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Full text of "Baltische Monatsschrift"

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Baltische 
Monatsschrift 


Ißrintetou  Inibjeraitg. 


Baltische 


Monatsschrift, 


Herausgegeben 


von 


obert  Weiss. 


XXXIV.  Band. 


Reval,  1888. 

In  C  o  m  m  i  s  s  i  o  n  bei  F.  Klage. 
:  A.  Stieda.  L,|pzlB .  Rud.  Hartmann. 


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Aojiwueiio  unuypoiu.       I'cim-ji.,  2.'*-ro  Mapra  1888  r. 


Gedruckt  bei  MnJfon'  Erben  iu  Koval. 


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Inhalt. 


Seite 


Die  Eigenthumsfrage  der  Neuzeit.  I.II.    Von  Frof.  Dr.  Schmidt« 

War  neck  1  95 

Ein  Jugendlebeii  aus  Alt-Kurlands  Tagen.  Von  Peter  Baron  Drachen- 

f«>  1  *   ~~  32 


uie  eisiv  l  niver.sirar  in  KnMinna.     \  nn  .1  n  n.  h  f.  k  h  r  n  1  

v  1 

n  1 

92 

Rückblick  auf  die  Agrargesetzgebung  für  die  baltischen  Kroudoinancu. 

1 .14 

'  ß      _                 Ii               .'             \     '          '.         \                  I                           C"%        1           a  jH»                  IV                                                           1     -  -VT 

170 

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l'ilSITC  ntMlirrKf'IlSWtTinCSlt'n  rMUfJVO£(*l.    L.    LI.     V  UU   U  8  K  Iii   ».  UOWll  — UU 

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Beitruge  zur  Bevölkerungsstatistik  Estlands.    1.  II.    \  ou  J.  Nieländer 

223 

Olli 

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\T  A\  I"  1  VATI             \,*  <TiT»      \i    <V  IT        Ttl  TT  fl      Xi^  w  1} 

—  > » . ' 

Die  (tegenreforinatinn  und  die  ngasche  Domschnlo.    Von  Fr.  Holl  mann 

279 

Die  Lepra  und  i.:re  Gefahr  für  Riga.    Von  Dr.  A.  Bergmann  .   .  . 

15 — T* — I — -      ._.!.■     L  —  w—i — j  1 — —   i         ■   i  1  ooo    

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IjTIB   i  Hill  1  ,i  1 1  v  1 1    \ur  llll.i   

'■17 

Kevals  Garmsonstrciiieit  im  (  ontlict    mit  de*   BCb wetf  lachen  Regierung. 

\  '  .  _     11T  /l 

4  1  o 

144 

Richard  Baron  Wulff  +  

448 

451 

Kine  Nachlese  zur  deutschen  Mundart  in  Estland.    Von  Dr.  K.Salliuaun 

4M 

Am  Sarge  Ferdinand  Bergs.    Von  Dr.  Gustav   P  <<  e  1  c  h  a  u  .... 

472 

Deutsche  Sehrift-  und  rmgangssoraehe.  Von  Oberlehrer  E.  West  er  ma  n  n 

480 

Zur  inneren  Colonisation  in  l'reussen.    Von  Dr.  Ludwig  Fuld 

492 

öl  i 

Knustgeschichtlichea  aus  Narva.    Von  W.  Naumann  

524 

Notizen.   Von  S..  C.  F..  Fr.  B.  und  Dr.  A.  B  

Uo 

Binshof  Dr.  Johannes  Riidberkins  und  die,  erste  eritliindische  Proviuzial- 

637 

Die  sibirisch  uralische  Ausstellung  in  Jekaterinburg.  Von  Alex.  Simonson 

588 

tMM 

629 

Polnische  Wirthachaft  in  Livland  I   II.  Von  \V.  (i  r  e  i  f  f  e  n  h  a  g  e  n  669 

721 

Taras  Grigorje witsch  Schewtachenko.    Biogr  kritische  Skizze  eines  klein 

russisc  len  Dichterlebens.  I.  IL  Von  Woldemar  Fischer  684 

740 

Heiniatsbrief  ans  der  Fremd«.    Von  r.   

707 

Notizen.    Von  J.  Lenz  und  F  r.  B  

714 

Eine  Universität  auf  tatarischem  Boden     Von  Johannes  Eckard  t 

757 

Bericht  über  eiu  alte«  Tagebuch.   Von  x   .... 

778 

Notizen     Von  Fr.  B 

78t; 

An  die  Leser   

71*5 

500983 


Seite 


B  v  s  ji  r  o  e  h  «•  n  c    B  ii  «•  Ii  «•  r. 

Alfred  Fonillee,  Lcs  Hudes  riceutes  rar  Ut  proprüU.  Revue  des  deux 

motule*.    Juin  1884    7 

(iraf  D.  A.  Tolstoi,  Das  akadem.  Gymnasium  und  die  akademische 
Universität  im  XVIII.  Jahrb.  Aus  dem  Rtias.  von  P.  v.  Kttgelgea 
St.  Petersburg  I886   81 

A.  K.  Borosdin,  Di«<  akadem.  Cnivcrsität  im  XVIII.  Jahrh.  Hit.  Bt.CTii. 

April  18MU  81 

N.  Carlberg,  Sammlung  statistischer  Naelirichten  über  IJvland.  Riga  1886  92 

F.  Nerling,  Die  Bibel  als  die  Hcilsoncnbariing  Gottes  ist  auch  für  den 

Einzelnen  Gnadenmittel  und  Quelle  des  Glaubens.    Keval  1886  .    .  170 

Fried  r.  Biene  mann,  Conrad  von  Scharfenberg.    Strasburg  1886    .    .  2H9 

J.  T  h.  Helmsing,  Leitfaden  der  Kirchengesehiehte.  3.  Aull.  Dresden  1887  272 

Konat.  Höh  lbauin  ,  Hansisches  Urknndenbuch.  Bd.  III.  Halle  1882  86  273 
Carl   Hunnius,  Luther,  der  Schopfer  der  protestantischen  Schule,  als 

Knabe  und  Schüler.    Riga  1887    278 

Jul.  Hasselblatt,  Hist.  Ucberblick  der  Entwicklung  der  kais.  russ. 

Akademie  der  Künste.    St,  Petersburg  1886    380 

Herin.  Hildebrand,  Livonica.  vornehmlich  aus  «lein  13.  Jahrhundert,  im 

Vaticanischen  Archiv.    Riga  1887    454 

Russisches  Novellen  buch,    P ebersetzt  von  C  o  u  s  t.  J  ü  r 

gen  s.    1.  Bd.    Mitau  1886    .    .    .    .'   456 

B.  II.  Iie30GpaaOBV  Hnpnjuioe  xo:wficTBO  Poccifi   Cnö.  1882.  85  .    .       .  514 

A.  v.  Bulmcrincq,  C'onsularrecht.    Hamburg  1887    540 

Axel  Harnack,  Leibniz  Bedeutung  in  der  Geschichte  der  Mathematik. 

Dresden  18S7  .541 

W.  Neumann,  Grumlriss  einer  Geschichte  der  bildenden  Künste  und  des 

Kunstgewerbes  in  Liv  ,  Est-  und  Kurland.    Reval  1887     ....  542 

G.  Th.  II  o  f  f  h  e  i  n  z  ,  Eine  Wanderung  durch  Königsberg  vor  280  Jahren. 

Königsberg  1887    545 

B.  Cordt,  Philipp  f'rnsius  v.  Kruseustiern.    Ein  rehabilitirter  baltischer 

Dichter.    Dorpat  1887    545 

Dr.  O.  Chomse,  Ein  Beitrag  zur  Casuistik  der  Lepra  in  den  Ostsee 

Provinzen     Mitau  1887    546 

BtcrmiKT.  KnpoiiH,  22.  roju.    1  H87>  RH.  3.  4.  5   606 

(!raf  Leo  X.  T  ol  s  t  o  i  ,  Wovon  die  Leute  leben.    Das  Märchen  von  Iwan 

«lein  Narren.  Aus  «lern  Russ.  von  Eugenie  Wieland.  Bern  1887  .  629 
W.  O  a  r  s  c  h  i  n  ,   Pessimistische  Erzählungen.     P.  Kruachewan, 

Sie  ging  nicht  zu  Grunde.    Aus  dem  Russ.  von  Wilh.  Heuckel. 

München  1887    62« 

B«»l.  Prus,  Stas  und  Jas.  Deutwh  von  Wilh.  Heuckel.  München  1887  629 

Dan.  Sanders.  Zeitschrift  für  deutsche  Sprache.  Jahrg.  1.  Hamburg  1887  633 
Prof.  Gustav  Ki  e  s  e  r  i  t  z  k  y ,  Die  Entstehung  des  halt.  Polytechni 

kums  und  die  ersten  25  Jahre  seines  Bestehens.    Riga  1887  .    .    .  716 

Dr.  0.  Hey  fei  der,  Transkaspien  und  seine  Eisenbahn.    Hannover  18*8  717 

Tante  Alice,  Im  Morgensoiincuschein.    Dorpat  1887    720 

Deu  t  sch  e  Pos  t.    Berlin  1887   .    .    720 

O.  Hoffmann,  Herders  Briefwechsel  mit  Xicolai.  Berlin  1887  .  .  .  786 
Graf  D.  A.  Tolstoi,  Die  Stadtschulen   unter  Kaiserin  Katharina  II. 

Uebersetzt  von  P.  v.  Kügelgen    788 

Zur  Geschichte  der  Petris«hule  in  St.  Petersburg   790 

M.  v.  Brondsted,   Die  russische  Kirche  in  Livlaud  unter  Xikolaus  I.  791 

31.  C  h  a  r  u  s  i  n  .  Die  Baltische  Constitution   793 

M.  K.,  Oesel  einst  und  jetzt   794 


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« 


Die  Eigenthumsfrage  der  Neuzeit. 

Vom  sociologi  sch  eri  Gesichtspunkte. 


ie  Ueberschrift  bezeichnet  den  stofflichen  Gegenstand  vor- 
liegender Erörterungen,  aber  dieser  Gegenstand  ist  nicht 
Selbstzweck,  sondern  Mittel  zum  Zweck.  Der  eigentliche  Zweck 
dieser  Erörterungen  ist  nicht  sowol  die  Eigenthumsfrage  als  viel- 
mehr die  Beleuchtung  sociologischer  Principe,  bezw.  die  mass- 
gebende Bedeutung  derselben  in  der  weitschichtigen  Materie,  welche 
unter  der  Bezeichnung  c sociale  Idee  oder  sociale  Frage >  wol  schon 
vielfältigst  berufen  worden  ist,  aber  ungeachtet  dessen  noch  durch- 
aus den  Charakter  eines  ungelösten  Problems  an  sich  trägt. 

So  verschwommen  jedoch  diese  Materie  noch  zur  Zeit  er- 
scheint, was  Schwerpunkt  und  Umgrenzung  derselben  betrifft,  so 
ist  es  gleichwol  nicht  zweifelhaft,  dass  die  Eigenthumsfrage  in 
Dingen  socialen  Wesens  am  Volks-  nnd  Staatskörper  eine  der 
ersten  Rollen  spielt.  In  der  Eigen  thumsfrage  ge- 
winnen persönliche,  gesellschaftliche  und  staat- 
liche Interessen  einen  solidarischen  Angel- 
punkt. Ein  solcher  Angelpunkt  ist  nun  wesent- 
lich sociologischer  Natur,  wenigstens  nach  den  wissen- 
schaftlichen Axiomen,  welche  wir,  für  unsere  Person  und  Be- 
strebungen, zum  Zwecke  einer  rationell  zu  entwickelnden  Socio- 
1  o  g  i  e  zur  wissenschaftlichen  Grundlegung  derselben  nehmen. 
Darum  soll  uns  die  sociologische  Beleuchtung  der  Eigenthumsfrage 
dazu  dienen,  auf  die  hohe  praktische  Bedeutung  der  Sociologie  ein 
Streiflicht  zu  werfen. 

Baltische  Mi>natx*rt>rift.  B4,  XU  IV.  H.-ft  1.  1 


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Die  Eigenthumsfrage  der  Neuzeit. 


Was  wir  Sociologie  nennen,  ist  freilich  eine  erst  im  Ent- 
stehen begriffene  Wissenschaft  der  Zukunft  und  sie  kann  als  solche 
liier  nicht  einmal  in  nuce  dargelegt  werden.  An  dieser  Stelle 
haben  wir  nur  einen  Punkt,  als  vorläufige  Hauptsache,  im  Auge. 
Die  sociologische  Beleuchtung  einer  so  vitalen  Angelegenheit,  wie 
es  die  Eigenthumsfrage  für  die  Neuzeit  ist,  soll  massgebende  An- 
haltspunkte zur  allgemeinen  Beurtheilung  dessen  bieten,  wie  viel 
für  Staat  und  Gesellschaft  von  dieser  Wissenschaft  der  Zukunft 
schon  gegenwärtig  in  allen  Dingen  der  laufenden  Zeitpolitik  ab- 
hängt, und  wie  wenig  von  einer  socialen  Reform  staatlicherseits 
im  einzelnen  die  Rede  sein  kann,  bevor  nicht  im  grossen  Ganzen 
über  das,  was  man  sociale  Grundnormen  zu  nennen  berechtigt  wäre, 
eine  rationelle  Vorverständigung  stattgefunden  hat.  Ohne  Social- 
normen  bleiben  alle  Social  reformen  ein  Tappen  im  Dunkeln  — 
«zuerst  Nasen,  dann  Brillen »,  sagt  der  Volksmund. 

Namentlich  in  Deutschland  kann  sich  die  politische  Intelli- 
genz der  Landesvertretung  und  die  staatsmännische  Einsicht  regie- 
rungsseitiger Initiative  in  der  Socialpolitik  nicht  mehr  der  Wahr- 
nehmung verschliessen,  dass  die  in  Angriff  genommene  sociale  Re- 
form von  Tag  zu  Tag  für  den  Staat  eine  nutzlosere  Sisyphusarbeit 
wird,  so  lange  der  Volksunverstand  die  schiefe  Ebene  bleibt,  welche 
jeden  socialen  Baustein  zurückrollen  macht.  Mit  welchem  Rechte 
will  man  aber  über  den  Volksunverstand  den  Stab  brechen,  wenn 
man  den  radicalen  Theorien  der  Volksverführung  nicht  rationelle 
Principe  des  Volkswohles  entgegen  zu  stellen  sich  bestrebt?  Mit 
welchem  Rechte  verurtheilt  man  das  kritiklose  Urtheil  der  Massen 
und  schliesst  auf  deren  bösen  Willen,  wenn  man  ihnen  die  Mittel 
einer  vernünftigen  Kritik  nicht  bietet  und  ihnen  die  Möglichkeit, 
guten  Willen  zu  zeigen,  gar  nicht  zur  Disposition  stellt?  Mit 
welchem  Vertrauen  sollen  denn  die  Massen  sich  der  social  reforma- 
torischen Initiative  des  Staates  hingeben,  wenn  sie  sogar  in  den 
gebildeten  Kreisen  und  allen  Pressorganen  den  erbittertsten  Kampf 
entgegengesetzter  Meinungen  und  mit  jeder  neuen  Parlamentssaison 
selbst  an  den  Regierungsvorlagen  nur  das  widerspruchsvollste  Spiel 
wechselnder  Standpunkte  wahrnehmen  müssen  ? 

Von  Volksbeglückung  ist  den  Massen  nun  schon  ein  rundes 
Jahrhundert  lang  vorgesprochen  worden,  anfangs  vom  Liberalismus 
mit  rettender  Protectormiene  gegenüber  dem  reservirten  Staat,  jetzt 
vom  Staat  mit  herablassender  Patronisirung  der  socialen  Idee 
gegenüber  dem  offenen  Anarchismus.    Die  Massen  sind  mistrauisch 


Die  Eigenthumsfrage  der  Neuzeit.  8 

geworden,  und  jedes  einzelne  Glied  dieser  ungeduldigen  Millionen- 
majorität  zählt  sich  jetzt  zum  < attimal  hipes,  qui  non  vult  cogi  sed 
persuadcri. »  Die  rechtspolitischen  Errungenschaften  der 
vom  niederen  Parlamentsstaat  cultivirten  Freiheits-  und  Gleichheits- 
idee haben  die  erträumte  Volksbeglückung  nicht  gebracht.  Um 
dieser  Errungenschaften  willen  begeistern  sich  die  Massen  nicht 
mehr  für  den  modernen  Staat,  welcher  den  greif-  und  fühlbaren 
Forderungen  des  wirklichen  Lebens,  den  Tagesausprüchen  auf 
Essen  und  Trinken,  auf  Kleidung  und  Wohnuug  so  wenig  gerecht 
geworden  ist.  Trotz  der  theoretischen  Rechtsgleichheit  hat  die 
gesellschaftliche  Ungleichheit  hinsichtlich  aller  praktischen  Vor- 
theile fürs  Leben  zu  einem  täglich  unerträglicheren  Gegensatz  sich 
aufgebauscht.  Der  durch  Masseuverarmung  entstandene  und  pro- 
gressiv anschwellende  Stand  des  Proletarierthums  ist  eine  Er- 
scheinung und  Folgewirkung  des  modernen  Staates  und  bekundet 
dessen  raubwirthschaftlichen  Charakter  socialer  Natur  mit  den  er- 
schreckendsten Belegen  von  Krafterschöpfung  im  breiten  Schosse 
der  Nation  nach  jeder  Richtung  hin,  wie  der  sittlichen  so  der 
materiellen  und  physischen. 

Will  nun  der  moderne  Staat  in  diesem  Stück  nicht  die  Pflicht 
einer  gutzumachenden  Verschuldung  erkennen  ;  will  er  nicht  wahr- 
haben, dass  es  sich  hier  um  weit  mehr  als  um  Palliativmittel  vom 
Standpunkt  herablassender  Gnade  handelt ;  will  er  nicht  vorbehalt- 
los seine  naturgemässe  und  unaufschiebbare  Aufgabe  darin  sehen, 
das  berufene  Volkswohl  auf  der  ganzen  Linie  des  socialen  Gebietes 
mittelst  Um-  und  Neugestaltung  aller  hier  im  Spiel  befindlichen  Ver- 
hältnisse zu  begründen ;  will  er  nicht  sociale  Hebelkräfte 
herstellen,  welche  selbstwirkend  eben  so  r  e  - 
generirend  den  Volks  -  und  Staatsorganismus 
beleben,  wie  die  bisherigen  Verhältnisse 
mit  degenerirendem  Drucke  sich  geltend 
machten:  so  sagen  sich  die  Massen  überhaupt  vom  Staats- 
patronate  los  und  werfen  sich  dem  Socialismus  in  die  Arme, 
welcher  - der  Volksbeglückung  eine  doppelte  Gewähr  in  Aussicht 
stellt :  die  politische  Stellung  persönlichen  Gleichseins  alier  und 
die  sociale  Stellung  besitzlichen  Gleichhabens  mit  allen. 

Wenn  aber  ungeachtet  dieser  Lockstimmen  die  grossen  Massen 
vorläufig  noch  nicht,  einmüthig  wie  ein  Mann,  mit  dem  historischen 
Staatspatronat  gänzlich  schon  brechen  wollen,  so  ist  aus  diesem 
Umstände  mit  Recht  zu  schliessen,  dass  für  die  Majorität  der 


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Die  Eigenthumsfrage  der  Neuzeit. 


Wunsch  zu  einer  Verständigung  mit  dem  Staat  noch  obwaltet. 
Haben  die  Stöckerschen  Erfolge  auf  socialsittlichem  und  nationalem 
Gebiete  den  schlagenden  Thatbeweis  für  die  vorhandene  Möglichkeit 
einer  Verständigung  mit  den  Massen  erhärtet,  so  ist  in  noch  höhe- 
rem Grade  für  das  concretere  Gebiet  der  socialpolitischen  Fragen 
die  Möglichkeit  einer  Volksverständigung  erwiesen.  Nur  m  u  s  8 
der  Mittelsmann  selbst  glauben,  was  er  sagt. 

Wer  jedoch  daraufhin  meinen  wollte,  so  lange  eine  solche  Dis- 
position der  Massen  noch  bestehe,  läge  für  den  Staat  keine  Gefahr 
im  Verzuge,  begeht  einen  gewaltigen  Fehlschluss.  Wünschen  und 
Warten  sind  zwei  durchaus  verschiedene  Dinge,  schon  bei  Indi- 
viduen, erst  recht  bei  den  Massen.  Die  Energie  des  Wünschens 
steht  meist  im  umgekehrten  Verhältnis  zur  Ausdauer  des  Wartens 
—  die  Geduld  reisst  bekanntlich  plötzlich,  und  keine  Löwin  kann 
für  ihr  Junges  sich  wüthender  in  den  Kampf  stürzen  als  die  Masse 
für  eine  fixe  Idee,  die  ihr  im  Lichte  eines  Nothrechts  erscheint. 
Spielt  aber  efst  die  Masse  in  dieser  Stimmung  den  Trumpf :  fiat 
justitia,  pereat  mundus  gegen  den  Staat  aus,  dann  verschlingt  als- 
bald der  Anarchismus  die  moderne  Oulturwelt  auf  Jahrhunderte. 
Dann  handelt  es  sich  nicht  mehr  um  gewöhnliche  Revolutionen  zum 
Zwecke  grösserer  oder  geringerer  Staatsumwälzungen,  sondern  um 
den  Verwüstungskampf  bis  aufs  Messer  gegen  den  Staat  selbst 
und  gegen  jeden,  der  einen  Staat  will.  Die  grosse  Masse  der 
kleinen  Leute  muss  den  Staat  lieben  lernen,  hat  schon  der  grosse 
Kanzler  gesagt :  die  Massen  unserer  jüngsten  Zeit  sind  nicht  mehr 
die  undisciplinirteu  Rotten  von  früher.  Zwar  laufen  die  verschiede- 
nen Interessen  der  einzelnen  Massengruppen  noch  gar  weit  aus 
einander,  und  die  Skala  des  Radicalismus  weist  noch  gewaltige 
Abstufungen  auf.  Aber  wer  überhaupt  ein  Auge  für  dergleichen 
Dinge  besitzt,  überdies  die  nothwendigen  Schritte  zu  wiederholter 
persönlicher  Fühlungnahme  nicht  gescheut  hat  und  schliesslich  die 
richtige  Endsumme  zu  ziehen  versteht,  der  wird  nicht  in  Abrede 
stellen,  dass  trotz  aller  ßuntscheckigkeit  der  Massen  eine  phalanx- 
artige Kampfstellung,  wenn  nicht  schon  vorhanden,  unter  der  fasci- 
nirenden  Einwirkung  besonderer  Umstände  jeden  Augenblick 
gegen  die  bestehende  Ordnung  sich  zuspitzen  kann.  Und  ist  in 
diesem  Sinne  den  Massen  nicht  mehr  die  Solidarität  einer  ge- 
schlossenen Millionenmajorität  abzusprechen,  dann  hat  man  es  eben 
schon  mit  einer  elementaren  Macht  zu  thun,  weiche  im  Zustande 
der  Ruhe,  ebenso  wie  der  Firnschnee  der  Alpen,  dem  Auge  des 


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Die  Eigenthumsfrage  der  Neuzeit. 


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Nichtkenners  nichts  verräth,  aber,  einmal  im  lavinenhaften  Absturz 
begriffen,  jeder  Culturmacht  spottet.  Hier  hilft  kein  gebieterisches 
Halt  im  letzten  Augenblick,  sondern  nur  die  vernünftige  Vorsorge 
rationeller  Arbeit  bei  Zeiten. 

Der  hier  vorzunehmenden  Arbeit  des  Staates  können  wir, 
für  unsere  Person,  aber  nur  dann  Namen  und  Werth  einer  tsocial- 
politischen  Reform»  zuerkennen,  wenn  die  principiellen  Gesichts- 
punkte derselben  jene  wissenschaftliche  Ergründung  und  Begrün- 
dung gefunden  haben,  welche  einzig  und  allein  nur  die  massgebende 
Gruudlage  zu  praktischem  Vorgehen  und  zu  durchschlagenden  Er- 
folgen gewährleisten.  Hierzu  bedarf  es  der  Entwickelung  einer 
neuen  Wissenschaft,  welche  wir  mit  Herbert  Spencer  cSociologie» 
nennen. 

Will  der  moderne  Staat  die  unveräusserlichen  Grundlagen 
seiner  Ordnung  nicht  auf  dem  rationellen  Beweis wege  der  Socio- 
logie  als  vernünftig  rechtfertigen,  beziehungsweise  reformiren,  so 
ist  es  um  ihn  geschehen,  und  der  Socialismus  wird  -  sich  mit  dem 
Commnnismus  in  die  Beute  theilen,  dem  Anarchismus  die  Nachlese 
überlasseud.  Leugnen  wollen,  dass  alles  mensch  liehe  Ge- 
meinschaftswesen und  Leben  auf  letzte  gemein- 
giltige  Grundgesetze  sachlicher  Not h  wendig- 
keiten, so  wol  materieller  wie  ethischer  Art, 
zü  rück  zuführen  ist  und  im  normirten  Staats- 
organismus seine  nachweisbar  beste  Ausge- 
staltung findet,  heisst  in  unseren  Tagen  den  Volksverführeru 
die  Noten  zum  Text  setzen,  heisst  Ausnutzung  des  Machtgenusses 
zur  höchsten  Kunst  der  Politik  erheben,  heisst  den  Massen  die 
Revolution  als  kürzesten  Weg  zu  diesem  Ziel  empfehlen.  Wer 
die  Rettung  des  Staates  durch  die  Sociologie,  bezw.  durch  die  von 
ihr  normirte  Socialreform  nicht  sieht  und  nicht  sucht,  der  kann 
in  der  That  mit  Johannes  Scherr  nur  die  <communistische  Sint- 
flut» kommen  und  den  tStaatssocialismus»  nur  tals  Linienbestimmer, 
Bahnbauer,  Brückenschlager  und  Tunnelbohrer  für  den  anarchischen 
Communismus  arbeiten»  sehen. 

Der  Staatspolitiker  hat  keine  Wahl  mehr;  will  er  in  der 
socialen  Frage  nicht  länger  die  klägliche  Rolle  eines  bliuden  Blinden- 
führers spielen,  der  rathlos  hin  und  her  tappt,  so  muss  er  vor  dem 
Socialismus  kehrt  machen  und  Sociolog  werden.  Socialismus  bleibt 
Socialismus  in  jeder  Gestalt  und  Form,  wie  Unrath  eben  Unrath 
bleibt  im  Schweinestall  und  im  Salon  ;  und  wie  der  Salon  nicht  mehr 


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6 


Die  Eigenthumsfrage  der  Neuzeit. 


Salon  bleibt,  wenn  Unrath  darin  geduldet  wird,  eben  so  wenig  kann 
der  Staat  noch  Staat  bleiben,  wenn  er  sich  mit  dem  Socialismus 
einlässt.  Nicht  das  quantitative  Mehr  oder  Weniger,  noch  auch 
die  qualitative  Verdichtung  oder  Verdünnung  macht  den  Socialis- 
mus zum  Socialismus,  sondern  die  ihm  zu  Grunde  liegende  Unver- 
nunft der  Monomanie.  Der  Socialismus  mit  seinem  anarchischen 
Hintergrunde  ist  nichts  anderes  als  das  miasmatische  Product  des 
versumpften  Gesellschaftsbodens  moderner  Zeit.  Diesen  Sumpf- 
boden darf  der  Staat  durch  seine  Enthaltsamkeit  in  Dingen  des 
Gemeinwesens  nicht  länger  einer  inneren  Selbstzersetzung  über- 
lassen, welche  unter  der  verschimmelten  Schablone  des  Gehen- 
lassens den  Untergrund  sittlicher  und  materieller  Volkskraft  durch 
und  durch  faul  gemacht  hat.  Diesen  Sumpfboden  muss  der  Staat 
mittelst  sociologischer  Canalisation  in  gründliche  Bearbeitung- 
nehmen,  um  ihn  zu  entsäuern  und  dadurch  das  socialistische 
Miasma  mit  der  Gefahr  anarchischer  Pestilenz  von  selber  schwinden 
zu  machen. 

Nur  ein  sehr  entschiedenes  und  entscheidendes  Aber  bleibt 
bei  der  Sache.  Kein  Staatspolitiker  wird  rationeller  Sociolog 
werdeu,  so  lange  er  mit  der  intuitiven  Staatsweisheit  seitheriger 
Diplomatenkunst  in  Dingen  innerer  Politik  nicht  voll- 
ständig brechen  will.  cEs  kann,>  sagt  Spencer1,  c keine  vollständige 
Annahme  der  Sociologie  als  Wissenschaft  geben,  so  lange  der  Glaube 
an  eine  nicht  dem  Naturgesetz  sich  anschliessende  gesellschaftliche 
Ordnung  noch  seine  Herrschaft  behauptet.» 

Keine  Zeit  ist  so  unwiderruflich  für  immer  dahin  als  die  Zeit 
der  politischen  Hexenmeister».  Die  politische  Intelligenz  des  sich 
anbahnenden  nationalen  Staatsbürgerthums  will  rationelle  Wahrheit 
in  reiner  Sache  und  klarer  Sprache  und  wirft  die  Unaussprechlich- 
keiten der  sogenanuten  chöheren  Politik»  alter  Schule  zum  Humbng 
politischer  Spiritisterei. 

Bevor  wir  nun  an  die  Beleuchtung  unserer  sociologischeu 
Gesichtspunkte  in  der  speciellen  Beziehung  zur  Eigenthumsfrage 
gehen,  glauben  wir  in  sachlichem  Interesse  zuerst  eine  Umschau 
über  die  verschiedenen  Urtheile  der  Neuzeit  in  der  Eigenthums- 
frage bieten  zu  müssen.  Und  diesem  Zwecke  meinen  wir  die  beste 
  * 

1  Einleitung  in  da«  Studium  der  Sociologie,  Tbl.  2,  S.  246,  deutsch  von 
Marquardnen. 

•  Vgl.  unsere  Schrift  «Notwendigkeit  einer  soeialpolitiachen  Propädeutik» 
S.  191  u.  209. 


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Die  Eigenthumsfrage  der  Neuzeit.  7 

Folge  zu  geben,  wenn  wir  —  theils  in  wörtlicher  Uebersetzung,  theils 
in  freier  Wiedergabe  des  Gedankenganges  —  die  Arbeit  eines 
beachteuswerthen  Sachverständigen  des  Auslandes  verwerthen. 

I. 

Urtheile  hervorragender  Zeitgenossen  in  der 

Eigen  thu  ras  frage1. 

cDie  Solidarität,  welche  alle  Theile  des  socialen  Körpers 
verbindet,  ist  so  stramm,  dass  man  keinen  Punkt  berühren  kann, 
ohne  die  Mitleidenschaft  aller  zu  bewirken.  Die  Revolutionäre, 
welche  den  socialen  Organismus  von  heute  auf  morgen  umgestalten 
wollen,  gleichen  nach  dem  Ausspruche  Spencers  denjenigen,  die 
den  Fischen  ihre  Kiemenhäute  nehmen  möchten,  unter  dem  Vor- 
wande,  dass  die  Lungen  ein  höheres  Organ  sind,  oder  die  sie 
ausserhalb  des  Wassers  möchten  leben  lassen,  weil  das  Leben  auf 
trockener  Erde  ein  höheres  als  das  im  Wasser  sei.  Darwin  lehrt, 
dass  lediglich  durch  langsame  Zuchtwahl,  die  Lebewesen  sich 
änderten.  Streng  genommen,  kann  man  kein  Räderwerk  eines 
politischen  Mechanismus  ohne  grosse  Gefahr  plötzlich  umgestalten, 
um  wie  viel  weniger  mit  derselben  Geschwindigkeit  die  Lebensorgane 
einer  Nation  umbilden  !  Namentlich  ist  die  Bedeutung  bezw.  das 
Wesen  des  Eigenthums  so  wenig  oberflächlicher  Art,  dass  dasselbe 
sogar  tiefere  Lebenswurzeln  hat  als  diese  oder  jene  Regierungs- 
form und  selbst  die  Gesetzgebung.  Das  Eigenthum  ist  eine  wesent- 
liche Subsistenz-  und  Lebensfrage ;  Schäffle,  seinerzeit  österreichi- 
scher Minister,  sagt:  <es  ist  eine  Magenfrage»*.  Die  Schwierig- 
keit, das  materielle  Leben  einer  Nation  umzuwandeln,  ist  eben  so 

1  *Les  Hudes  ricentcs  sur  ta  propriete  par  Alfred  Fouillie.» 
Rev.  d.  d.  m.  Juin  1884:  1.  PaulLeroy-Beauliou,  Essai  über  die 
Vertheilung  der  Reichthümer,  2.  Aufl.  —  2.  E.  de  L  a  v  e  1  e  y  e ,  Das  Eigen- 
thum und  seine  ursprünglichen  Formen,  3.  Aufl.  Der  zeitgenössische  Sozialis- 
mus. —  3.  Stuart  Mill,  Fragmeute  über  Socialiumus.  —  4.  Herbert 
Spencer,  Sociologie  t.  III.  —  5.  Faul  Janet,  Anfänge  des  zeitgenössischen 
Socialismus.  —  6.  Henry  George,  Fortechritt  uud  Armuth.  —  7.  Schäffle, 
Quintessenz  des  Socialismus.  —  8.  Charles  Grad,  Die  Arbeiterassociationeu  in 
Deutschland.  —  9.  Leon  Say,  Der  Staatssocialismus. 

1  «Schäffle  ist  der  Verfasser  eines  gelehrten  Werkes  über  Bau  und  Leben 
des  socialen  Körpers;  ein  Auszug  ist  die  Quintessenz  des  Socialismus.  Wie 
Lilienfeld  und  Spencer  ist  Schäffle  einer  der  Philosophen,  die  zur  Feststellung 
der  Wahrheit  beigetragen  haben,  dass  die  Gesellschaft  ein  lebendiger,  den  Ge- 
setzen der  Biologie  unterworfener  Organismus  ist.» 


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8 


Die  Eigenthumsfrage  der  Neuzeit. 


gross  wie  die  Umgestaltung  ihres  moralischen  Lebens,  und  die 
Statistik  lehrt,  mit  welcher  Langsamkeit  sich  letzteres  bessert. 
Alle  Machtsprüche  des  menschlichen  Willens  und  alle  jähen  Re- 
volutionen werden  in  einer  Nation  eben  so  wenig  die  Zahl  der  Ver- 
brechen unmittelbar  verändern  wie  die  der  Sterbefälle  und  Geburten  ; 
nur  in  einem  längeren  Zeitverlaufe  verschieben  sich  die  mittleren 
Summen,  und  das  geschieht  nicht  sowol  in  Folge  von  Gesetzen  als 
vielmehr  durch  fortschreitende  Besserung  der  Sitten  und  der  Einsicht.» 

Dennoch  dürfe  man  der  Lösung  des  socialen  Problems  nicht 
mit  eioein  fatalistischen  Quietismus  aus  dem  Wege  gehen  und  dem 
laissez  tout  faire,  laisscs  tont  passer  huldigen.  Es  gebe  vielmehr 
zwei  vernünftige  Wahlsprüche,  von  denen  dereine:  ändern,  der 
andere:  erhalten  heisse.  Ebenso  wie  zu  jähe  Umwälzungen 
gefährlich  seien,  eben  so  schade  zu  geringe  Beweglichkeit  gegenüber 
neuen  Zeiterfordernissen,  welche  Herstellung  eines  Gleichgewichtes 
uöthig  machten. 

«Die  Besitz-  und  Subsistenzmittel  sind  für  den  socialen  Körper 
das,  was  das  Blut  für  den  leiblichen  Organismus  ist :  es  kann  an 
der  einen  Stelle  nicht  Blutmangel,  an  der  anderen  Blutstauung 
sein,  ohne  dass  Fieber  und  Gefahr  die  Folge  davon  ist.  Die 
Massenverarmung  ist  durch  eine  Art  von  Stockung  erzeugt,  welcher 
die  unteren  Klassen  in  materieller  und  geistiger  Hinsicht  unter- 
liegen :  das  führt  zum  Siechthum  eines  Volkes  und  zur  Gefahr 
seiner  Auflösung.  Progressive  Reformen  sind  darum  nöthig,  um 
zu  verhindern,  dass  die  unteren  Schichten  am  socialen  Körper, 
d.  h.  die  Arbeiterklassen,  welche  dessen  überwiegend  grösseren 
Theil  bilden,  nicht  stets  im  Rückstände  und  daher  immer  im  Nach- 
theile  bleiben  .  .  .  Man  kann  von  der  Humanität  behaupten,  was 
Bacon  hinsichtlich  der  Natur  sagt:  «Man  muss  ihr  zu  folgen  ver- 
stehen, um  sie  handhaben  zu  können,»  und  mit  der  Politik  verhält 
es  sich  wie  mit  der  Wissenschaft:  parendo  imperat.» 

Stuart  Mill  kämpfe  ebensowol  gegen  revolutionären  Soeialis- 
mus  wie- gegen  absoluten  Stabilismus,  der  iu  Dingen  des  Eigen- 
thums jede  Reformbedürftigkeit  bestleite.  Jedenfalls  wäre  der 
Socialismus  nicht  die  letzte  Aushilfe,  wenn  das  Princip  des  zur 
Zeit  geltenden  Systems,  welches  das  des  individuellen  Eigentumes 
ist,  noch  nicht  endgiltig  unanfechtbare  Resultate  geliefert  habe. 
AVenn  die  gegenwärtigen  Grundsätze,  sage  Mill,  in  Wahrheit  unter 
den  Gesichtspunkt  des  Individualismus  im  guten  Sinne  des  Wortes 
fielen,  also  Grundsätze  wären,  welche  eine  entsprechende  Lohn- 


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Die  Eigenthums  frage  der  Neuzeit. 


9 


vertheiluug  aller  Individuen  für  ihre  Leistungen  je  nach  ihrer 
Fähigkeit  zu  bewerkstelligen  vermöchten,  sollte  dann  diese  Art 
von  Individualismus  so  verächtlich  sein?  Spencer  glaube  für  die 
Zukunft  an  eine  Art  von  Weltkirche,  welche  wie  für  religiöse  so 
für  sociale  Fragen  eine  Summe  wissenschaftlicher  Wahrheiten  zur 
allgemeinen  Glaubensgrundlage  haben  werde.  Auch  in  Frankreich 
beginne  man  die  Theorien  wissenschaftlich  zu  prüfen,  statt  sich 
gegen  Menschen  zu  erbittern.  Paul  Leroy-Beaulieu  und  Gesinnungs- 
genossen suchten  lieber  zu  einen  als  zu  trennen.  Leroy-Beaulieu 
versucht  den  Nachweis  zu  liefern,  dass  mit  Hilfe  nationalökonomi- 
scher Grundsätze  eine  weniger  grosse  Ungleichheit  der  Verhältnisse 
zu  erzielen  sei.  Wie  Sumner  Maine  so  habe  auch  v.  Laveleye  die 
veränderlichen  und  progressiven  Elemente  einer  Idee  zeigen  wollen, 
welche  man  nur  zu  oft  als  eine  im  Principe  unwandelbare  Sache 
hingestellt  habe.  Die  Wissenschaften  verdankten  ihren  Erfolg 
nicht  absoluten  Behauptungen,  sondern  relativen  Wahrheiten,  in 
deren  massvoller  Beschränkung  das  Wesen  der  Gründlichkeit 
(Vcxactitudc)  liege. 

Den  Zweck  vorliegender  Studie  setzt  Fouillöe  darin,  eben« 
sowol  die  rationelle  Grundlage  wie  auch  die  Begrenzung  des 
Eigenthumsrechtes  zu  erforschen.  Drei  Fragen  kämen  in  Betracht. 
Erstens,  kann  man  auf  philosophischer  Basis  ein  absolut  indivi- 
duelles Eigentumsrecht  erweisen  als  Stütze  für  den  exclusiven 
Individualisinus;  zweitens,  ist  ein  absolut  sociales  Recht  zulässig, 
wie  es  der  Socialismus  fordert ;  drittens,  nach  welchen  allgemeinen 
Gesichtspunkten  lässt  sich  ebeusowol  dem  Individuum  wie  auch 
der  Gesellschaft  ein  verhältnismässiger  Autheil  zuweisen,  zunächst 
in  der  Theorie  und  sodann  in  der  Praxis  ?  Um  diese  Fragen  handele 
es  sich,  wenn  man  als  höchstes  Princip  aller  socialen  Reformen 
den  Gesichtspunkt  der  Gerechtigkeit  hinstelle.  Auf  Principe 
zurückzugehen,  sei  aber  in  dieser  kritischen 
Zeit  mit  ihren  praktischen  Schwierigkeiten 
unerUsslich,  wäre  es  auch  nur  zur  Beseitigung  der 
Sophismen  gewisser  Theoretiker.  Ueberdies  sei  die  Herrschaft  des 
Eigenthums  zu  allen  Zeiten  der  materielle  Ausdruck  der  Gerechtig- 
keit gewesen,  wenugleich  das  positive  Recht  mehr  oder  weniger 
auch  der  Ungerechtigkeit  gedient  habe'. 

1  Le  regime  de  la  propriite,  a  toutes  les  cpoques  de  Vhistoirc,  est  Tex- 
pression materielle  de  la  justice  plus  ou  moins  inelec  d'injustice  qui  regne  ä 
Vinterieur  des  conscicnces:  c'est  Je  droit  realise  et  devenu  visible. 


10  Die  Eigenthumsfrage  der  Neuzeit. 

A. 

«Beschäftigen  wir  uns  zuerst  mit  der  individualistischen 
Schule.  Die  Philosophen  dieser  Schule  haben  die  Grundlage  des 
Eigenthums  in  dem  menschlichen  Willen  und  dessen  Beziehung  zu 
den  äusseren  Objecten  gesucht.  Hierin  haben  sie  Recht  gehabt. 
Aber  im  allgemeinen  haben  sie,  mit  Victor  Cousin  und  Genossen, 
dem  Glauben  gehuldigt,  dass  dieser  Wille  ein  absolut  freier  Wille 
ist,  folglich  völlig  individuell  und  gleichsam  über  den  Rest :  impc- 
rium  in  impcrio  erhaben  ist;  dieser  freie  Wille  dient  ihnen  sogar 
zur  Begründung  ihres  absoluten  Rechtes  von  Eigenthum1.  Durch 
die  Arbeit,  sagen  sie,  setzt  der  freie  Wille  des  Menschen  in  die 
äussere  Welt  irgend  ein  Ding  von  absolut  neuer  Art,  was  als  die 
noch  in  Handlung  sich  befindende  Freiheit  selbst  betrachtet  werden 
kann,  die  .Fortsetzung  der  Freiheit' ;  dem  Individuum  kommt  das 
Eigenthumsrecht  in  Bezug  auf  die  äusseren  Objecte  nach  demselben 
Vernunftgesetze  zu  wie  das  Besitzrecht  auf  die  eigene  Person. » 

Die  Theorie  biete  vielen  metaphysischen  Schwierigkeiten 
Raum,  obschon  sie  nicht  ohue  Wahrheit  sei.  Man  müsse  Victor 
Cousin,  ebenso  wie  Turgot,  Smith,  Say,  Bastiat,  Thiers,  Paul  Janet 
einräumen  :  wenn  ein  neuer  Werth  so  vollständig  von  einem  Indi- 
viduum geschaffen  werden  könnte,  dass  er  ohne  ihn  gar  nicht  vor- 
handen wäre,  so  gehörte  er  von  rechtswegen  dem  Individuum. 
Aber  dieser  Satz  sei  unabhängig  von  den  metaphysischen  Systemen 
über  den  freien  Willen.  Die  Erzeugnisse  einer  Thätigkeit,  welche 
nothwendigen  Gesetzen  unterworfen  ist,  stellten  sich  als  eine  « Fort- 
setzung >  ihrer  selbst  gerade  ebenso  dar  wie  bei  einer  freien  Thä- 
tigkeit. Mag  der  Wille  frei  sein  oder  nicht,  die  Arbeit  und  ihre 
Kraftanstrengung  lägen  immer  in  der  Handlung  des  Willens,  welche 
in  dessen  Werken  Bewegung  hervorbringt  und  aufspeichert.  «Wenn 
ich  denke,  so  .verwandle4  ich  nach  der  Lehre  der  Physiologen 
gewissermassen  Bewegung  in  einen  Gedanken,  sodann  diesen  in 
eine  Bewegung  mittelst  Gehirn  und  Muskeln.  Wenn  ich  ein 
äusseres  Object  bearbeite,  so  übertrage  ich  auf  dasselbe  die  Be- 
wegung, welche  ich  durch  meine  Anstrengung  entwickele;  ich 
speichere  darin  die  Kraft  meiner  Muskeln  und  meines  Gehirns  auf : 
die  Idee.  Mit  anderen  Worten,  das  Erzeugnis  der  Arbeit  ist  die 
Umsetzung  oder,  wenn  man  lieber  will,  der  äussere  Ersatzwerth 


•  G  est  wcme  sur  ce  Hbrc  arbitre  qu'ih  ont  fondc  hur  droit  absohl  de 
proprUU. 


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Die  Eigenthuinsfrage  der  Neuzeit. 


11 


meiner  inneren  Kraft,  meiner  Tliätigkeit  und  meines  Gedankens.» 
Mit  Recht  hätten  daher  deutsche  Nationalökonomen  jedes  Erzeug- 
nis ,krystallisirte  Arbeit'  genannt. 

Demnach  habe  das  Eigenthum  zu  seiner  Grundlage  nicht  aus- 
schliesslich den  Nutzen,  wie  Leroy-Beaulieu  anzunehmen  scheint, 
und  auch  nicht  das  Gesetz,  wie  Laveleye  mit  Laboulaye 
voraussetzt.  Es  sei  gewiss  nützlich,  dass  die  Nutzniessung  des 
Erzeugnisses  dem  Erzeuger  zu  statten  komme,  und  dass  das  Ge- 
setz diesen  Nutzen  sicherstelle.  Aber  e3  handle  sich  ausserdem 
um  die  von  Montesquieu  geforderte  Beziehungsseite :  das  Erzeugnis 
ist  bis  zu  einem  gewissen  Grade  noch  der  Erzeuger  selbst.  In- 
dessen liesse  sich  von  diesem  allgemeinen  Principe  kein  exclusiver 
Individualismus  herleiten.  Jules  Simon  mache  es  sich  leicht  mit 
seinem  Ausspruche  :  ,Ich  nehme  wildwachsendes  Getreide  in  meiue 
Hand,  ich  säe  es  .  .  .  Ist  die  zu  erwartende  Ernte  mein  Gut?  Wo 
wäre  sie  ohne  mich?  Ich  habe  sie  geschaffen.  Wer  will  das  ver- 
neinen ?k  Diese  Schöpfung  liesse  sich  doch  noch  bestreiten,  so  lange 
der  Mensch  nicht  Schöpfer  der  Natur-  und  Weltgesetze  sei,  welche 
zu  jedem  materiellen  Eigenthum  den  Stoff  schaffen.  Der  Mensch 
habe  daher  nur  die  Form,  nicht  den  Grund  seiner  Erzeugnisse  in 
der  Hand.  «Die  Philosophen  der  individualistischen  Schule  sollten 
also  nicht,  wie  sie  oft  thun,  lediglich  das  Eigenthum  der  Form 
vertreten,  sondern  ausserdem  das  des  Grundes.  Die  Form  ist 
einObject  der  Erzeugung,  der  Grund  ist  ein 
Object  der  Besitzergreifung;  und  in  diesem 
Beziehungsverhältnis  zwischen  Form  und 
Grund  liegt  hier  wesentlich  das  grosse  philo- 
sophische Problem.»1 

Nach  Fouillee  stellten  sich  nun  zwei  Rechte  heraus  :  das  eine, 
von  dem  alle  Philosophen  und  Juristen  geredet  und  das  sie  das 
Recht  des  ersten  Besitznehme  rs  genannt  haben ;  und 
das  andere,  welches  fast  von  allen  übersehen  sei  und  das  Recht  des 
Letztgekommenen  oder  des  letzten  Besitz  nehmers  zu 
nennen  wäre.  Das  Vorrecht,  welches  sich  durch  die  erste  Besitz- 
nahme überträgt,  habe  einen  rationellen  Grund,  aber  zugleich  auch 
eine  rationelle  Begrenzung.  Seine  Begründung  sei  nichts  anderes 
als  das  Recht  der  Arbeit.   Wenn  ein  Individuum  oder  eine 

1  La  forme  est  un  objet  de  production;  U  fonä  est  un  objet  d'  o  ccu- 
pation ;  et  (fest  prcciscment  le  rapport  de  la  forme  au  fond  qui  est  »et  k 
grand  problcme  philosophique. 


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12 


Die  Eigenthurasfrage  der  Neuzeit. 


Familie  ein  Stück  Landes  oder  Objecte,  die  noch  niemand  gehören, 
sich  aneignet,  so  wird  durch  die  Kratläusserung  des  Willens  die 
Besitznahme  selbst  theil weise  in  Arbeit  umgesetzt,  deren  erlangter 
Erfolg  demnach  innerhalb  gewisser  Grenzen  anerkannt  werden 
müsse.  Diese  Grenzen  lägen  in  der  Natur  der  Arbeit.  An  gewissen 
Objecten  sei  die  Form  fast  alles,  und  der  Stoff,  welcher  der  Erde 
entnommen  ist,  habe  einen  nebensächlichen  Werth,  weil  er  in 
grosser  Masse  vorhandeu  sei,  und  die  Schwierigkeit  in  seiner  Ver- 
wendung und  nicht  in  seiner  Erlangung  liege.  Der  erste  Wilde, 
der  sein  Recht  der  Besitzergreifung  an  einem  Stein  ausübte,  um 
ihn  zu  spalten  und  daraus  ein  Werkzeug  zu  machen,  habe  gewiss 
nur  die  neue  Form  geschaffen,  welche  er  dem  Steine  gab ;  aber  in 
anbetracht  dessen,  dass  der  Stein  in  Folge  seines  Ueberflusses 
damals  von  keinem  Wertlie  an  sich  war  und  zur  Verfügung  der 
neuen  Besitzergreifer  stand,  ferner  in  Berücksichtigung  dessen, 
dass  die  Form  nicht  von  dem  Grunde  zu  trennen  war,  entsprach 
es  dem  Begriffe  der  Rechtmässigkeit,  dass  das  Eigenthum  der  Form 
auch  das  des  Grundes  in  sich  schloss.  Oder  wollte  in  unseren 
Tagen  ein  Coinmunist  auf  ein  Thermometer,  welches  ich  angefertigt 
habe,  einen  Anspruch  erheben,  weil  der  das  Glas  bildende  Saud 
nicht  mein  Werk  sei?  Eine  Menge  von  Objecten  sei  von  dieser 
Eigenthümlichkeit,  dass  sie  nur  mittelst  der  ihnen  verliehenen  Form 
eineu  dieulichen  Zweck  erhielten.  Hier  hätten  die  neuen  Besitz- 
nehmer  nichts  zu  fordern.  Aber  eine  Anzahl  Nationalökonomen. 
wie  Bastiat«,  Carey  und  Leroy-Beaulieu,  haben  voreilig  von  dieser 
Art  Eigeuthum  auf  alle  Arten  Schlüsse  gezogen,  ohne  sich  um  die 
Zuletztgekommenen  zu  bekümmern,  welche  heute  die  ganze  Erde 
eingenommen  und  von  Schranken  umgrenzt  fiuden.  Diese  Auf- 
fassungsweise verkenne  nothwendige  Unterscheidungen.  Zunächst 
stehe  fest,  dass  jetzt  der  Stoff  sogar  an  Objecten,  wo  er  in  un- 
gleichem Verhältnisse  zur  Form  steht,  nichtsdestoweniger  einen 
Werth  bei  den  civilisirten  Nationen  besitzt,  weil  es  liier  keinen 
Erdenfleck  mehr  giebt,  welcher  nicht  seinen  Besitzer  hätte ;  selbst 
Sand  und  Stein  haben  einen  verhältnismässigen  Werth,  je  nach  dem 
Werthe  des  Bodens,  dem  man  sie  entnimmt.  Welcher  Anstrengun- 
gen* bedürfe  es  für  den  Menscheji  der  Gegenwart,  sich  den  Unter- 

'  Vgl.  les  Harmomes  i-conomiques  de  litistiat,  welche  Leroy-Beaulieu  in 
übertriebener  Weise  ein»  der  bedeutendsten  philosophischen  Werke  des  Jahr- 
hunderts nennt,  S.  90.  Nach  Laveleye  soll  dagegen  Bastiat  keine  neue  Idee  ge- 
funden, vielmehr  viele  vor  ihm  geklärte  Ideen  verdunkelt  haben. 


Die  Eigenthumsfrage  der  Neuzeit. 


13 


halt  seines  Lebens  zu  schaffen  !  Die  Natur,  was  darüber  auch 
Bastiat,  Jules  Simon  und  Leroy-Beaulieu  reden  mögen,  besorge 
in  diesem  Falle  den  allerwesentlichsten  Antheil  der  Arbeit,  ein 
Vortheil,  der  fast  ausschliesslich  den  Landbesitzenden,  zum  Nach- 
theile der  Besitzlosen,  zu  gut  komme.  Der  Erdboden  sei  eben 
noch  heute  das  grosse  Schlachtfeld  widerstreitender  Ansprüche 
zwischen  den  ersten  Besitznehmern  und  den  Nachgeborenen,  welche 
ihren  Antheil  an  dem  natürlichen  Grunde  forderten. 

€  Daher  bestreiten  wir  durchaus  die  Geltung  jener  Argumente, 
mittelst  welcher  viele  Nationalökonomeu  sich  bemühen,  den  Antheil 
der  Natur  und  des  Bodens  an  dem  Gewinn  der  menschlichen  Arbeit 
fast  bis  zur  Verneinung  herabzusetzen.  Leroy-Beaulieu  z.  B.  wird 
nicht  müde,  ebenso  wie  Bastiat,  uns  zu  sagen,  dass  die  Erde 
durchaus  nicht  ,einen  natürlichen  Werth  unabhängig  von  der 
menschlichen  Arbeit1  habe.  Zwischen  Orenbutg  und  Orsk  könne 
man  achtzig  Acres  Land  für  ü  Francs  kaufen ;  in  Yarkand  koste 
ein  fetter  Hammel  40  oder  (50  Centimes  <fcc.  Freilich  fügt  Leroy- 
Beaulieu  hinzu,  dass  ,der  steigende  Werth  jedes  Landstückes  nicht 
im  entsprechenden  Verhältnisse  zur  Arbeit  steht,  welche  demselben 
zugewandt  worden  ist/sei  es  seitens  der  Eigenthümer,  sei  es  seitens 
der  Gesellschaft'.  .  .  Diese  Sätze  dürften  schwer  vereinbar  sein. 
Wenn  das  Land  seinen  ganzen  Werth  ,der  menschlichen  Arbeit1 
entlehnt,  warum  steht  dann  dieser  Werth  in  keinem  Verhältnisse 
zu  dieser  Arbeit?  .  .  .  Leroy-Beaulieu  lehrt,  dass  die  Colonisten, 
welche  jungfräuliche  Landstriche  in  Cultur  zu  nehmen  suchen,  oft 
durch  das  Fieber  decimirt  worden  sind :  es  ist  also  doch  ein  Unter- 
schied zwischen  den  Ländereien,  je  nach  den  mehr  oder  weniger 
günstigen  Bedingungen  in  Hinsicht  auf  Cultur,  Hygieine,  Lage  &c. 
Wollte  man  dem  Lande  seinen  Eigenwerth  nehmen,  so  wäre  es 
unerlässlich,  dass  dasselbe  überall  in  übereinstimmender  Beziehung 
zur  Gesundheitsfrage,  der  Lage,  der  menschlichen  Arbeit,  den 
Absatzquellen  stände,  eine  Voraussetzung,  die  unhaltbar  ist.» 

Selbst  wenn  man  von  diesen  Widersprüchen  absehen  und 
Leroy-Beaulieu  einräumen  wollte,  dass  Land  an  sich  ohne  mensch- 
liche Arbeit  an  demselben  keinen  Werth  habe,  so  wäre  damit,  wie 
Fouillee  ausführt,  noch  keineswegs  der  Satz  der  Nationalökonomen 
von  dem  individuellen  Charakter  des  Eigenthums  zugestanden. 
Denn  es  gebe  zwei  Arten  menschlicher  Arbeit,  die 
des  Individuums  und  die  der  ganzen  Gesellschaft.  Zu  Winnebayo, 
wo  die  Eisenbahn  des  meridionalen  Minnesota  eine  ihrer  Stationen 


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* 


14  Die  Eigenthumsfrage  der  Neuzeit. 

besitzt,  galt  einige  Jahre  vorher  das  schon  ausgenutzte  Land  nicht 
mehr  als  87  bis  125  Francs  den  Hectar  und  stieg  1879  bis  auf 
500  oder  575  Francs.  Es  sei  sociale  Arbeit,  welche  die  Werth- 
steigerung bewirkt.  Aehnlich  verhalte  es  sich  mit  dem  Capitale, 
welches  in  der  modernen  Gesellschaft  ein  Schlachtfeld  neuer  Art 
ist  und  Macht  besitzt,  erstens  in  Folge  der  Hilfsmittel  und  des 
Nutzens,  welche  es  gewährt,  und  zweitens  wegen  des  socialen  Ein- 
flusses, der  damit  verbunden  ist.  Für  dasjenige  Individuum,  welches 
sich  im  Besitze  des  (Kapitals  befindet,  spiegele  es  die  Verschmelzung 
von  einem  Theil  natürlichen  Fonds   mit  einem  Theile  socialen 

m 

Fonds  ab. 

«Sind  die  Nationalökonomen  nicht  unsere  ersten  Lehrmeister, 
dass  seit  Organisation  der  Gesellschalt  jeder  Arbeiter  tausend  un- 
bekannte Mitgenossen  hat,  theils  todte,  theils  lebende?  Der,  welcher 
den  Pflug  erfunden  hat,  ackert  noch  immer  unsichtbar  an  der  Seite 
des  Ackerbauers ;  Gutenberg  druckt  noch  immer  alle  Bücher,  welche 
die  ganze  Welt  liest.  Keine  schöpferische  Idee  erstirbt  im  Schosse 
der  Gesellschaft.  Was  besitzen  wir  also  im  absoluten  Sinne  als 
unser  wirkliches  Eigenthum  im  einzelnen  und  ganzen,  vom  abstracten 
Gesichtspunkte  der  reinen  Wissenschaft  V  Recht  wenig.  Betrachten 
wir  an  erster  Stelle  unser  materielles  Dasein.  Biologie  und  Socio- 
logie  lehren  uns:  unser  Dasein  besteht  nur  durch  Gegenseitigkeit 
unter  einander,  nur  durch  die  Familie,  diese  kleine  Gesellschaft, 
welche  sich  selbst  in  die  grosse  umwaudelt,  nachdem  sie  ihren 
Antheil  zu  deren  Bildung  abgestattet  hat.  Die  Gesellschaft 
ist  ein  richtiger  Organismus,  dessen  lebendige 
Zellen  wir  sind.  —  An  zweiter  Stelle  zeigt  uns  die  Psycho- 
logie, dass  wir  geistig,  auch  nur  durch  die  Gesellschaft  bestehen  : 
das  Denken  ist  eine  Sprache  und  die  Sprache  ist  die  Gesellschaft 
selbst  in  ihrer  Einwirkung  auf  uns,  wodurch  das  Individuum  ihr 
Ebenbild  wird,  dem  gegenseitigen  Interesse  entsprechend.  Jedes 
Wort  einer  Sprache,  jeder  Ausdruck  einer  Idee,  ist  das  collective 
Eigenthum  der  ganzen  Race,  von  einer  Generation  der  anderen 
wie  ein  Goldstück  überliefert,  welchem  Jahrhunderte  nicht  das 
Gepräge  nehmen  konnten.  Selbst  die  Werke  eines  individuellen 
Geistes  sind  gleichzeitig  die  der  Race;  die  Blüthe  könnte  sich 
nicht  erschliessen  ohne  den  Saft  des  Baumes,  dessen  Wurzeln  ihn 
dienstbefliessen  aus  dem  Erdboden  schöpfen.  ,Der  grösste  Geist,' 
sagt  Goethe,  ,schafft  nichts  Gutes,  wenn  er  nur  im  eigenen  Lebens- 
grunde wurzelt.    Jede  meiner  Schriften  ist  mir  eingegeben  worden 


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Die  Eigeuthumsfrage  der  Neuzeit. 


durch  Tausende  von  Personen,  durch  Tausende  von  verschiedenen 
Dingen:  der  Gebildete  und  Einfaltige,  der  Weise  und  Held,  das 
Kind  und  der  Greis  haben  an  ineinen  Werken  mitgearbeitet. 
Meine  Arbeit  bewirkt  nur.  dass  die  vielfachen  Elemente 
sich  zusammenschliessen ,  welche  sämmtlich  der  Wirklichkeit 
entnommen  sind :  das  Gesammtergebnis  davon  trägt  den  Namen 
Goethe/  Stets  hat  man  auch  Anstand  genommen,  wissenschaft- 
liches, künstlerisches,  literarisches  und  industrielles  Eigenthum 
als  rein  individuell  zu  betrachten  :  man  huldigt  der  Autfassung, 
dass  dasselbe  eine  sociale  Einlage  in  sich  schliesst, 
worauf  die  Gesellschaft  nicht  völlig  verzichten  kann.  —  An 
dritter  Stelle  zeigt  uns  die  Sittenlehre  ihrerseits,  dass  wir  auch 
moralisch  nur  durch  die  Gesellschaft  gedeihen:  Gesetze  und  Sitten 
bedingen  den  Bestand  der  Gesellschaft  selbst.  Fordert  nicht  jeder 
Moralist,  wenn  er  als  solcher  nicht  ausschliesslich  Individualist 
ist,  Entsagung  vom  Individuum,  (Jneigennützigkeit,  im  Nothfalle 
Opfer  zum  Besten  der  gesammten  Gesellschaft,  kurz  gesagt,  das, 
was  die  neuesten  englischen  Moralisten  die  «sociale  Pietät»  nennen? 
Verpflichtet  der  Moralist  nicht  das  Individuum,  in  Rücksicht  auf 
das  Ganze  und  nicht  in  lediger  Rücksichtnahme  auf  sich  selbst 
zu  handeln?  Das  Vergessen  seiner  selbst  ist  eine  Art 
moralischer  Gemeinschaft.  Zugleich  verurtheilt  die  positive 
Sittenlehre  die  herbe  Rache  der  Individuen  an  der  Gesellschaft, 
das  beständige  Vergessen  der  geschichtlichen  Solidarität,  diesen 
socialen  Atomismus,  welcher  den  Staat  in  ein  Aggregat  von  Indi- 
viduen ohne  organisches  Band  auflösen  will,  mit  einem  Wort,  die 
Anarchie  und  den  Nihilismus  derjenigen,  welche  die  Gesetze  der 
socialen  Organisation  verkennen.  Die  Socialisten  berufen  sich  in 
ihren  Declamationen  auf  die  Solidarität  in  ihrem  Interesse  und 
sehen  nicht,  dass  man  die  Solidarität  gegen  ihre  revolutionären 
Ideen  wenden  und  ihnen  sagen  kann :  die  Gesellschaft  fordert  allem 
zuvor,  dass  ihr  deren  Gesetze  achtet  und  euch  nicht  herausnehmt, 
die  allgemeine  Entwickelung  im  Namen  eures  Sonderinteresses  zu 
stören.  Die  Gesellschaft  ist  nicht  ein  Nebeneinander  von  so  und 
so  viel  abgesonderten  Eigennutzeinheiten  im  Leeren,  es  verhält 
sich  damit  nicht  wie  mit  einein  Archipel,  der  aus  einer  Menge  von 
Inseln  mit  je  einem  Robinson  besteht,  Selbst  auf  betreffender 
Insel  fühlte  sich  Robinsou  in  Freitags  Gesellschaft  sehr  viel  wohler 
als  allein,  und  deren  zwanzig  oder  dreissig  Nachfolger  lebten  noch 
behaglicher  als  Robinson  und  Freitag.    Gleicherweise  zeigt  es  sich 


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10 


Die  Eigenthumsfrage  der  Neuzeit. 


von  jedem  Gesichtspunkte  aus,  dass  die  Idee  der  Solida- 
rität1 ergänzend  zum  Begriff  der  indivi- 
duellen Freiheit  hinzutritt.» 

Das  Eigenthum  sei  also  nicht  absolut  zu  nennen,  weil  es 
mehrere  Bestandtheile  in  sich  schliesse,  welche  der  Theorie  nach 
mehrere  Urheber  beanspruchen  könnten,  wenn  es  ein  Mittel  gäbe, 
jedem  genau  zuzumessen,  was  ihm  gebührt.  Zu  unserem  persön- 
lichen Verdienst  hinsichtlich  der  Form,  die  wir  erfunden,  komme 
das  Verdienst  der  Natur  hinsichtlich  der  von  uns  in  Besitz  ge- 
nommenen Materie.  Die  Natur  schaffe  das  Keimen,  Wachsen  und 
Fruchtbringen  der  Saat  durch  die  Feuchtigkeit  des  Bodens  und  die 
Wärme  der  Sonnenstrahlen  &c,  wenngleich  dieser  Beihilfe  zur 
menschlichen  Arbeit  sich  nur  ein  Theil  der  Menschen  unmittelbar 
erfreue.  Dieser  Antheil  der  Natur  gestalte  sich  also  zu  einem 
Ansprüche  dritter  Art,  welchen  das  ganze  Menschen- 
geschlecht geltend  machen  könne.  So  gewiss  nach  dieser  Analyse 
alles  Eigenthum  vom  philosophischen  Gesichtspunkte  gewissermassen 
zwei  Pole  hat,  besitzt  es  auch  eine  individuelle  und  sociale  Seite. 
Aller  absoluten  Ansprüche  habe  man  sich  zu  entschlagen,  der 
Dogmatismus  der  traditionellen  Metaphysik  ist  ebenso  verkehrt 
wie  die  Schule  der  revolutionären.  Dasselbe  Princip,  welches  die 
Begründung  des  Eigenthums  in  sich  schliesse,  zeige  auch  die  uner- 
lässliche  Grenze,  ebenso  wie  in  der  Geometrie  die  Bewegung  einer 
Kreislinie  um  ihren  Diameter  die  betreffende  Sphäre  erzeugt  und 
zugleich  begrenzt, 

B. 

Ist  der  absolute  Individualismus  unhaltbar,  der  im  Eigenthum 
neben  dem  individuellen  Element  nicht  das  sociale  erkennt,  so  er- 
wiesen sich  die  absoluten  Theorien  des  Socialismus  noch  hinfälliger. 
Sumner  Maine,  v.  Laveleye,  Spencer  haben  die  historische  Ent- 
wicklung des  Eigenthums  vollständig  dargelegt.  Im  ursprüng- 
lichen Naturzustande  ist  das  Verlangen,  sich  ein  Ding  anzueignen 
und  als  seines  zu  betrachten,  ein  Instinct,  welchen  der  Mensch  mit 
den  Thieren  theilt:  ein  Hund  kämpft  zur  Verteidigung  des  ver- 
grabenen Knochens  oder  der  Kleider,  deren  Bewachung  sein  Herr 
ihm  übergeben  hat.    Im  Kampfe  ums  Dasein  bildet  dieser  Instinct 

1  La  socielc  n'est  jias  une  juxtaposition  d'egoisntes  scpares  les  uns  des 
autres  par  un  vide;  ce  n'est  pas  commc  un  archipel  composi  d  une  multihidc 
d'itcs  ayant  chacitne  un  Robinson  .  .  .  Ainsi,  ä  tous  hs  points  de  vue,  Vidie  de 
solidarite  vient  compUter  celfe  de  liberte  individuelle. 


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Die  Eigenthumsfrage  der  Neuzeit. 


17 


eine  Bedingung  der  Ueberlegenheit  und  des  ,Ueberlebens\  wie 
Darwin    sagt.     Es  entsprach  dem   menschlichen  Interesse ,  an 
Stelle  der   gegenseitigen  Befeindung  und  Ausrottung  jedem  den 
Besitz  desjenigen  zu  lassen,  was  er  durch  seine  Arbeit  zu  erzeugen 
oder  zu  erlangen  vermag.    Auch  ist  ein  solcher  Besitz  bezüglich 
beweglicher  Dinge,  z.  B.  was  Jagdbeute  betrifft,  zu  allen  Zeiten 
anerkannt  worden.    Es  ist  auch  sehr  wahrscheinlich,  dass  der  Besitz 
von  Höhlen  und  Nachtlagern  ursprünglich  ein  individueller  oder 
familienhafter  war.    Aber  das  Land  wurde  bald  gemeinschaftlicher 
Stammbesitz.    Das  von  Jagd  Völkern  oder  nomadisirenden  Truppen 
durchstreifte  Gebiet  ist  stets  als  Gemeingut  desjenigen  Stammes 
betrachtet  worden,  welcher  im  übrigen  nur  die  Kraft  der  Ver- 
teidigung besass    Selbst  nachdem  sich  die  Herrschaft  des  Acker- 
baues herausgebildet  hatte,  bewahrt  das  Gebiet,  welches  der  Stamm 
bewohnt,  oft  den  Charakter  eines  ungeteilten  Eigenthums:  man 
bebaut  gemeinschaftlich  das  Ackerland,  wie  man  gemeinschaftlich 
die  Weide  und  den  Wald  nutzt.    Später  wurde  das  Culturland 
durch  das  Loos  getheilt  und  nach  der  Stimme  des  Schicksals  unter 
die  Familien  vertheilt.    Man  tibergab  den  Individuen  die  zeitweilige 
Nutzniessung,  aber  der  Bodengrund  verbleibt  Gemeingut  des  Stammes 
oder  der  Gemeinde,  an  welche  er  nach  einer  gewissen  Frist  zurück- 
fällt, damit  eine  neue  Theilung  vorgenommen  werden  kann.  Dies 
ist  bekanntlich  das  noch  heute  unter  dem  Nameu  cMir»  in  Kraft 
stehende  System  der  russischen  Gemeinden  und  das  unter  dem 
Namen  f  Allmend»  geltende  Recht  in  den  Waldcantonen  der  Schweiz 
(vergl.  ausser  der  Schrift  von  Laveleye  das  Werk  von  M.  Mackenzie 
Wallace  über  Russland.    Ueber  analoge  Einrichtungen  Indiens: 
Sumner  Maine,  VÜlages  Communities  in  (he  East  and  West).  ...  Es 
war  Rom,  welches  durch  die  Entwickelung  des  absoluten  Grund- 
besitzes in  seinem  ganzen  Umfange  das  quirile  Dominium  aufhören 
machte.    Und  nach  Mommsen  war  noch  ,bei  den  Römern  die  Idee 
des  Eigenthums  ursprünglich  nicht  mit  unbeweglichem  Eigenthum 
verbunden,  sondern  nur  mit  dem  Besitz   von  Sclaven  und  Vieh1. 
Zwei  wesentliche  Ursachen  haben  das  individuelle  JMgenthum  aus- 
gebildet :  zunächst  die  Militärherrschaft  und  sodann  die  Macht 
der  Industrie.    Die  Militärherrschaft  schuf  .  .  .  den  Unterschied 
von  Eroberern  und  Unterworfenen.    Das  Land  wird,  wie  jeder 
andere  Raub,  eine  Beute,  welche  getheilt  wird.    Die  Eroberung 
beginnt  .  .  .  das   Eigenthum  zu  ,individualisiren\     Aber  dieses 
Eigen  thumsrecht  wird  vollständig  individuell  erst  mit  einer  neuen 

Baltische  M>n»t«8rhrifl  Bd  XXXIV,  Heft  I.  2 


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t 


18  Die  Eigen thumsfrage  der  Neuzeit. 

Periode  menschlicher  Entwickelung :  der  industriellen  Periode.  Die 
Arbeit  schafft  thatsäehlieh  erst  den  wahren  Massstab  fttr  Werth 
und  Eigenthuni ;  indem  der  Austausch  die  Actionsfreiheit  unter 
den  Individuen  begründet,  gestaltet  er  allmählich  das  Recht  immer 
individueller  hinsichtlich  aller  tauschbaren  Gegenstände,  selbst  hin- 
sichtlich des  Landes.  Wenn  demnach  Mass  und  Geld  zum  Kauf 
und  Verkauf  des  Landes  dienen,  so  tritt  das  Land  bei  diesem  Vor- 
gange unter  den  Gesichtspunkt  des  persönlich  durch  Arbeit  er- 
langten Besitzes  und  verschmilzt  schliesslich  allgemein  mit  letzte- 
rem. Das  ist  das  Stadium  der  EntWickelung,  in  welches  die  civili- 
sirten  Gesellschaften  gelangt  sind  und  welches  eine  Periode  des 
Individualismus  darstellt.  In  allen  muselmännischen  Ländern  wird 
indessen  das  Land  noch  als  dem  Staate  gehörig  betrachtet,  der  es 
erlangt  hat.  Es  ist  ein  Axiom  des  englischen  Rechts,  dass  alles 
Land  von  England  das  Eigenthura  der  Krone  ist,  d.  h.  der  Eroberer, 
und  dass  die  Besitzer  w'en  sont  que  les  concessionaircs  ä  titre  gra- 
cieux.    (Comment.  of  Blakstone,  Hv.  II.  c.  5.)» 

Wenn  also  von  Historikern,  wie  Sumner  Maine  und  v.  Lave- 
leye  das  Vorhandensein  social  istischer  Institutionen  als  die  roheste 
Form  von  Organisationsanfängen  nachgewiesen  worden ,  so  sei 
doch  die  Frage,  ob  der  Socialismus  sich  mit  der  Tendenz  der 
zukünftigen  Gesellschaft  verträgt,  ein  Problem,  welches  nicht  aus 
der  Geschichte  erschlossen  werden  könne.  Zunächst  käme  die 
Rechtshypothese  in  Betracht,  welche  die  Vertreter  des  Gemein- 
besitzes verfechten.  Nach  dieser  Hypothese,  welche  bis  auf  die 
Kirchenväter  zurückgreift,  würde  das  Land  und  alles,  was  es  ent- 
hält, dem  Rechte  nach  der  Gesellschaft  gehören,  bevor  der  Einzel- 
besitz an  das  Individuum  gelangen  könnte.  Es  verbliebe  demnach 
der  Gesellschaft  die  Oberhoheit,  tdomaine  eminent*,  ein  Eigenthums- 
recht über  das  Land,  dessen  Früchte  sich  im  untergeordneten 
Besitzrechte  des  Individuums  befänden.  Solcher  Art  sei  das  Recht, 
welches  die  englische  Krone  sich  noch  heute  zuspräche,  und  das  sei 
der  zur  Theorie  erhobene  primitive  Communismus. 

Vom  humanitären  Standpunkte  könne  man  nur  sagen,  dass  das 
Eigenthuni  eine  individuelle  und  collective  Seite  hat  und  dass  das 
sociale  Problem  darin  bestehe,  das  Recht  des  Einzelnen  durch  das  Recht 
aller  zu  bestimmen.  Da  endlich  der  letzte  Rechtsboden  für  alle  diese  Ge- 
sichtspunkte im  Staate  zu  suchen  sei,  so  ergebe  sich  als  positive  Frage 
die  Bestimmung  darüber,  wie  es  sich  vom  Gesichtspunkte  des  Rechtes 
und  Nutzens  mit  den  ökonomischen  Prärogativen  des  Staates  verhalte. 


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Die  Eigenthumsfrage  der  Neuzeit. 


19 


Der  Staat  besorge  bekanntlich  drei  grosse  ökonomische  Func- 
tionen: Gütererzeugung,  Vertheilung  und  Verbranch.  «Man  kann 
die  socialistischen  Systeme  nach  demjenigen  Antheil  klassificiren, 
welchen  dieselben  dem  Staat  hinsichtlich  jeder  dieser  Haupt- 
operatiouen  anzuweisen  suchen.»  Zunächst  der  absolute  Socialismus, 
welcher  alle  drei  Operationen  social isiren  möchte :  gemeinsam  wäre 
aller  Reichthnm  zu  erzeugen,  gemeinsam  fände  der  Verbrauch  statt, 
und  der  Staat  vollzöge  die  Vertheilung.  Ein  solcher  Oommunis- 
mus,  sagt  Proudhon,  wäre  der  «Ekel  der  Arbeit,  der  Feind  des 
Lebens,  die  Vernichtung  des  Denkens,  der  Tod  des  Ich».  Sodann 
der  gemässigte  Socialismus  (Schaffte) ,  welcher  die  Gütererzeugung 
socialisiren  möchte  mittelst  eines  Gemeinschaftsbesitzes  von  Land 
und  Capital.  «Aber  zunächst  will  die  Gerechtigkeit,  dass  alle 
Vereinigung  eine  freie  sei  und  dass  der  Einzel wille  der  sich  Ver- 
bindenden seine  Unabhängigkeit  behalte,  statt  dass  derselbe  gänz- 
lich in  einer  despotischen  Massenherrschaft  untergeht.»  Auch  vom 
Gesichtspunkte  des  Nutzens  sei  die  Sache  nicht  stichhaltig.  Im 
kleineren  Kreise  genossenschaftlichen  Zusammenwirkens  für  einen 
bestimmten  Zweck  könne  freilich  mehr  geleistet  werden,  als  es 
Einzelarbeit  für  Tageslohn  vermag.  «Aber  wenn  man  nur  an 
einer  Gemeinschaft  von  40  Millionen  mitwirken  kann,  wenn  man 
nichts  weiter  als  eine  Nummer  in  einer  gewaltigen  Totalsumme  ist, 
dann  verliert  sich  die  Wirkung  in  der  Masse  und  das  Individuum 
im  Staat.  Die  productiven  Kräfte  verzehnfachen  sich  dann  nicht, 
sondern  werden  decimirt  ...  das  wäre  das  Ende  alles  industriellen 
Fortschrittes,  denn:  ,wer  hätte  ein  .Interesse,4  fragt  mit  Recht 
Laveleye,  ,das  Verfahren  der  Fabrication  zu  verbessern,  wenn  der 
Lohn  getheilt  wird  ?'  Den  durch  Interessenconcurrenz  genährten 
Wetteifer  der  Arbeit  hätte  der  Socialismus  durch  irgend  eine 
utopistische  Rivalität  von  Tugenden  zu  ersetzen.» 

Ausserdem  sei  gegen  Handhabung  der  Gütererzeugung  durch 
den  Staat  ein  schwerwiegender  Einwurf  zu  erheben.  «Der  Staat 
kann  nur  da  mit  Vortheil  eingreifen,  wo  es  Functionen  gilt,  welche 
erstens  allgemein  und  beständig,  zweitens  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  mechanisch  zu  verrichten  sind.  Der  Staat  eignet  sich  übel 
für  alles,  was  fliessend,  veränderlich  ist,  was  praktische  Intelligenz, 
Tact  und  geistige  Anschlussfühlung  für  die  Umstände  erfordert. 
Ein  administrativer  Körper  ist  meist  ohne  Initiative,  ohne  Inter- 
esse, ohne  moralische  Verantwortlichkeit  ;  er  kann  nicht  wahrhaft 
schöpferisch  sein.» 

2* 


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20 


Die  Eigenthumsfrage  der  Neuzeit. 


Endlich  werde  von  den  Socialisten  und  «Collectivisten»  die 
Existenz  von  anderen  rivalisirenden  Staaten  und  die  Nothwendig- 
keit  industriellen  Ringens  mit  denselben  völlig  übersehen.  Gegen 
die  ausländische  Concurrenz  hätte  der  Socialismus  eine  chinesische 
Mauer  nöthig. 

Was  die   dritte   ökonomische  Staatsoperation,   die  Güter- 
vertheilung,  beträfe,  so  handelt  es  sich  um  einen  Punkt,  der  ein 
gewisses  Einschreiten  des  Staates  sehr  wohl  zuliesse.   c Sind  Güter- 
erzeugung und  Verbrauch  ihrem  Wesen  nach  individueller  Natur, 
so  tragen  Wechsel  und  Umlauf  der  Werthe,  desgleichen  die  Ver- 
theilung  der  Arbeitsmittel  thatsächlich  schon  in  ihrer  Bestimmung 
den  Charakter  socialer  Beziehungen,  bei  welchen  stets  das  Inter- 
esse von  Dritten  ins  Spiel  kommt :  daher  man  hier  besser 
das  Eingreifen  einer  regelnden  Macht  begreift.»    Aber  deshalb 
habe  man  aus  dem  Staate  noch  nicht  eine  Art  von  Vorsehung  zu 
machen,  welche  die  Erzeugnisse  nach  Würdigung  der  Arbeit  ver- 
theile und  den  Werth  der  Dinge  bestimme.    Wo  sollen  die  Mass- 
stäbe für  die  verschiedenen  Abschätzungen  herkommen,  wenn  von 
Angebot  und  Nachfrage  oder  freiem  Contract  nicht  mehr  die  Rede 
sein  soll  ?  Der  heutige  Socialismus  schlage  als  absoluten  Massstab 
des  Werthes  zwar  Zeiteinheiten  der  Arbeit  vor,  aber  ein  unge- 
schickterer Massstab  Hesse  sich  kaum  denken  als  dieser,  in  welchem 
Schäffle  ,die  wahre  Gruudtheorie  des  Socialismus4  sehe.  Zwar 
hebe  schon  Schäffle  hervor,  dass  diese  Theorie  einer  Zurecht- 
stellung bedürfe,  sofern  der  Werth  der  Güter  nicht  nur  von  den 
Herstellungskosten,  sondern  auch  von  dem  Bedürfnisse  abhänge. 
Aber  noch  weit  unzulässiger  sei  der  Massstab  der  Zeit  bei  Ab- 
schätzung der  Arbeit  in  Dingen  der  Qualität,  des  moralischen 
Werthes  oder  des  Talentes.    Ein  Newton  könne  in  einer  Minute 
eine  grössere  intellectuelle  oder  moralische  Kraftwirkung  entfalten 
und  damit  für  die  Menschheit  mehr  leisten  als  ein  Handlanger  in 
einem  ganzen  Tage. 

