und Littauen hatten das Ihrige
gethan, um dieses Wesen so einzudämmen und zurückzudrängen,
dass eine Bethätigung desselben nach aussen kaum möglich war.
An der Spitze ein völlig geschwächtes Königthum, daneben ein
umgestalteter Landesstaat im Schlepptau wüster Reichsversamm-
lungen, Willkür und Parteilichkeit in Verwaltung und Rechtspflege,
grenzenlose Ueberhebung des eingewanderten Magnatenthums und
endlich katholische Propaganda und Jesuitenwirthschaft : das war
die Morgengabe, welche Neulivland zu Theil geworden war. Und
daneben stand Estland, die viel umstrittene und schliesslich doch in
der Machtsphäre Schwedens verbliebene Provinz, mit seinem unge-
schwächten Lutherthum, mit seiner unveränderten eigenartigen Ver-
fassung in Stadt und Land, und nur so weit schwedisch, als
schwedische Heerführer und Regenten von hoher staatsmännischer
Begabung, wie die Horn, Banner und de la Gardie, den neu er-
worbenen Landestheil zu schützeu, nicht aber in seiner Eigenart
zu vernichten bemüht waren. Bei einer so gegensätzlichen Stellung
der beiden Provinzen zu den Kronländern, deren Theile sie zur
Regierungszeit Johanns III. waren, gehörte kein geringer Grad
von Verblendung dazu, um für die Annäherung zwischen Polen
und Schweden grosse Stücke auf die ehemaligen Bestandteile Alt-
livlands zu geben.
Ein lehrreiches Beispiel dafür giebt der Process des reval-
schen Rathsherrn und Gerichtsvogts Johann Strahl bor n wider
den Oekonomen des dorpater Stifts und polnischen Statthalter Georg
45*
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G72
Polnische Wirthschaft in Livland.
Schenking und den Rittmeister Hermann W r a n g e 1 1.
Er ist weit davon entfernt, ein Sensationsstück zu sein. Einfach
in seiner Veranlassung und in seinem Verlaufe, eignet er sich
doch sehr dazu, einen Beitrag zu dem Bilde livländischer Zu-
stände während der Polenherrschaft zu liefern , insbesondere
aber klarer hervortreten zu lassen , was alles dazu geführt
hat, dieser Herrschaft zu Gunsten Schwedens so rasch ein Ziel
zu setzen. Und wenn unsere provinzielle Rechtsgeschichte aus
diesem Bilde auch keine wesentliche Bereicherung an positiven
Resultaten auf dem Gebiete der Gerichtsverfassung uud des Gerichts-
verfahrens wird schöpfen können, so wird es ihr doch auch nicht
ganz an neuem Material zur Beantwortung der noch immer offenen
Frage fehleu, wie es gekommen, dass trotz aller Bemühungen
Polens, jenes Gebiet in seinem Interesse umzugestalten, die alt-
livländische Rechtspflege sich so bald von ihren fremden Bestand-
teilen zu befreien vermocht hat.
Zunächst haben wir uns mit den processführenden Parteien
bekannt zu machen. In der Klägerrolle finden wir den revalschen
Rathsherrn und Gerichtsvogt .Johann Strahlborn. Er ge-
hörte der bekannten Patricierfamilie dieses Namens an. Von den
neun Strahlborns, welche im revalschen Rathsstuhle gesessen haben,
war unser Johann (ein zweiter dieses Vornamens kommt viel später
vor) der erste, der zum Rathsherrn gewählt wurde. In den Jahren
1595 — 1597 war er Gerichtsvogt, d. h. Inhaber der niederen Straf-
gewalt in der Stadt, von 1598—1600 war er ältester Rathsherr
und als solcher Herrenvogt'.
Von seinen Gegnern und Beklagten im Processe ist Georg
Schenking «als der intellectuelle Urheber dessen, was an Strahl-
born verbrochen wurde und als der Mächtigere, Her m a n n
Wrangell als das ausführende Werkzeug, zugleich aber auch
als der minder einflussreiche Gesinnungsgenosse seines Herrn zu
bezeichnen. Beide sind unbedenklich der sauberen Gruppe polonisirter
livläudischer Renegaten zuzuzählen.
Ueber Schenking besitzen wir, wenn auch in schwer zugäng-
. liehen Quellen, ausreichende Personalien. David Hilchen hat ihm
in gebundener und ungebundener Rede verschiedene Nachrufe ge-
1 Runge. Die Rev. Rathaiini«', S. 133, 134. Tn der Schreibweise dü
Namens folge ich Bunge ; in den Urkunden, die uns vorliegen, wird der Name
ohne h geschrieben,
Polnisch« Wirtliscliaft in Livland.
673
widmet' und ein Revalenser Matthias Saccus ihn in schwungvollen
lateinischen Hexametern gefeiert1. Georg Schenking, ein Bruder
des bekannten, oder besser: berüchtigten Bischofs von Wenden Otto
Scheuking gehörte einer livländischen Adelsfamilie (Hilchen sagt
*nobilissimis parentibus*) an und ist 1560 in Livland (wo?) geboren.
Früh der Erziehung eines polnischen Magnaten übergeben, begab
er sich nach dessen Tode an den Hof holsteinischer Grossen. Als
unter Stephau Bathory der polnisch-russische Krieg ausbrach, trat
er als 20jähriger Jüngling unter Fahrensbach in polnische Dienste.
Nach beendigtem Kriege folgte er einer Empfehlung an den Hof
des Markgrafen Georg Friedrich von Brandenburg. Von da liefen
ihn die polnischen Thronstreitigkeiten nach Polen, wo er für Sigis-
mund Partei ergriff. Die Ehe mit Felicia Zamoisky, einer Anver-
wandten des Grosskanzlers gleichen Namens, verhalf ihm zu dem
hohen und verantwortlichen Posten eines Oekonomus des dorpater
Stifts und polnischen Statthalters daselbst. Später wurde er
Castellan des wendenschen Kreises, bis der Krieg wider Karl
von Sodermanland ihn wieder unter die Fahnen rief. Sehr ver-
mögend, rüstete er auf eigene Kosten Reiterei und Fussvolk aus»
und zog mit ihnen ins Feld. Der ungünstige Ausgang des Krieges
war für ihn besonders verhängnisvoll ; er wurde in Dorpat gefangen
und trotz angebotenen, aber nicht entgegengenommenen hohen
Lösegeldes nach Schweden in harte Gefangenschaft gebracht, welcher
er sich nach vierjähriger Dauer durch die Flucht entzog. Krank
und gebrochen siedelte er nach Thom und Krakau über, wo er
1605, also in seinem 45. Jahre starb. Er liegt in Thorn begrabeu.
Aus einer auf seine Begräbnisstätte bezüglichen Bemerkung Hilchens
' David Hilchen : F.picedion memoriac et honori Magn. Gen. D. Georgii
Schenking, Zamoscii a. D.MDCVI. nebst Fpitgmbion und Inner iptio ecxilli (Knien
scher Druck; der Kigaschcn Stadt biblothek gehörig).
1 Matthias Saccus (Hevalia Lico) . . Dn. Georgii Schenking . . . has . . .
lacrgmas aspersi. Thorunii Horum*. Saccus scheint iu einem Abhängigkeit«-
Verhältnisse zu Schenking gestanden, mit ihm ins polnische Lager übergegangen
und dadurch seine Rückkehr nach dem schwedisch gewordenen Livland unmöglich
gemacht zu haben. Dafür sprechen die Schlusszeilen seines Poems: Ntt mihi
jam tun Mors, verum mea vita soknda est Vita proeul patriae, Patriae turhatae
ruinis, Vita fugae.» (Der Rigascheu Stadtbibliothek gehörig.)
1 Hilchen. Epicedion: . . . «.cum ex liepubl. thesauro tarn subito non
possent in milites stipendia obtineri, multa millia florenornm proprii sui peculii
in aliquot militum turmas et peditum cohortes esposuit.*
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G74
Polnische Wirtschaft in Livland.
ergiebt sicli — was sich schon ohne sie annehmen Hess — dass
er zum Katholicismus übergetreten ist'.
Von Hermann Wrangell wissen wir kaum etwas mehr, als
dass auch er dem livländischen Adel angehörte, während Schenkings
dorpater Regiments ihm iu irgend einer untergeordneten Stellung
beigegeben war und den Rang oder Titel eines Rittmeisters —
die polnischen Gerichtsacten nennen ihn in ihrem klassischeu Latein
c Iiitlmagister polonuvs* — führte. Dass er es verstanden hat, sich
bei den polnischen Machthabern in besondere Gunst zu setzen, geht
schon aus dem Umstände hervor, dass er einer von den wenigen
livländischen Edelleuten war, welche nach Stephan Bathorys rück-
sichtloser Reduction der ehemaligen Stifts- und Ordensgüter in
ihrem Besitze restituirt wurden».
Jetzt noch ein Wort über das damalige Dorpat als den Ort,
wo sich der Gegenstand des Processes abgespielt hat. Dorpat,
das ehemalige Glied der Hansa und der bedeutungsvolle Knoten-
und Verbindungspunkt auf dem Handelswege zwischen der Ostsee
und Nowgorod, war zur Zeit Sigismunds III. im Begriffe sich aus dem
Zustande der Verödung und des Elends emporzuarbeiten. Dreissig
Jahre hatte die Stadt unter der schweren Hand der russischen Er-
oberer darniedergelegen ; die meisten Deutschen waren iu die mosko-
witische Getaugenschaft abgeführt. Erst unter der Herrschaft Polens
hörten allmählich die tiefgehenden Wirkungen des langjährigen
Kriegszustandes auf. Seit 1583 hatte Dorpat wieder eine deutsche
Stadtgemeinde und seit 1588 durch zwei Gnadeubriefe Sigismunds
eine der früheren ähnliche Verfassung. Aber gleichzeitig fingen auch
die durchGadebusch3uns bekannten Karthausenschen Händel zwischen
Rath und Bürgerschaft an. Wurde die eben sich erholende Stadt da-
durch noch mehr geschwächt, als sie es schon war, wo sollte sie die
Kraft hernehmen, um mit den polnischen Gewalthabern, in deren
Händen schliesslich doch das Schicksal der wichtigsten Angelegen-
heiten lag, fertig zu werden ! Daraus erklärt sich auch die unsichere
und schwankende Haltung, welche, wie wir sehen werden, der sonst
gut livländische dorpater Rath im Strahlbornschen Processe zeigte.
Doch nun zu diesem Processe selbst und zwar zunächst zu
den ihn veranlassenden Begebenheiten.
1 II ilchen. ibid.: Morti ricinus hoc pctiit, ut in civitate Torunensi corpus
suum humarelur . . . tum quod eandan, quac ibi in usu est, relig i o n c m coleret.»
» Xyeiistiidts Chronik. S. 81.
■ UiuU'bnsoh. LivliÜldiHchf Jahrbücher. "2. Thl. sj 50.
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Polnische Wirthschaft in Livland.
075
Im Jahre 1594 waren Bauern des polnischen Domänengutes
Antzen (es liegt im werroschen Kreise) als Fuhrleute mit Flachs
und Hanf aus Dorpat nach Reval gekommen. Hier erwies sichs,
dass sie sich an dem ihnen anvertrauten Gute vergriffen hatten
und sie wurden dafür zur Verantwortung und Strafe gezogen. Der
am schwersten Gravirte unter ihnen hatte es verstanden, sich mit
Hinterlassung seines Pferdes dem Arme der Gerechtigkeit durch
die Flucht zu entziehen. Sein Pferd wurde öffentlich verkauft und
der Erwerber desselben, ein revalscher Bürger, begab sich einige
Zeit darauf nach Dorpat. Hier fahndete man auf ihn und nahm
ihm seine beiden Pferde, darunter auch das dem autzenschen Bauern
gehörig gewesene, ab. Der Geschädigte wandte sich, als er nach
Reval zurückkam, mit einer Beschwerde an den Rath, der seiner-
seits Reclamationen in Dorpat erhob. Mehrfache Schreiben wurden
deshalb an den Oeconomus gerichtet, aber so erfolglos, dass sie
nicht einmal einer Antwort gewürdigt wurden.
Nun kam Strahlborn im Januar 1595 auf einer Reise nach
Dorpat. Er war schon einige Zeit dort gewesen, als er seitens
der polnischen Gewalthaber Unbilden der schlimmsten Art erfahren
musste. Ueber die auf sie bezüglichen Vorgänge liegen im revaler
Stadtarchiv mehrere Schriftstücke vor. Die meisten derselben
stammen von Strahlborn selbst und sind Schreiben, die er theils
au seinen Bruder, theils an seine Freunde, theils endlich an den
revaischen Rath und die schwedischen Gesandten, welche sich in
Narva der Friedensverhandlungen wegen aufhielten, gerichtet hat.
Um des lebhafteren und frischen Eindrucks des Selbsterlebten
willen und zur Charakterisirung dessen, in wie weit der in- seiner
Ehre Geschädigte neben seiner Person auch die Stadt Reval für
verunglimpft erachtete, glaube ich einer wörtlichen Wiedergabe
eines dieser Schreiben und zwar des an die schwedischen Gesaudten
in Narva nicht entrathen zu können. Es ist vom 14. Februar 1595
vom Schlosse Dorpat datirt und lautet mit Hinweglassung unwesent-
licherer Theile, wie folgt :
dch kann nicht verhalten» —schreibt Strahlborn cwes
gestalt ich an diesem Orte zu Dörpte mich ungefähr in die drei
Wochen meiner Geschäfte halber aufgehalten habe. Und hat sichs,
den 4. d. M., zugetragen, dass ganz unvermuthlich in meine Herberge
zu mir gekommen um Zeigers 1 Hermann Wrangell und des Herrn
Oeconomi seiner Diener einer, Liczinsky genannt, sammt zweien
anderen ihrer Diener und in ihren Händen haben sie eiu jeglicher
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076
Polnische Wirthschaft in Livland.
einen Zolkan« und ihre Zabeln auf der Seite gegürtet, ohn allein
Hermann Wrangell, der hat einen Zolkan in der Faust gehabt.
Als hat der Hermann Wrangell angefangen, dass der Hr. Oekouomus
ihn an mich geschickt und anmelden Hesse, nachdem ich als Gerichts-
vogt der Stadt Revell verschienen Winter des Hrn. Oekonomi seine
Pauern zu Revell hätte am Pranger streichen, denselben auch
Ohren, Nasen und Mäuler abschneiden lassen, ihnen auch ein Pferd,
welches ein Pauer aus Furcht verlaufen, mit Unrechte benommen
und verkauft. Ich sollte aber billig betrachtet haben, dass der
Hr. Oekouomus alhier vor keinen weissen Stock gesetzet, sondern
die königl. Pauren wären ihm befohlen. Dieselbigen sollte man
alhier angeklaget haben. Weil sie aber so übel wider Recht und
Billigkeiten traitiret, als Hesse der Hr. Oekouomus mir anzeigen,
dass ich nicht sollte von hinnen ziehen, ich hätte denn hiervor
Rede und Antwort gestanden. — Auf diese des Hrn. Oeconomi
angebrachte Gewerbe habe ich geantwortet, dass er mir eine solche
Gewalt, die keiner Privatperson zustände, beimessen thäte. Der
Hr. Oekonomus sollte wohl thun und die Briefe E. E. Rathes, deren
drei zu unterschiedlichen Zeiten an ihn gelanget; durchlesen. Da
würde er finden, dass ich da wohl Gerichtsvogt gewesen ; doch
hätte ich die Diebe nicht aus meiner Gewalt, sondern aus ein-
helliger Ver willigung und Beschluss E. E. Rathes strafen lassen.
Denn wir hätten eine Stadt von Recht und theilten dasselbe
jeder männiglichen und könnten auch unsere Gerichte Niemandes
halben fallen lassen. Begehrte aber der Hr. Oekonomus mit mir
zu reden, so könnte ichs für meine Person wohl dulden, dass
solches- lieber heute als morgen geschehe. Dass aber der Hr.
Oekonomus also verkleinert und einem weissen Stocke verglicheu,
solches geschehe von uns nicht und sollte uns auch Gott darfür
behüten. Worauf der Wrangell mit ganz spöttischen Worten gegen
mir ausgefahren und gesagt : Ihr möget wohl ein alter Mann sein ;
dies ist aber eine ganz kindische und dulle Rede. Darauf ich
geantwortet : Mein lieber Wrangell, zu meinem Alter und Ver-
stände gebet ihr mir nichts und könnet mir auch nichts nehmen.
Weiter ist der Wrangell ausgefahren und gesaget : Sieh, welch
ein gottloser Mensch und rechter Narr und närrische Rede. Worzu
ich geantwortet, dass ich mich dieses Schimpfs zum höchsten bei
meiner Obrigkeit und K. M. beklagen wollte. Auf dieses hat er
• Zolkan ist, wie aus anderen Schriftstücken hervorgeht, ein Streithauinier.
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Polnische Wirthschaft in Livland.
H77
ganz unbesonnener Weise mit ganz schimpflichen Worten mich
angefahren und gesaget: Du Schinder, du Hudler, du loser Kerl,
und alsobald mit dem Zolkan mich gewaltsamer Weise in meiner
Herberge überfallen, auf mich eingeschlagen und mich recht vor
das Herz getroffen, also dass ich beinahe beduseld wurde, und
wenn Gott der Allmächtige nicht sonderlichen die Spitze oder
Schärfe des Zolkan« gewendet, so hätte es mir mein Leben ge-
kostet, welches ihm leichtiglich zu thun gewesen, weil ich kein
Messer, viel weniger einige Wehr und Waffen in der Faust oder
bei mir gehabt. — Dem Wrangeil ist dieses aber noch nicht
genugsam gewesen, dass er mich in meiner Herbergen mit Schmähen,
Schelten und ehrrührigen Worten überfallen und Gewalt geübt,
sondern hat überdies seinen Muthwillen und geübte Gewalt zu be-
schönigen und zu beschmücken gesucht, indem er dem Hrn. Üekonomus
gesagt, als sollte ich ihn geschmäht und an seinem guten Namen
angegriffen haben. Wodurch der Hr. Oekonomus in solchem Iver
entzündet worden, dass er meine Herberge mit 20 oder mehr
Heiducken« besetzt und denselbigen befohlen hat, mich gefänglich
zum Schlosse zu geleiten, was auch zum Spectakel aller geschehen
wäre, wenn nicht der Bürgermeister Elias Mengershausen solches
durch vielfältiges Bitten und unter dem Bedinge abgewandt hätte,
dass ich angeloben müssen, ohn allen Verzug mich zu Schlosse
einzustellen. Wie ich nun Zeigers drei zu Schlosse kommen, da
hat man mich vorgestellet und mich durch parteiische Leute, so
dem Hrn. Oekonomus mit Diensten verhaftet sind, verhöret und hat
der Hr. Potstarost Antonius Gersteuzweig angefangen und gesagt,
als sollte ich schier dem Hrn. Oekonomus an seinen Ehren und gutem
Namen angegriffen haben. Haben aber nichts erwiesen und sollen
es auch nimmermehr erweisen. — H. Wrangell und des Herrn
Diener Leczynsky, seine Kläger und Gezeugen, bringen ein, als
sollte ich gesagt haben : Mich wundert, dass H. Wrangell sich in
solchem leichtfertigen Handel gebrauchen lässt. Item : ich wollte
stärker kommen, als der Hr. Oekonomus, welches mir nie in den
Sinn gekommen, viel weniger, dass ich es geredet, derowegen ich
auch keinen Widerruf zu thun, wie sie es begehren, schuldig bin.
In Verhörung der Sachen hat der Wrangell mich abermals für
den ganzen ürabstande gröblich und höchlich injuriirt und geschmäht,
als: du Hudler. du loser Kerl, du Stückbnbe; man sollte dich
' Heiducken heisseu anderswo auch die Stadtsoldaten.
678
Polnische Wirthsehaft in Livland.
dahin bringen, da die Pauren hingebracht gewesen. Ingleichen
hat sich H. Wrangeil auch desselbigen Mal vor Jedermänniglichen
auf dem Schlosse seines adeligen Standes gebrüstet und die Schwedi-
schen vom Adel verachtet mit diesen Worten: Du magst es frei
wissen, dass ich besser sei wie ein schwedischer Edelmann. Worzu
ich geantwortet, er sollte doch nach Revell kommen und ihnen
solches sagen, man würde ihm dort die Antwort nicht schuldig
bleiben. Und ist der Wrangeil abermal mit Dreuen, Schlagen uud
Ueberfall wider mich ausgefahren, welches ihm als Kläger nicht
gebürete. — Nachdem man so mit mir procediret, hat man die
Passion gehabt, mich zu Schlosse in Bestrickung zu nehmen wider
alles Recht und alle Billigkeit. Zwar habe ich mich erboten, Hand-
Streckung zu thun, Bürgen zu stellen und eine namhafte Geldstrafe
auf mich zu nehmen, wofern ich weichhaftig werden sollte. Alles
das hat aber nichts helfen mögen. Nur wenn ich alles, was mir
widerfahren, vor Gleichspiel hätte aufheben und gut sein lassen
wollen, hätte ich wol der Bestrickung entledigt werden können ;
was zu thun mir aber nun und nimmermehr beifallen konnte.»
Auf diese Erzählung des von ihm Erlebten lässt Strahlborn sein
dringendes Anliegen folgen, es möchten die Gesandten, nicht etwa
nur seinet- und seines guten Namens wegen, sondern vor allem
auch um des Amtes und um der Stadt Reval willen, die in seiner
Person so schwer beleidigt worden, Schritte dafür thun, dass ihm
Genugtuung widerfahre und dass er zunächst auf freien Fuss
gestellt werde.
Die verschiedenen Schreiben, welche Strahlborn aus seinem
Gefängnisse nach Reval und Narva richtete, verfehlen ihrer nächstr
liegenden Wirkung nicht. War es doch geradezu ein Attentat mit
politischem und nationalem Hintergründe, das in brutalster Weise
von einem Manne in so hoher Stellung, wie sie ein Statthalter
einnahm, gegen den Vertreter der Justizhoheit einer benachbarten
und seit undenklicher Zeit befreundeten Stadt begangen wurde, ein
Attentat, das an sich schon sich wie eine beissende Ironie auf die
von König Johann erwünschte Personalunion ausnimmt.
Schon am 11. Februar erlasseu die Gesandten ein Schreiben
nach Dorpat, das trotz aller höflichen Formen und Redewendungen
eine recht deutliche Sprache führt. «Es wundert uns nicht wenig»
— schreiben sie an Schenking — «wie man sich unterstehen durfte,
einen der königl. Majestät zu Schweden und Polen, unseres aller-
gnädigsten Herrn, Unterthaneu dergestalt zu verletzen, sintemal
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Polnische Wirthschaft in Livland. 679
euch bewusst, dass Gott Lob beide Reiche, Schweden und Polen,
unter einem Könige und in sonderlicher Freundschaft und gutem
nachbarlichen Vertrauen sind. Damit aber gedachter Strahlborn
von der hohen Obrigkeit gebührlichen Schutz und hülfliche Hand-
reichung empfinden möge, so haben wir Sr. königl. Maj. getreuen
Diener und Secretarium, den ehrenfesten Ambrosium Palmbaum mit
Vollmacht hindannen abgefertigt und ihm den Befehl gegeben, mit
euch deshalben zu reden und sich des bestrickten Strahlborns Sache
dermassen anzunehmen, dass ihm nicht ferner Gewalt geschehe,
sondern er der Haft auf Bürgschaft entledigt und länger nicht
aufgehalten werde. Was aber die ihm begegnete Gewalt betrifft,
können wir nicht unterlassen, höchstgedachter königl. Maj. diese
Dinge unterthäuigst zu erkennen zu geben und I. M. zu ersuchen,
hierzu unparteiische Richter zu ernennen, welche die Sache ver-
hören und der Billigkeit nach entscheiden. Solches geschieht billig
zur Beförderung der Jtisticien, zweifeln auch nicht, ihr werdet in
diesem alle Gebühr erzeigen. >
Trotz dieser nicht miszuverstehenden Androhung einer ganzen
Versammlung hochstehender und einflussreicher Staatsmänner, wie
es die königlichen Gesandten zur russischen Friedensverhandlung
waren, beim König selbst um Aufhebung der Haft und Unter-
suchung der Sache intercediren zu wollen, machten Schenkiug
und seine Genossen fürs erste noch keine Miene, eine Notiz davon
zu nehmen. Es geschah vielmehr ihrerseits alles Mögliche, um die
ins Werk gesetzte Unbill noch zu erhöhen. Wir ersehen das aus
verschiedenen schriftlichen Kundgebungen, namentlich aus einem
Schreiben des Bürgermeisters Mengershausen vom 21. März an
seinen Schwager in Reval und einem desgleichen Strahlborns an
den revaler Rath vom 20. desselben Monats.
Mengershausen theilt seinem Schwager mit, was er gethan
habe, um die Freilassung Strahlborns zu erwirken. Er habe sich
zu dem Ende an Conrad Taube (wahrscheinlich den späteren Ver-
treter des livländischen Adels auf dem wendenschen Landtage), der,
wie er hinzufügt, ein grosser und vertrauter Freund Schenkings
sei, und hätten sich beide dann gemeinsam an letzteren mit der
Bitte um Strahlborns Freilassung gewandt. Dieser Schritt sei
jedoch erfolglos gewesen. Darauf hätten sie mit Walther Tiesen-
hausen, einer gleichfalls bei Schenkiug gut angeschriebenen Persön-
lichkeit. Raths gepflogen und seien zu dem Resultate gekommen,
dass nicht nur in Sachen der Freilassung, sondern auch des ganzen
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680 Poloische Wirtschaft in Livlaiul.
Prozesses überhaupt wenig Gutes zu erwarten sei, weil der Gross-
kanzler Zamoisky auf Seiten des Angeklagten stehe und als Haupt
der Kanzlei den Fortgang des Processen in seiner Haud habe.
Besten Falls werde dieser wer weiss wie lange dauern und in
jedem Falle sehr kostspielig sein. Er, Mengershausen, könne daher
nur rathen, die Sache ungesäumt an die höchste Instanz, d. h. an
den König zu bringen, c Wenn I. K. M.» — fährt der Briefsteller
in theils niederdeutscher Mundart fort — cdie Sache nicht selvest
an sich tehen (ziehen) würde, wollte Ick lever to freden rathen.