Es  sei  also  nöthig  sich  dem  praktischeren  Ideal  der  Gerechtig- 
keitsordnung in  Handel  und  Wandel  (justice  commutative)  oder  der 
Vertragsgerechtigkeit  zuzuwenden,  wo  die  Autorität 
des  Staates  im  Dienste  der  gleichen  Freiheit  für  alle  steht,  cühue 
in  die  Anmassung  zu  fallen,  jedem  nach  seinen  Werken  zumessen 
zu  wollen,  stellt  der  Staat  die  allgemeine  Billigkeit  in  Hinsicht 
auf  die  Wahrnehmung  und  Rechtskraft  der  Contractu  sicher.  .  .  . 
Er  ist  der  Vermittler  zwischen  einem  Bürger  und  dem  anderen, 


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Die  Eigen thumsfrage  der  Neuzeit. 


21 


zwischen  dem  Einzelbürger  und  einer  Gesellschaft,  zwischen  Gesell- 
schaft und  Gesellschaft,  zwischen  Privatpersonen  und  der  Nation, 
zwischen  einzelnen  Gesellschaften  und  der  gesammten  Gesellschaft, 
zwischen  den  gegenwärtigen  und  künftigen  Geschlechtern.  Mit 
einem  Worte,  er  ist  der  Bürge  für  alle  Rechte  und  der  Bevoll- 
mächtigte für  alle  wahren  Gemeininteressen.» 

Auch  auf  diese  Grenzen  zurückgeführt,  bleibe  die  juridische 
und  ökonomische  Rolle  des  Staates  eine  bedeutende.  Die  National- 
ökonomen,  u.  a.  Leroy-Beaulieu,  befänden  sich  durchaus  im  Unrecht 
mit  der  besonderen  Annahme,  dass  der  Staat  weder  die  Pflicht 
noch  das  Recht  habe,  Opfer  zu  bringen,  um  die  menschlichen  Ver- 
hältnisse weniger  ungleich  zu  machen.  Die  gesammte  Gesellschaft 
habe  Pflichten  der  Theilnahme  und  Unterstützung  in  Bezug  auf 
die  c letzten  Besitznehmer»  der  Erde,  und  es  handle  sich  hier  nicht 
sowol  um  Barmherzigkeit  als  um  ausgleichende  Gerechtigkeit. 
Dieser  habe  der  Staat  als  Repräsentant  der  Gerechtigkeit  nachzu- 
kommen, indem  er  die  Erlangung  von  Eigenthum  neuen  Besitz- 
nehmeru  möglichst  erleichtert.  Denn  «das  Eigenthum  be- 
deutet in  unserer  modernen  Gesellschaft  die 
persönliche  Unabhängigkeit:  es  steckt  in  demselben 
eine  gewisse  Gleichgewichts vermittelung  von  persönlicher  Habe  und 
Macht,  welche  für  die  wirkliche  Gleichheit  der  bürgerlichen  und 
politischen  Rechte  erforderlich  ist1.»  Es  giebt,  sage  Guizot,  kein 
wahres  Recht  ohne  das  Vermögen  sich  desselben  zu  bedienen  und 
kein  wahres  Vermögen  ohne  Sicherstellung,  deren  beste  die  durch 
Besitz  gewährleistete  Unabhängigkeit  sei.  Der  Staat  könne  gewiss 
nicht  allen  thatsächlichen  Besitz  gewährleisten,  aber  er  müsse  Um- 
lauf und  Vertheilung  der  ersten  Arbeitsmittel  unter  allen  begünsti- 
gen, sei  es  materieller  oder  intellectueller  Art.  Bei  aller  Aner- 
kennung des  individuellen  Charakters,  welchen  Gütererzeugung  und 
Verbrauch  an  sich  tragen,  habe  daher  der  Staat  unbedingt  die 
Pflicht  und  das  Recht  der  Einwirkung  auf  den  socialen  Factor 
(le  phinomtme  social)  des  Güterumlaufes.  Diese  Einwirkung  habe 
er  zu  bewerkstelligen,  indem  er  Hemmnisse  des  Gesetzes  beseitigt, 
Aufschwung  befördert  und  Regelmässigkeit  mit  nachhaltigen  Mitteln 
sichert.  « Was  die  Nationalökonomen  unter  den  Gesichtspunkt  des 
Möglichen  und  Zulässigen  stellen,  halten  wir  im  Principe  für 

1  La  propriiU  reprisente,  dans  nos  societen  modernes,  l'indcpcndance  per- 
sonelle ;  il  y  a  un  certain  equilibre  des  possessio™  et  des  pouvoirs  personeis 
necessaire  ä  legalite  rielle  des  droits  civiles  oh  politique*. 


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22 


Die  Eigenthumsfrage  der  Neuzeit. 


nothwendige  und  schuldige  Wahrnehmung. >  Aus  diesem  Grunde 
hat  der  Staat  für  Communieationsmittel  zu  sorgen,  eventuell  in 
allen  Angelegenheiten,  wie  Strassen,  Post,  Münze  &c,  welche  das 
öffentliche  Verkehrswesen  betreffen,  energisch  zu  interveniren ;  des- 
gleichen sich  des  Unterrichts  anzunehmen,  welcher  sich  dem  neuen 
Geschlecht  (nouveau-venuesi  als  erstes  sociales  Capital,  als  erste 
sociale  Grundlage  darbiete  &c.  » 

Wenn  sich  auch  die  Sphäre  des  Staates  nicht  mit  der  Genauig- 
keit eines  Geometers  begreuzen  lasse,  so  hätten  doch  die  National- 
ökonomen Unrecht,  wenn  sie  den  Staat  fast  von  allem  fernhalten 
wollen,  während  die  Sotialisten  dem  Staat  die  Aufgabe  zuweisen, 
sich  in  alles  zu  mischen.  Das  System  des  Ausgleiches  und  der 
Ergänzung,  welches  dem  Staate  obliege,  könne,  bei  der  Beweglich- 
keit und  Veränderlichkeit  der  Gesellschaft  und  ihrer  Bedürfnisse, 
nur  allgemeine  Gesichtspunkte  festhalten.  <Hüten  wir  uns  also  vor 
den  einfachen  und  absoluten  Systemen,  vor  den  Lösungen,  welche 
gewisse  Politiker  ,in  einer  Viertelstunde'  fertig  bringen  wollen.» 
In  Nachfolgendem  sollen  praktische  Reformen  zur  Beseitigung  der 
durch  die  Herrschaft  des  Eigenthums  geursachten  Misstände  an- 
gedeutet werden. 

C. 

Zunächst  wären  die  Hauptursachen  zur  Anhäufuug  von  Reich- 
thum zu  untersuchen,  wodurch,  nach  dem  Urtheile  des  herrschenden 
Zeitgeistes,  die  überwiegende  Mehrheit  der  Menschen  zum  Vortheil 
der  Privilegirten  hintangesetzt  sei. 

Die  erste  Ursache  der  Anhäufung  —  gegen  welche  Stuart 
Mill  bis  zum  Uebermass  sich  ereifert  und  auch  Laveleye  sich  er- 
hitzt —  sei  der  Factor  der  Grundrente  oder  *la  phis-value> .  Nach 
Ricardo  erhöhe  diese  plus-vnlue  unaufhörlich  den  Bodenwerth,  wie 
auf  dem  Lande  so  in  der  Stadt,  ohne  neue  Arbeit  des  Eigenthümers. 
Durch  den  Eiufluss  der  Rente  fliesst  dem  Eigenthümer,  abgesehen 
von  dem,  was  ihm  rechtmässig  für  seine  Arbeit  oder  für  die  Ver- 
werthung  seiner  Capitalien  zukommt,  nach  Ricardo  und  Stuart 
Mill  noch  ein  Extravortheil  in  Folge  von  zwei  äusseren  Ursachen 
zu :  erstens  von  dem  immer  zunehmenden  Werth  des  Bodens  und 
zweitens  von  dem  neuen  Werthe,  welchen  die  socialen  Verhältnisse 
den  Erzeugnissen  verschaffen,  sei  es  durch  Steigerung  der  Nach- 
frage, sei  es  durch  ein  Anwachsen  der  Bevölkerung  an  einem 
Punkt,  sei  es  durch  nene  Absatzwege.    Man  hat  berechnet,  dass 


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Die  Eigenthumsfrage  der  Neuzeit. 


23 


jeder  Auswanderer,  welcher  sich  in  den  Vereinsstaaten  ausschifft, 
ungefähr  um  400  Dollars  den  Werth  des  Landes  erhöht :  cjedes 
Kind,  das  zur  Welt  kommt,  bringt  dieselbe  Wirkung  hervor  wie 
dort  der  Emigrant ;  durch  die  blosse  Thatsache  seines  Daseins  fügt 
es  einen  Mehrwerth  von  einigen  Centimen  zu  jeder  Landeshectare 
seiues  Vaterlandes  hinzu1  >. 

Noch  auffälliger  zeige  sicli  der  Factor  der  Rente  oder  des 
wachsenden  Mehrwerthes  an  städtischem  Grundeigenthum,  wie 
Leroy-ßeaulieu  und  Henri  George  vortrefflich  nachgewiesen  hätten. 
In  30  Jahren  hat  sich  im  Seine-Departement  der  Wertli  des  unbe- 
bauten Landes  mehr  als  verzehnfacht.  Im  Centrum  der  Städte 
ist  es  bis  zum  Preise  von  1000  bis  3000  Francs  den  Meter  ge- 
kommen, d.  h.  zu  einem  Preise,  welcher  dreissig  tausend  mal  den 
Werth  eines  Ackerstückes  übersteigt.  <Was  hat  der  Eigenthümer 
gethan,»  fragt  Leroy-Beaulieu,  cum  sich  die  ganze  Summe  dieses 
Socialwerthes  anzueignen  ?  Denn  ein  Socialwerth  liegt  hier  in  der 
That  vor  in  der  ganzen  Geltung  des  Wortes,  ein  Werth,  der  auf 
die  Thätigkeit  der  Gemeinschaft  und  deren  Wohlfahrt  zurückzu- 
führen ist.  Was  hat  der  Grundeigenthümer  gethan,  ausser  dass 
er  abwartete  und  sich  des  ßebauens»  enthielt  ?>  c  Befragt  einen 
praktischen  Geldmacher,  >  sagt  Henri  George.  cSagt  ihm  :  hier  ist 
eine  kleine  Stadt,  die  sich  erweitert ;  in  zehn  Jahren  ist  hier  eine 


1  Vgl.  die  ausgezeichnete  Studie  von  Charles  Gide  über  (irundeigenthum, 
Auszug  aus  dem  «Journal  des  ecotiomistes*.  Lavergne  schützt  in  seiner  -Eco- 
nomic rurale  de  VAnghterre»  das  Anwachsen  des  jährlichen  Mehrwerthes  von 
England  zn  1  auf  100;  der  Bodenwerth  dürfte  sich  in  der  Periode  von  00  Jahren 
ungefähr  verdoppeln.  In  Frankreich  hält  der  langsame  Zuwachs  der  Bevölkerung 
das  Anwachsen  des  Mehrwerthes  zurück. 

*  Leroy-Beaulieu  fügt  mit  Recht  hinzu,  daas  dieses  Abwarten  und  diese 
Enthaltsamkeit,  weit  davon  entfernt,  unter  den  verdienstlichen  Gesichtspunkt  des 
Sparens  zu  fallen,  sich  einzig  und  allein  nur  als  Hemmnis  der  socialen  Wohlfahrt 
erweise.  Jahrzehnte  hindurch  hat  der  Landspeculant,  wohl  oder  übel  von  seiner 
Berechnung  oder  seinem  Institut  geleitet,  leere  Landstücke  sich  angeeignet  und 
sie  der  Ausnutzung  entzogen.  Dadurch  hat  er  arme  Leute  verhindert,  sich  dar 
auf  Hütten  oder  bescheidene  Häuser  zu  erbauen.  Er  hat  den  Arbeiter,  ih  n 
kleinen  Bürger  genüthigt,  in  noch  grosserer  Entfernung  ein  Unterkommen  zu 
find'  n.  Er  hat  sie  der  Wohlthat  beraubt,  einen  (Jarteu  zu  besitzen.  Er  hat 
Hindemisse  für  das  Bewohnen  der  Stadt  geschaffen  occ.  Hat  er  für  dieses  eigen- 
tümliche Verfahren  die  ausserordentliche  Vergütung  verdient?  Ganz  ungeheure 
Bereicherungen  sind  auf  diesem  Wege  gemacht  worden,  im  Schlaf,  blos  durch 
die  Erwerbung  freien  Landes  in  der  Umgebung  grosser  Städte,  durch  die  allei- 
nige Macht  der  Trägheit  .  .  . 


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Die  Eigenthumsfrage  der  Neuzeit. 


Grossstadt;  Eisenbahnen  werden  die  Diligencen  verdrängt  haben 
und  Edisonsche  Lampen  werden  sie  erhellen.  Ich  möchte  hier  mein 
Glück  machen  :  glauben  Sie,  dass  in  zehn  Jahren  sich  der  Zinsfuss 
gehoben  haben  wird?»  —  «Keineswegs,»  wird  der  .Rathgeber  ant- 
worten. —  «Glaubeu  Sie,  dass  der  Tageslohn  der  Arbeit  gestiegen 
sein  wird  ?»  —  «Weit  davon  entfernt :  die  Noth  nach  Arbeiterhänden 
wird  nicht  grösser,  sondern  geringer  sein.»  —  «Was  soll  ich  dem- 
nach thun,  um  mein  Glück  zu  machen?»  —  «Kaufen  Sie  einfach 
dieses  Landstück  und  nehmen.  Sie  es  in  Besitz  Sie  können  sich 
sofort  auf  ihrem  Landstücke  betten  und  nach  Belieben  entweder 
über  demselben  in  einem  Luftballon  oder  unter  demselben  in  einem 
Loche  schlafen  und,  ohne  einen  Finger  gerührt  oder  ein  Jota  zum 
allgemeinen  Reichthum  beigetragen  zu  haben,  werden  Sie  in  zehn 
Jahren  reich  geworden  sein.  In  der  neuen  Grossstadt  wird  sich 
für  Sie  ein  Palais  befinden,  aber  es  unterliegt  keinem  Zweifel, 
dass  daneben  auch  ein  Asyl  voll  Bettler  vorhanden  sein  wird.» 
Die  Folge  der  ßodenspeculation  sei  namentlich  die  steigende  Theue- 
rung  des  Miethzinses,  welcher  für  die  Arbeiter  zu  einer  stetig 
schweren  Bürde  werde.  Man  habe  zur  Beseitigung  der  Noth  dem 
Staate  das  Hecht  der  Expropriation  im  öffentlichen  Interesse  zuge- 
sprochen. Aber  Leroy-Beaulieu  rathe  zu  einem  Abwege,  wenn  er 
vorschlage,  dass  Staat  und  Städte  in  Besitz  genommenes  Land 
wieder  parcellenweise  verkaufen  sollen  Dieser  Weg  führt«  zum 
alten  Uebelstande.  Empfehlenswerther  sei  Verpachtung  auf  (K), 
100  und  120  Jahre.  Der  Staat  und  die  Gemeinde  genössen  dann 
den  Vortheil  des  Ueberwerthes,  welchen  sie  in  gemeinnütziger 
Weise  hauptsächlich  zum  Vortheil  der  Bedürftigen  verwenden 
könnten,  wie  Laveleye  vorschlage. 

Unter  anderen  von  Staat  und  Gemeinde  zu  ergreifenden  Mass- 
nahmen habe  Leroy-Beaulieu  auch  vorgeschlagen,  dass  Land  im 
Werthe  von  1000  Francs  der  Meter  die  Steuer  für  eine  Einnahme 
von  30  oder  40  Francs  entrichten  müsse ;  sodann  sei  die  Ent- 
wicklung aller  Communicationswege  zu  befördern  ;  Steuern  auf 
Transport,  Viehfutter,  Materialien  wären  aufzuheben ;  die  Eisen- 
bahnen bis  in  den  Mittelpunkt  der  Stadt  zu  verlängern,  damit 
sich  Arbeitercolonien  nach  dem  Vorbilde  von  Mühlhausen  bilden 
könnten  &c.  Diese  Reformen  griffen  in  die  Kategorie  der  Umlauf- 
mittel hinein,  wo.  wie  schon  nachgewiesen,  das  Eingreifen  des 
Staates  angezeigt  erscheiue. 

Die  Frage  nach  den  Rechten  und  Pflichten  des  Staates  in 


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Die  Eigenthumsfrage  der  Neuzeit. 


25 


Bezog  auf  die  ländliche  Grundrente  sei  weit  verwickelter  als  hin- 
sichtlich der  städtischen  Rente.    Nach  dem  Vorgange  von  Carey 
verirrten  sich  viele  Nationalökonomen  so  weit,  den  Factor  einer 
Ackerbaurente  gänzlich  in  Abrede  zu  stellen.    Hier  seien  Mis- 
verständnisse  zu  beseitigen.    Die  Hauptfrage  liege  nicht  in  der 
Fruchtbarkeit  oder  Unfruchtbarkeit  des  Bodens.    «In  jedem  Falle 
macht  sich  geltend :   l)  ein  Unterschied  der  Bodenbeschaffenheit ; 
2)  ein  Unterschied  der  Lage  und  der  Marktbeziehungen  ;  3)  eine 
steigende  Nachfrage  nach  Land  in  jedem  prosperirenden  Gebiete. 
Der   Preis  aller   unentbehrlichen   Existenzmittel   des  Menschen- 
geschlechts befindet  sich  im  Zuge  des  Steigens  mit  der  Mehrung 
des  allgemeinen  Reichthums  und  der  Bevölkerung,  während  der 
Preis  der  Manufacturerzeugnisse  im  Zuge  des  Sinkens  liegt  in 
Folge  der  Coucurrenz,  welche  die  Arbeiter  sich  unter  einander 
durch  ihre  anwachsende  Zahl  machen.»    Daher  die  steigende  Rente, 
aus  welcher  Stuart  Mill  ein  Steuerobject  zum  Nutzen  der  Arbeiter 
machen  wolle,  ähnlich  wie  Henri  George. 

Gegen  Stuart  Mill  und  Henri  George  sei  vortrefflich  einge- 
wandt worden:  «Wenn  ihr  es  zulassen  wollt,  dass  die  Gesellschaft 
das  Recht  der  Aneignung  von  allem  Ueberwerthe  hat  lediglich 
darum,  weit  derselbe  nicht  vom  Eigenthümer  hervorgebracht  ist, 
so  müsst  ihr  mit  gutem  Rechte  bestimmen,  dass  die  Gesellschaft 
auch  zur  Entschädigung  an  den  Eigenthümer  verpflichtet  wird  für 
jeden  Unterwerth,  der  nicht  durch  seine  Schuld,  sondern  durch  die 
socialen  Beziehungen  ihm  erwächst ;  die  Gesellschaft  soll  ohne 
weiteres  alles  Geld  reclamiren,  welches  vom  Glück  dem  Eigen- 
thümer bescheert  wird,  und  wenn  umgekehrt  ihn  Verlust  trifft, 
soll  es  heissen:  um  so  schlimmer  für  ihn  1>  Wie  sollte  wol  die 
laufende  Rechnung  über  Soll  und  Haben  zwischen  Eigenthümer  und 
Gesellschaft  geführt,  und  wie  sollte  die  Grenzlinie  festgestellt 
werden,  wo  die  individuelle  Arbeit  aufhört,  die  sociale  anfängt, 
wo  die  Genialität  des  erwerbenden  Eigenthümers,  wo  das  Glück 
die  Hand  im  Spiel  habe. 

In  England,  wo  der  Landbesitz  gewissermassen  ein  in  die 
Länge  gezogener  Raub  der  normannischen  Eroberung  sei,  habe  die 
Theorie  Mills  eine  gewisse  Haltbarkeit,  sofern  dort  mit  diesem 
Besitz  überdies  die  hervorragendsten  Rechte  verbunden  seien. 
Anders  verhalte  es  sich  in  Ländern,  wo  dieser  Gesichtspunkt 
nicht  zutreffe,  wie  in  Frankreich.  Die  Vortheile  des  Landbesitzes 
würden  hier  schon  durch  die  Goncurrenz  neuer  und  fruchtbarer 


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X 


20  Die  Eigenthumsfrage  der  Neuzeit. 

Länder  Amerikas,  Asiens,  Australiens  wesentlich  reducirt  &c. 
Ausserdem  sei  gegen  Mill  uoch  zu  bemerken :  wollte  man,  mit 
ihm,  Landbesitz  belasten,  so  würde  man  einerseits  wol  der  Er- 
weiterung des  Besitzes  vorbeugen,  aber  andererseits  den  Besitz- 
losen nicht  den  Erwerb  erleichtern. 

Ausser  der  unhandlichen  Besteuerung  der  Grundrente  zum 
Zweck  der  Abführung  allen  Ueberwerthes  an  den  Staat  hat  man 
auch  den  Rückkauf  des  Bodens  durch  den  Staat  vorgeschlagen  in 
theil weiser  Analogie  mit  dem  Rückkauf  der  Eisenbahnen.  Allein  die 
staatliche  Ausbeute  des  Eisenbahnbetriebes  Hesse  sich  durchaus 
nicht  mit  den  Schwierigkeiten  landwirtschaftlicher  Ausbeute  ver- 
gleichen. 

Einige  Gesichtspunkte  Stuart  Mills  und  Laveleyes  seien 
jedoch  beachtenswerth.  Was  Staat  und  Gemeinden  schon  gehört, 
wie  die  Forste,  Communalgüter  oder  Domänen,  öffentliche  Einrich- 
tungen, Strassen  &c,  hätte  eiuer  solchen  Behandlung  zu  unter- 
liegen, dass  für  Staat  und  Gemeinden  sich  dieselben  Vortheile 
steigender  Rente  ergäben,  wie  für  den  städtischen  Grundbesitzer, 
damit  dann  der  Ueberwerth  vom  Staat  zur  Minderung  der  Abgaben 
verwandt  werden  könnte. 

t  Der  Factor  der  Rente  macht  sich  übrigens  nicht  ausschliess- 
lich am  Grundeigenthum,  ländlichen  und  städtischen,  geltend.  Es 
giebt  noch  andere  Werthe,  welche  gleichfalls  nicht  sowol  durch 
die  persönliche  Arbeit  ihrer  Inhaber  steigen  als  vielmehr  durch 
den  Einfluss  socialer  Beziehungen,  durch  neue  Mittel,  neue  Er- 
fordernisse der  Industrie,  sogar  durch  einfache  Moden  und  die 
Willkür  der  allgemeinen  Stimme.  Es  ist  nicht  blos  die  Grund- 
rente, welche  in  der  Theorie  einen  der  Gesellschaft  zuzuweisenden 
Antheil  einschliesst ;  es  ist  jede  Reineinnahme,  welche  über  die- 
selbe hinaus  bezw.  mehr  als  die  Entschädigung  für  Capital  und 
Arbeit  einträgt  .  .  .  WTelche  Utopie,  wollte  mau  in  menschlichen 
Unternehmungen  den  Antheil  des  Wagnisses,  des  Glückes  und  Zu- 
falles nicht  gelten  lassen  1  Selbst  die  Arbeiter  profitiren  oft  von 
den  Umständen  .  .  .  Sind  die  Gärtner,  welche  in  ihren  Gärten 
Regen  gehabt  und  gute  Ernten  gemacht  haben,  zu  einer  Repara- 
tion an  diejenigen  verpflichtet,  welche  durch  Dürre  Schaden  er- 
litten haben  ?  Freilich  handelt  es  sich  in  diesen  Stücken  nur  um 
vorübergehende  Facto ren,  während  die  bewegliche  oder  unbeweg- 
liche Rente  den  dauernden  Charakter  von  Privilegien  an  sich  trägt. 
Aber  andererseits  neigt  die  bewegliche  Rente  von  selbst  zur  Ver- 


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I 


Die  Eigenthumsfrage  der  Neuzeit.  27 

minderung :  der  Zinsfnss  sinkt  auf  natürlichem  Wege,  wie  Leroy- 
Beaulieu  gezeigt  hat.  Gründung  von  Credkanstalten  .  .  .  bessere 
Schätzung  und  entsprechendere  Vertheilung  der  Steuern  .  .  .  wären 
die  geeignetsten  Mittel,  um  bis  zu  einem  gewissen  Masse  den 
socialen  Antheil  des  Einkommens  an  die  ganze  Gesellschaft  zurück- 
Üiessen  zu  machen.» 

Die  Erbschaft  wäre  in  gewisser  Hinsicht  als  dritte  Ursache 
der  Anhäufung  von  Reichthum  namhaft  zu  machen.  Ungeachtet 
der  socialistischen  Bekämpfung  sei  die  Rechtmässigkeit  des  Elbens 
unanfechtbar  sowol  vom  Gesichtspunkt  des  Rechts  als  auch  des 
socialen  Interesses  s  des  Rechts,  sofern  Nutzung  des  Eigenthums 
Sparen  und  Gebeu  in  sich  schliesst ;  des  socialen  Interesses,  soferu 
Capitalisiren  des  Individuums  die  natürlichsten  Bedingungen  des 
socialen  Fortschrittes  mehrt.  Aber  andererseits  habe  hier  der 
Staat  unbedingt  das  Recht  des  Eingreifens  und  Einschränkens. 
Der  Testator  nehme  nicht  nur  die  Gegenwart,  sondern  auch  eine 
unbegrenzte  Zukunft  in  Anspruch  mit  allen  Vortheilen  derselben 
in  Bezug  auf  den  steigenden  Mehrwerth  der  Erbschaft.  Dadurch 
übe  der  Testator  einen  Terrorismus  auf  die  Lage  der  Drit- 
ten, la  Situation  des  tiers,  in  der  zukünftigen  Gesellschaft  aus. 
Dans  tout  contrat  dont  Veflct  lointain  doit  se  developper  au  sein  de 
la  societe.  future  il  y  a  evidemment  un  tiers  inte  r  esse  ,  quoique 
absent  encore,  ä  savoir  la  societe  future  elle-meme,  qui  a  son  repre- 
sentant  aciuel  dans  la  societe  presente.  Diese  Mitwirkung  der  zu- 
künftigen Gesellschaft,  deren  Repräsentanten  die  gegenwärtige  auf- 
weise, mache  das  Testament  zu  einem  dreiseitigen  Contract,  der 
eine  uneingeschränkte  Freiheit  einseitiger  Verfügung  paradox  er- 
scheinen lasse.  Das  Princip  rechtlichen  Vorbehaltes  zum  Nutzen 
der  Kinder,  der  Eltern  und  des  tiberlebenden  Gatten  sei  gerecht. 
Der  Staat  habe  um  seinetwillen  ein  Interesse,  hierdurch  die  Er- 
haltung dessen  zu  begünstigen,  was  Le-Play  den  Familienstamm 
mit  seinem  Familiengut  nenne.  Aber  der  Staat  erweise  sich  viel- 
leicht zu  freigebig,  wenn  er  das  natürliche  Erbrecht,  falls  kein 
Testament  vorhanden  ist,  bis  zu  den  entferntesten  Verwandten  aus- 
dehnt, wo  schliesslich  das  Familienband  einen  geringeren  Grad  von 
Zugehörigkeit  aufweise  als  das  grosse  Gesellschaftsband.  Weil 
sich  an  der  Erbschaft  eine  noch  socialere  Seite  als  am  Eigenthum 
kund  thue,  sei  fast  allgemein  auch  schon  eine  Besteuerung  der 
Erbnehmer  eingeführt ;  der  gegenwärtige  Modus  sei  nur  zu  un- 
günstig für  kleine  Erbschaften,  welche  er  aufzehre. 


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Die  Eigenthumsfrage  der  Neuzeit. 


c  Ausser  der  Grundrente,  der  beweglichen  Rente  und  der 
übermässigen  Anhäufung  von  Erbschaften  giebt  es  noch  eine  vierte 
Ursache,  welche  das  Eigenthum  in  denselben  Händen  immobilisiren 
kann,  nämlich  die  Stiftungen  unveräusserlichen  Besitzes,  associa- 
tions  ä  patrimoine  itialienable,  ein  nicht  geringerer  Widerspruch 
gegenüber  dem  öffentlichen  Recht  als  die  .Substitutionen4  des  alten 
Regimes.»  Die  Ueberwachung  des  Staates  müsse  sich  unbedingt 
auf  die  Genossenschaften  industriellen  Capitals  erstrecken,  damit 
diese  nicht  die  Wirkungen  des  Monopols  hervorbringen,  was  leicht 
geschehen  könne,  da  ein  solcher  Capitalverband  stark  genug  sei, 
um  der  Concurrenz  Trotz  zu  bieten. 

Ungeachtet  der  Uebel,  welche  heutigen  Tages  aus  dem  Kampfe 
zwischen  Capital  und  Arbeit  hervorgingen,  sei  dieser  Kampf  doch 
nur  provisorisch.  Die  beiden  Feldlager,  welche  sich  scheinbar  unver- 
söhnlich gegenüber  ständen,  schliessen  nichtsdestoweniger  Menschen 
in  sich,  welche  ohne  einander  nichts  vermögen.  Das  schliessliche 
Paiticipireu  der  Arbeiter  an  dem  Capitale  je  nach  Massgabe  ihrer 
Arbeit  sei  nur  eine  Frage  der  Zeit.  <Die  Verallgemeine- 
rung des  Eigenthums  ist  der  Folgesatz  des  all- 
gemeinen Stimmrechtes,  denn  das  Sein,  welches 
genug  besitzt,  um  sich  zu  erhalten,  besitzt 
allein  sich  selbst  und  ist  im  Durchschnitt 
allein  wahrhaft  Herr  seiner  Stimme1.  .  .  .  Wir 
für  unsere  Person  glauben,  dass  die  Zukunft  dem  raschen  Umlaufe 
allen  Capitales  entgegengeht,  desgleichen  der  Leichtigkeit  jedweden 
Umtausches,  wie  es  mit  Eisenbahnen  und  Telegraphen  der  Fall 
ist.  Ein  Privilegium,  welches  ungebunden  und  in  beständigem  Um- 
laufe sich  befindet,  ist  in  Wahrheit  kein  Privilegium  mehr,  und  das 
Capital  wird  damit  enden,  dass  es  seine  Beweglichkeit  dem  Boden 
selbst  übertragen  wird,  welcher  auf  diesem  Wege  den  Charakter 
des  Monopols  verlieren  muss.» 

Zu  den  Dingen,  welche  der  Staat  von  sich  aus  zur  Unter- 
stützung der  Arbeiter  unternehmen  könnte,  wäre  auch  das  zu  be- 
schaffende System  einer  allgemeinen  Versicherung  zu  zählen.  fDas, 
worin  die  Macht  des  Capitals  in  der  modernen  Gesellschaft  steckt, 

1  La  proprieti  univcrsalisie  est  le  coroUaire  du  suffrage  universel,  rar  l'etre 
qni  po8sr.de  assrz  pour  sc  suffire  se  possi'de  s<ul  lui-mcme  et,  en  moyenne,  est 
seid  vraiment  maitre  de  son  tote  .  .  .  Pour  nous,  nous  croyons  que  l'avenir 
est  ä  la  circulation  rapide  de  tous  les  capitcaux  ...  Un  privilege  mobilisi  et 
cireulant  »ans  cesse  nest  plus  vraiment  un  privilege. 


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Die  Eigenthumsfrage  der  Neuzeit. 


29 


ist  die  Einheit  und  ßerechnungsmögliclikeit  desselben;  für  den 
Chemiker  besitzt  isolirte  Salpetersäure  und  isolirte  Baumwolle  keine 
Macht,  aber  ihre  Verbindung  sprengt  Felsenwände  und  ebnet  Ge- 
birge. Gegenüber  dem  verbündeten  Capital  müssen  die  Arbeiter 
ihre  Zukunft  und  ihre  Ersparnisse  versichern,  um  deren  Bedeutung 
durch  das  Walten  der  Versicherung  hundertfach  zu  erhöhen.  > 

Brentano  habe  nachgewiesen,  dass  der  Arbeiter  zu  seiner 
Sicherstellung  vier  Versicherungen  schliessen  müsste:  1)  eine  Ver- 
sicherung, deren  Zweck  eine  Rente  zur  Ernährung  und  Erziehung 
der  Kinder  für  den  vorzeitigen  Todesfall  des  Arbeiters  wäre  — 
wie  L(V*h  Say  sagt,  die  Sicherstellung  für  die  Regeneration  der 
Arbeiterklasse  ;  2)  eine  Versicherungsrente  für  das  Alter ;  3)  eine 
Unglücks-  und  Krankheitsversicherung;  4)  eine  Versicherung  für 
Brachliegen  aus  Arbeitsmangel.  In  Folge  wachsender  Solidarität, 
welche  in  unserer  modernen  Gesellschaft  zwischen  eiuem  Bürger 
und  den  anderen  sich  geltend  macht,  gestalte  sich  Fahrlässigkeit 
des  einen  zu  um  so  grosserer  Belastung  der  anderen.  Von  diesem 
Principe  aus  zwinge  man  zum  Anzünden  der  Wagen laternen  wäh- 
rend der  Nacht,  zum  Fegen  der  Schornsteine  &c,  und  könne  dem- 
nach die  Versicherungen  eben  so  befehlen  wie  diese  Vorsichts- 
massregeln, iltn  Interesse  intellectueller  und  mo- 
ralischer Ordnung  hat  der  Staat  das  Recht,  ein 
Minimum  nothwendiger  Unterweisung  in  der 
bürgerlichen  Rechtsverfassung  zu  befehlen, 
besonders  hinsichtlich  des  Stimmrechtes; 
denn  wir  alle  haben  ein  Interesse  daran,  dass 
alle,  welche  mit  uns  die  Aufgabe  theilen,  die 
Regierung  zu  unterstützen,  nicht  im  Zustande 
der  Abhängigkeit  und  Unfähigkeit  sich  be- 
finden. Im  Interesse  desselben  Princips  kann  der  Staat,  ohne 
die  Gerechtigkeit  zu  verletzen,  ja  im  Namen  der  Gerechtigkeit,  die 
Arbeiter  zu  einem  Minimum  von  Vorsorge  und  Sicherstellung  der 
Zukunft  anhalten«.    Denn  diese  Sicherstellung  menschlichen  Capi- 

1  Dans  Vordre  in  teile  et  uel  et  mural,  l'etat  a  le  droit  d'exiger  le  minimum 
d ' Instruction  necessaire  ä  l'exercice  des  droits  de 
c  i  t  o  y  e  n  ,  s  u  r  t  o  u  t  du  droit  de  suffrage,  car  nous  sontmes 
tous  interesscs  ä  cc  que  ceux  qui  partagent  aeec  nous  le  pouvoir  du  contrihuer 
au  gouvernewent  ne  soieni  pas  datts  un  etat  de  servitude  et  d'incapncite  reelle. 
En  vertu  du  meine  principe,  litat  peut,  Sans  rioler  la  justice  et  au  nom  de  la 
justice  memc,  exiger  des  travailleurs  un  Minimum  de  precogance  et  de  garanties 
pour  l  acenir. 


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30 


» 

Die  Eigenthumsfrage  der  Neuzeit. 


tales,  welche  als  Minimalersatz  wirklichen  Eigenthumes  wahrhaft 
freier  und  gleicher  Bürger  zu  betrachten  ist,  wird  mehr  und  mehr 
nothwendig,  um  das  Entstehen  einer  Proletarierklasse  zu  verhindern, 
welche  durch  das  Geschick  zur  Knechtschaft  oder  zum  Aufruhr 
getrieben  werde.  >  Der  Staat  und  die  Gemeinden  hätten  unbedingt 
das  Recht,  im  Namen  aller  schon  im  voraus  Vorkehrungen  gegen 
eine  Last  zu  ergreifen,  welche  schliesslich  auf  alle  fiele.  Im 
Namen  der  Gerechtigkeit,  Freiheit  und  Gleichheit  müsse  dem  Indi- 
viduum eine  Verpflichtung  auferlegt  werden,  in  seiner  Person  das 
menschliche  Capital  durch  ein  Minimum  von  Gewahrleistung  sicher 
zu  stellen.  Hierin  läge  kein  ,Staatssocialismus',  was  auch  L6on  Say 
reden  mag ;  die  Interessen  sind  in  diesem  Stücke  ebenso  überein- 
stimmend wie  die  Rechte. 

Die  Einwürfe  der  Nationalökonomen,  namentlich  Leroy-Beau- 
lieus,  gegen  das  Project  einer  allgemeinen  obligatorischen  Ver- 
sicherung unter  Mithilfe  des  Staates  seien  nicht  stichhaltig.  Das 
angebliche  Anwachsen  der  Steuern  zur  Herstellung  der  staatlichen 
Mitarbeit  brauche  nicht  einzutreten,  wenn  man  die  Möglichkeit 
neuer  Hilfsquellen  gewinnt  oder  dafür  sorgt,  dass  der  Arbeiter 
durch  die  Sicherstellung  vor  Schaden  mehr  als  den  für  die  Ver- 
sicherung bestimmten  Steuerbetrag  vortheilt.  Preissteigerung  seitens 
der  Industriellen  zum  Zweck  der  Schadloshaltung  für  eventuelle 
Selbstbesteuerung  im  Interesse  der  Arbeiter  sei  nicht  zu  erwarten, 
weil  die  einsichtigeren  Industriellen  nicht  verkennen  könnten,  dass 
sie  selbst  an  der  besseren  Lage  der  Arbeiter  ein  Interesse  haben, 
um  für  die  Vortheile  Opfer  zu  bringen. 

Als  Resultat  dieser  Studie  stelle  sich  heraus,  dass  der  abso- 
lute Individualismus  eben  so  falsch  ist  wie  der  absolute  Socialismus, 
weil  alles  Eigenthum  eine  individuelle  und  eine  sociale  Seite  hat, 
und  dass  man  für  die  Praxis,  wegen  der  Unmöglichkeit  einer 
exacten  Abwägung  dieser  Seiten,  zu  einem  üebereinkommen  auf 
Grundlage  mittlerer  Durchschnitte  genöthigt  sei.  Zu  diesem  Zwecke 
habe  der  Staat,  ohne  sich  die  unmögliche  Aufgabe  einer  absoluten 
Theilungsgerechtigkeit  anzulassen,  den  besonderen  Beruf,  in  den 
Umlauf  der  Güter  einzugreifen. 

«Der  Staat  hat  ausser  der  negativen  und  repressiven  Gerech- 
tigkeit noch  die  Obliegenheit  einer  positiven  und  aus- 
gleichenden Gerechtigkeit,  welche  es  ihm  gestattet, 
die  Handhabung  von  Massnahmen,  Hilfsquellen,  Capitalien  sich 
vorzubehalten,  um  sie  im  Interesse  der  Arbeitsmittel,  der  allgemeinen 


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Die  Eigenthumsfrage  der  Neuzeit. 


31 


und  professionellen  Bildung,  zur  Schöpfung  und  Förderung  von 
philanthropischen  Einrichtungen  zu  verwerthen.  Die  Principien  der 
Nationalökonomie  nöthigeti  den  Staat  keineswegs  sich  dessen  zu 
entäussern,  was  er  besitzt  oder  besitzen  kann  ;  vielmehr  ermächti- 
gen sie  denselben,  gegenüber  dem  stets  unantastbaren  Privateigen- 
thum, ein  coJlectives  Eigenthum  zu  begründen,  um  es  zum  Nutzen 
der  Mehrzahl  zu  vergrössern  und  zu  verwenden.  Der  Staat  könne 
auf  diese  Weise,  an  Stelle  der  vornehmlich  die  Masse  drückenden 
Steuern,  ueue  Hilfsquellen  setzen,  welche  ihm  entweder  freiwillig 
geboten  würden  oder  welche  natürliche  Einkünfte  des  öftentlichen 
Vermögens  wären  ...  Es  giebt  zwei  Mittel,  um  zum  Vortheile 
der  ganzen  Gesellschaft  einen  Mehrwerth  zu  schaffen,  welcher  den 
socialen  Beziehungen  nützt.  Das  erste  besteht  darin,  den  Nutzen 
unter  den  Individuen  möglichst  in  Umlauf  zu  setzen:  zu  diesem 
Zwecke  muss  das  Eigenthum  mehr  und  mehr  mobilisirt  werden,  um 
seine  Vertheilung  an  alle  und  die  Sammlung  von  Eigenthuin  seitens 
der  Genossenschaften  zu  ermöglichen.  Das  zweite  Mittel  besteht 
darin,  neben  dem  Privateigenthum  ein  collectives  und  sociales 
Eigenthum  zu  gewinnen,  als  Quelle  einer  Collectiveinnahme.  Da- 
durch erlangte  man,  wie  selbst  die  Nationalökonomen  erkennen 
würden,  das  vortreffliche  Resultat,  dass  man  allmählich  die  Lasten 
aller  durch  den  Vortheil  aller  begleichen,  an  Stelle  der  öffentlichen 
Schuld  einen  öffentlichen  Schatz  schaffen  und  endlich  die  ungeheuren 
Budgets  gänzlich  beseitigen  könnte,  welche  die  Ursache  steigender 
Beunruhigung  sind.  Es  ist  verständige  Liberalität,  welche  die 
beste  philosophische  Lösung  des  Problems  bietet ;  sie  gewährt  gutes 
Recht  und  freien  Spielraum  allen  drei  Arten  von  gleichberechtigtem 
Besitz:  dem  individuellen  Einzeleigeuthum,  dem  individuellen  Ge- 
nossenschaftseigenthum und  endlich  dem  öffentlichen  und  nationalen 
Eigenthuin.  Man  könnte  den  nationalökonomischen  Liberalismus 
in  die  Formel  bringen :  die  Individuen  freie  Eigenthümer  im  Staat, 
der  freier  Eigenthümer  ist.» 

Prof.  Dr.  Schmidt-Warnec  k. 


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Ein  Jugendleben  aus  Alt-Kurlands  Tagen. 

Tempi  pasmti ! 


\ 

rer  hätte  in  Kurland  nicht  vom  alten  Grausdenscuen 


jbVSb^t  Drachenfels  gehört ,  sich  nicht  an  den  zahlreichen 
Scherzen  und  Anekdoten  ergötzt,  die  dem  mit  seltenem  Humor  be- 
gabten Manne  nacherzählt  werden  1  So  manchem,  der  ihn  einst 
persönlich  kannte,  steht  er  gewiss  noch  lebhaft  vor  Augen,  der 
alte,  eigenartige  Herr  mit  dem  tippigen,  krausen  Haare,  der  breiten 
Stirn,  den  schelmisch  blickenden  Augen,  dem  zusammengekniffenen 
Munde,  wie  er  die  lange  Tabakspfeife  stets  zur  Hand,  den  grauen 
Papagei  neben  sich,  auf  seinem  Lehnstuhl  im  Kreise  der  Seinen 
sitzend,  die  lieben  Freunde  so  oft  mit  heiterem  Scherzworte  zu 
empfangen  pflegte.  Er  galt  und  gilt  für  den  Typus  eines  Kur- 
länders  der  alten  guten  Zeit  mit  ihren  Licht-  und  Schattenseiten, 
einer  Zeit,  die  den  heutigen  Kurländer  wie  ein  Traum,  wie  ein 
uraltes  Märchen  anmuthet  und  doch  in  Wirklichkeit  gar  nicht  so 
fern  ab  liegt. 

Sie  hat  ihre  Phasen,  ihre  Perioden,  diese  alte  Zeit.  In  den 
nachstehenden  c Erinnerungen»  führt  uns  der  Freiherr  Peter 
Philipp  v  o  n  Dracheufela  in  die  uuserem  ßewusstsein  ent- 
legenste zurück ;  sie  umfasst  sein  eigenes  Kindheitsalter  und  seine 
Jugendjahre,  an  welche  das  Gedächtnis  nur  der  wenigsten  unter 
den  Lebenden  hinanreicht  und  in  welcher  die  sich  erst  entwickelnde 
Persönlichkeit  noch  keine  tieferen  Spuren  ihres  Daseins  der 
fortschreitenden  Generation    einzuprägen  vermochte.     Ulme  die 


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Ein  Jagendleben  aus  Alt-Kurlands  Tagen.  33 

Blatter,  die  dem  Leser  hier  vorgelegt  werden,  würde  der  Mann, 
der  noch  heute  in  seiner  Heimat  im  besten  Andenken  fortlebt, 
unvermittelt  in  die  Erscheinung  treten.  So  redet  er  denn  selbst 
über  die  Jahre;  in  denen  noch  kein  beobachtendes  Auge  auf  ihm 
ruhte.  Aus  der  Erinnerung  aber  der  Genossen  seines  männlichen 
Wirkens  seien  in  kurzen  Strichen  die  Hauptzüge  seines  reichen 
Lebens  hier  hervorgehoben. 

Von  den  Studien  im  Auslande  heimgekehrt,  diente  er  einige 
Jahre  bei  den  kurländischen  Dragonern,  trat  hierauf  sein  Gut 
Grausden  an  und  vermählte  sich  1820  mit  Friederike  von  Orgies- 
Rutenberg  aus  dem  Hause  Neu-Autz.  Zeitweilig  übernahm  er  da- 
neben auch  die  Verwaltung  der  grossen  Kreutzburgschen  Güter 
und  widmete  alsdann  seine  Kraft  dem  Heimatlande,  dem  er  bis  in 
das  hohe  Alter  hinein  in  den  verschiedensten  Vertrauensposten  treu 
gedient  hat. 

Im  Jahre  1827  zum  örtlichen  Kreismarschall  für  Mit  au  ge- 
wählt, vertrauten  ihm  seine  Mitbrüder  auf  den  Landtagen  1833 
und  1836  den  Stab  des  Landbotenmarschalls  an  und  wählten  ihn 
im  Mai  1840  zum  residirenden  Kreismarschall,  welche  Würde  er 
bis  zum  Jahre  1866  inne  hatte. 

Gleichzeitig  ward  Peter  von  Drachenfels  noch  das  Amt  eines 
ßankrathes  des  kurländischen  Creditvereines  übertragen,  und  er 
verwaltete  dasselbe  mit  der  ihm  eigenen  Genauigkeit  und  Treue 
vom  September  1846  bis  zum  Convent  des  Jahres  1876. 

Siebenundzwanzig  Jahre  hindurch  war  er  auch  Curator  des 
von  der  Generalin  Katharina  von  Bismarck,  der  Schwägerin  des 
Herzogs  Ernst  Johann,  gegründeten  adeligen  Fräuleinstiftes  in  Mi  tau. 

Mit  besonderem  Interesse  und  seltener  Energie  jedoch  wirkte 
Peter  von  Drachenfels  —  unter  der  Leitung  des  hochverdienten 
Landesbevollmächtigten  Theodor  Baron  Hahn  —  mit  zur  Errich- 
tung des  lettischen  Schullehrerseminars  in  Irmlau.  Die  erste  An- 
regung zur  Heranbildung  junger  Letten  für  das  Volksschulwesen 
war  in  Kurland  von  dem  Pastor  Wolter  zu  Zirau  ausgegangen. 
Schon  zu  Anfang  der  dreissiger  Jahre  war  darauf  Freiherr  v.  Hahn- 
Postenden  auf  dem  Landtage,  wenn  auch  leider  vergeblich,  für  die 
Durchführung  dieser  Idee  eingetreten.  Da  arbeitete  dann  Wolter 
unverdrossen,  von  gleichgesinnten  Männern,  den  Freiherren  v.  Man- 
teuffel-Zirau,  Fircks-Dubenalken,  Dorthesen-Melsern  u.  a.  unter- 
stützt, in  privaten  Kreisen  für  die  Verwirklichung  dieses  schönen 
Planes  weiter,  v.  Manteuffel-Zirau  und  v.  Fircks-Dubenalken  schickten 

B»UUche  MonaLacorift.  M.  XXXIV.  lief*  1.  3 


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34  Ein  Jugendleben  aas  Alt-Kurlands  Tagen. 

einen  jungen  Letten.  Andreas  Bergmann,  auf  ihre  Kosten  auf  das 
Seminar  bei  Königsberg  und  v.  Dorthesen  bot  Wolter  die  Mittel, 
um  auch  seinerseits  junge  Letten  zu  Lehrern  heranzubilden.  Uud 
nicht  vergeblich  waren  diese  edlen  und  patriotischen  Männer  selbst- 
los und  opferfreudig  für  die  Errichtung  eines  lettischen  Volks- 
schullehrerseminars eingetreten,  denn  auf  dem  Landtage  des  Jahres 
183G  kam  diese  Angelegenheit  abermals  zum  Vortrag  und  zur  Ab- 
stimmung und  drang  dieses  Mal  —  wenn  auch  mit  geringer  Majo- 
rität —  siegreich  durch,  besonders  auch  dank  den  Bemühungen  des 
Baron  Hahn-Postenden  uud  uuseres  Baron  Drachenfels. 

Pastor  Wolter  erhielt  hierauf  den  Auftrag,  eine  passende 
Lehrkraft  für  diese  Anstalt  zu  besorgen,  und  auf  die  Empfehlung 
des  Directors  des  königsberger  Seminars,  Preuss,  hin  ward  der 
Cand.  Sadowsky  bewogen ,  die  Leitung  des  neuen  Seminars  zu 
Inn  lau  bei  Tuckum  zu  übernehmen.    Sadowsky  kam  1837  nach 
Kurland  und  erzog  sich  bis  zum  Jahre  1839  seiue  Hilfslehrer 
selbst  im  Hause  des  Pastor  Wolter.    Im  Jahre  1840  ward  alsdann 
das  Seminar  eröffnet  und  am  21.  Jauuar  1841  feierlich  eingeweiht. 
Zum  Präsidenten  aber  des  von  der  Ritterschaft  ernannten  Ourato- 
riums  dieser  Anstalt  wurde  der  Kreismarschall  Peter  von  Drachen- 
fels erwählt.    In  dieser  Stellung  trat  Drachenfels  der  Anstalt  und 
dem  Director  derselben  mit  warmer  Freundschaft  und  vollstem 
Vertrauen  entgegen,  verfolgte  mit  lebhaftester  Theilnahme  das  Ge- 
deihen und  Aufblühen  des  Seminars,  trat  mit  schneidigem  Eifer 
und  feurigem  Sinn  allen  Anfeindungen  und  Angriffen  entgegen 
und  sorgte  mit  Umsicht  und  redlichem  Willen  dafür,  dass  die  gegen 
eine  derartige  Anstalt  weitverbreiteten  Vorurtheile  mehr  und  mehr 
schwanden  und  derselben  stets  neue  Freunde  und  Gönner  gewonnen 
und  zugeführt  wurden.    So  wirkte  und  kämpfte  er,  stets  im  besten 
Einvernehmen  mit  dem  ihm  im  Laufe  der  Jahre  befreundeten  Director. 
viele  Jahre  hindurch  unermüdet  und  unentwegt  für  <sein  liebes 
Irmlau»  und  erwarb  sich  die  Liebe  und  Verehrung  aller,  die  mit 
ihm  hier  in  Berührung  kamen.   So  erschien  er  denn  auch  dort 
alljährlich  zur  Freude  aller  zum  Stift ungstage,  von  1841  bis  1876, 
wo  er,  vom  Alter  gebeugt  und  fast  gänzlich  erblindet,  sein  Amt 
als  Präses  des  Curatoriums  niederlegte  und  die  Leitung  desselben 
jüngeren  Kräften  überliess.    Den  Sturm  der  Zeiten  hatte  die  An- 
stalt unter  der  Leitung  treuer  und  ehrenfester  Männer  überwunden 
und  überdauert. 

Die  letzten  Tage  seines  Lebens  verbrachte  Peter  v.  Drachen- 


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Ein  Jagendleben  aus  Alt-Kurlands  Tagen. 


3f> 


fels  auf  Grausden,  um,  wie  er  hoffte,  dort  bald  zu  sterben  und 
dann  endlich  mit  seiner  ihm  früh  vorangegangenen  Gattin  vereint 
zu  werden.  Er  sehnte  sich  nach  dem  Heimgang,  besonders  nach- 
dem in  den  letzten  sechs  Jahren  sein  Augenlicht  immer  schwächer 
geworden  war. 

In  seiner  Landeinsamkeit  ward  er  wiederholt  von  den  Seinigen 
gebeten,  ihnen  von  seiner  Jugend,  den  vergangenen  Zeiten,  dem 
alten  Kurland  zu  erzählen.  Diese  seine  Erinnerungen  und  Berichte 
wurden  von  den  Anwesenden  niedergeschrieben  und  sind  in  den 
folgenden  Blättern  enthalten.  Leider  brechen  dieselben  bei  der 
Schilderung  seiner  Studentenzeit  plötzlich  ab.  Die  Angehörigen 
des  Verewigten  gestatteten  freundlichst  die  Veröffentlichung  jener 
Erinnerungen  ,  an  deren  Wortlaut  so  wenig  wie  möglich  ge- 
ändert wurde. 

Am  10.  Juli  1879  ging  Peter  von  Drachenfels  lebensmüde 
nach  kurzer  Krankheit  in  die  ewige  Heimat  ein.  Und  wie  er  sein 
Leben  hindurch  stets  für  sein  Land  und  viele  seiner  Landsleute 
gearbeitet  und  gewirkt,  so  füllten  auch  selbst  seine  letzten  Tage 
und  Stunden  Gedanken  der  Liebe  und  der  Sorge  für  andere  und 
für  seine  theure  Heimat  aus. 

0  .  .  .  y. 


Ich  bin  am  9.  Februar  1795  geboren.  Meine  Eltern  lebten 
damals  nicht  auf  unserem  Erbgute  Grausden,  sondern  auf  dem 
Kronsgute  Schlampen,  welches  sie  in  Arrende  hatten.  Die  Land- 
strasse, welche  von  Mitau  nach  Tuckum  führt,  ging  früher  etwa 
eine  Werst  an  Schlampen  vorüber.  Diese  Strasse  Hess  mein  Vater, 
der  ein  sehr  gastfreier  Mann  war,  auf  seine  Kosten  durch  den  Guts- 
hof selbst  führen,  welchen  sie  noch  jetzt  durchschneidet.  Am  Pferde- 
stall war  nun  ein  Schlagbaum  und  eine  Wache,  die  jede  vorüber- 
fahrende herrschaftliche  Equipage  anhalten  und  —  wenn  es  Be- 
kannte meiner  Eltern  waren  —  nicht  ohne  die  zuvor  eingeholte 
Erlaubnis  meines  Vaters  passiren  lassen  durfte.  Daher  war  natür- 
lich immer  sehr  viel  Besuch  in  Schlampen,  wo  gewöhnlich,  wenn 

3* 


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36 


Ein  Jugendleben  aus  Alt-Kurlands  Tagen. 


wir  viele  Gäste  hatten,  zwei  grosse  Zimmer  für  dieselben  abge- 
geben wurden.  Das  eine  Zimmer  war  für  die  Damen,  das  andere 
für  Herren  bestimmt,  welche  dort  einfach  auf  Heu  schlafen  mussten. 

So  wie  unser  Haus  waren  in  damaliger  Zeit  fast  alle  herr- 
schaftlichen Wohnhäuser  erbaut.  Ein  jedes,  auf  dem  Laude  wie 
in  der  Stadt,  hatte  einen  überaus  grossen  Flur.  So  war  der  in 
Schlampen,  so  viel  ich  mich  erinnere,  wenigstens  vier  Faden  lang 
und  zwei  und  einhalb  Faden  breit.  An  der  äusseren  Wand  befand 
sich  die  Eingangsthür,  auf  jeder  Seite  derselben  waren  zwei  grosse 
Fenster.  An  den  anderen  Wänden  standen  mächtig  grosse  und 
auch  kleinere  ßettzeugkasten,  mit  welchen  ein  grosser  Luxus  ge- 
trieben wurde.  Einige  derselben  waren  so  hoch,  dass  ein  Mensch 
von  mittlerer  Grösse  kaum  anreichen  konnte,  um  den  Deckel  auf- 
zuschliessen.  Diese  waren  in  der  Regel  mit  rother  Oel färbe  an- 
gestrichen und  stark  mit  Eisen  beschlagen ;  die  kleineren  Kasten, 
etwa  3—4  Fuss  hoch  und  im  Verhältnis  lang  und  breit,  waren 
von  Eichen-  oder  Eschenholz  und  sehr  reich  und  bunt  mit  Messing- 
beschlägen versehen.  Auf  der  grossen  Platte  des  Schlosses,  welches 
mit  vielen  Zickzacken  verziert  war,  prangte  die  Jahreszahl.  Alles 
Messing  wurde  jeden  Sonnabend  geputzt  und  alles  Holzwerk  mit 
Wachs  gebohnt.  Diese  Kasten  waren  mit  Leinewand,  die  grossen 
mit  Bettzeug  gefüllt  und  machten  den  Stolz  der  Hausfrau  aus. 

Die  lange  Wand  war  eine  der  vier  Wände,  welche  der 
Küchenschornstein  bildete.  Dieser  war  ca.  vier  Faden  lang  und 
ca.  drei  Faden  breit,  nnd  verengte  sich  sehr  allmählich,  bis  er 
als  gewöhnlicher  Schornstein  zum  Dach  hinauskam.  In  diesem 
grossen  Raum  war  die  Küche  ;  in  der  Mitte  desselben  stand  ein 
grosser,  aus  Ziegeln  aufgeführter  Herd,  auf  diesem,  in  der  ganzen 
Länge  desselben,  ein  Rost,  d.  h.  zwei  gerade  laufende  eiserne 
Stangen  auf  acht  oder  mehr  Füssen,  auf  welchem  alle  Kochgeschirre 
aufgestellt  waren  und  unter  welchem  das  Feuer  angemacht  wurde. 
Nie  ist  ein  Braten  damals  anders  als  am  Spiesse  bereitet  worden. 
Dieser  Spiess  wurde  durch  das  zu  bratende  Stück  der  Länge  nach 
durchgesteckt  und  der  Länge  nach  an  die  eine  Seite  des  Rostes  auf 
zwei  dazu  gemachten  Gestellen  aufgestellt,  An  dem  einen  Ende  drehte 
ein  Mensch  fortwährend  diesen  Spiess,  während  ein  anderer  den  Braten 
mit  der  Sauce  begiessen  musste,  damit  er  durch  das  grosse  Feuer,  wel- 
ches nur  von  einer  Seite  flammte,  nicht  verbrenne.  Unter  dem  Braten 
stand  eine  lange  eiserne  Pfanne,  in  welcher  die  Sauce  befindlich  war. 

Es  existirten  damals  keine  andere  Oefen  als  solche,  die  von 


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Ein  Jugendleben  ans  Alt-Knrlands  Tagen. 


37 


der  Küche  aus  —  wie  man  sie  jetzt  noch  in  den  Bauergesinden 
findet  —  oder  von  einem  eigens  dazu  erbauten  Räume  zu  heizen 
waren.  Ein  solcher  sieben  oder  auch  mehr  Fuss  langer  Ofen  be- 
stand, ganz  ohne  Züge,  aus  einem  leeren  Raum,  welcher  mit  Holz 
von  ein  Faden  Länge  gefüllt  und  so  geheizt  wurde.  War  der 
Ofen  ausgeheizt,  so  wurde,  damit  die  Wärme  nicht  entweiche,  eine 
Thür  oder,  wenn  sie  vorräthig  war,  eine  alte  eiserne  Platte  vor- 
gestellt und  der  Spalt  mit  einem  Ziegel  verstopft.  Waren  alle 
Kohlen  in  demselben  verlöscht,  so  wurde  der  ganze  Ofen  mit  Holz 
vollgesteckt,  um  zum  anderen  Tage  —  besonders  zum  Backen  — 
trockenes  Holz  zu  haben.  Holzschuppen  —  ausser  einzelnen  in 
der  Stadt  —  existirten  eben  so  wenig  wie  vorräthiges  trockenes 
Holz.  Kein  Ofen  heizte  mehr  als  ein  Zimmer,  obgleich  er  so 
fürchterlich  gross  war. 

Das  alte  Herrenhaus  in  Grausden  hatte  zwei  Stockwerke, 
das  untere  von  Feldstein,  das  obere  von  Holz.  In  der  ganzen 
unteren  Etage  war  an  jedem  Ende,  in  der  Ecke  nach  der  vorderen 
Seite,  nur  ein  Wohnzimmer.  Alles  andere  war  nur  Küche,  vorderes 
und  hinteres  Vorhaus,  ein  paar  kleine  Handkammern  und  ein  Raum 
mit  einer  steinernen  Treppe,  die  hinauf  in  einen  grossen  gewölbten 
Raum  führte,  welcher  mehr  als  den  vierten  Theil  eines  oberen 
Wohnzimmers  einnahm  und  aus  welchem  die  drei  Oefen  der  drei 
anstossenden  Zimmer  geheizt  wurden. 

Ich  komme  auf  den  früheren  grossen  alten  Feuerherd  zurück. 
Wenn  das  Kochen  und  Braten  aufhörte,  so  musste  das  Feuer  doch 
bis  spät  abends  erhalten  werden,  bis  endlich  —  wenn  alles  schlafen 
ging,  die  Hausmagd  das  Feuer  auf  einen  Haufen  zusammenschürte, 
und  sorgfältig  mit  Asche  behäufte,  um  es  auf  diese  Art  bis  zum 
anderen  Morgen  zu  bewahren.  Wenn  dennoch  alle  Kohlen  er- 
loschen, so  holte  sich  die  Hausmagd  in  einem  eisernen  Grapen  die 
Kohlen  aus  der  Herberge,  der  Branntweinsküche  oder  wo  sie  die- 
selben sonst  bekommen  konnte,  um  wieder  Feuer  anmachen  zu 
können.  Oder  wenn  nirgend  glühende  Kohlen  zu  haben  waren,  so 
musste  mit  Stahl  und  Stein  ein  Haufen  Zunder  angezündet,  dieser 
alsdann  in  ein  Bund  Langstroh  eingestellt  und  mit  Geschwindig- 
keit hin  und  her  geschwungen  werden,  bis  er  sich  in  Flammen  ent- 
zündete und  man  so  in  Stand  gesetzt  war,  ordentliches  Feuer  auf 
dem  Herde  anmachen  zu  können.  Es  gab  nämlich  sonst  gar  keine 
andere  Art  von  Feuerzeug,  als  Stahl,  Stein  und  Schwamm  oder  zu 
Zunder  gebrannte  Leinewand.    Das  war  eine  Noth,  wenn  man 


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38  Ein  Jngendleben  aus  Alt-Kurlands  Tagen. 

man  nachts  nach  Hause  kam,  bis  man  ein  Licht  angezündet 
bekam  1 

Doppelfenster  oder  mit  Oel färbe  gestrichene  Dielen  gab  es 
damals  in  ganz  Kurland  nicht.  Man  fand  Überall  nur  weisse 
Dielen,  die  jeden  Sonnabend  rein  gewaschen  und  gescheuert  und 
darauf  täglich  mit  weissem  Sande  bestreut  wurden.  Das  Ausstreuen 
dieses  Sandes  war  eine  grosse  Kunst  des  Stubenmädchens,  denn 
wenn  das  Zimmer  nicht  ganz  gleichmässig  ausgestreut  war,  so 
musste  das  Mädchen  denselben  sogleich  wieder  auffegen  und  aufs 
neue  ausstreuen,  oder  bekam  härtere  Strafe  und  wurde  ins  Gesinde 
zurückgegeben,  weil  sie  zum  Stubenmädchen  kein  Talent  habe. 
Am  Sonntage  wurde  die  Diele  ausser  mit  diesem  Sande  auch  noch 
mit  Gränenzweigen  (Skuijen)  oder  mit  durchaus  ganz  gleich  lang 
geschnittenen  Kalmusblättern  bestreut.  Alle  Möbel  waren  ent- 
weder mit  Oelfarbe  gestrichen  oder  es  war  das  natürliche  unge- 
färbte Holz.  Wo  es  irgend  möglich  war,  waren  messingene  Be- 
schläge und  Verzierungen  angebracht.  Die  Möbel  waren  alle 
dauerhaft  gemacht ;  gepolsterte  und  solche  mit  Stahlfedern  kannte 
man  nicht.  Die  Ueberzüge  auf  Stühlen  und  Sophas  waren  rund- 
herum  mit  dicht  neben  einander  stehenden  Nägeln  mit  runden 
messingenen  Knöpfen  angenagelt.  Auch  alle  diese  Nägel  mussten 
jeden  Sonnabend  geputzt  werden,  sowie  auch  alle  Leuchter  und 
die  Löffel  für  die  sogenannten  deutschen  Leute. 

Um  alle  diese  Arbeiten  gebührend  zu  verrichten,  bedurfte  es 
vieler  Dienstboten.  So  viel  ich  mich  erinnere,  hatte  meine  Mutter 
ein  sog.  Handmädchen  und  für  diese  eine  Gehilfiu  und  ausserdem 
noch  vier  Stubenmädchen  und  eine  oder  zwei  Skullen,  d.  h.  Mädchen 
von  12—14  Jahren,  die  zu  Stubenmädchen  herangebildet  wurden. 
Ausser  diesen  waren  hier  auf  allen  Gütern  Spinnmädchen,  die  jeder 
Wirth,  je  nach  seinem  Gehorch,  mit  seinem  Brod  stellen  musste. 
Diener  hatte  mein  Vater  vier.  Der  eine  war  der  Jäger,  welcher 
immer  in  grünem  Ueberrock  mit  kleinen  hellgrünen  Schnüren  auf 
den  Schultern  ging ;  musste  er  in  besonderer  Gala  erscheinen,  so 
legte  er  seine  hell  und  dunkelgrün  gemischten  Achselbänder  au 
und  schnallte  sich  seinen  grünen  Gurt  um,  welcher  vorn  mit  einer 
bedeutend  grossen  silbernen  Schnalle,  auf  welcher  das  Drachenfelssche 
Wappen  sich  befand,  festgehalten  wurde.  An  der  Seite  trug  er 
einen  Hirschfänger.  Der  zweite  war  meines  Vaters  Kammerdiener, 
putzte  seine  Kleider  und  bediente  nur  ihn.  Der  dritte  war  der 
Tateidecker,  der  alles  zum  Tisch  besorgte  und  das,  was  zu  putzen 


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Ein  Jugendleben  aus  Alt-Kurlands  Tagen. 


39 


war,  von  einem  vierten  (Jungen)  machen  Hess.  Alle  Dienstleute 
waren  Leibeigene  bis  zum  Jahre  1818.  Man  nahm  einen  Jungen 
oder  ein  Mädehen  in  sehr  jugendlichem  Alter  aus  dem  Gesinde  in 
den  Hof.  Hess  sie  von  der  älteren  Dienerschaft  unterrichten  und, 
wenn  sie  gut  waren,  bei  eintretender  Vacanz  immer  höher  avan- 
ciren,  zum  Jager  oder  Kammerdiener  des  Herrn,  oder  zum  Hand- 
mädchen der  Frau.  Taugten  sie  nichts,  so  wurden  sie  ins  Gesinde 
zurückgeschickt.  Der  Jäger  bediente  nur  dem  Scheine  nach  bei 
Tisch  und  hatte  das  Privilegium  an  der  Tischconversation  theil- 
zunehmen,  sogar  auch  einen  Tischgast,  wenn  er  auf  der  Jagd  ein 
Versehen  begangen  hatte,  zu  necken.  Nur  ausnahmsweise  wurden 
freie  Leute  als  Diener  oder  Dienerinnen  gehalten,  die,  wenn  es 
auch  Polen  waren,  Deutsche  genannt  wurden  und  an  einem  be- 
sonderen Tische  assen ;  unter  keiner  Bedingung  hätte  einer  oder 
eine  von  diesen  mit  einem  <  Erbmenschen  >  an  einem  Tische  gegessen. 
Die  Hofesleute  waren  nach  Art  der  Deutschen  gekleidet,  aber 
durchaus  nur  in  Zeugen,  die  auf  dem  Gute  selbst  fabricirt  und 
gemacht  wurden.  Daher  standen  in  der  Spinnstube,  wo  die  Mädchen 
spannen,  auch  immer  ein  Webstuhl  oder  mehrere,  auf  welchen  Lein- 
wand von  der  gröbsten  bis  zur  feinsten  Gattung,  Halbwand  und 
Wand  von  allen  Qualitäten  gewebt  wurde.  Die  Gutsbauern  hatten 
fast  auf  jedem  Gute,  in  jeder  Hauptmannschaft  gewiss,  eine  be- 
sondere Tracht.  Die  in  der  Siuxtschen  Gegend  hat  mir  am  besten 
gefallen,  besonders  die  der  Mädchen.  Sie  trugen  Pasteln,  weisse 
Strümpfe,  einen  dunkelbraunen  Rock,  welcher  sehr  breit  und  in 
vielen,  vielen  kleinen,  sehr  regelmässig  zusammengelegten  Falten 
über  die  Hüften  angelegt  wurde.  Nach  unten  reichte  er  bis  zum 
Fussknöchel  und  war  mit  fingerbreitem,  hellblauem  Bande  in  8—10 
Reihen  bis  zur  Hälfte  hinauf  besetzt.  Ueber  dem  Hemde  trugen 
sie  noch  ein  kleines  Hemdchen  von  feinster  Leinwand,  welches  nur 
bis  etwas  über  die  Hüfte  reichte  und  ganz  lose  um  den  Rand  des 
hier  befestigten  Rockes  flatterte.  Die  Aermel  waren  wie  am 
Mannshemd,  eben  so  auch  ein  solcher  Kragen,  welcher  mit  einer 
ganz  einfachen  kleinen  silbernen  Schnalle  zusammen  gehalten  wurde. 
Alles  Haar,  zusammengeflochten  mit  eben  solchem  Bande,  wie  der 
Rock  besetzt  war,  hing  in  zwei  Zöpfen  herunter;  auf  dem 
Kopfe  ein  neuer  runder  schwarzer  Männerfllzhut,  in  der  Hand 
eine  Harke,  so  sah  man  sie  im  Sommer  beim  Heumachen,  oder 
auch  bei  der  Düngerfuhr,  welches  ein  grosses  Fest  bei  den  Bauern 
war  und  Suhdu-Jcahsas  genannt  wurde.    Bei  kaltem  Wetter  zogen 


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40  Ein  Jugendleben  aus  Alt-Kurlands  Tagen. 

die  Mädchen  ein  kleines  Camisol  von  demselben  Zeuge  wie  der  Rock 
über,  welches  sehr  eng  mit  langen  Aermeln  gemacht  war,  und  knöpften 
dieses,  welches  von  oben  bis  unten  dicht  mit  kleinen  kugelrunden 
silbernen  Knöpfen  besetzt  war,  entweder  ganz  fest,  oder  trugen  es 
auch,  je  nach  der  Witterung,  ganz  offen.  Die  Weiber  kleideten  sich 
eben  so,  nur  trugen  sie  das  Haar  nicht  in  hinunterhängenden  Flechten, 
sondern  aufgebunden.  Dieselben  trugen  auch  zuweilen  ein  Camisol 
ganz  ohne  Aermel ;  warum  ?  das  weiss  ich  nicht,  vielleicht  um  die 
feine  weisse  Leinwand  ihres  Oberhemdes  zu  zeigen.  Die  Männer 
trugen  Pasteln,  hellblaue  wollene  Strümpfe,  kurze  dunkelblaue 
Bosen  bis  über  das  Knie ;  dieselben  wurden  hier  aber  nicht  zuge- 
knöpft, sondern  ganz  lose  getragen  obgleich  sie  hier  drei  kugei- 
runde silberne  Knöpfe  hatten  ;  ein  Camisol  von  demselben  Zeuge, 
von  oben  bis  unten  dicht  (aber  nicht  so  dicht  wie  bei  den 
Frauen)  mit  silbernen  Knöpfen  besetzt  und  einen  runden  Filzhut. 
Mit  der  Freiheit  der  Bauern,  als  diese  von  einem  Gebiete  zum 
anderen  zu  wandern  anfingen,  hörten  auch  die  Nationaltrachten 
auf  und  wurden  im  ganzen  Lande  gleichförmiger.  Nationaltracht 
ist  wol  keine  richtige  Bezeichnung,  da  in  dem  kleinen  Kurland 
wenigstens  zwauzig  verschiedene  Trachten  existirten,  von  welchen 
sich  die  in  der  windauschen  und  goldingenschen  Gegend  zum  Theil 
bis  jetzt  noch  erhalten  haben.  —  Familiennamen  hatten  die  Bauern 
nicht,  erst  im  Jahre  1826  mussten  sie  auf  höheren  Befehl  sich 
Namen  wählen. 

Die  Haupttendenz  aller  Gutsherren  war,  aus  ihren  Gütern 
alle  ihre  Bedürfnisse  selbst  zu  erzeugen ;  aus  deu  Erzeugnissen 
Geld  zu  machen,  war  weniger  Zweck.  Auf  jedem  Gute  war  daher 
Branntweiubrand,  aber  nicht  grösser,  als  um  den  eigenen  Bedarf 
für  Hof  und  Krüge  zu  decken.  Eben  so  war  es  mit  den  Bier- 
brauereien, die  auch  ganz  ohne  Ausnahme  auf  jedem  Gute  waren, 
bestellt.  Alle  Krüge  waren  auf  Hofeswaare  gesetzt,  d.  h.  Bier 
Uttd  Branntwein,  in  manchen  Krügen  auch  andere  Dinge,  wie  Tabak, 
Salz,  Heringe  &c,  durfte  der  Krüger  nicht  für  eigene  Rechnung 
sich  verschaffen,  sondern  er  erhielt  dieses  alles  vom  Hofe  geliefert, 
musste  es  für  einen  gewissen  Preis  verkaufen  und  erhielt  als  Lohn 
für  seine  Mühe  den  sogeuannten  zehnten  Groschen.  Natürlich 
trugen  die  Krüge  unverhältnismässig  weniger  ein  als  jetzt.  Früher 
musste  man  sich  auf  die  Ehrlichkeit  des  Krügers  verlassen,  daher 
setzte  man  in  der  Regel  alte  anerkannte  Diener  als  Krüger  ein, 
und  weil  diese  wussten,  dass  sie  iür  die  geringste  Veruntreuung 


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Ein  Jugendleben  aus  AlkKurlands  Tagen.  41 

ohne  weiteres  wieder  als  Knechte  ins  Gesinde  gegeben  werden 
konnten,  waren  sie  auch  ehrlich  und  treu.  —  Die  Hofesleute  be- 
kamen täglich  zu  Mittag  und  zum  Abendessen  jeder  ein  Stof  ßier. 
Ich  glaube,  es  existirt  jetzt  im  ganzen  Lande  kein  solches  Stof 
mehr,  wie  sie  damals  zum  Biertrinken  ganz  allgemein  gebräuchlich 
waren,  sowol  in  den  Häusern  wie  in  den  Krügen.  Dieselben  waren 
aus  Holz  vom  Böttcher  gemachte  Krüge  mit  Henkel  und  Deckel,  ent- 
hielten ca.  V»  Stof  unseres  jetzigen  gesetzlichen  Masses.  Auch  viele 
Herren  tranken  ßier  aus  solchen  Gefässen,  welche  natürlich  hübscher 
und  s&uberer  aus  verschiedenfarbigem  Holz  gearbeitet  waren. 

Eine  eben  so  gearbeitete  Riesenkanne,  Piepkanne  genannt, 
diente  zum  Herauftragen  des  Bieres  aus  dem  Keller.  Diese  war 
einer  Gartengiesskanne  ähnlich,  hatte  ungefähr  dieselbe  Grosse 
und  von  unten  an  ein  Rohr  zum  bequemen  Aus-  und  Eingiessen 
des  Bieres. 

Der  Eingang  in  den  Keller  war  in  allen  Häusern,  die  ich 
gesehen  habe,  aus  der  Ecke  der  Stube  (jetzt  Saal  genannt)  oder 
aus  der  Kammer,  was  jedoch  seltener  vorkam.  Die  Thür,  die  in 
den  Keller  hinabführte,  war  mit  einem  ca.  vier  Fuss  hohen  Kasten 
von  Brettern  mit  einer  Eingangsthür  überbaut  und  mit  Oelfarbe 
angestrichen.  Wenn  die  Hausfrau  in  der  Stube  sass,  konnte  sie 
jeden,  der  in  den  Keller  ging  oder  aus  demselben  kam,  controliren. 
Die  mit  Bier  für  die  Leute  heraufgebrachte  gefüllte  Piepkanne 
wurde  oben  auf  diesen  Ueberbau  hingestellt  und  so  oft  ein  Stof 
oder  eine  Kanne  Bier  für  die  Leute  nöthig  war,  durfte  das  Hand- 
mädchen der  gnädigen  Frau  dieselbe  aus  der  Piepkanne  füllen. 

Ausser  Talglichten,  und  nur  in  den  reichsten  Häusern,  und 
auch  da  nur  bei  ausserordentlichen  Gelegenheiten,  Wachsiichten, 
existirten  in  der  ganzen  Welt  keine  anderen  Lichte.  Und  zwar 
wurden  die  Talglichte  auf  jedem  Gute  selbst  gezogen  oder  gegossen. 
Die  gezogenen  Lichte  waren  für  die  Leute  bestimmt.  Für  die  Herr- 
schaften wurden  Formlichte  in  eigens  dazu  gemachten  Formen  von 
Blech  gegossen.  Auch  alle  im  Hause  nöthige  Seife  wurde  dortselbst 
gekocht.  Nur  für  Colonialwaaren  und  für  die  Kleidung  der  Herr- 
schaften musste  Geld  ausgegeben  werden.  Das  erste  Anschaffen 
der  Kleider  mag  t  heuer  gewesen  sein,  dafür  waren  aber  die  Stoffe 
besser  und  die  Moden  wechselten  nicht  so  rasch.  Ich  erinnere  mich 
sehr  wohl,  wie  meine  Mutter  meiner  Schwester  antwortete :  tMein 
Kind,  wie  oft  soll  ichs  dir  wiederholen  ?  zu  einem  Kleide  brauchst 
du  7,  und  zu  einem  Schlafrock  9  rigasche  Ellen.» 


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42  Ein  Jugendleben  aus  Alt-Kurlands  Tagen. 

Die  Herren  trugen  nur  eng  anschliessende  Hosen  in  hohen 
Stiefeln  ;  die  Schächte  des  Stiefels  reichten  hinten  bis  drei  Viertel 
über  die  Wade ;  vorn  waren  sie  etwas  höher,  aber  in  Herzform  aus- 
geschnitten, mit  schwarzseidener  Rundschnur  besetzt  und  vorn 
hing  eine  bis  2  Zoll  lange  Troddel  von  schwarzer  Seiden rundschnur. 
Nach  der  Farbe  der  Hose  richtete  sich  der  Frack ;  bei  blauer 
Hose  musste  der  ebenfalls  blaue  Frack  durchaus  blanke  Knöpfe 
haben  ;  nur  so  durfte  man  bei  allen  freudigen  Begebenheiten,  wie 
Hochzeiten,  Taufen  &c,  erscheinen.  Zu  gewöhnlichen  Diners  und  der- 
gleichen trug  man  einen  braunen  Frack  und  Hose.  Auf  Bällen  durfte 
man  nie  anders  als  in  Schuhen  erscheinen  und  musste  kurze  Hose 
und  weisse  oder  schwarzseidene  Strümpfe  haben.  Man  trug  die 
Hose  von  verschiedener  Farbe  ;  bei  hellfarbenen  Hosen  immer  weisse 
Strümpfe,  schwarze  Hose  bei  schwarzen  Strümpfen,  aber  auch  bei 
weissen.  Die  Hose  musste  durchaus  eng,  wie  aufgegossen  ans 
Bein  schliessen.  Nur  die  ganz  alten  Männer  erschienen  in  Sammt- 
stiefeln  und  legten  ihren  runden  Filzhut  nur  aus  der  Hand,  wenn 
sie  sich  zur  Partie  setzten.  Handschuhe  wurden  von  allen  Farben 
getragen,  jedoch  nicht  lederne,  sondern  seidene.  Die  Damen  trugen 
eng  anschliessende  Kleider  mit  sehr  kurzen  Taillen.  Der  Rock 
war  so  kurz,  dass  immer  der  Fuss  zu  sehen  war. 

Die  Vergnügungen  der  Herren  auf  dem  Lande  bestanden  in 
meiner  Jugend  in  gegenseitigem  Besuchen,  Kartenspiel,  Jagd  und 
Bärenhetzen.  Zur  Jagdzeit  versammelte  sich  alles  auf  eine  bis 
zwei  Wochen  bei  einem  guten  Freunde  und  zog  von  diesem  wieder 
zu  einem  anderen  guten  Freunde  und  so  fort  die  ganze  Jagdzeit 
hindurch.  Die  Aufnahme  war  überall  sehr  einfach.  Früh  morgens 
ritt  man  zur  Jagd  ;  wenn  mittags  die  Hunde  aufgekoppelt  wurden, 
ass  jeder  sein  mitgenommenes  Butterbrod  und  jagte  darauf  weiter 
bis  zur  einbrechenden  Dunkelheit.  Nach  Hause  zurückgekehrt, 
wurde  Kaffee  gereicht  und  um  halb  acht,  spätestens  acht  Uhr  zu 
Abend  gegessen.  Bei  Tische  machte  der  Jäger  seine  Bemerkungen 
über  den  von  dem  einen  oder  anderen  Herrn  auf  der  Jagd  be- 
gangenen Fehler  und  nach  dem  Essen  trat  der  Piqueur  herein  und 
klagte  den  einen  oder  anderen  an,  nachdem  er  zuvor  sein  <Herr- 
wat>  geblasen,  worauf  die  Beklagten  zu  einer  Geldstrafe  zum 
Besten  des  Piqueurs  verurtheilt  wurden,  wobei  es  viel  Scherz  und 
Spass  gab. 

So  ungefähr  sah  es  in  meiner  Jugend  in  Kurland  aus,  so 
etwa  lebte  man  bei  uns  überall  auf  dem  Lande.    Manche  Erinue- 


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Ein  Jugendlebeu  aus  Alt-Kurlands  Tagen.  43 

rung  an  Erlebnisse  und  so  manche  Bindrücke  aus  meiner  ersten 
Jugendzeit  sind  mir  noch  immer  sehr  lebhaft  gegenwärtig.  So 
weiss  ich  noch  ganz  genau,  dass,  da  ich  ein  Knabe  von  etwa  vier 
Jahren  war,  der  eine  unserer  Diener  (der  sogenannte  Junge)  mich 
in  der  Schieblade  eines  Tisches  herumziehen  musste  und  nicht  im 
Galopp  laufen  wollte,  was  ich  durchaus  verlangte.  Ich  ärgerte 
mich  darüber  und  klagte  bei  meiuem  Vater,  dass  der  Junge  mich 
geschlagen  habe,  wofür  er  von  meinem  Vater  zwei  bis  drei  Ohr- 
feigen bekam,  was  mir  mehr  wehe  that  als  ihm.  Daher  gestand 
ich  meine  Lüge  meiner  Mutter  ein  und  bat  sie,  es  auf  irgend  eine 
Art  gut  zu  machen,  schenkte  ihm  alle  Augenblicke  etwas  von 
meinen  Spielsachen  und  bat  ihn,  er  solle  es  mir  vergeben  ;  nachher 
war  er  Barbier  und  Haarschneider  in  Mitau,  wo  er  von  mir,  da 
ich  noch  immer  seiner  unschuldigerweise  erhaltenen  Ohrfeigen  ge- 
dachte, auch  ferner  Geschenke  erhielt.  —  Ein  anderes  Mal,  ich 
weiss  nicht  mehr,  was  ich  gethan,  sollte  ich  von  meinem  Vater 
Prügel  bekommen ;  ich  sagte  aber,  dass  ich  weglaufen  würde  und 
lief  auch  wirklich  fort,  pleine  carriere  über  den  Hof,  ging  lang- 
samer, als  ich  auf  die  grosse  Strasse  gelangte  und  immer  lang- 
samer, je  weiter  ich  kam,  zugleich  mich  immer  umsehend,  ob  mir 
nicht  jemand  nachkomme  mich  zurückzurufeu,  denn  mir  wurde 
bange.  So  war  ich  ungefähr  eine  halbe  Werst  gegangen,  als 
Bauern  gefahren  kamen  und  einer  von  ihnen  mich  mitnehmen  wollte. 
Da  wurde  mir  erst  recht  bange,  ich  sprang  in  den  Graben,  blieb 
da  sitzen  und  weinte  bittere  Thränen.  Darauf  wurde  ich  des 
Jägers  Fritz  auf  der  Strasse  gewahr,  der  mir  wahrscheinlich  nach- 
kam ;  da  wurde  ich  trotzig  und  dachte  bei  mir :  ich  werde  auf 
keinen  Fall  mitgehen,  und  je  näher  er  kam,  desto  trotziger  wurde 
ich.  Er  ging  hart  am  Graben  nahe  an  mir  vorbei,  ohne  mich  be- 
merken zu  wollen  ;  doch  je  mehr  er  sich  von  mir  entfernte,  ging 
mir  der  Trotz  aus  und  ich  hätte  wol  gewünscht,  dass  er  mich  an- 
geredet und  zurückgebracht  hätte.  Ich  rief  ihn  und  rief  immer 
lauter,  schrie  endlich  aus  vollem  Halse,  aber  er  stellte  sich,  als  ob 
er  es  nicht  hörte;  ich  lief  ihm  nach,  weinte  und  schrie,  bis  ich  ihn 
festbekam  und  ihn  bat,  mich  nach  Hause  zurückzubringen.  tNein, 
Kundsinsch,  das  darf  ich  nicht,  das  hat  Papachen  mir  streng  ver- 
boten. Sie  haben  selbst  weglaufen  wollen,  zurück  darf  ich  Sie 
nicht  bringen  !  Er  hat  mir  nur  befohlen,  dass,  wenn  ich  Sie  finde 
und  Sie  den  Weg  nicht  wissen,  ich  Sie  bis  zum  Walde  begleiten 
solle,  da  aber  solle  ich  Sie  allein  lassen,  umkehren  und  ganz 


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44  Eid  Jugendleben  aus  Alt-Kurland9  Tagen. 

schnell  wieder  nach  Hause  kommen!»  Ich  weinte  und  bat  nun 
jämmerlich,  wollte  ihm  Hände  und  Füsse  küssen  ;  er  blieb  aber 
streng  dabei :  er  dürfe  mich  nicht  nach  Hause  bringen,  er  würde 
sonst  selbst  von  Papachen  Prügel  kriegen  !  Endlich,  endlich  liess 
er  sich  doch  erbitten,  führte  und  trug  mich  nach  Hause,  wo  mein 
Vater  mich  erwartete  und  mir  das  Versprochene  aufzählte !  —  Wieder 
einmal  waren  Knaben  aus  Wiexeln  und  Erwachsene  zum  Besuch 
und  uns  war  verboten,  in  den  Garten  zu  gehen.  Mein  Vater  sagte, 
dass  er  dem  Jurre,  dem  Gartenwächter,  anbefohlen,  dass,  wenn  er 
einen  von  uns  dort  festkriegte,  er  ihn  tüchtig  auspeitschte.  Nach- 
dem er  uns  das  in  sehr  barschem  Tone  gesagt,  wandte  er  sich  noch 
an  die  anderen  Gäste  und  sagte  absichtlich  halblaut  zu  ihnen,  so 
dass  wir  es  aber  hören  konnten,  dass  am  Ende  des  Stalles  im 
Zaun  ein  Loch  sei,  durch  das  die  Kinder  der  Hofmutter  immer  in 
den  Garten  schlichen ;  aber,  fügte  er  hinzu,  sie  sind  sehr  klug,  sie 
kriechen  nicht  eher  hinein,  als  bis  es  anfängt  dunkel  zu  werden, 
wenn  die  Schlafmütze,  der  Jurre,  schon  eingeschlafen  ist.  Das 
hatten  wir  Knaben  gehört  und  uns  gemerkt ;  nach  dem  Abendessen 
wiederholte  mein  Vater  halblaut  meiner  Mutter  und  den  Gästen 
gegenüber,  dass  der  Jurre  jetzt  gewiss  schon  eingeschlafen  sei. 
Ein  "Weilchen  darauf  machten  wir  drei  uns  auf  den  Weg  zum  Loch 
im  Zaun  und  als  wir  eben  durchkrochen,  wurden  wir  empfangen  — 
aber  nicht  von  Jurre,  sondern  von  meinem  Vater  und  von  drei 
oder  vier  der  Gäste,  die  uns  mit  grossem  Gelächter  an  den  Kragen 
fassten  und  uns  wol  tüchtig  durchgeprügelt  hätten,  wenn  meine 
Mutter  nicht  herzugekommen  wäre  und  für  uns  gebeten  hätte.  — 
Einmal,  das  ist  mir  noch  sehr  erinnerlich,  war  meine  Mutter  mit 
mir  ins  Pastorat  Siuxt  gefahren  und  als  wir  spät  abends  zurück- 
kamen, fanden  wir  das  ganze  Haus  erleuchtet,  hörten  Musik  und 
sahen  durch  das  Fenster  tanzen!  Die  vier  Diener  waren  näm- 
lich alle  auch  Musikanten ;  der  Jäger  blies  das  Waldhorn,  der 
Kammerdiener  spielte  das  Violoncello  und  die  anderen  beiden 
Clarinette  und  Violine!  Als  wir  in  das  Vorhaus  traten,  kam  mein 
Vater  uns  entgegen  und  erzählte  meiner  Mutter,  dass  eine  polnische 
Gräfin  mit  ihren  Töchtern  und  ihrem  Gefolge  angekommen  und  er 
auch  noch  anderen  Besuch  erhalten  hätte,  dass  namentlich  auch  junge 
Herren  da  wären,  und  nannte  mehrerer  Namen,  die  nun  da  mit  den 
jungen  Damen  tanzen  sollten.  Die  polnische  Gräfin  spreche  aber 
kein  Wort  deutsch,  verstehe  jedoch  lettisch  —  meine  Mutter  müsste 
sich  mit  ihr  lettisch  unterhalten.    Meine  Mutter  wollte  erst  eine 


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Ein  Jugendleben  aus  Alt-Kurlands  Tagen. 


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andere  Toilette  machen,  das  Hess  mein  Vater  aber  nicht  zu  — 
sondern  führte  sie  zur  Gräfin,  die  auf  dem  Sopha  sass,  stellte 
meine  Mutter  vor,  die  nun  ueben  ihr  Platz  nahm,  mit  ihr  zu 
sprechen  anfing,  aber  keine  Antwort  erhielt.  Meine  Mutter  fragte 
wieder  etwas  —  bekam  aber  wieder  keine  Antwort,  bis  endlich 
mein  Vater  der  Gräfin  lettisch  zurief:  cNu,  du  dumme  Person, 
antworte,  wie  ich  dir  gesagt  habe  —  das  ist  eine  dumme  Trine!» 
Was  war  nur  überhaupt  geschehen?  Mein  Vater  hatte  alle  Kleider- 
schränke und  Kommoden,  weil  meine  Mutter  die  Schlüssel  mitzu- 
nehmen vergessen  hatte,  geplüudert  und  mit  ihren  Kleidern  alle 
Viehmädchen  und  die  Hofmutter  verkleidet  und  sie  da  tanzen 
lassen,  um  so  meine  Mutter  dafür  zu  bestrafen,  dass  sie  die 
Schlüssel  nicht  mitgenommen ;  es  waren  wirklich  auch  noch  andere 
Fremde  da  und  wurde  bis  tief  in  die  Nacht  hinein  getanzt.  Spässe 
dieser  und  anderer  Art  hat  mein  Vater  sich  oft  erlaubt,  bei  welchen 
meine  Schwester,  wenn  sie  nicht  die  Hauptrolle  dabei  spielte,  doch 
niemals  fehlte. 

Sechs  oder  sieben  Jahre  alt,  ich  erinnere  mich  nicht  mehr 
genau,  vielleicht  war  ich  auch  älter,  wurde  ich  ins  Pastorat  Siuxt 
in  die  8chule  gegeben,  nachdem  ich  vorher  vom  Schreiber  Kieser 
lesen  und  schreiben  gelernt  hatte,  welcher  dafür  alle  Jahre  ein 
Paar  neue  Stiefel  und  alle  zwei  Jahre  einen  neuen  Pelz  bekommen 
hatte.  Aus  dem  Pastorate  erinnere  ich  mich  eigentlich  sehr  wenig. 
Ich  weiss  nur,  dass  ich  sehr  stark  werden  wollte  und  meiue  Kräfte, 
was  ich  in  Schlampen  auch  schon  gethan  hatte,  mit  Steineheben 
u.  dgl.  übte.  Ich  wollte  ein  Spartaner  werden,  schlief  daher  auch 
eine  oder  zwei  Nächte  in  der  Woche  ohne  Kopfkissen  oder  irgend 
welche  Unterlage  auf  der  blossen  Diele,  einmal  habe  ich  sogar 
den  Unsinn  begangen,  wozu  ich  von  den  anderen  Jungen  aufgehetzt 
wurde,  dass  ich  eines  Abends,  es  war  im  Februar  bei  Thauwetter, 
nur  im  Hemde  mit  blossen  Füssen  hinauslief  und  mich  in  den 
Schnee  legte,  um  die  Nacht  so  zu  verbringen.  Als  aber  nach 
einigen  Minuten  mein  Hemd  ganz  nass  geworden  war  und  ich 
etwas  stark  zu  frieren  anfing,  hielt  ich  es  doch  für  gerathener, 
wieder  ins  Haus  hineinzulaufen.  Ein  Hauptvergnügen  machte  es 
mir,  mit  einem  eigens  dazu  gemachten  Knüttel  mich  gegen  böse 
Hunde,  die  ich  in  den  Gesinden  aufsuchte,  zu  verteidigen.  Dadurch 
wurde  meiue  Kraft  auch  sehr  gestärkt,  die  mir  auch,  sowie  mein 
Umgang  mit  Hunden,  sehr  zu  statten  kam.  Die  grosse  Dogge 
im  Pastorate  war  toll  geworden  und  war,  um  sich  ihrer  zu  ver- 


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46  Ein  .Jugendleben  aus  Alt- Kurlands  Tagen. 


sichern,  im  Stalle  eingesperrt ;  es  war  Winter,  ich  hatte  meinen 
Pelz  an  und  ging  vom  grossen  Hause  nach  der  Herberge,  wo  wir 
wohnten.  Die  Dogge,  die  losgekommen  war,  rannte  wie  eine 
Furie  auf  mich  zu,  ich  fuhr  ihr  mit  dem  linken  Arme  entgegen 
und  fasste  mit  der  rechten  Hand,  nachdem  ich  meine  Schulbücher, 
die  ich  überhaupt  nicht  leiden  konnte,  weggeworfen,  sie  hinten  am 
Kragen  nnd  führte  sie  so  halb  tragend,  halb  schleppend  bis  zur 
Hausthür,  in  welche  ich  mich  rückwärts  hineinzog  und  sie  so  von 
mir  abstreifen  wollte.  Unterdessen  waren  aber  Leute  heran- 
gekommen und  erschlugen  sie  auf  meinem  Arme.  Ungeachtet  ich 
einen  Pelz  anhatte,  waren  doch  blaue  Flecken  auf  meinem  Arme 
sichtbar.  Ein  anderes  Mal  machte  ich  einen  grossen  bösen  Hund, 
der  an  der  Kette  lag,  »o  wüthend.  dass  er  auf  mich  losstürzen 
wollte ;  ich  fuhr  fort,  ihn  noch  mehr  zu  reizeu,  bis  die  Kette  riss 
und  er  mir  am  Halse  gesessen  hätte,  wenn  ich  nicht  geschickter 
gewesen  wäre  und  ihn  unter  dem  Kopfe  so  kräftig  an  die  Gurgel 
gepackt  hätte,  dass  ich  ihn  erwürgt  haben  würde,  wenn  nicht  der 
Kutscher  und  andere  Leute  hinzugekommen  wären,  die  nicht  mich, 
sondern  ihn  retteten. 

Von  der  Schule  weiss  ich  wenig  zu  erzählen,  ich  kann  mich 
kaum  einer  Stunde,  die  ich  gehabt,  erinnern.  Mamsell  P.  war 
unsere  Lehrerin  —  ich  sage  « Mamsell  »,  denn  zu  damaliger  Zeit 
wurde  ein  grosser  Unterschied  zwischen  Mamsell  und  Mademoiselle 
gemacht ;  Mademoiselle  wurden  nur  die  Töchter  von  Predigern  oder 
überhaupt  aus  dem  Literatenstande,  —  die  aus  dem  Handwerker- 
stande < Mamsell»  titulirt.  Ich  erinnere  mich,  dass  diese  Mamsell  P. 
uns  in  der  Schule  erklärte :  dass  ein  Gegenstand,  wenn  er  schnell 
durch  die  Luft  geschleudert  wird,  sich  erhitzt.  Ich  wollte  dass 
nicht  zugeben  und  sie  suchte  es  mir  zu  beweisen,  indem  sie  be- 
hauptete, dass,  wenn  das  nicht  so  wäre,  man  ja  keine  Hasen  oder 
ein  anderes  Thier  schiessen  könnte,  denn  die  Schrote  erhitzten  sich 
durch  die  Schnelligkeit,  mit  der  sie  durch  die  Luft  flögen,  so  stark, 
dass,  wenn  sie  den  Hasen  treffen,  sie  ihn  verbrennen!  —  «Ach, 
wie  ist  die  Mamsell  dumm  !  >  rief  ich  aus.  als  ich  hinter  mir  rufen 
hörte:  «Peter,  Peter  !  wie  unterstellst  du  dich  das?  !>  —  Ich  hatte 
keine  Courage  mich  umzusehen,  ich  glaube,  es  war  der  alte  Pastor, 
und  war  sehr  froh,  dass  ich  nicht  weiter  darüber  sprechen  hörte. 
—  Ciavier  spielen  musste  ich  auch  lernen,  hatte  alle  Vormittage 
eine  Stunde,  fünf  Jahre  hindurch,  und  musste  am  Nachmittage 
gleich  unmittelbar  nach  dem  Essen  eine  Stunde  mich  üben.  Das 


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Ein  Jugendleben  aus  Alt-Kurlands  Tagen.  47 

Zimmer,  wo  das  Ciavier  zum  Ueben  stand,  war  zum  Glück  so  weit 
abgelegen,  dass  man  nicht  hören  konnte,  ob  ich  übte  oder  nicht. 
Nachdem  ich  erst  alle  Ritzen  zwischen  den  Tasten  vollgespuckt, 
schlief  ich  sanft  ein  und  schlief,  bis  ich  zufällig  gerufen  wurde. 
Mein  Klavierlehrer  war  der  Organist,  der  bei  meiner  Fiugersetzung 
gar  nicht  darauf  Rücksicht  nehmen  wollte,  dass  ich  Frostbeulen 
hatte ;  und  als  er  mir  auch  wieder  einmal  den  vierten  Finger  über 
den  ersten  setzen  wollte  und  dieselben  dabei  so  stark  anfasste, 
dass  ich  vor  Schmerz  und  Bosheit  nach  seiner  Hand  griff  und  ihm 
wirklich  dabei  seinen  vierten  Finger  ausrenkte,  da  schrie  er  nun 
auch  auf  und  jammerte,  dass  er  nun  ein  Krüppel  geworden  sei, 
nicht  mehr  würde  die  Orgel  spielen  können,  was  aus  ihm  werden 
solle  und  wovon  Frau  und  Kinder  leben  würden,  und  weinte  bitter- 
lich dabei  !  Ich  weinte  mit  ihm  und  versprach  ihm,  wenn  er  seinen 
Posten  verlieren  und  wirklich  Krüppel  bleiben  sollte,  ich  ihm 
c Philippshof i  schenken  würde!  Der  Arzt  aus  Doblen,  zu  dem  er 
gleich  geschickt  wurde,  hat  ihm  den  Finger  glücklich  wieder  ein- 
gerenkt. So  behielt  er  seinen  vierten  Finger  und  ich  mein 
Philippshof! 

All  mein  Bitten  und  Flehen,  dass  man  mir  das  Clavierspielen 
erlassen  sollte  —  half  nichts,  bis  es  mir  doch  einmal  glückte,  durch 
einen  schlechten  Witz  davon  loszukommen.  Der  alte  Pastor  er- 
zählte bei  Tisch,  dass  die  Leute,  die  den  Diebstahl  in  Pönau  aus- 
geführt, dieselben  seien,  die  auch  schon  im  vorigen  Jahre  gestohlen 
hätten  und  bestraft  seien  und  ihm  auf  seine  Ermahnungen  das 
Versprechen  gegeben,  nicht  mehr  zu  stehlen.  cFür  solche  Leute, > 
sagte  er,  «sind  die  bestehenden  gesetzlichen  Strafen  viel  zu  gering, 
es  müsste  eine  besondere  Strafe  für  sie  erdacht  werden  1»  «Kann 
man  sie  nicht  lassen  «Olavier  spielen»  lernen?  Ii  fiel  ich  ein. 
Unter  dem  Gelächter  der  ganzen  Tischgesellschaft  sagte  mir  der 
alte  Pastor:  «Nun,  Peter,  ist  dir  denn  das  Clavierspielen  wirklich 
so  sehr  unangenehm  ?»  «Ja,  sehr  !>  erwiderte  ich.  «Nun,  dann 
wollen  wir  es  sein  lassen  !>  antwortete  mir  der  Pastor  und  ich 
war  glücklich  vom  Spielen  frei,  machte  den  Pastor  jedoch  darauf 
aufmerksam,  dass  die  Tasten  des  Claviers  sich  gar  nicht  recht  be- 
wegen Hessen,  so,  als  ob  sie  weiss  Gott  wovon  verquollen  wären 
nnd  wol  reparirt  werden  müssten ;  dass  das  von  meinem  Spucken 
hergekommen,  sagte  ich  natürlich  nicht.  .  .  . 

Meine  Mutter  starb  im  Jahre  1806  in  Mitau.  Ich  wurde 
dahin  abgeholt,  kann  mich  aber  durchaus  nicht  erinnern,  ob  ich 


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Ein  Jugendleben  aus  Alt-Kurlands  Tagen. 


sie  noch  am  Leben  fand  oder  nicht,  so  wie  ich  mich  ihrer  Beerdi- 
gung auch  nicht  erinnere.  Auch  von  der  wirklichen  Beerdigung 
meines  Vaters,  der  im  Jahre  1807  starb  und  wie  meine  Mutter 
in  Grausden  bestattet  ist,  habe  ich  ebenfalls  keine  Erinnerung. 
Von  seiner  Beerdigung  aber,  die  mein  Vater  noch  lebend  selbst 
ausrichtete  (neun  Tage  vor  seinem  wirklichen  Tode),  erinnere  ich 
mich  sehr  genau.  Er  Hatte  eine  Menge  von  Trauergästen  einge- 
laden, sass  selbst  altersschwach  und  krank  auf  einem  Schaukel- 
stuhle in  einer  Ecke  des  Zimmers  und  bat  seine  Freunde  und 
Gäste,  die  an  zwei  grossen  Tischen  speisten,  überzeugt  sein  zu 
wollen,  dass  er  schon  todt  sei ;  auch  sollten  sie  recht  viel  über 
ihn  sprechen,  da  er  gern  hören  wolle,  was  man  nach  seinem  Tode 
von  ihm  sagen  werde.  Seine  Beerdigung  hatte  er  zuvor  selbst 
genau  angeordnet  und  den  Kostenanschlag  dazu  selbst  dictirt. 
Man  solle  ihm  nicht,  wie  damals  Sitte  war,  eine  neue  Adelsuniform 
anlegen,  einen  neuen  Hut  und  Degen,  neue  Handschuhe  und 
Stiefel  &c.  anziehen.  Auch  sollte  der  Sarg  nicht,  wie  es  sich  für 
einen  alten  Edelmann  gebühre,  von  Eichenholz  mit  schwarzem 
Sammet  beschlagen,  mit  silbernen  Füsseu  und  Klammern  versehen 
werden,  denn  das  mache  in  Summa  so  und  so  viel  Thaler  aus ! 
Statt  dessen  wolle  er  nur  einen  ganz  einfachen,  aus  Brettern  zu- 
sammengeschlagenen Sarg  haben,  solle  nur  in  ein  weisses  Laken 
gewickelt  in  den  Sarg  gelegt,  nach  Grausden  gebracht  und  da  be- 
graben werden.  Für  das  hierdurch  ersparte  Geld  solle  aber  den 
Bauern  in  Grausden  ein  Ball  gegeben  werden,  auf  dem  sie  lustig 
tanzen  und  sich  mit  ihm  freuen  sollten,  dass  er  in  ein  besseres 
Leben  übergegangen  seil 

Zu  meinen  Vormündern  hatte  er  ernannt  seinen  Schwager, 
den  Bruder  meiner  Mutter,  Stromberg  aus  Wirben  und  den  Advo- 
caten  Bienemann  (v.  Bienenstamm).  Stromberg  hatte  bei  sich  einen 
Hauslehrer  gehabt,  der  zu  dieser  Zeit  Notarius  in  Hasenpot  war. 
Zu  diesem  gab  er  mich  in  die  Schule,  nachdem  er  mich  von  Siuxt 
fortgenommen. 

Um  drei  Uhr  morgens  kam  ich  in  Hasenpot  bei  F.  an  und 
fand  ihn  schon  auf,  worauf  er  mir  auch  sofort  Schulstunden  gab. 
Ich  erschrak  darüber  sehr  und  dachte,  wenn  das  so  fortgeht, 
werde  ich  das  nicht  lange  aushalten  1  Meine  Befürchtung  war  aber 
unnütz,  denn  am  anderen  Tage  und  später  hatte  ich  gar  keinen 
Unterricht  mehr.  Ich  bin  ein  Jahr  und  neun  Monate  bei  ihm  im 
Hause  gewesen  und  habe  in  dieser  ganzen  Zeit  buchstäblich  nicht 


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Ein  Jugendleben  aas  Alt-Kurlands  Tagen.  49 

mehr  als  drei  Tage  Schule  gehabt  Ich  vertrieb  mir  die  Zeit  mit 
meinen  Tauben.  Weisskopf-Mütterchen  und  Braunscheck-Väterchen 
waren  davon  die  besten  Werfer  in  ganz  Haseupot.  Prügeleien 
mit  Gassenbuben,  bei  welchen  letztere  immer  den  kürzeren  zogen, 
blieben  nicht  aus.  F.  war  wirklich  ein  ganz  überspannter  Mensch. 
Manchmal  schloss  er  sich  auf  mehrere  Tage  auf  seinem  Zimmer 
ein,  ohne  das  geringste  zu  geniessen.  Die  Frau  konnte  es  ihm 
nie  nach  dem  Sinn  machen.  Zweimal  habe  ich  es  erlebt,  dass  er, 
weil  die  Suppe  ihm  nicht  schmeckte,  die  vier  Ecken  des  Tischtuchs 
zusammennahm  und  es  mit  allem,  was  darauf  war,  Schüsseln, 
Glasern  &c.  durch  die  Scheiben  hinaus  auf  die  Strasse  warf!  — 
Mir  erlaubte  er,  mit  seiner  Büchse  und  seinem  Pulver  und  Blei 
die  Krähen  zu  schiessen,  die  merkwürdigerweise  sehr  viel  auf  den 
paar  Bäumen  im  Garten  sassen.  Schoss  ich  eine  mit  der  Kugel, 
so  war  es  gut ;  pudelte  ich  aber,  was  natürlich,  da  ich  nur  mit 
der  Kugel  schiessen  durfte,  sehr  oft  vorkam,  so  musste  ich  einen 
Sechser  für  jeden  Schuss  bezahlen,  wodurch  ich  mein  Taschengeld, 
das  in  zwei  Thalern  monatlich  bestand  und  das  er  in  seiner  Ver- 
wahrung hatte,  in  einigen  Wochen  verschossen  hatte. 

Das  eine  Zimmer  auf  dem  Boden  seines  Hauses  hatte  ich 
inne  und  es  war  angefüllt  mit  Vögeln,  für  die  ich  eine  grosse 
Passion  hatte.  Eines  Tages  aber  fuhr  F.  wüthend  auf  mich  los 
und  befahl  mir  mit  groben  Worten,  allen  Vögeln  sofort  die  Frei- 
heit zu  schenken,  weil  sie  soviel  Mäuse  ins  Haus  brächten.  Ich 
antwortete  ihm  ebenso  grob,  dass  ich  es  nicht  thun  würde.  Da 
gab  es  eine  sehr  heftige  Scene.  Hernach  ging  er  selbst  auf  mein 
Zimmer  und  Hess  doch  alle  meine  Vögel  hinaus.  Nun  nahm  ich 
meine  leeren  Vogelbauer  und  ging  auf  ein  benachbartes  Gut,  wo 
gerade  Getreidekujen  eingeführt  wurden,  fing  da  so  viel  Mäuse  als 
nur  irgend  möglich,  steckte  damit  die  Bauer  voll,  brachte  sie  nach 
Hause  und  Hess  sie  alle  unten  in  seiner  Wohnung  los ;  amüsirte 
mich  auch  darüber,  wie  er  und  die  Frau  jammerten,  dass  jetzt  noch 
viel  mehr  Mäuse  da  seien,  als  bisher  gewesen. 

Jetzt  war  ich  vierzehn  Jahre  alt  und  mir  selbst  bewusst  ge- 
worden, dass  es  so  nicht  weiter  gehen  könne,  packte  meine  Sieben- 
sachen und  lief  in  der  Nacht  fort,  nach  der  Schloss- Hasen potschen 
Rije,  wo  ich  Bauern  aus  Degahlen  fand,  die  Roggen  in  Hasenpot 
verkauft  hatten,  und  fuhr  nun  mit  denen  nach  Degahlen,  welches 
Gut  mein  Schwager  Oelsen  damals  in  Arrende  hatte.  Mein  Schwager 
brachte  mich  in  die  Schule  zum  Hotrath  Döllen  nach  Mitau.  Er 

IUHUche  MoMtMobrift  Bd.  XXXIV.  Heft  I.  4 


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50  Ein  .Tugendleben  aus  Alt-Kurlands  Tagen. 

erzählte  diesem,  wie  sehr  verwahrlost  ieh  sei,  wie  wenig  ich  gelernt, 
und  dass  er,  um  überhaupt  noch  etwas  aus  mir  zu  machen,  sehr 
streng  gegen  mich  sein  müsse.  <Nein,>  sagte  ich  zum  Hofrath, 
cdas  thun  Sie  nicht !  In  Güte  können  Sie  mit  mir  machen,  was 
Sie  wollen ;  mit  Strenge  aber  werden  Sie  nichts  bei  mir  ausrichten, 
das  versichere  ich  Sie  I »  Der  Hofrath  reichte  mir  die  Hand  und 
sagte:  «Braver  junger  Mann,  ich  halte  Sie  beim  Wort  und  ver- 
sichere Sie  meinerseits,  dass,  wenn  Sie  immer  offen  und  wahr  gegen 
mich  sind,  ich  keinen  Grund  zur  Unzufriedenheit  geben  werde.  > 
Mein  Schwager  sagte  ijim  lachend:  «Das  ist  ein  infamer  Junge, 
wie  untersteht  er  sich,  so  etwas  zu  sagen  I»  Döllen  aber  ant- 
wortete :  «Nein,  das  gefällt  mir  gerade  von  ihm, >  und  sich  zu  mir 
wendend,  sagte  er:  «Bleiben  Sie  nur  dabei:  immer  die  Wahrheit 
rein  heraus  1» 

Vier  Jahre  bin  ich  bei  J  *öllen  und  während  dieser  Zeit  wirk- 
lich sehr  fleissig  gewesen,  so  dass,  was  ich  überhaupt  weiss  und 
geworden  bin,  ich  einzig  und  allein  dem  alten  Hofrath  und  seiner 
Schule  zu  verdanken  habe.  Döllen  hatte  eine  vortreffliche  Art, 
mit  seinen  Schülern  umzugehen.  Alle  fürchteten,  aber  liebten 
ihn  auch. 

Wir  wohnten  damals  an  der  «Grossen  Strasse»,  im  Hause 
des  Bäcker  Feierabend,  welches  jetzt  Derschau-Garrosen  gehört. 
Auf  dem  Boden,  an  einem  Ende,  war  ein  Zimmer,  das  mir  und  unter 
meiner  speciellen  Aufsicht  Ernst  S.  abgegeben  war;  die  anderen 
sechs  Pensionäre,  von  denen  jeder  300  Thaler  =.  400  Rbl.  Schul- 
und  Pensionsgeld  zahlte,  wohnten  in  den  unteren  Räumen.  S.  war 
ein  sehr  wenig  begabter  Knabe  und  wurde  von  seiner  Mutter  sehr 
verwöhnt.  Bei  jeder  Gelegenheit  schickte  sie  ihm  Näschereien, 
gelben  Kringel,  Säfte,  Obst  &c.  Er  war  aber  entsetzlich  geizig, 
hielt  alles  fest  verschlossen  und  gab  niemals  etwas  ab.  Ich  konnte 
den  Jungen  überhaupt  nicht  leiden  und  litt  ihn  jetzt  noch  desto 
weniger.  Zum  Glück  war  er  sehr  furchtsam,  besonders  vor  Ge- 
spenstern und  ging  über  den  Boden,  wenigstens  im  Dunkeln,  unter 
keiner  Bedingung  allein.  Auf  einem  Streckbalken  dieses  Bodens 
hatte  ich  ein  grosses  schwarzes  Kreuz  hingemalt.  Nun  kaufte  ich 
Rosinen  oder  Schmandkuchen,  stieg  auf  einen  Stuhl  und  legte  die 
Hälfte  davon  über  das  Kreuz  auf  den  Balken,  alles  in  seiner 
Gegenwart.  «Warum  thun  Sie  das?»  fragteer.  Ich  sagte:  «Um 
in  der  Nacht  Ruhe  zu  haben,  denn  da,  wo  das  Kreuz  ist,  da  hat 
ein  ungeheuer  geiziger  Kerl  Harpax  sich  aufgehängt  und  der  macht, 


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Rin  Jugendleben'  aus  Alt-Kurlands  Tagen.  öl 

wenn  ich  ihm  nichts  von  meinen  Näschereien  abgebe,  immer  in  der 
Nacht  einen  furchtbaren  Lärm  !>  Es  hatte  nämlich  einige  Nächte 
vorher  ein  anderer  Pensionär  heraufkommen  und  auf  dem  Boden 
Lärm  machen  müssen,  um  ihn  gehörig  einzuängstigen.  Das  half 
aber  doch  wenig.  Da  übernahm  es  ein  Schüler,  Ernst  P.,  am 
Abend  hinzukommen,  kletterte  auf  die  Bretter,  die  über  dem  obersten 
Querbalken  lagen  und  liess,  wenn  ich  mit  S.  zur  bestimmten  Stunde 
hinaufkam,  durch  eine  Ritze  zwischen  zwei  Brettern  ein  weisses 
Bettlaken  heruntergleiten  und  zog  dasselbe  schnell  wieder  hinauf, 
so  dass  S.  dasselbe  durchaus  für  einen  Geist  hielt.  Hiernach  gab 
er  mir  jedes  Mal  etwas  von  seinem  Obst  oder  anderem  Naschwerk 
und  bat  mich,  das  für  Harpax  da  hinaufzulegen,  er  hätte  Angst, 
selbst  hinaufzusteigen.  Natürlich  that  ich  es.  Aber  ich  kann 
nicht  behaupten,  immer  die  ganze  Hälfte  hinaufgelegt  zu  haben. 
Es  war  ja  auch  dunkel  1  —  Dieses  Kunststück  musste  aber  oft 
wiederholt  werden,  um  S.  etwas  freigebiger  zu  machen,  denn  er 
fing  an,  allmählich  kleinere  Portionen  zu  geben.  Eines  Tages,  als 
ich  dort  nichts  fand,  musste  in  der  Nacht  wieder  ein  Pensionär 
auf  den  Boden  hinauf  und  Lärm  machen.  S.  war  ausser  sich  und 
versicherte  hoch  und  theuer,  schon  am  Tage,  als  er  hinuntergegangen, 
mehreres  hingelegt  zu  haben,  er  habe  also  seine  Pflicht  gethan, 
aber  Harpax  rumore  dennoch.  Wahrheitsliebend  war  er,  daher 
glaubte  ich  ihm  und  kam  auf  die  Vermuthung,  dass  ein  anderer 
Pensionär  das  Hingelegte  aufgegessen  hätte,  und  ich  entdeckte 
auch  bald,  dass  es  unser  B.  gewesen  war.  B.  war  eine  ganz 
eigene  Persönlichkeit ;  er  lernte  eifrig  und  hatte  viel  Kenutnisse, 
aber  für  das  gewöhnliche  Leben  war  er  sehr  dumm  ;  man  konnte 
ihm  die  unwahrscheinlichsten  Geschichten  einbilden.  —  Gleich  wurde 
wegen  dieses  von  ihm  begangenen  Diebstahls  über  ihn  von  uns 
anderen  sieben  Pensionären  Gericht  gehalten  und  einstimmig  be- 
schlossen, dass  ein  solcher  Fall  die  Competenz  dieses  Gerichts 
übersteige,  B.  müsse  auf  die  Polizei  geführt  und  dort  bestraft 
werden.  Um  das  Aufsehen  in  der  Stadt  zu  vermeiden,  solle  das 
in  der  Dunkelheit  sieben  Öhr  abends  geschehen.  Um  sieben  Uhr 
wurde  er  nun  ergriffen  und  scheinbar  abgeführt.  Er  bat  jetzt 
himmelhoch,  ihm  diese  Schande  nicht  anzuthun,  er  weide  nie  mehr 
stehlen  !  Da  wurde  ihm  proponirt,  ein  höheres  Gericht,  aus  anderen 
Schülern  bestehend,  zusammenzusetzen,  an  das  er  nun  appelliren 
könne.  Er  müsse  aber  durch  sein  Wort  sich  verpflichten,  blind- 
lings ohne  Widerrede  sich  dem  Urtheil  dieses  Obergerichts  zu 

4* 


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52  Ein  Jugendleben  aus  Alt-Kurlands  Tagen. 

fügen ;  nur  unter  dieser  Bedingung  wurde  er  von  der  Polizei  frei- 
gegeben. Er  ging  auf  alles  ein.  Als  er  nun  nach  einigen  Tagen 
vor  das  Obergericht,  das  sich  unterdessen  constituirt  hatte,  vorge- 
laden ward,  wurde  ihm  das  Urtheil  desselben  publicirt :  am  nächsten 
Sonntage,  wenn  gutes  Wetter  sei,  solle  er  in  Ledding  erschossen 
werden !  Vom  Wetter  sehr  begünstigt,  gingen  wir,  eine  Menge 
Döllianer,  am  Sonntag  mit  ihm  nach  Ledding  hinaus.  Mit  eiuem 
Handtuch  über  die  Brust  und  unter  die  Arme  genommen,  wurde 
er  an  einen  Baum  gebunden,  die  Augen  ihm  mit  einem  weissen 
Tuch  verbunden  und  in  dem  Augenblicke,  wo  P.  die  Flinte  neben 
ihm  in  die  Luft  abschoss,  warf  ein  anderer  ihm  eine  Handvoll  Strick- 
beersaft mit  aller  Kraft  ins  Gesicht.  Welch  ein  Schreck  aber  für 
uns  alle,  als  er  plötzlich  den  Kopf  sinken  Hess  und  selbst  zusammeu- 
sank,  so  weit  das  Handtuch  es  ermöglichte.  !  Wir  stürzten  auf  ihn 
zu,  um  ihn  loszubinden,  der  Knoten  war  aber  durch  sein  eigenes 
Gewicht  so  festgezogen,  dass  es  uns  gar  nicht  so  schnell  gelingen 
wollte,  ihn  zu  lösen.  Als  es  endlich  gelang  und  wir  auch  die 
Binde  entfernten,  sahen  wir  eine  Leiche  —  wobei  wir  natürlich 
auch  mehr  Leichen  als  lebenden  Menschen  ähnlich  waren.  Wir 
glaubten  nämlich,  was  doch  auch  nicht  unmöglich  war,  dass  er 
vor  Schreck  gestorben  sei.  Nachdem  er  nun  mit  kaltem  Wasser 
(mit  mehr,  als  nöthig  war)  bespritzt  und  begossen  worden  und  end- 
lich zu  sich  gekommen  war,  erkannten  wir  doch  alle,  wenn  auch  nicht 
alle  es  aussprachen,  dass  das  ein  sehr  dummer  Scherz  gewesen  war. 

Wie  waren  damals  die  Verhältnisse  so  ganz  anders  !  Und 
wie  anders  sah  es  in  jenen  Zeiten  auch  in  dem  alten  Mitau  aus  1 
Die  Strassen  waren  nur  zum  Theil  und  mit  den  grössten  Steinen 
gepflastert.  Das  Fahren  war  geradezu  eine  Strafe.  Die  meisten 
Häuser  waren  aus  Holz  und  hatten  vor  der  Hausthür  nach  der 
Strasse  zu  eine  geräumige  Treppe,  welche  zu  beiden  Seiten  von 
Bäumen  beschattet  wurde.  Hier  auf  der  Treppe  waren  Bänke  an- 
gebracht und  dort  fanden  sich  in  den  Erhol ungs-  und  Abendstunden 
oftmals  die  Hausbewohner  und  lieben  Nachbarn  zu  einer  Tasse 
Kaffee  oder  zu  gemüthlicher  Besprechung  der  neuesten  Begeben- 
heiten zusammen.  Zwar  nahmen  diese  Treppen  viel  Raum  in  An- 
spruch, sie  beeinträchtigten  jedoch  weder  die  Fahrenden,  noch  die 
Fussgänger,  denn  in  der  Mitte  der  Strasse  war  die  Grenze  jedes 
Grundstückes  von  dem  gegenüberliegenden  durch  besonders  grosse 
Feldsteine  markirt,  welche  die  Fahrenden  zu  vermeiden  suchten, 


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Ein  Jugendleben  aus  Alt-Kurlands  Tagen. 


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die  von  den  Fussgängern  aber  gerade  bevorzugt  wurden,  ja  es 
galt  für  unhöflich,  wenn  jemand  auf  der  Seite  der  Strasse,  unter 
den  Fenstern,  ging.  Bürgersteige  resp.  Trottoirs  gab  es  noch 
nicht.  Es  wäre  bei  Regenwetter  ja  auch  nicht  möglich  gewesen, 
an  der  Seite  der  Häuser  zu  gehen,  denn  die  Dachrinnen  liefen 
nicht  bis  nach  unten,  sondern  spritzten  das  Regenwasser  von  hoch 
oben  herab.  Die  kurze  Abzugsröhre  pflegte  in  einen  sehr  bunt 
gearbeiteten  Drachenkopf  zu  enden,  welcher  das  Wasser  aus  seinem 
Rachen  weit  hinausspie.  Zum  Gehen  waren  die  Strassen  damals 
oft  trockener  als  heute,  weil  das  Wasser  von  den  grossen  Steinen 
rascher  ablief,  und  wenn  es  sich  auch  in  den  Zwischenräumen  etwas 
sammelte,  so  konnte  man  doch  immer  von  einem  grossen  Stein 
zum  anderen  springen.  Eine  Wasserleitung  aus  dem  Canai  existirte 
nicht,  jedes  Haus  musste  sich  das  Wasser  für  Geld  aus  der  Drixe 
oder  der  Aa  holen  lassen.  Daher  war  angeordnet,  dass  jedes 
Haus  unter  seiuer  Dachrinne  ein  grosses  Holzgefäss  hatte,  um  in 
dieses  das  Regen wasser  aufzufangen,  damit  bei  etwa  ausbrechendem 
Feuer  Wasser  vorhanden  sei.  Alsdann  wurden  dieselben  auf 
Schleifen,  die  sowol  vorn  als  hinten  eiserne  Haken  hatten,  ange- 
schmiedet. Brach  Feuer  aus,  so  wurde  an  diese  Haken  ein  Pferd 
gespannt  und  das  Wasser  auf  solche  Weise  zum  Brandplatze 
geschafft. 

Ueber  jeder  Haustliür  war  ein  Fenster  und  in  diesem  eine 
zur  Hälfte  ins  Vorhaus,  zur  Hälfte  in  die  Strasse  hervorragende 
Laterne  angebracht,  in  welcher  mit  Beginn  der  Dunkelheit  jeder 
Hausbesitzer  verpflichtet  war,  ein  Licht  brennen  zu  lassen.  Dieses 
Licht  war  gewöhnlich  nur  eine  sogenannte  Wasserkerze,  welche  schon 
au  und  für  sich  dunkel  brannte,  durch  das  Prasselu  aber  die  Scheiben 
mit  Talg  bespritzte  und  dadurch  noch  weniger  leuchtete.  Das 
war  die  ganze  Strassenbeleuchtung,  die  auch  nur  bis  zehn  Uhr 
abends  dauern  durfte,  denn  dann  schnarrte  der  Nachtwächter  ein 
Mal  und  sang  darauf  «Hört,  ihr  Herren,  lasst  euch  sagen,  uns're 
Glock'  hat  zehn  geschlagen,  bewahret  euer  Feuer  und  Licht,  auf 
dass  euerm  Nachbar  und  euch  kein  Schade  geschieht !»  und  schnarrte 
nun  zehnmal.  Bei  jedem  Stundenschlage  sang  er  ein  anderes  Lied. 
Um  eine  Feuersbrunst  anzuzeigen,  schnarrte  er  ununterbrochen. 

Galloschen  existirten  nicht  und  Fuhrleute  waren,  wenn  ich 
nicht  sehr  irre,  zwei  oder  drei  in  ganz  Mitau,  mit  ganz  abscheu- 
lichen Droschken,  mit  denen  kein  anständiger  Mensch  zu  fahren 
wagte.    So  ging  ich  denn  auch  stets  —  selbst  zum  Balle,  in 


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Ein  Jugendleben  aus  Alt-Kurlands  Tagen. 


kurzen  Hosen,  seidenen  Strümpfen  und  Schuhen,  deren  Sohleu  von 
sämischeni  Leder  waren,  weil  in  solchen  sich  leichter  tanzen  lässt, 
zum  Club,  oder  wo  es  gerade  zu  tanzen  gab ;  auch  zum  Casino, 
und  kam  stets  rein  an  !  Wie  ich  das  angefangen,  begreife  und  er- 
innere ich  mich  nicht.  Nur  einmal  entsinne  ich  mich  unterwegs 
der  Dunkelheit  wegen  so  verunglückt  zu  sein,  dass  ich  zum  Um- 
kleiden nach  Hause  eilen  musste.  —  Man  tanzte  damals,  beiläufig 
bemerkt,  sehr  viel  und  sehr  gern.  Vor  sieben  Uhr  abends  begann 
der  Ball  und  dauerte  bis  spätestens  um  Mitternacht.  Ein  wie 
grosser  Unterschied  zwischen  soust  und  jetzt  vorhanden  ist,  sieht 
man  am  deutlichsten  daraus,  dass  damals  sich  die  jungen  Herreu 
auf  jeden  in  Aussicht  stehenden  Ball  freuten.  Man  machte  damals 
auch  weit  geringere  Ansprüche  und  war  trotzdem  viel  fröhlicher. 
War  abends  Gesellschaft,  so  wurde  selbst  in  den  reichsten  Häusern 
den  Gästen  nie  etwas  anderes  gereicht  als  auf  zwei  Theebrettern 
Butterbrode,  mit  Kalbsbraten  und  mit  Salzfleisch  belegt.  Ein 
dritter  Diener  brachte  noch  eine  Platte  mit  schon  gefüllten  Wein- 
gläsern. Man  trank  stets  Pontac.  Alles  war  also  sehr  einfach, 
aber  das  Haus  dennoch  voll  von  Gästeu  und  jedermann  fröhlich 
und  guter  Dinge. 

Ueber  Mitau  führte  in  jenen  Zeiten  die  Hauptstrasse  vom 
Auslande  nach  Petersburg,  aber  trotzdem  war  es  besondere  im 
Herbst  und  Frühling  wie  eine  Insel  fast  gänzlich  ohne  Verbindung, 
weil  die  Wege  in  Kurland  und  besondere  in  der  Nähe  Mitaus  ganz 
ausserordentlich  schlecht  waren.  An  vielen  Stellen  waren  die  Wege 
durch  nichts  markirt.  Jeder  fuhr  links  oder  rechts,  wo  er  glaubte 
besser  fahren  zu  können.  Ich  erinnere  mich,  dass,  als  ich  im 
Pastorat  Siuxt  in  der  Schule  war.  der  Pastor  seine  Gemeinde  von 
der  Kanzel  herab  bat,  aus  Rücksichten  für  ihn,  da  er  so  oft  nach 
Mitau  fahren  müsse,  doch  die  grossen  Steine  von  der  grossen  Land- 
strasse wegzuräumen.  Bei  Klein-Buschhof  unweit  Mitaus  war  tiefer 
Sand  und  eine  Masse  grosser  Steine;  da  der  Weg  nicht  durch 
Gräben  begrenzt  war,  so  waren  dort  in  einer  Breite  von  gewiss 
über  100  Faden  mehrere  Wege  zu  gehen.  So  war  es  auch  an 
mehreren  anderen  Stellen,  ganz  besondere  zwischen  Mitau  und  dem 
Griwenschen  Kruge.  Da  waren  wirklich  unzählige  Wege  in  dem 
schrecklich  tiefen  Sande  zu  sehen.  Auf  der  ganzen  Fläche 
zwischen  den  beiden  Wäldern  waren  durch  Sturm  und  Wind  zu- 
sammengewellte Sandhügel,  zwischen  welchen  die  vielen  Wege 
neben  einander  führten. 


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Ein  Jugendleben  aus  Alt-Kurlands  Tagen.  55 

Im  Frühjahr  war  bei  Mit  au  nach  der  Tuckumsohen  Seite  bis 
zu  dem  von  dort  aus  rechts  an  der  Strasse  gelegenen  Gesinde 
alles  überschwemmt.  Kam  man  von  Tuckum  aus,  so  musste  man, 
je  nachdem  das  Wasser  tief  war,  durch  das  Gesinde  selbst  oder 
über  dessen  Felder  bis  auf  die  Doblensche  Strasse  hinausfahren. 
Es  war  dies  die  Hauptstrasse,  die  ins  Ausland  führte,  auf  welcher 
man  sich  so  durchmanövriren  musste.  Grösste  Schwierigkeit  bot 
hier  das  Uebersetzflöss  über  die  Griwe.  Da  dieses  nur  zum  Ge- 
brauch für  den  Herbst  und  das  Frühjahr  nöthig  war,  so  war  es 
auch  ganz  ohne  besondere  Sorgfalt  gebaut  und  sehr  klein.  Ich 
habe  es  nie  anders  getroffen,  als  dass,  wenn  ich  bis  zu  dieser 
Stelle  gekommen  war,  schon  viele  Equipagen  und  Fuhren  warteten 
und  also  auch  früher  als  ich  expedirt  wurden.  Oder  das  Floss 
stand  beim  Griwenkruge,  die  Leute  waren  im  Kruge,  und  nun 
musste  man  auf  eine  Entfernung  von  ca.  '/t  Werst  schreien  und 
rufen,  bis  die  Leute  uns  endlich  abholten.  Dann  begab  man  sich 
auf  das  wirklich  in  vieler  Beziehung  gefahrvolle  Floss,  welches 
mit  langen  Stangen  bis  auf  die  Griwebrücke  gefahren  wurde.  Es 
ist  öfter  vorgekommen,  dass  durch  Sturm  und  die  starke  Strömung 
des  Wassers  das  Floss  mit  allem,  was  darauf  war,  der  Brücke 
vorbei  den  Fluss  hin  untergetrieben  wurde.  Auf  der  Mitte  der 
Brücke,  welche  aus  dem  Wasser  hervorragte,  wurde  man  abgesetzt 
und  musste  hier  warten,  bis  die  Leute  vom  Rathskruge  aus  den 
Reisenden  mit  einem  ebenso  jämmerlichen  Floss  abholten  und  beim 
Rathskruge  absetzten.  Von  hier  suchte  man  nun  von  den  vielen 
schon  erwähnten  Wegen  sich  den  besseren  aus  bis  zu  den  Monu- 
menten von  Tetsch  und  Schwander  bei  Mitau.  Wie  der  Weg  hier 
und  zwischen  den  Häusern  der  Vorstadt  bis  zur  Stadt  beschaffen 
war,  ist  wirklich  nicht  zu  beschreiben.  Man  denke  sich  den  ganzen 
Weg,  welcher  ca.  sechs  Fuss  niedriger  war  als  die  von  beiden  Seiten 
gelegenen  Heuschläge,  von  einem  Ende  bis  zum  anderen  wie  dünne 
Dickegrütze,  und  wenn  die  Frühjahrssonne  ihn  schon  trocknete, 
wie  dicke  Dickegrütze.  Im  Frühjahr  war  er  daher  am  schlechte- 
sten. Grosse  Wagen,  d.  h.  Wagen  mit  sehr  hohen  Rädern,  sanken 
bis  zur  Achse  hinein,  Bauerwagen  aber  noch  weit  tiefer.  Mit  den 
kräftigsten  Pferden  konnte  man  nicht,  ohne  mehrere  Male  anzu- 
halten und  sie  sich  erholen  zu  lassen,  in  einem  Zuge  von  dem 
einen  Ende  bis  zum  anderen  fahren.  Ehe  man  sich  in  diese  Grütze 
begab,  hielt  jeder  schon  gewitzigte  Kutscher,  ohne  dass  man  es 
ihm  befahl,  an,  übersah  seinen  Anspann,  ob  auch  alles  fest  und 


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Ein  Jugendleben  aus  Alt-Kurlands  Tagen. 


gut  gebuuden  war,  um  diese  Passage  aushalten  zu  können.  Jeder 
russische  Kutscher  bekreuzigte  sich  zuvor  dreimal.  Dessen  unge- 
achtet sah  man  jedes  Mal  mehrere  Equipagen,  denen  ein  Unglück 
passirt  war.  Man  kann  sich  denken,  wie  viel  Zeit  man  brauchte, 
bis  man  diese  ganze  Strecke  mit  dem  zweimaligen  Uebersetzen  &c. 
zurücklegte.  Und  alles  dieses  ist  nichts  im  Vergleich  zur  Passage 
im  Spätherbst.  Unter  ein  paar  Stunden  konnte  ein  Bauer  mit 
seinem  schwachen  Pferde  die  Strecke  von  der  Stadt  bis  zu  den 
Monumenten,  ca.  2  Werst,  nicht  zurücklegen,  der  Koth  fror  in 
dieser  Zeit  an  seine  Räder  fest,  und  er  hätte  nicht  weiter  fahren 
können,  wenn  er  für  solchen  Fall  nicht  schon  ein  Beil  mitgenommen 
hätte !  Mit  grossen  Equipagen  war  es  wirklich  halsbrechend,  in- 
dem an  manchen  Stellen  die  Kruste  so  festgefroren  war,  dass  der 
Wagen  darüber  hinwegging,  plötzlich  aber  die  Räder  der  einen 
Seite  durchbrachen  und  nun  der  Wagen  umfallen  rausste.  Der 
Weg  von  Mi  tau  nach  Riga  sah  diesem  eben  geschilderten  sehr 
ähnlich.  Im  Sommer  tiefer  Sand,  im  Herbst  und  Frühjahr  fürchter- 
licher Koth.  Man  fuhr  nach  Riga  nie,  ohne  wenigstens  einmal 
seine  Pferde  zu  füttern,  in  der  Regel  aber  nächtigte  man.  Wer 
diese  Wege  von  damals  nicht  gekannt  hat,  wird  sich  kaum  eine 
Vorstellung  von  der  Beschaffenheit  derselben  machen  können  und 
meine  Beschreibung  für  übertrieben  halten. 

Es  ist  vielleicht  nicht  überflüssig,  auch  an  die  vielen  Münz- 
sorten zu  erinnern,  die  in  meiner  Jugend  bei  uns  sämmtlich  im  Gange 
waren.  Ich  will  versuchen  sie  herzuzählen.  In  Gold  gab  es  Dublo- 
nen, Louis-  und  Friedrichsd'ors,  holländische,  Kremmnitz-  und  italie- 
nische Ducaten,  auch  spanische  Goldmünzen,  alle  von  verschiedenem 
Werth.  In  Silber  und  sog.  Silber :  neue  rändige  holländische  Thaler 
(gerade  so  wurden  sie  zum  Unterschiede  von  den  anderen  Thaleru 
benannt)  =  1  Rbl.  33'/,  Kop.  S.,  alte  Thaler  =  l  Rbl.  20  Kop.,  Ort 
oder  Guldenstücke =30  Kop.,  Fünfer  (die  sächsischen  2  gute  Groschen- 
stücke und  diesen  ähnliche  Geldstücke  anderer  Staaten)  =  7  >/a  Kop. ; 
Fünfmarkstücke  sahen  ganz  wie  ein  Füufer  aus,  nur  waren  sie  etwas 
grösser  und  dicker,  waren  krumm  gebogen  und  galten  2  Fünfer. 
Der  Sechser  war  eigentlich  eine  polnische  Münze,  mit  dem  Bilde 
des  Königs  von  Polen  ;  jeder  Fünfer  aber,  der  kahl  geworden,  an 
dem  das  Gepräge  nicht  mehr  sichtbar  war,  galt  auch  nur  einen 
Sechser  =  6  Kop. ;  ein  Dütchen  oder  Mark  =  3  Kop.  oder  2  Fer- 
ding,  denn  1  Ferding  galt  1%  Kop.  Eine  Münze,  die  in  Wirk- 
lichkeit gar  nicht  eiistirte,  aber  beim  Handeln  mit  Bauern  und 


Ein  Jugeadlebeu  aus  Alt- Kurlands  Tageu. 


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Juden  gebräuchlich  war,  hiess  Timpf  und  galt  3  Sechser  oder 
18  Kop.  und  ebenso  war  Flor  eine  ganz  imaginäre  Münze,  galt 
44 Kop. ;  3  Flor  =  l  Thaler  neu  Albertus  =  1  Rbl.  33%  Kop. 
und  war  in  Obligation  und  Schuldverschreibungen  gebräuchlicher 
als  Thaler.  Ausser  den  genannten  gab  es  auch  verschiedene  Kupfer- 
münzen und  russ.  ßank-Assignationen  von  verschiedener  Grösse, 
50,  100,  1000  Rbl.  Ursprünglich  sollte  jeder  ßancorubel  einen 
Silberrubel  gelten,  variirte  aber  sehr  bald  im  Course.  So  lange 
ich  zurückdenken  kann,  wechselte  der  Cours  täglich  zwischen 
350  und  375  Rbl.  ßanco  =  100  Rbl.  S.  Da  alle  Kronsabgaben 
nach  dem  Course,  den  der  Staat  für  die  Zeit  festsetzte,  mit  Bank- 
noten bezahlt  werden  mussten  und  diese  im  gewöhnlichen  Gesehäfts- 
leben  nicht  gebräuchlich  waren,  man  sie  also  immer,  wenn  man 
ihrer  bedurfte,  einwechseln  musste,  so  gab  es  eine,  Menge  jüdischer 
Wechsler,  die  sich  hierdurch  grossen  Vortheil  machten.  Zwischen 
je  zwei  Pfeilern  der  ganzen  ßudenreihe  und  ausserdem  an  den 
Ecken  der  Hauptstrassen  Mitaus  standen  Wechselbanken.  Das 
waren  grosse  Tische,  auf  der  Mitte  derselben  ein  von  Eisendraht 
geflochtener  ca.  vier  Qu.-Fuss  grosser  und  etwa  sechs  Zoll  hoher 
Kasten,  welcher  an  den  Tisch  angeschlossen  stand,  wenn  hier  im 
Augenblick  nicht  Geld  gewechselt  wurde.  In  oder  vielmehr  uuter 
diesem  durchsichtigen  Kasten  standen  die  verschiedenen  Münz- 
sorten, die  man  hier  einwechseln  konnte.  Natürlich  musste  mau, 
was  man  auch  wechselte,  dem  Wechsler  immer  Agio  (oder,  wie  es 
damals  hiess,  Lage)  zahlen.  Während  der  Johanniszeit  hatten 
diese  einen  unglaublichen  Gewinn.  Musste  z.  B.  jemand  Thaler 
empfangen,  hatte  aber  seinen  ausgestellten  Schuldschein  mit  einer 
anderen  Münzsorte  einzulösen,  so  war  er  genöthigt,  diese  einzu- 
wechseln. Diese  Wechseltische  waren  daher  den  ganzen  Tag  so 
stark  besetzt,  dass  man  kaum  ankommen  konnte,  dem  Juden  seine 
Wechselprocente  zukommen  zu  lassen.  Auch  deshalb  war  immer 
viel  Geld  zu  wechseln,  weil  jeder  Mensch  seine  jährliche  Einnahme 
in  den  Geldsorten,  wie  sie  eingekommen  waren,  bis  zum  Johannis- 
geschäft baar  bei  sich  in  der  Chatoulle  aufbewahrte. 

Kamen  die  Gutsbesitzer  zu  Johannis  nach  Mitau  eingefahren, 
so  folgte  ihrer  Equipage  auf  einem  besonderen  Wagen  der  Geld- 
kasten, den  zwei  oder  vier  mit  Flinten  und  Hirschfängern  bewaffnete 
Leute  zu  Pferde  begleiteten.  Diesem  folgten  ein  paar  Fuder  Heu 
und  Hafer,  dann  wieder  eine  Fuhre  mit  allerlei  Victualien  für 
Herrschaften  und  Leute  für  die  Johauniszeit ;  denn  jede  Familie 


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Ein  Jugendleben  aus  Alt-Kurlands  Tagen. 


Hess  zu  Hause  kochen.  Wer  in  der  Stadt  kein  eigenes  Haus  oder 
kein  Quartier  für  die  Winterzeit  hatte,  schleppte  auch  alles  Küchen- 
geräth,  Bettstellen  und  Bettzeug  für  die  Zeit  seines  Aufenthalts 
mit.  Zu  Johannis  kam  alles  nach  Mitau,  denn  alle  Geldzahlungen, 
Contracte,  Dienstverträge  &c.  wurden  immer  nur  zu  Johannis  ge- 
macht. Und  zu  sehen  und  zu  hören  gab  es  hier  wie  in  der  grössten 
Stadt.  Denn  alles,  was  von  Berlin  &c.  nach  Petersburg  und 
Moskau  reiste,  musste  über  Memel  und  Mitau  dahin.  Alle  be- 
rühmten Schauspieler,  Virtuosen,  Seiltänzer,  Jongleurs  und  was 
dergleichen  richtete  sich  immer  so  ein,  dass  sie  auf  ihrer  Durch- 
reise die  Johannissaison  hier  mitnahmen.  Das  war  für  Kurlands 
Söhne  und  Töchter  von  grosser  Wichtigkeit ;  sie  bekamen  die  aus- 
gezeichnetsten Künstler  hier  alle  zu  sehen  und  zu  hören,  ohne 
deshalb  mit  grossen  Kosten  Reisen  ins  Ausland  machen  zu  müssen. 
Das  Theater  war  stets  ausverkauft.  Hierzu  waren  mehrere  Gründe. 
Es  war  mit  guten  Schauspielern  besetzt,  welche  die  vom  Lande 
eingekommenen  Eltern  selbst  sehen  und  ihren  Kindern  zeigen 
wollten.  Und  sehr  viele  andere,  die  gar  nicht  in  der  Absicht,  ins 
Theater  zu  gehen,  bis  dahin  gegangen  waren,  gingen  auch  hinein, 
wenn  da  noch  so  viel  Platz  war.  Es  war  nämlich  hier  auch  eine 
grosse  Liebhaberei  für  schöne  Pferde  und  Equipagen,  um  mit  diesen 
zum  Theater  zu  fahren  und  sie  dort  bewundern  zu  lassen.  Alles 
fuhr  mit  vier  Pferden  lang  gespannt  und  einem  Vorreiter.  Der 
Kutscher  auf  dem  Bock  musste  durchaus  einen  schönen  langen 
Bart  haben,  der  Vorreiter  auf  dem  rechten  Vorderpferde  ein  mög- 
lichst kleiner  Junge  sein  und  wenn  die  Equipage  fuhr,  sehr  laut 
schreien:  «Pagi,  pagi  1  Hee  !>  Dieses  «Hee!»  musste  er  mög- 
lichst lang  dehnen,  je  länger  er  das  ausdehnte,  desto  schöner 
war  es.  Mit  solchen  Equipagen  fuhr  man  die  Damen  zum  Theater ; 
wenn  diese  auch  nicht  hätten  hin  wollen,  so  mussten  sie,  denn 
man  wollte  seine  Pferde  zeigen.  Am  Theater  stieg  man  aus,  die 
Damen  gingen  hinein,  die  Herren  aber  blieben  draussen  stehen, 
um  die  anderen  Equipagen  zu  sehen,  sie  zu  bewundern  oder  zu 
tadeln  —  und  erst  wenn  alles  angekommen  und  hineingegangen 
war.  gingen  sie,  weil  sie  nicht  wussten,  wo  sonst  hinzugehen,  auch 
hinein.  Zum  Wegfahren  versammelten  sich  wieder  die  nachkommen- 
den Wagen,  die  nach  der  Zeit,  wie  sie  angekommen  waren,  einer 
hinter  dem  anderen  halten  mussten.  Sehr  oft  habe  ich  gesehen, 
dass  auf  diese  Art  der  erste  Wagen  an  der  Theaterthür  hielt  und 
der  letzte  Wagen  auf  dem  Markte  ganz  in  der  Nähe  der  Mühle 


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Ein  Jugendleben  aus  Alt-Kurlands  Tagen. 


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stand.  Die  Reihe,  in  der  sie  standen,  ging  nämlich  vom  Theater 
längs  der  Manege  zur  Strasse  an  der  Drixe  und  diese  entlang  bis 
zur  Schlossstrasse,  dann  rechts  durch  die  ganze  Schlossstrasse  über 
den  Markt  bis  zur  Mühle,  oder  wieder  bis  zum  Theater !  Es 
dauerte  immer  Stunden,  bis  alle  weggefahren  waren  ;  denn  wenn 
ein  Wagen  vorgefahren  war  und  die  Polizei  die  Herrschaften  drei- 
mal abgerufen  hatte,  so  musste  er  wieder  fort  und  der  folgende 
vorfahren.  Vom  Theater  fuhr  alles  zum  einzigen  öffentlichen 
Garten,  dem  Offenbergschen  in  der  Schreiberstrasse.  Der  Garten 
war  recht  gross,  aber  nur  der  einzige  grosse  Gang  wurde  von  den 
anstandigen  Leuten  besucht,  daher  war  dieser  so  gedrängt  voll, 
dass  zwei  Menschen  nicht  Arm  in  Arm,  sondern  nur  einer  hinter 
dem  anderen  sich  von  einem  Ende  bis  zum  anderen  durchdrängen 
konnten,  und  wenn  sie  dieses  einmal  hin  und  zurück  gethan  hatten, 
so  war  es  unterdessen  sinkende  Nacht  geworden  und  alles  fuhr 
nach  Hause.  —  Im  Laufe  der  drei  Johannistage  machte  alles  seine 
Geschäfte,  d.  h.  Geldzahlungen  &c.  Am  ersten  Tage  weniger,  weil 
niemand  sich  zu  sehr  von  Geld  entblössen  wollte,  daher  nicht  eher 
auszahlte,  als  bis  er  das,  was  er  zu  bekommen,  eingenommen  hatte. 
Deshalb  entstanden  —  so  lange  ich  denken  kann  —  immer  Stockungen 
im  Geschäft;  immer  hörte  man  darüber  klagen,  dass  der  und  der  . 
noch  nicht  zahle !  Hatte  jemand  eine  Capitalkündigung  bekommen, 
so  suchte  er  bei  dem  oder  jenem  Geld  aufzunehmen ;  entweder  wurde 
es  ihm  ganz  abgeschlagen,  oder  er  bekam  zur  Antwort :  tWenn 
ich  mein  Geld  einbekomme,  so  werde  ich  es  Ihnen  geben.»  Der 
die  Aufsage  bekommen,  zahlte  aus  Aerger,  wenn  er  das  Geld  auch 
flüssig  hatte,  gewiss  nicht  vor  dem  letzten  Termin,  d.  h.  am  dritten 
Johannistage  vor  Sonnenuntergang ;  und  hatte  er  es  nicht,  so 
konnte  er  es  natürlich  gar  nicht  zahlen  —  was  jeden  Johannis  mit 
einzelnen  Personen  geschah ;  dann  cedirte  er  bonis.  Wenn  nun 
solche  Stockungen  im  Geschäft  eintraten,  so  war  es  ein  allgemeiner 
Jubel,  wenn  man  hörte,  dass  N.  N.  zu  zahlen  angefangen  habe  ! 
Von  dem  Moment  an  sah  man  die  Leute  mit  Geldsäcken  die 
Strassen  hin  und  her  laufen  ;  auch  Fuhrleute  auf  Fuhrwagen  Geld 
in  Säcken,  auch  in  kleinen  Fässchen  von  Haus  zu  Haus  führen. 
Am  dritten  Johannistage,  also  am  14.  (26.)  Juni  vor  Sonnenunter- 
gang, mussten  alle  Zahlungen  —  bis  auf  Budenrechnungen,  die 
erst  am  vierten  Tage  bezahlt  wurden  —  gemacht  sein,  oder  der 
säumige  Zahler  wurde  sofort  ausgeklagt  und  über  sein  Vermögen 
wurde  der  Concurs  verhängt.    Solche  Fälle  kamen  jeden  Johannis 


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Ein  Jugendleben  aus  Alt-Kurlands  Tagen. 


vor.  Wirklich  reiche  Leute  kamen  ohne  ihr  Verschulden  iu  Con- 
curs.  Das  ging  sehr  natürlich  zu.  Bekam  jemand  Aufsage,  d.  U. 
wurde  ihm  ein  Capital,  gross  oder  klein,  gekündigt,  und  es  war  bei 
aller  Sicherheit,  die  er  bieten  konnte,  ihm  nicht  möglich,  die  ihm 
gekündigte  Summe  dargeliehen  zu  erhalten,  so  musste  er  falliren. 
Und  sehr  oft  fallirte  deshalb  auch  sein  Gläubiger,  weil  er  dadurch 
ausser  Stande  gesetzt  wurde,  seinen  Zahlungsverbindlichkeiten  nach- 
zukommen.   Die  Advocateu  wurden  dadurch  wohlhabend  ! 

Doch  ich  kehre  nach  diesen  Excursen  zu  den  Erlebnissen 
meiner  Jugend,  zur  weiteren  Schilderung  meiner  Schuljahre  zurück. 
Da  erinnere  ich  mich  besonders  lebhaft  eines  Geburtstages  des 
Hofraths  Döllen.  Als  derselbe  heranrückte,  traten  die  Schüler  zu- 
sammen und  beriethen,  was  man  ihm  diesmal  schenken  sollte,  da 
er  in  früheren  Jahren  schon  Tisch-  und  Theeservice,  und  was  man 
sonst  nur  erdenken  konnte,  erhalteu  hatte.  Im  hohen  Rathe  wurde 
beschlossen,  ihm  ein  Reitpferd  zu  schenken  mit  Sattel  und  Zeug, 
und  mir  wurde  der  Auftrag,  das  alles  zu  kaufen,  was  ich  natürlich 
denn  auch  gethan.  An  dem  Geburtstage  war  nach  anhaltendem 
Regen  schönes  Wetter.  Die  ganze  Schule  zog  in  Procession  an 
Döllen  heran,  gratulirte  ihm  und  bat  ihn,  das  Pferd  mit  Sattel 
und  Zeug  als  Geschenk  der  Schüler  entgegenzunehmen  und  gleich 
bei  diesem  schönen  Wetter  mit  uns  und  den  Lehrern  zusammen 
einen  Spazierritt  nach  Ledding  zu  machen.  Als  es  nun  dazu  kam, 
dass  Döllen  das  Pferd  besteigen  sollte,  sagte  er  sehr  verlegen,  dass 
er  eigentlich  noch  nie  auf  einem  Pferde  gesessen  hätte  und  diese 
Tour  lieber  zu  Fuss  machen  möchte.  Der  Dr.  ß.  würde  statt 
seiner  gewiss  sehr  gern  das  Pferd  versuchen.  Das  that  nun  B. 
auch.  Ausserhalb  der  Stadt  aber  war  vom  Tage  zuvor  eine  grosse 
Pfütze  auf  der  Landstrasse,  und  als  das  Pferd  in  der  Mitte  der- 
selben war,  kratzte  es  erst  mit  dem  einen,  dann  mit  dem  anderen 
Fusse  und  legte  sich  plötzlich  mitten  hinein  1  ß.,  der  nicht  zur 
rechten  Zeit  vom  Pferde  herabsprang,  wurde  nun  mit  dem  einen 
Bein  vom  Pferde  angedrückt  und  zu  allgemeinem  Bedauern  auch 
stark  durchnässt.  Döllen  meinte,  dieses  Gebahren  des  Pferdes 
müsse  doch  eine  Untugend  desselben  sein  und  bat  mich,  der  ich 
vier  Stunden  in  der  Woche  iu  der  Manege  Unterricht  im  Reiten 
nahm,  das  Pferd  mit  mir  in  die  Manege  zu  nehmen,  um  es  da  wie 
gehörig  zu  dressiren.  Der  Stallmeister  aber  meinte,  dass  das  Thier 
krank  sei  und  frisches  Gras  sehr  wohlthuend  wirken  würde.  Wor- 
auf Döllen  mich  aufforderte,  da  ich  zu  den  Pfingstferien  nach 


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Ein  Jugendleben  aus  Alt-Kurlands  Tagen.  61 

Wilxaln  zu  meiner  Schwester  fahren  sollte,  es  mitzunehmen  und 
dort  auszucuriren.  Pfingsten  war  da,  ich  sattelte  das  Pferd,  ritt 
den  ersten  Tag  bis  Grausden  zu  meinem  Onkel,  der  das  Pferd 
auch  für  krank  erklärte,  uud  am  nächsten  Tage  bis  Wilxaln,  wo 
das  Thier  durch  Gras  gesund  werden  sollte ;  aber  schon  am  anderen 
Tage  hatte,  es  «ins  Gras  gebissen»,  d.  h.  es  war  crepirt! 

In  dieser  Zeit  waren  mehrere  Rekruten  in  Mitau  entsprungen 
und  zogen  unter  Anführung  des  Maurers  Jurre,  welcher  von  meinem 
Schwager  aus  Wilxaln  zum  Soldaten  abgegeben  worden  war,  als 
Räuber  von  Wald  zu  Wald  im  Lande  umher.  So  waren  sie  auch 
zum  Neumokschen  Walde  gezogen,  von  wo  aus  der  Jurre  in 
den  Hof  Wilxaln  gekommen  war  und  einen  Faden  Holz,  der  am 
Ende  der  Herberge  aulgestapelt  lag,  schon  angezündet  hatte,  als 
er  zum  Glück  von  drei  herankommenden  Leuten  verjagt  und  das 
Feuer  noch  rechtzeitig  gelöscht  wurde.  Unter  diesen  drei  Leuten 
war  auch  der  riesengrosse  und  starke  Kutscher,  der,  als  mein 
Schwager  ihn  am  anderen  Morgen  fragte,  warum  er  den  Jurre 
nicht  ergriffen,  da  sie  doch  drei  waren,  antwortete:  «Wer  darf 
einen  Solchen  wol  anfassen?!»  Mein  Schwager  war  wüthend  auf 
ihn  und  sagte,  indem  er  sich  zu  mir  wandte:  «Du,  Peter,  hättest 
ihn  gewiss  angefasst  und  wärst  auch  allein  mit  ihm  fertig  ge- 
worden?!» —  An  demselbeu  Tage  wollte  ich  Fels  besuchen  (den 
früheren  Jäger  meines  Vaters,  dem  er  bei  seinem  Ableben  den 
Namen  Fels  beigelegt  und  ihm  die  Freiheit  geschenkt  hatte),  der 
hatte  den  an  der  Tuckum-Talsenschen  Strasse  belegenen  Wilxaln- 
schen  Krug  in  Arrende.  Die  beiden  Bruderssöhne  meines  Schwagers, 
Emst  und  Karl,  ungefähr  10  und  12  Jahre  alt,  kamen  mit  mir. 
Als  wir  durch  den  Wald,  schon  ganz  nahe  am  Kruge  waren,  sprang 
Jurre,  uns  freundlich  zurufend:  «Guten  Tag,  Jungherrchen!»  aus 
dem  Walde  heraus  und  fragte  nach  dem  Herrn,  nämlich  meinem 
Schwager  0.,  ob  der  zu  Hause  sei.  Er.  der  Jurre,  würde  nicht 
mehr  so  dumm  sein,  allein  in  den  Hof  zu  gehen,  er  würde  mit 
seinen  Leuten,  die  er  hier  im  Walde  habe,  nach  Wilxaln  gehen 
und  dem  alten  Herrn  das  Haus  über  dem  Kopf  abbrennen  !  Ich, 
in  dem  Augenblick  der  Worte  gedenkend,  die  mein  Schwager  zu 
mir  sprach,  als  der  Kutscher  antwortete:  «Wer  darf  einen  Solchen 
anfassen?!»  fasste  im  selben  Augenblick  ihn  mit  einer  Hand  hinter 
die  Halsbinde,  warf  ihn  zu  Boden  und  schnürte  ihm  den  Hals, 
damit  er  nicht  schreien  könne,  so  fest,  dass  er  seine  Zunge  buch- 
stäblich blau  aus  dem  Halse  herausstreckte  und  ich  mit  dem  Würgen 


02  Ein  Jugendleben  aus  Alt-Kurlands  Tagen. 

etwas  nachlassen  musste,  um  ihn  nicht  vollständig  zu  erdrosseln. 
Die  beiden  Kinder  schickte  ich  eiligst  in  den  Krug,  um  Hilfe  her- 
bei zu  rufen;  aber  sie  hatten  sich  fest  an  meine  Kleider  ange- 
klammert, weinten  bitterlich,  gingen  nicht  von  der  Stelle  und  liessen 
mich  auch  nicht  los.  Zum  Glück  kam  ein  Bauer  gefahren,  der 
mir  helfen  wollte ;  ich  aber,  mich  auf  mich  salbst  verlassend,  bat 
ihn,  rasch  zum  Kruge  zu  fahren,  um  von  dort  Hilfe  zu  schaffen. 
Gleich  darauf  kam  auch  Fels  mit  vier  Knechten  angefahren,  diese 
packten  und  hoben  den  wirklich  halbtodten  Kerl  in  den  Wagen 
und  brachten  Um  direct  zum  Hauptmannsgericht  nach  Tuckum. 
Zu  Hause  angekommen,  erzählte  ich  den  ganzen  Vorfall  meinem 
Schwager.  Er  und  meine  Schwester  fuhren  sofort  nach  Tuckum 
und  ich  musste  mit,  um  dort  genau  den  Hergang  zu  erzählen  und 
die  allseitigen  Belobigungen  über  meine  Heldenthat  entgegen  zu 
nehmen.  Ganz  Tuckum  und  die  Umgegend  waren  darüber  er- 
freut, dass  der  berüchtigte  Jurre  endlich  festbekommen  war. 

Nach  Mitau  zurückgekehrt  empfing  mich  mein  alter  Hof- 
rath, der  auch  schon  von  dieser  Geschichte  gehört  hatte,  mit  vielen 
Lobsprüchen  über  meinen  Mnth  und  machte  mich  dadurch  in  der 
Rede,  die  ich  mir  ausgedacht  hatte,  um  ihm  den  Todesfall  seines 
Pferdes  beizubringen,  ganz  confus.  Ich  fing  an,  räusperte  mich 
erst,  hustete  dazwischen  etwas  und  sagte  ihm,  dass  das  Pferd 
offenbar  schon  hier  krank  gewesen  sein  müsse,  ich  es  mit  der 
grössten  Vorsicht  geritten,  es  aber  doch  am  nächsten  Tage  schon 
crepirt  sei.  Worauf  Döllen  mit  einem  sehr  erfreuten  Gesicht  ant- 
wortete :  cSie  konnten  mir  keine  erfreulichere  Nachricht  bringen ! 
Der  Besitz  des  Thieres  hat  mich  nur  in  grosse  Verlegenheit  ge- 
setzt; denn  weder  habe  ich  Stallraum  noch  Futter  fürs  Pferd, 
noch  einen  Knecht  zur  Pflege  des  Thieres.  Auch  das  Reiten  ist 
mir  unangenehm,  ich  weiss  nicht,  ob  ich  in  meinem  ganzen  Leben 
zwei  bis  drei  Mal  ein  Pferd  bestiegen.  Gottlob,  dass  es  todt  ist! 9  So 
sehr  ich  mich  auch  freute,  dass  Döllen  die  Todesnachricht  so  freudig 
aufnahm,  so  sehr  schämte  ich  mich  auch,  nicht  früher  daran  ge-  • 
dacht  zu  haben,  ob  ein  solches  Geschenk,  wie  ein  Pferd  (welche 
Idee  von  mir  ausgegangen  war),  ihm  auch  angenehm  sein  würde. 

Die  Pfingstferien  waren  vorüber  und  die  Schule  nahm  wieder 
ihren  Anfang.  In  der  Schule  waren  als  Lehrer  angestellt:  Pro- 
fessor und  Director  des  Gymnasiums  Libau ;  Professor  Groschke, 
Professor  Perlmann,  Professor  Bilterling  und  Professor  Trautvetter ; 
ausser  diesen  die  beiden  Gebrüder  Bieleustein,  der  französische 


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Ein  Jugendleben  aus  Alt-Kurlands  Tagen.  03 


Sprachlehrer  Toury,  der  russische  Sprachlehrer  Wolochotzki,  der 
Singlehrer  Conrector  Kahn,  der  Zeichenlehrer  Knebusch  und  der 
Tanzlehrer  Iwensen.  Alle  Jahre  war  ein  vierzehn  Tage  andauern- 
des öffentliches  Examen,  dem  immer  sehr  viele  Damen  und  Herren 
beiwohnten.  Toury  wollte  mit  seinem  französischen  Unterricht 
brilliren  und  sagte  daher  schon  im  voraus  jedem  Schüler,  welchen 
Act  aus  der  Maria  Stuart  er  ihn  werde  übersetzen  lassen.  So 
hatte  sich  ein  jeder  von  uns  auf  den  Act,  aber  auch  nur  auf  diesen 
einen  Act,  prftparirt.  Mich  konnte  er  nicht  leiden,  und  als  eines 
Tages  recht  viel  Zuhörer,  namentlich  Damen  da  waren  Hess  er 
meinen  Vormann  nur  den  halben  Act  übersetzen  und  rief  nun  mir 
zu:  t  Draehenfels,  übersetzen  Sie  weiter  !>  Ich  liess  mich  nicht 
decontenenciren,  übersetzte  nicht  weiter  von  da  an,  wo  mein  Vor- 
mann stehen  geblieben  war,  sondern  fing  gleich  mit  dem  fünften 
Acte  an  und  als  er  mir  das  verwies  und  verlangte,  dass  ich  an 
der  bezeichneten  Stelle  fortfahren  solle,  antwortete  ich  ihm,  so 
schwer  es  mir  auch  wurde,  mit  einem  sehr  dummen  unschuldigen 
Gesichte:  «Sie  haben  ja,  Herr  Toury,  einem  jeden  vorher  gesagt, 
zu  welchem  Acte  er  sich  zum  heutigen  Tage  zu  präpariren  habe  und 
mir  namentlich  gesagt,  dass  ich  die  drei  ersten  Scenen  des  fünften 
Actes  würde  zu  übersetzen  haben ;  daher  habe  ich  auch  mit  dem 
fünften  Acte  angefangen  !  Es  ist  ja  heute  nicht  anders  geschehen 
als  wie  im  vorigen  Jahre  und  wie  immer.»  Nun  wurde  er  erst 
recht  boshaft  auf  mich ;  aber  vom  Hofrath  Döllen  hat  er  dafür  zu 
hören  bekommen! 