Sollte man auch den kayserlichen Gesandten», der doch wird seinen
Weg hierher nehmen, wenn et nit to lange wurde, um Bistand
bitten. Wennglik Hr. Joh. Strahlborn mit Mandaten oder Citationen
verfahren wolde, so haben doch die polnischen Rechte ihre con-
stitutioncs, darauf die Edelleute hoch trotzen, und sonsten ihre excep-
tioncs, welche dem ehrlichen Manne grosse Langweiligkeit machen.»
Strahlborns Brief an den revaler Rath vom 29. März hebt
auch mit Klagen über die Fortdauer seiner Haft und die Erfolg-
losigkeit der bisher gethanen Schritte an. Wir ersehen aus dem-
selben, dass die Strenge des Verfahrens inzwischen noch zuge-
nommen hat. «Man hat» — schreibt er — «in vier Wochen
keinen deutschen Mann zu mir gestattet und werde so gar genau
und so ganz hart bewachet, als wenn ich in öffentlichem Kriege
gefangen genommen wäre oder einige Uebelthat verwirket hätte.
Auch ist in dieser Stadt kein einiger Mensch, der sich mit einem
Worte darf unterstehen, dem Herrn etwas zuwider zu reden. Auch
bin ich die ganze Zeit meiner Bestrickung nicht vor dem Herrn
gewesen oder zu Gehör oder Verantwortung gestattet worden und
will glauben, dass sein Lebelang ein solcher Process nicht erhört
worden ist. Ich habe viel darum gethan, dass ich schriftlich
möchte bekommen die Ursach dieser Bestrickung; ich habe aber
diese Stunde es nicht bekommen. Noch viel weniger ist in dieser
Stadt irgend ein Mensch, der sich unterstehen wollte, vor raein
Geld und billige Bezahlung mir zu dienen in dem, dass er die
Kundschaft und Gezeugnis von eleu Leuten, welche bei diesem
Handel gewesen, gerichtlich abfordere. Meine Briefe, so von
Revell kommen, ingleichen die ich von mir schreibe, werden mir
1 Der kaiserliche Gesandte, von «lein Mengershausen spricht, war Ehreu
t'ried v. Minkwitz, der im Interesse eine» gemeinsamen Vorgehens gegen die
Türken hei den Teutonischen Friedensverhandlungen Vergleichsvorschlage zu
machen hatte, (iadebusoh. a. a. U. Thl. II, S. 1 ">">.
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Polnische Wirtschaft in Livland.
081
genommen und gebrochen. Wenn man mein Essen bringt oder
schickt, das wird so fleissig besehen und behütet, damit ich ja
keine Botschaft oder Antwort schriftlich erlangen oder eine schicken
möge1. In Summa: man handelt also mit mir, als wenn schier
keine Obrigkeit da wäre, der wir unterworfen sind, welches alles
der gerechte und getreue Gott nicht wird ungestraft lassen, wofern
es die hohe Obrigkeit nicht strafen wird, welches ohne Zweifel
wohl geschehen wird, wenu es der Kön. May. wissend.»
Der Unterschlagung der an Strahlborn gerichteten Briefe
wird es wol zuzuschreiben gewesen sein, dass Strahlborn sich im
Eingange darüber beklagt, er erfahre nichts darüber, was man in
Reval für ihn und das in seiner Person so schwer geschädigte
Ansehen des Raths und der Stadt gethan habe. Alles der Ein-
sicht des ersteren anheimstellend, vermag er doch nicht mit einigen
Vorschlägen zurückzuhalten. Vor allen Dingen erscheine es ihm
rathsam, sich an den Grosskanzler zu wenden ; denn nicht nur sei
er der höchste Vertreter der Rechtspflege im dorpater Stifte, sondern
auch ein so hochgestellter Staatsmann, dass er sich dem nicht
werde verschliessen können, ein wie verderblicher Zustand in die
so wichtigen Handelsbeziehungen zwischen Reval und Dorpat ein-
reissen müsse, wenn Sicherheit von Person und Eigenthum derart
gefährdet würdeu, wie es die jüngsten Erfahrungen gezeigt. Aber
zugleich — und das ist höchst charakteristisch — hält Strahlborn
für gerathen, sich an die schwedische Nebenregierung, d. h. an den
Herzog Karl von Södermanland zu wenden: «Ich zweifle auch
nicht > — bemerkt er in dieser Beziehung — «E. E. W. werden
diesen betrübten Handel an Ihro Fürstliche Durchlauchtigkeit
Herzogen Carl und auch an die Herren Reichsräthe wohl haben
unlängst gelangen lassen, zu dem Ende, obs vielleicht nicht ge-
lingen möchte, dass sie hier mit meiner Verhaftung anlaufet! thäten,
wenn mit erster Botschaft sowol Ihro Fürstl. Durchlaucht als die
HH. Reichsräthe dem Hrn. Oekonomus vorschrieben, mich freizulassen.
Ingleichen auch möchten E. E. W. die Vorsehung thun, dass aus
dem Reiche (d. h. Schweden) Sr. Kön. May. förderlichst zu wissen
' Aus dem später zu erwähnenden Advocationsedicte König Sigismunds
erhellt, dun das Hnftlocal Strahlborns ein schenssliches Loch gewesen sein muss.
Denn es heisst dort, Strahlborn und der revaler Rath hätten sich hei ihm dar-
über beschwert, Schenking habe ersteren in ein (iefiingnis geworfen und ihn
auch dort so lange gehalten, Iiis er zum Tbeil durch Krankheit, zum Theil «von
wegen des ii e s t a n k s beinahe erstickt wäre».
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Polnische Wirthscliaft in Livland.
gethan werde, wie man allhier mit den schwedischen Unterthanen
umspringt und Haus halt.»
Inzwischen war — was Strahlborn offenbar aus den ange-
gebenen Gründen nicht bekannt geworden war — manches ge-
schehen, um ihn aus seiner schwierigen Lage zu befreien. Was
der von den narvaschen Gesandten abgeschickte Secretarius Palm-
baum in Dorpat etwa ausgerichtet, ergiebt sich aus den Acten'
nicht. Der revaler Rath schickte sofort den Secretär Caspar
Dellingshausen nach Dorpat, um sich über den Stand der Sache
zu informiren, namentlich aber die Befreiung Strahlborns zu er-
wirken In Dorpat selbst fehlte es nicht au Kundgebungen that-
kräftigen Interasses für Strahlborn. Schon Ende Februar hatten
sich mehrere angesehene Bürger Dorpats dazu verstanden, Bürgschaft
für ihn zu übernehmen. Todt oder lebendig — so verpflichten sie
sich — wollen sie Strahlborn c stracks den dritten Tags nach Ihro
Gnaden Anforderung vor königl. verordnete Coramissionen, auch
in diesem königl. Schlossgerichte oder sonsten in anderen in dieser
Provinz Liefland der Grone Polen unterworfenen Schlossgerichten »
stellen und widrigenfalls sich der für damalige Zeiten enormen
Pön von 10000 Thalern unterwerfen. Diese Bürgschaftsurkunde
ist — aus mir unbekannten Gründen — entweder gar nicht zur
Perception gekommen oder wirkungslos geblieben, da eine zweite
vom 8. März vorliegt, welche bei einer Bürgschaftssumme von
5000 Thalern sich darauf beruft, es sei die Freilassung Strahlborns
durch ein Schreiben königl. Commissare an Schenking angeordnet
worden. Offenbar ist darunter das schon erwähnte Schreiben der
narvaschen Gesandten gemeint. Auch der revaler Rath Hess es
nicht an schriftlichen Intercessionen fehlen. Zunächst erging ein
Schreiben an Schenking. Die Antwort darauf lautete aber, Strahl«
born habe sich so ehrenrühriger Worte gegen ihn und seine Ab-
gesandten schuldig gemacht, dass er ihn deshalb in Haft nehmen
lassen und aus ihr nicht früher entlassen könne, als bis er höheren
Orts dazu autorisirt sei.
Ob und wann die von Schenking wahrheitswidriger Weise
1 Wenn hier und später von «Acten» die Rede ist, so sind darunter nicht
solche in modernem Sinne, d. h. chronologisch geordnete, processnalisch relevante
Schriftstücke «i verstehen. Das mir zw Gebote stehende Material besteht viel
mehr ans mehreren Convolntcn wirr durch einander liegender Papiere, die theils
Concepte, theils Originale sind, manche unter ihnen durch Fiinlnis und Mause
frass deeimirt, manche sich auf den Process gar nicht beziehend.
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Polnische Wirtschaft in Livland.
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erwartete Äntorisation eingetroffen ist, ergiebt sich aus den Acten
nicht. An die Stelle einer solchen trat wol das- böse Gewissen
und die Furcht vor dem allgemeinen Unwillen, der sich selbst in
Dorpat mehr und mehr zu zeigen begann, die den polnischen
Gewalthaber schliesslich zur Freilassung nöth igten. Diese
erfolgte am 7. April — also fast nach neunwöchentlicher Dauer
der Haft. Uebrigens ging auch das nicht so einfach und glatt
von Statten. Strahlborn musste sich sofort verpflichten, zu Jacobi
wieder in Dorpat vor Gericht zu erscheinen und hinterdrein, als
dieser Termin verschoben wurde, Handstreckung dafür thun, dass
er jeder Citation, wohin es auch sei, Folge leisten werde. Ja, dem
revaler Rathe blieb der etwas demüthigende Schritt nicht erspart,
noch eine Extracaution von 5000 Thlr. zu stellen und dafür von
Schenking die heuchlerische Versicherung zu erhalten, uicht die
Iieibesschwachheit Strahlborns und nicht die Pression, die man auf
ihn auszuüben versucht, habe Strahlborns Freilassung erwirkt,
sondern sein, Schenkings, Bestreben, dem Rathe damit seinen «guten
Willen und nachbarliche Freundschaft» an den Tag zu legen.
Damit war denn der erste Act der Gewaltthat vorüber.
Was nun folgte, gehört dem Wirrsale dessen an, was man polnisch-
livländischen Process nennen muss. Auch der ist ja, wie wir
sehen werden, nicht frei von der Anwendung nackter Gewalt, doch
tritt diese weit zurück hinter eine Verdickung von Hinterlist und
offener Verachtung von Gesetz und Ordnung und hinter eine
Nebelwand von Rechtsbestimmungen und Gewohnheiten, die der
redlichsten Bemühungen, in seinem Verhalten vor Gericht sichere
Tritte zu thun, schon damals, noch mehr aber jetzt des Bestrebens
spottet, Licht in ein Dunkel zu bringen, welches den Namen
poluisch-livländischer Process zu führen hat.
W. G rei ffen nage n.
Taras Grigorjewitsch Schewtschenko.
Biographisch kritische Skizze eine« klein russischen Diehterlehens.
Die Geschichte der russischen Lite-
ratur ist ein Verzeichnis von Märtyrern
o<Ur ein Register von Sträflingen *
A Herzen.
I.
eit der Herausgabe der < Stimmen der Völker in Liedern *
von Herder 1778 hat in Deutschland der Gedanke einer
Weltliteratur immer mehr und mehr Boden gewonnen. Haupt-
sächlich in den letzteu Jahrzehnten unseres Jahrhunderts hat wol
kein anderes Culturvolk so wie die Deutschen seine Mühe und
Zeit dem Studinm fremder Literaturen gewidmet. Die Geistes-
erzeugnisse fremder Völker sind mit genialem Tacte ins Deutsche
übertragen, das Leben und Wirken ausländischer Dichter ist bio-
graphisch-kritisch bearbeitet worden. Auch der slavischen Literatur
wurde in dieser Hinsicht reichlich Rechnung getragen. Die Lite-
ratur der Grossrusseu, Slovenen, Serben, Bulgaren, Polen, Tschechen
und Wenden ist mehr oder weniger dem gebildeten Deutschen be-
kannt. Von jener Literatur aber, die selbständig zwischen der
grossrussischen und der polnischen dasteht, von der kleinrussischen,
melden uns die Literaturgeschichten so gut wie gar nichts. —
Wie? Sollte dieselbe keiner Beachtung würdig sein? Nein, sie
hält den Vergleich mit der Literatur jedes anderen Slavenstammes
nicht nur aus, sondern sie übertrifft die meisten derselben an Zart-
gefühl, an Tiefe und Reichthum der Empfindung. Die kleinrussische
Literatur athmet inniges Gottes vertrauen, tiefes Verständnis für
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Taras Grigorjewitsch Schewtschenko.
685
das Naturleben ; sie basirt auf gesunder Sinnlichkeit. Tn derselben
stösst man auf keinen affectirten Weltschmerz ; wenn die Dichter
klagen, so geschieht es in Veranlassung wirklich vorliegenden
Leides, in Veranlassung greifbarer Schmerzen. Persönlichkeiten
wie Panteleimon Kulisch, Gregor Kwitka, Iwan Kotljarewski,
Marko- Wowtschok sind durchaus frische, uroriginelle Dichter ; sie
sind durchweg naiv, sie sind durchaus volksthümlich, weil sie keine
anderen Vorbilder hatten als die tiefempfundenen herrlichen Lieder
ihres Volkes. Und erst recht der grosse Chorführer der Klein-
russen Taras Grigorjewitsch Schewtschenko. Dennoch finde ich
z. ß. in O. v. Leixners »Geschichte der fremden Litteraturen» nicht
einmal seinen Namen verzeichnet. Das möchte ich ungerecht
nennen, eben so ungerecht wie das ganze historische Schicksal des
Volkes, dessen Geistesrepräsentant Schewtschenko ist. Ja, noch
mehr ! Meines Wissens existirt selbst in russischer Sprache keine
vollständige zusammenhängende Biographie dieses Dichters. Und
doch ist er eiu unsterblicher Genius, ein Dichter von Gottes
Gnaden, in welchem die Ukrainer Volkspoesie veredelt und vertieft
ihren Ausdruck gefunden hat.
Iu Veranlassung dieser Thatsachen habe ich es versucht, aus
dem vorhandenen, aber sehr zerstreuten biographischen Material
ein Bild des grossen Ukrainedichters Schewtschenko zu entwerfen,
welches ich zum Schlüsse durch eine kurze Kritik seiner vornehm-
sten Werke greller zu beleuchten gedenke. Da mir aber erstens
einiges von dem hier einschlagenden Material nicht zu Gebote
stand, da zweitens über einige Lebensperioden dieses Dichters (z. B.
über seine zehnjährige Verbannung) hartnäckiges Dunkel lagert,
so musste ich auf eine erschöpfende Darstellung Verzicht leisten.
Die Biographie eines so bedeutenden Mannes, wie Schew-
tschenko, weckt an sich unser Interesse, aber noch um so mehr,
als er auch rücksichtlicli seines Lebensschicksals eine typische
Figur ist. Die Erscheinung Schewtschenkos ist keine Zufälligkeit :
mit derselben ist das Schicksal ganzer Millionen aus dem Volke
verbunden. In Schewtschenko vereinigen sich, gleichwie in einem
Brennpunkte, die Geisteskräfte aller Leibeigenen. Er ist eine
Pflanze, die heimatlicher Erde entsprossen ist, die grossgenährt
und begossen worden mit dem Schweisse und mit dem Blute des
leibeigenen Arbeiters.
n:ilti*rl.P Mon»t«chrifl. I!.tn.l XXXIV. llofl H. 4»;
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♦J86
Taras Grigorje witsch Scliewtschenko.
1. Die Kindheit Schewtschenkos (1 8 1 4 - 1 828).
Taras Grigorjewitsch Scliewtschenko erblickte am 25. Februar
1814 im Kirchdorfe Morinzy« im Sswenigorodschen Kreise des kiew-
schen Gouvernements das Licht der Welt. Seine Eltern waren
leibeigene Bauern der russischen Grundbesitzerfamilie von Engel-
hardt. Die ersten Kinderjahre des Dichters schwanden ruhig und
friedvoll dahin, geschützt vom treuen Fittig seiner ihn zärtlich
liebenden Mutter. Doch mit dem Tode derselben im Jahre 1822
beginnt für ihn jene lange Kette von Schicksalsschlägen, die erst
mit seinem Ende ihren Abschluss findet. Denn bald nach dem
Hinscheiden seiner Frau führte der Vater, da er ausser Taras
noch vier Kinder hatte (Nikita, Katharina, Jarina und Ossip —
Taras war das drittjüngste Kind — ), die Stiefmutter ins Haus ;
das Unglück wurde dadurch noch grösser, dass diese auch Kinder
aus erster Ehe mitbrachte. Hauptsächlich warf die Stiefmutter
ihren Hass auf Taras, da er nicht nachgiebiger .Natur, ja, wenn
er sich im Recht fühlte, sogar halsstarrig war. Iu der Umgegend
der benachbarten Dörfer Kirilowka und Tarasowka musste der
Kleine auf ihre Veranlassung die Kälber und Schweine hüten, für
mehrere Tage nur mit trockenem Brode versehen. Aber die
majestätische Steppe mit ihreu hohen Grabhügeln (Kurgane,), mit
ihrer üppig saftigen Vegetation verfehlte nicht ihres gewaltigen
Eindrucks auf das empfängliche Gemüth des Knaben. Die Steppe,
die unabsehbar wie das Meer dem Auge keine Schranken zieht,
weckte in dem phantasiereichen Kinde eine unaussprechliche Sehn-
sucht, dahin zu wandern, wo nach seiner Vorstellung sich Himmel
und Erde berührten. Eines Tages beschloss er sein Ziel zu er-
reichen. Er wanderte mit seinen kleinen Kinderfüssen zwei ganze
Tage lang, bis er ermattet und enttäuscht zu Boden sank : der
Himmel blieb immer gleich weit von der Erde entfernt. Mild-
herzige Leute brachten das erschöpfte Kind nach Hause. — Aber
noch etwas Anderes beschäftigte die Phautasie des kleinen Taras
in der Steppe, wenn er einsam und verlassen seinen Träumereien
nachhing, nämlich — die glorreiche Vergangenheit seiner Heimat.
Hatte er schon zu Hause aus den Liedern und den Erzählungen
seines Gross vaters vieles über die Heldenthaten seiner Vorfahren
1 Schewtsehenko Kt lbst Riebt irrthüinlieherweise das nebenan liegende Dorf
Kirilowka als seinen Geburtsort an, wohin seine Eltern allerdings einige Monate
nach seiner (uburt übersiedelten.
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Taras Grigorjewitsch Schewtschenko.
687
vernommen, so erhielt seine Einbildungskraft erst recht Nahrung
in Folge einer Wallfahrt, die er um diese Zeit mit seiner Schwester
Jarina nach dem Lebedynschen Kloster unternahm, welches im
letzten blutigen Kosakenaufstande 1769 eine hervorragende Rolle
gespielt. Durch die Erzählungen der alten Mönche erhielt er —
wie er selbst erzählt — die erste Anregung zu seinem berühmten
Epos cDie Hajdamaken». Seinem damaligen Aufenthalte in der
malerischen, wasserreichen Umgebung Tarasowkas, seinem Leben
in der einförmigen und dabei doch grossartigen Steppe verdankt
der Dichter jene tiefpoetischen plastischen Naturschilderungen, mit
denen er später so erfolgreich seine Dichtungen zu schmücken
verstand.
Allein die Lage des armen Knaben daheim wurde immer un-
erträglicher, so dass sein Vater sich gezwungen sah, ihn aus dem
Hause zu geben, um wenigstens diesen seinen Liebling vor den
Mishandlungen der Stiefmutter zu schützen. Doch dem armen Taras
erging es nur noch schlimmer. Er wurde 1824 dem Bürger Gubski
zur Ausbildung übergeben. Von zarter Jugend auf äusserte sich
bei Taras ein ungewöhnlich reges Geistesleben. Das Lesen und
Schreiben erlernte er spielend, seine Fortschritte waren geradezu
überraschend, im übrigen konnte aber Gubski mit dem muth willigen
Knaben nicht auskommen. Wer weiss, ob dieser Dorfpädagog es
auch verstanden hat, das intelligente Kind richtig anzufassen!
Kurz, Klage auf Klage lief beim Vater über den Taras ein, und
dies mag wol den Vater zur Aeusserung veranlasst haben: «Mein
Sohn Taras braucht nichts aus meinem Nachlasse zu erhalten ; er
wird kein gewöhnlicher Mensch werden : aus ihm wird entweder
etwas sehr Gutes oder etwas äusserst Schlechtes ; mein Erbe wird
für ihn entweder nichts bedeuten, oder es wird ihm zu nichts
helfen.» —
Noch in demselben Jahre (1825) starb der Vater, und der
arme Taras verlor somit seine letzte Stütze, er stand nun allein,
eine Waise, ohne Obdach in der Welt da, denn die Stiefmutter
wollte von ihm nichts wissen. Da nahm er seine Zuflucht zum
Kirchensänger des Sprengeis ßugorski und erlernte bei diesem im
Verlaufe zweier Jahre die Gottesdienstordnung, das Ceremonial
und den Psalter. Bugorski war ein grober, tyrannischer Mensch,
ausserdem dem Trünke ergeben. Seine Schüler benutzte er zu den
erniedrigendsteu Verrichtungen ; widersetzten sich dieselben , so
Hess er die unbarmherzigste Strenge und Roheit walten. Häutig
688
Taras Grigorjewitsch Schewtschenko.
entfloh der gemarterte Knabe und wurde sodann von seinen
Schwestern Katharina und Jariua heimlich — aus Furcht vor der
Stiefmutter — mit Nahrung versorgt. Wie tief Taras diese
schwesterlichen Wohlthaten empfunden und wie er dieselben im
späteren Leben vergolten hat, werden wir weiter erfahren. Allein
der Knabe kehrte immer wieder zu seinem Peiniger zurück, denn
nur da hatte er Gelegenheit, seine Leidenschaft zum Zeichnen zu
befriedigen, da er in der Schule Papier und Bleifeder zu erhalten
vermochte. Dadurch erhielt diese Neigung neue Nahrung. Zum
Schlüsse des zweiten Lehrjahres schickte Bugorski seiuen Schüler
Taras an seiner Statt Messen für das Seelenheil verstorbener Leib-
eigener zu lesen, um desto ungestörter seinem Laster nachzugehen.
Der rohe Säufer mishandelte den Knaben um so schlimmer, je
grössere Fortschritte dieser machte, weil der Unmensch fürchtete,
der begabte, strebsame Schüler könne ihn frühzeitig um sein Brod
bringen. Taras verachtete und hasste seinen barbarischen Lehrer;
ihm gegenüber ward er listig, ja rachsüchtig. Schewtschenko selbst
äussert sich 1 über diesen Bugorski : « Dieser erste Despot, dem ich
in meinem Leben begeguete, hat mir für mein ganzes Leben eine
tiefe Verachtung und einen tiefen Widerwillen gegen jede Gewalt-
tätigkeit des Menschen seinem Mitmenschen gegenüber eingeimpft.
Mein Kinderherz war millionenmal gekränkt worden von diesem
Jünger despotischer Seminaristenzucht, und ich rechnete mit ihm
so ab, wie es gewöhnlich schutzlose, aus der Fassung gebrachte
Leute zu thun pflegen — ich nahm Rache und floh. Als ich ihn
einst sinnlos betrunken vorfand, gebrauchte ich seine eigene Waffe,
die Ruthe, gegen ihn und zahlte ihm, so weit es meine Kinder-
kräfte gestatteten, alle Mishandlungen heim. Von allen seinen
Habseligkeiten schien mir ein Büchlein mit gravirten Bildern —
wahrscheinlich wol sehr schlechter Arbeit — das Werthvollste zu
sein. Sei es nun, dass ich es nicht für ein Unrecht hielt, sei es, dass
ich der Versuchung nicht widerstehen konnte, ich raubte diesen
Schatz und entfloh in dunkler Nacht nach dem benachbarten Orte
Lisjanka. Bald jedoch erkannte ich, dass mein neuer Lehrer in
Lisjanka seinen Principien und Gewohnheiten nach ein zweiter
Bugorski war; ich entfloh deshalb schon am vierten Tage nach
Tarasowka, auch zu einem Kirchensänger, dessen Specialität das
' Tu seiner nur einige Seiten langen Autobiographie, die er ein Jahr vor
»einem Tode in Form eines Brieten an einen der Uedaotenre der Zeitschrift
*Hap<ui!oe 'Heine «naamlte.
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Taras Grigorjewitsch Schewtschenko.
f>8<>
Malen von Heiligenbildern war. An diesen wandte ich mich, fest
entschlossen, alles, was kommen möge, zu ertragen, um nur die
Malerei einigermassen zu erlernen. Doch, o weh ! Der Dorf-Apelles
betrachtete meine linke Hand und schlug mir meine Bitte rund ab.
Er theilte mir zu meinem grössten Aerger mit, dass ich überhaupt
zu nichts, nicht einmal zum Schuster oder Böttcher tauge.»
Enttäuscht in seinen Plänen, verkaunt von aller Welt, zog
der vierzehnjährige Knabe bekümmerten Herzens in seine Heimat,
nach Kirilowka zurück. Er hatte sich ein bescheidenes Loos er-
wählt : Lämmerhirt wollte er werden, um in der Stille der Steppe,
fern von allen Menschen, das geraubte Buch lesen und die Bilder
desselbeu abzeichnen zu können. Dies hatte er sich in seiner Ein-
falt uud Naivetät so zurecht gelegt.
2. Die Entwickelungs periode Schewtsclien kos
(1 8 2 8— 1 83 8).
Der idyllische Traum des Knaben fiel ins Wasser, denn
gleich bei seiner Ankunft in Tarasowka wurde er vom Verwalter
der Engelhardtschen Güter als Leibeigener in dessen Bedientenzahl
aufgenommen. Als im Jahre 1829 der junge Engelhardt sein
väterliches Erbe antrat, hielt er es für augemessen, seinen Haus-
stand zu vergrössern ; in Folge dessen wurde auch Taras ins
Dienstpersonal seines Grundherrn übergeführt uud zwar in der
Eigenschaft der sogenannten Zimmerkosaken, da er gewandt uud
bellend war.
cZwei Verpflichtungen,» schreibt Schewtschenko in der er-
wähnten Autobiographie, < waren mir auferlegt worden : schweigend
und unbeweglich in einer Ecke des Vorzimmers zu sitzen und auf
Befehl meinem Herrn die Pfeife oder ein Glas Wasser zu reichen.
Bei meiner angeborenen Frechheit verletzte ich aber häufig diese Vor-
schriften, indem ich mit leiser Stimme melancholische Hajdamaken-
lieder sang, indem ich heimlich die Bilder, die die herrschaftlichen
Gemächer schmückten, abzeichnete. Ich zeichnete mit einem Blei-
stifte, welchen ich — ich gestehe es ohne Gewissensbisse — beim
Gomptoirdiener gestohlen hatte.»
Engelhardt war ein thätiger Mauu ; er reiste beständig um-
her, bald nach Kiew, bald nach Wilua, bald nach Petersburg.
Mit seinem Gutsherrn von einem Gasthof zum anderen ziehend,
benutzte Schewtschenko jede Gelegenheit, sei es im Gasthofe oder
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Taras Grigorjewitsch Schewtschenko.
im Wirthshause, irgend ein Bild von der Wand an sieb zu bringen.
Eine unüberwindliche Sehnsucht, diese Bilder so getreu als möglich
abzuzeichnen, nicht etwa der Trieb zum Stehlen, veranlasste ihu
dazu. Auf diese Weise kam er in den Besitz einer kleinen Bilder-
sammlung. *In Wilna wurde ich am 6. December 1829,» erzählt
der Dichter, «von meinem Gutsherrn, der mit seiner Gnädigen vom
Balle der Adelsversammlung früher, als ich erwartete, heimkehrte,
beim Zeichnen in der Nacht überrascht. Voll Erbitterung ohr-
feigte er mich und riss mich an den Ohren, nicht für meine Kunst
nein! die beachtete er gar nicht, aber dafür, dass ich ein Licht
angezündet hatte und somit nicht nur das Haus, sondern auch die
Stadt in Brand hätte stecken können. Am folgenden Tage befahl
er noch seinem Kutscher, mich ordentlich zu züchtigen, was letzterer
auch mit gebührender Ausdauer vollzogt
Da der Zimmerkosak Taras in Bezug auf Gewandtheit und
Fertigkeit den Hoffnungen seines Gutsherrn nicht entsprach, und
weil letzterer von einem Leibeigenen, der Maler sei, in Zukunft
grösseren Vortheil zu erzielen hoffte, wurde Schewtschenko im
Jahre 1830 dem bekannten Portraitmaler Lampi in Warschan zur
Ausbildung übergeben. Dieser jedoch nahm ihn nicht als Pensionär,
sondern nur als Tagschüler an. Taras wurde zum ersten Male
anständig gekleidet und widmete sicli mit der ganzen Glut seiner
jungen Seele der geliebten Kunst, so dass sein Lehrer über seine
Fortschritte staunte. — In diese Zeit fällt die erste Liebe unseres
Dichters. Er lernte eine hübsche Polin, eine Nähterin, kennen,
und wie es scheint, hat er nicht unglücklich geliebt, denn dieselbe
sorgte für ihn wie eine Mutter. Nur die russische Sprache duldete
sie nicht; in Folge dieses Umstandes erlernte er in dieser Zeit
vollkommen das Polnische. Eine ganz neue Welt ging auf einmal
der armen Waise auf. Doch das grelle Licht seines Glückes warf
um so tiefere Schatten auf die trostlose Lage, in der er sich be-
fand. Zum ersten Male ward er sich seiner Menschenwürde be-
wusst. Der Gedanke, dass er nicht frei, dass er Leibeigener sei
und gar keine Aussicht habe jemals frei zu werden, versetzte ihn
in Tiefsinn, so dass er auf Selbstmord sann.
Doch er sollte nicht untergehen ! Der Aufenthalt in Warschau
war von kurzer Dauer. Sein Gutsherr hatte seinen Abschied ge-
nommen und siedelte nach Petersburg über ; daher wurde Taras
auch nach Petersburg geschafft, und zwar per Etappe, denn so
winden damals gewöhnlich die Leibeigenen an ihren Bestimmungsort
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Tara» Grigorjewitseh Schewtschenko.
Ö91
befördert. Da Herr von Engelhardt ihn doch zum Maler ausbilden
lassen wollte, dafür aber so wenig als möglich anzuwenden ge-
sonnen war, übergab er ihn 1832 contractlich auf vier Jahre einem
zünftigen Malermeister, Namens Schirajew, in St. Petersburg.
Sehirajew vereinigte in seiner Person, nach Schewtschenkos Aus-
sage, alle die schlechten Eigenschatten seiner frühereu Dorflehr-
meister. Im Dienste dieses tyrannischen Menschen musste der
arme Taras, nunmehr ein schmucker Jüngling von achtzehn Jahren,
Thülen, Fenster und Dielen streichen, er musste die Decken der
Zimmer weissen, ja häufig auf offener Strasse Zäune, Gitter und
dergl. anstreichen. Aber in den hellen Frühlingsnächten ging er
in den Sommergarten, um die Statuen nach der Natur zu zeichnen
oder seinem Lieblingsgedanken, seinem Freiheitstraume, nachzu-
hängen. In dieser für ihn so trostlosen Zeit machte er in einer
schönen Frühlingsnacht im Sommergarten zufällig die Bekanntschaft
seines Landsmannes I. M. Soschenko, der damals schon die Akademie
der Künste besuchte. Diese zufällige Bekanntschaft sollte für
Taras von weittragender Bedeutung werden. Soschenko schildert
uns das erste Auftreten Taras Schewtschenkos bei ihm mit folgen-
den Worten : < Er hatte einen befleckten Rock von Zwillich am
Leibe, sein Hemd und seine Beinkleider aus grobem Lein waren
mit Oelfarbe beschmiert, barfuss ging er und hatte keine Mütze.
Er verrieth eine glühende Leidenschaft zur Malerei, zugleich war
er aber verbissen und haderte mit seinem Geschicke. » Tiefes Mit-
leid erregte in der edlen Seele Soschenkos das bittere Loos seines
Landsmannes ; aber ihm zu helfen war er vorläufig nicht im Stande,
da er sich selbst ohne Mittel, ohne Protection, so gut es ging,
durchschlug. Er rieft Taras, sich in der Aquarellmalerei nach
der Natur zu üben. Der Erfolg blieb nicht aus ; die Portraits
gelangen sehr gut und treffend. Als Modell diente Schewtschenko
sein liebenswürdiger Landsmann und Freund, der Kosak Nitschi-
porenko, auch ein Leibeigener Engelhardts. Einst sah Engelhardt
Nitschiporenkos Portrait ; es gefiel ihm so sehr, dass er Schew-
tschenko von nun ab häufig zum Porträtiren seiner bevorzugten
Maitressen benutzte, wofür er ihn bisweilen mit einem ganzeu
Silberrubel belohnte.
Bei Soschenko kam Taras mit dem damals schon bekannten
kleinrussischen Schriftsteller Grebenko zusammen, der ihm ver-
schiedene Lehrbücher zukommen Hess. Taras studirte dieselben
mit seltener Energie uud Ausdauer durch, denn jetzt endlich hatte
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092
Taras Grigorjewitsch Schewtschenko.
er Gelegenheit, seinen Drang nach Wissen und Bildung zu stillen.
Nach vollendeter Tagesarbeit auf Dächern, Strassen und in Zimmern
suchte dieses strebsame Talent in stiller Nacht oben in der Dach-
kammer seine verwahrloste Erziehung und Bildung nachzuholen.
Alle Feiertage brachte er in der kaiserlichen Eremitage zu. Er
kannte nur einen glühenden Wunsch , in die Akademie der
Künste einzutreten — der Eintritt in dieselbe war aber Leib-
eigenen untersagt.
Im Jahre 1837 stellte Soschenko Taras dem Conferenzsecretair
der Akademie der Künste W. I. Grigoro witsch vor, mit der Bitte,
das herbe Los seines Landsmanns zu lindem. Grigoro witsch theilte
diese Bitte dem Dichter W. A. Shukowski mit. Obschon sich nun
eiuflussreiche Persönlichkeiten, Shukowski an der Spitze, für die
Freilassung Schewtschenkos verwandten, wollte es damit doch
nicht so recht vorwärts gehen. Taras befand sich in einer ganz
schrecklichen Gemüthsverfassung, da die ihm in Aussicht gestellte
Freilassung sich nicht verwirklichen wollte, c Einst» — erzählt
Soschenko — «kam er in jener Zeit furchtbar aufgeregt zu mir.
Nachdem er sein unseliges bitteres Eidenloos verwünscht hatte,
drohte er furchtbare Rache an seinem Grundherrn zu nehmen, falls
dieser Egoist ihn nicht freilassen wolle. Ich fürchtete für meinen
Freund und witterte schon irgend ein Unheil.» — Doch die Sache
gewann ein gutes Ende. Shukowski unterhandelte mit Herrn
v. Engelhardt in Betreff der Loskaufssumme ; der gewinnsüchtige
Mann verlaugte für diese € Seele» 2500 Rbl. Silber. Shukowski
wandte sich nun an den berühmten Maler Prof. Brülow mit der
Bitte, ihn (Shukowski) in Oel zu porträtiren, in der Absicht, das
Portrait sodann in einer Privatlotterie auszuspielen. Brülow war
sofort einverstanden und bald war das Portrait fertig. Shukowski
veranstaltete nun mit Hilfe des Grafen M. I. Wielhorski eine Ver-
loosuug im erforderlichen Betrage. Für dieses Geld wurde die
Freiheit Taras Grigorjewitsch Schewtschenkos am 22. April 1838
erkauft.
«Am selben Tage,» erzählt Soschenko, tkam Taras iu mein
Parterrezimmer zum Fenster hereiugesprungen, warf mein Bild
von der Staffelei und h'el mir ungestüm um den Hals. Ich hielt
ihn anfangs für gestört, deun sprechen konnte er nicht. Endlich
brachte er vor Freude schluchzend nur die Worte : «Freiheit!
Freiheit !» hervor. Die Scene endigte damit, dass wir beide wie
die Kinder weinten.» Von diesem Tage an begann Schewtschenko
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Taras Grigorje witsch Schewtschenko.
603
auch die Klassen der Akademie der Künste zu besuchen und wurde
bald einer der liebsten Schüler ßrülows.
Allein solch eine plötzliche Veränderung der Lebenslage,
völlige Freiheit nach vorhergegangener schwerer Knechtschaft,
konnte nicht ohue Folgen bleiben. Die Reaction musste gewaltsam
erfolgen.
3. Die Hauptschöpfungsperiode und das freie
Leben T. G. S c h e w t s c h e n k o s (1 8 3 8 — t 8 4 7).
Wie die Dinge nun lagen, hatte es den Anschein, als wenn
das Glück, welches bis dahin 'Schewtschenko so hartnäckig gemiedeu
hatte, auch ihm von jetzt ab freundlich lächeln würde. Im Herbste
L838 zog er zu seinem Freunde Soschen ko. Letzterer bewohnte
ein kleines Quartier bei einer deutschen Frau Marja Iwanowna
und hatte Taras aufgefordert, dasselbe mit ihm zu theilen. Mit
Schewtschenko war eine grosse Veränderung vorgegangen. Durch
Prof. Brülow war er in die besten Petersburger Kreise eingeführt;
er fuhr in Folge dessen häufig zu Abendgesellschaften, kleidete
sich fein, ja sogar geckenhaft, kurz, er stürzte sich in den Strudel
des Residenzlebens. Selten sass er zu Hause, und that er dies,
so ging er nicht der Kunst nach, sondern sang oder dichtete.
Denn mitten im Rausche der Freiheit gedachte er seiner Kindheit
und seines geknechteten Volkes Er begann zu dichten und zwar
nicht blos in der damals verfehmten kleinrussischen Sprache, sondern
obendrein Freiheitslieder und erschütternde Schilderungen des Elends,
mit welchem die fremden Herren den Ukrainer Bauer belasteten.
«Anfangs» — schreibt er in seiner Selbstbiographie — «fremdete
sich die keusche Ukrainer Muse vor meinem Geschmacke, der durch
mein Leben in den Dorfschulen, in dem Vorhause meines Guts-
herrn, in den Gasthöfen und Wirthshäusern verdorben war ; aber
der Athem der Freiheit gab meinem Gefühle und Geschmacke die
Reinheit und Keuschheit der Kinderjahre zurück. Selbst in der
Fremde umarmte und herzte mich die Muse.» Damals schrieb er
gerade seine zarte, tiefergreifende Dichtung * Katharina >, die er
seinem Befreier Shukowski widmete.
-
Soschenko, der ausschliesslich seinem Künstlerberufe lebte,
in der Ueberzeugung, dass die Kunst den ganzen Menschen be-
anspruche, war mit den poetischen Beschäftigungen seines Freundes
gar nicht zufrieden ; noch weniger konnte er die ausschweifende
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094 Taras Grigorjewitseh Schewtsehenko.
Lebensart desselben billigen. «Es ist etwas Merkwürdiges um den
Beruf, den ein Mensch in sich fühlt,» schreibt Schewtschenko«.
Ach wusste genau, dass die Malerei meine Profession, mein zu-
künftiges Brod sei ; aber anstatt ihre tiefen Geheiinuisse, und noch
dazu unter solcher Anleitung wie die des unsterblichen Karl Pawlo-
witsch Brülow, zu studiren, bestand meine einzige Freude darin,
kleinrussische Verse zu schreibeu. Konnte ich damals ahnen, dass
dieselben in der Folge als centnerschwere Last auf meiner armen
Brust liegen, ja mich schliesslich meiuer Freiheit berauben wurden?»
Nur bis zum Januar 1839 wohnten die beiden Freunde und
Landsleute vereint. Machte schon die verschiedene Lebensweise
ein ferneres Zusammenleben unmöglich, so förderte noch ein Er-
eignis besonderer Art die Trennung. Bei ihrer deutschen Quartier-
wirthin wohnte deren Nichte, eiue Waise, Marja Jakowlewna, die
Tochter des weiland Bürgermeisters von Wiborg, ein allerliebstes
Mädchen. Soschenko war sterblich in dieselbe verliebt, und in
dieser Sache spielte ihm sein Freund einen sehr schlimmen Streich.
Bei seinem geistreichen und lebhaften Wesen fiel es Schewtschenko
nicht schwer, anfangs das Interesse, dann die Liebe des Mädchens
zu gewinnen, sie mit einem Worte seinem Freunde abspenstig zu
machen. Lange verbiss Soschenko aus Zartgefühl gegen Taras
seinen Unwillen — bis er ihn eines Tages zwang das Quartier zu
räumen. Doch damit konnte der edle Mann dem Unglücke nicht
mehr steuern ; das Mädchen zog mit Schewtschenko in dessen neue
Wohnung. Bald darauf musste Soschenko, von einem schweren
Brust- und Augenleiden befallen, Petersburg verlassen ; er ging in
seine Heimat, nach Njeshin. Als Taras dieses erfuhr, kam er zu
ihm, ihn um Verzeihung zu bitten und sich von ihm zu ver-
abschieden. Der grossherzige Soschenko, von seinem Freunde im
heiligsten Gefühl gekränkt und hintergangen, verzieh ihm. Sie
blieben Freunde, und Schewtschenko war sein ganzes Leben hin-
durch bemüht, dieses begangene schwere Unrecht wieder gut zu
machen.
Das wilde Leben in jener Zeit und die Zechgelage der
Künstler, von denen sich selbst ein Brülow nicht fernhalten konnte,
haben Spuren fürs ganze Leben Schewtschenkos hinterlassen und
1 In seinem Tagebuche, welches er vom 12. Juni 1857 bis zum 13. Juli
1858, also nach seiner Befreiung aus rlrr Verbannung schrieb. Abgedruckt ist
es in der Zeitschrift • Ocuoimx Jahrgang lbtil- 18»>2.
Tains Grigorjewitsch Schewtschenko.
tH)5
haften als dunkler Fleck auf seinem Angedenken. Er selbst
äussert sich1 darüber in seinen letzten Lebensjahren also: <Aus
einem schmutzigen Dachstübchen flog ich nichtsnutziger Schmierlink
in die prachtvolle Werkstätte des grössten Malere meiner Zeit
hinüber. Es scheint mir jetzt selbst nicht mehr glaublich, — aber
so war es. Mir mussten beim plötzlichen Uebergange die Sinne
schwinden.»
Im Jahre 1840 erschien die erste Gedichtsammlung Schew-
tschenkos, tKobsar> benannt, in Petersburg*. Die grossrussische
Presse empfing das Büchlein mit Hohn. Der Gebrauch der ver-
pönten kleinrussischen Sprache allein schon rief in der St. Peters-
burger Kritik und Presse einstimmig Gespött und Sticheleieu
hervor. Die Kleiurussen nahmen jedoch das Buch mit Begeisterung
auf; in der Ukraine rüttelte es die Leute aus ihrem lethargischen
Schlafe auf und erweckte neue Liebe zur heimatlichen Mundart.
Im Jahre 1843 war tDer Kobsar» in der Ukraine schon recht
verbreitet. — Die Regierung aber begnügte sich beim Erscheinen
des «Kobsar> vorlaufig damit, den Dichter unter polizeiliche Auf-
sicht zu stellen und ihm alle Beneficien zu entziehen.
Im folgenden Jahre (1841) giebt Schewtschenko daselbst seine
grösste Dichtung cDie Hajdamaken» heraus. Von da ab widmet
sich Schewtschenko fast ausschliesslich seiner Kunst, der Malerei.
Im Jahre 1844 beendigt er die Akademie der Künste mit der
Würde eines freien Künstlers und zieht bald darauf in seine Heimat,
um Stoff für Pinsel und Feder zu sammeln.
Während der folgenden drei Jahre bereist Schewtschenko die
Ukraine, das polta wasche, vornehmlich aber das kiewsche Gouver-
nement, Die historischen Denkmäler seiner Heimat, die alteu
Kirchen und Klöster studirt er in architektonischer Hinsicht, die
malerischen Gegenden am Dnjepr skizzirt er. um sie alsdann auf
die Leinwand zu bringen. Er forscht emsig in der kleinrussischeu
Geschichte, er verkehrt m»t dem einfachen Volke, um die Sageu
und Lieder der Ukraine unverfälscht aus der Quelle zu schöpfen.
Auf den Reisen in Kleinrussland wird er überall mit Liebe und
Achtung aufgenommen, denn er war in der Heimat schon überall
• \n seinem oben angeführten Tngebnehe.
1 'Kobsar' wird der kleinrussischc Yolkssangcr genannt, der, von Dort
zu Darf ziehend, zum Klange eines achtsaitigcn Instruments, der *• Kobsa» (einer
Art I'andora), Lieder singt, denn Inhalt er meist alten Volkssagen entnimmt
oder «bannt sächlich die humoristischen Lieder; auch selbst frei erdichtet.
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69(>
Turas Grigorjewitsch Schewtschenko.
als begabter Dichter bekannt. Im Jahre 1844 finden wir ihn in Mir-
gorod, 1845 weilt er in Kiew, um daselbst die schönsten Ansichten
dieser uralten Stadt, sowie das Innere der Kirchen und Klöster
und die historischeu Umgebungen aufzunehmen. Daselbst macht
er auch die Bekanntschaft des bekannten Historikers N. I. Kosto-
marow. Im Januar 1846 erkrankte er schwer am Flecktyphus
und unternahm darauf mit seinem Landsmanne A. Tschushbinski1
eine Erholungsreise nach der Stadt Njeshin. Daselbst sah er
seinen edlen Freund Soschenko wieder, der ihn förmlich um Ent-
schuldigung bat, dass er ihn im Interesse der Kunst in Petersburg
von seinen dichterischen Productionen habe abhalten wollen. Auch
wurde Schewtschenko daselbst mit Gerbel bekannt, welcher später
Taras' Werke ins Grossrussische übersetzt hat. Von Njeshin begab
sich Schewtschenko nach Tschernigow, wo er sich längere Zeit
aufhielt, da diese Stadt äusserst reich an alterthümlichen Bauten
ist, die Schewtschenko sämmtlich aufnahm. Nach einem kurzen
Aufenthalte bei einem Freunde L. . . in Serduew tretfen wir
ihn wieder in Kiew, üeberall, wo er hinkam, wetteiferten seine
Landsleute förmlich, ihrem grössten Nationaldichter die gebührende
Achtung und Liebe zu erzeigen.
Ueber die nun folgende Lebensperiode des Dichters lagert
vielfach tiefes Duukel. allein wir wollen es versuchen, dasselbe
möglichst zu lichten.
4. In der Verbannung (1 847—185 7).
Schewtschenko hatte zu Anfang des Jahres 1847 ein Gedicht,
iDer Kaukasus >, veröffentlicht, in welchem er das Loos seines
unglücklichen Freundes, des Grafen Palm6n, besingt, der seiner
Freisinnigkeit wegen als gemeiner Soldat in die kaukasische Armee
eingereiht worden war und bald darauf im Kampfe gegen die
Tscherkessen seinen Tod fand. Gerade dieses Gedicht, das harmloser
als manches andere seiner Gedichte, wurde der Anlass, den Sänger
unschädlich zu machen. — Armer Taras ! In der Blüthe deiner
Kraft bannte das Geschick dich, der du, umstrahlt vom Glänze und
Lichte deines dichterischen Ruhmes, auf dem Gipfel deines Glückes
standst, iu desto tiefere Fiusternis !
1 A. TWlmshbiinki : Erinnerungen an T. Ii. Sehewt.schenko>, abgedruckt
in der Zeitschrift <Pyccicoe Cjobo» 1H6J, 5.
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Taras Grigorjewitsch Sehewtschenko
697
Im Begriffe, von Moskau nach Kiew zurückzukehren, wurde
er auf dem Dnjepr unweit Kiews am 30. Mai 1847 plötzlich ge-
fangen genommen und sofort nach Petersburg gebracht. Daselbst
wurde er festgesetzt, darauf seines Künstlergrades verlustig erklärt
und als Gemeiner unter die Soldaten gesteckt. Im Juni desselben
Jahres wurde er per Etappe aus St. Petersburg nach der Festung
Orenburg versetzt. Aber starrsinnig von Natur, zumal da er sich
im Recht fühlte, in seiner Ehre gekränkt, konnte sich Sehewtschenko
in seine Lage anfangs gar nicht finden. Der Dienst war fürchter-
lich streng, der kleinste Disciplinarfehler wurde vom Commandauten
in roher Weise mit Körperstrafen geahndet. War es ja doch ein
Sträflingsbataillon, in welches der Dichter eingereiht worden war.
Nach einem halben Jahre wurde er nach der Festung Orsk am
Uralflusse übergeführt. Hier konnte aber Sehewtschenko seinen
Dichtungstrieb nicht länger unterdrücken und trotz dem strengsten
Verbot dichtete er hier seine kühnsten und schärfsten Lieder. Sie
flogen nach der Ukraine und von dort in zahlreichen Abschriften
nach Galizien, woselbst sie unter dem Schutze des grossen Freiheits-
jahres 1848 gedruckt wurden. Er veröffentlichte sie unter dem
Pseudonym «Darmograi» (d. h. der vergeblich Singende, Dichtende);
allein bald wurde der richtige Autor doch erkannt. Der unglück-
liche Dichter, damals schon ein berühmter Manu, wurde körperlich
gezüchtigt und darauf mit anderen Sträflingen zusammen zu Fuss
durch die kirgisische Steppe zum Aralsee gebracht. Den Aralsee
befuhr damals der Admiral A. I. Butakow zu wissenschaftlichen
Zwecken. Diesem nun wurde Sehewtschenko übergeben mit der
Weisung, strenge Zucht an ihm zu üben. Im Jahre 1848 kehrte
das Schiff nach sechsmonatlichem Befahren des Sees zur Mündung
des Syr-Darja zurück, um im Fort auf der Insel Kos-Aral zu
überwintern. Im nächsten Frühjahre fuhr man weiter nach Raim,
der Hauptbefestigung am Ufer des Syr-Darja. Zwei ganze Jahre
(1848 und 1849) hat Sehewtschenko auf diese Weise den Aralsee
der Länge und Breite nach befahren, jeder Unbill der Natur, als
Frost, Hitze, Wind und Regen nicht nur, sondern auch jeder Un-
bill menschlicher Gewalt ausgesetzt , stets die erniedrigendsten
Dienste verrichtend, abgeschnitten von jeglicher menschlichen Civili-
sation. Von der Expedition auf dem Aralsee zurückkehrend, wird
Sehewtschenko wiederum nach Orsk geschafft, jedoch schon nach
kurzer Zeit, im October 1850, nach der Festung Nowo-Petrowsk
übergeführt.
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G98
Taras Grigorje witsch Schewtschenko.
Die Festung Nowo-Petrowsk liegt hart am nordöstlichen Ufer
des Kaspischen Meeres auf der Öden Halbinsel Mangischlak, uni-
geben von der kirgisischen Steppe. Auf kahlen Felsen ist dieselbe
erbaut, rings, so weit das Auge reicht, nur Sand und Stein, kein
Gras, kein Bauin, im Winter schneidige Kälte, im Sommer sengende
Glut. Ausser dem unangenehmen Gekreische der Möven, die über
der unendlichen Wasserfläche auf- und niedersch weben, unterbricht
kein Laut die dort herrschende Todtenstille. An diesem Orte hat
Schewtschenko volle sieben Jahre zugebracht, von 1850 bis 1857.
Die ersten Jahre hindurch war ihm sogar das Schreiben und
Zeichnen untersagt, erst in der Folge, nachdem sich der willens-
starke Mann allmählich in die strenge Zucht gefunden hatte, ward
es ihm gestattet eine Correspondenz zu führen, doch nur unter
Controle seiner Obrigkeit. Tröstend wirkte auf ihn die innige
Theilnahme und Liebe, die ihm seine Landsleute brieflich bewiesen,
sobald es ihnen nur gestattet worden war ; allein nicht nur mit
Worten trösteten sie ihren Sänger , sondern auch Geldspenden
liefen reichlich ein, mit deren Hilfe Schewtschenko denn doch seine
bittere Lage etwas mildern konnte. Vor allen Dingen hat sich
in dieser Beziehung sein Freund Lasarewski hervorgethan. Diese
Thatsache und hauptsächlich der Gedanke, doch noch einmal seine
liebe Ukraine wiederzusehen , haben ihm dazu verholfen, diese
schreckliche Prüfungszeit zu durchleben.