In  der  ersten  Klasse  war  eines  Tages,  als  die  Uhr  schon  ge- 
schlagen hatte,  der  Professor  Perlmann  noch  nicht  gekommen ;  ich 
spielte  mit  dem  Katheder,  bog  es  von  der  einen  Seite  zur  anderen 
und  rief  nun  ganz  plötzlich  dem  Mitschüler  B.  zu:  < Rasch,  rasch, 
kriechen  Sie  hier  unter  !>  «Warum  ?»  fragte  er.  «Das  wird  ja  sehr 
komisch  sein,»  antwortete  ich,  «wenn  der  Professor  kommt  und  Sie 
unter  dem  Katheder  liegen.»  In  dem  Augenblick  war  B.  unter- 
gekrochen. Als  ich  das  Katheder  über  ihn  zurechtstellte,  fiel  mir 
ein,  dass  er  doch  so  ersticken  könnte ;  es  wurde  also  ein  Stück 
Holz  untergeschoben,  damit  er  mehr  Luft  habe.  In  diesem  Augen- 
blick kam  Perlmann  herein,  fand  die  ganze  Klasse  lachend  und 
fragte,  wozu  das  Holz  da  untergelegt  sei,  es  solle  gleich  heraus- 
genommen werden.  Ich  sagte  ihm:  «Herr  Professor,  man  kann 
das  Holz  nicht  herausnehmen.»  «Wie  so,  warum  nicht?»  fragte 
er.    «Weil  der,  der  da  unten  liegt,  ersticken  könnte!»  —  «Da 


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04  Ein  .Tugendleben  ans  Alt-Kurlands  Tagen. 

unten  liegt?  Wer  liegt  denn  da  unten?»  den  werde  Ihnen  gleich 
zeigen,  Herr  Professor,»  sagte  ich  und  bog  das  Katheder  zur  Seite  ; 
da  guckte  Perlmann  hin  und  rief  ganz  erstaunt:  «B.,  B.,  was 
machen  Sie  da?»  Nachdem  der  nun  herausgekrochen  war,  fragte 
er  ihn  nochmals:  «Wozu  waren  Sie  untergekrochen?  Was  wollten 
Sie  da?»  Da  antwortete  dieser:  «Ja,  Drachenfels  sagte,  es  würde 
sehr  komisch  sein,  wenn  Sie  kommen  und  ich  unterm  Katheder 
liege!»  «Ja,»  sagte  Perlmann,  «da  hat  Drachenfels  wol  ganz 
Recht,  ich  finde  es  auch  sehr  komisch  und  finde  auch,  dass  Ihr 
Onkel,  der  Advocat  M.,  wie-  er  mir  vor  einigen  Tagen  sagte,  sehr 
recht  daran  thut,  Sie  von  hier  herauszunehmen,  weil  Sie  hier  sehr 
gemopst  werden  !>  Das  war  derselbe  B.,  welchen  wir  einige 
Wochen  vorher  in  Ledding  todtgeschossen  und  durch  kalte  Waschun- 
gen wieder  ins  Leben  zurückgerufen  hatten! 

Der  polnische  Edelmann  Ignatzki  war  mit  seiner  Räuberbande 
eingefangen  und  sass  in  Mitau  im  Gefängnis. 

Der  Krieg  war  ausgebrochen.  Als  der  Feind  sich  schon  der 
Stadt  genähert,  flüchtete  eine  Menge  Familien  aus  Riga  und  Mitau 
aufs  Land  und  vom  Lande  wieder  eben  so  viele  in  die  Stadt.  Alle 
Archive  aus  den  Behörden,  sowie  die  Kronscassen  wurden  nach 
Riga  geschafft.  Als  der  Gouverneur  Sivers  mit  dem  letzten  Train 
der  Garnison  und  den  Gefangenen  aus  den  Gefängnissen  aus  Mitau 
nach  Riga  abzog,  wurde  er  von  einer  Menge  Volks,  zu  dein  auch 
ich  gehörte,  bis  über  die  Brücke  hinausbegleitet.  Einige  hundert 
Schritte  hinter  der  Brücke  blieb  der  Zug  plötzlich  stehen,  man 
sah  eine  grosse  Bewegung,  mehrere  Menschen  sprangen  von  der 
Strasse  über  den  Graben  auf  die  Wiese  und  ebenso  wieder  zurück 
auf  die  Strasse;  plötzlich  knallten  Schüsse  aus  allen  Flinten  der 
Soldaten  und  der  ganze  Zug  bewegte  sich  nun  weiter  fort  nach 
Riga.  «Was  ist  da  geschehen?!»  «Was  bedeutet  das?!»  so 
fragte  einer  den  anderen  im  Volke,  bis  wir  endlich  erfuhren,  dass 
der  Gouverneur  den  Ignatzki  mit  seinen  fünf  Hauptmitschuldigen 
dort  auf  der  Wiese  an  sechs  dazu  eingerammte  Pfosten  habe  binden 
und  erschiessen  lassen.  —  Dass  der  Gouverneur  Sivers,  ohne  höheren 
Befehl,  sechs  überführte  Mörder  und  Räuber  lieber  erschiessen 
Hess,  als  sie,  als  unnütze  Esser,  in  die  von  Feinden  belagerte  Stadt 
Riga  einzuführen,  wird  er  gewiss  vor  Gott  verantworten  können, 
wie  aber  der  General  Essen,  der  damalige  Kriegsgouverneur  von 
Riga,  es  vor  Gott  verantworten  wird,  dass  er  damals,  als  der 
Feind  noch  entfernt,  nicht  einmal  in  Mitau  war.  ganz  ohne  Grund 


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Ein  Jugendleben  aus  Alt-Kurlands  Tagen.  65 


die  Mitausche  Vorstadt  abbrennen  liess  und  dadurch  tausende  von 
Menschen  um  ihr  Hab  und  Gut  brachte,  weiss  ich  nicht!1 

Nach  Mitau  kam  nun  der  Feind  :.Preussen,  Bayern,  Franzosen 
und  Italiener.  Ein  paar  Wochen  darauf  bemerkte  man  plötzlich 
eine  grosse  Unruhe  in  der  Stadt,  Trommeln  wurden  gerührt,  Trom- 
peten geblasen,  —  mein  Hauswirth  und  ich  standen  vor  der  Thür 
und  sprachen,  was  das  zu  bedeuten  habe?  als  in  dem  Augenblicke 
ein  Kosak,  dann  ein  zweiter  und  dritter  an  uns  vorübersprengten.  Ich 
eilte  auf  die  Strasse,  mir  den  Spectakel  näher  anzusehen.  In  der 
Poststrasse  holte  ein  Kosak  einen  flüchtigen  preussischen  Obristen 
ein,  während  ein  russischer  Ulan  ihm  entgegengeritten  kam  und 
mit  seiner  Lanze  dem  Obristen  so  nahe  an  der  Nase  herumspielte, 
dass  dieser,  um  ihm  zu  entgehen,  sich  so  weit  auf  den  Sattel 
zurückbog,  bis  er  vom  Pferde  auf  die  Strasse  hinabfiel.  In  dem 
Augenblicke  war  der  Ulan  von  seinem  Pferde  gesprungen  und 
hatte  dem  Obristen  seine  Uhr  aus  der  Tasche  gezogen,  während 
der  Kosak  des  Obristen  Pferd  ergriffen  hatte  und  davongeritten 
war.  Der  Ulan  setzte  sich  nun  wieder  auf  sein  Pferd  und  trieb 
den  gefangenen  Obristen  mit  seiner  Lanze  vor  sich  her  durch  die 
grosse  Strasse  nach  dem  Hotel  Stein,  wo  ein  russischer  Obrist  ab- 
gestiegen war.  Vor  der  Thür  war  eine  Menge  Volks,  gefangene 
feindliche  Soldaten,  Kosaken  und  Ulanen.  Als  der  Kosak  in  meiner 
Gegenwart  das  dem  Obristen  abgenommene  Pferd  mit  Sattel  und 
Zeug  einem  Juden  für  zwei  Thaler  verkaufte  und  die  empfangenen 
Thaler  in  die  Tasche  gesteckt  hatte,  trat  ein  russischer  Officier 
aus  der  Hausthür  uud  befahl,  die  dem  Obristen  entrissene  Uhr  und 
das  Pferd  gleich  wieder  zurückzugeben.  Sofort  ward  das  Pferd 
dem  Juden  wieder  abgenommen,  welchem  derselbe  mit  offenem 
Munde  nachsah,  vom  umstehenden  Publicum  gehörig  verlacht.  — 
Drei  Marketenderwagen  waren  dort  auch  vorgefahren.  Auf  dem 
einen  stand  eine  offene  Tine  mit  Franzbröden,  die  die  Kosaken, 
auf  ihren  Pferden  sitzend,  mit  den  Piken  sich  herausholten,  was 
wirklich  amüsant  war.  —  Am  anderen  Tage  war  weder  ein  Russe 
noch  ein  feindlicher  Soldat  in  der  Stadt  zu  sehen.  Die  Russen, 
die  aus  Riga  über  Schlock  den  Ausfall  gemacht  hatten,  waren  mit 
ca.  400  Gefangenen  wieder  nach  Riga  zurückgekehrt ;  die  Preussen 
und  die  anderen  feindlichen  Truppen  hatten  sich  durch  die  Elens- 
pforte  (jetzt  Annenpforte)  und  durch  die  kleine  Pforte  zurück- 

1  Vgl.  für  das  Tliat«iichliche  Dr.  \V.  v.  Hutzelt  in  «Mitth.  an*  der  livl. 
«euch.*  Bd.  13,  Heft  2,  besonder«  p.  175,  193  n.  22!»  ff.    T>.  Red. 

Balti.rh»  Monat-M-brill.  B,1.  XXXIV.  Urft  I.  '» 


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Ein  Jugendleben  aus  Alt-Korlands  Tagen. 


gezogen  und  wagten  es  erst  am  dritten  Tage,  wieder  mit  Musik 
in  die  Stadt  einzuziehen.  Am  12.  December  1812  zog  der  Feind 
für  immer  ab. 

Im  Januar  1813  verliess  ich  die  Döllensche  Schule,  bezog 
das  Gymnasium  und  kam  nach  der  Selecta.  Hier  aber  hatte  ich 
das  Unglück,  mir  schon  im  folgenden  Monat  das  consiUum  abeundi 
in  Folge  eines  unbedachten  Jugendstreiches  zuzuziehen.  Ich  hatte 
mit  einem  meiner  Kameraden  verabredet,  einem  sehr  anmassenden 
und  bei  uns  durchaus  unbeliebten  Professor  einen  Schabernack  zu 
spielen.  Unser  Vorhaben  gelang  zwar  vollkommen,  trug  uns  aber 
schlimme  Früchte  ein.  Wir  wurden  relegirt  und  zwar  tauf  99  Jahre 
vom  Gymnasioplatze».  —  Im  Januar  1813  war  ich  hingekommen 
und  Ende  Februar  war  ich  weggejagt! 

Wenn  ich  nicht  sehr  ine,  so  war  es  der  14.  März,  als  ich 
mit  dem  festen  Vorsatze,  dort  ernstlich  zu  studiren,  zur  Universität 
nach  Berlin  reiste.  Meine  Freunde,  Hauptmannsgerichtsassessor 
W.  Heyking,  Peter  Medem  und  ein  Herr  ßadendick,  ein  wissenschaft- 
lich sehr  gebildeter,  mit  Witz  und  Verstand  begabter  Mann,  be- 
gleiteten mich;  zum  Diener  nahm  ich  den  Jungen  Ernst  aus 
Grausden  mit,  welcher  schon  einige  Jahre  Diener  bei  meinem  Onkel 
S.  gewesen  war ;  da  die  Leibeigenen  keine  Familiennamen  hatten, 
gab  ich  ihm  den  Namen  cKoch».  Dieser  wurde  vorausgeschickt 
bis  zum  Baecker-Kruge,  um  für  uns  das  Nachtquartier  zu  be- 
stellen. Wir  fuhren  am  ersten  Tage  also  nur  bis  dahin  —  12 
Werst  von  Mitau.  Am  anderen  Tage  wurde  Ernst  Koch  nach 
Doblen  (IC  Werst  vom  B-Kruge)  vorausgesandt,  da  nächtigten 
wir  wieder.  Am  dritten  Tage  ging  es  bis  Frauenburg  (53  Werst). 
Wir  beschlossen  gleich,  weil  wir  eine  so  starke  Tour  gemacht 
hatten,  zwei  Nächte  da  zu  schlafen,  was  wir  denn  auch  thaten. 
Hier  nahmen  wir  nun  zärtlichen  Abschied  von  einander,  meine 
drei  Freunde  reisten  nach  Mitau  und  ich  mit  meinem  Ernst  Koch 
nach  Berlin.  .  .  . 

Zunächst  gelangte  ich  aber  nur  bis  Memel,  denn  da  ange- 
kommen, hatte  ich  von  den  100  Ducaten,  die  mein  Vormund  mir 
zur  Reise  nach  Berlin  gegeben  hatte,  keinen  Kopeken  mehr  übrig. 
Was  nun  anfangen  ?  Da  fiel  mir  plötzlich  ein,  bei  Bienemann  von 
einem  Hofrath  Parthey,  der  in  Memel  wohne,  gehört  zu  haben. 
Im  Hotel,  wo  ich  abgestiegen  war,  versicherte  man  mich,  dass 
kein  Mann  solchen  Namens  in  Memel  wohne ;  dass  aber  ein  Hof- 
rath Parthey  ganz  in  der  Nähe  der  Stadt  ein  Gut  besitze,  auf 


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Ein  Jugendleben  aus  Alt-Kurlands  Tagen. 


07 


dem  er  wohne,  zuweilen  nach  Memel  komme  und  in  keinem 
Hotel,  aber  bei  einem  oder  dem  anderen  guten  Freunde  absteige. 
Was  sollte  ich  nun  in  meiner  Geldverlegenheit  beginnen  ?  Ich  bat 
den  Wirth,  mir  einiges  Geld  zu  leihen,  er  schlug  es  mir  aber  rund 
ab.-  Nun  schickte  ich  meinen  Ernst  mit  dem  Befehle,  nachzu- 
forschen, ob  Parthey  da  sei  oder  wo  er  zu  finden  wäre,  und  nicht 
eher  zurückzukommen,  als  bis  er  ihn  gefunden.  —  Erst  gegen 
Abend  kehrte  er  jubelnd  zurück :  er  habe  ihn  zwar  gefunden, 
er  werde  aber  gleich  aufs  Land  zurückfahren  ;  sein  Wagen  stehe 
schon  vor  der  Thür.  <Ich  bat  aber  den  Kutscher,»  sagte  Erust, 
cseinen  Herrn,  wenn  er  herauskomme,  zu  ersuchen,  einen  Augen- 
blick noch  zu  warten,  es  sei  hier  ein  Herr  aus  Kurland  ange- 
kommen, der  ihn  durchaus  zu  sprechen  wünsche ;  er  gehe  gleich 
den  Herrn  benachrichtigen.»  <Goldjunge,  der  du  bist.»  rief  ich 
aus,  e führe  mich  gleich  dahin!»  —  Als  ich  mich  Parthey  vorge- 
stellt nnd  ihm  einen  Gruss  von  Bienemann  gebracht,  begrüsste  er 
mich  sehr  freundlich,  machte  aber  gleich  ein  sehr  ernstes  und  be- 
denkliches Gesicht,  als  ich  ihn  um  Geld  bat,  wozu  mich  Bienemann 
autorisire.  <Ich  bin  ganz  erstaunt,»  sagte  er,  «dass  Bienemann 
mich  um  Geld  bitten  lässt,  ohne  mir  darüber  geschrieben  zu  haben ; 
ich  kann  Ihnen  dalier  keins  geben  !»  «Ich  bitte  um  Entschuldigung,» 
sagte  ich,  «ich  habe  mich  falsch  ausgedrückt;  ich  bin  von  Biene- 
mann nicht  beauftragt  worden,  Sie  um  Geld  zu  bitten,  glaubte 
aber,  da  ich  von  ihm  und  in  seinem  Hause  so  freundlich  von  Ihnen 
sprechen  gehört  hatte,  mich  mit  einer  solchen  Bitte  an  Sie  wenden 
zu  dürfen,  die  Sie  mir  aus  Freundschaft  für  meinen  Vormund  nicht 
abschlagen  würden.»  Eben  so  hartnäckig,  wie  er  mir  das  Darlehen 
abschlug,  blieb  ich  bei  meiner  Bitte  und  Darstellung  meiner  Ver- 
legenheit, bis  er  mir  endlich  zehn  Louisd'or  lieh,  nachdem  ich  zu- 
vor bei  ihm  selbst  einen  Brief  an  Bienemann  mit  der  Bitte  ge- 
schrieben hatte,  die  zehn  Tjouisd'or,  die  ich  von  Parthey  geliehen, 
zu  bezahlen.  Wer  war  nun  glücklicher  als  ich  und  mein  Ernst ! 
Nachdem  wir  noch  eine  Nacht  in  Memel  geblieben,  bezahlten  wir 
unsere  Wohnung  im  Hotel  und  fuhren  mit  einem  Schackner  über 
die  Kurische  Nehrung  nach  Königsberg.  Von  dieser  Fahrt  habe 
ich  nichts  weiter  zu  erzählen,  als  dass  wir  des  schrecklich  tiefen 
Sandes  wegen  eben  so  viel  zu  Fuss  gegangen  sind,  als  wir  fuhren, 
und  in  Bauerkiffen  entsetzliche  Nachtquartiere  hatten.  Von  Königs- 
berg fuhren  wir  sieben  Tage  und  sieben  Nächte  bis  Berlin  in  der 
Diligence,  die  dort  aber  mit  dem  Namen  «rothe  Tortur»  richtiger 

5* 


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68  Bin  Jugendleben  aus  Alt-Kurlands  Tagen. 

benannt  wird.  Es  sind  grosse  Fuhrwagen,  die  aussen  und  innen 
roth  angestrichen  sind.  Im  Inneren  haben  sie  vier  Reihen  Bänke 
ohne  Lehnen.  Die  Bank  ist  ein  am  federlosen  Wagen  angebrachtes 
Brett,  welches  ebenfalls  mit  rothem  Leder  ohne  Polster  überzogen 
und  durch  das  Hin-  und  Herrutschen  der  Reisenden  wie  geglättet 
war,  so  dass  es,  selbst  wenn  der  Wagen  stillstand,  schwer  war, 
sich  darauf  sitzend  zu  erhalten.  Er  wurde  von  vier  Pferden,  lang 
gespannt,  gefahren  ;  der  Postillon  kutschte  vom  Sattel,  setzte  sich 
aber  nur  dann  auf  denselben,  wenn  er  vom  Gehen  müde  war,  denn 
meistentheils  ging  er  nebenbei.  Die  Reisegesellschaft  bestand  ausser 
uns  aus  sieben  langweiligen  Personen,  die  aber  doch  manchmal 
recht  herzlich  zu  lachen  gaben,  namentlich  die  einzige  Dame,  eine 
alte,  sehr  lange  und  hagere  Person,  die  wegen  ihrer  Leichtigkeit, 
worüber  sie  alle  Augenblicke  sich  selbst  beklagte,  sobald  der 
Wagen  nur  etwas  rüttelte,  bald  dem  einen  oder  anderen  Nachbar 
auf  den  Schoss  zu  sitzen  kam.  —  Zwei  Franzosen  in  Civil k leidern, 
die  aber  ihren  Degen  angeschnallt  trugen  und  spinnefeind  gegen 
einander  waren,  sassen  entfernt  von  einander  und  schimpften  sich 
greulich,  was  drei  bis  vier  Mal  auf  dieser  Tour  geschah.  Sehr 
amüsant  und  komisch  war  es,  wie  sie,  als  wir  auf  einer  Station 
aussteigen  mussten,  beide  blank  vom  Leder  zogen  und  schwuren 
einander  zu  erstechen.  Es  blieb  aber  nur  bei  dieser  guten  Absicht, 
erstochen  wurde  keiner !  —  Die  ersten  zweimal  24  Stunden  waren 
wirklich  kaum  zu  ertragen,  bis  die  Wagen  gegen  ganz  eben  solche, 
aber  mit  Lehuen  versehene,  gewechselt  wurden ;  wofür  man  jedoch 
den  Platz  mit  einigen  Groschen  mehr  bezahlen  musste. 

.  Endlich  waren  wir  in  Berlin  angekommen,  wo  ich  mich  durch 
sieben  Tage  und  sieben  Nächte  Schlaf  entschädigte.  Die  Brüder 
Kleist  aus  Zehrxten,  die  einige  Tage  vor  mir  angelangt,  fand  ich 
hier  vor  und  auch  die  Brüder  Kleist  aus  Leegen  und  Th.  Roenne. 
Nach  drei  Wochen  reisten  wir  alle  ohne  besondere  Erlebnisse  nach 
Heidelberg  ab  und  placirten  uns  da  alle  im  Hause  von  Frau 
v.  Faber,  welches  am  Universitfttsplatze  gelegen  war.  Der  Ein- 
gang war  durch  eine  grosse  Pforte,  die  am  Ende  der  Facade  des 
Hauses  sich  befand.  In  der  unteren  Etage  war  ein  grosser  Saal 
und  am  Ende  ein  Zimmer,  welche  Räume  ich  für  mich  genommen 
hatte.  Im  oberen  Stock  dieselbe  Einrichtung,  nur  dass  an  jedem 
Ende  des  Saales  zwei  Zimmer  waren.  Die  beiden  Zimmer  des  einen 
Endes  hatten  die  Kleists-Leegen,  die  des  anderen  die  beiden  Kleist 
von  Zehrxten  inne ;  den  Saal  aber  bewohnte  Frau  v.  Faber  selbst. 


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Ein  Jugend  leben  aus  Alt-Kurlands  Tagen. 


Ich  war  mit  dem  festen  Vorsatze,  in  dem  mich  die  Kleists 
uoch  bestärkten,  die  selbst  fleissig  waren,  nach  Heidelberg  ge- 
kommen, «dort  wirklich  sehr  fleissig»  zu  sein,  belegte  anch  Collegia 
und  besuchte  sie  regelmässig,  bis  eines  Tages  mir  Gideon  Stempel 
und  Urban  begegneten,  als  ich  eben  ins  Collegium  gehen  wollte 
und  mir  einen  «Gelehrten»  stürzten.  Natürlich  setzte  ich  mich  in 
Avantage  und  stürzte  ihnen  einen  «Doctor»,  darauf  natürlich  sie 
wieder  mir  und  ich  ihnen,  bis  wir  zum  «Papst»  kamen  und  den 
wir  nur,  weil  ich  kein  Bier  trank,  mit  Schnaps  ausmachen  mussten. 
(Wenn  nämlich  ein  Student  dem  anderen  zuruft,  er  sei  ein  Ge- 
lehrter, so  muss  er  mit  ihm  einen  Schoppen  Bier  austrinken.  Setzt 
der  andere  sich  in  Avantage  und  nennt  ihn  «Doctor»,  so  muss  ein 
jeder  zwei  Schoppen  trinken  &c.  bis  zum  «Papst»,  was  der  höchste 
Tusch  im  Biercomment  ist,  da  muss  ein  jeder,  ich  weiss  nicht 
mehr  wie  viel  Schoppen  Bier  austrinken.)  Wir  setzten  uns  also 
an  einen  kleinen  Tisch  bei  mir  im  Zimmer.  Jeder  hatte  eine  ganze 
Flasche  Schnaps  vor  sich.  Wie  viel  ein  jeder  davon  ausgetrunken 
hat,  kann  ich  wenigstens  nicht  sagen,  denn  ich  bekam  erst  am 
anderen  Tage  etwas  Besinnung  wieder  und  hatte  noch  die  nächst- 
folgenden Tage  einen  so  starken  Katzenjammer,  dass  ich  auch 
nicht  mehr  daran  dachte,  Collegia  zu  besuchen.  Ich  philosophirte: 
«Wozu  auch?  was  nützt  einem  grosse  Gelehrsamkeit,  wenn  man 
durchs  viele  Studiren  und  Arbeiten  seine  Gesundheit  einbüssen 
muss  V  Wenn  man  letztere  pflegen  will,  was  doch  die  erste  Pflicht 
des  Menschen  ist.  so  kommt  man  wirklich  gar  nicht  zum  Studiren. 
Zur  Gesundheitspflege  ist  unentbehrlich  Motion!»  Reitstunden 
und  Spazierenreiten,  auf  dem  Fechtboden  Pariren  und  Rapierjungen 
ausmachen,  Spazierengehen  und  Feusterparade  machen,  Baden  und 
Tanzen  ;  wo  soll  da  zum  Studiren  noch  Zeit  übrig  bleiben,  wenn 
man  noch  wie  ich  ausserdem  Kraftvorstellungen  geben  musste! 
Eines  Tages  war  ich  mit  mehrereu  Studenten  im  Schlossgarten,  wo 
wir  etwas  gekneipt  hatten.  Zu  Aufsehern  im  Schlossgarten  sind 
ausgediente  alte  Soldaten,  sog.  graue  Krieger  angestellt  und  haben 
hin  und  wieder  im  Garten  Schilderhäuser  für  sich  zum  Schutz 
gegen  den  Regen.  Wir  spazierten  im  Garten  umher,  als  mich 
einer  meiner  Freunde  fragte :  «Sage  mir,  was  ist  das  stärkste 
Kraftstück,  das  Du  ausführen  kannst?»  «Nun,»  sagte  ich,  indem 
ich  mich  dabei  umsah  und  wir  uns  eben  in  der  Nähe  eines  solchen 
8childerhäuschens  befanden,  «wenn  ich  mich  in  solch  ein  Ding 
hineinstelle  und  gähne,  so  muss  das  Ding  platzen!»    Ich  stellte 


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70 


Ein  .Fugendleben  aus  Alt-Kurland«  Tagen. 


mich  sofort  mit  dem  Rücken  hinein,  gähnte,  reckte  meine  Glieder, 
das  Ding  platzte  wirklich  und  fiel  rückwärts,  mich  mit  sich  zieheud. 
Die  Bursche,  die  zusahen,  krümmten  sich  vor  Lachen  und  lachten 
immer  lauter,  als  ich  nicht  aufzustehen  vermochte,  obgleich  ich 
alle  meine  Kräfte  zusammennahm  und  die  Entdeckung  machte,  dass 
ich  in  meinem  Rausch  nicht  bemerkt  hatte,  wie  ein  solcher  grauer 
Krieger  hinter  mir  im  Häuschen  gestanden,  als  ich  mich  hinein- 
stellte und  dass  er  es  war,  -  der  mich  jetzt  festhielt,  als  ich  auf 
ihm  lag !  Auf  das  laute  Lachen  der  Bursclieu  war  noch  eine 
Menge  anderer  Personen  herbeigekommen,  die  mit  einstimmten,  uud 
auch  ich  hätte  wol  herzlich  mitgelacht,  hätte  mir  nicht  der  graue 
Krieger  ein  Schmerzensgeld  von  12  Gulden  abverlangt,  und  wenu 
ich  nicht  schon  vorausgesehen  (was  auch  wirklich  eintraf),  dass  ich 
dem  Garteneomite  das  Häuschen  ersetzen  musste. 

Ein  anderer  Abend,  oder  vielmehr  eine  Nacht,  welche  wir, 
ein  paar  hundert  Studenten,  im  Schlossgarten  zubrachteu,  war 
amüsanter.  Ich  proponirte  und  mit  grossem  Jubel  wurde  es  von 
allen  aufgenommen,  in  die  Stadt  hinunterzugehen,  von  den  Fenstern 
aller  Häuser  die  Blumen  wegzustehlen,  auf  andere  Fenster  um- 
zustellen und  so  in  der  ganzen  Stadt  die  Blumen  zu  verwechseln. 
Gesagt,  gethan.  Alle  rannten  wir  sofort  hinunter,  zogen  alle 
Nachtwächter  in  unseren  Bund,  die  uns  gern  dazu  hilfreiche  Hand 
leisteten  und  uns  die  nöthigeu  Treppen  verschafften  ;  denn  die 
Blumen  wurden  meistenteils  in  der  zweiten  Etage  auf  kleinen 
Balcons,  die  vor  jedem  Fenster  waren,  gehalten.  Nun  ging  der 
Spectakel  los,  wobei  natürlich  auch  einige  Töpfe  zerbrachen.  Aus 
manchen  Fenstern  hörte  man  lautes  Lachen,  aus  den  meisten 
aber  schelten  und  schimpfen.  Amüsant  war  es  anderen  Tages,  zu 
sehen,  wie  die  Eigenthümerinnen  lachend  oder  schmollend  durch 
die  Strassen  eilten,  ihre  lieben  Blumen  wieder  auszutauschen  — 
überhaupt  wurde  der  Scherz  von  der  ganzen  Stadt  gut  aufgenommen 
und  belacht. 

Wieder  ein  Spass,  den  ich  hatte,  als  ich  auf  der  Mannheimer 
Chaussee  mit  einigen  Studenten  spazieren  ging.  Ueber  diese 
Blumenaustauschung  sprechend,  beschlossen  wir,  wieder  einmal  etwas 
ausgehen  zu  lassen.  Da  kam  ein  ganz  gedeckter  Wagen  gefahren, 
in  dem  drei  Damen  sassen,  zwei  im  Rücksitz  und  eine  vorn,  wo 
also  für  eine  Person  noch  Platz  war.  Mit  dem  Rufe:  «Halt, 
Kutscher  !>  eilte  ich  auf  den  Wagen  zu,  riss  die  Thür  auf  und 
sprang  mit  den  Worten  :  «Tantchen  Wieser,  wie  freue  ich  mich,  Sie 


Ein  Jagendleben  aus  Alt-Kurlands  Tagen.  71 

wiederzusehen!»  hinein.  Die  Dame  sah  mich  erstaunt  an  und 
sagte:  cSie  irren  sich,  ich  heisse  gar  nicht  so.»  « Tantchen,»  sagte 
ich,  «Sie  erkennen  mich  nicht  wieder?  Ich  bin  der  Peter  Drachen- 
fels!» «Nein,»  antwortete  sie,  «ich  kenne  Sie  nicht  und  bitte  Sie, 
meinen  Wagen  sofort  zu  verlassen  !»  wobei  sie  dem  Kutscher  zurief, 
zu  fahren.  Ich  bat  nun  sehr  um  Entschuldigung,  sie  verkannt  und 
die  Damen  durch  mein  Hineinspringen  vielleicht  erschreckt  zu 
haben  und  verliess  die  Kutsche,  die  auch  sofort  weiter  fuhr. 
Einige  Tage  darauf  machte  ich  bei  Frau  v.  Leoprechting  Visite. 
Nachdem  ich  mich  hatte  melden  lassen,  öffnete  sie  mir  lächelnd 
selbst  die  Thür  und  sagte,  indem  sie  mich  einzutreten  bat  und 
mich  den  anderen  Damen  vorstellte:  «Es  ist  nicht  die  Gräfin 
Wieser,  die  Sie  hier  sehen,  sondern  Frau  von  Degenfeld  mit  ihren 
Töchtern.»  -  Ich  dachte:  «Lass  dich  nicht  verblüffen!»  stutzte 
und  fand  nnn  gleich  eine  auffallende  Aehnlichkeit  zwischen  ihr 
und  meiner  Tante,  äusserte,  dass  meine  Tante  mir  geschrieben 
hätte,  au  dem  Tage  in  Heidelberg  sein  zu  wollen,  also  das  Ver- 
kennen und  mein  unüberlegter  Sprung  iu  ihren  Wagen  dadurch 
zu  entschuldigen  seien,  und  dass  ich  die  Damen  deshalb  nochmals 
und  wegen  des  ihnen  dadurch  bereiteten  Schreckes  um  Entschuldi- 
gung bäte.  Frau  von  Degenfeld  aber  antwortete  mir:  «Ich  bin 
mit  einer  Gräfin  Wieser,  die  aber  vor  acht  Jahren  schon  gestorben 
ist,  sehr  bekannt  und  befreundet  gewesen  und  glaube  damals  von 
ihr  gehört  zu  haben,  dass  sie  die  einzige  noch  Lebende  dieses 
Namens  sei ;  jetzt  höre  ich  aber  von  Ihnen,  dass  noch  eine  Gräfin 
Wieser,  Ihre  Tante,  am  Leben  und,  wenn  ich  Sie  richtig  verstanden 
habe,  jetzt  in  Heidelberg  sei?»  Das  wurde  alles  im  Lächeln  ge- 
sprochen, bis  die  Leoprechting  mir  sagte:  «Wenn  ich  Sie  nicht 
als  einen  sehr  wahrheitsliebenden  Mann  kennen  würde,  daher  glauben 
muss,  dass  Sie  einen  Brief  von  Ihrer  Tante,  der  Gräfin  Wieser, 
jetzt  erhalten  haben,  so  müsste  ich  glauben,  dass  es  ein  harmloser 
Scherz  von  Ihnen  gewesen,  wie  Sie  schon  manchen  in  Heidelberg 
ausgeführt  haben.  Gestehen  Sie  die  Wahrheit  r»  fügte  sie  lächelnd 
hinzu.  «Unter  der  Bedingung,  dass  Sie,  gnädige  Frau,  mir  ver- 
geben,» sagte  ich,  indem  ich  auf  die  Degenfeld  zutrat  und  ihre 
Hand  ktisste,  «will  ich  gestehen,  dass  ich  gelogen  habe  und  weder 
eine  Tante  Wieser  besitze,  noch  ejaen  Brief  von  derselben  erhalten 
habe.»  —  Die  Damen  und  ich  lachten  und  scherzten  und  nachdem 
ich  noch  einige  angenehme  Stunden  in  ihrer  Gesellschaft  verbracht, 
verliess  ich  das  Haus. 


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72  Ein  Jugcndleben  aus  Alt-Kurlands  Tagen. 


Wir  waren  unser  25  Ouronen  ;  ich  werde  suchen,  ob  mein 
Gedächtnis  noch  so  weit  reicht,  sie  alle  hier  namentlich  herzuzählen. 
Nr.  1.  ich.  2 — 5.  die  Kleists  aus  Zehrxten  und  Leegen,  6.  Th.  Roeune, 
7.  Gerzimsky,  8.  Gideon  Stempel,  9.  Urban,  10.  Kolbe,  11.  Gustav 
Wilpert,  12.  Karl  Nolde,  13.  Feierabend,  14.  Gohr.  Als  letzterer  nach 
Heidelberg  kam.  hatte  er  einen  Speisepaudel  aus  Kurland  mit  einem 
ganzen  und  einem  halben  Knappkäse  mitgebracht.  Diesem  kurischen 
Knappkäse  zu  Ehren  wurde  ein  grosses  Fest  arrangirt.  bei  welchem 
der  heile  Knappkäse,  auf  ein  hohes  Gestell  gelegt,  mitten  auf  dem 
Tische  stand,  der  halbe  Knappkäse  in  so  viel  Stücke,  als  wir 
Curonen  an  diesem  Feste  theilnahmen,  zerstückelt,  von  uns  aufge- 
gessen und  des  «heilen»  Wohlergehen  so  viel  betrunken  wurde, 
bis  er  selbst  und  einige  Bursche  in  Folge  allzu  vielen  Trinkens 
von  Tisch  und  Stuhl  herunterfielen.  —  Die  beiden  Estländer  Ge- 
brüder Riesemann,  Nr.  15  und  16,  ein  paar  tüchtige  Jungen,  und 
17.  ein  Livländer  Wagner  gehörten  auch  zur  Curonia.  Nr.  18 
Teichert.    Die  anderen  habe  ich  augenblicklich  vergessen. 

Eines  Tages,  beim  Mittagessen  im  <  blauen  Stern  >,  wo  wir 
Landsleute  stets  speisten,  sagte  Teichert,  der  mit  einem  Freunde 
am  Nachmittage  nach  Rom  reisen  wollte,  zu  mir:  «  Drachenfels, 
Du  bist  doch  immer  ein  fixer  Kerl  !  wir  fahren  mit  der  Diligence 
bis  Basel,  begleite  uns,  fahre  bis  Basel  mit!»  Ich  bog  mich  vor 
und  sagte  zu  Gideon  Stempel,  der  entfernt  von  mir  sass :  tWenn 
Du  mitfährst,  fahre  ich  auch  !>  «Hast  du  Geld?»  fragte  er;  und 
die  berühmte  bucklige  Christine,  die  uns  bediente,  rief  mir  zu: 
«Wenn  der  Baron  selbst  kein  Geld  hat,  wird  sein  Ernst  Koch  es 
ihm  geben  1»  —  So  geschah  es  denn  auch  wirklich.  Ernst  Koch 
schallte  für  uns  beide  zusammen  72  oder  74  Gulden,  mehr  war  es 
nicht,  dessen  entsinne  ich  mich  ganz  genau.  Hiervon  musste  er 
für  uns  Pässe  und  die  Plätze  in  der  Diligence  bezahlen.  Um 
5  Uhr  fuhren  wir  nach  Basel  ab,  wo  wir  die  Nacht  blieben. 
Nachdem  am  anderen  Morgen  Teichert  mit  seinen  Kameraden  nach 
Rom  abgereist  war  und  wir  unsere  Rechnung  im  Hotel  bezahlt  hat- 
ten, die  ganz  unglaublich  gepfeffert  war,  proponirte  mir  Stempel,  den 
Rest  unserer  Kasse  zwischen  uns  zu  theilen  und  von  nun  an  nicht 
mehr  auf  gemeinschaftliche  Kosten,  sondern  auf  eigene  Rechnung 
zu  reisen  und  zwar  über  Schaafhausen  nach  Heidelberg  zu  Fuss 
zurückzukehren.  Wir  kauften  sogleich  die  zur  Reise  nöthigen 
Schuhe  und  Ranzen,  eine  Karte  von  der  Schweiz  und  einen  Bädeker, 
der  aber  damals  nicht  so  hiess.    Wir  marschirten  also  nun  ab 


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Ein  Jugendleben  aus  Alt-Kurlands  Tagen. 


73 


nach  Schaffhausen,  bis  wir  an  den  Wegweiser  kamen,  der  uns  auch 
den  Weg  nach  Zürich  zeigte  —  wir  sahen  einander  an.  verstanden 
uns.  ohne  ein  Wort  zu  sprechen,  und  gingen  nach  Zürich.  Hier 
wollten  wir  das  weltberühmte  Hotel,  das  «Schwert»,  besehen, 
gingen  hinein,  wurden  aber  noch  rascher,  als  wir  hineingekommen, 
von  den  Kellnern  hinausgeworfen.  —  Zufällig  fanden  wir  eine 
Gelegenheit,  über  den  See  nach  Kaspers wyl  oder  Küssnach  zu  fahren. 
Wir  bestiegen  den  Rigi  und  schliefen  die  Nacht  unter  freiem 
Himmel  auf  dem  Culm,  wo  jetzt  ein  grosses  Gasthaus  stehen  soll, 
damals  aber  keine  Spur  von  einer  menschlichen  Wohnung  zu  sehen 
war.  Nachdem  wir  in  der  Nacht  dort  schändlich  gefroren  hatten, 
waren  wir  so  glücklich,  die  Sonne  sehr  schön  aufgehen  zu  sehen,  ein 
Glück,  das  nicht  allen  Reisenden  zu  Theil  wird.  Die  schöne  Morgen- 
röthe,  oder  die  schöne  Abendröthe;  oder  die  schönen  Gegenden  der 
Schweiz  zu  beschreiben,  darauf  lasse  ich  mich  nicht  ein.  Das  haben 
viele  andere  vor  und  nach  mir  gethan  und  besser,  als  ich  es  im  Stande 
wäre.  Von  hier  durchstreiften  wir  so  ziemlich  die  ganze  deutsche 
Schweiz.  Es  ist  unglaublich,  wie  man  sich  an  Fussreisen  gewöhnen 
kann.  Ich  kann  versichern,  dass,  wenn  wir  uns  in  den  ersten  Tagen 
schon  nach  vier  oder  fünf  Meilen  Weges  sehr  erschöpft  hinlegten,  wir 
später  vom  frühen  Morgen  bis  zum  späten  Abend  gingen,  ohne  die  ge- 
ringste Ermüdung  zu  fühlen.  In  grösseren  Städten,  wie  in  Bern, 
Luzern  &c,  schlugen  wir  uns  mit  Betteln  oder  wie  sonst  jeder  es 
konnte,  durch.  An  einem  Bäckerladen,  wo  Stempel  ohne  weiteres 
einen  Kringel  bekam,  wurde  ich  mit  Schimpf  und  Spott  weggejagt, 
indem  die  Bäckermamsell  zu  mir  sagte  :  « Verkaufe  Er  seine  silberne 
Weste,  so  braucht  Er  nicht  zu  betteln  !>  Ich  hatte  nämlich  eine 
blautnchene  Weste,  die  sehr  bunt  mit  Silberrundschnur  benäht 
war ;  natürlich  trennte  ich  nun  die  Schnur  gleich  ab,  wodurch 
meine  Weste  aber  ein  sehr  schlechtes  Aussehen  bekam,  weil  sie 
ganz  abgeblasst  war.  Zur  Nacht  kehrten  wir  nur  in  Sennhütten 
ein,  wo  wir  den  Sennen  sehr  viel  von  Russland,  von  den  schwarzen 
und  weissen  Bären,  von  Wölfen  und  anderen  reissenden  Thieren 
erzählen  mussten,  wobei  natürlich  fürchterlich  viel  gelogen  wurde, 
wir  aber  dafür  Brod  und  Käse  so  viel  zu  essen  bekamen,  dass  wir 
uns  für  den  ganzen  Tag  gesättigt  fühlten  ;  und  niemals  nahmen 
sie  die  von  uns  angebotene  Bezahlung  an.  Da  es  uns  so  gut  ging, 
beschlossen  wir,  als  wir  auf  dem  St.  Gotthard  waren,  noch  weiter 
bis  nach  Rom  zu  gehen.  —  Vorher  muss  ich  noch  eine  Scene,  die 
ich  an  der  Jungfrau  erlebte,  erzählen.    Hier  trafen  wir  mit  einer 


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Ein  Jugendleben  aus  Alt- Kurlands  Tageu. 


Mutter,  ihrer  Tochter  und  ihrem  zukünftigen  Schwiegersohne  zu- 
sammen und  sprachen  davon,  dass  die  c  Jungfrau >  noch  von  niemand 
bestiegen  worden  sei.  Wir  drei  Männer  beschlossen  darauf,  sie  gleich 
zu  besteigen,  natürlich  nur  so  weit,  als  es  möglich  wäre.  Die 
Jungfrau  sowie  der  Boden,  auf  dem  wir  standen,  waren  mit  Eis 
bedeckt  und  es  war  in  dem  Eise  eine  1%  Ellen  breite  Schlucht 
von  unermesslicher  Tiefe,  die  wir  erst  überspringen  mussten,  um 
auf  die  Juugfrau  zu  gelangen.  Der  Bräutigam  sprang  zuerst  hin- 
über, dann  kam  ich  und  darauf  Stempel.  Nun  kletterten  wir  drei, 
eiuer  nach  dem  anderen,  wobei  uns  ein  eingefrorener  Stein,  um 
festen  Fuss  zu  fassen,  sehr  zu  statten  kam.  Nachdem  wir  nun 
ein  paar  Faden  hinaufgeklettert  waren,  kehrten  wir  um  und  kamen 
in  umgekehrter  Reihenfolge  zurück.  Stempel  zuerst,  dann  ich  — 
aber  als  ich  den  Stein,  den  einzigen  Haltepunkt,  den  wir  besassen, 
eben  verlassen  hatte,  war  er  losgethaut,  rollte  mir  nach  (ohne  mich 
glücklicherweise  zu  berühren)  und  stürzte  in  die  Kluft  mit  furcht- 
barem Getöse.  Was  nun  ?  wie  kommt  nun  der  unglückliche  Bräuti- 
gam herunter  V  !  Er  war  ebenso  erschreckt  wie  wir  beide.  Die 
Braut  uud  künftige  Schwiegermutter  rangen  laut  weinend  die 
Hände.  Wenn  er  an  der  Stelle,  wo  der  eingefrorene  Stein  ge- 
standen, ausglitt,  so  fuhr  er  unrettbar  denselben  Weg  wie  der 
Stein  in  den  Abgrund.  Ich  stellte  mich  schnell  entschlossen  mit 
dem  linken  Fuss  au  den  Rand  der  Schlucht,  natürlich  auf  der 
Seite  der  Jungfrau,  rief  ihm  zu,  er  solle  es  nicht  versuchen,  stehend 
herunterzukommen,  sondern  sich  reitend  auf  seinen  Alpenstock 
setzen  und  so  herabrutschen,  ich  würde  ihn  unten  au Hangen  und 
mit  ihm  zugleich  durch  den  Schwung,  den  er  mir  geben  würde, 
über  die  Schlucht  setzen.  So  führten  wir  es  beide  aus.  Nachdem 
ich  mit  ihm  nun  glücklich  hinübergesprungen  war,  liess  die  Braut 
mit  Umarmungen  und  Küssen  nicht  ab,  vielleicht  auch  die  Schwieger- 
mutter, dessen  kann  ich  mich  aber  nicht  erinnern.  Was  glaubt  ihr 
aber,  wer  der  Umarmte  und  Geküsste  war  —  der  Bräutigam  ? 
Nein,  ich  war  es  !  Wäre  sie  nicht  so  hübsch  gewesen,  so  würde 
ich  mich  jetzt  der  Küsse  gewiss  nicht  mehr  erinnern. 

Vom  Gotthard  gingen  wir  also  nach  Italien.  Nach  einigen 
Stunden  kamen  wir  nach  Airolo  und  wurden  hier  zum  ersten  Mal 
nach  drei  Monaten  nach  unseren  Pässen  gefragt,  die,  in  Heidelberg 
auf  einen  Monat  ausgestellt,  jetzt  also  schon  seit  zwei  Monaten 
abgelaufen  waren.  Was  nun  machen  ?  Natürlich  wieder  lügen  I 
Stempel  fragte  mich   naiv,  wem    wir  unsere.  Pässe  abgegeben 


Ein  Jugeudleben  aus  Alt-Kurlands  Tagen.  75 

hätten  *?  Ich  antwortete  ihm  eben  so  harmlos,  dass  ich  auch  nicht 
recht  wisse,  ob  Urban  oder  Gohr,  die  ja  aber  auch  gleich  an- 
kommen müssten.  Der  Polizeimann  beruhigte  sich  für  den  Augen- 
blick bei  dieser  Antwort ;  wir  benutzten  aber  diese  kurze  Polizei- 
pause, um  eiligst  den  Rückweg  anzutreten.  Wieder  auf  dem  Gott- 
hard angekommen,  sagte  Stempel  zu  mir,  dass  es  doch  eigentlich 
eine  ganz  verrückte  Ide«  sei,  so  ohne  Pässe  und  Geld  herumzu- 
reisen. Beide  könnten  wir  doch  auch  nicht  die  Rückreise  nach 
Heidelberg  mit  dem  wenigen  Gelde,  das  wir  noch  hatten,  aus- 
führen, daher  einer  hier  bleiben  müsse  und  dem  anderen  dqy  Rest 
des  Geldes  mitgeben,  damit  der  nach  Heidelberg  zurückkehren 
und  von  dort  dem  Zurückgebliebenen  das  nötluge  Geld  zuschicken 
könne.  Ich  sah  ihm  an,  dass  er  einen  Brenner  hatte  zurückzu- 
kehren, gab  ihm  den  Rest  meines  Geldes,  der  in  einem  runden 
Laubthaler  bestand  und  noch  meinen  Segen  auf  den  Weg.  Mir  war 
wol  ganz  eigen  zu  Muthe,  als  ich  so  allein  blieb,  er  immer  weiter 
sich  entfernte  und  ich  nun  so  verlassen  auf  dem  Gotthard  stand! 
Mich  umschauend,  erblickte  ich  etwas,  was  mein  Interesse  sehr 
in  Anspruch  nahm.  lu  dem  Felsen  neben  mir  war  nämlich  der 
Name  tSsuworow»  eingehauen.  Hier  war  es  also,  wo  Ssuworow 
mit  den  Russen  in  den  neunziger  Jahren  über  den  Gotthard  ge- 
gangen. Sehr  verstimmt  und  sehr  müde  —  da  wir  unserer  Re- 
tirade  aus  Airolo  wegen  die  Nacht  vorher  nicht  geschlafen  — 
legte  ich  mich  nieder  und  schlief  gleich  fest  ein.  Plötzlich  er- 
wachte ich  durch  Geräusch,  welches  ein  Pudel  mit  seinem  messin- 
genen Halsbande  machte.  Ich  ergriff  den  Hund,  zog  ihm  sein 
Halsband  über  die  Ohren  und  steckte  dieses  in  meineu  Ranzeu, 
glücklich,  nun  wieder  einmal  etwas  Metall  bei  mir  zu  haben.  Der 
Hund  schien  auch  sehr  erfreut,  das  Halsband  losgeworden  zu  sein 
und  erwies  sich  mir  dankbar,  denn  er  schmiegte  sich  an  mich  und 
folgte  mir  auf  Schritt  und  Tritt.  So  kamen  wir  denn  nach  dem 
Hospiz,  dem  Gasthause  auf  dem  St.  Gotthard,  wo  wir  Reisende 
vorfanden,  von  denen  einer  vom  Endzimmer  aus  erfreut  cCartouche, 
Cartouche!>  den  Pudel  anrief,  worauf  der  Hund  fröhlich  zu  seinem 
Herrn  zurückkehrte.  Dieser  aber  wandte  sich  zu  mir  mit  dem 
Bemerken  :  <Mein  Hund  scheint  sich  Ihnen  angeschlossen  zu  haben, 
er  hatte  aber  auch  ein  Halsband,  wo  mag  das  geblieben  sein?» 
«Das  habe  ich  in  meinem  Ranzen,  ich  hatte  die  Absicht,  das  Hals- 
band und  auch  den  Hund  hier  zu  verkaufen,  um  mich  mit  dem 
Erlös  hier  satt  essen  und  auch  noch  ein  paar  Tage  hier  lebeu  zu 


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76 


Ein  Jugend  leben  aus  Alt-Kurlands  Tagen. 


können,  weil  ich  kein  Geld  mehr  habe.»  —  cO,  Sie  scherzen  nur! 
bitte,  geben  Sie  mir  das  Halsband  wieder.»  —  cNein,  ich  scherze 
durchaus  nicht,  ich  bitte  Sie  auch  nicht  zu  scherzen  und  im  vollen 
Ernst  das  Mittagessen  zu  bestellen,  das  Sie  so  gut  sein  werden, 
tür  mich  zu  bezahlen.  Dann  gebe  ich  Ihnen  Ihr  Halsband  zurück.» 
«Der  Herr  will  mit  uns  essen,»  sagte  er  zu  den  anderen  Herren, 
«anders  giebt  er  das  Halsband  nicht  zurück.»  —  «Ja,  er  wird  es 
bestimmt  nicht  eher  wiedergeben.»  sagte  ich  sehr  ernst.  «Wie 
heissen  Sie?  Wer  sind  Sie,  mein  Herr?»  fragte  mich  einer  der 
Hinzugetretenen.  —  «Ich  werde  Ihnen  jede  Frage  beantworten,  so- 
bald Sie  mir  gesagt  haben,  wer  Sie  sind.»  —  «Ich  heisse  N.  N., 
und  dies  sind  meine  beiden  Eleven,  der  Fürst  Wrede  und  Herr 
Kempitz,  die  ich  jetzt  zur  Universität  Heidelberg  begleite.»  —  «Das 
trifft  sich  ja  wunderschön  !  —  ich  heisse  Drachenfels,  bin  ein  alter 
Bursche  aus  Heidelberg  und  auf  dem  Wege  dahin  zurück.  Wir 
können  also  die  Reise  gemeinsam  machen,  und  ich  habe  Gelegen- 
heit, Ihnen  als  alter  Bursche  zu  zeigen,  wie  Füchse  oder  wol  nur 
angehende  Füchse  geprellt  werden,  und  selbst  ohne  einen  Batzen 
in  der  Tasche  nach  Heidelberg  zurückkehren.  Da  ich  überdies 
hier  in  der  Schweiz  sehr  bekannt  bin,  kann  ich  Sie  führen,  ohne 
dass  Sie  einen  Führer  zu  bezahlen  brauchen.»  Wir  assen  sehr 
gemüthlich,  scherzend  und  lachend  zusammen  und  als  sie  mir 
sagten,  sie  wollten  nach  Altdorf  und  von  da  über  den  Rigi  gehen, 
meinte  ich,  das  wäre  auch  ganz  meine  Tour  und  ein  mir  sehr  be- 
kannter Weg,  und  wir  marschirten  denn  nun  wirklich  zusammen 
fort  bis  zu  einem  Dorfe  oder  Kloster,  wo  wir  bei  einem  katholischen 
Pfaffen  zu  Abend  assen  und  nächtigten  und  die  Abreise  zum  anderen 
Tage  um -sechs  Uhr  festsetzten.  Um  vier  Uhr  morgens  aber  hatte 
ich  mich  schon  aus  dem  Staube  gemacht,  und  mein  treuer  Freund, 
mein  schwarzer  Cartouche,  Hess  nicht  von  meiner  Seite  und  kam 
mit  mir.  Nach  einer  Stunde  oder  mehr  legten  wir  uns  auf  den 
Rasen  und  schlummerten,  bis  unsere  Reisegesellschaft  nachkam. 
Ehe  ich  sie  zu  Worte  kommen  Hess,  rief  ich  ihnen  entgegen : 
«Sehen  Sie,  das  war  die  erste  Prellerei,  und  die  zweite  folgt  gleich 
nach !»  Sie  nahmen  das  gutmüthig  auf,  wir  scherzten  und  lachten 
wieder,  setzten  unsere  Reise  fort  und  erfreuten  uns  an  der  schönen 
Natur.  Endlich  behauptete  ich,  dass  keiner  von  ihnen  im  Stande 
sei,  frühmorgens  drei  Fingerhut  Schnaps  nüchtern  austrinken  zu 
können.  Das  wollten  sie  nicht  zugeben,  gingen  aber  auf  meine 
ihnen  proponirte  Wette  ein,  wenn  sie  es  nicht  ausführen  köunten, 


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Ein  Jugendleben  aus  Alt-Kurlands  Tagen. 


77 


für  den  ganzen  Tag  mein  Essen  zu  bezahlen.  Da  erklarte  ich 
ihnen,  wie  sie  verloren  hätten.  Denn  wenn  sie  den  ersten  Finger- 
hut Schnaps  genossen  hätten,  seien  sie  doch  nicht  mehr  nüchtern, 
könnten  also  den  zweiten  und  dritten  nicht  mehr  nüchtern  hinunter- 
schlucken. Sie  sahen  das  lachend  ein  und  bezahlten  wirklich  meine 
Zeche  für  den  ganzen  Tag.  —  So  kamen  wir  nach  Altdorf,  von 
wo  sie  gleich  zu  Boot  Weiterreisen  wollten,  was  aber  gar  nicht  in 
meinem  Plane  lag ;  ich  wollte  nämlich  in  Altdorf  bleiben,  wo  ich 
wusste,  dass  dort  ein  ßanquier  war,  bis  Stempel  mir  Geld  aus 
Heidelberg  schicken  würde.  Ob  ich  es  erst  hier  erfuhr  oder  schon 
vorher  wusste,  dass  Bürgeln,  das  Dorf,  wo  Wilhelm  Teil  geboren, 
in  der  Nähe,  nur  eine  Viertelstunde  entfernt  von  da  lag,  weiss 
ich  nicht.  Ich  schlug  aber  meinen  Gefährten  vor,  den  Abstecher 
dorthin  zu  machen.  Wir  gingen  auch  wirklich  dorthin  und  be- 
gegneten einem  Manne  in  etwas  auffallender  Kleidung  mit  einem 
Violinkasten,  den  er  über  seinen  Ranzen  gebunden.  In  Bürgeln 
angekommen,  besahen  wir  die  Tellscapelle.  Unmittelbar  neben 
derselben  steht  das  Haus,  wo  Willielm  Teil  gelebt  hat.  Es  hatte, 
wie  die  meisten  Häuser  in  der  Schweiz,  eine  Galerie  im  zweiten 
Stock  um  das  ganze  Haus.  Auf  dieser  Galerie  stand  ein  ganz 
hübsches  Mädchen,  hatte  sich  herübergebeugt  und  sah  auf  uns 
herab.  «Ach,  guten  Morgen,  Rosalie!»  rief  ich  ihr  zu.  «Was?! 
sind  Sie  mit  ihr  bekannt?»  fragten  die  Meinigen.  «Ja  wol,> 
sagte  ich,  «ich  bin  in  dem  Hause  sehr  bekannt,  es  ist  ein  sehr 
gastfreies  Haus ;  jedenfalls  werde  ich  hineingehen  sie  besuchen ; 
wollen  Sie  mitkommen,  so  will  ich  Sie  einführen  und  komme  dafür 
auf,  dass  8ie  freundlich  empfangen  werden!»  Als  wir  hineinkamen 
und  meine  Mitreisenden  gewahr  wurden,  dass  es  ein  Gasthaus  sei, 
lachte  ich  laut  auf  und  sagte  ihnen,  dass  das  wieder  eine  Prellerei 
von  mir  sei  und  sie  nun  wieder  meine  Zeche  bezahlen  müssten. 
Wir  Hessen  uns  ein  gutes  Frühstück  geben.  Als  wir  uns  an  den 
Tisch  gesetzt,  den  Rosalie  (das  Mädchen  hiess  zufälligerweise 
wirklich  so)  uns  aufgedeckt  hatte,  brachte  ein  altes  Mütterchen 
uns  den  Käse,  sah  mich  freundlich  an,  ungeachtet  sie  verweinte 
Augen  hatte,  und  sagte  zu  mir:  «Sie  müssen  ein  Kurländer  sein!» 
Wie  vom  Blitz  getroffen  sprang  ich  auf  und  fragte:  «Mütterchen, 
woher  wissen  Sie  das?  Sind  Sie  in  Kurland  gewesen?  Sind  Sie 
eine  Kurländerin?  Sagen  Sie,  woher  wissen  Sie  das?»  —  «Ich 
erkenne  es  an  Ihrer  Aussprache,»  antwortete  sie  mir,  brach  dabei 
in  Thränen  aus  und  sagte:  «Eben  hat  mich  ein  Kurländer,  ein 


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78  Ein  Jugendleben  aus  Alt-Kurlands  Tagen. 

Herr  v.  Klopmann,  verlassen,  Sie  müssen  ihm  begegnet  sein,  der  drei 
Monate  hier  bei  mir  logirte.»  —  «Ja,  ich  glaube,  wir  sind  ihm 
begegnet,  er  hatte  eine  Violine  bei  sich  ?  Aber  was  machte  er  hier 
drei  Monate  bei  Ihnen?»  —  «Nun,  er  hatte  kein  Geld  mehr  und  bis 
er  nach  Hause  geschrieben  und  von  dort  welches  erhalten,  waren 
drei  Monate  vergangen.  Das  war  aber  ein  guter,  lieber  Mensch  !»  — 
«Hat  er  Ihnen  auch  alles  bezahlt?»  —  «Natürlich,  auf  Heller  und 
Pfennig  alles  bezahlt!»  Mich  über  den  Tisch  hinüberbückend, 
fasste  ich  die  Alte  mit  beiden  Händen  an  den  Kopf  und  rief: 
«Mütterchen,  liebes  Mütterchen,  ich  bin  auch  ein  herrlicher  Mensch, 
habe  auch  keinen  Batzen  Geld  mehr,  behalten  Sie  mich  auch,  bis 
ich  von  Hause  Geld  geschickt  bekomme!»  Das  musste  ich  ihr 
mehrere  Male  wiederholen,  bis  sie  einsah,  dass  es  kein  Scherz  sei 
und  ihr  nichts  anderes  übrig  bleibe.  Meine  Reisegesellschaft  nahm 
lachend  und  scherzend  von  mir  Abschied. 

Dieser  Klopmann  war  ein  Bruder  des  Kalkuhuenschen,  des 
Landhofmeisters  Klopmann ;  er  wanderte  mit  seiner  Violine  durch 
ganz  Ruropa.  —  Natürlich  schrieb  ich  jetzt  gleich  an  meinen  Ernst 
nach  Heidelberg,  dass  er  mir  endlich  das  Geld  schicken  solle.  Das 
alte  Mütterchen,  die  Frau  vom  Hause,  Frau  Senne,  begnügte  sich 
nicht  damit,  mich  als  ihren  Gast  zu  betrachten.  Mit  Gewalt  drang 
sie  mir  Geld  auf,  dass  ich  nicht  ruhig  bei  ihr  sitzen  und  auf  mein 
Geld  warten,  sondern  die  Zeit  von  vielleicht  drei  bis  vier  Wochen 
benutzen  solle,  in  der  Umgegend  umherzuschweifen.  Das  that  ich 
denn  auch  wacker. 

Gerade  nach  vier  Wochen  bekam  ich  von  einem  Kaufmann 
aus  Altdorf  die  Anzeige,  dass  er  mir  50  Ducaten  auszuzahlen  habe. 
Natürlich  wollte  ich  gleich  zu  ihm  hingehen  ;  aber  da  jetzt  Geld  da 
war,  musste  ja  gefahren  werden,  wenn  es  auch  nur  eine  Viertel- 
stunde Entfernung  war.  Nun  musste  Rosalie  im  Dorfe  erst  lange 
herumsuchen,  bis  sie  einen  Bauern  fand,  der  mit  einem  Pferde  an- 
gefahren kam,  mit  dem  ich  dann  zu  meinem  Kaufmann  fuhr  und 
die  50  Ducaten  holte.  Auf  seine  Empfehlung  und  sein  vieles  Zu- 
reden kaufte  ich  mir  von  ihm  einen  sogenannten  Staub-  oder  Regen- 
mantel von  ganz  feinem  Wachstaffet  den  ich  mit  einem  oder  zwei 
Ducaten  bezahlte.  Da  es  aber  an  dem  Tage  weder  staubte  noch 
regnete,  sondern  sehr  trübe  war,  legte  ich  meinen  Mantel  sehr 
hübsch  in  Falten  zusammen  auf  den  Sitz  meines  Wagens  und 
setzte  mich  selbst  darauf.  In  Bürgeln  angekommen,  war  er  ebenso 
regelrecht,  wie  ich  ihn  zusammengefaltet  hatte,  zusammengeklebt, 


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Rin  .Tugendleben  aus  Alt-Kurlands  Tagen. 


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so  dass  es  unmöglich  war,  ihn  aus  einander  zu  nehmen,  ohne  ihn 
zu  zerreissen,  wodurch  er  für  mich  eben  so  unbrauchbar  war  wie  für 
Rosalie,  die  ihn  gar  nicht  annahm,  als  ich  ihn  ihr  schenken  wollte. 

Zwischen  Bürgeln  und  Altdorf  stand  ein  Schützenhans,  von 
wo  aus  die  Schützen  auf  eine  400  Schritt  entfernte  Scheibe  ins  Ziel 
schössen.  Jeder  Schuss  musste  bezahlt  werden  und  wer  den  Meister- 
schuss  gethan,  bekam  dafür  eine  grössere  Summe.  Jeder  Gast, 
der  hinzu  kam,  hatte  einen  Freischuss,  zahlte  nichts,  gewann  aber 
auch  nichts.  Neben  der  grossen  Zielscheibe  war  eine  kleine  Scheibe, 
auf  der  eine  Katze  mit  durchschossenem  Kopfe  gemalt  und  unten 
geschrieben  war :  Karl  Man  teuffei.  und  Jahreszahl  und  Datum, 
welche  letztere  ich  aber  vergessen  habe.  Manteuffel,  unser  nach- 
heriger  Überforstmeister,  hatte  dort  auch  als  Gast  eine  Büchse 
zum  Schiessen  bekommen  und  als  er  sie  eben  anlegt,  um  ins  grosse 
Ziel  zu  schiessen,  läuft  dort  eine  Katze  und  er  ruft:  eDer  Katze 
in  den  Kopf  !>  und  wirklich  hat  er  sie  auch  getroffen.  Wahrschein- 
lich steht  noch  heute  dieses  kleine  Schild  da  zu  seinem  Andenken. 

Nun  machte  ich  mich  also  zu  meiner  Abreise  von  Bürgeln 
fertig,  bezahlte  meine  Zeche,  die  ganz  lächerlich  billig  war,  um- 
armte meine  alte  Frau  Senne,  die  ihre  bitterlichen  Thränen  weinte 
und  mich  zu  küssen  nicht  aufhören  wollte.  Endlich,  als  sie  mich 
losliess  und  ich  zu  meiner  Erfrischung  auch  einen  Kuss  von  Rosalie 
haben  wollte,  reichte  diese  mir  die  Hand  und  wandte  ihr  Gesicht 
ab.  Als  ich  sie  nun  noch  einmal  bat,  mir  zum  Abschiede  einen 
Kuss  zu  geben,  und  die  Mutter  es  ihr  sogar  befahl,  sagte  sie  mir, 
dass,  wenn  ich  durchaus  einen  haben  wolle,  ich  den  Fränzel  um 
einen  bitten  solle,  dem  habe  sie  eine  ganze  Menge  gegeben.  Viel- 
leicht werde  der  mir  einen  abgeben.  Fränzel  war  nämlich  ihr 
Verlobter.  Nun  fuhr  ich  weg,  von  Altdorf  nach  Laufen,  dann 
Schaff  hausen,  ohne,  so  viel  ich  mich  jetzt  entsinne,  besondere  Aben- 
teuer erlebt  zu  haben. 

Im  Gasthause  zu  Laufeu  sass  ich  beim  Abendessen  neben 
einem  Manne,  der  mir  sehr  gut  gefiel  und,  wie  es  mir  schien,  auch 
Gefallen  an  mir  gefunden  hatte.  Wir  plauderten  bis  nach  Mitter- 
nacht zusammen.  Am  anderen  Morgen  kam  der  Kellner  und  fragte 
mich  um  raeinen  Pass.  cMein  Pass!  Ich  habe  keine  Ahnung,  wo 
der  ist !  In  den  vier  Monaten,  wo  ich  von  Heidelberg  fort  bin, 
hat  kein  Mensch  mich  nach  einem  Passe  gefragte  Nun  krame 
ich  meinen  ganzen  Ranzen  aus  und  finde  zum  Glück  auch  den 
Pass,  der  aber  nur  auf  einen  Monat  ausgestellt,  jetzt  also  schon 


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oogle 


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Ein  Jugendleben  aus  Alt-Kurlands  Tagen. 


über  drei  Monate  abgelaufen  war.  Sehr  treuherzig  erzählte  ich 
das  dem  Kellner,  bemerkte,  man  müsse  sich  zu  helfen  wissen,  nahm 
Tinte  und  Feder  und  strich  «einen  Monat  >  aus  und  schrieb  darüber 
«elf  Monate».  Nach  kaum  einer  Stunde  war  ein  Polizeiofficiant 
da,  der  mich  zur  Polizei  begleitete.  Dort  angekommen,  fragte 
mich  ein  Mann,  mir  meinen  Pass  vorhaltend,  ob  das  mein  Pass 
sei.  «Ja,»  sagte  ich.  «das  ist  mein  Pass.  Er  war  nur  auf  einen 
Monat  ausgestellt  und  heute  habe  ich  «elf»  übergeschrieben.»  «Das 
ist  ein  komisches  Geständnis,»  sagte  er.  «Wissen  Sie  denn  nicht, 
dass  eine  grosse  Strafe  auf  Fälschung  eines  Passes  steht?»  «Nein.» 
sagte  ich,  «das  weiss  ich  nicht.  Ich  habe  auch  nichts  gefälscht. 
Der  Pass  ist  wie  gewesen,  nur  dass  ich  etwas  zugeschrieben  habe.» 
Drei  Herren  waren  da,  die  mit  einander  stritten  uud  lachten  und 
nicht  wussten,  was  sie  mit  mir  anzufangen  hätten.  Da  sagten  sie 
endlich  wie  aus  einem  Munde,  dass  der  Polizeimeister  verreist  sei, 
erst  spät  abends  zurückkommen  werde  und  ich  bis  dahin  in  dem 
hier  anstossenden  Zimmer  als  Arrestant  sitzen  müsse.  Eine  schöne 
Ueberraschung  für  mich !  —  Das  Zimmer  war  ganz  anständig  und 
gut,  aber  es  langweilte  mich  doch  sehr  und  noch  mehr,  als  am 
Abend  mir  ein  Bett  aufgemacht  wurde  und  ich  auch  wirklich  die 
Nacht  so  zubringen  musste.  Am  anderen  Morgen,  erst  um  elf 
Uhr,  oder  noch  später,  wurde  ich  vor  die  Polizei  geladen.  Aber 
welche  Freude  und  welches  Erstaunen,  als  ich  in  dem  Polizei- 
meister meinen  Tischgefährten  von  vorgestern  erkannte  !  Mit  vielem 
Lachen  und  Bedauern,  dass  er  gerade  gestern  verreist  sein  musste, 
liess  er  mir  einen  neuen  Pass  ausstellen  und  begleitete  mich,  indem 
er  einen  Herrn  aus  der  Gesellschaft  mit  auft'orderte,  zum  Gasthofe, 
wo  wir  sehr  vergnügt  speisten  und  tranken  bis  zur  Stunde  meiner 
Abreise.  —  Als  ich  in  Heidelberg  ankam,  hatte  ich  noch  viel  Geld  ; 
nie  ist  wol  sonst  ein  Student  von  der  Reise  heimkehrend  mit  so 
viel  erübrigtem  Gelde  dorthin  zurückgekehrt.  Ich  hatte  noch  zwei 
Ducaten.  In  den  ersten  drei  Monaten  der  Reise  hatte  ich  mit 
Stempel  zusammen  74  Gulden  ausgegeben ;  für  mich  allein  37  Gul- 
den ;  und  dieser  vierte  Monat  kostete  mich  48  Ducaten. 

In  Heidelberg  fing  nun  wieder  das  alte  Leben  an  oder  sollte 
vielmehr  eben  anfangen,  als  der  Oberpedell  Krings  zu  mir  herein- 
trat, mich  sehr  freundlich  begrüsste  und  mich  auft'orderte,  meine  vier- 
zehn Tage  Carter  abzusitzen. 


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Die  erste  Universität  in  Russland. 


Graf  D.  A.  Tolstoi,  Da«  akademische  Gymnasium  und  die  akademisch* 
Universität  im  XVIII.  Jahrhundert,  Nach  handschriftlichen  Docu- 
inenten  des  Archiv«  der  Akademie  der  Wissenschaften.  Aus  dem 
Russischen  Ton  P.  v.  K ü geigen.  St.  Petersburg.  1886.  S.  224.  8. 
A.  K.  B  o  r  o  «  d  i  n  ,  Die  akademische  Universität  im  XVIII.  Jahrhundert. 
(HcTopHiecKifi  B«ctuhki>  April  1886.) 

s  ist  eine  wenig  gekannte  Thatsache,  dass  Peter  der  Grosse 
unter  der  Fülle  seiner  reformatorischen  Arbeiten  auf  poli- 
tischem und  socialem  Gebiet  eigentlich  auch  der  Gründer  des  russi- 
schen Universitätswesens  wurde ;  denn  nach  seinem  Plane,  der  erst 
nach  dem  Tode  des  Herrschers  zur  Ausführung  gelangte,  war  die 
Petersburger  Akademie  der  Wissenschaften  in  Verbindung  mit  einer 
akademischen  Universität  und  einem  akademischen  Gymnasium 
gestiftet  worden.  Die  erste  zusammenhängende  Mittheilung  über 
diese  beigeordneten  Institutionen  hat  Graf  D.  A.  Tolstoi  in  seinem 
oben  genannten  Werk  gegeben,  das  zuerst  in  Form  einer  Beilage 
zum  61.  Bande  der  *  Mittheilungen  der  kaiserlichen  Akademie  der 
Wissenschaften >  zu  Ende  des  J.  1885,  sodann  in  Buchausgabe 
erschien  und  seit  dem  Herbst  in  der  trefflichen  Uebertragung 
v.  Kügelgens  auch  deutsch  vorliegt.  Als  solche  ist  es  in  der  i  Rig. 
Zeitung»  und  besonders  eingehend  in  der  t  Zeitung  für  Stadt  und 
Land>  einer  ausführlichen  Besprechung  und  Würdigung  unterzogen 
worden.  Die  nachfolgenden  Blätter  geben  den  zweiten  Theil  dieses 
Buches,  die  Geschichte  der.  ältesten  Universität  in  Russland,  mit 
kurzen  Worten  wieder,  indem  sie  gleichzeitig  die  in  den  Veröffent- 

BaniMhe  HoMbnelirin,  IM.  XXXIV.  II.  ft  1.  <; 


82  Die  erste  Universität  in  Russland. 

lichungen  russischer  Akademiker  liegenden  Ergänzungen  in  Be- 
tracht ziehen.  Bleibt  dem  Grafen  Tolstoi  das  Verdienst  unbe- 
nommen, in  seiner  Monographie  zum  ersten  Mal  diese  interessanten 
Materialien  zu  den  ersteu,  schwächlichen  Regungen  geistigen  Lebens 
in  Russland  gesammelt,  veröffentlicht  und  in  ihrem  Zusammenhange 
beleuchtet  zu  haben,  so  erforderte  doch  auch  die  Darstellung 
Borosdius  im  Aprilheft  des  <Historischen  Boten»  1886  Beachtung. 
Dieser  um  ihres  vom  Grafen  Tolstoi  mehrfach  abweichenden  Ur- 
theils  willen  anziehenden  Schilderung  der  künstlichen  und  gewalt- 
samen Einführung  des  Universitätslebens  in  Russland  dienten  neben 
dem  genannten  Hauptwerke  noch  als  Quellen  namentlich  für  das 
innere  Leben  der  Universität  und  die  studentischen  Verhältnisse 
die  Arbeiten  Pekarskis  (1870)  und  Suchomlinows  über  die  Ge- 
schichte der  Akademie  und  die  von  Biljarski  gesammelten  c Mate- 
rialien zu  einer  Biographie  Lomonossows». 


Am  11.  Januar  1721  schrieb  der  bekannte  deutsche  Philosoph 
Christian  Wolff  dem  Leibmedicus  Peters  des  Grossen  Laurentius 
Blumentrost,  dass  S.  K.  Majestät  die  Absicht  habe,  eine  Akademie 
der  Wissenschaften  in  Verbindung  mit  einer  anderen  Anstalt  zu 
stiften,  «wo  Personen  von  guter  Herkunft  die  noth wendigen  Wissen- 
schaften, Künste  und  Handwerke  erlernen  könnten»,  worüber  er 
(der  Kaiser)  ihm  vor  einigen  Wochen  geschrieben  habe.  Drei 
Jahre  später  reichte  Blumentrost  dem  Zaren  einen  ausführlichen 
Plau  ein,  in  welcher  Weise  für  Russland  die  Errichtung  einer 
höchsten  Bildungsanstalt  zu  vollziehen  sei.  In  dieser  Denkschrift 
heisst  es  u.  a. :  «Die  Gründung  blos  einer  Akademie  wird  zwar 
zu  einer  Fortentwickelung  der  Wissenschaft  beitragen,  aber  hätte 
gar  keine  Bedeutung  für  die  Verbreitung  von  Kenntnissen  im  Volk. 
Es  lohnt  sich  auch  nicht,  eine  Universität  zu  stiften,  weil  es  keine 
Schulen  giebt,  welche  für  dieselben  vorbereiten  köunten.»  Daher 
—  lautete  die  Schlussfolgerung  in  der  Denkschrift  —  müsse  die 
russische  Akademie  alle  drei  Anstalten  in  sich  vereinigen ;  nämlich 
eine  Akademie,  eine  Universität  und  ein  Gymnasium.  Die  Uni- 
versität sollte  aus  drei  Facultäten  bestehen  •  der  juristischen,  der 
medicinischen  und  der  philosophischen ;  in  der  letzteren  sollten  «die 
mathematischen  und  humanen  Wissenschaften  gelesen  werden»,  d.h. 
die  Eloquentia  (die  Beredtsamkeit),  Archäologie  und  Geschichte.  Die 


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Die  erste  Universität  in  Russland. 


83 


Mitglieder  dieses  neuen  Instituts,  gleichzeitig  Akademiker  und 
Professoren,  mussten  natürlich  aus  dem  Auslande  verschrieben 
werden.  Peter  bestimmte  die  Summe  von  24912  Rbl.  zum  Unter- 
halt  dieser  neu  zu  gründenden  Anstalten  ;  es  sollten  die  Einnahmen 
aus  den  Städten  Narva,  Dorpat,  Pernau  und  Areusburg  dazu  ver- 
wendet werden. 

Langwierig  und  verwickelt  waren  die  Verhandlungen  der 
zarischen  Gesandten  mit  den  Gelehrten  Deutschlands,  welche  das 
Petersburger  Klima  uud  die  grosse  Entfernung  scheuten,  die  sie 
von  dem  unbekannten,  barbarischen  Reiche  der  Zaren  trennte. 
Andere  Hessen  ungeheuerliche  Anforderungen  laut  werden,  wie 
z.  B.  Christian  Wolff,  welcher  ausser  seiner  Gage  20000  Rbl. 
voraus  verlangte,  worauf  beschlossen  ward,  tihm  nichts  Wichtiges 
mehr  mitzutheileu».  Endlich  aber  gelangten  einige  dieser  Ver- 
handlungen zum  Abschluss,  verschiedene  Contracte  waren  unter- 
schrieben, einzelne  Gelehrte  zur  Abreise  bereit ;  da  starb  Peter 
der  Grosse  am  28.  Januar  1725.  Im  Juni  desselben  Jahres  er- 
schien der  erste  Akademiker,  Martini,  iu  Petersburg,  vermuthlich 
kein  bedeutender  Gelehrter,  denn  seine  erste  Vorlesung  brachte 
die  Mittheilung,  er  habe  das  tperpetuum  mobile»  erfunden.  Bis 
zum  November  waren  die  übrigen  Akademiker  versammelt,  und  am 
24.  November  1725  fand  die  erste  öffentliche  Sitzung  statt.  Pro- 
fessor Bülffinger  hielt  eine  Lobrede  auf  Peter  und  Katharina,  als 
Beschützerin  der  Akademie,  und  verlas  eine  Abhandlung  über  den 
Magnetismus.  Nach  Beginn  des  neuen  Jahres  erschien  eine  offi- 
cielle  Publication  über  den  Bestand  und  die  Arbeiten  der  Akademie, 
zu  dereu  Präsidenten  Blumentrost  ernannt  wurde ;  unter  den  Mit- 
gliedern waren  die  bedeutendsten :  die  Mathematiker  Hermann, 
Daniel  und  Nikolai  Bernoulli,  der  Philolog  Bayer,  der  Botaniker 
Buxbaum,  der  Astronom  Delisle,  ferner  wurden  aus  Deutschland 
zwei  Studenten  zu  Adjuncten  berufen,  welche  später  berühmt  werden 
sollten:  der  Naturforscher  Gmelin  und  der  Mathematiker  Leon- 
hard Euler. 

Nach  dem  Plane  Blumentrosts  sollten  alle  diese  Herren  auch 
Professoren  der  neuen  Universität  sein.  Aber  es  fehlte  vollständig 
an  Studenten  ;  da  besuchten  denn  die  Professoren  gegenseitig  ihre 
Collegien,  und  schliesslich  wurden  aus  Deutschland  acht  Zuhörer, 
unter  ihnen  der  spätere  Historiker  Gerh.  Müller,  verschrieben,  da- 
mit die  siebzehn  Professoren  nicht  in  ganz  leeren  Auditorien  zu 
lesen  brauchten.  —  Der  erste  russische  Student  hiess  Anochin,  und 

6* 


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84 


Die  erste  Universität  in  Russland. 


Graf  Tolstoi  glaubt  annehmen  zu  müssen,  dass  derselbe  durchaus 
nicht  vorbereitet  gewesen,  um  den  Vorlesungen  zu  folgen.  Diese 
Behauptung  scheint  jedoch  nicht  ganz  richtig',  wenn  man  in  Be- 
tracht zieht,  dass  Anochin  die  noch  von  altersher  in  Moskau  be- 
stehende slavisch-lateinische  Akademie  besucht  und  späterhin  in 
Deutschland  «die  freien  Wissenschaften»  erlernt  hatte. 

Wie  dem  auch  sei,  die  Auditorien  blieben  immer  noch  so 
leer,  dass  die  Vorlesungen  dem  Publicum  zugänglich  gemacht 
wurden.  In  den  Zeitungen  erschien  am  8.  und  12.  März  1727  eine 
Publication,  «dass  die  Professoren  Btilffinger  und  Duvernoy  öffent- 
liche Collegia  der  Physik  und  Anatomie  lesen  würden».  Die  Experi- 
mente, welche  diese  Vorlesungen  begleiteten  und  für  welche  In- 
strumente aus  dem  Auslande  verschrieben  worden  waren,  lockten 
einige  Wochen  hindurch  ein  ziemlich  zahlreiches  Publicum  an, 
bald  aber  standen  die  Auditorien  wieder  leer.  Da  es  vollständig 
an  vorbereitenden  Schulen  mangelte,  fehlte  es  natürlich  auch  an 
Besuchern  der  Universität,  wohin  mitunter  Jünglinge  abcommandirt 
wurden,  um  Wissenschaften  zu  erlernen,  welche  daselbst  gar  nicht 
zum  Vortrage  kamen.  So  sandte  z.  B.  das  Kriegscollegium  einen 
Zuhörer,  welcher  die  «Fortification»  studiren  sollte,  und  wurde  der- 
selbe dem  Architekten  zugewiesen,  vermuthlich  weil  dieser  am 
akademischen  Gymnasium  als  Lehrer  der  Mathematik  fungirte. 

So  war  denn,  nach  Müllers  Zeugnis,  im  Jahre  1731  wiederum 
kein  einziger  Student  an  der  Universität  zu  finden  ;  aber  wahr- 
scheinlich war  sie  schon  viel  früher  ohne  Studenten,  denn  nach 
dem  Jahre  1726,  als  die  aus  Deutschland  importirten  Studenten 
verschiedene  Bestimmungen  erhalten,  kommt  in  den  akademischen? 
Protokollen  keine  Erwähnung  der  Studenten  vor.  Im  September 
1731  sah  sich  der  Senat  zu  der  Anfrage  veranlasst,  «wie  viel 
Studenten  eigentlich  nöthig  wären,  damit  die  Professoren  Collegia 
lesen  könnten»?  Die  Antwort  lautete:  75;  doch  war  es  ver- 
muthlich nicht  möglich,  mehr  als  12  Zuhörer  ausfindig  zu  machen, 
welche  der  Senat  im  December  1732  aus  der  schon  erwähnten 
slavisch-lateinischen  Akademie  schickte,  damit  sie  eine  wissenschaft- 
liche Vorbereitung  zu  einer  Expedition  nach  Kamtschatka  erhielten ; 
unter  ihnen  befand  sich  der  späterhin  bekannt  gewordene  Heisende 
und  Akademiker  Krascheninnikow.  Im  Jahre  1736  gesellten  sich 
noch  zehn  junge  Leute  hinzu,  die  aus  der  geistlichen  Akademie 
von  Saikonospask  kamen,  zwei  unter  ihnen  wurden  ins  Ausland 
geschickt :  Lomonossow  und  Winogradow. 


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Die  erste  Universität  in  Russlaud. 