Denn schrecklich war sie jedenfalls ! Für einen gebildeten
Menschen eine entsetzliche Existenz ! Die Gesellschaft, in der er
leben musste, war eine äusserst schlechte. Die Garnison bestand
aus dem Auswurf der Menschheit ; nicht nur mit politischen, sondern
auch mit gemeinen Verbrechern, mit Mördern und Dieben musste
er dienen. Und dieser Dienst war — wie gesagt — furchtbar
streng, jedes Vergehen wurde streng gerügt. Ausser der ver-
worfenen Soldateska gab es keinen Verkehr, kein Buch, keine
Zeitung! tlm Verlaute von zehn Jahren > - schreibt Schewtschenko
in seinem Tagebuche — «habe ich ausser Steppen und Kasernen
nichts gesehen, ausser der furchtsamen, schüchternen und groben
Rede der Soldaten nichts vernommen.» — Kein Wunder ist es
daher, dass der Dichter bisweilen in Trübsinn verfiel, ja, dass er
seines freudlosen Daseins überdrüssig wurde, t Jeder Mensch hat
ein Ziel, dem er nachstrebt,» schreibt er am 1. Juli 1852 seinem
Landsmaune S. St. Artemowski, «ich allein schwimme, wie ein ab-
gehauener Holzspan, ohne Zweck und Ziel auf den Wogen des
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Taras Grigorjewitsch Schewtschenko.
699
Lebens einher. Die Kirgisensteppe musste ich in die Kreuz und
Quer durchwandern, der Länge und Breite nach musste ich den
Aralsee befahren und jetzt sitze ich gefangen in der Nowo-Petrowski-
schen Festung. Geboren und aufgewachsen bin ich in der Knecht-
schaft und in solcher werde ich wahrscheinlich auch sterben. Du
fragst, wofür man mich unter die Soldaten gesteckt hat. Wisse,
für keine schlechte oder gemeine Sache, für einige Verse, die ich
jetzt dreifach verwünsche.» ... Im Jahre 1856 schreibt er: «Die
einzige Freude, die ich während der langen Zeit meiner Verbannung
gehabt habe, ist folgende. Als ich im October 1850 aus der
Festung Orsk hierher übergeführt wurde, fand ich im Städtchen
Gurjew am Ausflusse des Uralflusses eine frische Weideni uthe,
welche ich, nachdem ich hier angekommen war, im Garnisons-
gemiisegarten in die Erde steckte. Im Frühjahre theilte mir der
Gärtner mit, dass meine Ruthe wachse. Ich begann sie emsig zu
begiessen, und jetzt ist sie ein Baum von sechs Werschok Dicke
und wenigstens drei Faden Höhe. Mit Erlaubnis des Feldwebels
ruhe ich jetzt bisweilen unter ihm, dem einzigen Baume liier, aus.
Meine ganze Hoft'nung setze ich jetzt auf die Krönung des neuen
Kaisers. »
Der Graf Feodor Petrowitsch Tolstoi, der Dichter des «Don
Juan», ein Freund und Gönner Schewtschenkos, hatte schon wieder-
holte Versuche gemacht, die Freilassung des Dichters zu erwirken.
Am 20. August 185G erfolgte die Krönung Kaiser Alexandere II.,
von der unser Dichter so viel hoffte; es wurden viele begnadigt,
aber Schewtscheuko nicht. Er begann bereits jede Hoffnung auf-
zugeben. Da erfolgte endlich im März 1857 seine Begnadigung
und zwar durch die persönliche Fürsprache der Gräfin Nastasija
Iwanowna Tolstoi, der Gemahlin des genannten Grafen. Diese
Freudenpost wurde auch sofort dem Dichter durch seinen Freund
Lasarewski brieflich übermittelt. Allein es verstrich der April-,
der Mai-, der Junimonat und Schewtschenko erhielt immer noch
nicht die officielle Mittheilung seiner Begnadigung seitens des
Commandanten der Festung. «Wie schnell und eifrig» — schrieb
er am 18. Juni 1857 in sein Tagebuch — «wird der Arretirnngs-
befehl ausgeführt, wie lässig dagegen und kühl die Ordre der
Freilassung. Im Jahre 1847 hat man mich im Juni im Verlauf
von sieben Tagen aus St. Petersburg nach Orenburg geschaßt ;
jetzt werde ich glücklich sein, wenn sie mich binnen sieben Monaten
freilassen.» Aber so lange sollte der Dichter denn doch nicht
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700
Taras Grigorjewitach Schewtschenko.
warten. Am 21. Juli theilte der Commandant Schewtschenko
olficiell mit, dass er nunmehr frei sei, dass ihm aber die directe
Durchfahrt nach St. Petersburg nicht gestattet sei. Am 2. August
1857 verliess er die ihm so verhasste Festung und langte nach
dreitägiger Fahrt auf dem Kaspischen Meere in Astrachan an.
Wol war Schewtschenko nun wieder ein freier Mann, allein
die zehnjährige Verbannungszeit hatte mit ihren schwarzen Flügeln
sein Haupt umrauscht, hatte um seinen klaren Geist einen düsteren
Schleier gewoben. Trefflich lassen sich hier Goethes Worte an-
wenden :
«Wie ein Vogel, der den Faden bricht
Und zum Walde kehrt,
Er schleppt des Gefängnisses Schmach,
Noch ein Stückchen des Fadens nach ;
Er ist der alte freigeborne Vogel nicht.»
5. Die letzten Jahre (1 8 5 7 — 1 8 6 1).
Die Rückkehr Schewtschenkos aus seiner Verbannung wurde
nicht nur von der Ukraine, sondern auch vom übrigen Russland
mit Enthusiasmus begrüsst : auf der ganzen Strecke von Astrachan
bis St. Petersburg wurde er von allen, ohne Unterschied der
Nationalität, wie ein Freund empfangen. Alle waren bemüht ihn
fühlen zu lassen, dass die Trennung und sein beinahe zehnjähriges
Schweigen weder der Achtung zu ihm als Menschen, noch der
Liebe und der Theilnahme zu ihm als Volkssänger Abbruch ge-
than habe.
Am 22. Aug. 1857 verliess Schewtschenko Astrachan, wo er
wider Willen lange aufgehalten wurde, und fuhr die Wolga hin-
auf. Die Liebe, die ihm auf dem Schilfe überall erwiesen wurde,
kam ihm unnatürlich vor und drückte ihn nieder. Am 19. Sept.
langte er in Nishni-Nowgorod an, woselbst seine Ankunft sofort
dem Polizeimeister gemeldet und ihm mitgetheilt wurde, dass er
daselbst fernere Instructionen abzuwarten habe. Am 23. October
wurde ihm endlich eröffnet, dass ihm der Aufenthalt in den beiden
Hauptstädten des Reiches untersagt sei und dass er ausserdem
unter polizeilicher Aufsicht stehe. Am 12. November schrieb
Schewtschenko an seinen Freund , den berühmten Schauspieler
M. S. Schtschepkin : . Tch bin jetzt frei in Nishni-Nowgorod, geniesse
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702 Taras Grigorjewitsch Scliewtschenko.
ein Zimmer, welches er sich zum Atelier einrichtete Hier widmete
er sich ganz seinen Lieblingsbeschäftigungen: der Malerei, der
Gravirkunst und der Dichtkunst. Zum zweiten Male hatte es
den Anschein, als wenn das Lebeu des armen Taras von nun ab
friedlich und still dahinfliessen würde. Doch das Geschick gönnte
es ihm nicht, sich lange der wiedererworbenen Freiheit, des Glückes
und des Ruhmes zu erfreuen.
In seinen beiden letzten Lebensjahren wollte Scliewtschenko,
von den vielen Schicksalsschlägen an Leib und Seele ermattet und
eine Abnahme seiner Schöpfungskraft fühlend, sich in einen stillen
Hafen flüchten, um fern von der Welt und dem geräuschvollen
Reiidenzleben, mitten unter seinem Volke, am Ufer des alten
Dnjepr, der wohlverdienten Ruhe zu pflegen. Denn hauptsächlich
die Hoffnung, doch noch einmal unter seinem Volke in seiner
Heimat zu leben, hat den Dichter während seiuer qualvollen zehn-
jährigen Verbannung aufrechterhalten. Er wollte sich sein eigenes
Heim in der Heimat gründen, und diesen Gedanken betrieb er die
beiden letzten Lebensjahre hindurch mit fieberhafter Energie. Er
hatte, trotzdem er unter den verschiedensten Verhältnissen und in
der verschiedensten Gesellschaft sein Leben durchlebt hatte, auch
nicht einen Zug seines Volkstypus eingebüsst. Daraus lässt sich
vielleicht die merkwürdige Idee erklären, die Scliewtschenko seit
1858 gefasst hatte und zu deren Durchführung er seine letzten
Kräfte anspannte, nämlich : durchaus eine einfache Bäuerin zu ehe-
lichen, t Eine Waise muss sie sein, eine Magd und eine Leibeigeue
zugleich.» Alle seine Bekannten riethen ihm energisch ab, er
aber sprach: «Ich bin meiner Abstammung und meiner Gesinnung
nach eiu leiblicher Bruder unseres armen Volkes, wie sollte ich
dazu kommen, ein herrschaftliches Blut zu ehelichen. Und was
würde ein vornehmes Fräulein in meiner Bauerhütte zu schaffen
haben ?>
Im Frühjahr 1859 konnte Schewtscheuko seine Sehnsucht
nicht mehr bewältigen und reiste in seine Heimat. Aeusserst
rührend war vor allen Dingen das Wiedersehen mit seiner Lieblings-
schwester Jarina. Alle seine Anverwandten fand er mit Arbeit
überbürdet, arm und in Knechtschaft vor. Um die trübe Gemüths-
stimmung, in die er durch diesen Umstand verfiel, loszuwerden,
begab er sich zu einem weitläufigen Verwandten Bartholomäus
Grigorjewitsch Schewtschenko nach Korssun im Kiewschen ; mit
diesem war er eng befreundet und hatte denselben 1847 zum letzten
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704 Tara» Grigorjewitsch Schewtschenko.
Bereits im Herbste 1860 begann Schewtschenko zu kränkeln,
er fühlte sich beständig unwohl ; im November klagte er häufig
über Brustschmerzen. Am 22. Januar 1861 schreibt er an Bartho-
lomäus Grigorjewitsch Schewtschenko: «Das neue Jahr habe ich
sehr schlecht begonnen. Zwei Wochen sitze ich schon im Zimmer,
ich huste beständig. Beeile dich doch mit dem Abschliessen des
Kaufcontractes. » ünd am 29. Januar schreibt er: «Mir ist so
schlecht zu Muth, dass ich kaum die Feder in der Hand halte.
Lebe wohl ! Ich bin ganz ermattet, wie wenn ich einen Haufen
Roggen in einem Athemzuge gedroschen hätte. Ich küsse deine
Frau und deine Kinder.» Im Anfange des Februar erwies es
sich, dass er an der Wassersacht leide ; er kam immer mehr und
mehr von Kräften. Am 25. Februar fand ihn Lasarewski in
furchtbaren Qualen vor; der hinzugekommene Arzt erklärte, die
Wassersucht habe sich auf die Lungen geworfen. An demselben
Tage, es war gerade sein siebenundvierzigster Geburtstag, erhielt
er von seinen Landsleuten aus Charkow und Poltawa zwei Glück-
wunschtelegramme, die in ihm von neuem die Hoffnung anfachten,
seine Heimat wiederzusehen. Aber schon am nächsten Tage, am
Sonntag, den 26. Februar 1861, um halb 6 ühr morgens drückte
der Tod mit eisiger Hand sein Siegel auf die kluge breite Stirn
des Dichters. Der beredte Mund Taras Grigorjewitsch Schew-
tschenkos war für ewig geschlossen.
Aus dem armseligen Zimmer des Verstorbenen verbreitete
sich die Trauernachricht wie ein Lauffeuer zunächst in der Akademie,
sodann in der ganzen Stadt. Der Zudrang der Freunde und Be-
kannten zur Leiche war ein ausserordentlich grosser. Am Abend
des Todestages versammelten sich seine Landsleute beim Freunde
des Dahingeschiedenen, bei Lasarewski und beschlossen einstimmig
— dem poetischen Vermächtnis des Dichters gemäss — die sterb-
lichen Ueberreste in die Ukraine überzuführen und daselbst beizu-
setzen. Sie wurden aber an der sofortigen Ausführung verhindert,
da die Genehmigung dazu anfangs verweigert wurde, und mussten
ihn deshalb vorläufig in St. Petersburg bestatten. Als der Tele-
graph die Nachricht vom Hinscheiden Schewtschenkos nach Klein-
russland brachte, wurden in Kiew, Charkow, Tschernigow und
Poltawa für ihn Seelenmessen gelesen. Am Morgen des 28. Februar
fand die Einsargung der sterblichen Hülle statt. Die Reden, in
denen russische, kleinrussische, ja sogar polnische Schriftsteller
von ihrem begabten Bruder Abschied nahmen, wollten kein Ende
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706 Taras Grigorje witsch Schewtschenko.
mit einer rothen Decke, der sog. Kitaika. dem ehrenvollen Ab-
zeichen des Kosakenthums, bedeckt, wobei Kulisch einige rührende
Abschiedsworte dem Todten nachrief. Darauf bewegte sich der
Trauerzug vom Gottesacker über Wassili-Ostrow, den Admiralitäts-
platz, den Newski entlang zum Moskauer Bahnhofe, woselbst der
Sarg in einen reichlich geschmückten Waggon niedergesetzt wurde.
Eine Ehrenwache fuhr mit. In Moskau und Kiew wurden dem
todten Dichter grosse Ehren erwiesen. In der Stadt Kanew am
Dnjepr wurden im Beisein einer unzähligen Volksmenge die Fune-
ralien in der Kirche noch einmal leierlichst vollzogen. Hierauf
ward die irdische Hülle des Dichters auf dem Tschern etschen Berge
zwei Werst von der Stadt Kanew, auf dem Grundstucke, welches
sich der Dichter zu erwerben gedachte, endgiltig zur letzten Ruhe-
stätte gebettet. Daselbst wurde ein hoher Grabhügel (Kurgan)
aufgeworfen, auf dass selbst die späteren Geschlechter wüssten,
dass dort die Asche eines grossen Mannes Kleinrusslands, eines
heldenmüthigen Streiters und grossen Dichters bestattet liege. . . .
Und herrlich ist der Ort, an dem die Gebeine des unsterblichen
Sängers ruhen : am rechten Ufer des Dnjepr auf einem hohen Berge
reizend gelegen, von einem Wäldchen wilder Apfel- und Birnbäume
umgeben ; unten windet sich der geliebte, von ihm so viel be
sungene Dnjepr mit seinen Fischerhütten und Stromschnellen. Der-
Ort bietet durch seine Lage eine weite Fernsicht über die dem
Dichter so theure Heimat.
Der Ankauf dieses Grundstückes war jedoch leider no ch nicht
endgiltig abgeschlossen, und es fanden sich wirklich Leute, welche
es Jahre lang noch auf verschiedenen Schleichwegen zu verhindern
wussten, dass die Grabstätte des Dichters als Eigenthum auf
dessen Verwandte überging. Mit welch richtigem Vorgefühle hatte
Schewtschenko 1838 die Verse niedergeschrieben:
t Traun, die Welt ist gross,
Dennoch hat manch Pilger keinen
Platz in ihrem Schoss.
Diesem hat das Schicksal reichlich
Raum allhier beschert,
Doch dem andern gönnt es kaum nur
Für den Sarg die Erd' ! >
Woldemai- Fischer.
-CaX^ä vix*-
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708
Heimatsbrief aus der Fremde.
gewöhnlicher Leistungsfähigkeit. — In diesen Kreisen stand man
den beiden vorwaltenden Ständen — Adel und rigaschem Bürger-
thum — gleich fern und gleich nahe und war darum in der Lage,
dieselben mit einer gewissen Unparteilichkeit beurtheilen zu können.
Die Urtheile gingen natürlich häufig aus einander, trafen indessen
an einzelnen Punkten zusammen. Ueber das ausschliessliche Güter-
besitzrecht des Adels und über die diesem Stande vorbehaltene
Wählbarkeit zu Richterämtern dachten die Bürgerlichen der kleinen
Städte ungefähr ebenso wie ihre rigaschen Standesgenossen. Zu-
gleich aber waren sie geneigt, den in ritterschaftlichen Kreisen
gangbaren Kritiken der Ausschliesslichkeit des rigaschen Patriciats
und der Gleichgiltigkeit desselben gegen die Interessen des flachen
Landes zuzustimmen und es bedauerlich zu finden, dass eine Au-
zahl tüchtiger Kräfte lediglich deshalb brach gelegt sei, weil die-
selben innerhalb der engen Rahmen der drei Stadtstände keinen
Platz zu finden vermochten. Man dachte dabei ebenso an die
adeligen wie an die gelehrten Städtebewohner, die namentlich iu
Riga und einigen anderen grösseren Städten zahlreich vorhanden
waren, politisch indessen nicht mitzählten.
Die vorstehend aufgezählten Gründe des Misbehagens der
vorigen Generation sind fast sämmtlicji in Wegfall gekommen. Der
vor einem Vierteljahrhundert stattgehabte Eintritt der sog. Literaten
in die Gilden, der Verzicht der Ritterschaften auf ihr früheres
ausschliessliches Güterbesitzrecht, die Zulassung bürgerlicher Juristen
zu den landischen Richterämtern, endlich die Einführung der neuen
Stadtverfassung von 1877 haben durchaus »veränderte Verhältnisse
geschaffen. Die an diese Veränderungen geknüpften Erwartungen
und Befürchtungen haben sich indessen nicht erfüllt. So weit sich
aus der Entfernung übersehen lässt, ist der sociale Eiufluss des
baltischen Adels bisher nicht nur nicht erschüttert, sondern im
Gegentheil auf Gebiete ausgedehnt worden, die ihm früher ver-
schlossen gewesen waren. Nach wie vor ist die grosse Mehrheit
der Rittergüter in den Händen der Geschlechter geblieben, welche
von jeher die Vertreter des Grossgrundbesitzes gewesen sind. Auch
innerhalb der landischen Gerichte hat der Adel sich behauptet.
Diejenigen seiner Sohne, die den erforderlichen Befähigungsnachweis
zu führen vermögen, haben uuter der Mitbewerbung ihrer bürger-
lichen Landsleute nicht zu leiden gehabt und bilden die Mehrheit
der Hof-, Kreis-, Land- und Orduungsgerichtsmitglieder. Wer für
Bedeutung und Recht alter Tradition Verstäuduis hat, wird das
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710
Heimatsbriet aus der Fremde.
Wandel der politischen Verhaltnisse entsprechenden Umschwung
erfahren ?
Sind Zusammensetzung und Beschaffenheit unseres rigascheu
und ausserrigaschen Bürgerthums wesentlich die. früheren geblieben?
Zur Begründung dieser Fragen mag das Folgende bemerkt
werden.
Wer Jahre hindurch auf briefliche und sonstige schriftliche
Mittheilungen aus einem Kreise angewiesen ist, dem er einmal an-
gehört hat, verliert nach längerer oder kürzerer Zeit (sehr häufig
schon nach zwei oder drei Jahren) fast regelmässig die Fähigkeit,
mit den ihm gewordenen Mittheilungen deutliche Vorstellungen zu
verbinden. Gegen dieses allgemeine Rmigrantenloos schützen weder
guter Wille, noch einstige genaue Bekanntschaft mit den in Be-
tracht kommenden Zuständen, noch Vielfältigkeit der zu denselben
erhalten gebliebeneu Beziebuugen. Geschriebene oder gedruckte
Worte vermögen gesprochene nicht zu ersetzen, mögen dieselben
auch noch so ausführlich gefasst sein. Geschieht es nur allzu
häufig, dass mau seine nächsten Freunde und Verwandten nicht
mehr wiedererkennt, wenn dieselben während der Treunungszeit aus
Kindern zu Erwachsenen oder aus Männern und Frauen zu Greisen
geworden sind, so erscheint vollends unvermeidlich, dass man die
Fühlung mit allgemeinen Zuständen einbüsst, sobald ein paar mass-
gebende Personen ausgeschieden, ein paar wichtige Stellungen durch
Unbekannte besetzt worden sind. — Damit ist im voraus einge-
standen, dass die nachstehenden, aus gelegentlichen Berührungen
und aus Zeitungsmittheilungen geschöpften Eindrücke völlig irrthüm-
liche sein mögen und dass für dieselben kein anderes Verdienst als
dasjenige der Beziehung auf wirklich bedeutsame Fragen des liv-
ländischen Lebens in Anspruch genommen wird.
Wo immer grosse Veränderungen sich vollziehen, neue Machte
an die Stelle der alten treten, Jahrhunderte lang anerkannte Rechte
von ihrer Geltung verlieren, ist es Regel, dass die in die Ver-
teidigungslinie gedrängten Elemente ihre Ansprüche schärfer und
nachdrücklicher geltend machen als zur Zeit ungestörten Genusses
ihrer Herrlichkeit. Frankreich ist das klassische Beispiel dafür, dass
der Adel den Verlust seiner politischen Bevorrechtung durch Aus-
schliesslichkeit auf gesellschaftlichem Gebiete und durch gesteigerte
Betonung noch vor fünfzig Jahren ziemlich gleicligiltig genommener
Aeusserlichkeiten einzubringen versucht. Aehnliches wird in anderen
Ländern wahrgenommen und dabei bemerkt, dass insbesondere die
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712
Heimatsbrief aus der Fremde.
auch in dieser Hinsicht der in der Fremde empfangene Eindruck
ein trügerischer gewesen sein ? Damit hängt die weitere Frage
zusammen, ob sich am Ende auch der Typus des baltischen Bürger-
thums verändert hat, ob der alte, etwas steifbeinige, aber grund-
tüchtige Localpatriotismus des Rigaerthums im Schwinden begriffen
ist und ob die Zeiten vorüber sind, zu denen das *plus etre que
paraitre» die eigentliche, wenn auch unausgesprochene Devise des
kleinstädtischen und landischen höheren Bürgerthums bildete ? Dass
der Untergrund unserer städtischen Bevölkerungen im Laufe der
Jahre ein anderer geworden ist und dass sich insbesondere die
Zusammensetzung des Handwerkerstandes gewandelt hat, wissen
wir aus der letzten Volkszählung mit der gehörigen Genauigkeit.
Wie aber steht es um diejenigen Verhältnisse, deren Beschaffenheit
durch Zahlen und Gewichte nicht zum Ausdruck gebracht werden
kann ?
Dürfte weiter gefragt werden, so könnte noch ein anderer
Gegenstand von unbestreitbarer Wichtigkeit auf die Tagesordnung
gebracht werden. Aus den Zeitungen hat man erfahren, dass die
Frequenz der Universität Dorpat sich binnen verhältnismässig
kurzer Frist mehr als verdoppelt hat. Ist denn gar nichts dar-
über zu erfahren, wie dieses ungeheure, dem Fernstehenden kaum
glaublich erscheinende Wachsthum der Zahl der Studirenden auf
das innere Leben und die sittlich-wissenschaftliche Beschaffenheit
der akademischen Jugend unserer Landeshochschule eingewirkt hat?
Dass von dieser Jugend mehr als früher öffentlich die Rede ist, dass
die corporativen Gestaltungen innerhalb der dorpater Studentenschaft
mitunter wie öffentliche Körperschaften behandelt und dass Dinge ab-
sichtlich zur Schau und zur Sprache gebracht werden, die man vor den
Augeu Profaner sonst zu hüten pflegte, — das weiss jeder Zeituugs-
leser ■ selbst die vierten Seiten der öffentlichen Blätter bringen
zuweilen Zeugnisse dafür bei, dass das Zeitalter der «häuslichen
Verständigung» für die Jungen ebeuso vorüber ist wie für die
Alten und dass das junge Geschlecht sich selbst und seine Herr-
lichkeiten feierlicher behandelt, als seine Väter thaten. Mehr als
eine gewisse, in der gesammten Welt bemerkbar gewordene Neigung
zur Veräusserlichung lässt sich den hier erwähnten Thatsacuen
indessen nicht entnehmen. Hat diese Veräusserlichung sich auf
Kosten der Innerlichkeit, des sittlichen Enthusiasmus, des engen
kameradschaftlichen Zusammenhanges der jungen Leute vollzogen
oder hat die eine Entwicklung mit der anderen Schritt gehalten?
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»ton meinem Aufsatz «Zur Prof. Volckschen Schriftauft'assung»,
H| cBalt. Monatsschrift» Band XXXIV, Heft 2, findet sich ein
Passus, der Misverstand und Anstoss erregt hat, ich meine den
auf p. 174: « «Mittel, durch welches die Gnade am Menschen
arbeitet»», «kann auch ein Trunkenbold sein, der durch sein ab-
schreckendes Exempel dem Menschen den Fluch der Sünde lehrt;
jeder Tisch und Stuhl kann dann Gnadenmittel sein, die Kanzel,
auf der gepredigt, der Altar, der Kelch, bevor er gereicht wird.»
Was an diesem Passus befremdet hat, will ich durch die nach-
folgenden Zeilen beseitigen.
Den in weiteren Kreisen misfällig aufgenommenen Satz Prof.
Volcks, die Bibel sei kein Gnadenmittel, wollte ich durch den Hin-
weis darauf verständlich machen, dass der Begriff «Gnadenmittel»
einen ganz begrenzten Sinn hat und nicht etwa ohne weiteres mit
«Mittel, durch welches die Gnade an mir thätig ist» gleichbedeutend
ist. Und warum nicht? Weil letztere Definition noch auf vieles
Andere passt. Gott dem Herrn können auch Personen, ja Gegen-
stände zum Mittel seiner Gnadenthätigkeit werden. Hier folgten
die Beispiele. Diese waren in so fern ganz unglücklich gewählt, als
ich soeben gesagt hatte: «Mittel, durch welche die Gnade am
Menschen arbeitet». Die genannten todten Gegenstände können
ja freilich nicht «am Menschen» wirken. Im Eifer der Polemik
verwechselte ich Mittel, durch welche Gott wirkt, die also selbst
wirkungsfähig sind, mit Gegenständen, die in Gottes Hand zu mit-
wirkenden Ursachen von Ereignissen werden können, die für den
Notizen.
Zurechtstellung.
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71C
Notizen.
zur Lebensmacht der Schrift bekennen, als wenn ich auf S. 176
meines Aufsatzes sagte : cDie Schrift ist Norm und kann es sein,
weil sie Willen und Denken kraft ihrer heil. Geistesmacht zu
unterwerfen im Stande ist.» Ferner Seite 177: «Die Erfahrung,
dass aus der heil. Schrift bei der Arbeit der Predigt Himmels-
kräfte strömen» &c.
Angesichts dieser Worte bedarf ich nicht weiter der Ver-
teidigung. Um aber allem Misverstand und Aergernis die Wurzel
abzuschneiden, bekenne ich noch eigens den Glauben, dass, wenn
ein Christ sich glaubend und betend in die Schrift versenkt, Gott
selbst durchs gedruckte Wort zu ihm redet und an seinem Herzen
wirkt, sintemal der heil. Geist nicht blos sich mit dem verkündigten,
sondern auch mit dem geschriebenen Wort verbindet.
Dieser Glauben ist auch der Prof. Volcks und der theologi-
schen Facultät Dorpats.
Mit vorliegenden Zeilen will ich den Streit nicht weiter
ausspinnen, sondern nur dem Bedürfnis folgen, ein Versehen zu
corrigiren. J. Lenz.
Prof. Gustav Kiescritzky, Die Entstehung de» baltischen Polytechni-
kunis und die ersten fünfundzwanzig Jahre seines Bestehens. Riga.
1887. 137 S. Gr. S\
Die Bedeutung des schönen Festes, das am 1. October iu
und Riga gefeiert ist, spiegelte sich in der überaus zahlreichen
warmen Theilnabme, die der hervorragenden, so glücklich ge-
diehenen Lehranstalt, dem Schoss- und oft auch dem Schmerzens-
kinde der drei Provinzen gewidmet worden. Ganz naturgemäss
und vollberechtigt sprach sich dabei vorzugsweise die Dankbarkeit
gegen die technische Landeshochschule aus — denn wie vielen hat
sie die gerade ihnen angemessene Ausbildung gewährt, wie vielen
die geeignete Laufbahn eröffnet, welche sie sonst nicht hätten ein-
schlagen köunen ; wie befruchtend hat sie auf das geistige Leben,
die gewerblichen Interessen zunächst Rigas, dann des Landes ge-
wirkt ! Wie vielen ist sie die Znsammenfassung aller Reize und
alles Glückes der Jugendjahre ! Was das baltische Polytechnikum
geleistet, wie es die bei seiner Gründung von ihm gehegten Er-
wartungen nach und nach in immer gesteigertem Grade erfüllt
hat, wie seine Wirksamkeit allgemach weit über den erst vorge-
sehenen Wirkungskreis sich ausgedehnt — das ist . im wesentlichen
718
Notizen.
er anwandte, seiner Entdeckung als Abendländer vorzubeugen, aufs
anschaulichste geschildert. Es war das abgeschlossenste, wildeste
Land, in dem der Europäer, der Christ, als solcher dem Tode ver-
fallen war.
Und heute — welche Umwandeluug nicht nur in den alten
Cultursitzen am Fuss und Abhang des östlichen Gebirges, sondern
auch in der Wüste und Steppe ! So viele Nachrichten über die
Veränderungen auch zu uns gekommen sind — ausser den Meldungen
der Zeitungen, den mannigfachen Beziehungen der dorthin Aus-
gewanderten zu ihren Angehörigen, die zahlreichen Schriften über
diesen neuesten Zuwachs des russischen Reichs, unter ihnen das
klassische Werk v. Middendorffs über Ferghanä — der kolossale
Wechsel, der in Centraiasien eingetreten, wird schwerlich im Ver-
gleich mit Vamb6rys Schilderungen durch ein anderes Buch so ins
Bewusstsein gebracht, wie durch das vorliegende Dr. Heyfelders.
Als Chefarzt der Skobelewschen Expedition gegen die Achal-Teke-
Turkmeneu, als Freund und Waffenbruder des Generallieutenant
Annenkow hat der Verf. Land und Leute und die Veränderungen,
die sich mit denselben binnen sieben Jahren zugetragen, gründlich
keunen gelernt. Seine früheren Schriften zusammenfassend und
mit Berücksichtigung der erheblichen neueren Literatur über Trans,
kaspien bietet er nun nächst einer Topographie des Landes, unter-
stützt von zahlreichen bildlichen Darstellungen, eine Geschichte
des merkwürdigen Bahnbaues, der nicht sowol durch die Ueber-
windung von Terrainschwierigkeiten — solche wurden wesentlich
nur durch die grosse Zahl der anzulegenden Brücken, 3000 auf
1000 Werst, repräsentirt — als durch die Wüstengegend, in der
er sich vollzog, ausgezeichnet ist, durch die Erfolge, welche sich
bereits au ihn geknüpft haben, und die Blicke in die Zukunft,
welche sich durch ihn eröffnen.
In gedrängter Uebersicht der hierher gehörigen Ereignisse
der 60er und 70er Jahre wird dem Leser ins Gedächtnis gerufen,
wie es zur Skobelewschen Expedition von 1880 kam, wie Gök-Tepe
am 12. Januar 1881 fiel, am 18. Aschabad besetzt ward, dann
aber die Diplomatie sich ins Mittel legte, Skobelew abberufen
wurde und tder von vielen gehoffte, von vielen gefürchtete Zug
nach Merw», dessen Turkmenen mit den Achal-Teke sich verbündet
hatten, unterblieb, ja sogar demonstrativ desavouirt wurde. Der
Feldzug hatte mit der Eroberung der Achal-Oase und der Voll-
endung der strategischen Bahn vom Kaspisee bis zum Westrande
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720
Notizen.
1 in M o r g e n s o n n e n 8 c h e i n. Erinnerungen aus frohen Kindertagen. Für
Kinder und Kiuderfreuude von Tante Alice. Mit 35 Feder-
zeichnungen von Anna v. Wah 1. Dorpat, Karow. 1887. 8.
Tante Alice ist, meinen wir, sicher in so gutem Angedenken
bei Kindern und Kinderfreunden, dass sie dessen nicht bedurfte,
sich erst als Verfasserin von t Kleine Schelme> auf dem Titel zu
kennzeichnen. Auch die neuen Erzählungen, in Mit au und Kurland
sich zutragend, sind so harmlos und allerliebst aus einem fröhlichen
Kinderleben gegriffen, dass sie bald eine gute Stätte finden werden.
Ref. schlagt sein Exemplar nach diesem Hinweis sauber in Papier
und freut sich herzlich, es mit den ungezwungenen hübschen Bildern
seinen Kindern auf den, wenn auch verspäteten Weihnachtstisch
zu legen.
Deutsche Post. Illusrrirte Halbmonatsschrift für die Deutschen aller
Länder. Herausg. von R. v. Mosch und .1 E. Frhr. v. Grott
hu 88. Erster Jahrgang. Vierteljahrlich 2 Mk.
Dieses neue Familienblatt, vom deutsch-nationalen Gedanken
getragen und besonders allen Deutschen in der Zerstreuung ge-
widmet, ist in unserer Heimat so rasch bekannt geworden und so
sehr verbreitet, dass zu dessen Empfehlung an dieser Stelle wenig
zu sagen wäre. Nachdem wir seine Entwickelung drei Viertel-
jahre angeschaut, gestehen wir der thatkräftigeu frischen Redaction
freudig zu, die rechten Schritte zur Verwirklichung ihres edlen
Planes ergriffen zu haben, und wünschen ihr überall, und besonders
in Deutschland selbst, festen Boden zu gewinnen. Fr. B.
H- «^g^-H
Berichtigung n n d Ergänzung.
In Heft 7 mnss es auf i>. 574 Z. 2 v. o. heissen : 1622 it.- 1621.
In diesem Heft« ist auf S. 667 Z. 4 v. o zu erganzen : 6 Präpositureu
(diese Ziffer stammt von Paucker; doch ist es nicht unmöglich, dass
Hudbeck nur 4 Präposituren schuf; cf. die Synodalbeschlüsse).
^03BOjeao neB3ypoD. — Peoejb, 2-ro Hoaöpa 1887.
C;JrueLt bei Lindfora' Erben in Roral.
\
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722
Polnische Wirtschaft in Livland.
der Geschichte des Processes einen dunkeln Uebergang von dem
alten, im Laufe derselben fast zu Grunde gegangenen Rechte zu
der neuen Schöpfung bilde, welche der folgende (schwedische) Zeit-
raum ins Leben gerufen habe. — Dieses abschliessende Urtheil
Bunges möchte doch jetzt, wo bisher unzugängliche Archivstücke
nach und nach ans Licht gezogen werden, kaum mehr aufrecht
zu erhalten sein. Der von mir behandelte Process giebt schon
einige Anhaltspunkte dafür. Zwar ist das, was wir aus ihm lernen,
noch weit davon entfernt, auch nur die wesentlichsten Theile des
processualischen Gliederbaues zu enthüllen. Allein nach dieser
und jener Richtung hin hebt er doch so weit den Schleier, dass
man wol begründete Vermuthungen darüber hegen kann, von welcher
Seite her und in welchen Stücken sich Einflüsse geltend gemacht
haben, denen das altlivländische Gerichtsverfahren unterlegen ist.
So ist es — um gleich auf einiges aufmerksam zu machen — das
Rechtsmittel der Advocation, besonders aber das Citations- und
Insinuationsverfahren und neben ihnen das Institut des freien Ge-
leites, welche kaum einen Zweifel darüber zulassen, dass wir es
hier mit Bestandteilen des polnischen Gerichtsverfahrens zu thun
haben.
Nach diesen einleitenden Bemerkungen kehren wir zu unserem
Processe zurück.
Strahlborn war, wie wir gesehen, im April wieder frei und
nach Reval zurückgekehrt. Es ist anzunehmen, dass seine münd-
liche Berichterstattung und die sich daran knüpfende Berathung
im Schosse des Rathes zu entscheidenden Massnahmen geführt
haben. Was Mengershausen schon früher von Dorpat aus angerathen
hatte, statt sich nämlich vor den ordentlichen Gerichten, die dort
ihren Sitz hatten und ganz unter dem Einflüsse der beklagten
Partei standen, erfolglos abzumühen, die Sache lieber sofort an
die höchste Instanz, d. h. an den König zu bringen, scheint den
Herren in Reval bald als das allein Richtige aufgegangen zu sein.
Denn kaum nach Verlauf eines Monats — Anfang Juni — wird
der Beschluss gefasst, diesen Weg einzuschlagen und deshalb mit
einem Immediatgesuche beim König einzukommen. Zugleich werden
Dellingshausen und Buuss nach Krakau delegirt, um das Terrain
zu sondiren und mit einem dortigen Rechtsgelehrten über das
eventuell zu beobachtende Verfahren Rücksprache zu nehmen. Die
Schreiben an den König sind vom 2. resp. 4. Juni datirt, und zwar
letzteres — - wahrscheinlich um ad oculos et aurcs zu demonstriren,
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724
Polnische Wirtschaft in Livland.
Zwar ist der Beginn dieses Rechtsganges auf einen recht weit ab-
liegenden Termin, den 10. Februar 1596, anberaumt; dafür ist
aber die Sprache dieses Decrets eine ernste und strenge und die
Pön von 20000 rig. Gulden auch nicht dazu angethan, bei den
Citirten Ungehorsamsgedankeu aufkommen zu lassen. Aber weit
gefehlt ! Was eine königl. Ladung in dem polonisirten Livland zu
bedeuten hatte, werden wir gleich sehen.
Den mit den Fallgruben und Schleichwegen des polnischen
Gerichtsverfahrens damaliger Zeit vertrauten Pei*sonen war es sehr
wohl bekannt, was alles, auch da, wo es sich um eine königliche
Citation handelte, zu beobachten und zu thun sei, um zum Ziel
zu gelangen. In Reval scheint man von allen diesen Dingen wenig
gewusst zu haben, und daher hat es wol der Rechtsbeistand Bruns-
wig, an den man sich von hier aus nach Krakau gewandt hatte,
für nothwendig gehalten, ein sehr detaillirtes Gutachten abzugeben.
Dasselbe berührt die eben von mir als neue Bestandteile des
polnisch-livländischen Gerichtsverfahrens bezeichneten Institute der
Citation und Insinuation, sowie des sicheren Geleites (salvus con-
ducius) so eingehend, dass schon im rechtshistorischen Interesse
wenigstens eine theilweise Wiedergabe dieses Gutachtens nöthig
ist. Letzteres hat die Form eines Schreibens an Caspar Dellings-
hausen und trägt das Datum Krakau, 30. August 1595.
Im Eingange desselben spricht sich Brunswig über die weh
günstigere Lage des Processes aus, nachdem Se. Maj. «als denen
viel daran gelegen, damit nicht durch solche gewaltsame Attentaten
und Vorgreifungen zwischen I. M. beiden Königreichen ein Miss-
verstandt eingeführet werde, quasi ex proprio motu die ganze Sache
mit allen annexis ei dependentibus zu sich abgefordert und ge-
heischen haben, wie auch in des Seligen Herrn Ficken Sache mit
den Rigaschen' geschehen ist > , besagten Process auf dem Wege der
Advocation an sich habe gelangen lassen. Der Process werde da-
durch viel kürzer und auch weniger kostspielig. Strahlborn müsse
sich unbedingt persönlich zum Termin beim königl. Hofe einstellen.
Für einen guten procurator, der ihm zur Seite stehe, werde er
sorgen. Ueber den höchst complicirten Modus der Insinuation
spricht sich der Briefsteller folgendermassen aus: «Sobald E. L.
werden zu Danzigk kommen, wollen Sieden Secretarium Michaelem
• Wol der ans dem Rigaschen KalcnderHtreit bekannte Rathsherr Ficke,
der, vom Rathe seiner Güter beraubt, dnrch königl. Itnmediatentseheidnng in
seinen Besitz restitnirt wurde. Richter Thi. II, S. 123.
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726
Polnische Wirthschaft in Livland.
denegatac insinuationis der Landbote im Beisein der beiden vom
Adel den sahum conductum auf dem Markte ablesen und ausrufen.
Und von allem, was also verlaufen und zur Antwort gegebeu wird,
ist in der nächsten Stadt, wie oben gesagt, einzuzeugen und Beweis
davon aufzunehmen. — Mit dem Hrn. Wrangell muss auch similis
Processus gehalten werden und ihm auch ein Vidimus des sfilvi
conducti insinuirt und er, wie oben, gefragt werden. — Belangend
die Advocation, die muss derselbe Landbote in Gegenwärtigkeit
der Zwei vom Adel im Original dem Hrn. Oekonomus insinuireu
und dem Hrn. Wrangell das eine Vidimus übergeben und der Herr
Abgesandte behalte das andere Vidimus, dasselbe zu zeigen in der
nächsten Stadt und allda durch den Landboten und die Zwei vom
Adel einzuzeugen, dass sie ein gleichlautendes Original dem Hrn.
Oekonomus auf die und die Zeit und dem Hrn. Wrangell ein gleich-
lautendes Vidimus insinuirt haben. Und uuter derselben Stadt
Eingesiegel muss der Befehlshaber des Landboten Relation und der
zwei Edelleute Gezeugnisse de insinuata advocatione ausnehmen,
darein a vcrbo ad vcrbum die Advocation muss inserirt werden und
was ein jeder darauf geantwortet hat. Ist keine Stadt so nahe,
so geschehe es vor irgend einem Hauptmanne auf dem nächsten
Schlosse und werde die Relation unter seinem Sigill aufgenommen.
Besser aber wäre es vor einem Stadtgerichte, weil die ad causas
judiciales geschworen seindt. > — Weitere Rathschläge des krakauer
Juristen gehen dahin, gleichzeitig mit den bereits genannten Schrift-
stücken der beklagten Partei auch eine varratio facti violenti und
eine Aufforderung zur Assistenz bei der Zeugenvernehmung zu
insinuiren, bei verweigerter Entgegennahme auch hier wo gehörig
Protest zu erheben. Der vom Könige anberaumte Termin sei ein
peremtorischer und nicht nach dem alten , sondern nach dem neuen
Kalender zu verstehen. Die von Strahlborn gemachte Hand-
streckung — bemerkt Brunswig schliesslich — möge ihn nicht
bekümmern, denn da sie per vim metu carceris abgezwungen worden,
sei sie nicht bündig.
Verweilen wir jetzt einen Augenblick bei den Rathschlägen
des krakauer Juristen, um an der Hand der in ihnen zu Tage
tretenden Rechtsanschauungen einerseits dem Gewinne nachzugehen,
der sich etwa aus ihnen für die Kenntnis des polnisch-livländischen
Processes ergeben könnte, andererseits den revalschen Delegirteu
ein Horoskop für ihr weiteres Vorgehen in Dorpat zu stellen.
Was zunächst jenen Gewinn betrifft, so reducirt er sich wol
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728
Polnische Wirthschaft in Livland.
Welie dem Armen, der mit dem salvus conductus in der Hand ihn
weder bei seinem prozessualischen Gegner, noch bei irgend einer
Gerichtsbehörde an den Mann zu bringen vermocht hat. In steter
Gefahr, ohne stattgehabte Uebergabe des Geleitsbriefes allen mög-
lichen Hindernissen und Fährlichkeiten am fremden Orte ausgesetzt
zu sein, mochte er es versuchen, von Stadt zu Stadt oder von
Schloss zu Schloss zu ziehen, bis es ihm gelang, eine gerichtliche
Beurkundung oder eine Veröffentlichung mittelst Ausrufens auf
dem Markte zu Wege zu bringen. Bis dahin haftete ihm so ein
Stück von Vogelfreiheit an. Alle diese Dinge, welche unbedenk-
lich als Entartungen von Instituten und Rechtsbehelfen zu charakte-
risiren sind, welche in ihrer ursprünglichen Form auch anderen
als dem polnischen Rechtsgebiete bekannt waren, möchten wol auf
eine gemeinsame Quelle, nämlich auf das Bestreben oder richtiger
die Begehrlichkeit zurückzuführen sein, die zwingende Macht von
Gesetz und Recht demjenigen, der sie an sich zu erfahren in der
Lage war, so lange wie möglich fern zu halten. Man könnte ver-
sucht sein, den schon gehörten Ausspruch des krakauer Juristen :
cSagt er (der Gegner) Ja, dann ist es gut; sagt er Nein, so ist
zu protestiren » , zur Devise des damaligen polnischen Gerichts-
verfahrens überhaupt zu erheben. Ihr wahrer Sinn ist : die recht-
suchende Partei ist so ziemlich der Willfahrigkeit ihres Gegners
preisgegeben ; fehlt diese, so mag sie zuseheu, wie weit sie mit
einem Proteste kommt. Wer denkt dabei nicht an das liberum veto
des polnischen Reichstags und an die falsche Freiheit des Einzelnen
gegenüber der zwingenden Macht, die der Staatsgewalt gebührt!
Standen aber die Dinge damals so, dass die beklagte Partei
sich ganz auf legalem Boden befand, wenn sie den Versuch machte,
dem Kläger noch vor Beginn des Processes das Leben so sauer
zu machen, dass er lieber von ihm abstehen möchte — was Wunder,
dass, wenn jene Partei zugleich die politische Macht in Händen
hatte, der Gang der rechtsuchenden Partei zu einem wahrhaft
dornenvollen wrerden konnte !
Und das war in unserem Processe der Fall. Schenking, schon
als polnischer Statthalter des dorpater Stifts und als Präses des
Schlossgerichtes von Rechts wegen ein Mann von Macht und Ansehen,
erfreute sich noch durch seine nahen Beziehungen zum Grosskanzler
weitreichenden Einflusses in den höchsten Sphären polnischer Macht-
haber. Hermann Wrangeil war sich dessen bewusst. dass, wenn
er auch in seiner amtlichen Stellung wenig zu sagen hatte, er von
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4
730
Polnische Wirthschaft in Livland.
Anstatt das zu thun. begeben sich die genannten beiden Vertreter
des dorpater Raths wiederum zu Schenking. Auch hier wieder
mehrmals abgewiesen, erhalten sie endlich Zutritt und bei dieser
Gelegenheit folgenden Bescheid. Es nehme ihn Wunder — erklärt
ihnen Schenking — dass der Rath der Stadt Dorpat sich dieser
Sache also annehme. Demnach er aber eine adelige Person sei,
die im öffentlichen Amte sässe und es wider des Reichs Polen Con-
stitution wäre, einen vom Adel also anschlagen und ausrufen zu
lassen, und geschehe solches nur dann, wenn man « Vermahn» er-
halten und der König die c vermahnte > Person wieder ehrlich machen
wollte. — «Als protestire er dagegen, falls E. E. R. der Stadt Dorpat
den salvus conductus publiciren und öffentlich ausrufen lassen wolle.
Denn es geschehe ihn» dadurch Hohn, Spott und Injurie. Wollte
auch zugleich dem Hrn. Grosskanzler seine Hoheit1 vorbehalten
haben. Auch wftre der salvus conductus nur ein Stylus cancellariae (!)
und auf einen unrechten Bericht also ausgebracht.» — cWie wir
nun höhnisch von dannen gekommen» — erzählen die Dorpater
ihren revaler Collegen — «hat ein guter Freund fleissig gewarnt,
wir sollten bei Leibe nicht mehr persönlich zum Hrn. Oekonomus
gehen. Denn er es vor gewiss wüsste, dass uns auf den Fall ein
Schimpf widerfahren würde, wie uns denn auch sonsten die Secretare
Unbereit und Ferinus (letzterer vom Prasidiatgericbte) abgeratheil,
in Betrachtung, dass wir bei solchem Acte nichts schaffen oder
ausrichten würden oder könnten. » Dieser Rath scheiut den Revaleru
eingeleuchtet zu haben ; denn am 20. November gehen sie nicht
selbst, sondern schicken den Woszny mit den früher genannten
Geleitspersonen und ausser ihnen einen Diener Namens Herniauu
Junge. Der Ausgang dieser Mission ist der frühere. «Als sie in
das Haus haben eingehen wollen» — heisst es im Berichte —
«hat man sie ausgestossen und die Thür vor der Nasen zuge-
schlossen.» Nun rafft sich der dorpater Rath noch einmal aut.
Wieder sind es Mengershausen und der Rathssecretar, welche sich
auf den Weg raachen. Ein glücklicher Zufall ermöglicht ihnen
ein Zusammentreffen mit Schenking. Letzterer beräth sich, nach-
dem er erfahren, um was es sich handelte, mit seinen Freunden
uud eröffnet darauf den Erschienenen : obschon Strahlborn, da er
1 Darunter ist <lie Justizhoheit gemeint, welche dem Grosskanzler als
höchster jndieiaren Autorität im dorpater Stifte innewohnte, ein hequemer Schlupf-
winkel für Competenzfragen, der jedesmal aufgesucht wird, wenn Schenking ge
fasst werden noll.
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732
Polnische Wirthschaft in Livlaml.
an den Tisch, an dem Schenking sitzt, und sagt auf polnisch :
er habe königliche Briefe abzugeben. Schenking lässt ihn nicht
weiter reden, sondern «verblüffte* ihn — wie es im Berichte heisst
— mit der Frage, wer und was er sei. Es wird ihm die ge-
bührende Antwort gegeben, worauf Schenking sich an seinen Diener
mit dem Bemerken wendet, was für Volk sie doch hereingelassen
hätten, sie sollten doch die Thür besser zuhalten. Dass die Urkunds-
personen Adelige seien, findet bei Schenking keinen Glauben, da
seine Umgebung sie nicht zu kennen vorgiebt Wo sie denn besitz-
lich seien, ist die weitere Anfrage Schenkings und, als darauf keine
sofortige Antwort erfolgt, seinerseits die Erklärung, nur solche
Adelige eigneten sich zu Urkundspersonen, die Land und Leute
ihr eigen nennen könuten. Zum Woszny gewandt, entblödet sich
Se. Gnaden nicht, ihm auf seine Antwort, er sei von Amts wegen
da, um den königlichen Brief zu übergeben, ein «du lügst!» an den
Kopf zu werfen. Am schlimmsten erging es dem armen Hermann
Junge. Nicht nur muss er hören, dass er ein revalscher Bauer und
höchstens Stubenjunge und sein Platz auf dem Hofe, wo er ge-
wartet habe, sei, sondern dass er für die Frechheit seines Er-
scheinens in den Gemächern eines polnischen Statthalters Prügel
verdiene. So ziehen denn alle unverrichteter Sache wieder ab ;
nur Junge wird in den Hof gebracht, dort von Heiducken umstellt,
die ihn erst nach mehrstündigem Warten wie einen Gefaugenen zu
seiner Herberge escortiren.
Damit war denn die Mission der revaler Delegirten in Dorpat
beendet. Was nun folgt, sind Proteste und notarielle Beurkundungen.
Die Delegirten protestiren beim dorpater Rathe und beim Schloss-
gerichte, Schenking und Wrangeil beim Präsidiatgerichte, beide
Parteien geben noch zum Ueberflusse Erklärungen beim Notar ab.
Die darüber theils in lateinischer, theils in deutscher Sprache
extrahirten Beurkundungen bilden keine geringe Zahl des umfang-
reichen Actenmaterials1. Inhaltlich bringen sie nichts Neues.
Zu erwähnen ist auch noch, dass die Weiterungen und Bruta-
litäten, welche die Revaler betroffen, in der dorpater Bürgerschaft
einen solchen Uumuth hervorriefen, dass sie eine Massendeputation
an den Rath abschickte, welche ihr Misfallen an dem, was vor-
gefallen war, zu erklären hatte.
1 Die Xotariatsinstrumente und alle lateinisch und anffallenderweisc im
\amen der romiseh kaiserlichen Majestät, deren ganzer Titel auf keinem derselben
fehlt, ohne Erwähnung des Königs von Polen ausgefertigt
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734 Polnische Wirtschaft in Livland.
Dieser Hinweis veranlasste den revaler Rath, an den schwedi-
schen Statthalter Boje die Bitte zu richten, seinerseits dahin zu
wirken, dass wenigstens bei der Zeugenvernehmung die polnischen
Einflüsse paralysirt würden. Das geschieht denn auch. Boje
macht zwei Edel leute willig, mit dem vom Rathe dazu ausersehenen
Secretär Hünerjäger, welchem zugleich die JS'otariatsqualität atte-
stirt wird, nach Dorpat zu reisen, um die vom polnischen Gerichts-
verfahren auch bei der Zeugenvernehmung geforderte Function von
Urkundspersouen zu übernehmen. Eine so gewichtige Intercession
scheint denn doeli auf Se. Gnaden die erhoffte Wirkung ausgeübt
zu haben, da wir aus den Acten ersehen, dass die für den weiteren
Fortgang des Processes so wichtige Vernehmung schliesslich
ordnungsmässig zu Stande gekommen ist.