S5 


Endlich  trat  der  Zeitpunkt  ein,  dass  einige  Schüler  des  Gym- 
nasiums so  weit  vorbereitet  waren,  um  die  Universität  beziehen  zu 
könneu.  Es  erschien  daher  ein  Befehl  über  die  Wiederaufnahme 
der  Vorlesungen,  und  im  Jahre  1742  konnten  12  Studenten  nam- 
haft gemacht  weiden.  Aber  die  Professoren  schienen  wenig  geneigt 
ihre  Verpflichtungen  zu  erfüllen  ;  so  ergiebt  sich  aus  dem  Rapport 
der  Studenten  Protassow  und  Kotelnikow  vom  October  1744,  dass 
Professor  Weitbrecht  sich  geweigert  habe,  ihnen  Vorlesungen  über 
die  Anatomie  zu  halten,  unter  dem  Vorwande,  er  sei  contractlicü 
nicht  für  diese  Wissenschaft  engagirt.  Auf  diese  Weise  gab  es 
eigentlich  weder  Professoren,  noch  Studenten  an  der  akademischen 
Universität,  welche  auf  dem  unvorbereiteten  Petersburger  Boden 
durchaus  nicht  Wurzeln  fassen  konnte.  Die  Staatsweisheit  des 
18.  Jahrhunderts  wusste  sich  auch  in  diesem  Falle  nicht  anders 
zu  helfen  als  durch  neue  Erlasse  und  Verfügungen.  So  erschieu 
denn  1747  das  neue  akademische  Reglement,  nach  welchem  die 
Akademiker  in  zwei  Kategorien  zerfielen,  in  solche,  welche  Colle- 
gia  lesen  mussten,  und  andere,  welche  davon  befreit  waren.  Um 
dem  bestandigen  Mangel  an  Zuhörern  abzuhelfen  —  hiess  es  im 
37.  Artikel  dieses  Statuts  —  sollen  aus  den  russischen  Schulen 
dreissig  fähige  Jünglinge  mit  genügenden  lateinischen  Kenntnissen 
erwählt  werden,  welche  von  der  Akademie  Gage  und  Wohnung  zu 
erhalten  haben.  Ferner  wird  das  Gymnasium  wiederhergestellt, 
fähige  Schüler  desselben  können  zu  Studenten  avanciren,  die  un- 
fähigen aber  in  die  Kunstakademie  treten.  Damit  die  Professoren 
nie  wieder  ohne  Beschäftigung  blieben,  sollten  die  Zöglinge  des 
Cadettencorps  ihre  Vorlesungen  besuchen  <&c.  Endlich  ist  noch  zu 
«rwähuen,  dass  durch  dieses  Reglement  allen  Ständen  (ausser  deu 
Kopfsteuerpflichtigen)  der  Eintritt  in  die  Universität  gestattet  wurde 
uud  einige  Vorrechte  denjenigen  Personen  in  Aussicht  gestellt 
wareu,  die  den  «vollen  Cursus  der  Wissenschaften  beendigten». 

Wenn  alle  diese  Massregeln  beweisen,  dass  es  der  damaligen 
Staatsregierung  ernstlich  darum  zu  thun  war,  diese  höhere  Lehr- 
anstalt auf  eine  solide  Basis  zu  stellen  uud  ihr  zu  gedeihlicher 
Fortentwickelung  zu  verhelfen,  so  zeigen  andererseits  die  weiteren 
Geschicke  derselben,  wie  wenig  die  russische  Gesellschaft  jener 
Zeit  dazu  geneigt  war,  ihrerseits  diese  wohlgemeinten  Intentionen 
zu  unterstützen.  Die  Professoren  Fischer  und  Braun  wurden  nebst 
dem  Adjuncten  Teplow  in  das  geistliche  Seminar  des  heil.  Alexander 
Newski,  der  Professor  Tretjakowski  in  die  slavisch  -  lateinische 


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• 

8»i  Die  erste  Universität  in  Russland. 


Akademie  zu  Moskau  und  in  das  geistliche  Seminar  zu  Nowgorod 
abdelegirt,  um  aus  allen  diesen  Anstalten  sich  Studenten  auszu- 
wählen. Aber  sie  fanden  bei  der  Geistlichkeit  nur  wenig  Entgegen- 
kommen und  mussten  zufrieden  sein,  wenn  statt  der  reglements- 
mässigen  Zahl  von  30  Zuhörern  nur  24  für  die  Universität  ge- 
wonnen wurden.  Ausserdem  fand  noch  der  später  als  Dichter  be- 
kannt gewordene  Iwan  Barkow  Aufnahme,  empfohlen  von  Lomo- 
nossow :  «wegen  seines  scharfen  Verstandes  und  seiner  tüchtigen 
Kenntnis  der  lateinischen  Sprache». 

Rector  der  Universität  war  der  Historiograph  Müller  bis  1750, 
Inspector  der  Akademiker  Fischer  geworden.  Aber  der  Beginn 
der  Vorlesungen  verzögerte  sich  von  neuem,  «theils  wegen  der 
schwierigen  Passage  über  den  Fluss  (die  Newa),  theils  wegen  Nicht- 
erscheinens der  übrigen  Studenten  aus  dem  Newski-Seminar>.  Im 
Mai  wurde  dem  Professor  Tretjakowski  befohlen,  seine  Vorlesungen 
«über  den  Styl  und  die  Reinheit  der  lateinischen  Sprächet  zu  be- 
ginnen, ebenso  Crusius,  die  klassischen  Autoren  erläuternd,  über 
Literaturgeschichte  zu  lesen.  Aber  die  Collegia  des  ersteren  hörten 
bald  wieder  auf,  um  den  Studirenden  «mehr  Zeit  für  Erlernung  der 
neuen  Sprachen  zu  lassen»,  Crusius  aber  wurde  verabschiedet  «wegen 
äusserst  schlechter,  die  Akademie  schädigender  Handlungen». 

Im  Jahre  1750  erschien  endlich  die  neue,  von  Müller  ver- 
fasste  provisorische  Instruction  oder  «Grundregel  der  Universität», 
welche  nur  Disciplinar Vorschriften  für  Professoren  und  Studenten 
enthielt.  So  bezog  sich  z.  B.  §  25  auf  die  ersteren  und  wurde  den 
«faulen»  Professoren,  welche  ohne  «triftigen  Grund»  keine  Vor- 
lesungen abhielten,  ein  Gagenabzug  in  Aussicht  gestellt,  im  Be- 
trage der  Summe,  welche  ihnen  täglich  ihr  Gehalt  eiutrug.  Charak- 
teristisch sind  auch  die  Vergehen,  für  welche  den  Studenten  Strafe 
angedroht  wird  ;  so  heisst  es  im  §  l  :  Ueber  Ungehorsam  oder  Mis- 
aehtung  gegen  das  Obercommando  der  Akademie  (den  Präsidenten) 
sei  sofort  an  die  Kanzlei  zu  berichten,  die  Schuldigen  aber  wären  bis 
zur  Entscheidung  der  Wache  zu  übergeben.  Für  Ungehorsam  gegen 
den  Rector  —  zwei  Wochen  Carcer,  gegen  den  Adj  mieten  oder  die 
Professoren  —  eine  Woche  und  gegen  die  Lehrer  drei  Tage  Carcer  &c. 
Studenten,  welche  sich  betrunken  oder  die  Nacht  nicht  im  Convict 
zugebracht  hatten,  bedrohte  dieses  Reglement  gleichfalls  mit  Carcer- 
strafe  von  einer  Woche,  für  den  Nichtbesuch  einer  Vorlesung  oder 
«Faulheit  beim  Auslernen  der  aufgegebenen  Lectionen»  drohte  dem 
Schuldigen  die  Strafe,  einen  «grauen  Kaftan»  anlegen  zu  müssen. 


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Die  erste  Universität  in  Russland. 


87 


Ebenso  war  das  Trinken  geistiger  Geträuke.  Zank  und  Prügelei, 
jede  Art  von  Lärm,  Kartenspiele  und  das  Rauchen  bei  Strafe  ver- 
boten. Ganz  besonders  durften  aber  fremde  Mannspersonen  —  ge- 
schweige denn  Weiber  —  über  Nacht  im  Convict  bleiben  ;  würden 
aber  dergleichen  Besucher  entdeckt,  so  sollten  sie  von  Soldaten  ab- 
geführt und  der  Kanzlei,  wie  bei  allen  anderen  groben  Vergehen, 
darüber  berichtet  werden. 

Als  Belohnung  für  «fleissiges  Lernen  und  gutes  Betragen > 
erhielten  einzelne  Studenten  vom  damaligen  Präsidenten  der  Aka- 
demie, dem  Grafen  Rasumowski,  das  Recht,  Degen  zu  tragen. 

So  sonderbar  und  streng  nach  modernen  Anschauungen  auch 
die  Strafen  jener  Zeit  erscheinen  mögen,  so  sehr  entsprachen  sie 
der  niedrigen  Stufe,  welche  die  jungen  Leute  erreicht  hatten,  die 
ohne  Vorbereitung  und  gegen  ihren  eigenen  Willen  zu  Studenten 
gestempelt  wurden.  So  citirt  Hr.  Borosdin  den  Bericht  eines 
älteren  Studenten  an  den  Rector,  in  welchem  derselbe  behauptet, 
seine  Zeit  ohne  jeden  Nutzen  zu  verlieren,  da  er  < keine  natürliche 
Verstandesschärfe  für  die  Wissenschaften  besässe  und  genau  wisse, 
dass  er  der  Akademie  niemals  von  Nutzen  in  den  Wissenschaften 
sein  könne,  obgleich  er  zehn  Jahre  als  Student  verlebt >.  —  Im  ge- 
meinsamen Wohnhause  der  Studenten  ging  es  dabei  so  geräuschvoll 
und  liederlich  her,  dass  sich  der  Inspector  Fischer  sechs  bis  acht 
Mann  Soldaten  ausbitten  musste,  «weil  es  unmöglich  ist,  die  jungen 
Leute  ohne  starke  Nöthigung  zu  beruhigen  >.  Besonders  verbreitet  war 
hierselbst  die  Trunksucht,  und  kam  es  vor,  dass  selbst  ein  Adjunct 
wegen  « masslosen  Saufens»  ausgeschlossen  werden  musste  und  die 
Obrigkeit  der  Universität  zu  ausserordentlichen  Ruthenstrafen  griff, 
da  der  graue  Kaftan  und  das  Carcer  nicht  genügten,  um  die  Trunk- 
sucht und  die  beständigen  Raufereien  auszurotten.  Doch  finden 
sich  unter  den  Erlassen  des  Grafen  Rasumowski  auch  solche, 
welche  eine  humanere  Anschauung  durchschimmern  lassen,  wo  die 
Studenten  die  «beste  Frucht  der  akademischen  Arbeit»  genannt 
und  verschiedene  Mittel  versucht  wurden,  den  Jünglingen  eine 
auszeichnende  Stellung  in  der  Gesellschaft  zu  geben.  So  erhielten 
sie  Uniform  nebst  Degen  und  «hamburger>  Hüten,  Puderbeutel 
und  ähnliche  Toilettengegenstände  der  damaligen  Mode.  Ebenso 
trat  der  neue  Rector  Krascheniunikow  für  seine  Studenten  ein, 
wenn  sie  von  anderen  Personen  geschimpft  und  geohrfeigt  wurden, 
während  er  andererseits  streng  darauf  hielt,  dass  die  Professoren 
auch  wirklich  zu  den  Vorlesungen  erschienen  und  andere  wissen- 


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Die  erste  Univei-sität  in  Russland. 


schaftliche  Arbeiten,  zu  denen  sie  eontractlich  verpflichtet  waren, 
zur  Ausführung  brachten,  wobei  er  besonders  mit  seinem  Vorgänger 
Müller,  unter  dessen  «Fuchtel  er  noch  selbst  gestanden  hattet, 
in  arge  Streitigkeiten  gerieth. 

Im  Buche  des  Grafen  Tolstoi,  wie  der  weiteren  Ausführung 
des  Akademikers  ßorosdin  fehlt  es  auch  nicht  an  Hiu weisen,  dass 
der  Rector  Krascheninnikow  auf  die  geistige  Entwicklung  und 
Ausbildung  der  Studenten  bedacht  war ;  sie  durften  z.  B.  in  der 
Professoren  Versammlung  «hinter  den  Stühlen»  sitzen  und  zuhören, 
erhielten  nach  gut  bestandenem  Examen  Prämien  in  Gestalt  vou 
Büchern  mit  «moralischen  Inschriften»,  in  welchen  der  Präsident 
«hofft,  wünscht  und  befiehlt»,  dass  sie  fortfahren  mögen  fleissig 
zu  lernen.  Dabei  war  es  üblich,  für  solche  Prämien  schriftlich, 
wo  möglich  in  Versen  zu  danken,  die  nach  der  Sitte  jener  Zeit  von 
überschwänglichen  Schmeicheleien  und  klassisch  •  mythologischen 
Vergleichen  überflössen. 

Auch  für  eine  gewisse  gesellschaftliche  Abschleifuug  der 
Studenten  wurde  Sorge  getragen,  die  Tanzstunden  waren  ebenso 
obligatorisch,  wie  der  Besuch  anderer  Lectionen.  Lomonossow 
hielt  es  für  noth wendig,  einen  seiner  Zuhörer  «unter  anständige 
Leute  zu  bringen,  damit  er  ein  feines  Betragen  erlerne,  da  die 
Studenten  keinen  Anstand  besässen  und  in  ihren  Kreiseu  eine  grobe 
Familiarität  herrsche».  Der  Akademiker  Fischer  bewies  umständ- 
lich, wie  unentbehrlich  es  wäre,  einen  Tanzmeister  zu  engagireu, 
der  seinen  Schülern  lehren  müsse  «Complimente  zu  machen,  munter 
und  ungezwungen  zu  stehen  und  sich  frei  zu  bewegen». 

Ueber  die  Vertheilung  der  Vorträge  in  den  verschiedenen 
Jahren  und  die  Details  des  wissenschaftlichen  Lebens  giebt  das 
Buch  des  Grafen  Tolstoi  noch  mancherlei  interessante  Mittheilun- 
gen, welche  hier  zu  viel  Raum  beanspruchen  würden.  Es  sei  nur 
noch  gestattet,  auf  einige  freundliche  Seiten  der  akademischen  Be- 
ziehungen hinzuweisen,  welche  Hr.  Borosdin  betont.  So  war  z.  B. 
das  Verhältnis  der  Zuhörer  zu  den  Professoren  ein  vertrauens- 
volles, ja  ungenirtes ;  sie  beklagten  sich  offen  über  solche  Mass- 
regeln, die  ihnen  drückend  erschienen  und  wurden  mitunter  um 
ihre  Meinung  gefragt,  wenn  es  galt,  Neuerungen  einzuführen.  Auf 
den  Vorschlag,  die  Studenten  gänzlich  auf  Kosten  der  Kroue  zu 
unterhalten,  antworteten  sie  im  Jahre  1748  mit  voller  Offenherzig- 
keit:  «Die  Errichtung  eines  solchen  studentischen  Speisehauses 
wird  nicht  sowol  der  Akademie  und  uns,  als  dem  Oekonomen  zu 


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Die  erste  UuiversitAt  in  Russland. 


89 


gute  kommen,  nie  würden  wir  das  zu  essen  bekommen,  was  in  den 
Rechnungen  uud  Ausgaben  eingetragen  wäre,  es  würde  nicht  ohne 
Störungen  unserer  Studien  ablaufen  &c.  Wir  versprechen  jedoch 
auch  fernerhin  nicht  selbst  auf  den  Markt  zu  gehen,  um  Einkäufe 
zu  machen  und  dabei  um  herzustreifen,  wie  solches  unserem  Stande 
übel  geziemeu  und  unsere  Fortschritte  wenig  befördern  würde.» 

Wie  schwach  übrigens  die  Frequenz  der  Zuhörer  dieser  Uni- 
versität war,  bestätigen  folgende  Zahlen  :  1751  —  18  Studenten, 
1752  —  20,  1753  —  8,  1758  —  1(3;  erinnern  wir  uns  dabei  des 
beständigen  Ausbleibens  der  Vorlesungen,  die  immer  wieder  ganze 
Jahre  hindurch  ausfielen,  so  ist  der  vom  Grafen  Tolstoi  augeführte 
Ausspruch  Lomonossows  gewiss  berechtigt,  dass  «bei  der  Akademie 
der  Wissenschaften  nicht  nur  keine  eigentliche  Universität  existirte, 
sondern  nicht  einmal  das  Bild  oder  Gleichnis  einer  Universität  zu 
sehen  war». 

Nach  Krascheninnikows  Tode  1755  hatte  der  Adjunct  Mode- 
rach die  Universität  verwaltet  und  im  Jahre  1758  wurde  Lomo- 
nossow zum  Rector  ernannt.  Dieser  erhielt  wiederum  den  Auf- 
trag, ein  neues  Universitätsstatut  zu  entwerfen,  welches  den  Pro- 
fessoren Müller,  Fischer,  Braun  und  Moderach  zur  Begutachtung 
übergeben,  jedoch  vorläufig  eingeführt  wurde.  Dieses  Reglement 
ist  uns  leider  nicht  erhalten  worden,  aus  einigen  demselben  wider- 
sprechenden Anmerkungen  Fischers  lässt  sich  aber  erkennen,  dass 
Lomonossow  die  Zahl  der  Studenten  vergrössern  und  auch  aus 
den  steuerpflichtigen  Ständen  ergänzen  wollte.  Wie  begründet 
diese  Absicht  war,  beweist  am  besten  das  Beispiel  Lomonossows 
selbst,  der,  als  Sohn  eines  Fischerbauern  bei  Archangelsk  geboren, 
lür  den  bedeutendsten  Gelehrten  russischer  Nationalität  galt.  In 
seiner  vom  Grafen  Tolstoi  mitgetheilten  Erwiderung  auf  Fischers 
Angriffe  sprach  er  freilich  nicht  direct  von  sich,  sondern  wies  au 
Beispielen  aus  der  Geschichte  des  Alterthums  nach,  «wie  Horaz 
und  andere  Freigelassene  gelehrte  und  angesehene  Männer  geworden 
seien»  und  deutete  nur  am  Schlüsse  darauf  hin,  dass  sein  Gegner 
«diese  und  heutige  Beispiele»  offenbar  nicht  sehen  wolle. 

Nach  der  Vollendung  des  neuen  Reglements  war  Lomonossow 
bestrebt,  verschiedene  Privilegien  für  Professoren  und  Studenten 
auszuwirken,  auch  sollte  die  Universität  gleichsam  von  neuem  er- 
öffnet werden  durch  die  sogenannte  Inauguration.  Hierbei  wurde 
folgende  Reihenfolge  beabsichtigt :  Vorbereitung:  1)  öffent- 
liches Examen  der  Gymnasiasten  der  oberen  Klassen  behufs  Er- 


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90 


Die  erste  Universität  in  Russlaud. 


langung  des  Zeugnisses  der  Reite,  2)  Gradualexainina,  3)  Wahl 
des  Prorectors  mit  den  dazu  gehörenden  Reden  und  Disputationen, 
4)  und  ö)  das  Programm  und  die  Bestimmung  der  Plätze.  Die 
eigentliche  Feierlichkeit  bestand  1)  aus  der  Liturgie  mit  einem 
Concert  und  Predigt,  2)  Verlesung  der  Privilegien,  S)  Dankgebet 
und  Salutschüsse  mit  Musik,  4)  Dankesrede,  gerichtet  an  Ihre 
Kaiserliche  Majestät,  5)  Ernennung  des  Prorectors  und  der  Decane, 
G)  Promotion  zu  gelehrten  Graden,  7)  ein  Mittagsmahl,  wiederum 
mit  Kanonade  uud  Musik. 

Doch  waren  alle  diese  schönen  Vorbereitungen,  wie  das  von 
Lomonossow  verfasste  Project  einer  Lobrede  auf  die  Kaiserin  Eli- 
sabeth und  endlich  sein  Jubel  über  die  beabsichtigte  «Veredelung 
der  Niedriggeborenen >  (Zulassung  der  Kinder  steuerpflichtigen  und 
leibeigenen  Standes  zu  der  Universität)  —  verfrüht ;  die  Kaiserin 
und  Lomonossow  selbst  starben  bald  hinter  einander,  die  Ideen 
seiner  (Gegner  triumphirten  und  statt  des  von  ihm  verfassten  kam 
das  Reglement  seines  Feindes  Taubert  zur  Ausführung.  Es  ist 
daher  erklärlich,  wenn  Graf  Tolstoi  in  seiner  Monographie  in 
ironisirender  Weise  die  Reformgedanken  und  die  triumphirenden 
Reden  Lomonossows  bespricht,  wenn  auch  andererseits  Hr.  Borosdin 
mit  eben  so  verständlichem  Bedauern  davon  redet,  dass  Lomonossow 
nach  Eröffnung  der  Universität  Moskau  sich  nicht  wenig  dafür  be- 
geistert fühlen  musste,  eine  neue  höhere  Bildungsanstalt  in  Peters- 
burg zu  <inauguriren>.  Für  das  c tiefpatriotische  Herzt  Lomonossows 
wäre  ein  solcher,  zweiter  Triumph  der  damals  eben  erst  entstande- 
nen russischen  Wissenschaft  gewiss  hocherfreulich  gewesen ;  der 
kritische  Blick  des  Grafen  Tolstoi  findet  aber  wol  nicht  mit  Un- 
recht, dass  Reglements.  Privilegien,  Reden,  Kanonaden  und  Musik 
allein  nicht  genügten,  um  das  immer  wieder  ersterbende  Flämm- 
chen  wissenschaftlicher  Leistungsfähigkeit  in  der  dahinsiechenden 
akademischen  Universität  zu  neuem  Leben  zu  entfachen.  —  Von 
1765  bis  zum  Ende  des  Jahrhunderts  finden  sich  in  den  Proto- 
kollen der  Akademie  keinerlei  Mittheilungen  über  die  Universität, 
in  welcher  die  Fürstin  Daschkow  bei  ihrem  Amtsantritt  als  Director 
der  Akademie  (1783)  nur  zwei  Studenten  antraf,  «welche  nicht 
einmal  aus  dem  Deutschen  oder  einer  anderen  fremden  Sprache 
etwas  zu  übersetzen  vermochten >.  Die  Fürstin  erliess  nur  eine 
Verordnung,  dass  wöchentlich  einer  von  den  beiden  Studenten  bei 
ihr  dejourire,  damit  sie  dadurch  die  Fähigkeiten  und  Aufführung 
jedes  erkennen  könne ;  sie  hätten  von  acht  Uhr  morgens  bis  zwei 


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Die  eiste  Universität  in  Russland. 


91 


Uhr  nachmittags  bei  ihr  sich  mit  Schreiben  oder  Uebersetzen  zu 
beschäftigen,  wie  sie  es  befehlen  werde ;  von  vier  bis  sieben  Uhr 
aber  die  von  ihr  ertheilten  Ordres  zu  versenden  und  Copien  von 
ihnen  zu  nehmen.  Darauf  beschränkten  sich  die  Massregeln  der 
Fürstin  betrefis  der  Universität  und  der  Studenten.  Als  sie  171)6 
ihr  Amt  niederlegte,  gab  es  drei  Studenten.  Die  akademische  Uni- 
versität erlosch  ;  denn  t  man  hatte  das  Gebäude  unseres  Unterrichts 
auf  Sand  gebaut,  ohne  vorher  ein  Fundament  gelegt  zu  haben». 

Mit  diesem  Wort  Boitins  schliesst  Graf  Tolstoi  sein  Buch. 
Hr.  Borosdin  jedoch  meint;  <Wie  unzulänglich  auch  diese  Univer- 
sität gewesen,  kann  man  doch  nicht  ihrer  ohne  ein  Lobeswort  ge- 
denken. Ihr  Verdienst  um  die  russische  Wissenschaft  ist  unbe- 
streitbar: aus  ihr  ging  eine  nicht  kleine  Zahl  sehr  bemerkens- 
werther  russischer  Gelehrter  hervor,  unter  den  Gliedern  der  russi- 
schen Akademie  hatte  sie  viele  Zöglinge ;  sie  gab  die  ersten  und 
sehr  guten  Professoren  der  moskauer  Universität,  welche  war 
und  noch  jetzt  bleibt  eine  der  ersten  Erhalterinnen  und  Bewege- 
rinnen  der  russischen  Bildung.» 


—  -  *'  ~ 


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Notizen. 


«Sammlung  statistischer  Nachrichten  über   Livland,  herausgegeben  vom  Livl. 

Statist,  (ioiiv.  Comitc  unter  «1er  Redactiou  de»  Sccretnrs  N.  Carl- 
berg.   Riga  1H86.    S.  90.  4.) 

CöOpilMIfVb  CTaTHCTHICCKHXl  CB1.At.llin  HO  Jllli|MflllI,CKOft  ry 6C|1U I HT  HUJiatl  Hilft  -1  tuf»- 
JHOACKHU1»  ryöCplICKlim  CTaTltCTMieciCHMl  Komi  r «'tum  i.  nojri  pcjiax 
nie»  CcKpeTap»  Ii.  Kapiöepra.    Pira  138Ü. 

ntsprecheud  der  neuen  Bestimmung,  dass  die  Geschäftssprache 
j  der  baltischen  statistischen  Gouvernementscomites  die  russi- 
sche sein  soll,  ist  auch  das  obige  Werk  in  russischer  Sprache  ver- 
öffentlicht worden.  Wol  ist  es  schon  früher  vorgekommen,  dass  eine 
Zusammenstellung  des  livländischen  statistischen  Gouv.-Comites,  wir 
meinen  <Die  Resultate  der  im  Jahre  18*37  in  den  Städten  Livlands 
ausgeführten  Volkszählung»,  mit  beigefügter  russischer  Uebersetzung 
erschien,  im  übrigen  aber  waren  die  auf  livländiseh-deutscher  Er- 
hebung und  Forschung  beruhenden  Arbeiten  des  Comites  vorzugs- 
weise für  baltisch-deutsche  Leser  bestimmt.  Das  ist  jetzt  anders 
geworden.  —  Welche  Folgen  wird  dies  für  die  Ent Wickelung  der 
Statistik  in  Livland  haben  ?  Wie  wol  kaum  eine  andere  Wissen- 
schaft, wegen  ihrer  fast  jedermann  belästigenden  Anforderungen, 
in  Livland  nicht  weniger  als  überall  sonst,  anfangs  mit  wenig 
Sympathie,  hin  und  wieder  auch  mit  Mistrauen  aufgenommen,  war 
es  ihr  durch  das  Bestreben,  den  provinziellen  Bedürfnissen  möglichst 
entgegen  zu  kommen,  dort  allmählich  gelungen,  sich  Vertrauen  und 
Interesse  zu  erringen  uud  bei  der  ßeurtheilung  der  bestehenden 
Verhältnisse  von  verschiedenen  Parteien  als  ein  wesentlicher  Factor 
gezählt  zu  werden.  Die  Statistik  kann  bei  ihren  Ermittelungen 
des  Zwauges  nicht  ganz  entbehren,  aber  wenn  irgendwo,  so  heisst 


Notizen. 


03 


es  bei  ihr  besonders  :  fortiter  in  re,  suaviter  in  mndo.  Es  wäre 
für  sie  nicht  blos  in  rein  wissenschaftlicher  Hinsicht,  sondern  ganz 
besonders  in  ihren  nahen  Beziehungen  zur  Förderung  des  prakti- 
schen Lebens  sehr  zu  bedauern,  wenn  sie  auf  manchen  Gebieten 
jetzt  bei  uns  einen  Rückgang  erfahren  sollte. 

Sehen  wir  von  der  uns  ungewohnten  Form  ab,  in  welcher 
die  obige  Publication  uns  begegnet,  so  könnten  wir  das  Werk  als 
erstes,  die  verschiedensten  Fragen  der  Administration  und  des 
gesellschaftlichen  uud  ökonomischen  Lebens  der  Provinz  umfassen- 
des statistisches  Jahrbuch  von  Livland  mit  Freuden  begrüssen,  um 
so  mehr,  als  es  uns  von  der  bewährten  Hand  eines  Gelehrten  ge- 
boten wird,  der  den  Lesern  dieser  Zeitschrift  durch  mehrere  Arbeiten 
auf  statistischem  Gebiete  schon  rühmlichst  bekannt  ist.  Statistische 
Almanache  oder,  wie  sie  gewöhnlich  genannt  werden,  Statistische 
Jahrbücher  der  Art,  Sammlungen  von  statistischen  Tabellen,  neben 
denen  ein  erläuternder  Text  wenig  oder  gar  nicht  zur  Geltung 
kommt,  sind  nicht  blos  im  Auslande,  sondern  auch  in  den  inneren 
Gouvernements  Russlands  schon  lange  üblich.  Sie  erhalten  ihren 
Werth,  abgesehen  natürlich  vor  allem  von  dem  Grade  der  Zuver- 
lässigkeit, den  man  ihnen  resp.  beimisst,  durch  den  Umstand,  dass 
sie  als  jährlich  oder  wenigstens  nach  nicht  sehr  fernen  Intervallen 
wiederkehrende  Nachschlagebücher  für  administrative  und  ökono- 
mische Zwecke  oder  als  Material  für  eingehendere  statistische 
Arbeiten  dienen.  Da  ein  Hauptvorzug  dieser  sogenannten  Jahr- 
bücher darin  besteht,  dass  sie  sich  auf  einen  nahen  Zeitpunkt,  wo 
möglich  auf  das  vorhergehende  Jahr  beziehen,  so  können  sie  nicht 
leicht  Erläuterungen  bieten,  welche  für  die  Bearbeitung  mehr  Zeit 
beanspruchen.  Wenn  es  bei  solchen  Jahrbüchern  im  allgemeinen 
deshalb  mehr  auf  das  multa,  als  auf  das  multum  ankommt,  so  wäre 
für  das  Erscheinen  eines  Jahrbuches  in  Livland  schwerlich  früher 
die  rechte  Zeit  gewesen.  Vorher  musste  durch  die  Feststellung 
der  wesentlichsten  Fragen,  wie  sie  erst  durch  eine  umfassende 
Volkszählung  und  durch  gründliche  Agrarenqueten  ermittelt  werden, 
durch  Arbeiten,  wie  sie  Livland  in  so  hohem  Grade  vorzugsweise 
der  schöpferischen  und  unermüdlichen  Thätigkeit  Fr.  von  Jung- 
Stillings  zu  verdanken  hat,  die  wahre  Basis  gelegt  werden.  Carl- 
berg hat  nun  diesen  Zeitpunkt  richtig  benutzt  und  sich  bemüht, 
in  dem  Jahrbuche  so  mannigfache  Interessen  zu  berühren,  dass  die 
Daten  in  den  gebotenen  fast  80  Tabellen  etwa  50  verschiedene 
Fragen  betreffen. 


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94  Notizen. 

Wir  hätten  nur  gewünscht,  dass  die  Art  der  Ermittelung 
dieser  Daten  mitunter  genauer  bezeichnet  worden  wäre,  so  z.  B. 
bei  denen  des  Viehstandes  im  Jahre  1883,  der  absoluten  Menge 
der  Aussaat  und  Ernte  des  Korns  für  die  Jahre  1880—1884,  der 
relativen  Höhe  der  Ernte  der  einzelnen  Getreidearten  durch  Angabe 
des  wie  vielten  geernteten  Korns  (1881  —  1884)  und  der  Ernte  des 
Flachses  pro  Dessätine  (1880—1884),  des  mittleren  Quantums  des 
gewonnenen  Heus  in  Pud  (1881—1885)  und  der  Anzahl  der  am 
Strande  des  Rigaschen  Meerbusens  im  Jahre  1885  sich  badenden 
Personen.  Auch  müssen  wir  gestehen,  dass  wir  zur  Bestimmung 
der  jährlichen  Einwohnerzahl  auf  dem  flachen  Lande  für  die  Zeit 
von  1870  bis  zum  Volkszählungsjahr  1881  mit  Zugrundelegung 
dieses  letzten  Jahres  uns  auf  die  einfache  Berechnung  des  in  Abzug 
gebrachten  jährlichen  natürlichen  Zuwachses  beschränkt  hätten,  statt 
die  total  unsicheren  Polizeiangaben  des  Jahres  1870  irgend  wie  in 
Betracht  zu  ziehen. 

Indem  wir  dem  Inhalte  des  neu  erschienenen  Werkes  von 
N.  Carlberg  als  dem  eines  praktischen  und  nützlichen  Handbuches 
zur  Kenntnisnahme  der  bestehenden  Verhältnisse  Livlands  im  all- 
gemeinen volle  Anerkennung  zollen,  wünschen  wir,  dass  dieser  In- 
halt, wie  es  für  ein  richtiges  Jahrbuch  geziemt,  bei  ähnlicher  Zu- 
sammenstellung in  regelmässiger  Folge  wiederkehren,  zugleich  aber 
auch  in  irgend  welcher  Weise  den  Gebildeten  unserer  Provinzen 
gemeinverständlich  gemacht  werden  möge. 

.     P.  J. 


AoaBOieuo  neii3ypo».  —  Peucib,  17-ro  flimapa  I8S7  r. 

»lodruc.kt  l«i  I.JnJfors'  F.rb<»n  in  Koval. 


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Berichtigungen  zu  Band  XXXIII,  Heft  8  u.  9. 


Zu  nuseren  Schlussworten  über  das  Ueneralnivellement  von  Oesel  und 
Moon  wird  uns  von  wissenschaftlich  massgebender  Seite  mitgetheilt,  dass  für 
Kurlaud  niclit  mehr  zu  Borgen  wäre.  Seit  einigen  Jahren  habe  der  Geueralstab 
dort  ein  detaillirtes  Nivellement  nach  deutschem  Muster  begonnen  und  schon 
mehrere  sehr  schon  ausgeführte  Kartenblätter  geliefert,  die  wirklich  ein  genaues 
Bild  der  Oberfläche  gäben.  Es  »ei  eben  da»  ganze  Land  in  Hohenschichten  von 
20— 30  Fuss  durchnivellirt,  und  nicht  blos  die  Strassen,  wie  bei  der  provinziellen 
Arbeit, 

S.  6H5  Z.  9  v.  o.  1.  Hillebrand  statt  Hildebrand. 
S.  730  Note  1  1.  Quast  statt  Quest. 
S.  731  Z.  9  u.  13  v.  0.  1.  Vincke  statt  Kücke. 
S.  731  Z.  1  v.  u.  1.  Buch  statt  Auch. 


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Die  Eigenthumsfrage  der  Neuzeit. 

Vom  sociologischen  Gesichtspunkte. 


II. 

Unsere  so  ciologische  Stellungnahme  zur 

Bigenthum8frage. 

A 

ir  stimmen  vollständig  mit  Fouillee  darin  überein,  dass 
auf  Principien  zurückzugehen  eine  unerlässliche  Forde- 
rung der  Zeit  ist.  Hat  doch,  nach  Zeller,  sogar  ein  so  hervor- 
ragender Repräsentant  praktischer  Thatkraft,  wie  Friedrich  der 
Grosse,  in  Bayle  den  Lehrer  verehrt,  der  ihm  gezeigt,  wie  ein 
cvernttnftiges  Denken  ohne  zureichenden  Grund 
unmöglich»  sei.  Hat  doch  dieser  Denker,  der  in  einer  Hand 
Scepter,  Feldherrnstab  und  die  Feder  des  Schriftstellers  führte, 
schon  seinerzeit  gesagt :  cDie  Wissenschaften  müssen  als  Mittel 
betrachtet  werden,  uns  zur  Erfüllung  unserer  Pflichten  fähiger  zu 
machen.  Wer  sie  pflegt,  handelt  methodischer  und  consequenter. 
Der  philosophische  Geist  stellt  die  Grundsätze 
fest,  aus  denen  das  Urtheil  und  das  vernünftige 
Handeln  hervorgeht.»  Der  philosophische  Geist  urtheilt 
und  handelt  nicht,  bevor  er  die  leitenden  Gesichtspunkte  gefunden 
hat.  Und  diese  Gesichtspunkte  sucht  er  nicht  in  der  kurzsichtigen 
Erfolgspolitik  des  Augenblickes  von  Fall  zu  Fall,  sondern  in  der 
«Fernsicht  des  luteresses»,  wie  es  v.  Jhering1  nennt,  oder  wie  es 

'  «Zweck  im  Recht»  I,  S.  548. 

Baltische  Uon»U«chrift.  Bd.XK<CIV,  lUTt  _».  7 


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96 


Die  Eigenthumsfrage  der  Neuzeit. 


die  Alten  schon  mit  dem  Grundsatze  des  respice  finem  gekenn- 
zeichnet haben.  Dieser  philosophische  Geist  sieht  nicht  in  seinem 
Willen  den  höchsten  Masstab  für  den  Entwurf  seiner  Pläne  und 
für  die  Wahl  seiner  Mittel,  sondern  richtet  seinen  Willen  nach 
der  Zweckdienlichkeit  der  Sache,  welcher  er  unter  allen  Umständen 
dienen  und  nicht,  je  nach  den  Umständen,  auch  Gewalt  anthun 
will.  Ohne  diesen  Geist  ist  ein  politisches  Gewissen1 
undenkbar,  und  ohne  dieses  Gewissen  endet  schliesslich  auch  der 
genialste  Politiker  an  dem  Grössenwahn  politischer  Unfehlbarkeit, 
dem  politischen  Kindisch  werden.  Nur  das  geistig  geschulte  politische 
Gewissen  schafft  dem  Staatspolitiker  den  praktischen  Blick  des 
grossen  Staatsmannes,  welcher  in  c die  Schranken  des  Jahrhunderts) 
gefordert,  nicht  blos  glänzende  Siege  gewinnen,  sondern  den  Feld- 
zug bis  zum  Abschluss  eines  segensreichen  Friedens  bringen  will 
und  bringen  kann. 

Aber  nicht  nur  der  Staatsmann  an  hoher  und  höchster  Stelle 
bedarf  des  Geistes,  welcher  das  politische  Gewissen  schafft,  sondern 
in  gewissem  Sinne  auch  der  Staatsbürger  an  jeder  Stelle  des 
modernen  Staates.  Was  ist  heute  ein  Staatsbürgerthum  ohne  Sinn 
und  Verständuis  für  die  Vereinigung  der  persönlichen  Interessen 
mit  den  Ansprüchen  der  Gesammtheit  und  des  Gemeinwohles :  ein 
Fass  ohne  Boden,  ein  socialer  Sumpf  ohne  Boden  !  Wie  soll  es 
aber  im  heutigen  Chaos  widerstreitender  Bestrebungen  zum  rechten 
Staatsbürgersinn  und  zur  rechten  Findigkeit  seiner  Bewährung 
kommen,  wenn  man,  nach  Goethe,  wol  <die  Theile*  in  der  Hand» 
hat,  aber  wenn  «das  geistige  Band»  fehlt.  Den  Ariadnefaden  aus 
dem  Labyrinthe  des  socialen  Problems  wird  vollends  kein  Politiker 
sich  selbst  für  jeden  Einzelfall  stückweise  zurechtdrehen ;  den 
ganzen  Fadenvorrath  muss  man  fertig  bei  sich  haben,  bevor  man 
sich  ins  Labyrinth  begiebt. 

Mit  einem  Worte :  ohne  principielle  Stellungnahme  zur 
Sache  lässt  sich  für  die  praktische  Behandlung  derselben  kein 
objectiver  Massstab  gewinnen,  und  wo  dieser  fehlt,  führt  der  sub- 
jective  Massstab  zur  Masslosigkeit  des  Experimentirens.  Handelt 
es  sich  vollends  bei  der  Sache,  wie  in  den  Dingen  des  parlamenta- 
rischen Staates,  um  die  Mitwirkung  vieler  Betheiligten,  ja,  einer 
ganzen  Nation,  so  kann  für  die  sogenannte  praktische  oder  real- 
politische Behandlung  das  Auskunftsmittel  des  Experimentirens  nur 


*  Puchta,  «Gesch.  de»  röm.  Hechta».  5.  Aufl.    S.  47. 


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Die  Eigenthumsfrage  der  Neuzeit. 


97 


ein  völlig  verkehrtes  Resultat  ergeben.  Die  Notwendigkeit  der 
Sacherledigung  erhitzt  die  subjectiven  Gesichtspunkte  un^  führt, 
bei  dem  einseitigen  Vorgehen  aller,  nicht  eine  Vereinigung  der 
Interessenten  zu  einem  gemeinnützigen  Erfolge  herbei,  sondern  be- 
wirkt eine  Entzweiung  derselben  zum  Schaden  für  alle.  Jeder 
neue  Versuch  rückt  die  Sache  immer  weiter  in  den  Hintergrund, 
dagegen  den  Gegensatz  der  Parteistandpunkte  immer  massgebender 
in  den  Vordergrund.  Inzwischen  mehrt  sich  die  Summe  der  uner- 
ledigten Sachen,  von  welchen  die  wenigsten  überhaupt  im  uner- 
ledigten Zustande  verharren  können,  ohne  stetig  verwickelter  zu 
werden.  Zu  letzteren  gehört  nun  unstreitig  auch  die  sociale  Sache 
im  allgemeinen  und  die  Eigenthumsfrage  im  besonderen,  welche 
darum  seitens  aller  Parteien  endlich  eine  objective  Behandlung  er- 
fordert.  Hierzu  bedarf  es  eben  einer  principiellen  Stellungnahme, 
nicht  sowol  wegen  der  von  Foaülöe  betonten  sophistischen  Theorien, 
sondern  vornehmlich  wegen  der  Nähe  des  anarchischen  Abgrundes, 
welcher  dem  modernen  Staat  in  Folge  seiner  socialen  Verlotterung 
droht  und  welcher  durch  seinen  infernalen  Pestgeruch  die  Massen 
noch  vor  Eintritt  des  letzten  Deliriums  zur  Besinnung  und  Umkehr 
bringen  muss. 

Nichts  hat  in  Dingen  politischer  Logik  sich  stetig  mehr  als 
unbestreitbare  Erfahrungssache  erhärtet  als  dies,  dass  selbst  die 
untersten  Volksmassen,  abgesehen  von  der  verhältnismässig  geringen 
Zahl  berufsmässiger  Wühler,  immer  noch  aus  Vernunftwesen  be- 
stehen, welche  im  grossen  Ganzen  sich  lieber  belehren  als  bethören 
lassen.  Nur  bei  andauerndem  Ausbleiben  vernünftiger  Belehrung 
gewinnt  unvernünftige  Bethörung  Raum,  welche  schliesslich  zur 
unheilbaren  Verranntheit  ausartet.  Vom  Löwen  heisst  es,  dass  er 
vor  dem  ersten  Genuss  von  Menschenblut  nicht  ungereizt  über 
Menschen  herfällt.  Mindestens  einer  ähnlichen  Respectstellung  er- 
freut sich  auch  die  Vernunft  innerhalb  der  grossen  Masse. 

Anstatt,  wie  bisher  geschehen,  eine  völlig  unfruchtbare  Liebes- 
mühe an  den  oppositionellen  Spitzführern  zu  verschwenden,  wende 
der  Staat  seine  Verständigungsversuche  den  Massen  selbst  zu,  was 
schon  Fichte  in  seinen  «Reden  an  die  deutsche  Nation >  gepredigt 
hat.  Und  die  ganze  Situation  ändert  sich  :  die  Massen  kommen 
zur  Selbstbesinnung  und  weichen  den  Spitzführern  aus  wie  Nüch- 
terne den  Trunkenen.  Die  archimedische  Weisheit,  dass  bei  ent- 
scheidenden Massnahmen  die  Hauptschwierigkeit  nicht  sowol  darin 
liegt,  den  Aufwand  von  Mitteln  zum  Zweck  zu  bestreiten  als  viel- 

7* 


98  Die  Eigenthumsfrage  der  Neuzeit. 

mehr  den  festen  Ansatzpunkt  zu  finden,  welcher  die  Hebel  Wirkung 
der  Mittel  bedingt,  liegt  dem  praktischen  Erfahrungssinne  der 
Massen  durchaus  nicht  fern,  jedenfalls  diesen  im  Lebenskampf  ge- 
schulten Empirikern  sehr  viel  näher  als  den  in  Tinte  und  Phrasen- 
flnss  bravirenden  Schablonenreitern  der  Partei  manegen.  Nur  aus 
dem  praktischen  Berufsleben  bildet  sich  jene  praktische  ßinsicht 
heraus,  dass  es  bei  jeder  Sache  in  erster  Linie  darauf  ankommt, 
von  welchem  Ende  man  sie  angreift,  und  dass  dieses  Ende  nicht 
nach  eigenem  Gutdünken  erfunden,  sondern  nur  nach  der 
Natur  der  Sache  in  ihr  selber  gefunden  werden  muss.  Man 
stelle  der  socialistischen  Fata  Morgana  ein  sociologisches  öos-7tov-OTCü 
als  Grundlage  der  Verständigung  über  die  socialen  Heilmittel  ent- 
gegen, und  es  beginnt  der  Anfang  einer  neuen  politischen  Zeit- 
wende. Ist  der  Druck  allgemeiner  Rathlosigkeit  erst  behoben,  so 
schwindet  die  verzweifelte  Lage,  welche  zu  verzweifelten  Schritten 
treibt. 

Der  Einwand,  dass  die  Massen  der  wissenschaftlichen  Lösung 
der  socialen  Frage  durch  die  Sociologie  nicht  zu  folgen  vermöchten 
und  über  diese  hinweg  nach  wie  zuvor  zu  einer  anarchischen  Tages- 
ordnung überzugehen  strebten,  ist  durchaus  hinfällig.  Der  Staat 
muss  nur  selbst  die  Sache  ganz  verstehen,  die  er  will,  und  nur 
ganz  wollen,  was  er  versteht,  so  werden  die  Massen  stille  halten 
wie  die  unbändigsten  Schulbuben  vor  dem  Lehrer,  der  seine  Sache 
versteht  und  mit  sich  nicht  spassen  lässt.  Zucht  allein  ist  nichts, 
wo  nicht  die  sichere  Ueberlegenheit  sachlichen  Rechthabens  waltet, 
und  für  dieses  Walten  haben  die  Massen,  wie  die  Kinder,  ein  un- 
endlich feines  Sensorium. 

Nur  ein  Punkt  muss  von  Hause  aus  klar  gestellt  werden, 
wenn  der  Staat  will,  dass  sowol  die  Repräsentanten  der  Intelligenz 
als  auch  die  besseren  Iustincte  der  grossen  Masse  sich  vertrauens- 
voll auf  die  Seite  der  staatlichen  Social  reform  stellen.  Dieser 
Punkt  ist  der  vollständige  Bruch  des  Staates  mit 
dem  Socialismus. 

Was  einer  Belehrung  fähig  ist,  muss  erkennen,  dass  nur  im 
unbedingten  Gegensatz  zum  Socialismus  eine  wirkliche  Lösung  der 
socialen  Frage  möglich  ist,  weil  das  Ende  des  socialistischen  Weges 
in  die  sociale  Revolution  mit  nachfolgendem  Anarchismus  ausläuft, 
und  nur  der  sociologische  Weg  zur  socialen  Reform  mit  nach- 
folgendem Volks-  und  Staatswohle  führt.  Was  einer  Belehrung 
fähig  ist,  muss  begreifen  lernen,  dass  Socialismus  und  Sociologie 


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Die  Eigen thumsfrage  der  Neuzeit. 


99 


ebenso  wenig  mit  einander  zu  schaffen  haben,  wie  etwa  Märchen 
mit  Geschichte  oder  Irrthum  mit  Wahrheit,  und  ebenso  weit  aus 
einander  gehen,  wie  etwa  die  ehemalige  Alchyraie  mit  ihrem  ver- 
geblichen Goldmachen  und  die  jetzige  Chemie  mit  ihren  auf  klären- 
den Analysen,  oder  wie  die  ehemalige  Astrologie  mit  ihrem  phan- 
tastischen Horoskopstellen  und  die  gegenwärtige  Astronomie  mit 
ihren  mathematischen  Berechnungen,  oder  die  quacksalbernde  Cur- 
pfuscherei  mit  ihrer  unqualificirbaren  Willkür  und  die  wissen- 
schaftliche Heilkunst  mit  ihrer  rationellen  Diagnose. 

Will  der  Staat  diese  Lage  der  Dinge  nicht  vollständig  klären 
und  den  Schein  eines  Compromissverhältnisses  mit  dem  Socialismus 
nicht  gänzlich  schwinden  machen,  dann  hat  er  das  Spiel  verloren. 
Fehlt,  wie  z.  ß.  in  Deutschland,  ein  entschiedenes  Verhalten  von 
massgebender  Seite  und  herrscht  in  Folge  dessen,  nach  der  öffent- 
lichen Meinung,  kein  principieller  Gegensatz  zwischen  der 
staatlichen  und  demokratischen  Stellungnahme  zum  Socialismus,  so 
werden  die  Massen  selbstverständlich  sich  derjenigen  Vertretung 
des  Socialismus  in  die  Arme  werfen,  die  mehr  verspricht.  Und 
die  radicale  Vertretung,  die  den  Staat  zu  opfern  bereit  ist,  kann 
eben  mehr  versprechen  als  jeder  moderirte  Socialismus,  der  den 
Staat  retten  will.  Wer  den  Socialisten  nicht  mehr  zu  sagen  weiss 
als  Stöcker  den  Juden :  dass  sie  bescheidener  werden  sollen,  ver- 
schwendet unnütz  Zeit  uud  Mühe,  tadelt  nicht  den  Weg,  sondern 
nur  die  Gangart  des  Getadelten  und  lässt  den  Teufel  immerhin 
Teufel  sein,  wenn  er  nur  nicht  den  Pferdefuss  hätte. 

Bekennt  der  Staat  sich  nicht  als  ausgesprocheneu  Gegner  des 
Socialismus,  mit  dem  vollen  Brustton  der  Ueberzeugung  zur  socio- 
logischen  Wahrheit,  dass  das  sociale  Heil  einzig  und 
allein  nur  in  der  solidarisch  verbundenen  Haft 
von  Volkswohl  und  Staatsbestand  liegt,  so  triumphirt 
die  socialistische  Lüge,  dass  das  Volksinteresse  nur  in  dem  Masse 
gewinnen  kann,  als  das  Staatsinteresse  zurücktritt. 

Nur  weil  die  Massen  in  Folge  eigener  Kathlosigkeit  dieser 
Lüge  Glauben  schenken,  wenden  sie  sich,  bei  der  ererbten  Furcht 
vor  Uebervortheilung  durch  den  Staat,  dem  Socialismus  zu,  und 
müssen  um  so  radicalere  Gegner  des  Staates  werden,  je  mehr  sie 
in  der  schwankenden  Stellungnahme  desselben  das  schlechte  Gewissen 
zu  erkennen  vermeinen.  Ergreift  aber  der  Staat  die  Sorge  um 
seinen  Bestand  und  die  Socialreform  für  das  Volkswohl  als  unge- 
teilte Programmaufgabe  eines  solidarischen  Interesses,  wie  es  die 


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100 


Die  Eigenthumsfrage  der  Neuzeit. 


Tendenz  der  Soeiologie  erstrebt,  so  werden  die  Massen  nicht  lange 
schwanken.  Sie  werden  lieber  für  den  Sperling  aus  der  sicheren  Hand 
des  bestehenden  Staatsgebäudes  sich  erklären,  als  für  die  Tauben, 
welche  vom  Dache  des  socialistischen  Luftschlosses  fliegen  sollen. 
Der  Socialismus  wird  selbstverständlich  noch  nicht  aus  der  Welt 
schwinden,  so  lange  es  unverbesserliche  Verranntheit  giebt.  Aber 
er  verliert  seinen  staatsgefährdenden  Charakter  mit  dem  Augen- 
blicke, wo  der  Massenwahn  schwindet,  dass  nur  in  der  principiellen 
Gegnerschaft  zum  bestehenden  Staat  die  einzige  sociale  Rettung  liegt. 

Wenn  der  kurzathmigen  Staatsweisheit  realpolitischer  Schule 
eine  der  wesentlichsten  Voraussetzungen  zu  rationellem  Urtheile 
nicht  gänzlich  abginge,  wenn  sie  nur  eine  Ahnung  von  dem  hätte, 
was  schon  ein  Constantin»  seinerzeit  nicht  übersah,  und  was  wir, 
in  moderner  Sprache,  etwa  Volkspsychologie  nennen  möchten,  so 
würde  über  eine  Hauptsache  in  Dingen  fruchtbar  zu  verwertender 
Volkssympathie  keinerlei  Zweifel  obwalten.  Die  unteren  Volks- 
schichten, in  der  natürlichen  Veranlagung  ihrer  tiberwiegenden 
Majorität,  verlachen  nicht  Principe1,  wie  der  seichte  Kriticismus 
der  sogenannten  gebildeten  Stände  heute  thut,  sondern  suchen  Prin- 
cipe, wie  der  Reisende  in  der  Wüste  nach  Wasser. 

Warum  hat  der  Radicalismus  im  letzten  Grunde  ein  so  leichtes 
Spiel,  dagegen  der  Staat  einen  so  harten  Kampf  mit  den  Massen  ? 
Aus  keinem  anderen  Grunde  als  nur  deshalb,  weil  die  Massen  im 


1  Vgl.  Puchta,  «Gesch.  des  röui.  Rechts».  5.  Aufl.  1.  Thl.  S.  622. 

*  Röder,  *Grnndzüge  der  Rechtsphilosophie».  2.  Anfl.  I.  Abth.  Vorrede  S.  17: 
"Es  mag  sein,  dass  manche,  die  keinen  Massstab  und  keine  Mittel  für  das  kennen, 
was  uns  die  Zukunft  bringen  muss,  als  die  sich  ans  der  Rüstkammer  der  Ver- 
gangenheit ergehen;  es  mag  sein,  dass  sie  uns  aus  ihren  Vordersätzen  die  Noth 
wendigkeit  darthnn,  dass  es  allezeit  eine  ofTene  oder  versteckte  Sclaverei  geben 
müsse,  allezeit  Ueberreiche  und  solche,  die  in  Hunger  und  Kummer  verkommen, 
und  dass  nur  etwa  in  grosseren  Zeitabschnitten  dieses  angeblich  endlosen  Unrechte- 
zustandes zuweilen  einmal  die  Starken  und  Geniessenden  mit  den  Schwachen 
und  Entbehrenden  die  Rollen  zu  wechseln  berufen  sind.  Gewiss  aber  ist 
so  viel,  dass  dieReclitsahnung  oder  Einsicht  des  ge- 
sunden Menschenverstandes,  die  auch  in  den  untersten 
Klassen  nicht  so  sehr  fehlt, als  man  lange  genug  gewähnt 
hat,  gegen  jene  Vordersätze  und  alle  Schlüsse  daraus  sich 
empört.  Wem  die  erschreckenden  Zahlenverhältnisse  nicht  fremd  geblieben 
sind,  in  denen  die  Massenarmuth  und  folgoweise  die  Eigenthnmsverbrechen 
fast  in  allen  Landern  anwachsen,  der  muss  sich  selbst  sagen,  dass  es  nicht  lange 
mehr  so  fortgehen  kann,  und  dass  die  bisherigen  Gegenmittel  sammt  und  sonders 
unzureichend  sind,  um  dem  Uebel  zu  steuern.  > 


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Die  Eigenthumsfrage  der  Neuzeil. 


101 


Rndicalismus  die  entschiedene  Vertretung  von  Principen,  dagegen 
im  Staat  den  historischen  Träger  der  Principlosigkeit  in  Dingen 
des  Volkswohles  zu  erblicken  meinen.  Dass  die  Massen  hierbei 
kritiklos  verfahren,  kann  ihnen  der  Staat  nicht  zum  Vorwurf 
machen,  so  lange  er  der  systematischen  Urtheilsfälschung  durch  eine 
wühlerische  Mache  nicht  eine  ebenso  systematische  Urtheilsklärung 
durch  ausreichende  Belehrung  auf  sachgemässem  Wege  entgegen- 
setzt und  den  Massen  zur  Verfügung  stellt.  So  lange  der  Staat 
diesem  Volksbedürfnisse  nicht  entspricht,  etwa  wie  unser  Project 
teiner  socialpolitischen  Propädeutik»  in  Vorschlag  bringt  oder  ein 
noch  zu  findender  besserer  Modus  zu  bringen  hätte,  so  lauge  be- 
weist ungefügiger  Volkswille  dem  parlamentarischen 
Staate  noch  keineswegs  b  ö  s  e  n  W  i  1 1  e  n.  Die  gelegentlich  in 
die  Öffentlichkeit  geworfenen  Brocken  officiöser  Kundgebungen 
spielen  für  die  vom  Strudel  der  Parteimeinungen  hingerissenen 
Volksmassen  nur  die  Rolle  von  Strohhalmen  für  Ertrinkende. 

Das  Volk  ist  sich  seiner  politischen  Unbildung  und  des  hier- 
aus folgenden  Mangels  an  leitenden  höheren  Gesichtspunkten  sehr 
wohl  bewusst.  Der  kleine  Mann  tritt  nicht  mit  fertigem  Urtheile 
an  alles  heran  und  fordert  darum  vom  Antragsteller  erst  das  Dar- 
bieten principieller  Anhaltspunkte,  um  mittelst  dieser  sich  sein  Ur- 
theil  bilden  zu  können.  Für  den  praktischen  Volkspolitiker  kann 
in  diesem  Stück  kein  Zweifel  bestehen.  Wer  von  dem  kleinen 
Mann  die  beifällige  Erklärung  tes  stimmt»  erlangen  will,  der  be- 
ginne im  concreten  Falle  bei  Leibe  nicht  mit  einer  Specialanalyse 
der  betreffenden  Sache,  sondern  schaffe  ihm  zuvor  eine  allgemeine 
Fühlungnahme  von  einem  ihm  schon  geläufigen  Gesichtspunkte 
principieller  Natur  oder  mache  ihm,  in  Anknüpfung  an  einen 
solchen,  einen  neuen  geläufig.  Alsdann  wird  man  den  kleinen 
Mann  unbedingt  auf  seiner  Seite  stehen  haben.  Das  unverdorbene 
Naturkind  sieht  darin  noch  eine  Ehre,  Gründen  von  Klügeren  zu 
folgen  und  sich  diesen  anzuschliessen,  im  geraden  Gegenspiel  zum 
Skepticismus  der  sogenannten  gebildeten  Stände,  deren  realistisch 
verllachte  Majorität  heute  die  Armuth  ihres  geistlosen  Urtheils 
durch  endlose  Einwände  gegen  jeden  Antrag  zu  verdecken  strebt, 
um  durch  Anerkennung  von  entgegengebrachten  Gründen  nicht  ein 
Nachgeben  des  schwächeren  Theiles  zu  zeigen. 

So  lange  aus  dieser  Majorität  auch  die  Majorität  des  Parla- 
ments hervorgeht,  hat  der  Staat  absolut  nichts  zu  hoffen,  wie  jede 
Neuwahl  schon  deutlich  genug  gezeigt  hat  und  die  Zukunft  noch 


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102  Die  Eigeuthumsfrage  der  Neuzeit. 

* 


schlagender  zeigen  wird.  Der  Appell  an  die  Nation  kann  nament- 
lich in  Deutschland,  das  durch  seine  Geschichte  und  Lage  in  der 
europaischen  Staatengruppe  zur  wenig  beneidenswerthen  Rolle  eines 
ünicum  verurtheilt  ist,  nicht  früher  einen  befriedigenden  Erfolg 
für  den  Staat  gewährleisten,  als  bis  der  Staat,  ebenso  wie 
die  militärische  Kriegstüchtigkeit,  auch  die 
politische  Urtheilstüchtigkeit  auf  dem  Wege 
systematischer  Vorschulung  an  jedem  einzelnen  Staats- 
bürger ausgebildet  hat. 

Haben  wir  hiermit  die  sociologischen  Gesichtspunkte  ange- 
deutet, von  welchen  aus  wir,  mit  Fouillee,  die  Notwendigkeit  einer 
principiellen  Stellungnahme  seitens  des  Staates  vertreten,  so  fern 
derselbe  seine  socialreformatorische  Arbeit  nur  bei  entsprechendem 
Entgegenkommen  des  eigentlichen  Grundstammes  der  Nation  erfolg- 
reich beginnen  und  fortführen  kann,  so  werden  wir  nun  die  Be- 
werkstelligung dieser  Stellungnahme  seitens  des  Staates  zu  be- 
leuchten haben,  um  zuletzt  die  praktischen  Mittel  anzudeuten,  welche 
durch  diese  Stellungnahme  vom  sociologischen  Gesichtspunkte  in 
Dingen  der  Social  reform,  namentlich  iu  der  Eigenthumsfrage,  ge- 
boten erscheinen. 

B. 

Wenn  wir  eine  principielle  Stellungnahme  sociologi- 
schen Charakters  für  den  Staat  befürworten,  so  wollen  wir  zu- 
nächst den  indirecten  Grund  zu  dieser  Befürwortung,  nämlich  die 
Unzulänglichkeit  der  bisher  vorhandenen  Hilfsdisciplinen  zur  Aus- 
beute für  die  höhereu  Interessen  der  Staatspolitik,  hier  nicht  ver- 
schweigen. Diese  Unzulänglichkeit  sehen  wir  keineswegs  in  einer 
völligen  Unbrauchbarkeit  der  einzelnen  Gesichtspunkte,  welche  jede 
dieser  Disciplinen  nach  ihrem  besonderen  Gesichtskreise  bis  zur 
Geltung  eines  wissenschaftlichen  Ergebnisses  innerhalb  der  Grenzen 
ihres  speciellen  Fachgebietes  durchgearbeitet  hat.  Vielmehr  sehen 
wir  die  Unzulänglichkeit  nur  in  dem  Mangel  ihrer  summarischen 
Verwendbarkeit  seitens  des  Staates  für  die  Zwecke  einer  rationellen 
Socialreform  vom  sociologischen  Standpunkte  Diese  unmittelbare 
Verwendbarkeit  werden,  nach  unserer  Ansicht,  die  Sonderdisciplinen 
hinsichtlich  ihrer  Specialergebnisse  niemals  von  sich  aus  dem  Staate 
beschaffen.  Bei  der  Noth wendigkeit  getheilter  Arbeit  theilen  sich 
auch  die  wissenschaftlichen  Interessen,  und  darum  kann  von  einer 
gemeinsamen  Vorarbeit  im  speciell  staatswisseuschaftlichen  Sinne, 


Die  Eigenthumsfrage  der  Neuzeit. 


103 


zur  Geueralisirung  des  Unheils  über  das  Gesaramtgebiet  alles 
Wissenswerthen  für  die  Staatspolitik,  durchans  nicht  die  Rede  sein. 

Hat  doch  diejenige  Disciplin,  welche  die  moderne  Staatspolitik 
vorzugsweise  in  ihren  Dienst  ziehen  mag,  die  Nationalökonomie 
sammt  Statistik  und  Finanzlehre,  noch  nicht  einmal,  wie  unten 
gezeigt  werden  soll,  aus  dem  Rohen  sich  herauszuarbeiten  vermocht. 
Und  die  aus  wilder  Ehe  mit  dem  Demokratismus  gezeugte  Social- 
wissenschaft«, welche  auf  wissenschaftlichem  Erziehungswege  dem 
Socialismus  eine  legale  Standesehre  abgewinnen  sollte,  ist  schon 
durch  die  Zangengeburt  dieser  coiitradktio  in  adjccto  als  todtge- 
borenes  Kind  auf  die  Welt  gekommen,  hat  bereits  mit  dem  Staats- 
socialismus  Wagners  das  Todtenheindchen  erhalten  und  wird  hoifent- 
lich  bald  ohne  Sang  und  Klang  begraben  sein.  Wenigstens  wird 
in  Deutschland  die  nationalbewusste  Jugend,  die  bald 
an  mehr  als  einer  massgebenden  Stelle  ihrem  Vaterlande  aufhelfen 
wird ,  gewiss  keine  Belebungsversuche  an  dem  internationalen 
ßastardkinde  vornehmen. 

Gewiss  steht  der  Staatspolitik  auch  gediegenes  Material  zur 
Vornahme  einer  Blumenlese  bereits  zur  Verfügung.    Aber  weder 


•  Vgl.  unsere  Schrift  «Volksseele»,  namentlich  S.  132  f.  Anm.,  wo  wir  uus 
besonders  gegen  die  unhaltbare  Identificirung  des  Begriffes  «menschliche  Gesell 
schaft»  mit  der  Totalität  des  Menschengeschlechts  erklären.  Die  Kategorie  des 
Organischen,  in  Analogie  mit  der  Natur  und  mit  dem  menschlichen  Individuum, 
ist  nicht  anf  das  gesammte  Menschengeschlecht  anwendbar,  sondern  nur  auf  den 
Theilbegriff  Gesellschaft  und  hinsichtlich  des  letzteren  auch  nur  in  der  Ein 
schränkung  auf  die  einzelnen  nationalen  oder  staatlichen  Aggregationen.  Bei 
der  Kategorie  des  Organischen,  in  Anwendung  auf  die  (iesellschaft,  kommt  vor 
allen«  die  Sphäre  der  menschlichen  bezw.  sittlichen  Willensfreiheit  mit  ins  Spiel, 
eine  Sphäre,  in  welcher  nicht  nur  gegeben»-,  soudern  auch  zu  schaffende  Bedin- 
gungen den  Ausschlag  geben,  ob  normale  Ausgestaltung  oder  Auflösung  nnd 
Untergang  folgt.  In  dieser  sociologischen  Unterscheidung  sehen  wir  einen  fun- 
damentalen Gegensatz  zum  naturalistischen  socialwissenschaftlichen  Standpunkt, 
dessen  Richtung  wir  im  ganzen  nur  typisch  socialistisch  nennen  können.  Im 
übrigen  versagen  wir  eiuzelnen  volksphysiologischeu  Gesichtspunkten,  die  auch 
hier  zu  Tage  gefordert  sind,  keineswegs  unsere  Anerkennung,  namentlich  nicht 
den  «Gedanken  über  die  Socialwissenschaft  der  Zukunft^  von  P.  v.  Lilieufeld. 
Dieser  hervorragende  Denker  und  Staatsmann  hat  sich  einen  Namen  gemacht, 
den  die  Zukunft  ehren  wird,  auch  wenn  sie  über  die  Socialwissenschaft  zur 
Tagesordnung  der  Sociologie  übergegangen  seiu  wird.  Es  handelt  sich  hier  nicht 
um  ein  Gegenüber  von  Anfang  und  Ende  derselben  Progression,  sondern  um 
vollkommene  Gegensätze,  welche  um  des  gemeinsam  behandelten  Problems  willen 
eben  so  wenig  mit  einander  zu  schaffen  haben,  wie  etwa  Landwirth  und  Maul 
warf  um  derselben  Erde  willen,  die  beide  bearbeiten. 

♦ 


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104  Die  Eigenthumsfrage  der  Neuzeit. 

hat  sie  die  nöthige  Zeit  zu  einer  solchen  Sammellese,  noch  ent- 
spricht auch  letztere  dem  eigentlichen  Bedürfnisse  der  Staatspolitik, 
welche  bei  Vornahme  ihrer  Operationen  am  Volks-  und  Staats- 
körper, gerade  wie  der  Chirurg,  von  einer  hilfeleistenden  Assistenz 
alles  Erforderliche  in  völliger  Bereitschaft  gehalten  wissen  will. 
Hat  doch  der  grosse  Kanzler  mehr  als  einmal  über  den  leidigen 
Uebelstand  geklagt,  dass  er  bei  wichtigen  Intentionen  in  Dingen 
des  Volks-  und  Staatswohles  lediglich  auf  die  eigene  Initiative  an- 
gewiesen ist. 

Nach  unserer  Ansicht  kann  sich  daher  die  Staatspolitik  von 
keiner  dieser  Disciplinen  einen  mehr  oder  weniger  einseitigen  Stand- 
punkt anweisen  lassen,  sondern  muss  eine  dominirende  Höhe  zu 
gewinnen  suchen,  welche  den  erforderlichen  Ueberblick  zu  einer 
principiellen  Stellungnahme  nach  jeder  Richtung  ermöglicht  —  eine 
Höhe,  deren  Mitnutzung  die  Staatspolitik  im  parlamentarischen 
Staat  auch  seitens  aller  Wohlgesinnten  des  Landes  fordern  könnte, 
ohne  von  Fall  zu  Fall  die  zeitraubende  und  meist  vergebliche 
Schulmeisterarbeit  ab  ovo  dransetzen  zu  müssen.  Die  entsprechende 
Grundlage  zu  diesem  Ueberblick  von  der  Höhe  mit  allem,  was 
drum  und  dran  das  Material  einer  selbständigen  Wissenschaft  ver- 
mittelnden Charakters  abgiebt,  nennen  wir  Sociologie.  Nur  die 
Sociologie  könnte  jene  Rolle  einer  hilfeleistenden  Assistenz  über- 
nehmen. 

Da  wir  an  dieser  Stelle  nicht  von  der  Sociologie  als  solcher 
reden,  sondern  nur  ein  sociologisches  Streiflicht  auf  die  besprochene 
Specialfrage  werfen  wollen,  so  müssen  wir  uns  bescheiden  und 
können  nur  in  Thesenform  unsere  sociologischen  Ausgangspunkte 
andeuten.  Die  drei  Seiten,  welche  vom  sociologischen  Gesichts- 
punkte für  die  principielle  Stellungnahme  zur  socialen  Frage  wesent- 
lich sind,  geben  wir  demnach  in  folgender  Formulirung  : 

Fertige  Ausgangspunkte  zur  Lösung  der  socialen  Frage  bieten 
zur  Zeit  weder  Rechts-  und  Culturgeschichte ,  noch  National- 
ökonomie1 und  Rechtswissenschaft,  noch  Philosophie  und  Ethik  — 


1  Vgl.  Schmoller,  «Jahrbuch  <&c>  1883,  Heft  4  bei  Besprechung  des  cHandb. 
der  polit.  Oekon.  v.  Prof.  Schönberg ■ :  «Die  gegenwartige  deutsche  Wissenschaft 
der  politischen  Oekonomie  ist  in  einer  vollständigen  Umbildung  und  Umwälzung 
begriffen  ....  exacte  Forschung,  Wiederanknüpfnng  der  lauge  blos  dogmatisch  . 
und  losgerissen  für  sich  gehandhabten  Satze  der  Wirtlischaftslehre  an  die  Rechts 
und  sonstige  Philosophie,  Psychologie,  Geschichte  und  Ethik  charakterisiren  den 
Umschwung,  dessen  letzte  Conseqnenz  die  Verwandlung  der  sogenannten  politi- 


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Die  Eigenthumsfrage  der  Neuzeit. 


105 


Die  Sociologie  bat  auf  Grund  sämmtlicher  Hilfsfächer  und 
eigener  Forschung  sich  ihre  Axiome  selbst  zu  beschaffen  ;  diese 
ergeben  für  vorliegenden  Zweck  den  syllogistischen  Satz,  dass  es 
in  der  socialen  Frage  sich  um  die  ebenso  spontane  wie  andauernde 
Eigenkraft1  eines  Natur-  und  Culturprocesses  handelt,  der  sich 
weder  Gesetze  aufzwingen  lässt,  noch  gesetzliche  Regelung  ent- 
behren kann,  soll  anders  nationales  Gedeihen  und  nicht  nationale 
Selbstzersetzung  die  unausbleibliche  Folge  sein  — 

Geschichte  und  Erfahrung  in  Dingen  seitheriger  Volks-  und 
Staatsentwickelung  bieten  der  Sociologie  Weg  und  Mittel  zur 
exacten  Feststellung  der  Vitalität  dieses  Processes,  welcher  der 
Wahlfreiheit  des  menschlichen  Willens3  einen  Spielraum  innerhalb 

sehen  Oekonomie  in  die  Socialwissenschaft  sein  wird  und  muss.  >  —  Nicht  um 
der  letzten  Schlussfolgerung,  sondern  um  der  Vordersätze  willen  setzen  wir 
die  Worte  des  verehrten  Gelehrten  her.  Sein  Scharfblick  hat  die  gegenwärtige 
Unzulänglichkeit  der  Nationalökonomie  oder  polit.  Oekonomie  vollständig  erkannt, 
während  er  der  Zukunft  der  Socialwissenschaft  bona  fide  das  zuspricht,  was  mau 
bis  vor  kurzem  von  diesem  unfertigen  Anlaufe  erhoffte.  Näheres  folgt  noch. 
Hier  nur  die  kurze  Bemerkung,  dass  die  polit.  Oekonomie,  nach  unserer  Ansicht, 
durchaus  selbständige  Existenzberechtigung  hat,  so  fern  sie  die  ihr  noch  fehlenden 
Voraussetzungen  und  Zweckziele  zu  gewinnen  und  nach  diesen  sich  zu  regene- 
riren  vermag,  wie  weiter  im  Text  berührt  wird. 

1  Vgl.  Fichte,  «Reden  an  die  deutsche  Nation ».  Reclamsehe  Ausg.  S.  109  f.: 
*Der  deutschen  Nation  wird  durch  eine  in  sich  selbst  klar  gewordene  Philosophie 
der  Spiegel  vorgehalten,  in  welchem  sie  mit  klarem  Begriffe  erkenne,  was  sie 
bisher  ohne  deutliches  Bewusstsein  durch  die  Natur  ward  und  wozn 
sie  von  derselben  bestimmt  ist;  und  es  wird  ihr  der  Antrag 
gemacht,  nach  diesem  klaren  Begriffe  und  mit  besonnener  und  freier 
Kunst,  vollendet  und  ganz  sich  selbst  zu  dem  zu 
machen,  was  sie  sein  soll,  den  Bund  zu  erneuern  und  den  Kreis  zu  schliessen.» 
Vgl.  hierzu  unsere  Schrift  «Sociologie  Fichte«»,  S.  133  u.  156  unten. 

•  Vgl.  Pnchta,  «Gesch.  des  röm  Rechts».  5.  Aufl.  I.  Bd.  S.  29:  «In  dem 
Irrthume,  den  Staat  als  die  Quelle  des  Rechts  zu  betrachten,  bewegen  sich  die 
meisten  Politiker,  von  denen  die  eine  Partei  das  Hecht  von  der  Obrigkeit,  die 
andere  (um  die  Begriffe  gänzlich  auf  den  Kopf  zu  stellen)  von  dem  Volke  im 
politischen  Sinn,  den  Regierten  im  Gegensatze  zu  dem  Regenten,  ausgehen 
lässt.  Beide  Ansichten  sind  unrichtig:  der  Ursprung  des  Rechts  liegt  ausserhalb 
des  Staates,  und  zwar  nicht  blos  in  Beziehung  anf  seine  übernatürliche  Ent- 
stehung durch  Gottes  Gebot,  sondern  auch  anf  seine  natürliche  durch  den  natio- 
nellen  Willen.  Dieser  Wille  ist  nicht  der  Wille  des  Volks  als  eines  Bestand- 
teiles des  Staates,  sondern  des  Volks  als  der  natürlichen  Verbindung,  welche 
das  Fundament  des  Staates  ist.  Der  Staat,  setzt  das  Recht  voraus,  ist  aber  hin- 
wiederum dessen  nothwendige  Ergänzung.  Beide  haben  jene  übernatürliche  und 
natürliche  Entstehung  mit  einander  gemein:  sie  beruhen  auf  Gottes  Ordnung 


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I0(i  Die  Eigenthumsfrage  der  Neuzeit. 

gewisser  Grenzen  gewährt  und  hierdurch  die  ausreichende  Mög- 
lichkeit zur  Bestimmung  sociologischer  Normen  für  sozialpolitische 
Reformen  bietet  — 

Diese  drei  Seiten  sociologischer  Stellungnahme,  nach  unserem 
System,  unterziehen  wir  nun,  wenn  auch  in  nothgedrungener  Kürze, 
einer  näheren  Beleuchtung. 

Hinsicht  lieh  der  erstgenannten  Seite  oder  These  hat  die  von 
uns  vorgelegte  Fouill6esche  Arbeit  schon  die  Hauptsache  besorgt. 
Der  geistreiche  Franzose  ist  zwar  nicht  ganz  und  gar  unser  Mann, 
aber  so  weit  er  eine  kritische  Rundschau  über  die  verschiedenen 
Gesichtspunkte  giebt,  welche  von  den  hervorragendsten  Specialisten 
zur  Lösung  der  socialen  Frage  aufgestellt  sind,  können  wir  uns 
seinem  Urtheile  fast  durchweg  anschliessen.  Dieses  Urtheil  erhärtet 
wesentlich  die  Behauptung  unserer  ersten  These  und  überhebt  uns 
der  Nöthigung,  eingehender  den  resultatlosen  Verlauf  nachzuweisen, 
den  die  bisherige  Behandlung  der  Eigenthumsfrage  seitens  der 
Wissenschaft  und  Praxis  genommen  hat.  Und  warum  dieser 
Verlauf? 

Die  bisherige  Behandlung  kennt  nur  die  Alternative  zwischen 
absoluter  Vertretung  der  subjectiven  Rechtsseite  des  Eigenthums 
oder  absoluter  Bestreitung  dieser  Rechtsseite.  Selbst  das  gewiss 
sachlich  richtige  Zurückgreifen  auf  die  Arbeit,  als  auf  die  gene- 
tische Rechtsquelle  des  Eigen thums,  hat  die  gegensätzliche  Beur- 
teilung der  Folgerungen  nicht  zu  beseitigen  vermocht.  Auf  der 
einen  Seite  wird  das  vom  Gesichtspunkt  der  Arbeit  abgeleitete 
individuelle  Besitzrecht  schlechthin  generalisirt  und  von  sonst  be- 
achtenswerthen  Specialisten,  wie  Bastiat,  Carey,  Leroy-Beaulieu 
und  auch  Jules  Simon,  zu  den  extremsten  Folgerungen  verwendet. 
Auf  dieser  Seite  verschlägt  so  gut  wie  gar  nicht  der  von  Fouillee 
betonte  doppelte  Gesichtspunkt,  dass  erstens  die  Natur  oft  in 
-  wesentlichster  Weise  mitarbeitet  und  daher  die  ersten  Besitzergreifer 
co  ipso  im  Vortheile  vor  allen  Nachgeborenen  sind,  und  dass  zwei- 
tens die  mitwirkende  Leistung  der  Gesellschaft  jetzt  den  von  der 
Arbeit  abgeleiteten  subjectiven  Besitztitel  auf  Eigenthum  durchaus 


nnd  auf  dem  Willen,  den  der  Mensch  als  Glied  einer  Nation  hat.>  —  Vgl.  hin- 
sichtlich der  mit  dem  Willen  zusammenhangenden  Vitalitat  de»  Volks  und  Staats- 
organismns  Bunsen  Zeichen  der  Zeit»,  2.  Bd.  S.  28:  »Alles  stirbt  nur  aus  Mangel 
an  innerer  Lebenskraft,  und  alles  geht  nur  unter  durch  sich  Belbst,  nämlich  durch 
sein  eigeues  selbstsüchtiges  Printip,  welches  die  Bedingungen  seines  Daseins  in 
frevelndem  Uebermuthe  verkennt  oder  sich  in  Blödsinnigkeit  verzehrt.» 


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Die  Eigenthumsfrage  der  Neuzeit. 


107 


verschiebt.  Auf  der  anderen  Seite  will  man  wiederum  von  diesen 
Gesichtspunkten  aus  schliesslich  nichts  anderes  als  collectiven  Be- 
sitz. Auch  die  moderirte  Vertretung  dieser  Richtung,  welche  mög- 
lichste Verstaatlichung  alles  unbeweglichen  Eigenthums,  speciell 
des  Landes,  will,  steuert  im  Grunde  auf  dasselbe  Ziel  los,  welches 
der  radicale  Socialismus  ohne  Phrase  erstrebt.  Es  verschlägt  darum 
wenig,  wenn  selbst  so  extreme  Vertreter  des  Staatsmonopols  auf 
Eigenthum,  wie  Henri  George,  sich  im  Principe  gegen  den  Social- 
demokratismus  erklären.  Nicht  die  grössere  oder  geringere  An- 
eignung von  fremdem  Eigenthum  macht  den  Diebstahl,  sondern  die 
willkürliche  Aneignung.  Wenn  Schäffle  die  Gütererzeugung  socia- 
lisiren  will ;  wenn  Stuart  Mill,  Laveleye,  Ricardo  gegen  die  Selbst- 
erhöhung der  Grundrente  eifern ;  und  wenn  schliesslich  Fouillee 
selber,  ungeachtet  seines  Strebens  nach  Versöhnung  der  Gegensätze, 
keine  bessere  Vermittelung  weiss  als  Mobilisirung  des  Eigenthums : 
so  Hesse  sich,  in  drastischer  Verdeutlichung  der  Lage,  wol  zutreffend 
behaupten,  dass  der  Socialismus  eben  der  Teufel  ist,  der  die  ganze 
Hand  erfasst,  wenn  ihm  auch  nur  ein  Finger  geboten  wird. 

Der  Grund  zum  unbehobenen  Gegensatz  der  Meinungen  liegt 
sehr  einfach  und  klar  in  der  Unversöhnlichkeit  der  Standpunkte, 
die  man  im  Principe  nicht  aufgeben,  sondern  nur  auf  dem  Com- 
pronüsswege  näher  bringen  will,  so  weit  es  eben  geht  und  —  so 
weit  es  nicht  geht,  auf  den  letzten  Trumpf  von  Halten  oder  Brechen 
zu  setzen  bereit  ist,  ein  Trumpf,  mit  welchem  das  Häuflein  Be- 
sitzender alles  und  die  Unmassen  Besitzloser  nichts  aufs  Spiel  setzen. 

Wenu  der  Staat  sich  selbst  und  die  Gesellschaft  aus  dem 
Parteisumpfe  retten  will,  so  darf  er  selbst  nicht  darin  stecken, 
sondern  muss  einen  festen  Boden  unter  sich  gewinnen.  Dieser 
Boden  kann  im  constitutionellen  Staat,  der  die  Gesellschaft  mit 
ihrer  ganzen  Leistungskraft  zur  Mitarbeit  heranzieht,  nur  socialer 
Natur  sein.  Mit  anderen  Worten:  die' formale  Seite  der 
politischen  Rechtsverfassung  muss  die  ent- 
sprechende materiale  Gegenseite  in  einer  so- 
cialenOrganisation  erhalten.  Die  bisher  unterbliebene 
Lösung  dieser  Aufgabe  seitens  des  Staates  hat  die  versuchte  Selbst- 
hilfe der  Massen  erzeugt  und  die  demokratische  Lösung  auf  social i- 
stischem  Wege  ins  Kraut  schiesseu  lassen.  Wie  wenig  die  neuer- 
dings vom  Staat  unternommenen  Versuche  zu  einer  Socialreform 
verschlagen,  zeigt  die  Erfahrung  täglich  deutlicher.  Es  kann  eben 
nicht  anders  werden,  so  lange  nicht  von  Normen  der  socialen  Orga- 


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108  Die  Eigentimmsfrage  der  Neuzeit. 

nisation  die  Rede  ist,  und  so  lange  der  Staat  den  letzten  Zweck 
dieser  Organisation,  die  Begründung  einer  social  sichergestellten 
Zukunft  seiner  Staatsbürger,  als  cZukunftsnmsik»  verlachen  will, 
anstatt  ihn  als  einzige  Rettung  der  Zukunft  für  sich  und  die  Ge- 
sellschaft zu  ergreifen.  Die  Zukunft  wartet  nicht  mehr,  sie  pocht 
schon  an  der  Thür. 