Dieser weitere Fortgang führt uns jetzt nach Warschau, wo-
hin sich auch Strahlborn in Begleitung von Dellingshausen und
Boismann einer- und Schenking andererseits begeben. Wie es ge-
kommen, dass letzterer trotz seiner in Dorpat offen an den Tag
gelegten Ungehorsamsgedanken und seiner Machinationen wider das
königliche Edict sich dennoch in Warschau rechtzeitig gestellt hat,
findet in den Acten keine Aufklärung. Nicht unwahrscheinlich
ist es ja, dass er in elfter Stunde doch nicht das Risico hat laufen
wollen, die Verhöhnung des königlichen Befehls auf die Spitze zu
treiben. Der vom Könige auf den 10. Februar 1596 anberaumte
peremtorische Termin scheint übrigens verlängert worden zu sein,
denn nach den Protokollauszügen hat die Verhandlung erst im
April begonnen. Da meines Wissens protokollarische Aufnahmen
von Verhandlungen vor dem höchsten Gerichte (sog. Hof- oder
Assessoratsgerichte) Polens in livländischen Sachen noch nie durch
den Druck bekannt geworden sind, ihre Kenntnisnahme aber nicht
ohne rechtshistorischen Werth ist, so halte ichs für unerlässlich,
den Wortlaut des Protokolls in Nachstehendem wiederzugeben.
Die Ueberschrift des (in lateinischer Sprache mit deutscher
Uebersetzung vorliegenden) Schriftstücks lautet nach letzterem
Texte: <Das Register der livländischen Sachen. Job. Stralborn,
Revalischer Richter, wider Georg Schenking, Dorbtischen Oekono-
mus, und Hermann Wrangell.» Daran schliesst sich artikelweise
Folgendes :
1) Anno 1596. 6. April is, styl. nov. 16. Georg Schen-
king, dorptischer Oekonomus, und Herrn. Wrangell als Citirte
und Geladene wider Johann Stralborn, Revalschen Richter.
Digitized by Googlcf
730
Polnische Wirtschaft in Livland.
Der Grossmächtige Herr Grosskanzler ist mit der Prote-
station und Bedingung seines Rechts und Gerichts abgetreten.
4) Vorbehaltlich und unverfänglich des Grossmächtigen Herrn
Gross-Canzlers als des örtlichen Hauptmanns-Gerichts und Gerichts-
zwangs».
Demnach der Kläger selbst mit etwan früheren Reden Ur-
sach zu diesem Hader gegeben, derenthalben ist der Oekonomus
nicht zu beschuldigen, dass er Klägern zu sich gefordert. Dass
er ihn aber auf des Klägers Angaben etwas langes mit Verhaftung
aufgehalten und die durch Klägern zugeschickte Obligation oder
Verschreibung nicht annehmen wollen, dafür soll zuförderst der
Oekonomus schwören, dass er gemeiuet, dass dies die rechte Form
des Rechtens gewesen und dass er mit gutem Gewissen zu dem
Process geschritten. Darnach soll auch der Oekonomus zur Er-
stattung der Schäden und expens dem Kläger zahlen 600 Thaler.
Der Wrangell aber, so Ursach zu dieser langen Bestrickung ge-
geben, soll an demselben Ort, so Kläger gesessen, so lange Zeit
wie Kläger in gefänglicher Haft gehalten werden. Es soll auch
hinfüro in beiden Städten die Kaufmannschaft, Handel und Wandel
frei und vehlich im Schwange gehen, damit daselbst als zwischen
eines Königes Unterthanen nachbarliche Freundschaft, Fried und
Einigkeit erhalten werden.
Beide Theile appelliren.
Der König, an deu die Appellation gegangen ist, hat auf
Grund einer Relation des sog. Relatiousgerichts mittelst Decrets
vom 1. August 1596 das Erkenntnis des Assessorats-Gerichts im
Wesentlichen bestätigt, jedoch mit den Abänderungen, dass die
von Schenking zu erlegende Ersatzsumme von 700 auf 1000 Thlr.
zu erhöhen sei, dass Wrangell statt in demselben Haftiocale, in
dem Strahlborn seine Bestrickung ausgehalten, auf dem Pernau-
schen Schlosse zu sitzen habe und dass die von Strahlborn aus-
gestellte Handstreckung oder Obligation zu kassiren, das Haus
des Rathsherrn Lindhorst in Dorpat aber, in dem Strahlborn ge-
wohnt, sofort von den daselbst einquartierten Heiducken zu be-
freien sei. Aus der sehr umfangreichen Sentenz, welche nach einer
Geschichtserzählung Inhalt und Erwägungen des angefochtenen
Erkenntnisses kurz wiedergiebt, möchte nachstehender sich auf die
Reformirung jenes Erkenntnisses bezügliche Passus hier zu re-
1 Hieruuter ist «Irr in der Note pag. 730 erwähnte «Schlupfwinkel* gemeint.
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738
Polnische Wirthsehaft in Livland.
bezeichnet, die ganze Sehuldfrage vieiraehr von einem Schwüre ab-
hängig gemacht worden ist, den der Angeklagte lediglich von dein
ganz subjectiven Gesichtspunkte aus abzulegen hatte, ob er sein
Verfahren als in den Rechten und Gerechtsamen seines Amtes be-
gründet und als den Grundsätzen des polnischen Gerichtsverfahrens
conform halte. Zusammengehalten mit der Wrangeil zu Theil ge-
wordenen Strafmilderung, die darin bestand, dass er seine 9 Wochen
in einer «besonderen Stube», also wol in einem ganz comfortablen
Gemache des pernauschen Schlosses statt in dem gesundheitsschäd-
lichen Verliesse, in das man Strahlborn eingeschlossen, abzusitzen
hatte, hinterlässt die ganze Sentenz doch wol nur den Bindruck,
dass das livländische Renegatenthum jener Tage wol allen Grund
gehabt haben muss, mit dem Ausgange des Strahlbornschen Pro-
cesses zufrieden zu sein. Freilich darf man, so weit es sich dabei
um ein Urtheil über Sigismund handelt, nicht vergessen, dass er
eben der schwache Trager jenes königlichen Doppelreifs gewesen,
dessen Bürde seinem kurzsichtigen Vater thörichterweise als eine
*spcs utriusque regni» vorgeschwebt hatte. Versetzt man sich an
seine Stelle, so muss man sich doch zu der Anerkennung verstehen :
er und seine Umgebung haben durch ihren Urtheilsspruch mehr
Gerechtigkeitssinn bethätigt, als man von ihnen erwarten konnte!
Die Geschichte hat ja auch des Prophetenamts ex post zu
walten, und mag es mir daher zum Schlüsse noch gestattet sein,
ein Wort darüber zu sagen, welches Schicksal der polnischen
Politik, wie sie uns auch in diesem Processe in so grellen Zügen
entgegentritt, zunächst mit Bezug auf Livland. dann aber auch
auf Schweden vorausgesagt werden musste. Die gewaltsame und
oft in so gehässiger Weise unternommene Polonisirung Livlands
hat nicht zum Ziel geführt und konnte nicht zum Ziele fahren
Die besonders nach Sigismund August sowol auf kirchlichem als
politischem Gebiete dahin abzielenden Versuche haben nur dazu
beigetragen, Livland, statt es zu einem Bindegliede zwischen Polen
und Schweden zu machen, Schweden in die Arme zu treiben. Dabei
hat sichs erwiesen, dass Kern und Wesen der alt-üvländischen
Colonie trotz vielfacher Umgestaltung, welche jene verderbliche
Politik unter Anwendung von List und Gewalt während eines
Menschenalters zuwege gebracht, sobald ihre Herrschaft ein Ende
genommen, unerschüttert, ja unberührt in ihrer Eigenartigkeit
wieder zur Geltung gelangt sind und sich darin erhalten haben bis
in die jüngsten Tage.
[e
Taras Grigorjewitsch Schewtschenko.
Biographisch kririBche Skixse eines Heinrnniacheii Dichterlebens.
n.
L Individuelle Charakteristik.
us dem ganzen Leben Schewtschenkos leuchtet hervor, dass
er ein durchaus starker, selbständiger Charakter war.
Trotz des Undanks und des Hohnes, den er erntete, trotz der viel-
fachen moralischen wie physischen Züchtigungen wandelte er un-
erschrocken den Weg weiter, den er einmal aus Ueberzeugung ein-
geschlagen hatte. Reich begabt mit Energie und geistigen Kräften
muss schon der Knabe gewesen sein, der sich herausgearbeitet hat
aus Verhältnissen, in denen er Eindrücke empfing, die geeignet
waren, bereits in zartem Alter seine junge Seele für immer zu er-
tödten. Alle Lebensunfälle kannte er nicht vom Hörensagen,
sondern hatte sie selbst an sich erfahren. Seine Entwickelung und
seine Bildung haben ihm selbst fast nur dazu gedient, das Herb-
traurige seiner Existenz ihn desto tiefer fühlen zu lassen. Er
selbst schreibt ein Jahr vor seinem Tode : <Wenn ich mein ver-
flossenes Leben überblicke, so zuckt mir das Herz im Leibe. Wie
viel verlorene .Jahre ! Wie viel verwelkte Blumen ! Und was habe
ich vom Schicksal für alle meine Anstrengungen nicht unterzugehen
errungen? Beinahe nur die schreckliche klare Erkenntnis meiner
Vergangenheit \>
Die in freudloser Knechtschaft verflossene Kindheit und Jugend
des Dichters, seine spatere langjährige Verbannung, sie vermochten
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742
Taras Grigorjewitsch Schewtschenko.
ein Mensch in der Noth, bedarf er unserer Hilfe, so wird er unser
nächster Bruder, ohne Unterschied der Nation, ohne Unterschied
der Religion. »>
Der Gedauke an die damalige gedrückte Lebenslage des ein-
lachen Volkes quälte ihn beständig und vergiftete ihm bisweilen
seine schönsten Stunden. «Einst,» erzählt Tschushbinski, «waren
wir zu einem Gutsbesitzer in der Ukraine eingeladen, der nicht
hinter seinen Nachbarn zurückbleiben wollte und dem berühmten
Dichter zu Ehren ein Festessen veranstaltet hatte. Als wir uus
im Vorhause unserer Mäutel entledigen wollten, waren wir zufällig
Zeugen, wie unser Gastgeber den daselbst eingeschlafenen Diener
in äusserst brutaler Weise weckte. Taras erröthete, nahm seine
Mütze und fuhr nach Hause. Vergeblich waren alle Bitten, ihn
zur Rückkehr zu bewegen.» — Seine tiefe Humanität bewährte
sich in jeder Handlung ; sogar auf Thiere übertrug er eine gewisse
Zärtlichkeit; so verteidigte er häufig junge Katzen und Hunde
gegen den Muthwillen der Strassenjugend ; häufig kaufte er Vögel
mit dem Zwecke, ihnen die Freiheit wieder zu schenken.
Das Aeussere des Dichters schildert uns derselbe Freund, der
mit ihm 1843 in Poltawa bekannt wurde, folgendermasseu : «Schew-
tschenko war von mittlerem kräftigen Wüchse ; auf den ersten
Blick erschien sein Gesicht als ein ganz gewöhnliches ; die Augen
hatten aber einen so klugen Ausdruck und einen so ungewöhnlichen
Glanz, dass sie unwillkürlich die Aufmerksamkeit auf sich zogen.
War er von Natur so vorsichtig, oder war er es in Folge seiner
traurigen Lebenserfahrung geworden, er liebte es nicht, bei aller
seiner scheinbaren Aufrichtigkeit, sein Herz auszuschütten. Als
ich ihn 18(30 in St. Petersburg wiedersah, hatte er sichtlich ge-
altert, seine Miene war stets ernst, ja traurig, möchte ich sagen,
nur seine Augen hatten jenen Ausdruck und Glanz beibehalten,
in dem sich seine Gedankentiefe und sein reges Gemüth wieder-
sniegelten . »
Er liebte sehr weiblichen Umgang, erst in Damengesellschaft
wurde er so recht munter ; auch mochte er sehr Musik hören, oder
er sang selbst mit seiner sonoren Stimme die klagereicheu ukraiuer
Lieder. Eine Hauptliebhaberei Schewtschenkos war es aber immer,
sich mit Kindern abzugeben. Er setzte sich häufig zu ihnen
und erzählte ihnen, nachdem er ihre Schüchternheit überwunden
und ihr Zutrauen gewonnen hatte, Märchen, oder er sang ihnen
Kiuderlieder vor, deren er einen ganzen Schatz iu sich hatte. Nie-
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Taras Grigorje witsch Schewtschenko.
dem der Dichter 1845 in Kiew bekannt wurde, urtheilt über diesen
Ton tolgendermasseu : c Einst las mir Schewtschenko seine unge-
druckten Gedichte vor. Schrecken erfasste mich: der Eindruck,
den dieselben auf mich machten, erinnerte mich lebhaft an die
Schillersche Dichtung < Das verschleierte Bild von Sais>. Ich
sah, dass die Muse Schewtschenkos den Schleier, mit welchem das
Leben des Volkes umhüllt war, auseinauderriss. Und schrecklich
und süss, schmerzlich und berauschend war das, was man er-
blickte ! !»
Aus diesem Tone klang es klar hervor, dass der Dichter
nicht in seinem Namen sprach, sondern im Namen derer, die ihn
gesandt haben ; dass er nicht von seinen eigenen Schmerzen und
Erwartungen sang, sondern das besang, was in der Seele jener
schweigenden Masse vor sich ging, die nach ihrer eigenen Art
denkt, des arbeitenden einfacheu Volkes, welches nur durch seine
Arbeit und bisweilen durch ein gramvolles Lied der Welt seine
Existenz in Erinnerung bringt. Das niedere Volk aber ist selten
fröhlich, denn selten ist es sorgenfrei. Daraus lässt sich auch
das schwermüthige , traurig-düstere Colorit der ganzen Poesie
Schewtschenkos erklären, denn er fühlte seine geistige Verwandt-
schaft mit dem Volke, weil er aus ihm hervorgegangen war und
deshalb besser als andere das sah, was andere selbst gauz über-
sahen, und darüber weinte, was die anderen nicht betrübte. In
seinem Vorworte zur Dichtung « Die Hajdamaken» lacht er unver-
hohlen über die Mehrzahl der zeitgenössischen Schriftsteller, die
ihn für seine Sympathie mit den untersten Volksschichten höhnte
und rügte. — Man hat Schewtschenko den Vorwurf der Sentimen-
talität gemacht, und dies vielleicht mit Recht. Jedoch muss
Schewtschenko als Volksdichter beurtheilt werden, die Sentimenta-
lität aber ist seit jeher ein charakteristischer Zug des Ukrainer
Volkes gewesen. Einer seiner Landsleute nennt ihn den «unsterb-
lichen Kobsar» ; dies ist zugleich die beste Charakteristik Schew-
tschenkos als Dichter. Er ist in Stoff und Ton ein kleinrussischer
Volkssänger, nur dass bei ihm alles vertieft und veredelt zu Tage
tritt, und deshalb ist er der «Unsterbliche». Wir finden bei ihm
alle Elemente des kleinrüssischen Volksliedes. Nichts Gekünsteltes
findet sich in seiner Poesie: nicht affectiver Weltschmerz, nicht
selbstquälerisches fruchtloses Grämen, nicht bittere Verzweiflung.
Nein ! ein stiller, aber deshalb nicht minder tiefer und herz-
ergreifender Kummer bildet ein stetes Element seiner Gedichte. Man
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Taras Grigorjewitsch Schewtscheuko.
ukrainischen Poesie ; deshalb tauchte sie auch gerade zu der Zeit
auf, als die alten Volkslieder in Vergessenheit zu gerathen Gefahr
liefen.
Stoff und Inhalt seiner Dichtungen hat Schewtscheuko fast
ausschliesslich seiner Heimat entlehnt. Er besingt die Natur der-
selben, seinen Lieblingsbaum, den Massholder, den alteu schäumen-
den Dnjepr in seinen Liedern ; oder er besingt die einsame, öde
und doch so räthselhaft schöne Steppe mit ihren hohen alten Grab-
hügeln. Er besingt die alten, rührenden Sitten und Gebräuche,
sowie die Sagen der Ukraine, den naturwüchsigen Menschenschlag
der Kosaken, die glorreiche Zeit der Saporoger Sjetscha, ihre
Helden, deren kühne Raubzüge und Heldenthaten, die hinge-
schwundene herrliche Selbständigkeit der Ukraine und ihre augen-
blickliche machtlose Stellung. Schewtschenkos tiefpoetische Natur
hat alle Gestalten und Ideen der verflossenen Jahrhunderte seines
Volksstammes lebendig aufgenommen und wiedergegeben. Einzelne
Dichtungen Schewtschenkos ermangeln freilich der leitenden Grund-
idee, dafür athmet aber alles eine solche Pracht, solch eine natür-
liche ungesuchte Gefühlswärme, dass es einen tiefen Eindruck auf
die Seele des Lesers ausübt.
Die poetischen Erzeugnisse Schewtschenkos lassen sich am
besten dem Inhalte nach eintheilen, und zwar in zwei Kategorien:
entweder hat der Dichter den Stoff und Inhalt seiner Dichtungen
dem Leben seines Volkes, mit seinem Leide, mit seiner Freude,
sowie auch den alten Volkssagen entnommen, oder es haben ihn
die glorreichen historischen Erinnerungen der Ukraine zum dichte-
rischen Schaffen angeregt uud begeistert.
Schewtschenko besitzt alle Eigenschaften eiues vorzüglichen
Lyrikers: eine durchaus tiefe Empfindung und in hohem Grade
die Fähigkeit, all dem, was für andere Menschen todt und stumm
daliegt, die in demselben verborgen ruhende Poesie, die in dem-
selben schlummernde Musik abzulauschen. Durch meisterhafte An-
eignung der Eigenheiten der Volkspoesie zeichnen sich besonders
seine Stimmungs- oder Gedankenbilder (.nynij) aus. Schon im ersten
dieser Gedichte, welches gleichsam den Prolog zu seiner Gedicht-
sammlung «Kobsar» bildet, spiegelt sich der ganze Charakter des
Dichters ab : die fröhlichen, sprudelnden Motive, die selten in
seinen Gedichten vorkommen, vermögen nicht den düsteren Ein-
druck zu verwischen, den seine Weltanschauung wach ruft. Schew-
tschenko besiugt in der grossen Anzahl seiner kleiueu Lieder das
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Taras Grigorjewitsch Schewtschenko.
ein. Schewtschenko beurkundet in dieser Dichtung so recht seine
ungewöhnliche Tiefe menschlichen Mitleids. Das Schicksal der
Heldin Katharina ruft in uns vom ßeginu der Handlung bis ans
Ende ein tiefes Mitgefühl wach. Dabei hat es der Dichter mit
seltenem Tacte verstanden, den epischen Gang der Handlung durch
tiefergreifende poetische Reflexionen zu unterbrechen. Freilich ver-
rathen dieselben eine pessimistische Weltanschauung, aber diese
düstere Färbung passt durchaus zum grenzenlosen Elend, das vor
uuseren Augen vorüber zieht. Wir gestatten uns einige Strophen
aus diesem Gedichte in unserer Uebertragung mitzutheilen.
Die Eingangsstrophe lautet :
Fröhnt der Liebe, schöne Mädchen,
Doch schenkt euer Herz
Nie dem fremden Krieger Moskaus :
Denu der treibt nur Scherz.
Liebeln wird er mit dem Mädchen,
Täudelud es verlassen :
Er wird fort nach Moskau ziehen,
Sie vor Gram erblassen. . .
Weun sie noch allein hinstürbe !
Sei's . . . doch oft sogar
Sinkt mit ihr ins Grab die Mutter,
Jedes Trostes bar.
lieber ihren Kummer grübelnd
Welkt die Seele hin ;
Und der Menschen Urtheil zeigt nicht
Theilnahmsvollen Sinn.
Schwarzgelockte, schöne Mädchen,
Schenket euer Herz
Nur nicht fremden Kriegern Moskaus,
Jene treiben Scherz.
Die Verstossung wird geschildert :
An dem Tische sitzt der Alte,
Stützt sich auf den Arm,
Schauet nicht auf Gottes Erde,
Matt von Gram und Harm.
Neben ihm da sitzt die Mutter,
Aufgelöst in Leid ;
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Taras Grigorjewitsch Schewtschenko
Doch jetzt gehe ! Gott beschütze,
Kind, dich immerdar I» —
Und erschöpft brach sie zusammen
Aller Sinne bar.
Und es sprach der Vater: fGeh doch.
Du armselig Mädchen !»
Da sank laut aufschluchzend, flehend
Ihm zu Füssen Käthchen :
* Du verzeihe mir, mein Vater !
Deck' den Fehltritt zu !
Du verzeihe mir, mein Herzblatt,
Holder Engel du 1» —
«Möge Gott dir einst verzeihen !
Kämpfe aus den Schmerz.
Bete — geh dann deiner Wege :
Leichter wird dein Herz.» —
Und aus den eingeflochtenen Reflexionen :
Glück giebt es auf Erden —
Wem gereicht's zum Heil ?
Freiheit giebt's auf Erden —
Wem ward sie zu Theil ?
Auf der Welt giebt es Menschen —
Sie schimmern in Gold,
Scheinbar ist das Schicksal
Masslos ihnen hold —
Kein Glück! Keine Freiheit I
Es drückt ja der Gram
Auch diese, doch Thränen
Verbietet die Scham.
Das Gold mögt ihr nehmen,
Gereichs euch zur Lust,
Doch mich lasst durch Thränen
Erleichtern die Brust.
Es falle mein Unglück
Den Thränen zum Raub !
Will treten die Knechtschaft
Barfuss in den Staub I
Nur dann bin ich reich,
Zufrieden vollauf —
752
Taras 6 rigorje witsch Schewtschenko.
düsteren Hintergrund derselben. Die Sagen, die den Stuft' zu diesen
Balladen geliefert haben, werden vom Dichter mit so ungekünsteltem
(7efühle, in so poetisch gedankenreicher Form dem Leser ans Herz
gelegt, dass wir dieselben eher für freie Producte seines dichterischen
Genies, als für Verarbeitungen fremder Stoffe zu halteu gewillt sind.
Als Prolog zu denjenigen Dichtungen, deren Stoff der klein-
russischen Geschichte entnommen ist, dient die poetische Epistel
Schewtschenkos an seinen Laudsmann und Dichter Kwitka (irT,o
OcnoBfeHHeHKa betitelt), in welcher er denselben als schon be-
kannten Dichter bittet, die glorreiche historische Vergangenheit
des Ukrainer Volkes zu besingen. Im Gedichte «Iwan Pidkowa>
(Name eines hervorragenden Kosaken führers) tritt Schewtschenko
schon selbst als Sänger der alten ruhmvollen Zeiten seiner Heimat
auf. Die schwungvolle historische Ballade «Tarasowa Nitsch»
(Tarasowsche Nacht) schildert uns das furchtbare Blutbad, welches
der Hetmann Taras Trjasilo unter den Polen 1630 an der Alta
anrichtete. In diesem Gedichte hat der Dichter die Parallele
zwischen dem markigen Geschlechte der Vergangenheit und dem
verweichlichten der Gegenwart äusserst kunstvoll durchgeführt.
Die dritte historische Ballade <Gamalija> hat die kühne Seefahrt
des Ataman Gamalija nach Byzauz zum Thema. Der Kosaken-
ataman unternimmt diese Fahrt, um seine in der türkischen Ge-
fangenschaft schmachtenden Kosaken zu befreien. Es wird somit
die Treue der Kosaken, sowie ihre Kühnheit und Entschlossenheit
zur See besungen. Alle drei Balladen entstanden im Anfange der
vierziger Jahre. Im Jahre 184 L war aber schon das grosse histo-
rische Poem Schewtschenkos »Die Hajdamaken> erschienen.
cDie Hajdamaken» ist die umfassendste und werthvollste
Dichtung Schewtschenkos. In derselben offenbart er seine Begabung
als epischer Dichter am gewaltigsten. Was die künstlerische Form
anbetrifft, so wird vielleicht diese Dichtung von auderen, wie haupt-
sächlich « Katharina >, übertroffen, aber sie steht erhaben da über
alle anderen ihrem Inhalte nach. Das Epos behandelt den
Kosakenaufstand unter Gonta 1768 und 1769, bald nach der be-
kannten (Konföderation von Bar, das letzte blut- und flammenrothe
Aufflackern des kleinrussischen Volksgeistes gegen die Unterdrücker
der Ukraine, die Polen und Juden. Die Kleinrussen hatten stumm
geduldet, bis die gewaltsame Katholisirung sie schliesslich zur Ver-
zweiflung trieb. Die griechisch-orthodoxen Priester waren ver-
trieben worden, ihre Kirchen geschlossen und die Schüssel zu den-
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754 Taras Grigorjewitsch Schewtschenko.
und Schwert gegen Polen und Juden geschildert. An der Spitze steht
der Kosakenhauptmann Gonta und der Ataman Shalisnjak. Die
Kraft des Polenhasses der Kosakeu bekundet der Dichter in der
Person des Kosaken Jarema, der bei der Nachricht, dass seine
Braut Oksana von den Polen entführt worden sei, ausruft : c Warum
konnte ich nicht gestern sterben ! Ich hätte Ruhe ! Doch sterbe
ich auch heute, so werde ich aus dem Grabe auferstehen, um die
Polen zu quälen !> Der achte Gesang hat das blutige Banket zu
Lissjanka (im Kiewschen) zum Inhalt, die Zerstörung dieser Festung
und die Befreiung Oksanas durch Jarema. Der folgende Gesang
versetzt uns ins friedliche Kloster Lebedyn und schliesst mit der
Vermählung Jaremas mit Oksana. Der zehnte und letzte Gesang
besehreibt uns die schrecklichen Rachescenen der Hajdamaken in
der reichen polnischen Stadt Uman. Der Dichter schrickt nicht
vor der Schilderung des grässlichen Mordes, deu der Hajdamaken-
held Gonta an seinen leiblichen Kindern vollzieht, zurück, eben so
wenig vor der Schilderung der von den Hajdamaken verübten
Greuelthaten bei der Zerstörung der Jesuitenschule. Der Gesang
schliesst mitder tief ergreifenden und versöhnend auf uns wirkenden
Beschreibung, wie Gonta, von Reue und Gewissensbissen gequält,
heimlich seine Kinder bestattet. — Der Epilog zu dieser herrlichen
Dichtung beginnt mit jenen selten tief empfundenen, rührenden
Versen, in denen Schewtschenko sein Leben im elterlichen Hause
schildert. Zum Schlüsse des Epilogs spricht Schewtschenko seine
Ansicht über die Vergangenheit der Ukraine aus. In der That
stimmen diese 32 Zeilen die Seele des Lesers traurig, denn es liegt
im Menschen nun einmal eine Liebe und Neigung zur alten Zeit, und
dieses Mitgefühl mit der Vergangenheit tritt bei Schewtschenko un-
willkürlich dann zum Vorschein, wenn das Gefühl in ihm die Oberhand
gewinnt, bis zuletzt der klare Verstand wieder in seine Rechte tritt.
Wie in allen seinen epischen Dichtungen, so unterbricht
Schewtschenko auch im Epos «Die Hajdamaken > den Gang der
Handlung bisweilen durch lyrische Reflexionen, wobei er fast
immer von den vier- oder dreifüssigen Trochäen auf schwungvolle
Daktylen oder Anapäste übergeht. An solchen Stellen bewundern
wir den klaren Blick des Dichters über die Menschenverhältnisse,
desgleichen die Tiefe seiner Gedanken, und trotz des wilden, un-
bändigen Stoffes staunen wir häufig über die Zartheit seines Mit-
gefühls, die aus allem, was er sagt, hervorleuchtet. Im allgemeinen
hat jedoch Schewtschenko den epischen Ton vorzüglich eingehalten.
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750
Taras Grigorjewitsch Schewtschenko.
Taras Grigorjewitsch Schewtschenko ist nicht nur ein klein-
russischer, sondern überhaupt ein russischer Dichter im weiteren
Sinne, denn er war der Verkündiger der Volksgedanken, der Re-
präsentant des Volkswillens, der Interpret des Volksgefühls. Wol
hat er klar und deutlich das Hereinbrechen einer neuen Aera für
das russische Volk geahnt und gefühlt, allein ein hartes Geschick
gönnte es ihm nicht, jenen Tag zu erleben, an dem öffentlich der
Leibeigenschaft der Todesstoss versetzt wurde, jenen Tag, welcher
der grösste Feiertag, der grösste Freudeutag in seinem Märtyrerleben
gewesen wäre, jenen Tag, an dem der Grundstein zur Verwirklichung
derjenigen Ideen gelegt wurde, die die Seele seiner Poesie waren. Am
19. Febr. 1801 unterzeichnete Kaiser Alexander II., gesegneten An-
gedenkens, das historische Manifest über die Aufhebung der Leib-
eigenschaft und am 5. März desselben Jahres wurde selbiges
promulgirt. Als an diesem Tage das gesammte russische Volk im
Taumel der Freiheitsfreude jauchzte und jubelte, hatte genau eine
Woche früher einer seiner grössten Freiheitskämpfer, Taras Grigor-
jewitsch Schewtschenko, bereits den letzten Kampf ausgekämpft
und war zur ewigen Freiheit eingegangen !
\Y o 1 <1 <> m a r Fische r.
758
Eree Universität auf tatarischem Boden.
geschiente der Universität Kasan ; wir können dem betagten Autor
nur wünschen, dass es ihm vergönnt sei, sein Werk bis zu unserer
Zeit fortzuführen. Auch für den deutschen Leser dürfte eine
nähere Bekanntschaft mit dem vorliegenden Buch nicht ohne Inter-
esse sein ; wir schliessen uns in den folgenden Zeilen wesentlich
der Besprechung an, welche der bekannte russische Literarhistoriker
Pypin im <Westnik Jewropy» dieser Entstehungsgeschichte der öst.
liebsten Universität zu Theil werden lässt.
Bis zu Peter dem Grossen gab es bekanntlich in Russland
in den geistlichen Schulen (Akademien) zu Kiew und Moskau schon
Lehranstalten national-kirchlichen Gepräges, in denen Priester,
grösstenteils kleinrussischer Herkunft, deu Lernenden eine Art
höherer Bildung beizubringen beflissen waren, welche sich auf die
Bekanntschaft mit dem Kirchenslavonischen, dem Griechischen und
Lateinischen beschränkte. Diese Schulen trugen im ganzen nur
sehr wenig dazu bei, den geistigen Verkehr zwischen Ost- und
Westeuropa anzuregen und dem moskowitischen Zarthum den Zu-
gang zu europäischer Cultur und Civilisation zu eröffnen. Einen
ganz anderen Charakter hatten die von Peter I. und seinen Nach»
folgern gegründeten Lehranstalten ; diese fussten nicht auf den
Traditionen des byzantinischen Kirchenthums, die Lehrgegenstände,
die neu vorgetragenen Wissenschaften kamen eben so gut aus dem
Westen, wie die Lehrer selbst, die nur in den seltensten Fällen
der russischen Sprache mächtig waren. Der Schulbesuch erfolgte
zwangsmässig, Schüler und Lehrer wurden zu- und abcommandirt
— da konnten die mühselig errungenen Resultate natürlich nur
ganz ungenügende sein. Die Wissenschaft hatte noch keine Pflege-
stätte in Russland und die erste akademische Universität nahm
ein klägliches Ende (s. « Bult. Monatsschrift > 1887 im Januarhefte
meinen Aufsatz über die erste russische Universität).
Auch späterhin blieb der Lehrer, der Professor — der Ge-
lehrte überhaupt, ein ausserhalb des nationalen Lebens stehender
Sonderling, der in der officiellen Titulatur als t Beamter für
Sprachenkunde» erwähnt werden konnte und welcher von seinen
Vorgesetzten stets nur als tTschinownik» behandelt wurde. Wenn
eine derartige Anschauungsweise selbst in unserer Zeit noch vor-
kommt, so bestand dieselbe unter der Regieruug Kaiser Alexandere I.
noch zu voller Kraft. Als dieser Monarch in der ersten Hälfte
seiner Regierung, der aufklärenden Richtung des 18. Jahrhunderts
760
Eine Universität auf tatarischem Boden.
zu erinnern braueben. Zu diesen lässt sieb auch Rumowski rechnen,
welcher zum Curator des Lebrbezirks und der Universität Kasan
ernannt wurde. Geboren in den 30er Jahren des 18. Jahrhunderts
(f 1810), war Rumowski ein gelehrter Akademiker, Astronom und
Klassiker, aber ein Greis von über siebzig Jahren, dem es natür-
lich an der nothwendigen Energie fehlte, um die schwierige und
verwickelte Angelegenheit der Organisation einer Universität, noch
dazu an der entlegenen asiatischen Grenze, durchzuführen, um so
mehr, da der neue Curator (nach der Sitte jener Zeit) in Peters-
burg wohnen blieb, <um in beständigen, directen Beziehungen zu
dem Gentrum der Regierung zu verbleiben». So musste sich also
der Curator gänzlich auf Mittheilungen derjenigen Person ver-
lassen, welche ihn im Lehrbezirk vertrat und, nach dem russischen
Sprichwort <Gott ist gross und der Zar ist weit», leicht genug
ganz willkürlich verfuhr. Ferner lässt sich annehmen, dass trotz
seiner wissenschaftlichen Bedeutung der neue Curator Rumowski
ein Mann des ancien regime geblieben war und keineswegs mit den
liberalen Plänen der Regierung Alexandere I. vollständig sympathi-
sirte, insbesondere der beabsichtigten Selbstverwaltung der Univer-
sitäten feindlich gegenüber stand.
Der bevollmächtigte Stellvertreter Rumowskis in Kasan ent-
sprach dem Geschmack seines Vorgesetzten : er war ein Bureaukrat
vom reinsten Wasser, ein eifriger «Tschinownik» mit allen Fehlern
und Vorzügen eines solchen und hiess Uja Feodorowitsch Jakowkin.
Als Sohn eines Dorfpriesters 1764 im Gouvernement Perm geboren,
hatte derselbe den Cursus im geistlichen Seminar zu Wjatka be-
endet, kurze Zeit hindurch als Lehrer gewirkt, um 1783 die Peters-
burger «pädagogische Abtheilung für Volksschullehrer» als Lehrer
«höherer Art» durchmachen zu können. In der Residenz hatte er
eine Anstellung gefunden und in allen möglichen Gegenständen
unterrichtet, die russische, französische, deutsche und lateinische
Sprache, Geschichte, Geographie und Naturwissenschaften nicht
nur gelehrt, sondern auch Lehrbücher dieser Disciplinen veröffent-
licht, welche nur Compilationen oder Uebersetzungen waren. Als
Lehrer an das Gymnasium zu Kasan versetzt, hatte Jakowkin
hier schnell seine Laufbahn gefunden und war zum Inspector, bald
darauf zum Director dieser Anstalt ernannt worden. Die neue
Universität stand bei ihrer Gründung in einer höchst eigen thüm-
lichen Verbindung mit dem Gymnasium von Kasan, sie- warde so
zu sagen auf das Gymnasium gepfropft. Im Februar 1805 erschien
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762 Eine Universität auf tatarischem Boden.
wollten sich dem Universitätspascha nicht unterordnen, und der
Curator fand es bequemer, wenn e i n ihm bekannter, energischer
Leiter die ganze Sache in der Hand behielt, als wenn eine viel-
köpfige Selbstverwaltung ihr Wesen trieb.
Ueber Jakowkin und sein Regiment enthält sich Herr Bulitsch
jeder persönlichen Kritik und schildert mit voller Objectivität die
Licht- und Schattenseiten seines Charaktere. So erscheint uns
Jakowkin einerseits nach den Erinnerungen seiner Schüler und
Zöglinge im günstigsten Licht, während andererseits seine Collegen
und Untergebenen ihn mit ihrem Hass verfolgten. «Die Macht,
die Willkür Jakowkins,» heisst es, «standen in directer Beziehung
zu dem unbeschränkten Vertrauen, welches ihm der Curator schenkte.
Sein Verstand, seine Gewandtheit, seine genaue Kenntnis des
menschlichen Herzens sind, nach authentischen Zeugnissen jener
Zeit, erstaunlich. Umgeben von seinen Creaturen, die er von der
Schulbank an stets geleitet hatte, die ihm ihre Stellung dankten
und in vollster Abhängigkeit von ihm Stauden, oder von Ausländern,
die weder mit der Sprache, noch mit den Lebensbedingungen ihrer
neuen Heimat bekannt waren, schien der Director alle seine Dienst-
genossen um eines Hauptes Länge zu überragen. Derartige Persön-
lichkeiten finden sich oft genug in dem Schulwesen der Provinz,
sie verstehen es vortrefflich, sich bei der fernen Obrigkeit einzu-
schmeicheln und, dank der abhängigen Lage und des nothgedrungenen
Schweigens ihrer Untergebenen, ihrer despotischen Neigung, ihrer
unbeschränkten willkürlichen Herrschsucht die Zügel schiessen zu
lassen. »
Ein sympathischer Zug im Charakter Jakowkins sind jeden-
falls die freundschaftlichen, milden Beziehungen zu der lernenden
Jugend, wenngleich dieselben vielleicht auf einer gewissen Be-
rechnung beruhten. Ferner war er ein energischer, scharfsichtiger
Administrator und unbeschränkter Beherrscher des Gymnasiums
und hegte den Wunsch, in der Universität dieselbe Rolle zu spielen.
Dieser letztere Umstand ist es aber gerade, der uns seine Thätigkeit
so unsympathisch erscheinen lässt. Seinen Universitätscollegen
gegenüber ein unsinniger Despot, dem Curator gegenüber ein
demüthiger Speichellecker und gehorsamer Diener, verstand es
Jakowkin vortrefflich, durch beständige Berichte und Denunciationen
seinen greisen Chef gegen die «Deutschen» aufzuhetzen. Diese
nennt er Leute von «frecher Gemüthsart, die auf die Vernichtung
jeglicher Übrigkeit bedacht sind» — und der bald 80jährige Curator
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7i>4 Eine Universität auf tatarischem Hoden.
die von dem Kronstische fielen, und konnte ihm gelegentlich eines
ihm verliehenen Ordens folgendes Verslein zu Ohren kommen, das
einen seiner Collegen zum Autor hatte :
c Lieber Heiland Jesus Christ,
Der du des Diebes Retter bist,
Als er am Kreuze hing :
Beweise deine Liebe,
Bewahr' das Kreuz dem Diebe,
Das heute er empfing.»
Auf die «Rechnungsfehler», welche selbst der Curator Ru-
mowski seinem Schützling Jakowkin nachweisen konnte, brauchen
wir nicht näher einzugehen, da mit dem Obengesagten der Charakter
des Letzteren genügend angedeutet ist. Von mehr Interesse ist die
Beantwortung der Frage: Woher kamen die Professoren für die
neue Universität auf tatarischem Boden?
Hier wiederholte sich dieselbe Erscheinung, wie bei der
Gründung der Petersburger Akademie der Wissenschaften und an
den russischen Universitäten überhaupt, eine Erscheinung, die sich
bis in die Mitte uuseres Jahrhunderts zu wiederholen pflegt : eine
ganze Reihe ausländischer Gelehrter wurde verschrieben und die
Namen derselben haben bis heute einen guten Klang, während die
der russischen Professoren für die Wissenschaft werthlos blieben.
So hatte der Curator Rumowski berufen : Zeplin für das Katheder
der Weltgeschichte, Herrmann für die lateinische, Storl für die
griechische Sprache, Bünemann (BcHCMairb) für die Rechtswissen-
schaft, Fuchs für die Naturgeschichte, Braun für die «Mediän»,
Frehn für orientalische Sprachen, Bartels für Mathematik, endlich
den später berühmt gewordenen Littrow für Astronomie. Begreif-
licherweise konnten sich diese Männer in Kasan nicht glücklich
fühlen und lässt es sich nur durch die Schwierigkeit einer Rück-
reise auf eigene Kosten, wie durch die traurige politische Lage
ihrer Heimat, Deutschlands, zur Zeit des napoleonischen Joches
erklären, dass sie auf dem tatarischen Boden ausharrten, nachdem
sie mit den tragikomischen Verhältnissen an der neuen Universität
bekannt geworden waren.
Dennoch scheinen einzelne jener deutschen Professoren sich
schliesslich in Kasan recht wohl acclimatisirt zu haben, so war
z. B. Fuchs, Naturhistoriker und Arzt, dabei ein ungewöhnlich
wissbegieriger und vielseitiger Mann, späterhin eine äusserst populäre
Persönlichkeit in der Stadt. Andere, wie Bartels, Frehn und Littrow,
766
Eine Universität auf tatarischem Boden.
dem dejoorirenden Officier, sich zu erkundigen, weshalb einige Pro-
fessoren nicht erschienen waren, und ihnen mitzutheilen, dass sie
sich für die nicht ausgeführten Befehle ihrer Obrigkeit vor G e -
rieht zu verantworten haben könnten.» Von den geselligen Ver-
sammlungen bei dem Musiklehrer Neumann, wo sich die Professoren
mit Erlaubnis des Directors eingefunden hatten, spricht er tals
von geheimen Zusammenkünften verdächtiger Ausländer» — kurz,
die c intelligenten Deutschen» Kasans müssen keineswegs auf Rosen
gebettet gewesen sein.
Die Vorlesungen trugen gänzlich den Charakter der Zufällig-
keit, von einem Lehrplan konnte eben so wenig die Rede sein, wie
von der Existenz streng geschiedener Facultäten. So konnte es
geschehen, dass die Studenten aus einem Golleg, in welchem die
stylistischen Schönheiten der Lomonossowschen Oden analysirt
wurden, in ein anderes geriethen, wo die Theorie des Galvanismus
zum Vortrag kam oder Ovid gelesen werden musste, trigonometrische
Aufgaben gelöst wurden, deutsches Recht oder botanische Erläute-
rungen den Stoff bildeten. Eine solche Planlosigkeit des Studiums
war übrigens in jener Zeit so allgemein, dass auch Jakowkin daran
nichts auszusetzen fand, ja, den Curator bat, ihm einen Professor
zu schicken, dereine c Encyklopädie aller Wissenschaften» zu lesen
vermöge. Die Erfolge und Fortschritte, von denen er weiter be-
richtete, existirten natürlich nur in seiner bureaukratischen Phantasie
und auf dem Papier, wusste er doch, dass der greise Curator
schwerlich nochmals nach Kasan kommen würde. Er selbst ver-
stand es eben nicht besser, als nur auf Aeusserlichkeiten zu sehen
und dafür zu sorgen, dass der Schein, vor allem aber die Disciplin
gewahrt blieb. Beklagten sich die Professoren darüber, dass die
Studenten nicht im Stande seien den Vorlesungen in lateinischer
Sprache zu folgen, so erwiderte Jakowkin, daran sei blos die schlechte
deutsche Aussprache der Professoren schuld. Als jedoch Littrow,
der das persönliche Vertrauen des Curators genoss, nach Kasan
kam, wurde der Beweis geliefert, mit welch ungenügenden Vor-
kenntnissen die Studenten in die Universität aufgenommen bez.
aus dem Gymnasium entlassen waren. Littrow dictirte ihnen
nämlich drei ganz einfache, kurze Sätze, welche aus dem Russischen
ins Lateinische übersetzt werden sollten. Die Studenten meinten
hierzu lachend: c Sie wissen, wir nicht kennen !» (sie.) Trotz zwei-
stündiger Arbeit, der Erlaubnis, das Lexikon zu benutzen und den
Professor nach allem zu fragen, was ihnen unklar sei, ja, trotz
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7fi8 Eine Universität auf tatarischem Boden.
•
asiatischen Grenze. Als 24jähriger Jüngling war er, der Orienta-
list an der Universität Rostock, durch den Curator Rumowski
nach Kasan berufen worden und hatte hier den Grund zu einer
strengwissenschaftlichen Behandlung der orientalischen Sprachen
gelegt. Selbst Specialist für das Arabische und die semitischen
Sprachen, hatte er seinen zehnjährigen Aufenthalt in Kasan dazu
benutzt, das Tatarische zu erlernen und ausserdem die tatarische
Numismatik vollständig zu beherrschen. Wir brauchen hier nicht
näher darauf einzugehen, wie ungenügend und geistlos die Vor-
träge über russische Sprache und Literatur waren ; auch eine bei
der Universität bestehende literarische Gesellschaft leistete gar
nichts und ihre Werke blieben als «kindisch und unbedeutend
gänzlich nutzlos.
Sonderbar muss es erscheinen, dass bei dieser traurigen Lage
der Wissenschaft dennoch von der neuen Universität gelehrte
Diplome an Candidaten und Magister vertheilt wurden, ohne dass
jedoch die Inhaber dieser Würden in Wirklichkeit auf Bildung
Anspruch erheben konnten. «Was konnte überhaupt unter diesen
Verhältnissen, bei derartigen Studenten an wissenschaftlicher Arbeit
geleistet werden?» ruft Herr ßulitsch mit Recht aus, führt aber
dennoch die Namen einiger Studenten an, welche durch ihre kolossale
Begabung das Entzücken der deutschen Professoren erregten.
Unter ihnen ist besonders Nikolai Lobatschewski (1793—1856) zu
nennen, der ein wahres mathematisches Genie besass und späterhin
Professor und Rector der Universität Kasan wurde.
Seine erstaunlichen Fortschritte auf allen Gebieten der höheren
Mathematik veranlassten seine Vorgesetzten, das «grobe und unge-
horsame» Betragen des derben Burschen nachsichtig zu beurtheilen,
wenngleich Jakowkin sich immer und immer wieder veranlasst
sah, dem Curator über denselben zu klagen. In der c historischen
Darstellung von Lobatschewkis AurTühruug» werden seine Streiche
«merkwürdig» genannt, wird sein Charakter als «eigensinnig, arro-
gant und der Reue gar nicht zugänglich» bezeichnet und heisst es
noch dazu : «er beweist alle Anzeichen der Gottlosigkeit und nimmt
in Betreff seines schlechten Betragens die erste Stelle ein, so dass
seiue vorzüglichen Anlagen durch seine schändliche Conduite ver-
dunkelt werden.» Trotz dieser strengen Urtheile erhielt er im
Alter von 18 Jahren den Grad eines Magisters und begann drei
.fahre später bereits seine Vorlesungen an der Universität*
Im ganzen gestatten die Betrachtungen des Herrn Bulitsch
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770 Eine Universität auf tatarischem Boden.
Ist diese Verurtheilung Jakowkins und seiner Verwaltung
selbst aus dem Munde des ihm feindlich gesinnten Vorgesetzten
und Revidenten Magnizki nicht ohne Iuteresse, so erscheint dieser
in den Augen der Nachwelt in noch schlimmerem Licht; begab
er sich doch mit der Absicht nach Kasan, um cdie Universität
öffentlich zu vernichten (uyojiiiqiio pa3pyiuiiTb yiniiiepcHTcn>)» — ein
Gedanke, der des traurigen Systems würdig war, welches er, der
Obscurant vom reinsten Wasser, vertrat. Dennoch sind die Mit-
theilungen, welche er über die Zustände in der Universität machte,
in vielen Beziehungen wahrheitsgemäss. So sagt er z. B. : « Viele
Wissenschaften werden gar nicht vorgetragen, andere dagegen in
doppelten Collegien gelesen, um den Professoren und Adjuncten
ihre Gagen zu sichern. Die Gymnasiasten werden, ohne irgend
welche Kenntnisse zu besitzen, ohne Prüfung unter die Zahl der
Studenten aufgenommen, wenn sie unter Jakowkins Schutz stehen ;
seine Pensionäre besuchen als freie Zuhörer die Collegia und er-
halten dann Diplome.» Auch die administrative Thätigkeit Jakow-
kins erwies sich als äusserst unbefriedigend, «die Rechnungen be-
fanden sich in der grössten Verwirrung» ; hatte doch der greise
Curator sich von seinem Vertrauten dazu bewegen lassen, diejenigen
Professoren zu «entfernen», welche auf einer Rechenschaftsablegung
gegenüber dem Conseil bestanden.
So hatte die junge Hochschule durch die Entfernung und
Lässigkeit ihres greisen Curators, wie durch die Misgriffe seines
Vertrauten gleich von Anbeginn ihrer Existenz an mit Hindernissen
zu kämpfen, welche jede tüchtige, freiheitliche Ent Wickelung der
Wissenschaft, jeden Fortschritt europäischer Cultur auf diesem
tatarischen Boden fast unmöglich machten. Das aber, was Mag-
nizki beabsichtigte und späterhin theilweise aasführte, war noch
schlimmer : an die Stelle einer offiziellen Lüge trat eine andere,
noch widerlichere ; die Wissenschaft wurde noch mehr eingeengt,
und die moralische Verderbnis, welche von der heuchlerischen Ver-
waltung Magnizkis begünstigt wurde, hat Spuren hinterlassen, die
noch lange nachher sichtbar blieben, weil sie ihre Stütze in den
zweideutigen Beziehungen der massgebenden Kreise Russlands zu
der misverstandenen Wissenschaft hatte.
Weiter vermögen wir die Entstehungsgeschichte der Univer-
sität Kasan nicht zu verfolgen, da das Buch des Herrn Bulitsch
uns nur bis zu dem Jahre 1819 führt. Zum Schluss sei noch auf
einige treffende Ausführungen hingewiesen, mit denen Herr Pypin
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772
Eine Universität auf tatarischem Boden.
Adj mieten der neuen Universität Lobatschewski und Simonow war
und in den 40er Jahren einen der ersten Professoren, Fuchs, noch
persönlich gekannt hatte.
Unter solchen Umständen hat Herr Pypin das Recht, einen
melancholischen Seufzer seinen Betrachtungen nachzuschicken, dessen
Adresse, wenn wir nicht irren, wol in Moskau zu suchen ist : «So
jung ist bei uns das Bestehen einer höheren Bildung, der Wissen-
schaft! Vor so kurzer Zeit überstand unsere russische Gesellschaft
die geistige Impfung durch dieselbe Vermittelung von Ausländern,
bei derselben Theilnahmlosigkeit der öffentlichen Meinung, wie zur
Zeit Peters des Grossen. Da könnte man sich füglich wol der
Klagen enthalten, dass unsere Gesellschaft in der petrinischen Epoche
sich so entschieden von den alten Traditionen losgerissen habe,
um sich dem «westlichen Fortschritt» in die Arme zu werfen!»
Johannes E c k a r d t.
774
Bericht über ein altes Tagebuch.
Aber es scheint nur so. Sittengeschichtlich sind Berichte,
in deuen Bilder des Alltags wiedergespiegelt werden, wichtiger als
Bekenntnisse ausserhalb der Linie stehender Meuschen. Wer
wissen will, wie man zu einer bestimmten Zeit gedacht und em-
pfunden hat, wird bei denjenigen anfragen müssen, die sich an
dem Bildungsinhalt und der Empfindungsweise ihrer Zeit genügen
Hessen. Nur wenn die auf culturgeschichtliche Fragen ertheilten
Aut Worten ausser der individuellen eine typische Bedeutung haben,
werden sie als Zeugnisse für die Vergangenheit in Betracht kommen.
Der Werth solcher Berichte wird aber nicht sowol durch den
Ideenreichthum des Berichterstatters, als durch dessen Empfänglich-
keit für innere und äussere Eindrücke und durch die Tiefe der
Empfindung bedingt sein, mit welcher das Gesehene und Gehörte
aufgenommen worden. Denn nur in dem Spiegel eines tiefen und
warmen Gemüths kommen d i e Bilder zu richtiger Erscheinung,
welche uns über das Wesen einer vergangenen Zeit Auskunft
ertheilen können.
I.