Die  politische  oder  Nationalökonomie,  welche  in  erster  Linie 
die  Beschaffung  des  uöthigen  Materials  zum  Normiren  bisher  be- 
sorgen sollte  und  wollte,  ist  in  der  Lösung  ihrer  Aufgabe  zur  Zeit 
noch  so  sehr  zurück,  dass  sie  den  feindlichen  Lagern  Waffen  zu 
gegenseitiger  Bekämpfung  bietet,  anstatt  in  dieselben  das  wunden- 
heilende Oel  des  Friedens  fliessen  zu  lassen.  So  lange  diese 
Wissenschaft  nur  von  Volksgütern,  deren  Erzeugung,  Umlauf  und 
Verbrauch  zu  reden  weiss,  entspricht  sie  uoch  nicht  ihrem  eigenen 
Namen.  In  dieser  Verfassung  bleibt  sie  ein  Rumpf  ohne  Kopf 
und  Füsse,  hat  keinen  festen  Boden  unter  sich  und  keine  freie 
Luft  über  sich,  vermag  vollends  der  Anfrage  nicht  zu  bieten,  was 
sie  selber  nicht  hat.  Deutsch  gesprochen :  die  Volks-  oder  Staats- 
wirthschaftslehre  muss  erst  von  der  Landwirtschaft  lernen,  dass 
vor  der  Wirthschaft  mit  den  Landerzeugnissen,  vor  dem  Säen  und 
Ernten  das  Ackern  und  vor  diesem  gar  noch  vielerlei  vorausgehen 
muss,  mit  einem  Wort,  die  Bearbeitung  des  Bodens  je  nach 
seiner  Eigenschaft,  je  nach  Untergrund,  Lage,  Witterung  &c.  in 
Betracht  kommt,  und  dass  ausserdem  die  ganze  Bewirthschaf- 
tungsmethode  nicht  nur  hie  und  da  glänzende  Ernten  zu  er- 
zielen, sondern  steigende  Ertragsfähigkeit  des  gesamm- 
t  e  n  Wirtschaftsgebietes  zu  schaffen  hat,  um  nicht 
durch  Ermüdung  oder  Erschöpfung  des  Bodens  ein  schliessliches 
Auswirthschaften  herbeizuführen.  Und  damit  nicht  genug.  Der 
Vergleich  bietet  noch  tiefere  Beziehungsseiten.  In  der  Land  wirth- 
schaft giebt  es  nichts,  was  gethan  oder  unterlassen  nicht  eine  un- 
bedingte Folgewirkung,  sei  es  schädigender  oder  nützender  Art, 
brächte;  ja,  es  giebt  Zeiten  und  Umstände,  wo  in  der  Landwirt- 
schaft, ähnlich  wie  bei  dem  Schachspiele,  ein  einziger  verfehlter 
Zug  oder  nur  der  Verlust  eines  Tempo  das  beste  Eröftnungsspiel 
vergeblich  machen,  die  ganze  Partie  unrettbar  zu  Fall  bringen 
kann.  Was  das  heisst,  muss  auch  die  politische  Oekonomie  zuerst 
auf  ihrem  Wirtschaftsgebiet  begreifen  lernen,  bevor  sie  eine  ratio- 
nelle Wissenschaft  heissen  will.  Die  Volkswirtschaft  muss  zuerst 
ihren  Wirthschaftsboden  im  Volksschosse  er- 


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» 


Die  Eigenthumsfrage  der  Neuzeit.  109 

kennen  und  für  das  Eigen  wesen  desselben  ein  Auge  gewinnen, 
muss  sodann  von  einer  intensiven  Wirthscha  f  ts  ra  e  t  hode 
wissen,  welche  die  Zukunft  dieses  Bodens  durch  Hebung  der  inneren 
Lebenskräfte  der  Nation  sicherstellt  und  ihn  vor  Erschöpfung 
schützt :  bevor  sie  schliesslich  in  annähernder  Weise  über  seine 
Güter,  deren  Erzeugung,  Umlauf  und  Verbrauch  Bescheid  finden 
und  geben  kann. 

Wie  viel  der  Volks wirthschaftslehre  aber  noch  hieran  fehlt', 


1  Die  grossen  Verdienste,  welche  Männer  wie  Roscher,  Kau,  Stein  itc. 
sich  um  die  erste  Entwicklung  der  jungen  Wissenschaft  erworben  haben,  sollen 
nicht  herabgesetzt  werden.  Aber  selbst  bei  diesen  Autoritäten  besten  Klanges 
haben  sich  einige  der  wesentlichsten  Gesichtspunkte  schon  sehr  bald  überlebt. 
Namentlich  gilt  dies  in  Betreff  der  wichtigen  Kategorien  über  den  Erschluss 
der  Pr  o  d u  c  t  i  o  n  s  q  u  e  1 1 e  n  ,  wo  der  Gesichtspunkt  der  Begrenzung :  est 
modus  in  rebus  eigentlich  gar  nicht  und  fast  nur  der  der  Erweiterung  in  infini 
tum  vertreten  wird,  gerade  als  ob  der  Erdball  bis  in  unabsehbare  Zeiten  hinein 
für  den  Absatz  ein  alles  verschlingender  Abgrund  bliebe.  Die  nicht  minder  wich 
tigen  Capitel  über  die  C  o  n  c  u  r  r  e  n  z  zeigen  gleichfalls  einerseits  eine  be- 
denkliche Umgehung  der  principiellen  Gesichtspunkte,  andererseits  eine  noch  be- 
denklichere Begünstigung  des  Billigkcitspriucipes  und  der  Nachiiffungstheorie  mit 
übermässiger  Betonung  des  Weltmarktes,  anstatt  den  Gesichtspunkt  der  Gediegen 
heit  des  Products  und  den  der  Accomodation  «n  das  Productionsgebiet  zu  erhärten, 
gerade  als  ob  das  höchste  Ziel  der  Production  das  Suchen  des  Weltmarktes  sei- 
tens des  Products  und  nicht  vielmehr  das  Gesuchtwerden  des  Products  seitens 
des  Weltmarktes  wäre,  als  ob  nur  Benutzung  der  Nachfrage  und  nicht  das 
Schaffen  von  Nachfrage  die  Hauptsache  bliebe.  —  In  der  brennenden  Frage  muh 
Normen  für  die  Besteuerungsform  wollen  wir  beispielsweise  etwas  näher  die 
Oberflächlichkeit  beleuchten,  mit  welcher  A.  W  a  g  n  e  r  die  betreffende  Materie 
behandelt,  dieser  Manu,  der  nicht  müde  wird,  in  seinen  Schriften  das  pathetische 
Partikelchen  tsocialpolitisch»  zu  leisten.  Das  von  Wagner  und  Nasse  heraus- 
gegebene (Lehrbuch  der  polit.  Oekonomie»  enthält  im  sechsten  Bande  <  die  Finanz 
Wissenschaft»  von  A.  Wagner  und  der  II.  Tbl.  dieses  Bandes  behandelt  die  allge- 
meine Steuerlehre.  Auf  der  letzten  Seite  der  Vorrede  heisst  es  vielverheissend, 
dass  hier  möglichst  eonsequent  alle  hauptsächlichsten  Principienfragen  der  Be- 
steuerung im  systematischen  Zusammenhang  behandelt  werden».  Aber  S.  169  be 
ginnt  er  Beine  principielle  Stellungnahme  zur  Besteuerung  in  ihren  Beziehungen 
zur  Organisation  der  Volkswirtschaft»  mit  der  Erklärung,  dass  die  « Begründung 
des  Besteuerungsrechtes  nach  der  politischen  und  öffentlich  rechtlichen  Seite  in 
die  allgemeine  Staatslehre  und  Politik  und  nach  der  philosophischen  Seite  in  die 
Rechtsphilosophie  gehört»  und  dass  für  die  politische  Oekonomie,  speciell  Finanz- 
lehre, die  «wirkliche  Durchführung  der  Besteuerung  am  wichtigsten»  ist.  Heisst 
das  nicht  die  wissenschaftliche  Hauptsache  auf  den  Kopf  stellen  ?  Wenn  aus  der 
leidigen  Fiuanzroutine  eine  leidliche  Finanzlehre  werden  soll,  so  hat  diese  doch 
wol  mehr  zu  leisten  als  eine  hie  und  da  geänderte  oder  nur  mit  neuen  Rand- 
glossen versehene  Klassitiratiun  aller  hergebrachten  Finanzoperationen.    Im  con- 


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110 


Die  Eigen thumsfrage  der  Neuzeit. 


beweist  ihre  verblüffte  Ratlosigkeit  in  den  peinlichsten  Zeitfragen, 
namentlich  in  der  Besteuerungsform  und  in  so  abnormen  volks- 

stitutionellon  Staat  will  nicht  nur  der  finanzielle  Fachmann  und  höhere  Politiker, 
mindern  jeder  Steuerzahler  jetzt  kcIhiii  mehr  vor  Augen  haben  als  eine  zur  Aus- 
wahl gebotene  Mustersammlung  von  Operationen.  Er  will  auch  die  Fingerweise 
zu  einer  speeiellen  Auswahl,  von  massgebenden  stAatspolitisehen  Prineipien  aus, 
dargeboten  haben.  Zugestanden,  daas  da«,  was  Wagner  «Begründung  deg  Bo 
steuerungsrechte»»  nennt  und  was  wir  lieber  den  organischen  Zusammenhang  des 
Finanzwesens  mit  dem  gesummten  Staatswesen,  des  partiellen  Bestandteiles  mit 
dem  (tanzen  nennen  wollen,  nicht  zu  den  eigentlichen  Aufgaben  gehört,  deren 
Ergründung  in  erster  Linie  der  speciellen  Finanzlehre  zukäme.  Die  Bescheiden- 
heit können  wir  nur  anerkennen.  Aber  wenn  die  Finanzlehre  die  principiellen 
Gesichtspunkte  über  den  einheitlichen  Verband  von  Finanzwesen  und  Staatswesen 
auch  nicht  selbst  beschallen  soll,  so  kann  sie  dieselben,  so  weit  sie  Bt-hon  ander- 
weitig von  competenter  Seite  beschafft  sind  und  eine  gewisse  Geltung  beanspruchen, 
doch  nun  und  nimmermehr  bei  Seite  liegen  lassen.  Sie  hat  diese  Gesichtspunkte 
nicht  nur  gelegentlich  hie  und  da  zu  berühren,  sondern  mnss  sie  vor  allem  zur 
obersten  Richtschnur  für  ihre  ganze  Systematik  und  Methodik  machen,  um  über 
haupt  Grundzüge  für  eine  wissenschaftliche  Behandlung  betreffender  Ma. 
terie  im  einzelnen  und  ganzen  zu  gewinnen.  Wo  solche  Grundzüge  fehlen,  kann 
von  einer  Wissenschaft  bezw.  rationeller  Lehre  «zur  Organisation  der  Volks- 
wirtschaft», wie  Wagner  sagt,  absolut  nicht  die  Rede  sein.  Solche  Grnndzüge, 
im  herkömmlichen  Sinne  der  Wissenschaft,  sucht  man  in  Wagnerschen  Schriften 
vergebens.  Wer  z.  B.  eine  principielle  Stellungnahme  auf  Grund  leitender  Ge- 
sichtspunkte etwa  in  Bezug  auf  directe  oder  indirecte  Steuer  (letztere  von  Wagner 
Verbrauchssteuer  genannt)  speciell  Branntwein-  und  Tabaksteuer,  Monopol,  Privat- 
oder  Staatsmonopol  oder  Nichtmonopol  &c.  auB  Wagnerscher  Behandlung  der 
Materie  gewinnen  will,  sucht  vergebens  nach  dem  archimedischen  Punkt  unter 
den  Detailpunkten.  Diese  weisen  allenfalls  mittelst  einer  losen  Ideenassociation 
ein  gewisses  Nebeneinander,  aber  keinerlei  principielle  Ueber-  und  Unterordnung 
auf.  Selbst  wo  Wagner  auf  dem  Punkt  zu  sein  scheint,  ein  entschiedenes  pro 
oder  contra  auszusprechen,  bricht  er  durch  Zwischenschiebsel  seinen  eigenen 
Worten  jede  Spitze  ab.  Man  schlage  z.  B.  S.  509  auf,  wo  er  von  der  «förmlichen 
Popularität  der  Verbrauchsbesteuerung»  spricht,  oder  S.  522,  wo  er  die  von  Gerat- 
fehlt  ins  Licht  gestellten  finanzstatistischen  Thatsachcn  in  Bezng  auf  Branntwein 
und  Tabak bestenerung  «allerdings  berückend»  nennt.  Worauf  im  letzten  Grunde 
sein  ganzer  Aufwand  angeblicher  Prineipien  hinauslauft,  entschlüpft  ihm  schliess- 
lich denn  mit  der  Behauptung,  dass  die  Praxis  die  Schwierigkeiten  zumeist  nicht 
wird  «correct  lösen,  sondern  nur  durchhauen»  können  S.  593. 
Realpolitik  und  kein  Ende  —  aber  warum  dann  noch  wissenschaftliche  Bücher 
über  Schwierigkeiten  schreiben,  wenn  die  Praxis  ihre  uralte  reale  Lösungsart 
behalten  soll  ;  wozu  dann  noch  Worte  verschwenden,  wenn  Hauen  das  Ende  vom 
Liede  ist,  wie  auch  die  Anarchisten  immer  ungeduldiger  behaupten.  Die  Praxis 
auf  correcten  Weg  zu  bringen,  iBt.  die  Seele  der  Wissenschaft.  Die  Incorrectheit 
der  Praxis,  die  ohne  Wissenschaft  vorherrschend  ist,  soll  durch  Wissenschaft 
möglichst  selten  werden.  (Für  die  Haltung  dieser  Note  tragt  der  Hr.  Verfasser 
die  Verantwortlichkeit  natürlich  allein.   Die  R  e  d.) 


Die  Eigenthumsfrage  der  Neuzeit. 


111 


wirtschaftlichen  Wirkungen,  wie  es  die  masslose  Ueberproduction 
und  Massenverarmung  sind,  Erscheinungen,  die  vergleichsweise  sidi 
mit  der  landwirtschaftlichen  Verschuldung  von  Lagerkorn  und 
Bodenerschöpfung  in  eine  gewisse  Parallele  stellen  Hessen. 

Wir  wollen  übrigens  von  der  Volkswirtschaftslehre  durchaus 
nicht  mehr  fordern,  als  sie  leisten  kann  und  soll.  Den  Volksboden 
und  die  Volks-  oder  Staatszukunft,  nach  der  principiellen  Seite 
ihrer  inneren  Bedingungen  und  äusseren  Beziehungen,  zu  ergründen 
und  sicherzustellen,  ist  zunächst  nicht  ihre  directe  Aufgabe,  sondern 
die  der  Sociologie,  welche  diese  ihre  Specialaufgabe  früher  oder 
später,  wie  Gott  will,  lösen  wird.  Aber  die  Volks wirthschaftslehre 
muss  den  Grössenwahn  der  Unabhängigkeit  aufgeben,  muss  sich 
ihres  Mangels  bewusst  werden  uud  statt,  wie  bisher  geschehen, 
sich  ablehnend  gegen  alle  nichtrealistischen  Unterstützungsversuche 
zu  verhalten,  dankbarlichst  letztere  als  Mittel  zum  Mündigwerden 
entgegennehmen.  Es  handelt  sich  in  diesem  Stücke,  was  das  ihr 
unsympathische  Gebiet  abstracten  Forschens  betrifft,  für  die  Volks- 
wirtschaft nicht  um  einen  Luxus,  sondern  um  eine  eiserne  condi- 
tio sine  qua  non.  Wenn  sie  es  nicht  lernt,  gerade  für  die  wichtig- 
sten Wahrheiten  ihrer  Schlussfolgerungen  auf  dem  realen  Volks- 
oder Staatsgebiet,  gewissenhaft  eine  der  beiden  Prämissen  aus 
jenem  abstracten  Gebiet  zu  gewinnen,  so  kann  sie  dem  vollen 
Menschenleben  niemals  gerecht  werden.  Im  vollen  Menschenleben 
erweist  sich  schliesslich  keine  Praxis  unpraktischer  als  die  rohe 
Praxis,  welche  nur  dessen  reale  Aussenseite  kennt. 

Was  die  übrigen  Wissenschaften,  wie  Cultur-  und  Rechts- 
geschichte oder  Rechtsphilosophie,  Philosophie  und  Ethik,  für  den 
Staat  in  Dingen  der  socialen  Frage  zur  Klärung  wichtiger  staats- 
politischer Gesichtspunkte  hätten  leisten  können,  aber  nicht  geleistet 
haben,  fällt  auch  unter  den  Gesichtspunkt  jener  Folgen,  welche 
der  materiell  naturalistische  Zeitbann  in  den  letzten  Jahrzehnten 
nach  sich  gezogen  hat. 

Unter  den  massgebenden  Bedingungen  des  wirklichen  Lebens 
sollte  auf  dessen  sämmtlichen  Gebieten  eben  nichts  mehr,  was 
Seele  und  Geist  heisst,  eine  mitberechtigte  Stätte  linden.  Für  den 
Cultus  von  Seele  und  Geist  oder,  wie  man  sich  frülier  ausdrückte, 
für  <alle  höheren  Bedürfnisse»  wollte  man  kaum  die  untergeordnete 
Sphäre  privater  Existenzberechtigung  einräumen.  Wenigstens  hat 
die  Presse  und  teilweise  die  parlamentarische  Rednerbühne  es  an 
nichts  fehlen  lassen,  im  Volksbewusstsein  die  Vorstellung  von  der 

Baltische  MunsUschrift.  Bd.  XXXIV.  Heft  2.  8 


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112 


Die  E  i  gen  thu  ms  frage  der  Neuzeit. 


für  alle  Lebensgebiete  massgebenden  Bedeutung  sittlicher  Wahr- 
heiten gründlichst  zu  beseitigen.  Wer  nach  dem  alten  Massstabe 
von  Recht,  Ehre,  Gewissen  &c.  sich  die  Beurtheilung  einer  prakti- 
schen bezw.  politischen  Frage  erlauben  wollte,  wurde  hohnlachend 
mit  dem  Bescheide  abgefertigt,  dass  er  < nichts  vom  Geschäft»  ver- 
stände. Die  c Kraftstoffelei»,  wie  J.  Sehen*  diesen  Zeitbann  getauft 
hat,  sollte  eben  freies  Feld  haben,  um  die  Spitzluhrung  auf  dem 
darwinistischen  Entmenschlichungswege  gewinnen  und  über  die  Hart- 
mannsche  Duselbrücke  des  Unbewussten  hinüber  zur  Alleinherr- 
schaft sich  durchschlagen  zu  können.  Den  Mannesmuth  offenen 
Widerspruches  und  entschiedenen  Thatwiderstandes  bewährte  nur 
Rom,  und  hierdurch,  und  durch  sonst  nichts,  hat  Rom  sich  wieder 
die  Stellung  einer  Weltmacht  erzwungen  und  zum  Schaden  für 
den  Staat  den  Vortheil  einer  begehrenswerthen  Schutzautorität  er- 
rungen. Diesen  Vortheil  hätte  der  moderne  Staat  ohne  Mühe  und 
auf  würdigerem  Wege  für  sich  eingeheimst,  wenn  er  Politik  und 
sittliche  Weltordnung  nicht  zu  trennen  und  zu  knechten,  sondern 
zur  höheren  Einheit  einer Ueberzeugungsmacht 
zu  bringen  als  seine  Aufgabe  erkannt  hätte.  Der  Staat  handelte 
und  feilschte  mit  den  Sehreiern  auf  dem  Weltmarkte,  aber  die 
Volksseele  lebt  und  webt  nicht  hier  und  wandte  sich  von  dem 
Staate  ab,  der  ihr  kein  Patronat'  entgegenbrachte. 

•  Wie  wenig  in  Deutschland  -  und  nur  Deutschland  haben  wir  liier  aus- 
schließlich im  Auge  -  hierfür  noch  z.  Z.  ein  allgemeinere*  Verständnis  vor 
banden  ist,  hat  die  abfällige  Aufnahme  des  v.  H  a  in  ni  ersteh»  sehen  An- 
trages hell  ins  Licht  gestellt.  Um  Haupteslänge  überragt  v.  Hammerstein  und 
sein  Kreis  die  Zeitgenossen.  Was  sein  <>ei>tesblick  klar  erschaut,  erscheint  seinen 
Zeitgenossen  noch  als  ein  mit  sieben  Siegeln  verschlossenes  (icheimnis,  die  Wahr- 
heit, dass  der  Mechanismus  des  staatlichen  Bureaukratismus  nimmermehr  die 
Zwangsjacke  für  die  Volksseele  abgeben  darf.  Diese  will  mit  ihren  besten  Be- 
strebungen in  lebendigen  Herzen  pulsiren  und  nicht  in  Schablonenherzen  ersterben 
oder  galvanisirt  werden.  —  Es  ist  die  reine  Sclbstironisirung,  wenn  die  «Kolu. 
Ztg  »  unlängst  in  ihrer  moralisireuden  Auslassung  zur  Zeitlage  auch  den  Mangel 
des  Volksvt  rstandnisses  für  die  sittliche  W  e  1 1 <»  r  d  n  u  n  g  beklagt  —  diese 
Zeitung,  welche  in  den  letzten  Jahrzehnten  mit  dem  höheren  Tone  einer  mass- 
gebenden Instanz  stets  nnr  für  die  universelle  O  i  1 1  i  g  k  e  i  t  der  Real- 
politik einzutreten  sich  beflissen  hat,  wenn  nach  dem  Volksbewusstseiu  gerade 
Dinge  der  sittlichen  Weltordnung  und  deren  Interessen  im  Gegensätze  zur  Real- 
politik in  Frage  kamen.  D  a  s  S  p  a  u  n  u  u  g  s  v  e  r  m  ü  gen  des  sittlichen 
V  o  1  k  s  b  e  w  u  s  s  t  s  e  i  n  s  hat  nicht  »1  i  e  im  v  e  r  w  ü  s  t  1  i  c  he  Dauer- 
kraft,  für  eine  rücksichtslose  Handhabung  Dienste  ohne 
E  u  d  e  zu  1  e  i  s  t  e  n.  Wo  Wind  besäet  wird,  kann  keine  Verwunderung 
herrschen,  dass  Sturm  die  Einte  ist. 


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Die  Eigenthumsfrage  der  Neuzeit. 


113 


Wir  wenden  uns  nun  zur  zweiten  und  dritten  These,  nachdem 
wir  der  ersten  verhältnismassig  mehr  Raum  gewährt  haben,  als 
wir  für  den  ganzen  Rest  unserer  Arbeit  übrig  haben.  Der  Gegen- 
stand der  ersten  These  richtet  sich  auf  bekannte  Thatsachen  und 
gewährte  daher  unserer  besonderen  Behandlung  oder  Beleuchtung 
die  annähernde  Möglichkeit  einer  gewissen  Erschöpfung,  wenigstens 
für  unseren  Specialzweck.  Ueberdies  war  diese  Seite  unserer 
Arbeit,  die  zunächst  nicht  dociren,  sondern  consultiren  will,  in 
demselben  Masse  die  wichtigere,  wie  etwa  bei  jedem  vorzunehmen- 
den Heilverfahren  die  Vorerlediguug  der  Diagnose  entscheidend 
für  das  weitere  Verfahren  ist.  Hingegen  im  Nachfolgenden  handelt 
es  sich  um  neue  Gesichtspunkte  einer  kaum  erst  entstehenden 
Wissenschaft.  Von  einer  Erschöpfung  kann  hier  also  auch  nicht 
annähernd  die  Rede  sein.  Wii  können  hier  nur  in  rein  aprioristi- 
scher  Weise  einzelne  Gesichtspunkte  und  deren  Consequenzen  be- 
leuchten. Alles,  was  wissenschaftliche  Begründung  und  Entwicke- 
lung  heisst ,  muss  der  Specialwissenschaft  der  Sociologie  über- 
lassen werden. 

Wir  wenden  uns  kurz  zur  Sache,  um  sie  möglichst  kurz  zu 
fassen.  Was  man  zum  Zweck  allgemeinste!'  Bezeichnung  in  ge- 
läufiger Redeweise  etwa  «gesunde  sociale  Ent\vickelung>  nennen 
würde,  haben  wir  sociologisch  als  die  ebenso  spontane  wie  an- 
dauernde Eigen  kraft  eines  Natur-  und  Culturprocesses  bestimmt. 

Die  Spontaneität  führen  wir  zunächst  auf  einen  Satz  zurück, 
der  wol  von  keiner  Seite,  ausgenommen  die  socialistische,  bean- 
standet wird:  das  nationale  Leben  pulsirt  in  den 
Individuen  und  die  individuelle  Sphäre  be- 
hauptet darum  im  socialen  Entwickelungs- 
process  eine  centrale  Stellung  gegenüber  Ge- 
sellschaft und  Staat,  Dieses  sociologische  Gegenüber  ist 
aber  kein  feindlicher  Gegensatz,  sondern  nur  für  die  principielle 
Würdigung  begrifflich  festzuhalten.  Dieses  Gegenüber  soll  der 
individuellen  Sphäre  nur  jenen  Grad  der  Selbständigkeit  sicher- 
stellen, der  erforderlich  ist,  um  die  Individuen  zu  entsprechenden 
Medien  des  pulsirenden  Lebens  in  Gesellschaft  und  Staat  zu 
machen. 

Wie  werden  nun  die  Individuen  zu  solchen  Medien  ?  Auch 
in  diesem  Stück  gehen  wir  auf  eine  Wahrheit  zurück,  die  kaum 
von  einer  Seite  bestritten  werden  könnte.  Jedes  Indivi- 
duum hat  eine  natürlich  an  geborene  Doppel- 

8* 


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I 


114  Die  Eigenthumsfrage  der  Neuzeit. 

seitigkeit1  der  Menschennatur  an  sich:  eine 
specielle  Individualseite  und  eine  allgemeine 
Gattungsseite.  So  lange  diese  Doppelseitigkeit  im  latenten 
Zustande  einer  inneren  Seinsnatur  verharrt,  ohne  die  selbstwirkende 
Ursache  zur  entsprechenden  Wirkuug  einer  äusseren  Daseinserschei- 
nung zu  werden,  wie  es  bei  deu  Wilden  nicht  dazu  kommt:  so 
lange  ist  *das  Individuum  nur  Mensch  schlechthin  oder  nur  der 
facultative,  aber  nicht  factische  Mensch,  nur  der  Natur-,  aber  nicht 
Culturmensch.  Letzterer  beginnt  erst  mit  dem  Äugenblicke,  wo  die 
Entwickelung  zur  Person  eintritt,  die  sich  Ich  nennt.  Der 
Wilde  kennt,  wie  das  unentwickelte  Kind,  kein  Ich.  Die  Ent- 
wickelung zur  Person  entspinnt  sich  aus  dem  bewussten  Streben 
des  Menschen,  seine  individuelle  Eigenart  innerhalb  der  Gattung 
zur  Erzielung  persönlicher  Selbständigkeit  geltend 
zu  machen,  um  die  volle  Menschenwürde  zu  erlangen. 

Dieses  Streben  wird  zunächst  instinctiv  in  Folge  der  ange- 
borenen Gattungsnatur  nicht  das  Gattungsband  sprengen,  sondern 
einen  Accomodationszug  erzeugen,  welcher  bald  eine  Wechselseitig- 
keit von  Individuum  und  Gattung  nach  sich  ziehen  muss.  Wo 
Wechselseitigkeit  ist,  macht  sich  auch  das  Reibungsgesetz  geltend, 
und  wenn  der  Mensch,  in  bewusster  Weise  zum  Zwecke  der  Selbst- 
behauptung, in  dieser  Wechselseitigkeit  zunächst  das  Gleichgewicht 
seiner  Individual-  und  Gattungsnatur  herzustellen  und  aufrecht  zu 
erhalten  strebt,  so  bildet  er  sich  vom  Individuum  zur  selb- 
ständigen Persönlichkeit  heraus,  zum  Ohara  k  t  er,  der 
ebenso  wenig  sich  selbst  in  der  Gattung  verliert,  wie  er  diese  verliert. 

Wie  wird  sodann  die  aus  Personen  gebildete  individuelle 
Sphäre  zu  jenem  sociologischen  Gegenüber  der  Gesellschaft,  welches 
nicht  einen  feindlichen  Gegensatz,  sondern  ein  Einheitsband  abgiebt? 
was  wir  gleichfalls  oben  sagten. 

Der  ßeweissatz  hierfür  bietet  sich  in  einer  naheliegenden 
Schlussfolgerung  aus  dem  Vorhergehenden  und  dürfte  gleichfalls 
von  keiner  Seite  als  hinfällig  zu  beanstanden  sein.  Erst  die  zu 
Personen  sich  herausbildenden  Individuen  sind 


1  Vgl.  unsere  Schrift  «Princip  der  politischen  Gleichberechtigung»  S.  26. 
Bezüglich  der  weiteren  Entwickelung  über  da»  Gleich  wie  alle  nnd  das  Auders- 
als-alle,  oder  das  mikrokosiuische  Princip  der  Dil  ego-petcmliac  fugendi,  können 
wir  nur  anf  das  ganze  Cap.  « N'aturrecht»  im  Zusammenhange  mit  dem  nächsten 
verweisen.  Im  letzten  Grunde  müssten  wir  hinsichtlich  dienlicher  Orientirung 
zur  behaudelten  Materie  auf  sämmtliehe  unsere  Sehrifteii  hinweiseu. 


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Die  Eigenthumsfrage  der  Neuzeit.  1 15 

• 

eines  persönlichen  Verhältnisses  unter  einander 
bezw.  mit  anderen  Individuen  nicht  nur  fähig, 
sondern  auch  bedürftig,  und  dieses  Bedürfnis 
lässt  aus  der  Gattung  oder  doch  innerhalb  der- 
selben dieGesellschaft  entstehen.  Schon  der  Volks- 
mund nennt  darum  den  Menschen  ein  geselliges  Thier,  d.h.  ein  Wesen, 
welches,  einem  Naturzuge  folgend,  auf  dem  Wege  der  Geselligkeit, 
vulgo  Gemüthlichkeit,  sein  Dasein  zum  Wohlsein  zu  gestalten  sucht. 

Unter  den  Wilden  giebt  es  keine  Gesellschaft,  weil  die  Indi- 
viduen iunerhalb  der  Gattung  nicht  zu  Personen  werden.  Darum 
schafft  auch  europäische  Oolonisationscultur  dort  keine  genuine 
Gesellschaft  von  Eingeborenen,  sondern  macht  sie  aussterben  oder 
absorbirt  sie  mittelst  Amalgamirung  mit  den  Einwanderern.  Diese 
meist  auffällig  genannte  Erscheinung  findet  vom  sociologischen  Ge- 
sichtspunkte die  einfachste  Erklärung  und  erhärtet  sich  als  That- 
beweis  für  dessen  Richtigkeit.  Die  europäische  Oolonisationscultur 
geht  den  naturwidrigen  Weg,  mittelst  aprioristischer  Organisations- 
versuche an  der  Gattung  sich  die  Individuen  näher  bringen  zu 
wollen,  anstatt  vom  anderen,  gleichsam  spitzen  Ende  durch  die 
Individuen  auf  die  Gattung  zum  Zweck  ihrer  gesellschaftlichen 
Selbstverschmelzung  a  insteriori  zu  wirken.  Die  Oolonisations- 
cultur bedarf  eben  deshalb,  wie  jetzt  auch  von  kirchenfeindlicher 
Seite  schon  zugestanden  wird,  mitwirkender  Missionsthätigkeit, 
welche  umgekehrt,  bezw.  auf  naturgemässem  Wege,  verfährt.  Die 
Mission  macht  die  Individuen  zuerst  zu  anderen  Menschen  und 
bildet  sie  durch  den  inneren  Process  ihrer  Verpersönlichung  (mittel- 
barer Zweck  des  Christenthums)  zu  gesellschaftlichen  Cuiturträgern 
ihrer  Gattung  heran. 

In  unserer  überlebten  Culturwelt  löst  sich  wiederum,  unter 
demselben  Walten  innerer  Notwendigkeiten,  der  gesellschaftliche 
Verband  und  es  erzeugen  sich  die  socialen  Schäden,  sobald  die 
Individuen,  in  Folge  entschwundener  oder  verachteter  Gattungs- 
natur, sich  der  Selbstsucht  ohne  Phrase  anheimzugeben  beginnen, 
dem  sogenannten  t vernünftigen  Egoismus»,  welcher  innerhalb  des 
persönlichen  Interessenkreises  nur  das  eigene  Ich  kennt  und  für 
die  Gattung  nur  noch  sachliche  Gesichtspunkte  hinsichtlich  mög- 
lichster Aussaugung  derselben  übrig  hat.  Hier  beginnt  der  Rück- 
fall in  Uncultur  und  erzeugt  sich  der  Kampf  ums  Dasein  in  der 
Gesellschaft,  welche  wie  ein  gestrandetes  Schiff  dem  eigenen  Schick- 
sale überlassen  wird. 


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116 


Die  Eigenthumsfrage  der  Neuzeit. 


Wie  kommt  es  endlich  zu  jenem  sociologischen  Gegeuüber 
dem  Staat  seitens  der  individuellen  Sphäre?  was  wir  gleichfalls 
oben  behaupteten. 

Der  Beweissatz  hierfür  dürfte  an  dieser  Stelle,  wo  uns  der 
Raum  zu  einer  eingehenden  analytischen  Eutwickelung  abgeht,  in 
ersichtlichster  und  kürzester  Weise  a  posteriori  zu  liefern  sein. 
Schon  von  Puchta«  und  anderen  Autoritäten  vor  und  nach  ihm 
ist  die  Wahrheit  erkannt  worden,  dass  die  Völker  mit  dem  Ver- 
schwinden des  nationalen  Gattungstypus  auch  die  Kraft  des  gesell- 
schaftlichen Verbandes  einbüssen  und  unter  den  Folgen  dieser 
Doppelwirkung  dem  politischen  Untergange  anheimfallen,  bezw.  den 
selbständigen  Staatsbestand  verlieren.  Diese  Wahrheit  kann  jetzt 
schon  als  ein  soeiologisches  Axiom  angesehen  werden,  welches  u.  a. 
auch  von  der  neuzeitigen  Erscheinung  erhärtet  wird,  dass  der 
vaterlandslose  Socialismus  sich  gegen  die  Grundbedingungen  der 
Gesellschaft:  Ehe  und  Eigenthum,  richtet,  mithin  durch  die  Tendenz 
dieser  doppelten  Negation  von  Vaterland  und  Gesellschaft  histo- 
rischen Styles  gleichfalls  deren  natürliche  Verbundenheit  bestätigt. 
Es  dürfte  sich  demnach  die  Folgerung  rechtfertigen  lassen:  Das 
blos  weltbürgerliche  Menschheitsband  erweist  sich  als  eine  viel  zu 
weite  Peripherie  centriCugalen  Charakters  für  den  Interessenkreis 
der  Individualsphäre,  um  der  centripetalen  Spannkraft  der  letzteren 
noch  die  Wirkung  einer  Vergesellschaftung  der  Gattung  zu  er- 
möglichen. Auf  Grund  dessen  sagen  wir  denn:  Die  Verge- 
sellschaftung d  e  r  Gattung,  welche  mit  ihrer 
T  heilein  h  eit,  dem  Individuum,  beginnt,  m  u  s  s 
mit  dem  Umfange  der  Gattung  sich  a  b  s  c  h  1  i  e  s  se  n , 
um  nach  innen  und  aussen  ein  Ganzes  zu  bilden 
—  dieses  Ganze  nennt  der  Sprach  gebrauch: 
Staat.  Die  zur  Vergesellschaftung  der  Gattung  erforderliche 
Spannkraft  der  Individualsphäre  geht  nicht  über  die  Grenzen  ihrer 
Gattung  hinaus  und  fordert  darum  die  Fixirung  dieser  Grenzen 
durch  den  geschlossenen  Staat,  um  unter  seiner  Beihilfe,  mittelst 
einer  gleichsam  reflexiven  Rückwirkung  desselben,  ihre  cultur- 
geschichtliche  Aufgabe  zum  Wohle  des  Einzelnen,  der  Gesellschaft 
und  des  Staates  lösen  zu  können.    Das  sociologische  Gegenüber 

1  rurhta,  'Hendl,  d,  rOm.  Rechts  T.  Tbl.  8.  353,  5.  Aufl.  -  Fichte.  «Reden 
an  die  deutsche  Nation*.  Herl.  Ausg.  S.  9  u.  128 f  —  Herbert  Spencer,  <  Eiuleit. 
in  das  Studiuni  der  Sociolugie»,  deutsch  von  Marqunrdseii,  II.  Tbl.  S.  92  n.  99; 

des*.  «Soziologie»  I.  Tbl.  S.  17  f. 


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Die  Eigenthumsfrage  der  Neuzeit. 


117 


von  Individuen  und  Staat  liegt  nicht  in  einer  trennenden,  sondern 
in  einer  einenden  Wechselseitigkeit. 

Wenden  wir  uns  nun  zum  Ausgangspunkte  dieser  wegen 
Raummangels  liier  nicht  weiter  auszudehnenden  Deductionen,  um 
in  gedrängter  dialektischer  Zusammenfassung  den  syl logistischen 
Faden  hervortreten  zu  lassen,  welchen  der  systematische  Denker 
behufs  Anerkennung  unserer  sociologischen  Schlusssätze  fordern 
kann,  so  bitten  wir  alle  übrigen  Interessenten,  welche  bova  fide 
das  Resultat  entgegennehmen  wollen,  sogleich  zu  diesem  überzugeben 
und  die  vorstehende  Periode  sich  selbst,  bezw.  den  Systematikern, 
zu  überlassen. 

Die  zur  gesundeu  socialen  Entwicklung  erforderliche  Sponta- 
neität des  betreffenden  Natur-  und  Culturprocesses  beruht  einerseits 
auf  der  Individualsphäre,  sofern  deren  centripetale  Spannkraft  zur 
Vergesellschaftung  der  Gattung  ihre  natürlich  fliessende 
Quelle  in  den  Individuen,  bezw.  in  deren  sich  gegenseitig  be- 
dingenden Gattungs-  und  Individualnatur,  d.  h.  in  deren  V  erper- 
sönlich ung,  besitzt ;  und  beruht  andererseits  auf  der  periphe- 
rischen Staatssphäre,  sofern  deren  centrifugale  Spannkraft  in  der 
Gesellschaft  die  c  u  1  t  u  r  e  1  1  e  n  Hebelkräfte  wirken 
macht,  welche  jene  natürliche  Quelle  nicht  versiegen  lassen  und 
welche  die  Verpersönlichung  der  Individuen  weder  zur  selbstsüchti- 
gen Trennung  von  der  Gattung  ausarten,  noch  in  einer  Majorisi- 
rung  durch  die  Gattung  untergehen  lassen. 

Das  hieraus  folgende  Schlussresultat,  welches  in  unserem  Sinne 
ein  massgebendes  Gefüge  sociologi scher  Principe  abgiebt,  spricht 
sich  in  dem  Kettensatze  aus: 

Aus  der  Verpersönlichung  der  Individuen  geht  die  Vergesell- 
schaftung der  Gattung  hervor; 

Aus  der  Vergesellschaftung  der  Gattung  entwickelt  sich 
der  Staat : 

Seinen  naturgemässen  Bestand  stellt  der  Staat  sicher  und 
sorgt  für  sein  Gedeihen,  wenn  er  die  Verpersönlichung  der  Indi- 
viduen sich  angelegen  sein  lässt,  um  eine  normale  Vergesellschaf- 
tung der  Gattung  in  Flnss  zu  erhalten,  worin  seine  vitalen  Existenz- 
bedingungen beruhen : 

Die  vom  menschlichen  Wjllen  geförderte  oder  behinderte  Dauer- 
wirkung dieses  sociologischen  Kraftumlaufes  im  Volks-  und  Staats- 
organismus nennen  wir,  nach  unserer  dritten  These,  die  sociolo- 
gische  Vitalität,  welche  allein  die  organische  Einheit  von  Volk 


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I 


118  Die  Eigenthumsfrage  der  Neuzeit. 

und  Staat  zu  Stande  bringen  kann,  und  —  nur  dieser  Einheits- 
stand ist  Erhalter  und  Mehrer  des  Reichs. 

Zur  Verdeutlichung  dieses  sociologischen  Umlaufes  im  Volks- 
und Staatsorganismus  bietet  der  Blutumlauf  im  menschlichen  Leibes- 
organismus eine  recht  zutreffende  Analogie.  Das  vom  Herzen 
durch  die  Arterien  in  das  Lympfsystem  getriebene  und  von  hier 
durch  die  Venen  ins  Herz  zurückgeleitete  Blut  spiegelt  den  socialen 
Entwickel  ungslauf  wieder,  in  welchem  die  centrale  Bedeutung  des 
Herzens  von  der  Individualsphäre  behauptet  wird.  Hier  bedingen 
die  Beziehungen  zur  Gattung  auch  ein  Hin  und  Zurück  von  Aus- 
sichheraustreten  und  Sichsammeln,  und  die  Verpersönlichung,  ge- 
wöhnlich Energie  des  Charakters  genannt,  muss  die  Herzkammer- 
rolle spielen,  damit  das  Gleichgewicht  erhalten  wird.  Die  unend- 
lich feine  Verzweigung  dieser  Beziehungen  findet  ihr  Gegenbild  an 
der  unendlich  feinen  Verästelung  der  Blutgefässe  im  Lympfsysteme. 
Dieses  spiegelt  die  Gesellschaftssphäre  ab,  während  die  im  Leibes- 
Organismus  sich  vollziehende  Mitwirkung  des  Nervensystems  als 
Rolle  der  Staatssphäre  zu  bezeichnen  wäre.  Selbstverständlich 
lässt  sich  diese  Analogie  nicht  pressen  ;         simile  Claudicat. 

C. 

Indem  wir  uns  nun  den  in  Vorschlag  zu  bringenden  prakti- 
schen Massnahmen  des  Staates  zuwenden,  nachdem  wir  (vergl. 
Schluss  .des  A-Abschnitts)  die  Nothwendigkeit  einer  principiellen 
Stellungnahme  desselben  und  die  Art  ihrer  Verwirklichung  be- 
leuchtet haben,  werden  wir  als  leitenden  Grundgedanken  für  die 
Staatspraxis  auf  socialreformatorischem  Wege  vor  allem  einen  Ge- 
sichtspunkt hervorzuheben  haben,  welcher  sich  als  eine  Folgerung 
allgemeinster  Art  aus  vorgenanntem  Kettensatze  ergiebt. 

Dieser  sociologische  Gesichtspunkt  ist  die  ausschliess- 
liche Mittelbarkeit  aller  socialreformatori- 
schenMassnahmen  des  Staates;  nicht  die  Gesellschafts- 
sphäre, sondern  die  Individualsphäre  ist  das  Operationsgebiet  — 
das  unmittelbare  Eingreifen  in  die  Gesellschaftssphäre  auf  dem 
Gewaltwege  der  Majorisirung  ist  sozialistische  Mache, 
dagegen  das  mittelbare  Einwirken  auf  die  Gesellschaftssphäre  durch 
Patronisirung  der  Individualsphäre  seitens  des  Staates  ist  socio- 
logische Organisation. 

Wie  diametral  dieser  Gegensatz  zwischen  socialistischer  Mache 
und  sociologischer  Organisation  durch  und  durch  ist,  sei  hier  zuvor 


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t  w  ' 


Die  Eigenthumsfrage  der  Neuzeit.  119 

noch  berührt,  bevor  wir  weiter  gehen.  Die  Bahn  rauss  behufs  Be- 
seitigung aller  Misverständlichkeiten  möglichst  frei  gelegt  werden. 
Die  mittelbare  Einwirkung,  welche  die  Sociologie  auf  die  Gesell- 
schaft erstrebt,  gipfelt  in  drei  Stücken :  Verpersönlichung 
des  Individuums,  Vergesellschaftung  der  Gat- 
tung und  Verstaatlichung  der  Gesellschaft.  Die 
unmittelbare  Vergewaltigung,  welche  der  Socialismus  an  der  Gesell- 
schaft verübeu  will,  gipfelt  in  drei  Stücken  :  Entpersönlichung 
des  Individuums,  Entnationalisirung  der  Gat- 
tung und  Entstaatlichung  der  Gesellschaft. 
Die  aufsteigende  Linie  des  comparativen  <Ver»  auf  Seiten  der 
Sociologie  und  die  absteigende  Linie  des  diminutiven  «Ent»  auf 
Seiten  des  Socialismus  stehen  sich  eben  gegenüber  wie  Position  und 
Negation,  und  das  letzte  Ende  ist  dort  Positivismus,  hier  Nihilis- 
mus oder,  wie  Proudhon  treffend  sagt:  Ekel  der  Arbeit, 
Hass  des  Lebens,  Versiegen  des  Denkens, 
Tod  des  Ich. 

Ausserhalb  Deutschlands  hat  man  an  massgebender  Stelle' 
die  anarchische  Natur  des  Socialismus  auch  schon  seit  einiger  Zeit 
vollkommen  durchschaut  und  den  Socialismus  in  jeder  Gestalt,  zu- 
sammen mit  dem  Nihilismus,  als  anarchischen  Anlauf  gegen  den 
monarchischen  Staat  ins  Auge  gefasst,  um  dagegen  vorzugehen. 
In  Deutschland  haben  die  von  den  Kathedersocialisten  geleisteten 
Ungeheuerlichkeiten  in  Begriffsmengerei,  unter  Beihilfe  der  secundi- 
renden  Ausgeburten  einer  Philosophie  des  ünbewussten,  den  Boden 
einer  nüchternen  Stellungnahme  so  gründlich  unterwühlt,  dass 
namentlich  die  befangene  ältere  Generation  noch  keinen  festen  Fuss 
fassen  konnte.  Der  öde  Bann  des  negativen  Kriticismus  hat  eben 
am  deutschen  Geistesmark  gar  zu  lange  seine  auszehrende  Wirkung 
geübt.  Diese  Generation  gleicht  in  ihrem  Geisteshabitus  der.  armen 
Hektischen,  die  ungeachtet  ihres  Heisshungers  nicht  mehr  aufkommen 

1  Ohne  uns  auf  nähere  Detail»  einlassen  zu  können,  glauben  wir  doch  im 
Interesse  aller  wurmen  Interessenten  die  Bemerkung  nicht  unterdrücken  zu  dürfen, 
das  unser  Wort  nicht  das  erste  ist,  welches  sich  gegen  die  anarchische  Spitze 
des  Socialismus  wendet.  Die  Ehre,  zuerst  an  maßgebendster  Stelle  im  In-  und 
Auslände  zur  Klärnug  der  wichtigen  Gesichtspunkt«:  das  Won  geführt  und  hier- 
durch die  erste  Vorarbeit  für  unumgängliche  Massnahmen  gegen  den  Anarchismus 
ins  Werk  gesetzt  zu  haben,  gebührt,  so  weit  wir  unterrichtet  siud,  dem  Dr. 
v.  Martens,  Professor  und  ständiges  Mitglied  des  K.  Rus«.  Ministerconseils 
des  Auswärtigen.  Sein  Name  ist  seinerzeit  von  einigen  Organen  der  deutschen 
Presse  flüchtig  genannt  worden. 


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120 


Die  Eigentliumsfrage  der  Neuzeit. 


können.  Aber  es  wächst  eine  neue  Generation1  heran  mit  einem 
gesunderen  Unterscheidungsvermögen  für  Wahrheit  und  Unvernunft. 
So  viel  hierüber  zum  Zweck  späterer  Bezugnahme. 

Richten  wir  nun  von  jenem  allgemeinen  Gesichtspunkte  aus 
unseren  Blick  auf  die  specielle  Eigenthumsfrage,  so  werden  wir 
auf  Grund  des  vorgenannten  Kettensatzes  zunächst  zwei  Grund- 
sätze in  den  Vordergrund  rücken  müssen. 

Wenn  der  Staat  seine  Unentbehrlichkeit  jedem  Staatsbürger 
nahe  legen  will,  so  hat  er  vor  allem  die  individuelle  Seite 
des  Eigenthums  ins  Auge  zu  fassen  und  diese  Seite  so  zu 
regeln,  dass  die  sociale  Seite  des  Eigenthums  eine  mittelbare  Be- 
gleichung als  Folgewirkung  jener  Regelung  erhält. 

Die  Regelung  der  individuellen  Seite  des  Eigenthums  hat  sich 
nicht  unmittelbar  an  dem  Besitz  von  Eigenthum,  sondern  a  n 
dem  Erwerb  von  Eigenthum  zu  vollziehen. 

Wenn  es  die  Verpeisönlichung  der  Individuen  ist,  welche  die 
Vergesellschaftung  der  Gattung  bewirkt  und  diese  zur  Grundlage 
des  Staates  macht,  so  hat  der  Staat  sein  persönliches  Interesse  an 
der  Verpeisönlichung  der  Individuen  auch  zu  einem  gleichen  Inter- 
esse für  jedes  einzelne  Individuum  zu  machen.  Dieses  Interesse 
ist,  wie  bereits  gezeigt,  mit  der  Doppelseitigkeit  menschlicher  Natur- 
anlage freilich  jedem  Individuum  schon  bis  zu  dem  Grade  eines 
gewissen  Bedürfnisses  angeboren.  Jeder  Mensch  will  innerhalb 
seiner  Gattuug  nicht  nur  den  anderen  Gliedern  gleich  sein,  sondern 
auch  seine  Eigenart  behaupten  ;  will  nicht  nur  der  Gattung,  sondern 
auch  sich  selbst  angehören  ;  will  Person  sein,  und,  weil  er  das 
nicht  unter  Larven  sein  kann,  die  Vergesellschaftung  der  Gattung 
mit  ihren  weiteren  Folgen.  Aber  dieses  natürliche  Bedürfnis  des 
Individuums  nach  cultureller  Entwickelung  bis  zum  Abschluss  staat- 
licher Ausgestaltung  ist  zunächst  nur  ein  instinctiver  Zug,  dessen 
Spannkraft  den  Ansprüchen  der  Neuzeit  nicht  mehr  gewachsen  ist. 

1  Die  seit  den  siebziger  Jahren  ins  Leben  getretenen  Vereint  deutscher 
Studenten  auf  den  meisten  Universitäten  Deutschland*  verfolgen  den  positiven 
Zwerk,  auf  Grundlage  sittlicher  Wahrheiten  und  realer  Sachliebkeit  eine  gesunde 
Stellungnabme  für  Vaterland  und  Monarchie  zu  gewinnen.  So  lange  die  akade- 
mische Jugend  mit  diesen  Bestrebungen  sieb  allein  überlassen  bleibt,  kann  von 
einer  rationellen  Losung  der  Frage  selbstverständlich  nicht  die  Rede  sein.  Aber 
das  unentwegt«'  Festhalten  an  der  guten  Absiebt  kann  nicht  genug  anerkannt 
werden.  Namentlich  mochten  wir  in  dieser  Hinsicht  die  betreffenden  Vereine  in 
Berlin,  Leipzig  und  Heidelberg,  in  Berlin  auch  den  Verein  der  technischen  Hoch- 
schule hervorheben. 


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Die  Bigenthurasfr&ge  der  Neuzeit. 

* 


121 


Derselbe  kann  allerdings,  wie  Entstehung  und  Existenz  der  alten 
Culturstaaten  beweist,  uuter  günstigen  Umständen  bis  zu  einer  ge- 
wissen Persönlichkeitsentwickelung  der  Individuen  und  hierdurch  zur 
Vergesellschaftung  der  Gattung  mit  nachfolgender  Staatsverfassung 
führen,  sowie  auch  letztere  bei  einmal  eingetretenem  Umlaufe  aller 
mitwirkenden  Kräfte  bis  zu  einem  gewissen  Höhepunkte  gelangen 
lassen.  Das  Princip  des  Persönlichen  kommt  aber  mit  seiner 
instinctiven  Zugkraft  zur  Assimilation  von  Volk  und  Staat  nicht 
über  einen  Punkt  hinaus ;  entweder  bleibt  eine  Lockerheit,  die  bei 
jedem  Zufall  unversehens  die  Gefahr  des  Umsturzes  herbeiführt 
oder  es  entsteht  der  Stabilismus  der  Verknöcherung.  Es  ist  das- 
selbe Princip  des  Persönlichen,  welches  die  alten  Culturvölker 
ihren  Gattungstypus  peinlichst  hüten  und  u.  a.  die  chinesische 
Mauer  entstehen  Hess. 

Namentlich  lässt  das  Geschick  des  römischen  Weltreiches 
deutlichst  erkennen,  welche  Rolle  das  Princip  des  Persönlichen  im 
Entwickelungsgange  der  Völker  und  Staaten  spielt.  In  dem  jtis 
civile  hatte  der  römische  Staat  seinerzeit  seinen  Bürgern  einen 
rationellen  Boden  zur  Stellung  ganzer  Charaktermänner  geschaffen 
und  dadurch  seine  Grundvesten  verkittet,  wie  es  kein  anderer  Staat 
verstand.  Und  darum  wurde  aus  kleinen  Anfängen  ein  gewaltiges 
Ganze.  Das  Bewusstsein :  civis  rmwmts  suwt  hielt  die  Gattung 
und  den  Staat  zusammen,  und  führte  zur  Weltherrschaft,  so  lange 
das  Bewusstsein  des  Staatsbürgerthums  vollkommen  noch  den  per- 
sönlichen Interessenkreis  der  Staatsbürger  ausfüllte. 

Aber  schon  das  jus  gentium  sprengte  mit  der  Zeit  die  Ge- 
schlossenheit dieses  Kreises,  und  das  Bewusstsein :  civis  romamis 
sunt  erschöpfte  nicht  mehr  das  Se  1  bs  t  b e  w  u  s  s  t  s  e  i  n  ,  in  welchem 
das  Terenzianische  Bewusstsein  :  homo  sum,  humani  nihil  o  me 
alienum  puto,  gleichfalls  Raum  zu  fordern  begann.  Das  Christen- 
thum gar,  welches  das  Princip  des  Persönlichen  in  das  Wesen  der 
Gotteskindschaft  setzte  und  den  Staat  zu  einem  verschwindenden 
Punkt  im  Universalismus  des  Gottesreiches  erblassen  Hess,  machte 
es  vollends  unmöglich,  das  Selbstbewusstsein  sich  im  Staatsbürger- 
thum erschöpfeu  zu  lassen.  Die  Spannkraft  des  ßewusstseins : 
vhristiaims  sum,  überstrahlte  im  freudig  gelittenen,  sogar  gesuchten 
Foltertode  der  Märtyrer  jeden  patriotischen  Heroismus  an  Muth 
der  Hinopferuug  und  verrückte  den  ganzen  Schwerpunkt  des  per- 
sönlichen Selbstbewusstseins  aus  der  Staatssphäre  in  die  Individual- 
sphäre.    Es  begann  ein  Process,  der  die  persönliche  Stellungnahme 


122 


Die  Eigenthumsfrage  der  Neuzeit. 


auf  der  gesammten  Weltbühne  des  öffentlichen  Lebens  völlig  um- 
gestaltete und  nunmehr  die  Individualsphäre  zum  persönlichen 
Charaktergebiet  erhob1.  Das  Individuum  identificirte  sein  persön- 
liches Selbst  nicht  mehr  mit  dem  Staat  und  suchte  ihn  nicht  mehr 
um  seinetwillen,  sondern  der  Staat  musste  jetzt  seinerseits  suchend 
zu  den  Hilfsmitteln  von  panis  et  circenses  greifen,  um  für  sich 
Propaganda  zu  machen  uud  seine  Selbständigkeit  behaupten  zu 
können.  Das  Verhältnis  von  Individuum  und  Staat  hatte  sich  da- 
mit vollständig  umgekehrt,  und  das  römische  Reich,  welches  mit 
der  Weltmacht  des  Christenthums,  namentlich  mit  dessen  mittel- 
barem Zweck  der  Verpersönlichung  aller  Menschen  zu  Gottes- 
kindern, nicht  zu  rechnen  verstand,  bezw.  die  Sauerteigskraft  dieser 
auch  ins  äussere  politische  Leben  hineinschlagenden  Seite  nicht  begriff, 
musste  eben  deshalb  unrettbar  dem  Untergange  anheimfallen,  obschon 
es  Rechts-  und  Militärstaat  ersten  Ranges  aller  Zeiten  war  und  blieb. 

Es  kann  hier  nicht  unsere  Aufgabe  sein,  noch  weiter  auszu- 
führen, wie  das  Princip  des  Persönlichen,  neubelebt  vom  Christen- 
thum, seit  Anfang  unserer  Zeitrechnung  in  der  politischen  Ent- 
wicklungsgeschichte sich  geltend  machte ;  wie  es  die  treibende  Kraft 
zur  Ausgestaltung  der  Monarchien  wurde  und  die  christ- 
liche Majestät  des  Landes  hauptes  sammt  der  zur  Re- 
formationszeit sich  entwickelnden  Idee  von  dessen  Summepiscopat 
begründen  half;  wie  es  die  extensive  und  intensive  Spannung  der 
Individualsphäre  von  dem  durch  Ludwig  XIV.  vertretenen  Gesichts- 
punkt :  der  Staat  bin  ich,  bis  zu  dem  Fichteschen  Standpunkt : 
Ich  bin  Ich,  gelangen  liess ;  und  wie  viel  endlich  an  einem  befrie- 
digenden Ausmünden  dieses  weltgeschichtlichen  Processes  in  den 
vollendeten  apostolischen  Standpunkt:  <Von  Gottes  Gnaden  bin 
ich,  was  ich  bin,>  im  allgemeinen  noch  fehlt. 

Es  dürften  die  gegebenen  Andeutungen  genügen,  die  Knoten- 
punkte des  Fadens  erkennen  zu  lassen,  dessen  Ende  wir  mit  dem 
Satze  machen :  Das  Princip  des  Persönlichen  lässt 
nicht,  wie  Liberalismus  und  Socialismus 
mit  aprioristischen  Hypothesen  wähnen, 
den  Inbegriff  von  Menschenwürde  und  -  Wohl 

1  Hegel  —  Einleitung  ins  innere,  Staatsrecht  —  kommt  auf  anderem 
Deductionswege  zu  demselben  Resultat :  «In  den  alten  Staaten  war  der  Htibjective 
Zweck  mit  dem  Willen  des  Staates  schlechthin  eins,  in  den  modernen  Zeiten  da 
gegen  fordern  wir  eine  eigene  Ansicht,  ein  eigenes  Wollen  und  Gewissen  ;  die 
Alten  hatten  keins  in  diesem  Sinne ;  das  Letzte  war  ihnen  der  Staatawille.> 


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Die  Eigenthumsfrage  der  Neuzeit.  123 

in  Freiheit  and  Gleichheit  auslaufen,  sondern 
sich  zu  Selbständigkeit  des  sittlichen  Cha- 
rakters und  der  materiellen  Existenz  verdich- 
ten, wie  die  Sociologie  mit  entsprechender  Beweisführung  auf  dem 
rationellen  Wege  exacten  Forschens  darthnt. 

Freiheit  ist  ein  negativer',  Gleichheit  ein  formaler  Begriff. 
Beide  Begriffe  gewinnen  nur  eine  beziehungsseitige  Bedeutung,  wo 
eine  essentielle  Lebensrealität  vorhanden  ist ;  aber  sie  schaffen  nicht 
eine  solche,  ebenso  wenig  wie  Licht  und  Lutl  Leben  und  Bewegung 
schaffen,  sondern  nur  eine  fördernde  Mitwirkung  äussern,  wo  Lebens- 
energie vorhanden  ist,  während  sie  überall,  wo  letztere  schwindet, 
den  Zersetzungsprocess  der  Auflösung  nur  beschleunigen. 

Selbständigkeit  heisst  das  gesuchte  Wunderkraut, 
welches  nur  die  rechte  Bestellung  des  Volksbodens  verlangt,  um 
als  essentielle  Lebensrealität  empor  zu  wachsen  und  das  sociali- 
stische  Unkraut  im  Volksschosse  ersticken  zu  machen.  Fichte 
nennt1  in  seinen  c Reden  an  die  deutsche  Nation»  die  Selbständig- 
keit das  «Gesicht  aus  der  Geisterwelt».  Mit  dieser  Bestimmung 
in  umschreibender  Form  hat  er  allerdings  noch  nicht  eine  er- 
schöpfende Erklärung  und  Würdigung  der  ganzen  sachlichen  Trag- 
weite geboten,  aber  nichts  desto  weniger  eine  wesentliche  Seite  der 
individuell-ethischen  wie  volksphysiologischen  Bedeutung  an  der 
Selbständigkeit  schon  klar  gekennzeichnet.  Fichte  führt  die  Selb- 
ständigkeit auf  die  Geistessphäre  zurück,  welcher  das  massgebende 
Wort  gilt:  «der  Geist  macht  lebendig.»  Was  die  Gesundheit  für 
das  Leibesleben  ist,  das  ist  die  Selbständigkeit  für  das  Personen- 
leben :  Genügt,  huung  des  Menschendaseins  in 
seinen  Beziehungen  zum  Wohlsein.  Dieses  mit  der 
Selbständigkeit  zusammenfallende  Wohlsein  menschlicher  Vollkraft 
macht  das  menschliche  Dasein  erst  zu  einer  menschenwürdigen 
Existenz  und  ist  daher  Grund  wie  Ziel  aller  menschlichen  Ent- 
wickelung,  also  auch  der  socialen.  Nicht  die  vom  liberalistischen 
Mob  angejohlte  Freiheit  ist  es,  welche  der  dichterische  Genius  ver- 
herrlicht: «der  Mensch  ist  frei,  und  wär'  er  in  Ketten  geboren.» 


1  Der  berühmte  Rechtagelehrte  Savigny  ist,  wie  wir  an  anderer  Stelle 
hervorhoben,  der  erste  massgebende  Deutsche,  welcher  den  Mnth  gehabt  hat, 
dieses  Schosskind  der  Revolution  beim  rechten  Namen  zu  nennen.  Vgl.  dessen 
«Geschichte  de«  römischen  Rechts  im  Mittelalter».    I.  Bd.  S.  160. 

»  Vgl.  unsere  Schrift  «Sociologie  Ficht**»,  bes.  S.  191  ;  und  unsere  Schrift 
«Volksseele»,  bes.  S.  118  f.  nud  143  ff. 


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124  Die  Eigentimmsfrage  der  Neuzeit. 

Diese  Zuständigkeit,  die  auch  in  Ketten  nicht  unfrei  ist,  passt 
nicht  in  die  liberalistische  Schablone :  Freiheit,  hinein.  Die  Selb- 
ständigkeit ist  das  vom  Dichter  gepriesene  Lebensprincip.  dessen 
Wurzel  jeder  Mensch  in  seiner  selbständigen  Seele 
schon  mit  seiner  Geburt  als  Mitgift  in  die  Welt  bringt  und  nicht 
erst  von  ihr  zu  erhalten  braucht,  wie  des  Dichters  Geist  klar  er- 
schaut, ohne  dass  der  Mund  die  entsprechende  Bezeichnung  findet. 

Dieses  Lebensprincip  hat  darum  längst  vor  seiner  sociologi- 
schen  Begründung  schon  im  Kleinen  und  Grossen  die  treibende 
Kraft  zu  weltumgestaltenden  Social re formen  abgegeben  und  im  Laufe 
christlicher  Zeitrechnung  namentlich  die  Erhebung  des  Frauen- 
geschlechts aus  unwürdiger  Unterwürfigkeit  und  die  Abschaffung 
der  Sclaverei  herbeigeführt,  wofür  die  alte  Welt  kein  Verständnis 
besass,  weil  sie,  wie  gesagt,  für  das  Princip  des  Persönlichen  den 
Schwerpunkt  nicht  in  der  Individual-.  sondern  in  der  Staatssphäre 
suchte.  Für  die  aus  der  Selbständigkeit  keimende  Frucht  mensch- 
licher Vollkraft  hat  die  Volksseele  gleichfalls  schon  lange  ein  Ver- 
ständnis gehabt  und  durch  den  Sprachgebrauch  die  Bezeichnung 
Selbstbewusstsein  geschaffen.  Ohne  Selbstbewusstsein  ist 
Behauptung  der  Menschenwürde,  Entwickelung  zur  Charakterperson 
ein  Unding.  Erst  mit  dem  Selbstbewusstsein  gewinnt  der  Charakter 
jene  Elasticität,  welche  der  Körper  in  der  Vollkraft  der  Gesund- 
heit besitzt  und  welche,  in  entsprechender  Analogie  mit  dieser,  das 
Wohlsein  in  lebensvoller  Bethätigung  zum  Zwecke  persönlicher 
Selbstbefriedigung  sucht. 

Diese  Befriedigung  des  Selbstbewusstseins,  auch  in  den  be- 
scheidensten Grenzen  staatsbürgerlicher  Pflichterfüllung  als  eigene 
Person  unter  Personen  leben  zu  können,  sucht  jetzt  jedes  Indivi- 
duum im  modernen  Staat,  und  diese  Befriedigung  dadurch  zu  be- 
schaffen, dass  Staatshilfe  ergänzend  der  Unzulänglichkeit  indivi- 
dueller Eigenkraft  zur  Seite  tritt :  das  ist  die  Aufgabe,  welche  der 
Staat  wahrzunehmen  hat,  um  sich  allen  unentbehrlich  zu  machen. 
Der  Staat  gefährdet  nicht  seine  eigene  Selbständigkeit,  sondern 
begründet  sie  um  so  fester,  je  mehr  er  in  der  Individualsphäre  das 
Princip  des  Persönlichen  bis  zum  Reifepunkt  der  Selbständigkeit 
sich  ausgestalten  macht1.    Es  ist  geradezu  die  Erbsünde  der  alten 

1  Hegel  a.a.O.  sagt:  I>as  Individuum  muss  in  seiner  Pflichterfüllung 
auf  irgend  eine  Weise  zugleich  sein  eigene*  Interesse,  »eine  Befriedigung  oder 
Rechnung  linden,  und  ihm  aus  seinem  Verhältnis  im  Staat  ein  Recht  erwachsen, 
wodurch  die  allgemeine  Sache  seine  eigene  besondere  Sache  wird.    Das  hesmideie 


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Die  Eigenthumsfrage  der  Neuzeit, 


125 


Staatspolitik  zu  nennen,  dass  sie  in  der  individuellen  Selbständig- 
keit eine  Nebenbuhlerschaft  der  staatlichen  Selbständigkeit  fürchtete, 
anstatt  sie  als  zuverlässigste  und  auslänglichste  Bundesgenossen- 
schaft zu  pflegen. 

In  welcher  Art  wird  nun  die  Staatshilfe  der  Unzulänglich- 
keit individueller  Eigenkraft,  speciell  in  der  Erwerbssphäre  der 
Eigenthumsfrage,  zur  Seite  treten  ? 

Dass  es  das  Eigenthum  ist,  was  neben  inneren  Charakter- 
bedingungen die  wesentlichste  Voraussetzung  für  die  persönliche 
Selbständigkeit  des  Menschen  bildet,  bedarf  hier  als  längst  bekannte 
Sache  keiner  sociologischen  Erörterung.  Die  ethische  Beziehungs- 
seite ist  ausgemacht,  aber  an  der  sachlichen  Begrenzung  fehlt  noch 
viel.  Der  von  Fouillee  oben  angezogene  Ausspruch  Guizots  betont 
den  wichtigen  Gesichtspunkt,  dass  selbst  das  Recht  dem  nichts 
nützt,  der  nicht  die  Mittel  hat,  es  zu  benutzen.  Und  Fouillee 
selbst  beginnt  seine  Arbeit  damit,  dass  er  die  Bedeutung  des 
Eigenthums  im  Staatsorganismus  mit  dem  ßlutumlauf  im  Körper 
vergleicht  und  hiermit  den  nicht  minder  wichtigen  Gesichtspunkt 
betont,  wie  verhängnisvoll  Stauung  von  Eigenthum  hier  und  gänz- 
licher Mangel  nn  anderen  Stellen  für  den  Staat  selbst  werden  muss. 

Aber  die  Hauptsache  wird  in  der  Fouil Neschen  Arbeit  nicht 
berührt  und  die  dort  gezogenen  Consequenzen,  welche  mehr  oder 
weniger  sämmtlich  auf  die  Beseitigung  der  Ungleichheit  des  Eigen- 
thums hinauslaufen,  müssen  wir  völlig  verkehrt  nennen.  Fouillees 
eigener  Vergleich  lässt  sich  in  dieser  Hinsicht  gegen  ihn  verwenden. 
Das  Blutquantum  vertheilt  sich  durchaus  verschieden  in  den  ein- 
zelnen Gefässen,  und  diese  lassen  wiederum  den  einzelnen  Organen, 
in  durchaus  wechselnder  Weise  je  nach  der  grösseren  oder  geringeren 
Thätigkeit  derselben,  mehr  oder  weniger  Blut  zufliessen.  Auch  die 
Qualität  des  Blutes  ist  nicht  einmal  dieselbe,  eine  andere  in  den 
Arterien,  eine  andere  in  den  Venen. 

Um  es  kurz  zu  machen,  der  sociale  Schaden  liegt  nicht  in 
der  quantitativen  oder  qualitativen  Ungleichheit  des  Eigenthums. 

Interesse  »oll  wahrhaft  «lieht  hei  Seite  gesetzt  oder  gar  unterdrückt,  sondern  mit 
dem  Allgemeinen  in  Uebereinstinunung  gesetzt  werden,  wodurch  es  seihst  uud 
da«  Allgemeine  erhalten  wird.  —  Da«  Individuum,  muh  seinen  Pflichten  Unter- 
than,  findet  als  Bürger  in  Erfüllung  derselben  den  Schutz  seiner  Person  und 
Eigenthums,  die  Berücksichtigung  seines  besonderen  Wohls  und  die  Befriedigung 
«eines  substantiellen  Willens ;  in  dein  Bewusstsein  und  Selbstgefühl  des  Bürger«, 
Mitglied  dieses  Ganzen  zu  sein,  und  dieser  Vollbringung  der  Pflichten  als  Lei- 
stungen und  Geschäfte  für  den  Staat  hat  dieser  seine  Erhaltung  und  sein  Bestehen.» 


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Die  Eigenthumsfrage  der  Neuzeit. 


Diese  Ungleichheit  ist  im  Gegentheil  noth wendig,  wie  es  das  alte 
massgebende  Wort  schon  langst  bezeugt :  « Reiche  und  Arme  müssen 
unter  einander  sein  —  der  Herr  hat  sie  alle  gemacht.»  Gehört 
Eigenthum  zur  Wesensbestimmung  persönlicher  Selbständigkeit,  und 
ist  die  Grundverschiedenheit  persönlicher  Eigenart  der  Menschen 
unter  einander  nicht  ein  Unglück,  sondern  ein  Segen  für  die  gegen- 
seitige Ergänzung,  so  folgt  hieraus  auch  sowol  die  Natürlichkeit 
wie  Notwendigkeit  ungleichen  Eigenthums.  Nicht  nur  Ungleich- 
heit, sondern  Grundverschiedenheit  bis  zum  Gegensatz  der  Polarität 
ist  gerade  der  springende  Punkt  aller  harmonischen  Einheit,  wie 
im  Ineinanderspiel  der  äusseren  Naturkräfte,  so  in  allem  mensch- 
lichen Gemeinschafts wesen,  vom  Ehebunde  bis  zum  grossen  Volk 
und  Staat  umschlingenden  Bande. 

Die  erste  und  letzte  Hauptsache  ist  hier  die,  dass  zum  Be- 
stände der  Polarität,  welche  namentlich  auch  in  den  socialen  Be- 
ziehungsverhältnissen zu  walten  hat,  überhaupt  ein  gewisses 
Etwas  von  Eigenthum  überall  vorhanden  sein  muss,  oder, 
richtiger  gesagt,  nirgend  fehlen  darf.  Nur  dieser  Gesichtspunkt  fällt 
einzig  und  allein  in  den  Bereich  staatlicher  Fürsorge,  was  Eigen- 
thum anlangt.  Und  selbst  diesen  Gesichtspunkt  müssen  wir,  vom 
genannten  sociologischen  Princip  der  Mittelbarkeit  aller  staatlichen 
Socialreform,  noch  dahin  beschränken,  dass  der  Staat  dieses  Etwas 
von  Eigenthum  nicht  in  der  Nutzniessung  des  Besitzes, 
sondern  nur  in  den  Bedingungen  des  Erwerbes  allen  zur 
Verfügung1  zu  stellen  hat. 

Was  ist  nun  dieses  erforderliche  Etwas  von  Eigenthum  nach 
seiner  formalen  Seite  ?  Jedem  Menschen  muss  so  viel  besitzlich  an- 
gehören, dass  er  persönlich  sich  selber  angehören  kann,  oder  mit 
anderen  Worten,  dass  er  in  Raum  und  Zeit  sich  nicht 
selber  verloren  geht.  Vermag  der  Mensch  sein  eigenes 
Selbst  so  weit  zu  behaupten,  dass  er  dasselbe  in  ein  bestimmtes 
actives  Beziehungsverhältnis  zur  Aussenwelt  setzen  kann,  so  be- 
sitzt er  die  vom  Princip  des  Persönlichen  geforderte  facultative 
Selbständigkeit. 


1  Die  ewingende  Logik  dieses  Bociologischen  Princip«  hat  sich  unter  ver- 
schiedenen Namen  in  Amerika  schon  Reit  längerer  Zeit  selbst  Bahn  gehrochen, 
namentlich  bei  gerichtlicher  Eigenthumscassation  in  Form  eines  eisernen 
ReBtt heiles  des  Cassirten.  Aehnliehes  wiederholt  sich  in  Pfandungsdingen 
auch  sonst  fast  überall,  obschon  selbst  in  Deutschland  bis  heut«  die  principielle 
Seite  der  Sache  noch  dahingestellt  verblieben  ist. 


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Die  Eigenthumsfrage  der  Neuzeit. 


127 


Diese  vielleicht  manchem  Ohr  abstract  klingende  Erklärung 
sociologischer  Fassung  geht  von  durchaus  realem  Voraussetzungs- 
boden aus  und  führt  darum  zu  völlig  concreten  und  einfachen  Con- 
8equenzen,  wie  schon  der  nächste  Satz  bezüglich  der  materialen 
Seite  des  erforderlichen  Etwas  zeigt. 

Und  was  ist  dieses  erforderliche  Etwas  von  Eigenthum  nach 
seiner  materialen  Seite  ?  Im  Räume  ist  es  das  eigene  Heim, 
in  der  Zeit  der  eigene  Sonntag.  Hat  der  Mensch  erst 
einen  festen  Punkt  im  Raum  gewonnen,  der  untrennbar  mit  seinem 
persönlichen  Ich  verknüpft  ist,  dann  erschliesst  sich  mit  der  Werth- 
schätzung eines  räumlichen  Stützpunktes  auch  die  Vaterlandsliebe 
und  der  Staatsbürgersinn,  beides  nicht  nur  vom  objectiven  Gesichts- 
punkte der  Pflicht,  sondern  auch  vom  subjectiven  des  persönlichen 
Bedürfnisses  und  der  eigenen  Selbsterhaltung.  Eine  entsprechende 
Wandlung  erfolgt  gleichfalls,  wenn  der  Mensch  an  der  Zeit  einen 
ihm  persönlich  angehörigen  Besitzantheil  dauernd  erwirbt,  über 
welchen  er  als  eigener  Herr  verfügt.  Hat  der  Mensch  erst  diese 
Selbständigkeit  erlangt,  dann  ist  er  nicht  mehr  der  willenlose  Spiel- 
ball jeder  Zeitströmung ;  hat  er  in  der  Gegenwart  erst  festen  Fuss 
gefasst,  dann  überlegt  er  den  Schritt  in  die  Zukunft  äusserst  vor- 
sichtig. Nur  wer  nichts  in  Raum  und  Zeit  zu  verlieren  hat1,  ist 
und  bleibt  Revolutionär,  auch  wenn  er  die  Faust  nur  in  der 
Tasche  ballt. 

In  welchem  Masse  die  Wandlung  der  subjectiven  Stellung- 
nahme in  der  Individualsphäre  sich  nothwendig  auch  zu  einer 
organischen  Umwandlung  des  ganzen  socialen  Gebietes  zum  Besseren 
umsetzen  muss,  können  wir  hier  natürlich  nicht  erörtern,  sondern 
müssen  vorläufig,  bis  wir  mehr  bieten  können,  auf  unsere  Schrift 
«Princip  der  politischen  Gleichberechtigung»»  verweisen.  Auch  ohne 
diese  Erörterung  dürfte  sich  jedoch  für  jeden  unbefangenen  Be- 
urtheiler  unserer  letztgenannten  Voraussetzungen  wenigstens  so  viel 
aus  letzteren  herausstellen,  dass  die  Wahrscheinlichkeitsannahme 
unbedingt  den  sachgemässesten  Eintritt  einer  normalen  Social- 


1  Was  den  Radicalismus  zum  Radicalismus  macht,  was  ist  es  denn  anderes 
als  die  Raohe  der  Empörung  gegen  die  Daseinshedingungen,  welche  würze  1- 
fest  in  Raum  und  Zeit  sitzen.  Der  Sprachgehrauch  hat  auch  hier  das 
durchaus  sinnentsprechende  Wort  gewühlt,  um  das  grundstürzeude  Moment 
ins  Licht  zu  stellen,  dieses  Moment,  das  schon  Cicero  mit  seiner  Rede  in  Cati- 
linam  seinen  Zeitgenossen  verständlich  machen  wollte. 

*  Vgl.  Cap.  V,  namentlich  S.  99  t.,  105  ff. 

lUUiuh«  Mon»U«clirifi.  Bd.  XXXIV,  D«fl  2.  9 


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128 


Die  Eigenthumsfrage  der  Neuzeit. 


entwickelung  erwarten  lässt,  sobald  erst  die  subjective  Stellung- 
nahme seitens  der  Massen  und  der  massgebenden  Intelligenz  eine 
convergirende  Richtung  gewinnt.  Die  rationelle  Ausgestaltung  der 
socialen  Verhältnisse  bis  zu  ihrer  harmonischen  Abrundung  im 
Volks-  und  Staatswesen  wird  und  kann  sich  nicht  von  selbst  machen, 
sondern  wird  dauernd  die  Aufgabe  der  inneren  Staatspolitik  bleiben. 
Aber  die  betreffenden  Massnahmen  versprechen  nur  dann  einen  Er- 
folg, wenn  die  entsprechende  Disposition  zur  Entgegennahme  und 
der  entsprechende  Modus  der  Darreichung  nicht  mehr  fehlen.  Ist 
es  gelungen,  die  Bedeutung  dieser  Gesichtspunkte  ins  Licht  zu 
stellen,  so  ist  der  nächste  Zweck  unserer  Arbeit  erreicht. 

Es  erübrigt  nur  noch  die  schliessliche  Erörterung  über  die 
praktische  Bewerkstelligung  der  staatsseitigen  Massnahmen  in  Hin- 
sicht auf  die  Wohnungs-  und  Sonntagsfrage,  woran  sich  noch  einige 
Gesichtspunkte  allgemeiner  Natur  anschliessen  dürften. 

Die  Lösung  der  Wohnungsfrage,  bezw.  des  Heimbesitzes  der 
Arbeiter,  wollen  wir  in  derselben  Weise  durch  staatsseitige  Nöthi- 
gung  der  betreffenden  Interessenten  bewerkstelligt  sehen,  wie  es 
z.  B.  im  Elsass,  namentlich  Mühlhausen,  durch  freie  Initiative  einiger 
Grossindustriellen1  seit  einigen  Jahrzehnten  schon  in  befriedigend- 
ster Weise  sowol  für  Arbeitgeber  wie  Arbeitnehmer  zur  Ausführung 
gebracht  ist. 

Der  industrielle  und  landwirtschaftliche  Arbeitgeber  grösseren 
Styles  hat  den  Arbeitnehmer  dergestalt  in  Dienst  und  Lohn  zu 
nehmen,  dass  er  letzterem  ein  Häuschen  nebst  Gärtchen  anweist, 
welches  durch  einen  grösseren  oder  geringeren  Lohnabzug,  wie 
dessen  Einbusse  dem  Arbeiter  genehmer  ist,  sich  für  den  Arbeit- 
geber in  entsprechender  Zeitdauer  bezahlt  macht  und  dann  in  den 
persönlichen  Eigenthumsbesitz  des  Arbeiters  übergeht.  Für  den 
landwirtschaftlichen  Arbeitsbetrieb  dürfte  eine  unbedingte  Nöthi- 
gung  in  demselben  Umfange  in  so  fern  weniger  zwingend  erscheinen, 
als  die  Landwirtschaft  ohnehin  schon  räumlich  gebunden  ist  und 
theil weise  bereits  ansässige  Arbeiter  (Dorfbewohner)  in  Dienst 
nimmt.    Im  allgemeinen  mtisste  aber  auch  der  landwirtschaftliche 


1  Die  zwei  Männer,  deren  Namen  auf  die  Naehwelt  zn  bringen  sind,  waren 
Doli  f  U  l  und  S  e  h  w  a  r  z.  Um  das  Abströmen  der  Arbeiter  an«  dem  Elsas* 
naeb  Pari«  und  anderen  Knotenpunkten  der  Industrie  zu  Verbindern,  schufen  sie 
die  grundbesitzliehe  Ansässigkeit  der  Arbeiter.  Wer  mit  eigenen  Augen  diesen 
praktischen  Anfang  durehsehlagender  Soeialretbrm  gesehen  bat,  muss  die  Mitwelt, 
die  hieran  keiu  Beispiel  nimmt,  für  blind  halten. 


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Die  Eigenthumsfrage  der  Neuzeit. 


120 


Arbeitsbetrieb  dem  Principe  des  für  den  Arbeiter  zu  beschaffenden 
Heimbesitzes  unterliegen,  wenn  auch  in  modificirter  Weise. 

Die  selbstverständliche  weitere  Consequenz  dieses  Principes 
ist  sodann  die  obligatorische  Anlage  aller  industriellen  Grossbetriebe 
auf  dem  flachen  Lande  unter  staatlicher  Controle  der  Ortswahl. 
Für  bereits  in  Städten  oder  deren  Weichbild  bestehende  Gross- 
betriebe ist  eine  unbedingte,  aber  modificirte  Verfallfrist  des  Be- 
standes erforderlich.  Es  wäre  eine  durch  nichts  gerechtfertigte 
Anomalie,  wollte  man  gegen  die  Industriellen  eine  sentimentale 
Rücksichtnahme  walten  lassen,  welche  man  sämmtlichen  nicht 
industriellen  Berufsarten  auch  bei  den  einschneidendsten  Aenderungen, 
die  zum  allgemeinen  Besten  staatlicherseits  getroffen  werden,  nie- 
mals eingeräumt  hat.  Die  falschen  mercantilistischen1  Begünstigungs- 
doctrinen  einer  längst  überlebten,  aber  noch  nicht  ausgestorbenen 
Staatspolitik,  welche  Entwickelung  des  Geldprotzenthums  mit  dem 
Wachsen  allgemeinen  Wohlstandes  identificirte,  tragen  die  Haupt- 
schuld an  der  materiellen  und  sittlichen  Verrottung  der  socialen 
Zustände. 

Die  Entfernung  der  industriellen  Betriebe  von  den  Städten 
aufs  Land  hinaus  ist  nicht  nur  wegen  der  Heimbeschaffung  der 
Arbeiter  und  deren  sittlicher  Hebung  eine  absolut  zwingende  Not- 
wendigkeit rationeller  Socialreform,  sondern  eben  so  sehr  auch 
wegen  der  Wohlfahrt  der  Städte  und  des  flachen  Landes,  wie  end- 
lich auch  wegen  der  Industrie  selbst. 

Die  Städte,  namentlich  die  grösseren  Centren,  verfehlen  ihre 
naturgemässe  Aufgabe,  wenn  diejenigen  Berufskreise,  deren  uner- 
lässliche  Concentrirung  an  einem  Orte  eben  die  Städte  hat  ent- 
stehen lassen,  durch  die  Verteuerung  von  Wohnung,  Nahrungs- 
mitteln &c.  stetig  mehr  gefährdet  werden.  Die  ganze  grosse  Schaar 
aller  Staatsbeamten,  von  den  höheren  bis  zu  den  niederen,  den  ge- 
sammten  Lehr-  und  Schulstand  mit  inbegriffen,  kann  das  steigende 
Misverhältnis  zwischen  der  mässig  wachsenden  Einnahmeerhöhung 
und  dem  bedeutend  zunehmenden  Mehrbetrage  der  Ausgaben  auf 
die  Dauer  absolut  nicht  ertragen.  Ja,  die  Grenze  des  Möglichen 
ist  eigentlich  schon  zur  Zeit  überschritten,  wenn  man,  wie  nicht 
anders  möglich,  es  für  einen  socialen  Krebsschaden  im  Staats- 

1  Nicht  erat  Held  u.  a.,  schon  Luther  und  Justus  Moser  haben 
mit  ihrem  genialen  Blick  für  die  allgemeine  Wohlfahrt  in  betreffender  Frage 
weitet  gesehen  als  heute  mancher  Nationalokonom ;  vgl.  Walchsche  Ausg.  X, 
39-1  und  1119;  unsere  Schritt  *  Volksseele*  S.  7(5  ff.  Anm. 

9* 


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130  Die  Eigenthumsfrage  der  Neuzeit. 

Organismus  ansehen  muss,  dass  die  Mehrzahl  aller  jener  Beamteten 
nur  durch  eine  Ueberlastung  mit  den  verschiedensten  Nebenposten 
sich  aus  der  Existenz  n<  (Ii  nothdürftig  retten  kann.  Endlich  noch 
eines.  Sollen  die  Städte  schon  durch  die  blosse  Anhäufung  roher 
Massen  einerseits  und  durch  das  vom  Schwindelgeist  der  Genuss- 
sucht  und  des  Eigennutzes  vergiftete  Streberthum  jeglicher  Art 
andererseits  nicht  zu  chronischen  Brutherden  der  Revolution  werden 
und  am  Volks-  und  Staatskörper  nicht  eben  so  viel  Pestbeulen 
bilden,  als  es  Städte  giebt,  so  muss  es  zur  Entbabelung  der 
Städte  kommen  —  der  erste  Anfang  dazu  durch  Massnahmen 
gegen  Uebervölkerung  bewerkstelligt  werden,  wenigstens  was  die 
Fabrikarbeiter  betrifft. 

Was  sodann  das  flache  Land  anlangt,  namentlich  die  Land- 
wirtschaft, so  kann  letztere  auch  nur  gewinnen,  wenn  ihr  Arbeits- 
kräfte zugeführt  werden,  welche  die  Industrie  gerade  in  der  Sommer- 
zeit nur  unbedeutend  zu  beschäftigen  vermag,  da  deren  regste 
Productionszelt  im  Frühlinge  mit  beginnender  Schifffahrt  und  anderer 
erhöhter  Ausfuhrmöglichkeit  in  der  Regel  sich  abschliesst.  In  dieser 
Angelegenheit  verweisen  wir  auf  die  gehaltvolle  Schrift  eines  gegen- 
wärtig in  Berlin  an  wichtiger  Stelle  thätigen  Staatsbeamten,  der 
seinerzeit  gleichzeitig  mit  uns  das  Wort  zur  Verlegung  der  Industrie 
von  den  Städten  aufs  Land1  ergriffen  hatte. 

Endlich  kann  die  Industrie  selber  zu  ihrem  wahren  Gedeihen, 
das  mit  den  Interessen  der  allgemeinen  Wohlfahrt  zusammenfällt, 
nur  auf  dem  von  uns  vertretenen  Wege  gelangen.  Die  er- 
drückende Uebermacht  der  concurrirenden  Schwindelindustrie  mit 
ihrer  Schleuder waare  kann  nur  auf  diesem  Wege  gebrochen  werden, 
wenn  sie  für  ihre  Manipulationen,  die  auf  die  Augenblickserfolge 
der  Ueberrumpelung  ausgehen,  nicht  mehr  von  Seiten  der  Städte 
beliebige  Schleuderarbeitskraft  zugeworfen  erhält.  Dass  endlich 
eine  solide  Industrie,  welche  durch  Gediegenheit  der  Production 
den  Markt  beherrschen  will  —  die  allein  bestandfähige  und  der 
öffentlichen  Wohlfahrt  nützende  Concurrenz  —  diesen  Zweck  um 
so  sicherer  erreicht,  je  mehr  die  Ständigkeit  der  Arbeiter  auch 
deren  Leistungsfähigkeit  sicherstellt,  liegt  auf  der  flachen  Hand. 

Wenden  wir  uns  nun  zur  anderen  Selbständigkeitsbedingung, 
zum  Zeitbesitz  im  eigenen  Sonntage,  so  wäre  zu  einer  erschöpfen- 
den Erledigung  dieser  hochbedeutsamen  Sache  eine  eigene  Mono- 

1  Gamp,  «Die  wirthschaftlich-soeialen  Aufgaben  uuserer  Zeit»,  S.  231  bis 
301  ;  unsere  Schrift  "Principien  <ler  politischen  Gleichberechtigung»,  S.  106  ff. 


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Die  Eigenthumsfrage  der  Neuzeit. 


graphie  erforderlich.  Daher  müssen  wir  uns  hier  bescheiden  und 
theils  auf  unsere  Schriften,  theils  auf  die  schon  vielfach  in  der 
Oeffentlichkeit  laut  gewordenen  Stimmen,  Stöcker,  v.  Kleist- 
Retzown.  a.,  verweisen.  Nur  einen  hochwichtigen  Punkt  können 
wir  hier  nicht  unberührt  lassen.  Es  ist  die  Lebensmacht  sittlicher 
Wahrheiten,  ohne  welche  kein  Volks-  und  Staatsbestand,  am  wenig- 
sten der  deutsche,  eine  längere  Dauer  für  die  Zukunft  haben  kann. 
Die  ultima  ratio  der  Waffen  zur  Erhaltung  der  äusseren  Welt- 
ordnung  spitzt  sich  vor  aller  Welt  Augen  je  länger  je  mehr  zu 
einer  Entzündung  allgemeinen  Weltbrandes  zu.  Will  man  sich 
nicht  bald  auf  eine  höhere  Ratio  sittlicher  Weltordnung  besinnen, 
dann  handelt  es  sich  nur  um  eine  kurze  Galgenfrist.  Die  Hebel- 
kräfte einer  neuen  besseren  Zeit  liegen  eben  nur  in  der  Sphäre 
sittlicher  Weltordnung.  Deutschlands  vielgeliebter  und  hochverehrter 
Kronprinz  hat  in  diesem  Sinne  zu  Heidelberg  und  Strassburg  seine 
vollgewichtigen  Mahnworte  an  das  deutsche  Gewissen  gerichtet  und 
hiermit  im  edelsten  Sinne  des  Wortes  als  zukünftiger  Landesvater 
sich  der  sichersten  Gewähr  deutscher  Zukunft  angenommen.  Es 
war  hohe  Zeit,  dass  das  unter  den  Scheifel  gestellte  Licht  wieder 
hoch  gehoben  ward.  Ausser  den  unzähligen  Dingen,  die  der  Staat 
unter  den  Gesichtspunkt  des  <  Geschäfts»  zu  stellen  hat,  giebt  es 
eben  noch  andere,  die  völlig  ausserhalb  dieses  Gesichtskreises  liegen 
und  nichts  desto  weniger  vom  Staat  nicht  übersehen  sein  wollen. 
Das  erste  Pfand  für  seinen  guten  Willen  nach  dieser  Seite  gebe 
der  Staat  dem  Volke  durch  die  Wiedergabe  des  eigenen  Sonntages. 
Der  eigene  Sonntag  am  eigenen  Herd  wird  die  Eigenkraft  sittlicher 
Wahrheiten  zu  einer  neuen  Lebensmacht  und  Zukunft  an  Millionen 
von  Herzen  werden  lassen. 

Im  übrigen  haben  wir  hier  mit  flüchtiger  Erledigung  nur  noch 
das  zur  Sprache  zu  bringen,  was  ausser  der  Heim-  und  Sonntags- 
frage noch  vom  sociologischen  Gesichtspunkte  zur  Eigenthumsfrage, 
bezw.  ihren  socialen  Einwirkungen,  hervorzuheben  ist. 

Der  Lösung  der  Heim-  und  Sonntagsfrage  muss  Steuerreform 
zur  Seite  treten.  Der  Staat  hat  die  directen  Steuern  ausschliess- 
lich den  Communen  zu  überlassen  und  sich  nur  auf  die  i  n  - 
directen  zu  beschränken,  namentlich  auf  Branntwein  und  . 
Tabak,  nur  bei  Leibe  nicht  in  Monopolform,  wie  schon  am  Schlüsse 
des  vorigen  Jahrhunderts  Fr.  v.  Gentz  in  seinen  c  Sendschreiben  an 
König  Friedrich  Wilhelm  III.»  ausführt.  Was  dieser  gewiss  nicht 
liberalistisch  voreingenommene  und  nicht  gegen,  sondern  für  den 


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132 


Die  Eigenthumsfrage  der  Neuzeit. 


monarchischen  Staat  eintretende  Staatsmann  damals  schon  als  un- 
verträglich mit  den  socialen  Erfordernissen  der  Zeit  begreifen 
konnte,  sollte  doch  gegenwärtig  endlich  kein  Räthsel  mehr  für  ge- 
schulte Denker  sein,  welche  von  einer  socialen  Lebensfrage  der 
Neuzeit  reden  wollen. 

Zur  progressiven  Begleichung  des  ungeheuren  Gegensatzes, 
welcher  zwischen  dem  Ueberreichthum  des  grossen  Capitals  und 
dem  Mangel  der  Massenarmuth  besteht  und  zunächst  von  vorge- 
nannten Massnahmen  kaum  berührt  wird,  hat  eine  progressive 
Renten-,  Erbschafts-  und  Luxussteuer  das  durchschlagende  Mittel 
einer  rationellen  Socialorganisation  abzugeben,  welche  nicht  mit 
socialistischer  Vergewaltigung  den  gegenwärtigen 
Eigenthumsstand  aufheben,  sondern  mit  sociologische r 
Regelung  nur  dessen  Unfruchtbarkeit  für  die  allgemeine  Wohl- 
fahrt beheben  will.  Nicht  Mobilisirung  alles  Eigenthums,  wie 
Fouillee  vorschlägt,  sondern  in  gewissem  Sinne  gerade  P  i  x  i  r  u  n  g 
d  e  s  E  i  g  e  n  t  h  u  m  s  ist  vom  sociologischen  Gesichtspunkte  geboten. 

Desgleichen  ist  vom  sociologischen  Gesichtspunkte  als  Regel 
nicht  Organisation  der  Arbeit,  sondern  Entlähmung  der 
Arbeit  aus  den  Fesseln  des  Capitals  angezeigt.  Nicht  Bevor- 
mundung einer  unselbständigen  Automatenarbeit,  wie  der  Socialis- 
mus  will,  sondern  staatliche  Handreichung  zur  Verselbständigung 
der  Arbeit  ist  das  sociologische  Ziel,  welches  durch  die  Lösung 
der  Heim-  und  Sonntagsfrage  erreicht  werden  soll.  Organisation 
der  Arbeit  fordert  der  sociologische  Standpunkt  nur  als  Ausnahme 
von  der  Regel  für  die  faule  Unselbständigkeit,  mit  Eiuschluss  der 
entlassenen  Sträflinge.  Hier  geht  dieser  Standpunkt  noch  weiter 
und  erheischt  staatliche  Organisation  von  Zwangs- 
arbeit. Es  ist  eine  eiserne  Forderung  socialer  Wohlfahrt,  die 
Gesellschaft  von  der  brandschatzenden  und  verpestenden  Plage  der 
arbeitsscheuen  Stadtbummler  und  Landstreicher  zu  entlasten  und 
letztere,  so  weit  möglich,  noch  für  die  Zukunft  zu  retten.  Die 
neuen  Colonien  sind  für  Deutschland  das  entsprechende  Versuchs- 
feld zu  staatsseitigen  Massnahmen,  zu  denen  private  Initiative  schon 
in  den  sogenannten  «Arbeitercolonien»  muster giltiges  Beispiel  ge- 
geben hat. 

Sollten  wir  zum  Schluss  unsere  Erörterungen  über  das  Eigen- 
thum in  eine  allgemeine  Socialsentenz  auslaufen  lassen,  wie  Fouill6e 
es  thut,  und  sollten  wir  hierbei  unseren  sociologischen  Standpunkt 
ebenso  zuspitzen,  wie  er  es  an  seinem  liberalistischen  vornimmt,  so 


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Die  Eigenthumsfrage  der  Neuzeit. 


133 


können  wir  nur  sagen  :  Das  Wohl  der  Zukunft  erzeugt  sich  nicht 
aus  Freiheit,  Gleichheit,  Brüderlichkeit,  sondern  aus  S  e  1  b  s  t  ä  n- 
digkeit,  Gemeinsinn,  Staatsbürgerin  um.  Brüder- 
lichkeit ist  nicht  Sache  des  Staates,  sondern  des  Gottesreiches  mit 
seinen  Mitteln,  die  nicht  Freiheit  und  Gleichheit  zu  Prämissen 
nehmen.  Freiheit  und  Gleichheit  ergeben  als  Schlussfolge  nicht 
Brüderlichkeit,  sondern  Cannibalismus.  Die  sociale  Frage 
löst  nur  der  Staat,  welcher  im  organischen 
Ganzen  von  Individuum,  Gesellschaft  und  Mon- 
arch i  e  d  a  s  P  r  i  n  c  i  p  d  e  s  P  e  r  s  ö  n  1  i  c  h  e  n  zurSeele 
alles  Sachlichen  macht. 

Das  ist  es,  worin  die  Sachgemässheit  aller  Dinge  und  Ver- 
hältnisse liegt,  mag  es  sich  um  deren  Zusammenhang  mit  den 
engeren  Interessen  des  Einzelnen,  mit  den  weiteren  Bedürfnissen 
der  Gesellschaft  oder  mit  den  grossen  Bestandbedingungen  einer 
ganzen  Nation  handeln.  Das  Princip  des  Persönlichen  ist  der 
Schlüssel  zu  dem  Goetheschen  Gesichtspunkte:  das  < Rechte >  im 
<Geniässen>  zu  suchen,  wie  in  unserer  social  politischen  Propä- 
deutik weiter  ausgeführt  worden  ist. 


Prof.  Dr.  S c h m i d  t •  W a  r n e c k. 


in    .  i»!«.  — 


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Rückblick  auf  die  Agrargesetzgebung  für  die  baltischen 

Krondomänen. 


ie  baltischen  Agrarreformen  haben  häufig  den  Gegenstand 
eingehender  Erörterung  in  der  Presse  gebildet,  das  leseude 
Publicum  ist  namentlich  auch  an  diesem  Ort  fortlaufend  mit  der 
Entwickelung  der  bäuerlichen  Verhältnisse  in  den  Ostseeprovinzen, 
der  Verpachtung,  dem  Verkauf  der  Bauergesinde  und  den  auf  die 
bäuerlichen  Grundstücke  entfallenden  Prästanden  bekannt  gemacht 
worden.  Zur  Abwehr  gegen  auswärtige  Angriffe,  welche  den  mit 
der  Bauernemancipation  im  Reich  verbundenen  unvermittelten,  radi- 
calen  Bruch  mit  der  Vergangenheit  und  als  ultima  ratio  den  Ge- 
meindebesitz verherrlichten,  ist  wiederholt  das  hier  in  Anwendung 
gebrachte  vorsichtige  Vorgehen  dargestellt  worden,  welches  in  all- 
mählichen Uebergängen  zu  vollen  staatsbürgerlichen  Freiheitsrechten 
für  die  Bauern  führte,  welches  das  ganze  materielle  und  geistige 
Leben  derselben  zu  der  neuen  Ordnung  vorbereitete  und  endlich 
im  Vergleich  mit  den  Zuständen  im  Inneren  des  Reiches  gute  Re- 
sultate erzielt  hat.  Um  so  auffälliger  muss  es  bei  so  reichhaltiger 
Behandlung  dieses  Stoffes  erscheinen,  dass  der  auf  Krongütern  an- 
gesiedelten Bauern  und  deren  agrarer  Verhältnisse  in  der  Regel 
nur  beiläufig  Erwähnung  gethan  worden  ist,  obgleich  einmal  die 
Zahl  dieser  Kronbauern  nicht  unerheblich  ist  und  namentlich  in 
Kurland  nach  Massgabe  der  Kronländereien  die  Zahl  der  auf  dem 
Privatbesitz  befindlichen  Bauern  erreichen  muss  und  obgleich  zwei- 
tens sich  nicht  unwesentliche  Abweichungen  in  dem  Verhältnis 
zwischen  der  Bauerschaft  und  dem  Privatgutsbesitzer  einerseits 


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Agrargesetzgebung  für  die  baltischen  Krondomänen.  135 

und  der  hohen  Krone  als  Grundbesitzerin  andererseits  zeigen.  Eine 
ökonomische  und  sociale  Abhängigkeit  der  Bauerschaften  von  den 
Gutsbesitzern,  wie  sie  bis  zu  dieser  Stunde  dem  Privatgutsbesitzer 
gegenüber  nicht  ausgeschlossen  ist,  kommt  auf  den  Krondomänen 
vollständig  in  Wegfall,  der  weitgehende  Einfluss  des  Privat- 
gutsbesitzers auf  die  Gemeindeadministration  bis  zur  Einführung  der 
Landgemeindeordnung  vom  J.  1860  ist  bei  den  Kronbauerschaf ten 
gar  nicht  zur  Geltung  gelangt.  Während  den  Privatgutsbesitzem 
das  Recht  der  freien  Vereinbarung  über  die  von  den  Bauern  zu 
entrichtende  Pacht  für  die  Nutzung  ihrer  Gesindestellen,  sowie 
die  Fixirung  der  Verkaufspreise  offen  gelassen  war,  wurde  das  den 
Kronbauerschaften  zugetheilte  Land  einer  Schätzung  unterzogen 
und  die  Pachtsummen,  wie  auch  der  Capital werth  des  Bauerlandes 
nach  festen  Regeln  beurtheilt,  aualog  den  Bestimmungen,  wie  sie 
für  das  übrige  Reich  zur  Anwendung  gekommen  sind.  Nicht  un- 
interessant ist  es  endlich  die  Wandlungen  zu  verfolgen,  welche  das 
Vorrecht  bei  der  Besetzung  der  jvacanten  Krongesinde,  das  Erb- 
recht am  Pachtbesitz  im  Laufe  der  Jahre  durchgemacht  hat,  dieses 
Recht,  welches  so  häufig  verkannt  worden  ist,  welches  man  bald 
auf  der  breitesten  Basis  sich  entwickeln  liess  und  dem  man  bald 
wieder  jede  Basis  absprach,  dieses  Recht,  welches  zu  jener  unend- 
lichen Zahl  von  sog.  Reclamationsklagen  geführt,  hat,  deren  Acten 
die  Archive  aller  Bauerbehörden  überfüllen.  —  Es  muss  wahrlich 
für  mit  unseren  Verhältnissen  unbekannte  Personen  eine  höchst 
auffällige  Erscheinung  bilden,  dass  alle  Agrarreformen,  die  in  den 
letzten  Decennien  in  den  Ostseeprovinzen  Eingang  gefunden  haben, 
niemals  in  gleicher  Weise  auf  das  gesammte  Land  Ausdehnung 
gewannen,  dass  man  Gesetze  geschatfen  und  Verordnungen  er- 
lassen hat,  welche  für  den  einen  Theil  der  ländlichen  Bevölke- 
rung von  der  einschneidendsten  Bedeutung  gewesen  sind,  den  anderen 
Theil  aber  ganz  unberührt  Hessen.  Bald  sehen  wir  den  einen  Theil 
durch  einen  plötzlichen  Drang  zum  Fortschritt  dem  anderen  voraus- 
eilen, bald  wieder  von  letzterem  überholt  zurückbleiben.  Zwei 
Genossen  in  einem  Hause,  welche  dieselben  Bestrebungen  verfolgen, 
die  stete  Berührung; mit  einander  haben,  trotzdem  aber  sich  fremd 
bleiben  und  von  denen  jeder,  seine  eigenen  Wege  geht  —  das  ist 
ungefähr  das  Verhalten  der  beiden  verschiedenen  Wirthschafts- 
sphären  zu  einander,  welches  auch  die  Verschiedenheit  der  agraren 
Entwickelung  auf  den  Krondomänen  und  den  Privatgütern  kenn- 
zeichnet. 


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136      Agrargesetzgebung  für  die  baltischen  Krondomänen. 

Mit  dem  ersten  Januar  dieses  Jahres  hat  für  die  Entwicke- 
lung  der  agraren  Verhältnisse  der  Domänenbauern  eine  neue  Phase 
begonnen.  Das  sich  hierauf  beziehende  Gesetz  vom  12.  Juni  1886 
betreffend  die  Verwandlung  des  Pachtzinses  der  früheren  Domanen- 
bauern in  Ablösungszahlungen  bildet  das  unerwartete  Schlusstableau 
zu  den  Reform bestrebungen,  als  deren  einzelne  Acte  die  Gesetze 
vom  11.  November  1859  und  10.  März  1869  sich  kennzeichnen,  die 
es  in  Folge  der  verschiedensten  Zwischenfälle  und  unvorhergesehener 
Umstände  jedoch  nie  zu  Ende  zu  bringen  gelang.  Jetzt,  wo  wir  sagen 
können :  Ende  gut,  alles  gut,  verlohnt  ein  kleiner  Rückblick  wol 
der  Mühe,  auch  selbst  auf  die  Gefahr  hin,  dass  nicht  viel  Neues 
geboten  wird. 

Ohne  die  Bedeutung  des  jüngsten  Regierun gsactes  zu  ver- 
kennen, ist  nächst  der  Befreiung  von  der  Leibeigenschaft  in  der 
Geschichte  der  Eutwickelung  unserer  gesammten  agraren  Verhält- 
nisse als  wichtigste  Massnahme  der  Ukas  vom  November  1859  zu  be- 
trachten. Bekanntlich  ordnete  dieser  ükas  nächst  dem  aufgestellten 
Programm  des  Verkaufs  4er  Domänen  an  Personen  jeden  Standes 
den  Uebergang  der  Kronbauergesinde  in  das  volle  Eigenthum  der 
zeitweiligen  Pachtbesitzer  an.  Bot  jenes  Programm  die  Veran- 
lassung zu  dem  in  dieser  Zeitschrift  im  Jahre  1861  veröffentlichten 
Artikel  Th.  Boettichers,  der  weit  über  seinen  Titel  «Domänen- 
verkauf und  GüterbesitzrechU  hiuaus  die  einheimischen  Verhält- 
nisse berührte  und  in  seiner  Gefolgschaft  die  Aufhebung  des  aus- 
schliesslichen Güterbesitzrechts  des  indigeuen  Adels  hatte  —  so 
hat  die  geplante  Umwandlung  der  Besitzverhältnisse  der  Domänen- 
bauern nicht  geringe  Bewegung  und  abfällige  Kritik  hervorgerufen. 
Denn,  hiess  es,  der  Bauer  sei  noch  zu  unentwickelt  und  zu  arm, 
um  grundbesitzlich  zu  werden ;  seinen  letzten  Sparpfennig  für  den 
Gesindesankauf  hingebend,  werde  er  ohne  Betriebscapital  im  Falle 
nur  e  i  n  e  8  Misjahres  dem  Ruine  preisgegeben  sein.  Man  hat  sich 
hierin  gewaltig  getäuscht.  Nach  den  in  Folge  des  Ukases  vom 
Jahre  1859  am  14.  März  1860  bestätigten  Verkaufsbedingungen 
war  der  Werth  des  Landstückes  durch  die  Capital isirung  des  Zinses 
zu  4  pCt.  festgestellt  und  hatte  der  Käufer  sofort  15  pCt.  von 
der  mit  dem  Werth  des  Landes  übereinstimmenden  Kaufsumme  baar 
zu  bezahlen.  Der  Kaufschillingsrest  sollte  als  Schuld  auf  dem 
Landstücke  und  zwar  zu  4  pCt.  verzinst  ruhen  bleiben.  Für  die 
Tilgung  des  Kaufschillingsrestes  waren  als  längste  Frist  28  Jahre 
angesetzt  worden,  und  zwar  hatte  der  Käufer  in  diesem  Fall, 


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Agrargesetzgebung  für  die  baltischen  Krondom  Inen.  137 

ausser  den  4  pCt.  Renten,  noch  2  pCt.  zur  Tilgung  zu  zahlen. 
Die  nächst  kürzeste  Frist  waren  22  Jahre,  der  Käufer  hatte  in 
diesem  Fall  3  pCt.  zum  Tilgungsfond,  somit  im  ganzen  7  pCt.  zu 
zahlen,  und  endlich  konnte  man  die  Tilgung  noch  in  15  Jahren 
bewerkstelligen  durch  Zahlung  von  5  pCt.  zur  Tilgung,  mit  den 
Zinsen  also  9  pCt.  Die  Wahl  unter  den  Fristen  stand  dem  Käufer 
frei,  welcher  überdies  noch  die  Schuld  durch  gleichzeitige  Ab- 
tragungen des  nachgebliebenen  Restes  derselben  wälirend  der  Fristen 
zu  tilgen  vermochte. 

Es  ist  ein  Erfahrungssatz,  dass  der  Bauer  sich  schwer  von 
dem  baaren  Gelde  trennt,  er  mistraut  allen  Werthpapieren  und 
lässt  sein  Geld  lieber  im  Kasten  baar  liegen  bleiben,  als  Procente 
tragende  Papiere  anzukaufen  ;  er  wendet  den  Kopeken  erst  dreimal 
um,  bevor  er  sich  von  ihm  trennt.  Es  liegt  daher  nahe,  dass 
selbst  die  Bauern,  welchen  ein  genügendes  Capital  zu  Gebote 
stand,  um  mit  einem  Mal  ihr  Gesinde  zu  kaufen,  lieber  den  be- 
quemen Weg  der  Liquidation  in  28  Jahren  wählen  würden.  Wie 
vorzüglich  der  Bauer  aber  situirt  gewesen,  lässt  sich  aus  einem 
Bericht  der  Domänenverwaltung  an  das  Ministerium  schliessen. 
Nach  diesem  Bericht  waren  bis  zum  l.  November  1860  verkauft 
auf  folgenden  Gütern : 

1)  Rujen-Radenhof:  43  Banerhöfe  mit  liy„  Haken,  gross 
947  Thaler  43  Groschen,  enthaltend  2805,,,  Dess. ;  vom  Kaufpreise . 
war  sofort  baar  bezahlt  25032  Rbl.  (J7  Kop.  und  betrug  der  Kauf- 
schillingsrest 68902  Rbl.  28  Kop. 

2)  Tornei:  25  Bauerhöfe  mit  14  Haken,  gross  1123  Thaler 
12  Groschen,  enthaltend  3513,7«  Dess. ;  vom  Kaufpreis  war  sofort 
baar  bezahlt  40039  Rbl.  75  Kop.  und  blieb  ein  Kaufschillingsrest 
von  80715  Rbl.  25  Kop. 

3)  Kolberg:  28  Bauerhöfe  mit  7«/io  Haken,  gross  578  Thaler 
62  Groschen,  enthaltend  2144,«  Dess.;  vom  Kaufpreis  war  sofort 
baar  bezahlt  22319  Rbl.  84  Kop.  und  blieb  ein  Kaufschillingsrest 
von  50016  Rbl.  11  Kop. 

Ausser  auf  diesen  drei  Gütern  waren  noch  auf  den  Gütern 
Aahof  und  Magnushof  Gesinde  verkauft  worden.  Bei  allen  diesen 
Gesindesverkäufen  ist  ein  fast  ganz  gleich  günstiges  Resultat  zu 
verzeichnen.  Allenthalben  ist  durchschnittlich  fast  die  Hälfte  des 
Kaufpreises  sofort  baar  bezahlt  worden.  Nur  ausnahmsweise  hat 
der  Bauer  überdies  die  längste  Frist  zur  Tilgung  seiner  Schuld 
gewählt,  die  Mehrzahl  zog  die  kürzeste  Frist  vor.    Als  Beispiel 


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138      Agrargesetzgebung  für  die  baltischen  Krondomänen. 

sei  hier  Aahof  angeführt.  Von  allen  bis  zum  1.  November  1860 
angekauften  Gesinden  wurden  2  Gesinde  sofort  baar  bezahlt,  44 
Wirthe  Hessen  sich  den  Kaufschillingsrest  auf  15  Jahre,  13  Wirthe 
auf  22  Jahre  und  nur  8  Wirthe  auf  28  Jahre  stunden. 

Diese  Zitfern  sind  die  besten  Belege  für  den  Wohlstand,  in 
welchem  sich  die  Bauerbevölkerung  schon  damals  befand.  Trotz 
den  vielfachen  Schwierigkeiten,  welche  sich  dem  Ankauf  der  Ge- 
sinde entgegenstellten,  als:  mangelnde  Abgrenzung  der  Ländereien, 
der  Zwang  von  den  Käufern  wiederholt  einzureichender  Gesuche, 
die  Einholung  ministerieller  Erlaubnis  und  dergl.  m.,  schritt  der 
Verkauf  doch  von  Jahr  zu  Jahr  fort.  In  Kurland  wurden  auf 
Grundlage  des  Gesetzes  vom  Jahre  1859  80  Gesinde,  enthaltend 
3533,,,  Dess.,  für  212025  Rbl.  74%  Kop.  und  in  Livland  425  Ge- 
sinde mit  27004  Dess.  für  795653  Rbl.  verkauft.  Die  Anzahl  der 
Käufer  betrug  in  Livland  511.  Der  Unterschied  zwischen  der 
Anzahl  der  verkauften  Gesinde  und  der  Zahl  der  Käufer  erklärt 
sich  dadurch,  dass  eine  Anzahl  Gesinde  sich  im  ungeteilten  Besitz 
von  zwei  und  mehr  Bauern  befanden,  die  gemeinschaftlich  sodann 
die  Gesinde  erwarben.  —  In  Estland  fanden  sich  keine  Käufer. 

Das  Vorgehen  der  Regierung  war  von  den  besten  Resultaten 
gekrönt.  Das  Verlangen,  die  Gesinde  käuflich  zu  erwerben,  mehrte 
sich  von  Jahr  zu  Jahr,  der  Wohlstand  der  Gesindeswirthe,  welche 
.  ihre  Gesinde  zum  Eigenthum  erworbeu  hatten,  hob  sich  merklich. 
Während  von  den  Gesindespächtern  immerfort  um  Aufschub  der 
Arrendezahlungen  wegen  schlechter  Ernten  nachgesucht  wurde, 
gehörten  Gesuche  der  Eigenthümer  wegen  Terminirung  der  Zah- 
lungen und  nicht  prompte  Erfüllung  ihrer  Obliegenheiten  im  ganzen 
zu  den  Ausnahmen.  Dem  Verkauf  stellten  sich  jedoch  bald  nicht 
unerhebliche  Schwierigkeiten  entgegen,  die  endlich  im  Mai  1866 
zur  Sistirung  weiteren  Verkaufs  führten.  Von  den  im  Laufe  der 
Jahre  eingesetzten  Mess-  und  Regulirungscommissionen  hatte  keine 
einzige  ihre  Arbeit  vollständig  beendigt,  jede  hatte  nach  besonderen 
Instructionen  die  Werthschätzung  der  Gesinde  vorgenommen  und 
den  Zins  festgestellt.  Da  sonach  die  Werthschätzung  für  dieses 
und  jenes  Gesinde  auf  den  verschiedensten  Grundsätzen  beruhte, 
viele  auch  noch  gar  nicht  einmal  regulirt  waren,  so  gewährten  die 
verschiedenen  Zinsnorm irungen  ein  höchst  buntes  Bild.  Die  im 
Jahre  1845  begonnene  Regulirung  hatte  in  20  Jahren  ihrer  Thätig- 
keit  in  allen  drei  Provinzen  zusammen  387  Güter  regulirt,  auf 
183  von  diesen  Gütern  mussten  im  Jahre  1866  noch  alle  Bauer- 


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Agrargesetzgebung  für  die  baltischen  Krondomänen.  139 


wirthe  ihren  Verpflichtungen  nach  den  alten  Wackenbüchern  nach- 
kommen, 69  Güter  waren  nach  der  Instruction  vom  Jahre  1845, 
die  übrigen  135  Güter  aber  nach  der  Instruction  vom  Jahre  1859 
regulirt.  Die  mangelnde  Einheit  in  der  Grundlage  zur  Werth- 
schätzung führte  zu  einer  oft  in  gar  keinem  Verhältnisse  zu  ein- 
ander stehenden  Verschiedenheit  der  Feststellung  des  Kaufpreises 
der  einzelnen  Gesinde.  Für  gleichwertige  Gesinde  in  Kurland 
betrug  der  Zins  nach  den  früheren  Wackenbüchern  43  Rbl.,  für  die 
nach  der  Instruction  vom  Jahre  1845  regulirten  66  Rbl.  und  end- 
lich für  die  nach  der  Instruction  vom  Jahre  1859  regulirten  Ge- 
sinde 83  Rbl.  Die  mittlere  Ziffer  des  Zinses  für  eine  Dess.  be- 
trug in  Livland  nach  der  Instruction  vom  Jahre  1845  —  60  Kop. 
und  nach  der  Instruction  vom  Jahre  1859  —  1  Rbl.  20'/»  Kop. 
In  Kurland  betrug  der  Zins  für  eine  Dess.  nach  der  ersteren  In- 
struction l  Rbl.  36  Kop.,  nach  der  zweiten  1  Rbl.  90  Kop.  Diese 
Ungleichheit  des  Zinses  bedurfte  dringend  der  Beseitigung.  Zu 
diesem  Zweck  wurde  eine  Commission  eingesetzt,  welche  unter  dem 
Namen  Regulirungscommission  auf  Grundlage  neuer  Instructionen 
eine  Umschätzung  und  Abgrenzung  aller  Gesinde  vornehmen  sollte. 
Die  Instruction  war  eine  ungemein  detaillirte.  Das  Wesentliche 
derselben  findet  sich  in  nachstehenden  Regeln: 

Alles  nutzbare  Land  wird  eingetheilt  in  : 

1)  Ackerland,  2)  Heuschlag,  3)  Viehtriften  und  Weiden,  4)  das 
von  Gebäuden  mit  den  dazu  gehörigen  Höfen,  Gärten  und  Gemüse- 
gärten eingenommene  Land. 

Das  Ackerland  wird  nach  seiner  Güte  in  Kategorien  einge- 
theilt und  zwar  in  der  Weise,  dass  nicht  jede  besonders  zu 
schätzende  bäuerliche  Wirthschaftseinheit  eines  Gutes,  sondern  jedes 
Gut  als  Ganzes  klassificirt  wird.  Diese  Kategorien  sollen  der 
ortsüblichen  Bodeneintheilung  entsprechen. 

Als  Massstab  für  die  Schätzung  des  Ackerlandes  gilt  der 
mittlere  Ertrag  der  Roggenernte  von  einer  Dessätine  abzüglich 
der  Aussaat. 

Um  eine  möglichst  grosse  Einheitlichkeit  in  der  Abschätzung 
herbeizuführen,  ist  der  Instruction  eine  Tabelle  beigefügt,  in  welcher 
das  Ackerland  nach  der  Grösse  der  Roggenernte  in  sechs  Klassen 
mit  je  drei  Unterabtheilungen  oder  Graden  eingetheilt  und  zugleich 
bezeichnet  ist,  auf  welcher  Bodenart  die  in  den  einzelnen  Klassen 
angegebene  Roggenerträge  vorkommen.  Als  höchster  Ertrag  ist 
hierbei  der  Ertrag  von  80  Tschetwerik  Roggen  von  der  Dessätine, 


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140      Agrargesetzgebung  für  die  baltischen  Krondomänen. 


nach  Abrechnung  der  Aussaat,  als  geringster  Ertrag  der  von  12 
Tschetwerik  von  einer  Dessätine  angenommen  worden.  Diesen 
Klassen  uud  Graden  sind  die  Bodenkategorien  des  einzelnen  Gutes 
unterzuordnen. 

Aus  der  Anzahl  der  vorhandenen  Dessätinen,  wobei  bei  der 
Drei-  oder  Mehrfelderwirthschaft  die  Brachfelder  nicht  mitgerechnet 
werden,  und  dem  für  jede  Bodenklasse  und  jeden  Grad  in  Tschet- 
weriks  ermittelten  Ertrag  an  Roggen  wird  der  Totalertrag  des 
Ackerlandes  für  jedes  zu  schätzende  Grundstück  gefunden,  von 
welchem  dann  ein  bestimmter  Procentabzug  als  Entgelt  für  die 
Bearbeitungsunkosten  gemacht  werden  muss ,  um  zu  dem  der 
Schätzung  zu  Grunde  zu  legenden  Ertrage  zu  gelangen.  Dieser 
Abzug  steigt  von  22  pCt.  für  den  ersten  Grad  der  L  Klasse  bis 
auf  95  pCt.  für  den  dritten  Grad  der  VI.  Klasse. 

Bei  der  Schätzung  des  Heuschlages  ist  sowol  auf  die  Güte 
als  auch  auf  die  Menge  des  von  demselben  geernteten  Heues  Rück- 
sicht zu  nehmen.  Nach  der  Güte  des  Heues  werden  die  Heuschläge 
in  vier  Klassen,  nach  der  Menge  des  Heues  aber  in  17  Grade 
eingetheilt. 

Bei  der  Bestimmung  des  Schätzungswerthes  ist  der  Ertrag 
einer  Dessätine  in  Puden  zu  berechnen  und  der  Werth  derselben 
nach  den  örtlichen  Preisen  für  Roggen  und  Heu  auf  Roggen  in 
Tschetweriks  umzusetzen,  wobei  gleichfalls  ein  bestimmter  Abzug, 
26  pCt.  bis  85  pCt.,  als  Entschädigung  für  die  Bearbeitungsunkosten 
zu  machen  ist.  Die  Berechnung  ist  für  Heu  mittlerer  Qualität  zu 
machen,  als  welches  dasjenige  der  III.  Klasse  zu  gelten  hat  und  ist 
1  Pud  Heu  I.  Kl.  =  1«/,  Pud  Heu  III.  Kl. 

1       c       t      II.    t    S  1%       C        €        «  « 

l  .  €     t  IV.  «  =  */,     c     «     «     t  zu  berechnen. 

Das  Weideland  ist  je  nach  den  Ortsverhältnissen  auf  >/t,  •/> 
oder  '/«  des  Werthes  der  Heuschläge  der  entsprechenden  Grade 
zu  schätzen.  Kann  die  Weide  jedoch  ohne  Nachtheil  für  die 
Wirthschaft  und  ohne  Capitalauslagen  in  Heuschlag  verwandelt 
werden,  so  wird  sie  wie  Heuschlag  geschätzt. 

Als  Massstab  für  die  Schätzung  des  unter  Gebäuden  und  den 
dazu  gehörigen  Gärten  und  Höfen  befindlichen  Landes  hat  der 
Ertrag  des  Roggenfeldes  auf  dem  besten  Boden  des  Gutes  zu  gelten. 

Ist  auf  diese  Weise  der  Schätzungsertrag  alles  nutzbaren 
Landes  in  Tschetwerik  Roggen  festgestellt,  so  wird  der  Schätzungs- 
werth des  einzelnen  Gesindes  oder  Grundstückes  ermittelt,  indem 


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Agrargesetzgebung  für  die  baltischen  Krondomänen.  141 


man  den  Roggenertrag  desselben  nach  dem  örtlichen  Preise  für 
Roggen  in  Geld  umsetzt.  Der  örtliche  Roggenpreis  ist  hierbei  in 
folgender  Weise  zu  bestimmen  : 

Durch  Nachfragen  und  Erkundigungen  bei  den  Verwaltungs- 
behörden und  Beamten  werden  Auskünfte  über  die  Roggenpreise 
am  nächsten  Absatzorte  für  Getreide,  wo  möglich  für  die  letzten 
zwölf  Jahre,  gesammelt  und  die  gleichen  Erkundigungen  werden 
auch  von  Händlern,  Gutsbesitzern  &c.  eingezogen.  Nach  allen 
diesen  Quellen  wird  der  mittlere  Preis  für  jedes  der  zwölf  letzten 
Jahre  bestimmt  und  dann  unter  Weglassung  der  beiden  Jahre, 
welche  den  höchsten  Preis  aufweisen ,  aus  den  Übrigbleibenden 
Preisen  für  zehn  Jahre  der  mittlere  Preis  berechnet.  Dieses  Resultat 
wird  dann  noch  durch  Vergleichung  mit  den  übrigen  gesammelten 
Daten  und  den  für  andere  Orte  ermittelten  mittleren  Preisen  be- 
richtigt. Aus  dem  auf  diese  Weise  festgestellten  mittleren  Preise 
für  den  nächsten  Absatzort  wird  der  örtliche  Preis  durch  Ab- 
rechnung der  Transportkosten  gefunden. 

Nach  der  Höhe  des  Srhätzungsertrages  richtet  sich  auch  die 
Höhe  der  für  die  Benutzung  von  Kronbauerländereien  zu  zahlenden 
Pachtsumme,  indem  der  Pachtschilling  im  allgemeinen  auf  '/•  des 
Schätzungsertrages  festzusetzen  ist.  Der  Pachtschilling  kann  um 
10,  20  und  bis  30  pCt.  ermässigt  werden,  wenn  besondere  Um- 
stände vorhanden  sind,  welche  den  Werth  des  Bodens  verringern. 
Als  solche  Umstände  haben  zu  gelten  :  Streulage  der  Ländereien, 
ungünstige  Lage  der  Felder,  mangelhafte  Verkehrsmittel,  Holz- 
und  Wassermangel  &c.  Eine  Erhöhung  des  Pachtsatzes  um  10, 
20  und  bis  30  pCt.  kann  dagegen  eintreten  bei  besonders  günsti- 
gen Bedingungen  für  den  Absatz  landwirtschaftlicher  Producte, 
bei  bedeutendem  Anbau  von  Flachs  und  anderen  werthvollen 
Industriepflanzen,  bei  Gütern,  welche  an  Land-  und  Wasserstrassen 
oder  in  der  Nähe  grosser  Städte  liegen,  und  in  ähnlichen  Fällen. 
Zur  Erhöhung  oder  Ermässigung  des  Pachtschillings  über  oder 
unter  l/3  der  Schätzungseinkünfte  ist  jedoch  stets  ministerielle  Be- 
stätigung erforderlich. 

Ausser  an  einem  einheitlichen  Zinsverhältnis  mangelte  es 
noch  an  einer  t  Verordnung  über  die  Agrarverhältnisse  der  Bauern, 
der  Organisation  des  Bauerstandes  und  einer  für  denselben  einzu- 
führenden landwirtschaftlichen  Ordnung»,  da  die  bezüglichen  Be- 
stimmungen der  Ii  vi.  Bauerverordnung  vom  Jahre  1800  auf  die 


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142      Agrargesetzgebung  für  die  baltischen  Krondomänen. 

p 

auf  publiken  Gütern  domicilirenden  Bauern  keine  Anwendung  finden 
sollten.  (Einführung  in  die  livl.  Bauerverordnung  IL)  In  Folge 
solcher  Mängel  wurde  der  Verkauf  des  Bauerlandes  bis  auf  weiteres 
ausgesetzt  und  im  Anschluss  an  das  Gesetz  über  die  allgemeine 
Regulirung  des  Bauerlandes  wurden  am  10.  März  1869  die  «Regeln 
über  die  administrative  und  agrarische  Organisation  für  die  auf 
den  Baltischen  Krongütern  angesiedelten  Bauern»  erlassen.  Nach 
diesen  Regeln  wird  die  Gesammtsumme  des  von  allen  Gesinden 
zu  erhebenden  Zinses  festgesetzt  für  Kurland  auf  557000  Rbl.,  für 
Livland  auf  260000  und  für  Estland  auf  4000  Rbl.  Nach  be- 
endigter Regulirung  aller  Krongüter  in  jedem  Gouvernement  sollte 
die  Gesammtsumme  des  auf  das  Gouvernement  entfallenden  Zinses 
im  Verhältnis  zu  der  durch  die  Regulirung  zuwege  gebrachten 
Werthschätzung  repartirt  werden.  Der  Ankauf  der  Gesinde  konnte 
nur  auf  Grund  einer  bereits  ausgereichten  Regulirungsacte,  welche 
die  Resultate  der  Regulirung  enthalten  sollte,  stattfinden  und  der 
Verkaufspreis  einer  jeden  Bauerlandstelle  sollte  durch  Capitalisi- 
rung  des  jährlichen  Zinses  zu  4  pCt.  gewonnen  werden  und  die 
Tilgung  des  Capitals  durch  jährliche  Zahlung  von  2'/j  pCt.  während 
49  Jahre  vor  sich  gehen,  die  Kaufsumme  aber  zu  5  pCt.  verrentet 
werden.  Der  Bauer  hatte  also,  um  Eigenthümer  zu  werden,  nur 
nöthig,  ausser  dem  durch  die  Regulirungsacte  festgesetzten  Zins  — 
das  sind  4  pCt.  von  der  Kaufsumme  —  an  Renten  noch  pCt., 
mithin  im  ganzen  ö'/a  pCt.  jährlich  zu  zahlen,  um  nach  49  Jahren 
vollständig  schuldenfrei  dazustehen.  Ueberdies  konnte  der  Käufer 
noch  jährliche  Capitalabzahlungen,  jedoch  nicht  unter  100  Rbl., 
machen,  und  zwar  nicht  allein  in  baarem  Gelde,  sondern  auch  in 
allen  Arten  von  Staatspapieren,  die  zum  Nominalcourse  in  Anrech- 
nung gebracht  wurden.  Er  konnte  demnach  bei  dem  häufig  sehr 
niederen  Course  der  Staatspapiere  mitunter  noch  um  10  und  mehr 
Procente  die  Kaufsumme  ermässigen,  indem  er  Capitalabzahlungen 
in  Werthpapieren  bewerkstelligte.  Noch  in  anderer  Beziehung  war 
dieser  Ukas  von  der  höchsten  Bedeutung  Einmal  wurde  durch 
ihn  jede  Beteiligung  der  Domänen  Verwaltung  an  der  Administra- 
tion der  auf  Krongütern  angesiedelten  Bauern,  an  der  Aufsicht 
über  die  Gemeindeverwaltung,  über  die  Leistung  ihrer  Reichs-  und 
Landesprästanden  und  die  Erfüllung  der  Rekrutenprästation,  an 
der  Beaufsichtigung  der  Landschulen  und  an  der  Uebertragung  der 
der  Gutspolizei  überlassenen  Rechte  und  Pflichten  auf  eine  be- 
liebige Person  nach  Wahl  der  Domänen  Verwaltung  beseitigt  und 


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Agrargesetzgebung  für  die  baltischen  Krondomänen.  143 


in  dieser  Beziehung  die  Kronbauern  den  Bauern  auf  den  Privat- 
gütern gleichgestellt.  Die  Verwaltung  der  Gutspolizei  innerhalb 
der  Krongüter,  welche  von  Privatgütern  abgesonderte  Gemeinden 
bildeten,  hatte  von  nun  an  auf  den  Gemeindeältesten  überzugehen, 
falls  nicht  zwingende  Gründe  es  für  geeigneter  erscheinen  lassen 
sollten,  die  Gutspolizei  den  Arrendatoren  zu  übertragen. 

Zweitens  wurde  hinsichtlich  der  Gesindepacht  ein  dingliches 
Recht  geschalten.  Dieses  Recht  ist  eingehender  Erörterung  unter- 
zogen worden  in  einem  im  XXVIII.  Bande  dieser  Zeitschrift  er- 
schienenen Artikel  cDie  Rechte  der  Bauern  an  den  Krongesinden 
in  Livland».  Demselben  lässt  sich  jedoch  nicht  in  allen  Punkten 
beistimmen.  —  In  Uebereinstimmung  mit  dem  Patent  der  livl. 
Gouvernementsregierung  hat  der  Verfasser  die  Worte  des  Art.  I 
des  Gesetzes  vom  10.  März  1869  «KpecTtaue  coxpanjuoTi  bt,  uo- 
ctouuuom'l  cbocmt»  uojik30Baiiiu  upeAocTaBJieiiiiue  bmii  yiacTKH»  über- 
setzt :  «die  Bauern  erhalten  die  ihnen  überlassenen  Landparcellen 
zu  ihrer  immerwährenden  Benutzung  *  und  schliesst  hieraus,  wie  aus 
dem  Umstände,  dass  die  Regulirungscommission  den  vorhandenen 
Besitz  den  Bauern  nicht  entziehen  oder  denselben  verkleinern  durfte, 
dass  das  immerwährende  Nutzungsrecht  sc.  Nutzungseigenthum  von 
den  Bauern  nicht  auf  Grund  der  Regulirungsacte,  sondern  kraft 
des  Gesetzes  selbst  erworben  werde.  Dieser  Ansicht  kann  schon 
aus  dem  einfachen  Grunde  nicht  beigetreten  werden,  weil  das  hier 
massgebende  Verbum  «coxpanarb»  nicht  etwa  die  Bedeutung  hat, 
dass  etwas  Neues  geschaffen,  sondern  vielmehr,  dass  ein  bestehendes 
Recht  aufrecht  erhalten  werden  soll.  Ein  Nutzungseigenthum  der 
Bauern  am  Bauerlande  im  Sinne  unseres  Privatrechts  hatte  bisher 
nicht  existirt ;  es  konnte  mithin  auch  gar  nicht  aufrecht  erhalten 
werden.  Das  hier  in  Betracht  kommende  Recht  muss  daher  etwas 
ganz  anderes  gewesen  sein.  Ueberdies  mangelte  es  bis  zur  Aus- 
reichung der  Regulirungsacten  an  der  Bestimmtheit  sowol  des 
Objects,  an  welchem  das  Nutzungseigenthum  bestellt  worden,  als 
auch  des  Zinses.  Beides  sollte  erst  durch  die  Regulirungscommission 
festgestellt  werden.  Welche  Art  Nutzung  den  Bauern  erhalten 
werden  sollte,  erläutern  uns  die  Motive  zu  der  von  dem  Minister 
der  Reichsdomänen  ausgearbeiteten  Vorlage  zum  qu.  Gesetz.  Die- 
selben führen  die  erbliche  Nutzung  der  Bauern  am  Bauerlande  auf 
ein  vom  Karl  XI.  gewährtes  Recht  zurück,  welches  durch  die  Bauer- 
verordnung vom  29.  Febr.  1804  nochmalige  Bestätigung  gefunden 
habe.    Zwar  sei  dieses  Recht  durch  die  spätere  Gesetzgebung 

BaltUcbe  Mo»at«fChrifl.  Bd.  XXXIV.  Heft  2.  10 


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144      Agrargesetzgebung  für  die  baltischen  Krondomänen. 


beseitigt  worden,  thatsächlich  habe  es  aber  für  die  Krongüter  auch 
noch  weiterhin  fortbestanden  und  endlich  zur  Ausbildung  eines 
Gewohnheitsrechts  geführt,  welchem  die  Allerhöchste  Sanction  zu 
geben  es  nun  gelte.  Endlich  wird  ausdrücklich  hervorgehoben, 
dass  die  yTBepacjienie  bi  npaBaxi>  durch  die  Ausreichung  eines 
Actes  zu  erfolgen  habe.  Unter  dem  Gewohnheitsrecht,  dessen  hier 
Erwähnung  gethan  wird,  kann  nichts  anderes  verstanden  werden, 
als  das  in  Liv-  und  Kurland  unter  dem  Namen  Näher-  oder  Vor- 
pachtrecht an  den  Kronbauergesinden  oder  auch  Erbrecht  an  den 
Pachtrechten  bekannte,  dessen  Entwickelung  für  Kurland  weiter 
unten  gegeben  werden  soll. 

Der  Verfasser  des  gedachten  Artikels  glaubt  ferner,  da  im  Privat- 
recht zweier  durch  Privatwillkür  entstehender  Arten  des  Nutzungs- 
eigenthums besondere  Erwähnung  gethan  ist,  nämlich  des  Grund, 
zinsrechts  und  Erbpachtrechts,  unter  eins  dieser  beiden  auch  das 
Nutzungsrecht  der  Kronbauern  rubriciren  zu  müssen,  und  zwar 
giebt  er  dem  Grundzinsrecht  den  Vorzug,  weil  die  Erbpacht  einen 
im  Verhältnis  zum  Ertrage  stehenden  Zins  voraussetze,  von  dem' 
hier  im  Hinblick  auf  die  Geringfügigkeit  der  von  den  Bauern  zu 
entrichtenden  Zahlungen  und  auch  deshalb  nicht  die  Rede  sein  könne, 
weil  die  Gesammtsumme  des  Pachtertrages  vor  dessen  Feststellung 
durch  die  Regulirung  durch  das  Gesetz  normirt  worden.  Allein 
mit  den  vom  Provinzialrecht  aufgezählten  Arten  des  Nutzungs- 
eigenthums ist  die  Zahl  derselben  durchaus  nicht  abgeschlossen  zu 
denken.  Dasselbe  stellt  vielmehr  eine  ganze  Anzahl  charakteristi- 
scher Merkmale  (Art.  942  u.  ff.)  auf,  welche  jedesmal  vorhanden 
sein  müssen,  damit  ein  Nutzungseigenthum  begründet  werde,  und 
behandelt  sodann  am  besonderen  Platz  das  Grundzins-  und  Erb- 
pachtrecht, weil  diese  durch  den  Hinzutritt  besonderer  Rechte  sich 
auszeichnen.  Bei  der  Behandlung  der  Frage,  was  für  Rechte  durcli 
den  Ukas  vom  10.  März  I8f>9  geschaffen  seien,  wäre  daher  in 
erster  Linie  zu  untersuchen,  ob  die  allgemeinen  Bedingungen, 
welche  zur  Begründung  des  Nutzungseigenthums  absolut  nothwendig 
sind,  mi  casu  zutreffen  und  sodann  erst,  ob  eine  von  den  im  Gesetz 
aufgeführten  specielleren  Arten  auf  das  gegebene  Verhältnis  passe. 
Die  erste  Frage  wäre  nach  den  im  gedachten  Artikel  angegebenen 
Einzelheiten  unbedingt  zu  bejahen,  die  zweite  dagegen  zu  verneinen. 
Im  Gegensatz  zu  den  Ausführungen  in  dem  gedachten  Aufsatz  kann 
von  einem  Erbgrundzinsrecht  gerade  deshalb  nicht  die  Rede  sein, 
weil  es  sich  um  ein  fruchttragendes  Grundstück  handelt,  dessen 


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Agrargesetzgebung  für  die  baltischen  Krondomänen.  145 


Zins  nach  dem  Willen  der  Parteien  im  Verhältnis  zu  dem  Ertrage 
steht.  Wie  sehr  man  bestrebt  gewesen,  den  Zins  in  Einklang  mit 
dem  Ertrage  zu  bringen,  geht  aus  der  oben  dargestellten  Schätzung 
der  Grundstücke  hervor.  Der  Massstab,  welcher  bei  jeder  Schätzung 
in  Anwendung  zu  kommen  hat,  ist  in  jedem  Fall  dem  Ermessen 
und  der  Vereinbarung  der  Parteien  zu  überlassen.  Es  lässt  sich 
daher  das  Nichtvorhandensein  eines  Erbpachtrechts  aus  dem  Um- 
stände allein  nicht  herleiten,  dass  nach  der  Ansicht  dritter  Personen 
der  Zins  dem  Ertrage  nicht  entspreche,  vielmehr  kommt  es  ledig- 
lich auf  den  Partei  willen  an,  welcher  in  casu  durch  die  Gesetz- 
gebung zum  Ausdruck  gelangte  und  gerade  darauf  gerichtet  war, 
den  Zins  in  ein  Verhältnis  zum  Ertrage  der  Nutzung  zu  bringen. 
Dem  steht  auch  gar  nicht  der  Umstand  entgegen,  dass  durch  das 
Gesetz  vom  10.  März  18(59  die  Gesammtsumme  des  Zinses  zum 
voraus  festgestellt  worden  ist,  da  diese  Summe  keineswegs  eine 
willkürliche,  aus  der  Luft  gegriffene,  sondern  das  Resultat  einer 
Berechnung  ist,  zu  deren  Grundlage  die  Gesammtsumme  der  für 
das  Jahr  18G9  für  alle  drei  Provinzen  in  Aussicht  gestellten  Zins- 
revenue  von  026585  Rbl.  68  Kop.,  verbunden  mit  dem  gesammten 
bisherigen  Regulirungsergebnis,  gedient  hatte.  Also  auch  diese 
vorher  festgestellte  Gesammtsumme  ist  eine  Verhältniszahl.  Welche 
Factoren  aber  sonst  noch  mitgewirkt  haben,  der  Regulirung  vor- 
zugreifen und  die  Verhältniszahl  approximativ  vorher  zu  bestimmen, 
gehört  nicht  zur  Sache.  Gehen  wir  die  Eigentümlichkeiten1  durch, 
welche  das  Rechtsverhältnis  der  Bauern  an  den  Kronbauerl  ände- 
reien  auszeichnen,  so  finden  wir,  dass  das  denselben  eingeräumte 
Nutzungseigenthum  von  den  für  das  Grundzins-  und  das  Erbpacht- 
recht festgesetzten  Bestimmungen  wesentlich  abweicht  und 
zwar  bald  in  das  Nutzungsrecht  einschränkender,  bald  in  dasselbe 
erweiternder  Weise,  so  dass  es  in  mancher  Beziehung  dem  vollen 
Eigenthum  noch  näher  gerückt  erscheint.  Man  kann  sich  daher 
auch  nicht  der  Ueberzeugung  verschliessen,  dass  durch  das  Gesetz 
vom  10.  März  1869  ein  ganz  eigenartiges  Nutzungseigenthum  ge- 
schaflFen  worden  ist,  welches  als  ein  kraft  des  Gesetzes  bestehendes 
dingliches  Recht  auf  Grund  des  Art.  3004  P.  2  auch  ohne  Ein- 

1  Im  Gegensatz  zu  den  im  alL  Aufsatz  aufgezählten  Eigentümlichkeiten  ist 
zu  diesen  gerade  auch  zu  rechnen,  dass  da«  Grundstück  in  das  unbeschränkt« 
Eigenthum  des  Obereigeithümers  nicht  zurückfallen  soll.  In  eingehendster  Weise 
wird  dieses  in  Frage  stehende  Rechtsverhältnis  in  einer  Entscheidung  des  knrl. 
Oberhofgericht*  in  Suchen  Sänke  wider  die  Anlache  Gntsverwaltung  behandelt. 

10* 


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146      Agrargesetzgebung  für  die  baltischen  Krondomänen 


tragung  in  die  öffentlichen  Bücher  wirksam  ist.  Endlich  scheint  die 
Ansicht  durchaus  nicht  berechtigt,  als  werde  ein  regulirtes  Gesinde 
zum  vollen  Eigenthum  durch  einen  einseitigen  Act  erworben.  Die 
im  Gesetz  vom  10.  März  1869  festgesetzten  Kaufbedingungen  sollen 
weiter  nichts  als  eine  Offerte  vorstellen,  die,  falls  sie  von  dem  im 
Besitz  des  Gesindes  befindlichen  Wirth  acceptirt  werden,  zum  Ab- 
schluss  eines  Kaufvertrages  führen  sollen.  Diese  Anschauung  wird 
durch  die  Form  der  höheren  Orts  ausgearbeiteten  Kaufcontracte  in 
jeder  Beziehung  bestätigt.  Dieselben  sind  in  die  allgemein  für  solche 
hier  übliche  Form  gekleidet,  nämlich  :  tEs  verkauft  die  Balt.  Dom.- 
Verwaltung  dem  und  dem  das  und  das  Bauergesinde  für  den  und  den 
Preis»,  worauf  dann  die  Unterschrift  der  beiden  Contrahenten  erfolgt. 

Das  Erbrecht  der  Bauern  am  Pachtbesitz,  dessen  Entwicke- 
lung  hier  in  kurzen  Zügen  gegeben  werden  soll,  hat  seine  Ent- 
stehung offenbar  längst  vergangenen  Zeiten  zu  verdanken.  Greifen 
wir  zurück  in  die  Zeit  der  Leibeigenschaft,  so  finden  wir  eine 
Erklärung  für  dasselbe  in  dem  Umstände,  dass  der  Bauer  in  einem 
festen,  dem  Wechsel  selten  unterliegenden  Verhältnis  zu  dem  von 
ihm  bebauten  Grundstücke  stand ;  als  glebae  adscriptus  gehörte  er 
zum  Grund  und  Boden,  er  war  mit  diesem  'in  eins  verwachsen. 
Besonders  auf  den  der  Krone  gehörigen  Gütern  niusste  diese  Zu- 
gehörigkeit sich  im  Bewusstsein  der  Bauerbevölkerung  festsetzen, 
unterlagen  sie  doch  hier  weniger  als  auf  den  Privatgütern  der 
Willkür.  Die  Bauernemancipation  vernichtete  dieses  traditionelle 
Grundverhältnis,  sie  beseitigte  diesen  tief  eingewurzelten  Begriff  der 
Zusammengehörigkeit,  sie  vermochte  aber  nicht  die  Ueberzeugung 
der  Gesindepächter  von  einem  festen  rechtlichen  Zusammenhang 
seiner  Person  und  Familie  mit  dem  Pachtgrundstück  auszulöschen  und 
schuf  dadurch  jene  unendliche  Anzahl  Reclamationsklagen,  welche, 
wie  gesagt,  die  Archive  aller  Bauerbehörden  füllen.  Die  Acten  der 
baltischen  Dom. -Verwaltung  erwähnen  ausdrücklich  einer  aus  herzog- 
lichen Zeiten  stammenden  Gewohnheit,  durch  welche  eine  wechsel- 
seitige Zugehörigkeit  des  Gesindewirths  und  dessen  Familie  zu 
einem  bestimmten  Gesinde  begründet  worden  ;  sie  erwähnen  auch 
dessen,  dass  unter  russischer  Herrschaft  während  der  Leibeigen- 
schaft diese  alte  Gewohnheit  gleichmassig  geübt  sei.  Die  Auf- 
hebung der  Leibeigenschaft  versetzte  dieser  Gewohnheit  einen  ge- 
waltigen Stoss.  Der  hohen  Krone  verblieb  gleich  den  Privat- 
besitzern das  volle  Eigenthum  an  dem  ßauerlande.  Die  Bauer- 
verordnung,  welche  gleichermassen  für  die  auf  Krön-  und  Privat- 


Agrargesetzgebung  für  die  baltischen  Krondomänen.  147 

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gütern  lebenden  Bauern  in  Anwendung  zu  kommen  hatte,  überliess 
es  dem  Gutsbesitzer,  nach  freiem  Ermessen  die  Gesinde  wem  be- 
liebig zu  übergeben.  Es  waren  demnach  auch  die  auf  Kronlände- 
reien  ansässigen  Bauern  ohne  irgend  welchen  Anspruch  auf  fort- 
gesetzten Besitz  des  Bauerlandes  frei  geworden.  Ihnen  war  gleich 
allen  übrigen  Bauern  in  Aussicht  gestellt,  nach  Ablauf  des  transi- 
torischen  Zustandes  in  ein  Pachtverhältnis  zu  der  Krone  bezüglich 
der  von  ihnen  bis  dahin  genutzten  Gesinde  zu  treten.  Bis  zu  dem 
Moment  hatten  die  jeweiligen  Inhaber  der  Krongesinde  die  Verpflich- 
tung, in  Uebereinstimmung  mit  den  neuesten  Wackenbüchern  und  In- 
ventarien  die  in  den  Gehorchstabellen  bestimmten  Frohnen  zu  leisten. 

Der  Zeitpunkt  für  die  Einführung  der  Pachtverträge  konnte 
seitens  des  Cameralhofs,  in  dessen  Händen  sieh  die  Verwaltung 
der  Domänen  damals  befand,  nicht  eingehalten  werden  und 
musste  bis  weit  nach  Eintritt  des  definitiven  Freiheitszustandes 
der  Bauern  Hinausschiebung  erleiden.  Das  Frohnverhältnis  der 
Kronbauerwirthe  dehnte  sich  daher  auch  über  den  festgesetzten 
Termin  aus  und  während  dessen  Bestehens  bildete  die  Gehorchs- 
tabelle den  Massstab  der  von  den  Wirthen  zu  leistenden  Frohnen. 
Die  Einsetzung  und  Bestätigung  der  Wirthe  vacanter  Gesinde- 
stellen erfolgte  auj  Grund  der  Vorstellung  der  Krongutsverwaltung 
durch  die  örtliche  Domänenverwaltung.  Diese  Bestätigung  sollte 
dem  bestätigten  Wirth  keinerlei  Anspruch  auf  Abschluss  eines 
Pachtvertrages  für  den  Fall  der  erwarteten  Einführung  des  Pacht- 
verhältnisses gewähren,  da  sie  regelmässig  mit  der  Clausel  <bis 
auf  anderweitige  Anordnung  der  Dom. -Verwaltung»  erfolgte.  So- 
nach hatte  die  Dom.-Verwaltung  vollständig  freie  Hand  bei  Be- 
setzung der  Gesindestellen  und  mussten  Gesindereclamationen  in 
Folge  eines  Erb-  oder  Näherrechts  der  Verwandten  eines  ver- 
storbenen Gesindewirths  vollständig  ausgeschlossen  erscheinen.  Ein 
Befehl  der  kurl.  Gouvernementsregierung  vom  Jahre  1825  und  ein 
Cameralhofsbefehl  vom  Jahre  1832  betonen  die  Unzulässigkeit 
solcher  Reclamationen.  Allein  die  im  Rechtsbewusstsein  des  Land- 
volkes tief  eingewurzelte  Ueberzeugung,  ein  Recht  an  dem,  sei  es 
vom  Vater  oder  auch  nur  von  Seiten  verwandten,  bewirtschafteten 
Krongesinde  zu  besitzen,  vermochte  sich  nicht  mit  der  vollständigen 
Rechtlosigkeit  in  Betreff  des  Landbesitzes,  wie  sie  die  Befreiung 
von  der  Leibeigenschaft  hervorgerufen,  zu  befreunden.  Eine  Un- 
masse an  den  Generalgouverneur  eingereichter  Beschwerden,  welche 
sich  namentlich  gegen  die  Bevorzugung  der  unbeerbten  Wittwe 


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148      Agrargesetzgebung  für  die  baltischen  Krondomänen. 


gegenüber  den  Seitenverwandten  und  gegen  die  Bestätigung  der 
in  das  Gesinde  eingeheirateten  Wittwe  resp.  ihres  Ehemannes 
aus  zweiter  Ehe  als  Gesindeswirthe  während  der  Unmündig- 
keit der  Kinder  erster  Ehe  richteten ,  bezeugen  die  Un- 
zufriedenheit der  Landbevölkerung  mit  der  Besetzung  der  Kron- 
gesinde und  veranlassten  den  Generalgouverneur  v.  d.  Pahlen,  sich 
wegen  Beseitigung  der  Unzufriedenheit  mit  dem  temporären  Conseil 
zur  Verwaltung  der  Reichsdomänen  in  Relation  zu  setzen.  Letz- 
tere Behörde  erliess  hierauf  am  27.  April  1837  eine  die  Besetzung 
der  Krongesinde  betreffende  Verordnung,  welche  als  Befehl  des 
kurl.  Cameralhofs  an  sämmtliche  Gemeindegerichte,  Kreisgerichte 
und  Kreis-Kammerverwandte  (d.  i.  die  damaligen  Domänen- Bezirks- 
inspectoren) publicirt  wurde  und  deren  Giltigkeitsdauer  sich  bis 
zur  Umwandlung  der  Frohne  in  ein  Pachtverhältnis  erstrecken 
sollte.  Der  Punkt  11  des  gedachten  Befehls  lautet:  cWas  die 
Erbfolge  in  den  Gesinden,  welche  wegen  Ablebens  der  wirklichen 
Wirthe  vacant  geworden,  betrifft,  so  ist,  damit  die  alte  und  fast 
überall  übliche  Usance,  welche  dem  Nutzen  der  Krone  und  der 
Bauern  nicht  zuwider  ist,  nach  Möglichkeit  beobachtet  werde,  bis 
die  Güter  vermessen  worden,  zu  berücksichtigen,  welcher  zufolge 
ein  Gesinde  nach  dem  Tode  des  Wirths  denjenigen  im  selbigen 
nachbleibenden  Gliedern  der  Familie  oder  des  (resindes  überlassen 
wird,  die  hierzu  für  fähig  anerkannt  werden,  ohne  dies  Recht  blos 
auf  die  Kinder  des  Wirths  zu  beschränken,  sondern  selbiges  auf 
alle  Glieder  der  Familie  oder  des  vacanten  Gesindes  zu  extendiren  ; 
bei  Entscheidung  entstehender  Streitigkeiten,  Misverständnisse  und 
Klagen  können  aber  als  Erklärung  der  obigen  Usance  nach- 
stehende Regeln  über  die  Erbfolge  in  Gesinden,  die  wegen  Ab- 
lebens der  Wirthe  vacant  geworden,  angenommen  werden  : 

cl.  Nach  dem  Tode  eines  ordentlichen  Wirths  geht  das  in 
seinem  Besitz  befindlich  gewesene  Gesinde  auf  die  leiblichen  Söhne 
jenes  Wirths  und  in  Ermangelung  von  Söhnen  auf  die  Töchter  des- 
selben und  hiernächst  auf  die  übrigen  nächsten  Verwandten  des 
Verstorbenen  nach  der  Erstgeburt  über,  indem  hier  solche  Personen 
zu  verstehen  sind,  die  zu  den  vacanten  Gesinden  gehören,  nicht 
aber  anderweitig  bereits  abgetheilte. 

t2.  Sind  die  Kinder  unmündig,  so  wird  das  Gesinde  bis  zu 
ihrer  Volljährigkeit  von  der  nachgebliebenen  Wittwe  des  ver- 
storbenen Wirths  verwaltet ;  lehnt  sie  aber  diese  Verwaltung  von 
sich  ab  oder  existirt  sie  gar  nicht,  so  wird  das  Gesinde  bis  zur  Voll- 


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Agrargesetzgebung  für  die  baltischen  Krondomänen.  149 


j ihrigkeit  der  Kinder  einem  der  nächsten  Verwandten  des  verstorbenen 
Wirths  als  Vormund,  falls  er  zuverlässig  ist,  oder  aber  anderen  zuver- 
lässigen Leuten  nach  Auswahl  der  Gemeinde  in  Verwaltung  gegeben. 

<3.  Wenn  ein  vacantes  Gesinde  aus  irgend  welchen  Ur- 
sachen nicht  in  den  Besitz  der  Familien-  oder  Gesindeglieder  ge- 
langt, so  wird  dasselbe  in  neuen  Besitz  vergeben,  wobei  nach  Um- 
ständen die  übrigen  Verwandten  des  gewesenen  Wirths,  wenn  auch 
sie  sich  unter  den  Concurrenten  zum  Besitz  des  Gesindes  melden, 
berücksichtigt  werden  können. 

«4.  Bei  Uebergabe  eines  vacanten  Gesindes  ist  nothwendig 
darauf  zu  sehen,  dass  der  in  Besitz  desselben  Tretende  persönliche 
Fähigkeit  dazu  und  gute  Moralität  besitzen 

Während  man  aber  bisher  nur  den  Vorzug  bei  der  Besetzung 
der  Gesinde,  wenn  überhaupt,  so  lediglich  auf  die  leiblichen  Kinder 
und  die  Wittwe  erstreckte,  sollten  von  nun  an  auch  die  Seiten- 
verwandten berücksichtigt  werden,  wogegen  die  unbeerbte  Wittwe 
von  jedem  Anrecht  auf  das  Gesinde  ausgeschlossen  wird.  Bisher 
war  die  örtliche  Verwaltung  von  der  Ansicht  ausgegangen,  dass 
die  Bevorzugung  der  Kinder  uud  der  Wittwe  bei  der  Besetzung 
der  Gesinde  eine  ökonomische  Massregel  sei  und  eine  Belohnung 
für  die  gute  Bewirthschattung  des  Gesindes  bilden  sollte,  dagegen 
aber  Seitenverwandte  um  deswillen  bei  der  Gesindebesetzung  keine 
Berücksichtigung  fanden,  weil  man  einerseits  fürchtete,  der  Nach- 
weis des  besseren  Rechts  unter  den  Seitenverwandten  könnte  zu 
Weiterungen  führen  und  die  schleunige  Besetzung  des  Gesindes 
verhindern,  und  weil  man  andererseits  dem  entgegentreten  wollte, 
dass  sich  bei  der  Bauerbevölkerung  die  Ueberzeugung  ausbilde,  es 
existire  ein  bestimmtes  Recht  des  Besitzes,  welches  durch  die  Ge- 
richte zur  Geltung  gebracht  werden  könnte.  Nun  Hess  man  die 
bisher  bei  der  Gesindebesetzung  leitenden  Grundsätze  zum  grössten 
Theil  bei  Seite,  eine  aus  herzoglichen  Zeiten  herstammende  Gewohn- 
heit (oöuKUOBeuie)  sollte  von  jetzt  ab  massgebend  sein,  nach  welcher 
das  Gesinde  in  der  fortgesetzten  Verwaltung  der  eingesessenen 
Familie  zu  verbleiben  hatte.  Obgleich  das  temporäre  Conseil 
hervorhebt,  dass  die  Gewohnheit  anstatt  des  mangelnden  Gesetzes 
getreten  sei,  so  verlangte  es  dennoch  die  Beobachtuug  derselben 
nicht  strict,  sondern  nur  nacli  Möglichkeit.  Diese  Möglichkeit, 
unter  Umständen  die  Regeln  nicht  beobachten  zu  müssen,  ferner 
der  Umstand,  dass  die  Besetzung  der  Gesinde  nur  für  den  Fall 
des  Todes  eines   ordentlichen  Wirths  geregelt  wurde,  die 


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150     Agrargesetzgebung  für  die  baltischen  Krondomänen. 

vielen  anderen  Fälle  der  Gesindesvacanz,  wie  Aufgabe  des  Gesindes, 
Entsetzung  von  demselben  wegen  Miswirthschaft  oder  wegen  anderer 
Gründe  u.  a.  m.,  unberücksichtigt  geblieben  waren,  gaben  die  Ver- 
anlassung, das  Princip  der  Zugehörigkeit  des  Gesindes  zu  eiaer 
Familie  zu  durchbrechen.  Die  örtliche  Verwaltung  neigte  sich 
mehr  und  mehr  der  alten  Anschauung  zu  und  stellte  das  Vorrecat 
der  Descendenten  bei  der  Besetzung  des  vacanten  Gesindes  ledig- 
lich als  Lohn  für  gute  Führung  und  Bewirtschaftung  des  Bodens 
dar.  Diese  Belohnung  schien  ihr  eine  nothwendige  Massregel,  um 
die  Anhänglichkeit  und  Liebe  für  den  Grund  und  Boden  zu  wecken, 
welche  ihrerseits  allein  eine  Garantie  für  eine  gute  agrarische  Ent- 
wickelung,  Hebung  des  Ackerbaues  und  des  allgemeinen  bäuerlichen 
Wohlstandes  zu  bieten  in  der  Lage  wäre.  Dieser  Gesichtspunkt 
fand  im  Jahre  184L  seineu  Ausdruck  in  einer  Circularvorschrift 
des  kurl.  Domänenhofs  an  die  Bezirksinspectoren  und  Gemeinde- 
gerichte, in  welcher  ausser  in  dem  Fall  des  Todes  eines  ordent- 
lichen VVirths  die  Descendenz  von  jeder  Anwartschaft  auf  das 
Gesinde  ausgeschlossen  wird.  —  Sehr  schwer  wurde  empfunden, 
dass  die  eingeheiratete  Wittwe  principiell  aus  der  Reihe  der  zur 
Gesindebesetzung  berechtigten  Personen  ausgeschlossen  war  und 
ihr  lediglich  bis  zur  Volljährigkeit  ihres  ältesten  Sohnes,  eveutuell 
bis  zur  Verheiratung  ihrer  Tochter,  die  Verwaltung  des  Gesindes 
belassen  wurde.  Gerade  sie  war  unter  Umständen  die  geeignetste 
Person  zur  Trägerin  des  bei  der  Gesindebesetzung  leitenden  Ge- 
dankens :  das  Interesse  an  der  Hebung  des  Gesindes  dadurch  wach 
zu  erhalten,  dass  die  bei  der  Bewirtschaftung  desselben  verwendete 
Arbeit  und  die  Verwendungen  nach  dem  Tode  des  Gesindewirths 
nicht  ohne  weiteres  fernstehenden  oder  gar  ganz  fremden  Personen 
zu  gute  kämen.  In  allen  den  Fällen,  in  welchen  die  mit  Kindern 
zurückgebliebene  Wittwe  für  jene  mitunter  bis  zu  20  Jahren  das 
Gesinde  verwaltet  hatte,  sollte  dieselbe  bei  der  Volljährigkeit  ihres 
Kindes  oder  nach  dem  Tode  desselben  jedes  Anrecht  auf  das  Ge- 
sinde verlieren.  War  sie  zu  einer  zweiten  Ehe  geschritten,  so 
konnte  sie  nach  erlangter  Mündigkeit  des  Kindes  von  diesem,  das 
keinerlei  Verpflichtungen  hatte,  seinen  Stiefvater  im  Gesinde  zu 
dulden,  mit  letzterem  aus  dem  Gesinde  gesetzt  werden,  ohne  dass 
sie  einen  Anspruch  auf  Ersatz  für  die  von  ihr  gemachten  Ver- 
wendungen hätte  durchsetzen  können.  In  derselben  Lage  befand 
sich  die  kinderlose  Wittwe  gegenüber  entfernten  Seiten  verwandten 
des  verstorbenen  Gesindewirths. 


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Agrargesetzgebung  für  die  baltischen  Krondomftnen.  151 

Die  Prüfung  der  Rechte  der  verschiedenen  Prätendenten  auf 
das  Gesinde  erfolgte  im  allgemeinen  im  Administrativwege.  Wurde 
auch  mitunter  die  Untersuchung  der  Angelegenheit  dem  Gemeinde- 
gericht tibertragen  —  die  ausschlaggebende  Stimme  hatte  doch 
immer  die  örtliche  Dom. -Verwaltung ;  diese  vermochte  den  gegen 
sie  erhobenen  Beschwerden  fast  regelmässig  Ziel  nur  dadurch  zu 
setzen,  dass  sie  den  unliebsamen  Prätendenten  zur  Uebernahme  des 
Gesindes  für  subjectiv  unfähig  erklärte  oder  die  Führuug  des  bis- 
herigen Wirths  und  dessen  Verwaltung  des  Gesindes  als  unordent- 
lich hinstellte. 

Da  trotz  der  bestehenden  Vorschrift  der  Willkür  Thür  und 
Thor  geöffnet  war,  so  lag  es  sehr  nahe,  dass  die  Gouvernements- 
obrigkeit suchte  eine  festere  Grundlage  als  die  der  Dom. -Verwaltung 
ertheilte  Instruction  in  Form  eines  Gesetzes  über  die  Ordnung  der 
Krongesinde  zu  beschaffen.  Auf  Initiative  des  Generalgouverneurs 
v.  d.  Pallien  wurde  ein  Project  zu  einer  Verordnung,  welche  in 
allen  drei  Provinzen  gleichmässig  zur  Anwendung  kommen  sollte, 
zu  Anfang  des  Jahres  1842  entworfen.  Das  zukünftige  Gesetz 
sollte  den  Namen  führen:  «Verordnung  betreffend  die  Bauergesinde 
auf  den  Kronbesitzlichkeiten,  die  Erhaltung  und  deren  Benutzung 
bei  denselben  Bauerfamilien.»  Diesem  Project  ist  in  so  fern  eine 
Bedeutung  nicht  abzusprechen,  als  es  etwa  sechs  Jahre  hindurch 
die  Richtschnur  für  die  Anordnung  der  Domänenadministration 
bildete.  Es  giebt  uns  ein  deutliches  Bild  von  der  damaligen  Auf- 
fassung über  das  rechtliche  Verhältnis,  in  welchem  die  Kronbauer- 
wirthe  zur  Dom.-Verwaltung  standen,  und  sei  daher  im  wesent- 
lichen wiedergegeben. 