An Reichthum der Gemüthsent Wickelung und Tiefe der Em-
pfindung ist das Geschlecht, auf dessen Schultern wir stehen, von
keinem anderen übertroffen worden. Die enge Begrenzung, welche
dem damaligen baltischen Pro vinzial leben gesteckt war, die Ein-
förmigkeit, in welcher die meisten Existenzen verliefen und die
Undeutlichkeit der am Horizont auftauchenden Bilder sorgten da-
für, dass die «Generation vor uns> die Welt des Herzens für
ihren Hauptreichthum ansah und in der Vertiefung gemüthlicher
Beziehungen Ersatz für Armuth und Farblosigkeit ihrer äusseren
Umgebung suchte. Jedes Blatt des vorliegenden Tagebuchs be-
weist, wie weit man es zu jener Zeit in der Kunst gebracht hatte,
die Erlebnisse des Tages durch vertiefte Auffassung und liebevolle
Hingabe an anscheinend kleine Aufgaben zu adeln. Durch das
gesammte kleine Buch aber zieht sich als rother Faden e i n Ge-
danke, der damals von Vielen und zwar von den Besten getheilt
wurde und auf den sich heute nur noch Einzelne besinnen mögen :
die Meinung nämlich, dass jeder Schritt auf der Bahn geläuterter
Religiosität zugleich einen Fortschritt des Landes bedeute und
dass auf keinem anderen Wege als diesem vorwärts zu kommen
sei. Unter dem Eindrucke der trüben Vorgänge der 40er Jahre
stehend, bekennt der Tagebuchschreiber sich mit zunehmender Ent-
schiedenheit zu der Ueberzeugung, dass das moralische und materielle
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770
Bericht über ein altes Tagebuch.
um den sittlichen Fortschritt derselben von der ökonomischen
Emancipation bedingt zu wissen, huldigte der grösste Theil der
livländischen Geistlichkeit Grundsätzen, welche man die liberalen
nannte. Die Unmöglichkeit, eine arme und abhängige Land-
bevölkerung zu wahrer menschlicher und christlicher Bildung ver-
holten zu sehen, war so handgreiflich, dass Landprediger, die es
mit ihrem Amte ernst nahmen, Liberale im landesüblichen Sinne
des Wortes sein m u s s t e n. Niemals ist die Zahl tüchtiger,
fähiger , für ihre Aufgaben begeisterter livländischer Prediger
grösser gewesen, als im Zeitalter des wiedererwaehten kirchlichen
Bewusstseins. Unzweifelhaft sind in der Hitze des gegen rationa-
listische Selbstzufriedenheit und hermhutischen Separatismus ge-
führten Kampfes mannigfache Fehler begangen worden — die Ge-
sinnung, welche dieser Kampf trug, und der Feuereifer, mit welchem
die Kämpfer sich die Förderung der Volksbildung angelegen sein
Hessen, verdienen nichts desto weniger die höchste und dankbarste
Anerkennung. Jedes Blatt unseres Tagebuchs bezeugt, dass es in
der That ein neuer und besserer Geist war, der seit Ausgang der
40er Jahre in die herrschenden Schichten unserer Gesellschaft fuhr
und dass kein anderer Stand um diese sittliche Erneuerung so er-
hebliches Verdienst erworben hat, wie der geistliche. Die Kirche
stand auf der Höhe ihres Einflusses, weil sie zugleich eine religiöse
und eine sociale Aufgabe zu lösen hatte und weil sie über ein
aussergewöhnlich grosses Mass hervorragender Talente gebot. Auf
gleich engem Raum mögen nur selten so viele ausgezeichnete
Kanzelredner, feinsinnige Seelsorger und Gedankenveredler zusammen
gestanden haben, wie damals, wo jede Synode, jedes in grösserem
Styl gefeierte Missions- und Bibelfest eine Art Ereignis bildete
und wo die bei solchen Gelegenheiten zum Ausdruck gekommenen
guten und fruchtbaren Gedanken durch hundert kleine, schier un-
sichtbare Canäle über das halbe Land geleitet wurden. Ueber
das halbe Land, weil Lettland und Estnisch-Livland zwei ver-
schiedene, nur mangelhaft mit einander verbundene Welttheile
bildeten. Was es mit dieser Bewegung auf sich gehabt, ist mir
nie verständlicher gewesen, als bei Leetüre unseres Tagebachs.
Der Tagebuchschreiber hat niemals eine Landes- oder Sprengels-
synode mitgemacht, das nördliche Livland kaum öfter als ein halbes
Dutzend Male besucht ; mit eigentlicher Theologie hat er nichts
zu schaffen und pietistischen Neigungen steht er so weit ent-
fernt, dass seine Aufzeichnungen von Bällen, Jagden und anderen
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778
Bericht über ein altes Tagebuch.
dass der bekannte Aussprach, nach welchem allein das Mass über-
nommener Pflichten dem Menschen den Werth giebt, «bei uns»
besondere Bedeutung habe. — Damit geht eine Liebe und Werth-
schätzung des lettischen Volksthums Hand in Hand, in welcher
der Tagebuchschreiber sich mit seinen Freuuden und Gesinnungs-
genossen aufs eugste verbunden weiss. Mit zuweilen überschwäng-
licher Freude werden die aus der Volksmasse hervorragenden ehr-
würdigen Gestalten einzelner patriarchalisch waltender Kirchen-
vormünder, Aeltesten und Gemeinderichter als Bürgen einer besseren
Zukunft des gesammten Volkes begrüsst und Zeiten erwartet, zu
denen Männer vom Schlage des würdigen Sahrum (des letzten
Liven), des trefflichen Panke und anderer seitdem längst ver-
gessenen lettischen Volksgrössen nationale Typen bilden würden.
Mit Stolz und Befriedigung wird auf die ungeheuren Fortschritte
hingewiesen, welche das liviändische Rochdaln, das zum Sitze einer
Gemeinde freier Grundbesitzer gewordene Rujen in Bezug auf
Wohlstand und Bildung gemacht habe — mit beneidenswerther
Illusionsfähigkeit die Ueberzeugung ausgesprochen, dass «der Liebe»
gelingen müsse, aller noch übrig gebliebenen Hindernisse unserer
Wohlfahrt Herr zu werden — alle Gegensätze zu überbrücken
und auszugleichen. Anzeichen dafür glaubte man insbesondere
während der auf die Beendigung des Krimkrieges folgenden Zeiten
allgemeinen Aufathmens und froher Zukunftshoffnungen mannigfach
entdecken zu können. Zwischen die Blätter des Tagebuchs ist
ein Brief gelegt, in welchem ein Freund dem Tagebuchschreiber
über Fölkersahms Beerdigung (24. April 1856) berichtet, indem er
dessen Aufmerksamkeit vornehmlich auf einen Punkt richtet :
« Ehe wir in die festlich geschmückte Jacobykirche traten,
meldeten sich zwölf rujensche grundbesitzende Bauerwirthe bei K.
Sie hatten auf die erste Nachricht von dem Tode ihres ehemaligen
Herrn, des Begründers ihrer Selbständigkeit, Postpferde genommen,
um ihrer Trauer und dankbaren Anerkennung öffentlichen Aus-
druck zu geben Grossen Rindruck machte mir die Antwort, welche
der athletische Gemeindegerichtsvorsitzer unserem K. ertheilte, als
dieser ihn fragte, ob er (der Vorsitzer) seine Gefährten zu dieser
Reise bestimmt habe: «Ta roe§ nebit) t (So war es nicht.) Als die
Nachricht zu uns kam, war es, als ob Feuer unter uns gekommen
sei (ta fa arr ungun) und die zwölf nächstbenachbarten Wirthe
machten sich sogleich mit mir auf. Zwei Alte (roc^inttfi) wollten
auch noch mit, wir Hessen das aber nicht zu und reisten so eilig
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780
Beliebt über ein altes Tagebuch.
und Disputationen berichtet, die sich auf halbe Tage ausdehnen
und die ganze Wochen nachklingen. Man bleibt beim Kaffeetiscli
sitzen, bis es Mittagszeit geworden, man lässt angeschirrte Pferde
und reisefertige Wagen warten, man vergisst den auf Bescheid
harrenden « Starost >, weil man die aufgeworfenen Fragen durch-
sprechen, das Ergebnis begonnener Kämpfe abwarten will, um be-
stimmende Resultate, bleibenden Gewinn in die stille Einsamkeit
mitzunehmen, auf welche man sich im regelmässigen Laufe der
Dinge beschränkt weiss. Was von des Lebens holdem Ueberfluss
vorhanden ist, wird weder zu raffinirtem Genuss, noch zu anspruchs-
voller Repräsentation benutzt, sondern als Mittel zur Sicherang
reiferer geistiger Bewegung geschätzt und in den Dienst höherer
Interessen genommen. Eng waren die Kreise allerdings gezogen,
in denen das Leben diese Gestalt annahm ; als Aristokrative der
Geburt konnten dieselben indessen eben so wenig bezeichnet werden,
wie als Geistesaristokrative : es waren Aristokrative
des Gemuths und des Empfindungslebens, von denen damals
die stärksten und bleibendsten Eiuflüsse geübt wurden. Zu ihnen
hatte nahe jeder Zutritt, der Eigenes mitzubringen und seine
Mitgliedschaft durch den Adelsbrief eines gebildeten Geistes und
fein gestimmten Gemüths zu legitimiren vermochte.
Zum Verständnis des geistigen Lebens vergangener Zeit-
abschnitte ist eine gewisse Bekanntschaft mit den Quellen un-
entbehrlich, aus denen frühere Geschlechter ihre Bildung zogen. In
Ländern, deren Bewohner den grössten Theil des Jahres hinter
geschlossenen Thüren und Fenstern verbringen, pflegt das gedruckte
Wort eine Rolle zu spielen, die hinter derjenigen der lebendigen
Rede wenig zurückbleibt. Zeugnisse darüber, was vor dreissig
und vierzig Jahren in unserem Lande gelesen worden, erscheinen
aus diesem Grunde eben so bemerkenswerth, wie Berichte über das
Denken, Handeln und Empfinden derjenigen, die vor uns auf
livländischer Erde gesessen haben.
Dass die am meisten und von den Meisten gelesenen Schriften
Schul- und Andachtsbücher sind, ist von altersher bekannt und
allenthalben giltige Regel. Wer jemals ältere Briefe und Tage-
bücher mit einiger Aufmerksamkeit studirt hat, wird über diesen Punkt
nicht zweifelhaft sein und ziemlich genau erfahren haben, welche Er-
bauungsschriften neben Bibel und Gesangbuch die Hauptstellen in alten
II.
782
Bericht über ein altes Tagebuch.
sohns gelten und trotz der grossen mit ihrer Inscenirung verbundenen
Schwierigkeiten Anklang und Nachahmung finden, weil sie zugleich
dem künstlerischen und dem religiösen Bedürfnis entsprechen, eben so
genussreich wie erbaulich wirken. Neben den Schöpfungen Mendels-
sohns wendet man sich denjenigen Händeis und Haydns zu : der
Cultus Bachs kommt erst ein reichliches Jahrzehnt später in Uebung.
Bei diesem letzteren Umstände darf für einen Augenblick
verweilt werden. Unser «Tagebuch» bestätigt die bereits früher
gemachte Wahrnehmung, dass der Geschmack für reine und strenge
Klassicität sich bei uns später entwickelt hat, als das Verständnis
für Neuklassicität und Romantik. Schiller und Körner waren sehr
viel früher populär, als Goethe, Shakespeare und als die weiteren
Kreisen erst neuerdings zugänglich gewordenen Tragiker des Alter-
thums ; in den fünfziger Jahren wurden die Lieder Schuberts und
Schumanns von Musikenthusiasten gesungen, welche die unsterblichen
Weisen des Figaro und der Zauberflöte lediglich aus dem Theater,
die Beethovenschen Gesangstücke überhaupt nicht kannten — von
Enthusiasten, die geneigt waren, Webers Opern über diejenigen
Mozarts zu stellen. Ausserordentliche Verdienste um die musika-
lische Bildung des alten Livland hat das von E. Weller geleitete
rigasche Streichquartett erworben, dessen allwinterliche Kunstreisen
in den kleinen Städten des Landes Epoche machten und von der
Heerstrasse weiter ab wohnende Kunstfreunde zu förmlichen Wall-
fahrten veranlassten. In dem Tagebuch werden diese Veran-
staltungen wie Ereignisse behandelt, die unvergängliche Goldfäden
durch trübe und lichtlose Lebensabschnitte zogen, ja, mit religiösen
Erbauungen auf die nämliche Stufe gestellt werden konnten. In
den Seelen der anspruchslosen Kunstfreunde Alt-Livlands haben
die grossen Meister Triumphe gefeiert, welche den Absichten jener
Unsterblichen näher kamen, als die brausenden Beifallsspenden
überfüllter Concerthäuser. Hier wusste man noch, dass die Kunst
eine sittliche Mission habe — hier war es buchstäblich zu nehmen,
dass die Kunst um die gemeine Deutlichkeit der Dinge den goldenen
Duft der Morgenröthe webe und dass sie eine Erlösung vou der
Ewiggestrigkeit des Lebens bedeuten könne. -- Dafür kommen die
bildenden Künste für die damalige Entwickelung kaum in Betracht.
Auf zehn zutreffende Urtheile unseres Tagebuchs über Werke der
Tonkunst kommt kaum eins, welches von richtiger Würdigung
eines Bildes oder einer Statue zeugte. Der Geschmack iu diesen
Dingen war unsicher oder durch vorgefasste Meinungen bedingt,
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784
Bericht über ein altes Tagebuch.
lässt sich den Muth und das Recht selbständiger Meinung indessen
nicht verkümmern und ist entschlossen zu wählen, wie es cutis»
gemäss ist. — Die Vorherrschaft derjenigen, welche diese An-
schauungen zum Ausdruck brachten, stützte sich in nicht uner-
heblichem Masse auf die Zustimmung der Frauen, deren stiller, aber
unabweislicher Einfluss kaum jemals grösser gewesen ist, als damals,
wo der weibliche Bildungseifer den männlichen sehr häufig übertraf.
Vollstäudig wird das Bild der hier in Rede stehenden In-
ländischen Periode aber erst, wenn man in Betracht zieht, dass
die einheimische literarische Production während der .Fahre 1835
bis 1859 fast vollständig ins Stocken gerathen war. Von den
obenerwähnten einheimischen Predigtbüchern und vereinzelten theolo-
gischen Abhandlungen abgesehen, thut das Tagebuch kaum eines
einzigen innerhalb Landes erschienenen Buches Erwähnung. Was
sich auf einheimische Verhältnisse und Interessen bezog, wurde
mündlich verhandelt und auf dem Wege der häuslichen Verständi-
gung zum Austrag gebracht, — die wenigen in Riga und Dorpat
erscheinenden Zeitungen aber kamen höchstens als Berichterstatter
über Thatsachen, ja, kaum als solche in Betracht, weil sie die wichtig-
sten Dinge häufig unerwähnt Hessen . Die «Getauften, Copulirten
und Begrabenen» der «Rig. Stadtblätter» und die Nekrologe des
«Inland» bildeten (uach Georg Berkholz' witziger Bemerkung) den
wichtigsten Theil des einheimischen Lesestoffs. Selbst das in früherer
Zeit ziemlich fleissig angebaut gewesene Feld der livländischeu
Geschichte wurde von dem grösseren Publicum der 40er und 50er
Jahre nur selten beschritten. Die einst viel gelesenen Schriften
Jannaus, Merkels, Thieles &c. galten aus guten Gründen für ver-
altet — von den Forschungen Napierskys uud Bunges und den
neu aufgelegten *Scriptores rerum* nahm man an, dass sie nur für
Gelehrte bestimmt seien, neuere lesbare Bücher über diesen Gegen-
stand aber sollte es nicht geben ; während man das unbedeutende
Werk Kurt von Schlözers wenigstens gelegentlich zur Hand nahm,
scheint Kruses treffliche Geschichte «Kurland unter den Herzögen
nördlich von der Düna» wenig bekannt geworden zu sein — Kur-
land lag für viele Leute noch ausserhalb der Welt, und von Est-
land hörte man höchstens in Pernau und Dorpat zuweilen reden.
Endlich war von lettischer und estnischer Literatur so wenig die
Rede, dass die Verhandlungen der beiden mit der Erforschung
dieser Sprachen beschäftigten Gesellschaften ausserhalb gewisser
pastoraler Kreise so gut wie unbeachtet blieben.
Notizen.
Herder» Briefwechsel mit Nicolai. Im Originaltext heraus
gegeben von Otto H o f f iu a n n. Mit einem Facsimile. Berlin,
Nicoliusche Verlagsbuchhandlung. 1887. S. 144. 8.
.is kleine Büchlein beschäftigt sich mit dem deutschen
feSoRj Klassiker, der seine reichsten und schönsten Lebensjahre
bei uns gelebt hat, mit Herder. Von eben diesen Jahren geht der
zwar nicht unbekannte, vielmehr von H. Düntzer in seiner Samm-
lung <Von und an Herder» bereits veröffentlichte Briefwechsel aus.
Während Düntzer aber nur ungeschickt gemachte Abschriften vor-
lagen, aus denen er manche Stellen und auch einige Briefe ganz
fortgelassen, ist der vorliegende vollständige Abdruck aus den
Originalbriefen genommen, die jetzt im Besitze der königlichen
Bibliothek zu Berlin sind. Der diplomatisch genauen und mit allen
nöthigen Erläuterungen versehenen Ausgabe sind dann noch, zum
ersten Male, die Briefe beigefügt, welche Herders Gattin nach
dem Tode ihres Gemahls mit seinem früheren Redacteur austauschte.
Aus ihnen »klingt ein versöhnender Schlussaccord zu den unharmoni-
schen Lauten, in die der Briefwechsel der beiden Männer austönte.
Caroline legt gleichsam ein frisches Reis des Friedens zu den ver-
welkten Blättern t.
Der Reiz des Buches — und den hat es für den Ref. in
hohem Grade gehabt — liegt darin, dass es eine abgeschlossene
Periode des Seelenlebens Herders, die mit seinem Verkehr mit
Nicolai, wenn auch nicht gerade in ursächlichem, so doch in sehr
bedingtem Zusammenhange stand, in voller Unmittelbarkeit zur
Anschauung bringt. Der Briefwechsel führt uns den jungen Schrift-
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788
Notizen.
Nicolais war nicht geeignet und beabsichtigte auch nicht das inner-
lich längst gestörte Verhältnis wieder herzustellen.
Die Leetüre des Briefwechsels ist selbst nach der Kenntnis
der so trefflich eingehenden und unparteiischen Herderbiographie
von Rudolf Haym wohlgeeignet, die literarischen Strömungen und
Kämpfe der Jahre 17GG— 74 und Herders Stellung in denselben
zu vergegenwärtigen und das Werden des Conflicts zu veranschau-
lichen, in den Herder nach und nach zu dem Wortführer der
Literatur jener Periode gerathen musste. Zugleich aber will es
uns dünken, dass Nicolais Persönlichkeit weniger abstossend aus
seinen Briefeu hervortritt, als sie gemeinhin dargestellt zu werden
pflegt. Fr. B.
Ciraf L>. A. Tolstoi, Die Stndtsihulen wahrend dir Regierung der Kaiserin
Katharina II. Au« dem Russisehen übersetzt von 1\ v. K ii g e 1 g e B.
St. Petersburg 1887. S. 200. 8.
Von den drei Büchern des Grafen Tolstoi zur Geschichte der
Pädagogik unter Katharina II. ist das vorliegende, vielfach bereits
besprochene, das umfänglichste und seinem Inhalte nach bedeutendste.
Es stellt den Leser von vornherein auf eine höhere Warte, von der
aus er einen Ueberblick über den Stand des Volksschulwesens eines
guten Theils vou Europa während der achtziger Jahre des vorigen
Jahrhunderts gewinnt und in die idealistisch-kosmopolitische Strö-
mung jener Periode eingeführt wird. Der Umstand, dass der
Kaiserin Blick seit dem Erlass der Statthalterschaftsordnung auch
dem Schulwesen sich zuwandte und den neu errichteten Collegien
der allgemeinen Fürsorge den vorgeschriebenen Wirkungskreis auch
auszufüllen gedachte , führte sie bei ihrer Zusammenkunft mit
Joseph II. in Mohilew auf das ihr schon empfohlene österreichische
reorganisirte Schulsystem. Von dessen günstigen Wirkungen wusste
der Kaiser so lebendig zu erzählen, dass seine Zuhörerin einen
bleibenden Eindruck gewann. Sie ist ihm nachgegangen und hat
nach zwei Jahren sich zur Annahme des gerühmten Systems ent-
schlossen.
Diese Thatsache giebt dem Verfasser Aulass zu einer höchst
durchsichtigen und fesselnden Darstellung der Eutwickelung des
österreichischen Schulwesens unter Maria Theresia, welches durch
den von Joseph auf Katharinas Bitte ihr überlassenen serbischen
Schulmann Jankovics de Mirievo nun nach Russland übertragen
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71K)
Notizen.
züglichsten Lehrbücher, sondern auch die hervorragendsten uud
vorzüglichsten Werke zum Lesen besitzen, was freilich dem russi-
schen Volk bei der erst vor wenigen Jahren begonnenen Einrichtung
öffentlicher Volksschulen einstweilen noch mangelt, und deswegen
ist die Abfassung von Lehrbüchern für diese eben so nothwendig,
als eine Uebersetzung für die deutschen Schulen überflüssig wäre.»
Die Commission, erzählt Graf Tolstoi nach dem Protokoll, fand
diese Vorstellung erfüllt von frechen Ausdrücken, von ironischen
Wendungen, von Tadel gegen die höchste Gewalt, welche die Com-
mission gegenüber dem Schulamt darstellt, von unstatthaften Wider-
legungen, welche einer untergeordneten Behörde gegenüber den
Resolutionen ihrer Oberbehörde eben so wenig geziemen, als sie
unbegründet sind u. s. w. — Die Differenzen dauerten fort, das
Schulcollegium weigerte sich beharrlich der unnützen Arbeit und
im J. 1791 fing die Schulcommission selbst an die russischen Schul-
bücher ins Deutsche übersetzen zu lassen, € was nicht schwer war,>
sagt Graf Tolstoi, «da der grösste Theil derselben aus dem Deutschen
ins Russische übersetzt oder nach deutschen Büchern umgearbeitet
worden war> ; diese Uebersetzungen sandte die Commission zum
Druck ins Schulcollegium. Aber hier entsinnt sich der Verfasser,
dass er nicht nur Geschichtsforscher ist: er berichtet, aber
urtheilt nicht.
Z u r ü e s c h i c h t e der St. P e t r i s e h n 1 e in St, Petersburg.
1. Theil. Gesehichte der St. Petrisehule von 1802-87. Von Ernst
Frielendorf f.
2. Theil. Das Lehrerpersonal der St, Petrisehule von 1710—1887. Von
Julius I Versen. St, Petersburg 1887. 8.121 + 67. 8.
Von der umfassenden Ueberschau, die das eben besprochene
Buch von hohem Standpunkte über eine entlegene Zeit und ein
weit ausgedehntes Arbeitsfeld gewährt, auf dem der Blick nur
spärliche Früchte und von zweifelhafter Güte findet, wenden wir
uns gern zur Schilderuug einer blühenden, sich erfolgreich steigern-
den Thätigkeitssphäre der Gegenwart, wie sie die Arbeit des
Directors der St. Petrischule bietet. Im J. 1862 hatte sich ein
Jahrhundert dieser Anstalt vollendet und war ihre Geschichte durch
Dr. C. Lammerich in einem starken Bande in aller Umständlichkeit
geschrieben. Jetzt, da seitdem wieder 25 Jahre dahingegangen,
hat es den gegenwärtigen Leiter zur Fortführung des Werkes ge-
drängt. Und er hat wohl daran gethan. Denn wer weiss, ob
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792
Notizen.
gegenübertritt. Was der Verfasser als solchen anführt, das genannte
Werk Listowskis, Ssamarins «Rossische Grenzmarken», Philarets
«Geschichte der Kirche Russlands» und «andere geistliche Zeit-
schriften, welche dem Verfasser, dank der Liebenswürdigkeit des
Vorstehers der Kaiserlich Russischen Botschaftskirche zu Berlin,
Propst Alexius Maltzew, bereitwilligst zur Verfügung gestellt
wurden» — wird schwerlich mehr als die gebührende Würdigung
erfahren. Erzählungen, über deren Herkunft man nicht genauer
belehrt wird, als es hier geschieht, und welche den Charakter der
seinerzeit von Juri Ssamarin veröffentlichten Memoiren des Indrik
Straumit an sich tragen, pflegt man — wir constatiren nur die
wissenschaftliche Gewohnheit der Deutschen — mit Mistrauen und
Zweifel aufzunehmen. Sodann stimmen luhalt, Ton und Auffassung
dieser Schrift nicht überein mit ausführlicheren Darstellungen jener
Zeit, die vou der anderen Seite geliefert worden sind und welche
den in den Augen der deutschen Historiker unbestreitbaren Vorzug
haben, ihren wissenschaftlichen Anforderungen Genüge zu leisten.
Der Verfasser hat sich nicht die Mühe gegeben, auf jene einzu-
gehen und deren Unrichtigkeit nachzuweisen. Endlich aber ist die
Rechtsfrage, das Princip des ganzen Streites, vollständig bei Seite
geblieben und damit der nothwendige Boden für eine Beurtheilung
der angeführten Thatsachen nicht geschaffen worden. Wir müssen
es uns versage», hier auf Schriften aufmerksam zu machen, welche
dem letzterwähnten Mangel in historisch und juristisch unanfechtr
barer Weise abgeholfen haben.
Dass der Verfasser mit seinem Auszuge mehr hat geben
wollen, als eine geschichtliche Darstellung, erhellt aus dem Schluss,
welcher die «heftigen Anklagen gegen die russische Regierung» von
Seiten der livländischen Ritterschaft und der Evangelischen Allianz
in seiner Weise würdigt. Wir werden darüber belehrt, dass die
sogenaunte Baltische Frage zwei Seiten habe, eine kirchliche
und eine politische. « Beide werden oft verwechselt — zu-
weilen wol mit Absicht, wie ich vermuthe — während sie doch
sorgfaltig auseinandergehalten werden sollten. Die orthodoxe Kirche
treibt keine Propaganda, und niemand wird in Russland seines
Glaubens wegen verfolgt oder unterdrückt. — Thatsache ist, dass
sowol in den baltischen Provinzen wie überall in Russland völlige
Gewissensfreiheit herrscht, dass Muhamedaner, römische Katholiken
und Protestanten in voller Freiheit ihre Religionen bekennen uud
ausüben können.
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Notizen.
r
Buch nicht legen, aber dankbare harmlose Leser wird es finden,
da es in warmer Liebe für den vaterländischen Boden geschrieben
ist und in dem anspruchslosen Erzählerton ausser vielem Neben-
sächlichen auch manche anziehende Notiz mitzutheilen weiss.
Namentlich das Capitel cvor hundert Jahren» ist lange nicht be-
kannt genug, um nicht vielen Neues zu bringen und die heutigen
Alten in die Werdezeit ihrer Grossväter zu versetzen. Als Werk-
stücke zu einer einstigen Landeskunde unserer Provinzen wollen
wir denn auch von vornherein die noch ausstehenden Bände will-
kommen heissen. Fr. B.
4
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. - J
Berichtigung:
Heft 8 S. 71« Z. Iii v. n. I. «und von Rigai st. und Riga».
Verantwortlicher Riitactenr: Heinrich Hollander.
Äonnojenno ueinypo». - Pceei», 93-ro MapTa 1S8S r.
Uodruckt boi I.in.lfors* F.rtiiri in K»val.
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