«Die  Krone  als  Grundherrin  ihrer  Besitzlichkeiten  hat  und 
behält  das  unbeschränkte  Recht,  mit  den  Bauergesinden  und  den 
dazu  gehörigen  Ländereien  überhaupt  und  insbesondere  rück- 
sichtlich deren  Benutzung  jede  nöthig  erachtete  Anordnung  vor- 
zunehmen, selbige  ganz  eingehen  zu  lassen  oder  zu  vergrössern 
und  zu  verkleinern  ;  auch  die  Leistungen  zu  bestimmen,  und  ohne 
Ausnahme  in  Beziehung  auf  die  Gesinde  alle  Anordnungen  zu 
treffen,  welche  sie  dem  ökonomischen  Interesse  der  Besitzlichkeit 
entsprechend  findet.  .  . 

Die  von  alter  Zeit  auf  deu  kurländischen  Kronbesitzlich- 
keiten übliche  Nachfolge  in  der  Benutzung  der  Gesinde  wird 
auch  ferner  zugelassen. 

Der  hierdurch  ertheilte  Vorzug  der  Gesindesnachfolge  soll 


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152      Agrargesetzgebung  für  die  baltischen  Krondomänen. 


und  kann  jedoch  nur  sein  eine  Belohnung  guter,  dem  Interesse 
der  Kronbesitzlichkeit  entsprechender  Verwaltung  der  Gesinde; 
er  bezweckt,  deren  Inhaber  anzutreiben,  zum  Vortheil  ihrer 
Nachkommen  fortwährend  Fleiss  und  Sorgsamkeit  auf  die  Gesindes- 
bewirthschaftung  zu  verwenden,  jedoch  ohne  einen  die  gutsherr- 
lichen Rechte  der  hohen  Krone  beeinträchtigenden  Rechtsanspruch 
zu  begründen.  .  . 

Der  mögliche  Vorzug  der  Gesindesnachfolge  wird  den 
Erben  verstorbener  Wirthe  nach  folgenden  Regeln  zugestanden : 

a)  bei  dem  Tode  eines  Wirths  geht  der  Besitz  eines  Gesindes 
zunächst  auf  seine  leiblichen  Kinder  männlichen  und  in  Er- 
mangelung derselben  auf  seine  leiblichen  Kinder  weiblichen 
Geschlechts  über,  und  zwar  nach  der  Folge  der  Erstgeburt. 

b)  Wenn  ein  Wirth  ohne  Hinterlassung  directer  Leibeserben 
stirbt,  so  treten  seine  leiblichen  Geschwister  ebenfalls  nach 
der  Folge  der  Erstgeburt  und  des  Geschlechts  in  die  Gesindes- 
verwaltung. 

c)  Bleibt  bei  dem  Tode  des  Wirths  die  Wittwe  mit  unmündigen 
Kindern  nach,  so  hat  sie  das  Recht,  die  Gesindesverwaltung 
bis  zur  Volljährigkeit  ihres  ältesten  Kindes,  des  Gesinde- 
erbfolgers, fortzuführen. 

d)  Wenn  die  Wittwe  zur  zweiten  Ehe  schreitet,  so  haben  weder 
sie  und  ihr  Ehemann,  noch  ihre  Kinder  zweiter  Ehe  Anspruch 
auf  die  Gesindeserbfolge,  so  lange  leibliche  Kinder  erster  Ehe 
des  verstorbenen  Wirths  vorhanden  sind. 

e)  Falls  während  einer  solchen  iuterimistischen  Verwaltung  des 
Gesindes  durch  die  Mutter  zum  Besten  ihrer  Kinder  erster 
Ehe  diese  sterben,  tritt  die  Mutter  nur  für  ihre  Lebzeiten  in 
die  Nutzung  des  Gesindes,  nach  ihrem  Tode  geht  dasselbe 
jedoch  auf  den  nächsten  Seitenverwandten  ihres  ersten  Mannes 
als  Glied  der  eingesessenen  Familie  über. 

Da  subjective  Fähigkeit  und  ordentlicher  Lebenswandel  — 
wie  man  solchen  von  einem  Bauer  verlangen  kann  —  überhaupt 
erforderlich  sind,  um  auf  die  Bewirtschaftung  eines  Gesindes 
Anspruch  zu  machen,  so  bleiben  diese  Qualitäten  auch  unerläß- 
liche Bedingung  der  Ausübung  der  Nachfolge  in  der  Gesinde- 
bewirthschaftung,  dergestalt,  dass  wegen  Mangels  beregter  Eigen- 
schaften der  Nachfolger  übergangen  werden  kann.  .  . 

Wenn  der  verstorbene  Wirth  nur  unmündige  leibliche  Kinder 
und  keine  Wittwe  hinterlässt,  oder  wenn  letztere  die  Gesinde- 


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Agrargesetzgebung  für  die  baltischen  Krondomänen.  153 

wirthschaft  bis  zur  Volljährigkeit  ihres  ältesten  Kindes  nicht 
fortführen  will,  .  .  und  wenn  weder  Verwandte  noch  Fremde  zur 
üebernahme  einer  solchen  einstweiligen  Gesindesverwaltung  für 
unmündige  Erben  willig  gemacht  werden  können,  so  tritt  die 
Bestimmung  der  Gesindesnachfolge  ausser  Kraft. 

Da  die  Begünstigung  der  Gesindesnachfolge  nur  als  Be- 
lohnung guter,  dem  Interesse  der  Kronbesitzlichkeit  entsprechender 
Verwaltung  der  Gesinde  zugelassen  werden  kann,  so  hat  dieser 
Vorzug  ohne  weiteres  zu  erlöschen,  .  .  sobald  ein  Wirth  wegen 
schlechter  Administration  oder  wegen  Schulden  des  Gesindes 
entsetzt  wird.  .  . 

Mehr  als  ein  Bauergesinde  darf  von  denselben  Personen 
nicht  besessen  werden.  > 

Selbst  ein  flüchtiger  Blick  dürfte  genügen,  um  den  Misgriff 
zu  erkennen,  welcher  in  diesem  Project  lag.  Es  enthielt  so  zu  sagen 
nur  ein  Gesetz  für  die  Domänenverwaltung,  nicht  aber  auch  für 
die  Bauerbevölkerung,  da  für  diese  der  durch  das  Project  ertheilte 
Vorzug  bei  der  Gesindesnachfolge  keinen  Rechtsanspruch  begründen 
sollte.  Das  vollständige  Misverkennen  der  Verordnung  vom  Jahre 
1837  hätte  dem  Entwurf,  wenn  er  hierorts  nicht  schon  Gegner 
gefunden  hätte,  jedenfalls  höheren  Orts  ein  gebührendes  Fiasco 
bereitet. 

Die  Commission  zur  Umbildung  der  Domänenverwaltung  in 
den  Ostseeprovinzen  äusserte  sich  über  diesen  Entwurf  dahin,  dass, 
da  das  zu  Gunsten  eines  kleinen  Theiles  der  Gesammtheit  des 
Bauemstandes,  namentlich  der  Wirthsfamilien,  usuell  bestandene 
Erbfolge-  oder  sog.  Näherrecht  hinsichtlich  des  Besitzes  der  Gesinde- 
stellen durch  die  Bauerverordnung  ausdrücklich  aufgehoben  worden, 
dieses  dergestalt  aufgehobene  Erbfolge-  oder  Näherrecht,  als  die 
unbeschränkte  Dispositionsbefugnis  des  Grundherrn  über  den  Grund 
und  Boden  und  den  der  Gesammtheit  des  Bauerstandes  zugesicherten 
gleichen  Anspruch  auf  sämmtliche  ihm  durch  die  Bauerverordnung 
verliehenen  Rechte  aufhebend,  keineswegs  durch  ein  förmliches 
Gesetz  wieder  einzuführen,  sondern  als  eine  Administrativmassregel 
der  die  Gntsherrschaft  repräsentirenden  Verwaltung  anzuempfehlen 
sei :  die  Bauergesinde,  wenn  nicht  das  ökonomische  Interesse  der 
Besitzlichkeit  eine  Abweichung  fordere,  möglichst  im  Besitze  der- 
selben Familie  zu  erhalten  und  zwar  dergestalt,  dass  bei  ein- 
tretender Vacanz  durch  den  Tod  bei  gleicher  Qualifikation  den 


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154      Agrargesetzgebung  für  die  baltischen  Krondomänen. 

erwachsenen  Söhnen  des  verstorbenen  Wirths  unter  den  Concurrenten 
der  Vorzug  zu  geben  sei. 

In  ähnlich  ablehnender  Weise  verlautbarte  sich  auch  der  kur- 
ländische  Doraänenhof  über  das  projectirte  Gesetz,  welches  dadurch 
verurtheilt  war,  ein  Project  zu  bleiben.  Obgleich  es  keinen  Rechts- 
anspruch auf  einen  Vorzug  für  den  Bauern  begründen  sollte,  so 
ftirchtete  man  offenbar  doch,  dass  der  Verwaltung  die  Hände  bei 
der  Gesindebesetzung  zu  sehr  gebunden  würden.  Seitens  der 
Administration  wünschte  man  einfach  kein  Gesetz,  man  lehnte 
daher  das  Project,  mit  dem  man  inhaltlich  vollständig  sympathisirte, 
ab,  behielt  aber  dasselbe  als  Grundlage  bei  der  Verwaltung  und 
Besetzung  der  Kronbauergesinde  mehrere  Jahre  hindurch. 

Unter  dem  Einfluss  dieses  Projects  erliess  der  kurl.  Domänen- 
hof  bereits  im  darauffolgenden  Jahre  Verordnungen  an  die  Bezirks- 
inspectoren, in  welchen  er  nachstehende  Regeln  aufstellte  : 

1.  War  die  Wittwe  in  das  Gesinde  eingeheiratet,  so  muss 
sie  die  Verwaltung  des  Gesindes  abgeben,  sobald  der  majorenn 
gewordene  Erbe  es  verlangt.  Im  entgegengesetzten  Fall  bleibt 
sie  als  Verwalterin  des  Gesindes  bis  zu  ihrem  Ableben. 

2.  Hat  der  verstorbene  Gesindewirth  mehrere  Kinder  ver- 
schiedenen Geschlechts  hinterlassen,  von  denen  das  älteste  eine 
Tochter  ist,  heiratet  dieselbe  und  ist  deren  Ehemann  bei  Minder- 
jährigkeit der  übrigen  Geschwister  nur  unter  der  Bedingung  bereit, 
die  Bewirthschaftung  des  Gesindes  zu  übernehmen,  dass  dasselbe 
seinen  Descendenten  verbleibe,  so  ist  derselbe  als  Gesindewirth  zu 
bestätigen. 

3.  Falls  sich  kein  Vormund  für  die  minderjährigen  Kinder 
finden  sollte,  welcher  bereit  wäre,  die  Bewirthschaftung  des  Ge- 
sindes bis  zu  deren  Volljährigkeit  zu  übernehmen,  wobei  ein  Zwang 
zur  Uebernahme  einer  solchen  Vormundschaft  unstatthaft  ist,  so 
ist  das  Gesinde  als  vacant  anzusehen  und  kann  unbeschränkt  be- 
setzt werden. 

Diese  Vorschrift  suchte  man  durch  die  Unmöglichkeit  zu 
rechtfertigen,  ein  Bauergesinde  nach  den  für  die  Vormundschaft 
bestehenden  Regeln  durch  vom  Gemeindegericht  bestellte  Vormünder 
zu  verwalten.  Einmal,  weil  es  bei  dem  damaligen  Bildungsgrade 
der  Landbevölkerung  fast  ausgeschlossen  erschien,  unter  derselben 
Personen  zu  finden,  welche  im  Stande  gewesen  wären,  bei  der 
unter  Umständen  complicirten  Verwaltung  eines  Bauergesindes 
nach  den  für  die  Vormundschaft  festgesetzten  Regeln  Rechnung 


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Agrargesetzgebung  für  die  baltischen  Krondomänen.  155 


abzulegen.  Zweitens,  weil  die  Gesindebewirthschaftung  die  ganze 
Thätigkeit  des  Gesindewirths  in  Anspruch  nahm.  Derselbe  musste 
selbst  mitarbeiten  um  fortzukommen.  Er  war  daher  nicht  in  der 
Lage,  von  seiner  Arbeitskraft,  die  für  die  Erhaltung  seiner  selbst 
und  seiner  Familie  nur  gerade  ausreichte,  zum  Besten  anderer 
durch  Uebernahme  der  Vormundschaft  und  Verwaltung  fremder 
Güter  Opfer  zu  bringen,  oder  gar  selbst  behufs  Erfüllung  aller 
auf  dem  zur  Verwaltung  übergebenen  Gesinde  ruhenden  Lasten 
Frohndienste  zu  leisten. 

Mit  Recht  wurde  der  von  der  örtlichen  Administration  ein- 
geschlagene Weg  an  höherer  Stelle  gemisbilligt  und  dem  Domänen- 
hof im  .Fahre  1848  vorgeschrieben,  sich  streng  nach  den  vom 
temporären  Conseil  im  Jahre  1837  gegebenen  Regeln  zu  richten 
und  in  jedem  Fall  das  Gesinde  den  Descendenten  des  früheren 
Wirths  und  zwar  in  erster  Linie  den  Söhnen  desselben  zu  erhalten, 
falls  diese  nicht  aus  einem  gesetzlichen  Grunde  verlustig 
geworden  seien.  Nach  den  allgemeinen  Reichsgesetzen  werde  das 
Erbrecht  durch  Minderjährigkeit  nicht  aufgehoben,  sondern  das 
Vermögen  der  Minderjährigen  bis  zu  deren  Volljährigkeit  einer 
Vormundschaft  anvertraut ;  diese  sei  nach  der  B.-V.  §  357  von 
dem  Gericht  einzusetzen  und  dürfe  sich  der  Uebernahme  einer 
solchen  kein  Bauer  mit  Ausnahme  bestimmter  Fälle  entziehen 
(B.-V.  Art.  79). 

Das  temporäre  Conseil  hatte  in  seiner  Vorschrift  vom  27.  April 
1837  die  Bestimmung  getroffen,  dass  die  für  die  Gesindebesetzung 
gegebenen  Regeln  nur  bis  zum  Eintritt  des  Pachtverhältnisses 
Geltung  haben  sollten.  Dieser  Moment  begann  einzutreten,  als  der 
angeführte  ministerielle  Erlass  an  den  Domänenhof  gelangte.  Der 
Erlass  konnte  sich  selbstverständlich  nur  auf  die  Besetzung  der 
auf  Frohne  vergebenen  Gesinde  beziehen.  Es  blieb  sonach  die 
Frage  offen,  in  welcher  Weise  die  Gesindebesetzung  nach  abge- 
laufenem Pachtcontract  und  in  den  Fällen  vor  sich  zu  gehen  habe, 
in  welchen  bereits  Pachtcontracte  mit  den  Bauern  abgeschlossen 
waren,  während  des  laufenden  Pachtcontracts  der  Gesindepächter 
aber  starb  oder  entsetzt  wurde.  Das  kurl  Bauerrecht  hatte  den 
Grundsatz  aufgestellt,  dass  der  Pachtvertrag  durch  den  Tod  des 
Pächters  eo  ipso  aufgelöst  wird.  Der  Art.  186  der  kurl.  Bauer- 
verordnung besagt :  Nur  der  Tod  des  Pächters  hebt  den  Vertrag 
vor  Ablauf  des  ökonomischen  Jahres  auf,  wenn  derselbe  nicht  zu- 
gleich auch  auf  die  Erben  des  verstorbenen  Pächters  gerichtet  ist. 


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156      Agrargesetzgebung  für  die  baltischen  Krondomänen. 


Ein  Erbrecht  auf  den  Pachtvertrag  existirte  somit  nicht.  Eben 
so  wenig  findet  sich  in  der  kurl.  ßauerverordnung  irgend  eine  Be- 
stimmung, welche  den  Eigenthümer  des  Grund  und  Bodens  ver- 
pflichtet, ein  aus  irgend  welcher  Ursache  vacant  gewordenes  Pacht- 
gesinde  einer  bestimmten  Person,  als  namentlich  den  Intestaterben 
unter  Bevorzugung  männlicher  Descendenz,  zu  vergeben.  Ohne 
diesbezügliche  Bestimmungen  im  Pachtcontract  war  daher  jeder 
Anspruch  auf  ein  durch  den  Tod  des  Pächters  vacant  gewordenes 
Gesinde,  sah  man  von  dem  Gewohnheitsrecht  ab,  unbegründet  und 
musste  jede  Gesindereclamation  erfolglos  bleiben.  In  den  höheren 
Orts  zusammengestellten  Pachtcontracten  für  die  Krongesindepächter 
wurde  allerdings  eines  Erbrechts  Erwähnung  gethan,  jedoch  in 
sehr  wenig  ausreichender  Weise,  und  zwar  unter  Hinweisung  auf 
gesetzliche  Bestimmungen,  welche  gar  nicht  existirten.  Der  bez. 
§  12  des  Contracts  lautete:  «Sollte  der  Pächter  vor  Ablauf  der 
contractlichen  Frist  mit  Tode  abgehen,  so  gehen  seine  Pachtrechte, 
jedoch  ohne  Zerstückelung  der  Ländereien,  auf  seine  gesetzlichen 
Erben  über.  Die  Person  selbst,  auf  welche  die  Bewirtschaftung 
des  Gesindes  übergehen  muss,  wird  durch  die  in  den  örtlichen  Ge- 
setzen angeordnete  Art  und  Weise  bestimmt.  >  Ein  örtliches  Gesetz, 
welches  normirte,  auf  wen  von  den  Erben  das  Pachtrecht  über- 
gehen sollte,  existirte  aber  gar  nicht.  Eine  Vererbung  der  Pacht- 
rechte durch  Testament  war  gleichfalls  ausgeschlossen,  da  eine 
Uebertragung  des  Gesindes  auf  dritte  Personen  ohne  Zustimmung 
der  Dom.- Verwaltung  nicht  statthaft  war.  Nach  Ansicht  der  ört- 
lichen Dom. -Verwaltung  waren  durch  die  ihr  ertheilten  Instruc- 
tionen die  privatrechtlichen  Beziehungen  der  Gesindeinhaber  und 
deren  Familien  zu  der  hohen  Krone  als  Grundeigenthümerin  und 
Pachtgeberin  in  sich  nicht  berührt  Sie  sah  in  den  gegebenen 
Regeln  nur  eine  Administrativvorschrift  zur  ausschliesslichen  Richt- 
schnur für  sich  selbst,  damit  nicht  wie  früher  nach  freiem  Ermessen, 
sondern  nach  vorgeschriebener,  durch  subjective  Befähigung  wie 
durch  moralische  Führung  der  Individuen  bedingter  Reihenfolge  in 
der  Familie  die  Krongesinde  vergeben  würden.  Die  Dom.-Ver- 
waltung  sah  sich  nicht  gemüssigt,  auf  den  inneren  Grund  der  ihr 
im  Jahre  1837  gegebenen  und  1848  wiederholten  Regeln  zurück- 
zugehen, die  doch  weiter  nichts  als  eine  Erläuterung  des  vor- 
handenen Gewohnheitsrechts  sein  sollten,  sondern  berief  sich  ledig- 
lich darauf,  dass  weder  während  der  Frohne  der  dauernde  Besitz, 
noch  auch  später  bei  Einführung  des  Pachtverhältnisses  die  Erb- 


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Agrargesetzgebung  für  die  baltischen  Krondomänen.  157 

pacht  vertragsmässig  zugestanden  worden  und  daher  von  einem 
Erb-  oder  Näherrecht  auch  gar  keine  Rede  sein  könne.  Die 
widersprechendsten  Entscheidungen  sowol  der  Gerichte,  wie  auch 
der  Bezirksinspectoren  in  verschiedenen  Reclamationssachen  veran- 
lassten endlich  im  Jahre  1854  den  kurl.  Domänenhof,  ein  Project 
zu  einer  Verordnung  zur  Verwaltung  und  Besetzung  der  Kron- 
gesinde dem  Generalgouverneur  vorzulegen.  Von  verschiedenen 
Commissionen  in  Berathung  gezogen,  wurde  die  Vorlage,  in  welcher 
im  allgemeinen  der  gleiche  Gesichtspunkt  vorherrschte,  wie  im 
Project  des  Generalgouverneurs  vom  Jahre  1842,  als  uugeeignet 
abgelehnt.  Da  sich  aber  der  Mangel  fester  Normen  immer  fühl- 
barer machte  und  das  schwankende  Verfahren  der  Behörden  zu 
mannigfachen  Beschwerden  und  Inconvenienzen  führte,  wurde  vom 
Generalgouverneur  im  Jahre  1857  verordnet,  und  zwar  für  alle 
drei  Provinzen: 

1.  Dass  bei  Beurtheilung  der  Reclamationen  um  Kronbauer- 
gesinde jedesmal  genau  zu  unterscheiden  sei  zwischen  solchen,  wo 
die  die  Reclamation  veranlassende  Gesindevergebung  vor  dem  Er- 
lasse der  Vorschrift  des  temporären  Conseils  der  Verwaltung  der 
Reichsdomänen  vom  27.  April  1837,  und  solchen,  wo  die  Vergebung 
nach  Emanirung  dieser  Vorschrift  erfolgt  ist,  sowie  endlich  solchen, 
die  sich  auf  Bauergesinde  beziehen,  welche  bereits  auf  Geldpacht 
gesetzt  sind. 

2.  Da  die  erwähnte  Vorschrift  der  Hauptdomänenverwaltung 
seiner  Zeit  durch  den  kurländischen  Cameralhof  gehörig  publicirt 
worden  ist,  die  Grundprincipien  der  kurl.  Bauerverordnung  nicht 
afficirt,  vielmehr  mit  ihr  im  Einklang  sich  befindet  und  bei  deren 
langjähriger  Anwendung  von  Seiten  der  Commission  in  Sachen  der 
Bauerverordnung  keinerlei  Widerspruch  erfahren  hat,  so  erscheint 
dieselbe  vollkommen  geeignet,  den  Bauerjustizbehörden  zur  Basis 
ihrer  Entscheidungen  zu  dienen,  wie  sie  denn  auch  von  dem  kurl. 
Oberhofgericht  mehrfach  zur  Grundlage  seiner  Urtheile  genommen 
worden  ist.  Demnach  wird  in  Fällen,  wo  Kronbauergesinde  nach 
dem  Erlass  der  Vorschrift  vom  .Jahre  1837  vergeben  worden  und 
wider  solche  Vergebung  Reclamation  erhoben  wird,  die  Beurtheilung 
der  Sache,  weil  es  sich  in  derselben  um  positiv  normirte  Familien- 
und  vermögensrechtliche  Verhältnisse  handelt,  überall  lediglich  den 
Bauerjustizbehörden  anheimzustellen  und  jede  solche  etwa  gegen- 
wärtig bei  den  Administrativautoritäten  Kurlands  anhängige  Sache 
zu  deliren  und  die  Reclamation  an  die  Gerichte  zu  verweisen  sein. 


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158      Agrargesetzgebung  für  die  baltischen  Krondomänen. 

8.  Dagegen  steht  dem  kein  Hindernis  entgegen,  dass,  wenn 
Reclamationen  mit  Berufung  auf  nähere  verwandtschaftliche  Ver- 
bindung um  solche  Kronbauergesinde  geltend  gemacht  werden,  die 
vor  dem  Erlass  vom  Jahre  1837  vergeben  worden,  dergleichen 
Sachen  bei  den  bezüglichen  Admiuistrativautoritäten  verhandelt 
werden. 

4.  Was  endlich  die  auf  Pacht  vergebenen  Kronbauergesinde 
betrifft,  so  ist  bei  etwaigen  Reclamationen  derselben  festzuhalten, 
dass  der  Erlass  vom  Jahre  1837  ausdrücklich  nur  bis  zum  Eintritt 
des  Pachtverhältnisses  Giltigkeit  haben  sollte,  mithin  in  Sachen 
dieser  Art  gar  nicht  zur  Anwendung  kommen  kann 
und  dass  für  den  Fall  des  Todes  des  Inhabers  eines  auf  Pacht 
gesetzten  Gesindes  im  Laufe  der  Contractjahre  der  §  12  der  Pacht- 
bedingungen massgebend  sein  muss  und  etwaige  Differenzen  zwischen 
den  Erben  lediglich  der  Schlichtung  durch  die  ordentlichen  Bauer- 
justizbehörden anheimzugeben  sind. 

Dieser  Vorschrift  fügte  der  Domänenhof  in  einem  Circulär 
an  die  Bezirksinspectoren  und  Gemeindegerichte  noch  eine  Beur- 
theilung  der  Wirkung  hinzu,  welche  eine  mit  Genehmigung  des 
Domänenhofs  bewerkstelligte  Abtretung  des  Gesindes  durch  den 
Pächter  an  eine  dritte  Person  mit  Umgehung  der  nächsten  Erben 
ausübe  und  gelangt  hierbei  zu  dem  Resultat,  dass  eine  solche  Ab- 
tretung der  Pachtrechte  nach  den  Gesetzen  durchaus  zulässig  und 
in  derselben  auch  eine  Verletzung  der  durch  das  temporäre  Con- 
seil  über  die  Gesindebesetzung  gegebenen  Regeln  nicht  zu  erblicken 
sei.  Die  entgegengesetzte  Ansicht  vertrat  die  Domänenverwaltuug 
etwa  20  Jahre  später  in  einem  Circulär  an  die  Gemeindegerichte, 
in  welchem  sie  das  Princip  der  Zugehörigkeit  des  Gesindes  zur 
eingesessenen  Familie  bis  in  die  äussersten  Consequenzen  durch- 
zuführen versuchte.  Hiermit  erlangte  die  ganze  Reihe  der  wider- 
sprechenden Verordnungen  und  Circuläre-  und  der  Kampf  um  die 
Anerkennung  eines  Rechts  ihren  Abschluss. 

Es  drängt  sich  uns  natürlich  die  Frage  auf,  welche  Stellung 
die  Gerichte  zu  diesem  Streit  einnahmen.  Von  der  Ansicht  aus- 
gehend, dass  die  den  Nachkommen  der  Krongesindewirthe  einge- 
räumte Nachfolge  im  Besitz  der  Gesinde  auf  eine  Admiuistrativ- 
massregel,  welche  lediglich  für  den  Wirkungskreis  der  die  Kron- 
gesinde administrirenden  Behörde  geschaffen  sei ,  zurückgeführt 
werden  müsse,  wurde  das  Einschreiten  des  Gerichts  auf  Klage 
eines  in  seinen  Rechten  wegen  der  Gesindebesetzung  verletzten 


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Agrargesetzgebung  für  die  baltischen  Krondomänen.  159 


Bauern  und  die  Entscheidung  der  Frage,  wer  von  den  Prätendenten 
einen  besseren  Anspruch  auf  den  Besitz  des  Gesindes  habe,  von 
der  Dom.-Verwaltung  nach  Umwandlung  der  Proline  in  ein  Pacht- 
verhältnis für  eben  so  wenig  zulässig  erachtet,  wie  vordem.  Da 
kein  förmlich  promulgirtes  Gesetz  die  Gesindebesetzung  regelte, 
so  hielt  man  einfach  einen  Rechtsanspruch  auf  die  Nachfolge  im 
Gesindebesitz  für  unbegründet.  In  den  vierziger  Jahren  begann 
man  allerdings  die  Einmischung  der  Gerichte  für  zulässig  zu  er- 
achten, wenn  es  darauf  ankam,  festzustellen,  ob  der  von  dem  Gesinde- 
besitz wegen  Ermangelung  subjectiver  Fähigkeiten  zur  Verwaltung 
desselben  Abgewiesene  wirklich  an  solchen  Mängeln  leide,  die  ihn 
zur  Bewirtschaftung  eines  Gesindes  untauglich  inachen.  Die  Ent- 
scheidung dieser  Frage  berührte  aber  nicht  die  Frage  über  das 
Recht  auf  den  Besitz.  In  den  Motiven  zu  den  Regeln  vom  Jahre 
1837  führt  das  temporäre  Conseil  aus,  dass  in  Ermangelung  der 
die  Gesindebesetzung  regelnden  Gesetzesbestimmungen  das  Gewohn- 
heitsrecht zur  Anwendung  zu  kommen  habe.  Das  temporäre  Con- 
seil erkannte  ein  bestimmtes  Recht  auf  den  Besitz  des  Gesiudes 
an  und  ertheilte  den  Auftrag,  dieses  Recht  weiterhin  zu  conserviren 
und  im  gegebenen  Fall  nach  den  von  ihm  erlassenen  Regeln,  welche 
eine  Erläuterung  des  Rechts  bildeten,  in  Anwendung  zu  bringen. 
Lässt  sich  nun  nicht  verkennen,  dass  durch  die  Vorschrift  des 
temporären  Conseils  ein  Recht  hat  eingeräumt  weiden  sollen,  so 
muss  auch  zugestanden  werden,  dass  dadurch  ein  Rechtsanspruch 
auf  den  Besitz  des  Gesindes  hat  erwachsen  sollen,  welcher  eventuell 
auch  erzwungen  werden  konnte.  Die  Frage,  wer  unter  verschiede- 
nen Concurrenten  ein  Vorrecht  auf  den  Besitz  des  Gesindes  zu  ge- 
messen habe,  bildete,  sobald  man  ein  Gewohnheitsrecht  anerkannte, 
eine  Rechtsfrage,  welche  füglich  von  den  Gerichten  zu  entscheiden 
war.  Zu  demselben  Resultat  musste  man  schon  allein  auf  Grund 
der  Pachtcontracte  gelangen  ;  war  doch  in  diesen  ausdrücklich  aus- 
gesprochen, dass  das  Pachtrecht  nach  dem  Tode  des  Gesinde wirths 
auf  dessen  gesetzliche  Erben  überzugehen  habe,  und  unter  diesen 
die  Person,  welche  die  Bewirtschaftung  des  Gesindes  erhalten  solle, 
auf  Grundlage  der  örtlichen  Gesetze  zu  bestimmen  sei.  Wann 
die  Reclamationssachen  Gegenstand  richterlicher  Erörterung  und 
Entscheidung  zu  werden  begannen,  lässt  sich  gegenwärtig  wol 
schwerlich  feststellen.  Wir  finden  aber,  dass  lange  vor  der  Vor- 
schrift des  Generalgouverneurs  vom  Jahre  185ü  eine  nicht  unbe- 
deutende Zahl  solcher  Processe  der  Dijudicatur  der  Gerichte  unter- 

BiltUcbe  Monatsschrift.  Bd.  XXXIV,  Heft  2.  11 


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160      Agrargesetzgebung  für  die  baltischen  Krondomänen. 

zogen  worden  ist.  Grundlage  der  richterlichen  Entscheidung  bildete 
regelmässig  die  Vorschrift  des  temporären  Conseils  zur  Verwaltung 
der  Reichsdomänen  vom  Jahre  1837,  obgleich  dieselbe  eigentlich 
nur  als  Richtschnur  für  die  Administration  und  zwar  nur  für  die 
Dauer  des  Gehorchs Verhältnisses  erlassen  war.  Der  an  des  letzteren 
Stelle  getretene  Pachtcontract  enthielt  in  seinem  mehrerwähnten 
§  12  eine  ganz  allgemeine  Bestimmung,  und  die  Unzulänglichkeit 
der  Gesetze  bot  keinen  anderen  Ausweg.  Ueberdies  vermochte 
die  im  gedachten  §  12  enthaltene  lex  pacti  eine  Unanwendbarkeit 
des  durch  die  Circulärvorschrift  von  1837  näher  geregelten  alt- 
hergebrachten Gebrauchs  auf  das  neu  ins  Leben  getretene  Vertrags- 
verhältnis um  so  weniger  zu  intendiren,  als  dieselbe  die  kurl. 
Bauerverordnung  ausser  Anwendung  setzte,  da  letztere  die  Zulässig- 
keit  mehrerer  gleichberechtigten  Erben  und  eine  Theilung  des  Nach- 
lasses zur  Voraussetzung  hat,  während  der  §  12  gerade  das  Gebot 
des  U eberganges  der  Pacht  auf  eine  Person  und  das  Verbot  der 
Zerstückelung  der  Gesiudesländereien  enthielt,  wobei  man  wol 
wesentlich  eine  Theilung  des  Ertrages  der  Läudereien  im  Auge 
gehabt  hat.  Endlich  glaubten  die  Gerichte  von  dem  althergebrachten 
Gebrauch  nicht  abgehen  zu  müssen,  weil  derselbe  bereits  in  das 
Rechtsbewusstsein  des  Volkes  übergegangen  war  und  überdies  seinen 
Bestimmungsgrund  in  ökonomischen  wie  auch  in  Billigkeitsrücksichten 
fand,  deren  praktische  Berechtigung  auch  für  die  späteren  Pacht- 
verhältnisse aus  der  Erwägung  resultirte,  dass  eine  Theilung  der 
Gesindesrevenuen,  welche  häufig  nur  die  Verwerthung  der  Arbeits- 
kraft eines  tüchtigen  Pächters  repräsentiren,  unter  mehrere  Erb- 
berechtigte zum  Ruin  aller  landwirthschaftlichen  Verhältnisse  zu 
führen  im  Stande  wäre. 

Wie  einerseits  mit  Recht  die  Frage,  wer  in  die  Pachtrechte 
zu  succediren  habe,  von  den  Gerichten  in  Verhandlung  und  Ent- 
scheidung genommen  wurde,  so  war  andererseits  der  bisherige 
Boden  des  Gewohnheitsrechts  doch  nicht  verlasseu  worden.  Nichts 
desto  wenfger  blieben  Differenzen  zwischen  Administration  und  Justiz 
nicht  aus.  Zwar  hatte  man  nicht  verkannt,  dass  die  Domänen- 
verwaltung eine  wesentlich  andere  Stellung  als  eine  jede  beliebige 
Guts  Verwaltung  einnehme,  dass  sie  nicht  allein  darauf  beschränkt 
sei,  als  Vertreterin  der  Eigenthumsrechte  der  Krone  an  deren  Gütern 
zu  fungiren,  sondern  dass  sie  als  Verwaltungsorgan  der  Staats- 
regierung in  Betracht  zu  kommen  habe  und  nach  den  für  ein 
solches  in  der  allgemeinen  Reichsgesetzgebung  aufgestellten  Normen 


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Agrargesetzgebung  für  die  baltischen  Krondomänen.  161 


besondere  Rechte  geniesse.  Diese  besonderen  Rechte  und  über- 
haupt die  Behandlung  der  Kronsachen  nach  der  Reichsgesetzgebung 
haben  keineswegs,  wie  mitunter  wol  behauptet  wird,  hierorts  keinen 
Eingang  gefunden,  sondern  sind  ausdrücklich  durch  das  Gesetz  für 
die  Verwaltung  der  Reichsdomänen  in  den  Ostseeprovinzen  auch 
auf  diese  ausgedehnt.  Zwar  hat  man  auf  Grund  dessen  nicht  daran 
gezweifelt,  dass  die  Domänenverwaltung  ausserhalb  des  Reclamations- 
streites  stehe  und  dass  es  lediglich  Aufgabe  der  Gerichte  sei,  die 
Rechte  der  Reclamanten,  nicht  aber  die  Massnahmen  einer  Admini- 
strativbehörde einer  richterlichen  Prüfung  zu  unterziehen.  In  Kur- 
land lässt  sich  daher  auch  keine  solche  Mannigfaltigkeit  in  der 
abenteuerlichsten  Beurtheilung  der  Reclamationsstreitsachen  nach- 
weisen, wie  sie  für  Livland  in  dem  mehrerwähnten  Artikel  der 
cB.  M.>  über  die  Rechte  der  Bauern  an  den  Krongesinden  aufge- 
zählt sind.  Man  hat  aber  wol  anfänglich  übersehen,  dass  das  der 
Domänenverwaltung  als  Repräsentantin  der  Grundherrschaft  zu- 
stehende Recht  der  Bestätigung  der  Gesiudeswirthe  auch  nach  der 
Vorschrift  des  Generalgouverneurs  vom  Jahre  1857  verblieben  war 
und  dass  mitunter  gewichtige  Gründe  vorliegen  konnten,  auch 
solchen  Personen  die  Bestätigung  zu  versagen,  welchen  richterlicher- 
seits  ein  Vorrecht  nach  dem  Actenmaterial  zuerkannt  werden  musste. 

Es  waren  daher  Fälle  nicht  ausgeschlossen,  in  denen  Erkennt- 
nisse der  Gerichte  nie  praktische  Bedeutung  gewannen,  sondern 
lediglich  theoretische  Erörterungen  verblieben.  Aber  auch  solche 
Collisionen  haben  sich  dadurch  vermeiden  lassen,  dass  die  Gerichte 
vor  Entscheidung  der  an  sie  gediehenen  Reclamationssachen  regel- 
mässig erst  bei  der  Domänenverwaltung  über  die  Zulässigkeit 
der  resp.  Reclamanten  zur  Verwaltung  des  Gesindes  Informationen 
einzogen.  Während, man,  wie  es  scheint,  in  Livland  noch  immer 
rathlos  den  Reclamationsprocessen  gegenüber  steht,  geht  bereits 
seit  einem  Decennium  in  Kurland  die  Justiz  mit  der  Administration 
Hand  in  Hand,  obgleich  letztere  nicht  unwesentlich  von  dejn  frühe- 
ren Gewohnheitsrecht  abgewichen  ist  in  Bezug  auf  die  der  unbe- 
erbten Wittwe  bei  der  Nachfolge  im  Gesindesbesitz  eingeräumte 
Stellung. 

Die  Vorschrift  des  temporären  Conseils  vom  Jahre  1837  hatte 
die  unbeerbte  Wittwe  aus  der  Nachfolge  in  den  Gesindesbesitz 
ausgeschlossen.  Dieser  Ausschluss  fand  Unterstützung  in  der  ört- 
lichen Domänenverwaltung,  weil  man  befürchtete,  die  Verwaltung 
des  Gesindes,  welche  namentlich  während  der  Frohne  die  ganze 

II* 


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Iti2      Agrargesetzgebung  für  die  baltischen  Krondomänen. 


Kraft  eines  Mannes  beanspruchte,  könnte  von  einer  Frau  nicht  in 
der  entsprechenden  Weise  besorgt  werden.  Während  unter  dem 
Einfluss  dieser  Vorschrift  des  temporären  Conseils  und  der  späteren 
des  Ministeriums  die  Domänenverwaltung  die  unbeerbte  eingeheiratete 
Wittwe  im  Besitz  des  Gesindes  nicht  zu  belassen  vermochte,  wurde 
durch  die  Rechtsprechung  der  Gerichte  gerade  ein  dem  entgegen- 
stehender Grundsatz  unter  dem  Einfluss  des  §  120  der  kurl.  B.-V. 
als  dem  Gewohnheitsrecht  und  der  Praxis  entsprechend  aufgestellt. 
Nach  dem  §  120  der  kurl.  B.-V.  steht  der  unbeerbten  Wittwe  nach 
Abnahme  des  Eingebrachten  ohne  Rücksicht  auf  die  Zahl  der  mit 
ihr  concurrirenden  Seitenverwandten  die  Hälfte  des  Nachlasses 
ihres  Mannes  zu  und  somit  ein  grösserer  Erbantheil  als  jedem 
ihrer  Miterben.  Da  die  Pachtrechte  nur  auf  eine  Person  über- 
tragen werden  durften,  so  hatten  die  Gerichte  nur  die  Möglichkeit 
alternativ  entweder  einem  Seitenverwandten  oder  der  Wittwe  den 
Vorzug  einzuräumen.  Die  Gerichte  haben  der  letzteren  nun  das 
Vorrecht  einräumen  zu  müssen  geglaubt,  weil  die  gesetzlich  ge- 
wollte Bevorzugung  der  Wittwe  vor  den  Seiten  verwandten  durch 
den  grösseren  Erbantheil  im  Streite  um  das  ungetheilte  Pachtrecht 
am  Gesinde  nur  dadurch  zum  Ausdruck  kommen  könne,  dass  es 
ihr  zugesprochen  werde.  Ferner  hat  man  eine  Unterstützung  dieser 
Bevorzugung  auch  noch  darin  gefunden,  dass  das  Vermögen  des 
Gesindes wirths  nicht  blos  durch  seine  Arbeit  geschalten  und  blos 
durch  seine  Sorgfalt  erhalten  wird,  sondern  an  dem  einen  wie 
an  dem  anderen  seine  Ehefrau  sehr  wirksamen  und  gelegentlich 
einen  noch  wirksameren  Antheil  als  er  selbst  hat  und  seine  Nach- 
lassenschaft daher  das  Product  nicht  nur  seiner,  sondern  auch  ihrer 
Arbeit  und  Umsicht  ist,  so  dass  deren  Frucht  nicht  sie,  sondern 
der  Seitenverwandte  zu  gemessen  bekäme,  weijn  ihm  das  Gesinde 
zugesprochen  würde.  (Aus  den  Motiven  einer  Entscheidung  des 
Oberhofgerichts).  Dieser  Billigkeitsgrund,  gewiss  sehr  schwer 
wiegend,  dürfte  aber  nicht  Ausschlag  gebend  sein,  da  die  übrigen 
sonst  noch  vorgebrachten  Gründe  durchaus  nicht  stichhaltig  sind. 
Ganz  regelmässig  wird  in  den  Urtheilen  der  kurländischen  Gerichte 
bis  auf  die  neueste  Zeit  Bezug  genommen  auf  die  Verordnung  des 
temporären  Conseils  vom  Jahre  1837  als  Basis  des  noch  gegen- 
wärtig herrschenden  und  als  Wiedergabe  des  früher  existirt  habenden 
Gewohnheitsrechts.  Es  ist  nun  durchaus  unrichtig,  wie  es  ja  auch 
schon  aus  dem  früher  angeführten  Artikel  der  Vorschrift  hervor- 
geht, dass  durch  dieselbe  der  eingeheirateten  unbeerbten  Wittwe 


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Agrargesetzgebung  für  die  baltischen  Krondomänen.  163 


irgend  welche  Vorrechte  bei  der  Besetzung  der  Gesinde  eingeräumt 
worden  sind,  vieiraehr  ist  gerade  im  Gegentheil  ihr  jede  Anwart- 
schaft auf  den  Besitz  des  Gesindes  genommen  worden.  Das  Er- 
halten des  Gesindes  im  Besitz  der  eingesessenen  Familie,  das  war 
der  Grundsatz,  von  welchem  die  Praxis  ein  ganzes  Menscheualter 
hindurch  nicht  abgewichen  ist.  Will  man  also  von  einem  durch 
die  Praxis  herausgebildeten  Gewohnheitsrecht  sprechen,  so  dürfte 
dasselbe  gerade  zu  einem  der  gegenwärtigen  Rechtsprechung  zuwider- 
laufenden Resultat  führen.  Die  im  §  120  der  kurl.  Bauerverordnung 
ausgesprochene  Bevorzugung  der  Wittwe  vor  den  Seitenverwandten 
thut  auch  keineswegs  der  Richtigkeit  der  früheren  Praxis  Abbruch, 
denn  diese  lässt  sich  am  besten  gerade  dadurch  erklären,  dass,  weil 
der  Wittwe  keine  Anwartschaft  auf  den  Gesindesbesitz  zustand, 
ihr  ein  grösserer  Antheil  aus  der  Nachlassmasse  des  Ehemannes 
zukommen  sollte.  Nach  menschlichen  Begriffen  von  der  Billigkeit 
lässt  sich  der  Satz  nicht  vereinbaren  •  f  Wer  viel  hat,  dem ,  soll 
noch  mehr  gegeben  werden.»  Es  lässt  sich  nicht  verhehlen,  dass 
die  jüngere  Praxis  den  eingefahrenen  Weg,  nach  welchem  das  Ge- 
sinde möglichst  ein  und  derselben  Familie  zu  erhalten  sei,  verlassen 
hat.  Ob  der  neue  Weg  dem  Rechtsbewusstsein  des  Volkes  mehr 
entspricht,  muss  dahingestellt  bleiben.  Leise  Zweifel  darüber  werden 
sich  aber  im  Hinblick  auf  die  unendliche  Zahl  Processe,  welche 
die  Belassung  der  unbeerbten  Wittwe  im  Besitz  des  Gesindes  hervor- 
gerufen, bei  manchem  regen. 

Durch  den  mit  Beginn  dieses  Jahres  in  Scene  gesetzten  Aus- 
kauf der  Gesinde  werden  vermuthlich  die  Reclamationsprocesse 
noch  gar  nicht  ihr  Ende  erreichen  Namentlich  dürfte  wol  für  die 
erste  Zeit  zu  befürchten  stehen,  dass  viele  Bauern,  durch  die  Ge- 
ringfügigkeit des  behufs  Auslösung  festgesetzten  Preises  angelockt, 
aus  nichtigen  Gründen  die  Rechtmässigkeit  des  Besitzes  anzustreiten 
versuchen  werden.  Die  Bedeutung  des  neuen  Gesetzes  lässt  sich 
jedoch  nach  dieser  Richtung  hin  so  in  lange  nicht  vollständig  über- 
sehen, als  die  Form  der  neuen  Auskaufscontracte  noch  gar  nicht 
bekannt  ist  und  es  zur  Zeit  noch  sehr  fraglich  ist,  ob  den  Bauern 
wirklich  ein  ganz  unbeschränktes  Eigenthum  überlassen  werden 
wird  oder  ob  nicht  die  Dispositionsbefugnis  der  Bauern  über  ihre 
Gesinde,  so  lange  dieselben  noch  nicht  vollständig  ausgelöst  sind, 
in  Bezug  auf  die  Vererbung  und  Veräusserung  wesentlichen  Be- 
schränkungen unterworfen  werden  wird. 


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164      Agrargesetzgebung  für  die  baltischen  Kronüomänen. 

Weuden  wir  uns  nun  wieder  den  Arbeiten  der  Regulirung 
zu.  Dieselbe  hatte  in  Estland  3,  in  Livland  mit  Oesel  125  und 
in  Kurland  174  Krongüter  zu  reguliren.  Mit  Estland  wurde  be- 
gonnen und  die  Resultate  der  Regulirung  im  Jahre  1871  bestätigt, 
dann  folgte  Livland  und  endlich  Kurland.  Die  in  diesen  Provinzen 
erzielten  Regulirungsresultate  wurden  im  Jahre  1874  und  resp.  1881 
bestätigt.  Nach  erfolgter  Bestätigung  der  Regulirung  sollte  sofort 
zum  Verkauf  geschritten  werden,  in  Estland  beganu  man  mit  dem 
Verkauf  im  Jahre  1873  und  setzte  denselben  bis  zum  Jahre  1885 
fort.  In  diesem  Zeiträume  werden  verkauft  404  einzelne  Bauer- 
grundstücke, enthaltend  5103  Dess.,  der  jährliche  Zins  hatte  4367  Rbl. 
32  Kop.,  der  Kaufpreis  109183  Rbl.  betragen. 

In  Livland  begann  man  mit  dem  Verkauf  1875  und  wurden 
bis  zum  Schluss  des  vorigen  Jahres  verkauft  3230  einzelne  Bauer- 
landstücke mit  einem  Flächenraum  von  121017  Dess.  Der  Kauf- 
preis betrug  3298079  Rbl.,  während  der  Zins  131946  Rbl.  64  Kop. 
betragen  hatte. 

In  Kurland  ist  auf  Grundlage  des  Gesetzes  vom  Jahre  1869 
überhaupt  gar  kein  Gesinde  zum  Verkauf  gekommen.  Wie  kommt 
es,  muss  man  sich  fragen,  dass  vom  Jahre  1869  ab  in  Kurland, 
der  reichsten  der  drei  Provinzen,  kein  einziges  Gesinde 
zum  Eigenthum  erworben  worden  ist,  dagegen  in  Livland  »/,  aller 
Gesinde  und  endlich  in  Estland,  der  ärmsteu  Provinz,  fast  alle 
Gesinde  in  das  Eigenthum  der  Bauerbevölkerung  übergegangen 
sind  ?  Man  hat  sich  diese  Frage  häufig  genug  vorgelegt  und,  ohne 
viel  zu  überlegen,  einfach  dieselbe  dahin  beantwortet,  es  muss  wol 
die  Indolenz  der  Bauern  daran  schuld  sein.  Wollte  man  von  einer 
solchen  Erklärung  zurück  auf  die  Bevölkerung  der  Provinzen 
schliessen,  so  würde  man  zu  dem  traurigen  Resultat  kommen,  dass 
es  in  ganz  Kurland  nur  indolente  Gesindeswirthe  giebt,  während 
doch  eine  grosse  Anzahl  kurländischer  Advocaten  wiederholt  Ge- 
suche behufs  Verkaufs  der  Gesinde  für  Gesindeswirthe  angefertigt 
haben,  ja  sogar  eine  grössere  Anzahl  von  Gesindeswirthen  sich 
zusammengethan  und  einen  Advocaten  damit  betraut  hatte,  klagend 
den  Verkauf  der  Gesinde  an  sie  zu  erzwingen.  Es  reimt  sich 
schwerlich  ein  solches  Vorgehen  der  Bauern  mit  der  ihnen  vorge- 
worfenen Indolenz,  wir  werden  daher  auch  den  Grund,  warum  in 
den  letzten  18  Jahren  in  Kurland  kein  Gesinde  verkauft  worden, 
ganz  wo  anders  suchen  müssen.  Nach  dem  Gesetz  vom  10.  März 
1869  konnte  vor  Bestätigung  der  Regulirung  an  den  Gesinde  verkauf 


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Agrargesetzgebung  für  die  baltischen  Krondomänen.  165 


überhaupt  gar  nicht  gedacht  werden.  Diese  erfolgte  für  Kurland 
erst  im  Jahre  1881  und  hätte  nun  allerdings  zum  Verkauf  ge- 
schritten werden  müssen,  allein  es  stellten  sich  demselben  ungeahnte 
Schwierigkeiten  entgegen,  welche  zu  einem  Verkaufsinhibitorium 
führten.  In  erster  Linie  kam  hierbei  in  Betracht,  dass  'die 
Regulirungscommission  ihre  Arbeiten  auf  einer  nicht  unerheblichen 
Anzahl  von  Gütern  nicht  hatte  abschliessen  können,  und  zweitens, 
dass  die  Frage,  ob  das  zu  den  Bauergesinden  gehörige  eiserne  In- 
ventar besonders  ausgekauft  werden  solle,  oder  ob  dasselbe  bei 
der  Schätzung  der  Gesinde  gar  nicht  in  Rechnung  zu  stellen  sei, 
unbeantwortet  geblieben.  Die  letztere  Frage  ist,  wie  als  bekannt 
vorausgesetzt  werden  kann,  erst  iu  der  ersten  Hälfte  vorigen  Jahres 
dahin  entschieden,  dass,  obzwar  das  Eigenthum  am  eisernen  Inventar 
der  hohen  Krone  zustehe,  dasselbe  dennoch  den  Bauern  beim  Ver- 
kauf der  Gesinde  nicht  in  Anrechnung  gebracht  werden  solle.  Hin- 
sichtlich der  Regulirung  ist  zu  bemerken,  dass  dieselbe  bis  zu 
dieser  Stunde  ihre  Arbeiten  in  Kurland  noch  nicht  beendet  hat. 

Wesentlich  anders  liegt  die  Sache  in  Livland.  Hier  ist  aller- 
dings den  Bauern  allein  die  Schuld  zuzumessen,  mit  dem  Ankauf 
der  Gesinde  gezögert  zu  haben.  Die  Gründe,  welche  diese  Bauern 
vom  Kauf  abgehalten  haben,  sollen  hier  nicht  weiter  erörtert 
werden,  sie  sind  gewiss  in  jeder  Gemeinde  sehr  verschieden  ge- 
wesen. Es  lassen  sich  allgemeine  Abhaltungsgründe  unschwer  an- 
fuhren, damit  würde  aber  wenig  gedient  sein  ;  denn  es  wäre  in 
mancher  Beziehung  doch  nur  ein  unzutreffendes  Bild  unserer  bäuer- 
lichen Verhältnisse  gezeigt  worden. 

Das  Gesetz  vom  10.  März  1869  enthielt  neben  der  Fest- 
setzung der  Gesammtsumme  des  für  jedes  Gouvernement  von  den 
Bauergrundstücken  zu  erhebenden  Zinses  noch  die  Bestimmung, 
dass  derselbe  während  der  folgenden  20  Jahre  keiner  Veränderung 
und  selbst  nach  Ablauf  dieser  Frist  nicht  anders  als  auf  gesetz- 
geberischem Wege  unterworfen  werden  dürfe.  Durch  das  am 
1.  Januar  iu  Kraft  getretene  Gesetz  ist  allerdings  der  bisherige 
Zins  keiner  Veränderung  unterworfen  worden,  wol  aber  ist  die 
vom  Bauern  jährlich  zu  leistende  Zahlung  durch  Zuschlag  eines 
bestimmten  Procentsatzes  nicht  unerheblich  gesteigert  worden. 
Freilich  soll  der  Bauer  von  nun  an  Eigenthümer  des  von  ihm  be- 
sessenen Grundstückes  werden  und  der  Zuschlag  zum  Zins  nur 
zur  Tilgung  des  Kaufpreises  dienen,  allein  dieser  Eigenthums- 
erwerb ist  kein  freiwilliger,  sondern  ein  erzwungener.    Der  Bauer 


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166     Agrargesetzgebung  für  die  baltischen  Krondomänen. 

kann  nicht  mehr  einen  zum  Kauf  geeigneten  Zeitpunkt  abwarten, 
sondern  muss  kaufen.  Da  das  durch  die  Reguliruugsacte  von  dem 
ßauern  erworbene  dingliche  Recht  demselben  ein  weitgehendes 
Nutzungseigentbum  gewährt,  welches  mit  dem  vollen  Eigenthum 
zu "  vertauschen  ihm  unter  Umständen  gar  nicht  einmal  wünscheus- 
werth  zu  erscheinen  braucht,  so  dürfte  von  manchem  diese  Zwangs- 
verwandlung des  Nutzungseigenthums  in  volles  Eigenthum  ledig- 
lich als  eine  Beschränkung  seiner  bisherigen  Rechte  und  als  eine 
unliebsame  Zinserhöhung  angesehen  werden,  von  der  er  sich  für 
seine  Person  selbst  gar  keinen  Nutzen,  sondern  nur  für  seine 
lachenden  Erben  versprechen  kann. 

Unverkauft  blieben  bis  zum  i.  Januar  d.  J. 

I.  in  Kurland  auf  174  Gütern :  6425  grosse  alte  Gesinde, 
383  kleine  neu  gebildete  Gesinde,  6206  grössere  Häuslereien  nnd 
Gartenwirtschaften,  280  kleinere;  in  Summa:  13294  Wirtschafts- 
einheiten. Endlich  12949  an  verabschiedete  Untermilitärs  vertheilte 
Landstücke1.  Die  Dessätinenzahl  aller  dieser  Ländereien  zu- 
sammen beträgt  371516,,,  an  brauchbarem  Laude  und  15787,,* 
an  Impedimenten ;  davon  entfallen  auf  Gemeindeland  1224,™  Dess. 
brauchbares  Land  und  837, t»  Dess.  Impedimente,  auf  Soldaten- 
landstücke 1485,t,  Dess.  brauchbares  Land  und  69,,»  Dess.  Im- 
pedimente, auf  nicht  im  Bauerbesitz  befindliche  Ländereien  4533,0i 
Dess.  brauchbares  Land  und  199.,o  Dess.  Impedimente. 

II.  In  Livland  auf  125  Krongütern :  9853  Gesinde  und 
Lostreiberansiedelungen  und  1043  an  verabschiedete  Untermilitärs 
vertheilte  Landstücke.  Die  Dessätiuenzahl  aller  dieser  Ländereien 
zusammen  beträgt  194555.,,  an  brauchbarem  Lande  und  16493,,, 
an  Impedimenten;  auf  die  Gesinde  und  Lostreiberansiedelungen 
entfallen  187406,,,  Dess.  brauchbares  Land  und  14230.»  Dess. 
Impedimente.  Im  Besitz  von  nicht  zum  Bauerstande  gehörigen 
Personen  befinden  sich  764,,,  Dess.  brauchbares  Land  und  48,,, 
Dess.  Impedimente,  im  Gemeindebesitz  4779,,,  Dess.  brauchbares 
Land  und  2155,,,  Dess.  Impedimente,  im  Besitz  der  verabschiedeten 
Untermilitärs  1530,,,  Dess.  brauchbares  Land  und  58,,,  Dess. 
Impedimente. 

*  Mit  dieser  Zahl  Bchliesst  das  Jahr  1886  ah ;  mittlerweile  hat  wiederum 
eine  nicht  unbedeutende  Landvertheilung  an  Untermilitärs  stattgefunden  und 
stehen  noch  weitere  Landvertheilungen  in  Aussicht.  Ein  Zuwachs  an  Gesinden 
und  Gartenwirtschaften  ist  auch  nicht  ausgeschlossen,  da  auf  36  Gütern  die 
Kegulirung  noch  nicht  beendigt  ist. 


Agrargesetzgebung  für  die  baltischen  Krondoraänen.  167 


III.  In  Estland  sind  allein  unverkauft  geblieben  auf  dem 
Gute  Taibel  5  Gesinde  mit  zusammen  7  Dess.  (!),  2  Soldaten-  und 
ein  Gemeindelandstück  mit  zusammen  19,i0  Dess. 

Mit  Ausschluss  der  an  verabschiedete  Untermilitärs  ver- 
theilten, der  im  Gemeindebesitz  und  im  Besitz  von  nicht  zum 
Bauerstaude  gehörigen  Personen  befindlichen  Landereien  wird 
durch  das  Gesetz  vom  12.  Juni  1886  für  alle  im  Besitz  der 
Bauern  befindlichen  Gesindestellen,  Lostreiberansiedelungen,  Häus- 
lereien  und  Gartenbau wirthschaften,  einerlei  ob  sie  auf  üof-  oder 
Bauerland  belegen  sind,  der  Zins  in  eine  jährliche  Auskaufszahlung 
verwandelt.  Durch  dasselbe  Gesetz  ist  die  jährliche  Gesammt- 
auskaufszahlung ,  welche  an  Stelle  des  durch  das  Gesetz  vom 
10.  März  1869  normirten  Zinses  von  nun  an  zu  treten  hat,  fest- 
gesetzt. Dieselbe  sollte  für  Estland  54  Rbl.,  für  Livland  251777  Rbl. 
und  für  Kurland  795696  Rbl.  betragen.  Diese  Summen  sind  nach- 
träglich jedoch  verändert  worden  und  zwar  sind  dieselben  für  Kur- 
land um  einige  Procente  vergrössert,  dagegen  für  Est-  und  Liv- 
land nach  Massgabe  der  inzwischen  noch  nach  den  Kaufbedingungen 
vom  Jahre  1869  stattgehabten  Verkäufen  verringert  worden ;  sie 
betragen  für  Estland  17  Rbl.,  für  Livland  228511  Rbl.  und  für 
Kurland  796606  Rbl.  40  Kop.  Die  Auskaufssumme  wird  im  Ver- 
hältnis zu  der  Regulirungsschätzung  unter  alle  zum  Auskauf  ge- 
stellte Wirtuschaftseinheiten  im  Gouvernement  repartirt  und  ist 
von  jedem  zum  Auskauf  Verpflichteten  44  Jahre  hindurch,  mithin 
bis  zum  1.  Januar  1931  zu  zahlen,  es  sei  denn,  dass  derselbe  den 
durch  Capitalisirung  der  Auskaufssummen  zu  5  pCt.  gewonnenen 
Betrag  auf  einmal  oder  in  Raten  auszuzahlen  wünscht.  Die  für 
jedes  Gouvernement  festgesetzte  jährliche  Auskaufssumme  setzt 
sich  zusammen  aus  der  Gesammtsumme  des  jährlichen  Zinses  mit 
einem  Zuschlag  von  36,»  pCt.  desselben  für  Estland,  von  37  pCt. 
für  Liv-  und  38  pCt.  für  Kurland.  Das  Auskaufscapital  beträgt 
demnach  für  den  Fall,  dass  der  Bauer  sein  Grundstück  sofort  mit 
einem  Mal  auszukaufen  wünscht,  für  jeden  Rbl.  Zins  : 

v    in  Estland   L,,M  Rbl.  X  20  =  27  Rbl.  32  Kop.  Capital, 

<  Livland  1,„    c    X  20  =  27    t    40      <  « 

«  Kurland  1,.,    «    X  20  =  27    >    60      <  < 
dagegen  hat  der  Bauer  während  der  44  Jahre  im  ganzen  an  Capital 
und  Zins  baar  zu  zahlen  in  Estland  59  Rbl.  84  Kop.,  in  Livland 
60  Rbl.  28  Kop.  und  in  Kurland  60  Rbl.  72  Kop.   Stellen  wir 
diesen  Capitalisations-  und  Amortisationsmodus  demjenigen  vom 


168      Agrargesetzgebung  für  die  baltischen  Krondomänen. 

Jahre  1869  gegenüber,  so  zeigt  sich,  dass  der  Bauer,  sollte  er 
nach  dem  neuen  Gesetz  die  Auskaufssumme  sofort  erlegen  wollen, 
ungleich  theurer  kauft  als  nach  dem  früheren  Gesetz.  Nach  diesem 
musste  in  allen  drei  Provinzen  bei  jährlicher  Zinszahlung  von 
1  Rbl.  nur  25  Rbl.  Oapital  gezahlt  werden.  Ueberdies  gewann 
der  Bauer  noch  dadurch,  dass  ihm,  falls  er  den  Kaufpreis  in  Staats- 
papieren bezahlte,  diese  ihm  zum  Nomiualwerth  angerechnet  wurden, 
während  dieselben  nach  dem  jüngsten  Gesetz  ihm  nach  dem  vom 
Finanzminister  festgesetzten  Courswerth  in  Rechnung  gestellt 
werden  sollen.  Die  Auskaufssumme,  auf  44  Jahre  vertheilt,  stellt 
sich  nach  dem  neuen  Gesetz  dagegen  bei  weitem  niedriger  als 
nach  dem  Gesetz  vom  Jahre  1869;  denu  nach  letzterem  betrug 
der  jährliche  Zuschlag  zum  Zins  37,,  pCt.  während  49  Jahre. 
Hatte  also  ein  Bauer  1  Rbl.  Arrende  gezahlt,  so  musste  er,  um 
sich  frei  zu  kaufen,  49  Jahre  lang  1  Rbl.  37,»  Kop.  jährlich,  mit- 
hin im  ganzen  baar  65  Rbl.  37,»  Kop.  bezahlen. 

Vom  Bauern  soll  keine  Erklärung  darüber  abverlangt  werden, 
ob  er  auf  Grund  des  Gesetzes  vom  12.  Juni  1886  Eigenthümer 
werden  will,  oder  nicht ;  jeder  dazu  Berechtigte  erwirbt  daher  auch 
stillschweigend  durch  Fortsetzung  des  Besitzes  das  Eigenthum  an 
seinem  Gesinde  kraft  des  Gesetzes  mit  dem  ersten  Januar  dieses 
Jahres.  Es  steht  gegenwärtig  aber  zu  hoffen,  dass  die  Bauern, 
welchen  man  ursprünglich  keine  besonderen  Documente  auszureichen 
beabsichtigte,  nachträglich  einseitige  Eigenthums-  und  Beletmungs- 
acte  erhalten  werdeu,  in  welchen  die  Ueberlassung  des  Grundstücks 
zum  Eigenthum,  die  Angabe  der  Grenzen,  der  Zins-  und  Amortisa- 
tionsquote,  der  Lasten  und  Abgaben  &c.  zum  Ausdruck  kommt. 

Durch  das  Gesetz  vom  12.  Juni  1886  ist  endlich  das  letzte 
unterscheidende  Merkmal  zwischen  den  Krön-  und  Privatbauern  be- 
seitigt, indem  erstere  in  Bezug  auf  die  von  ihnen  erhobenen  Steuern 
und  Abgaben  den  Privatbauern  gleichgestellt  worden  sind,  einmal 
hat  die  Kopfsteuer  auch  für  die  Kronbauern  zu  existiren  aufgehört 
und  ferner  ist  die  sog.  Communalsteuer  beseitigt  worden.  Die 
Domänenbauern  hatten  nämlich  seit  dem  Jahre  1859  (Ukas  vom 
22.  Dec.  1858)  eine  besondere  Steuer  zu  entrichten  (o<5mecTBeHUHfl 
c6opi>),  welche  ursprünglich  von  jeder  Revisionsseele  zur  Erhaltung 
der  Domänen  Verwaltung  erhoben,  späterhin  aber  in  eine  Grund- 
steuer umgewandelt  wurde.  Diese  Grundsteuer  war  sehr  gering- 
fügig, und  erreichte  die  jährliche  Pacht  selbst  in  Verbindung  mit 
jener  durchschnittlich  nur  die  Hälfte  der  den  Privatbesitzern  von 


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Agrargesetzgebung  für  die  baltischen  Krondomänen.  169 

den  Bauern  gezahlten  Pachten.  Leider  hat  eine  so  billige  Ver- 
pachtung nicht  allenthalben  gute  Früchte  getragen.  Zu  Hunderten 
lassen  sich  solche  ßronwirthe  aufzählen,  die  einen  Theil  ihres 
Gesindes  bis  zum  Betrage  der  von  ihnen  der  Krone  zu  entrichten- 
den Pacht  anderweitig  verpachtet  und  den  übrigen  Theil  Halb- 
körnern überlassen,  oder  ihr  Gesinde  zu  viermal  höherer  Pacht  in" 
Subarrende  vergeben,  sich  freie  Wohnung  im  Gesinde  ausbediugen 
und  ihre  Tage  im  Kruge  verbringeu.  Aul  den  Privatgütern  hat 
der  Pacht-  und  Kaufpreis  der  Gesinde  dem  thatsächlichen  Werth 
derselben  durchschnittlich  entsprochen  und  hat  der  Bauer  seine 
ganze  Arbeitskraft  daranwenden  müssen,  um  die  Arrende  resp. 
den  Kaufpreis  zu  bezahlen.  Die  Anspannung  aller  Kräfte,  gleich- 
mässiger  Fleiss,  das  Bestreben  durch  Vervollkommnung  der  Land- 
wirtschaft die  Ertragsfähigkeit  des  Bodens  zu  steigern,  um  sich 
durchzuschlagen,  das  Zusammenwirken  aller  dieser  Momente  hat 
dazu  geführt,  dass  ein  in  harter  Schule  erzogenes  kräftiges  und 
arbeitsames  Geschlecht  heranzureifen  vermochte.  Damit  sei  nicht 
gesagt,  dass  sich  nicht  auch  unter  den  Kronwirthen  ein  grosser 
Theil  findet,  welche  es  trotz  der  Billigkeit  der  Arrende  nicht  ver- 
schmäht haben  im  Schweisse  ihres  Angesichts  ihr  Brod  zu  essen. 
Leider  erstreckt  sich  diese  Arbeitsamkeit  gar  zu  häufig  nicht  auf 
den  jüngeren  Nachwuchs,  dem  es  ermöglicht  worden  eine  Kreis- 
schule zu  besuchen  und  die  dann  nach  beendeter  Schulbildung  nach 
Hause  zurückgekehrt,  den  Ackerbau  und  die  Feldarbeit  ihrem 
Bildungsgrade  nicht  entsprechend  halten,  in  den  Städten  aber 
wegen  zu  niedrigen  Bildungsgrades  kein  Unterkommen  finden  können 
und  nun  ein  gemüthliches  Bummelleben  zu  führen  beginnen.  Mit 
dem  eigenen  Dasein  nicht  zufrieden,  bilden  diese  Leute  den  Kern 
der  unzufriedenen  Menge.  Der  billige  Auskauf  dürfte  kaum  dazu 
dienen  in  dieser  Richtung  eine  Veränderung  hervorzurufen  und  die 
Tüchtigkeit  unserer  Ackerbau  treibenden  Bevölkerung  zu  erhöhen«. 

L.  K  u  e  h  n  .  Advocat  in  Riga. 


1  Auf  p.  142  Z.  19  ist  statt  2 '4  pCt.  zu  losen:  &  pCt. 


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Zur  Prof.  Volckschen  Schriftauffassung. 

Ein  Wort  der  Berichtigung  und  Verständigung. 


n  der  bekannten  theologischen  Streitfrage  über  das  Wesen  der 
h.  Schrift  ist  wiederum  ein  Votum  erschienen.  <Die  Bibel 
als  die  Heilsoffenbarung  Gottes  ist  auch  für 
den  Einzelnen  Gnadenmittel  und  (Quelle  des 
Glaubens.  Ein  Wort  an  die  Gemeinde,  von  F.  Ner- 
iin g  ,  ev.  -  luth.  Pastor  zu  St.  Matth  äi  in  Estland. 
Reval  1886,  bei  F.  Wassermann.»  Die  Literatur  in 
dieser  Frage  ist  mittlerweile  zu  einer  sehr  umfangreichen  geworden. 
Zählen  wir  im  ganzen  doch  15  Aufsätze,  die  theils  in  Zeitschriften, 
theils  als  besondere  Druckschriften  veröffentlicht  sind.  Nach  dem 
interessanten  Artikel  des  Pastor  Pingoud  «die  altdogmatische  und 
die  Hofmannsche  Lehre  von  der  h.  Schrift»  (Mittheil,  und  Nachr. 
Januarheft),  nach  der  besonders  eingehenden  und  lehrreichen  Be- 
sprechung der  T.  Hahnschen  Schrift  durch  Pastor  P.  Willigerode 
in  Dorpat  (ebend.  Juli- Augustheft  1886)  bleibt  denen,  die  Prof- 
Voicks  Ansiebten  über  die  h.  Schrift  theilen,  im  Grunde  nichts 
mehr  übrig  zu  sagen.  Alles,  was  gesagt  werden  kann,  um  eine 
gerechte  Beurtheilung  der  Prof.  Volckschen  Grundgedanken  zu 
erzielen,  ist  bereits  mehrfach  ausgesprochen  worden.  Darum  würden 
wir  Pastor  Nerlings  Schrift  am  liebsten  mit  Schweigen  übergehen. 
Allein,  sie  ist  an  edie  Gemeinde»  gerichtet  und  soll  —  dass  wir 
das  Kind  beim  rechten  Namen  nennen  —  eine  Warnung  vor  den 
Ansichten  Prof.  Voicks  sein.  Dabei  verbreitet  aber  die  Schrift 
Pastor  Nerlings  —  natürlich  nicht  absichtlich  —  irrige  Anschauungen 


Zur  Prof.  Volckschen  Schriftauffassung. 


171 


über  Prof.  Volcks  Meinungen.  Werden  aber  unrichtige  Vorstellungen 
über  die  Lehrweise  Prof.  Volcks  verbreitet,  so  können  wir  nicht 
darüber  schweigend  hinweggehen,  sondern  fühlen  uns  zu  einem 
klärenden  und  zurechtstellenden  Wort  verpflichtet  an  dem  Ort,  an 
welchem  es  zu  den  gebildeten  Christen,  also  auch  zur  <Gemeinde> 
dringt.  Dabei  wollen  auch  wir  nur  Ansichten  und  nicht  Personen 
bekämpfen.  Am  wenigsten  wollen  wir  Pastor  Nerling  persönlich 
zu  nahe  treten.  Hat  er  die  €  Gemeinde»  vor  den  Ansichten  Prof. 
Volcks  warnen  zu  müssen  geglaubt,  so  ist  ihm  solches  Gewissens- 
sache gewesen,  er  ist  von  der  Verderblichkeit  jener  Anschauungen 
überzeugt.  Wie  trotz  allen  Erklärungen,  Berichtigungen,  Er- 
gänzungen, Aussprachen,  mündlichen  wie  schriftlichen,  genannte 
Ueberzeugung  sich  dennoch  festsetzen  konnte,  wird  uns  freilich  un- 
begreiflich bleiben.  Wir  vermögen  bei  Durchsicht  der  Pastor  Nerling- 
schen  Schrift  nur  so  viel  zu  erkennen,  dass  es  sich  einerseits 
nur  handelt  um  Differenzen  innerhalb  der  theologischen  Begriffs- 
bestimmung, andererseits  um  unleugbar  vorhandene  principielle 
theologische  Differenzen,  dass  aber  die  feste  Ueberzeugung  von  der 
Schädlichkeit  der  Ansichten  Prof.  Volcks  nur  auf  gänzlichen  und 
völligen  Misverstand  derselben  zurückzuführen  ist.  Diese  drei  Punkte 
hätten  wir  zu  erledigen.  —  Dabei  ist  es  uns  nicht  darum  zu  thun, 
die  Gemeinde  für  die  Prof.  Volckschen  Anschauungen  zu  gewinnen. 
Wir  wollen  an  diesem  Ort  nichts  anderes,  als  eine  einfache  Pflicht 
erfüllen,  nämlich  die:  die  Prof.  Volckschen  Anschauungen,  so  weit 
und  so  fern  sie  von  Pastor  Nerling  misverständlich  dargestellt  oder 
völlig  falsch  aufgefasst  und  reproducirt  sind,  zurechtzustellen  und 
zu  berichtigen,  um  dadurch  diejenigen  unter  den  gebildeten  Christen, 
die  sich  für  die  Schriftfrage  interessiren,  zu  einem  richtigeren  Urtheil 
über  die  Schriftanschauungen  Prof.  Volcks  anzuleiten,  als  die 
genannte  Schrift  es  thut.  Sollten  wir  dabei  in  einen  docirenden 
Ton  verfallen,  so  gilt  derselbe  selbstverständlich  nicht  uuserem 
theologischen  Gegner,  sondern  hängt  mit  unserer  Aufgabe  zusammen, 
eine  theologische  Materie  vor  dem  Laienpublikum  zu  behandeln. 

Wir  sagten :  die  Meinungsverschiedenheiten  zwischen  Prof. 
Volck  und  Pastor  Nerling  sind  zum  Theil  auf  Differenzen  inner- 
halb der  theologischen  Begriftsdefinition  zurückzuführen.  Das  er- 
giebt  sich  schon  aus  dem  Titel  der  Pastor  Nerlingschen  Schrift. 
Derselbe  ist  ein  Protest  wider  eine  Auffassung  von  der  h.  Schrift, 
welche  Pastor  Nerlings  Meinung  nach  dem  Einzelnen  etwas  Wesent- 
liches beim  Gebrauch  seiner  Bibel  nimmt.    Deshalb  betont  Pastor 


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172 


Zur  Prof.  Volckschen  Schriftauffassung. 


Nerling,  dass  die  Bibel  «Offenbarung»  Gottes  sei,  dass  sie  « Gnaden- 
mittel >  und  «Quelle  des  Glaubens»  ist,  ein  Gegensatz  zu  Prof. 
Volck,  der  diese  drei  Stücke  angeblich  leugnet.  Allein  man  ereifert 
sich  hier  ganz  ohne  Noth.  Was  der  Titel  der  Pastor  Nerlingschen 
Schrift  besagen  will,  wird  Prof.  Volck  jederzeit  unterschreiben  — 
davon  kann  sich  jeder  überzeugen,  der  seine  Schrift  liest  —  was 
er  aber  seinem  theologischen  Wortlaut  nach  besagt,  davor  wird 
er  immer  zurückschrecken,  wie  eiu  Arzt  etwa  vor  einem  Recept 
zurückschreckt,  das  falsch  abgefasst  ist,  wiewol  er  der  Idee,  die 
der  Vorschrift  jener  Arzenei  zu  Grunde  liegt,  völlig  beistimmt. 
Was  wir  meinen,  ist  nicht  schwer  zu  errathen.  Prof.  Volck  ver- 
bindet mit  den  Begriffen  « Offenbarung »,  «Gnadenmittel»  eine  ganz 
bestimmte  Vorstellung.  An  den  herkömmlichen  Definitionen  der 
Begriffe  hält  man  fest ,  sonst  sind  Oonfusionen  unvermeidlich. 
Unter  «Offenbarung»  versteht  man  z.  B.  in  der  neueren  Theologie 
das  Hereintreten  Gottes  in  die  zeiträumlichen  Schranken  der  Ge- 
schichte, sein  Leiten  und  Führen  Israels  durch  die  mannigfachen 
Wege  der  Geschichte.  Alles,  was  Gott  mit  seinem  Volk  thut  und 
im  Zusammenhang  mit  seinen  Thaten  redet,  ist  Offenbarung.  Ist 
dieses  der  richtige  Begriff  Offenbarung,  kann  man  dann  die  Bibel 
schlechthin  die  «Offenbarung»  Gottes  nennen?  Nein.  Und  warum 
nicht?  Weil  es  Offenbarung  gab,  noch  bevor  es  eine  Bibel  gab. 
Bibel  und  Offenbarung,  diese  Begriffe  fallen  nicht  zusammen,  weil 
die  Offenbarung  und  ihre  Aufzeichnung  nicht  zusammenfallen.  Es 
ist  nicht  so,  dass  Gott  redet  und  Moses  oder  David  nehmen  s  o  - 
fort  das  Pergament  und  Schreibens  auf.  Gott  durchlebt 
mit  den  heiligen  Männern  Zeiträume,  in  denen  er  immer  wieder 
seine  Wahrheit  durch  Wort  und  That  mittheilt,  die  Aufzeichnung 
aber  kann  50,  100  und  mehr  Jahre  darnach  erfolgen.  Darum  ist 
die  Bibel  der  Bericht  von  der  Offenbarung'.  So  Prof.  Volck. 
Pastor  Nerling  aber  hat  eine  ganz  andere  Auffassung  von  dem, 
was  Offenbarung  ist.  Er  versteht  nach  der  älteren  lutherischen 
Theologie,  der  des  17.  Jahrhunderts,  unter  «Offenbarung»  ein  un- 
mittelbares Heraustreten  Gottes  aus  der  Verborgenheit  und  ein 


1  Anders  als  bei  historischen,  stellt  sieh  die  Sache  hei  prophetischen 
Schriften,  wie  z.  B.  bei  der  Ofl'cnbsirung  Johannis,  wo  wiederholt  steht  «schreibe». 
Allein  auch  hier  ist  doch  die  Definition  Bericht  von  der  Offenbarung»  die  ein- 
zig haltbare,  sofern  doch  nicht  da*  Niedergeschriebene,  sondern  die  geschaute 
Vision  oder  da«  gehörte  Wort  den  Vorgang  der  Offenbarung  bildet,  von  dem 
dann  du»  Niederschreiben  zu  untem beiden  ist  vOffenb.  Job    10,  4j. 


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Zur  Prof.  Volckschen  Schriftauffassung. 


173 


Sichkundthun  der  Welt  lediglich  durchs  Wort,  das  er  seinen 
Propheten  durch  Eingebung  der  Schrift  zu  Theil  werden  lässt. 
Ist  dies  die  richtige  Definition,  dann  könnte  man  allenfalls  (vgl.  Anm. 
umstehend)  die  Bibel  cdie  Offenbarung >  nennen.  Welche  Begriffs- 
bestimmung  die  richtigere  ist,  unterliegt  gar  keinem  Zweifel.  Wir 
wollen  aber  an  dieser  Stelle  den  Laien  nicht  mit  weitläufigen 
theologischen  Erörterungen  tractiren.  Dem  Laien,  besser;  cder 
Gemeinde»  gegenüber  soll  nicht  hervorgehoben  werden,  was  an 
theologischer  Differenz  in  wissenschaftlicher  Begriffsbestimmung 
vorhanden  bleibt,  sondern  das,  worin  man  einig  ist.  Prof.  Volck 
ist  die  Bibel  auch  geoffenbartes  Wort  Gottes,  er  unterscheidet  nur 
zwischen  der  Offenbarung,  welche  ein  geschichtlicher  Process  ist, 
und  der  Aufzeichnung,  die  von  jenem  zeitlich  geschieden  sein  kann. 
Diese  Aufzeichnung  ist  aber  auch  nach  Prof.  Volck  unter  Leitung 
des  h.  Geistes,  der  vor  Irrthum  bewahrt,  geschehen.  Bei  letzterer 
Fassung  wird  bei  Verfassung  der  Schriften  allerdings  der  mensch- 
lichen Selbsttätigkeit  mehr  Raum  gewährt,  als  bei  der  Fassung 
Pastor  Nerlings  —  und  das  ist  das  Interesse  der  Frage  —  allein 
das,  worauf  es  ankommt,  dass  wir  in  der  Bibel  das  «untrüg- 
liche» Gotteswort  haben,  ist  bei  dieser  wie  jener  Fassuug  ge- 
wahrt1. Darum  müssen  wir  dabei  stehen  bleiben,  es  handelt  sich 
hier  hauptsächlich  um  eine  Differenz  in  der  Begriffsbestimmung, 
nicht  aber  um  eine  Meinungsverschiedenheit,  die  die  Glaubens- 
stellung zur  h.  Schrift  berührt  Ganz  dasselbe  gilt  vom  Wort 
«Gnadenmittel».  Unter  «Gnadenmittel»  versteht  man  in  der  Theo- 
logie die  Mittel,  durch  welche  die  christliche  Kirche  am  Menschen 
ihren  Beruf  als  Verkünderin  und  Spenderin  des  Heils  handelnd 
vollzieht.  Das  sind  Wort  und  Sacrament,  und  zwar  das  Wort 
als  verkündetes,  und  das  Sacrament  als  gespendetes.  Die  Kirche 
handelt  nicht  in  der  Weise,  dass  sie  jedem  ihrer  Glieder  eine 
Bibel  in  die  Hand  drückt  und  im  übrigen  sich  schweigend  ver- 
hält, sondern  sie  lehrt,  tauft,  confirmirt,  predigt  und  weist  während 
solchen  Unterrichts  auf  die  Bibel,  aus  welcher  heraus  dann  der 
Einzelne  seiuen  Glauben  belebt,  stärkt,  vertieft  und  befestigt.  Das 
ist  der  Gang.  Ein  jeder  weiss  es  aus  Erfahrung.  Es  erhellt  zur 
Genüge,  dass  wir  bei  obiger  stricter  Fassung  des  Begriffs  «Gnaden- 
mittel» die  Bibel  nicht  als  Gnadenmittel  bezeichnen  können.  Fassen 


')  Volck,  Bibel  als  Kanon,  pag.  54,  These  4.    «Die  Hcilswahrheit  gelangt 
in  der  Schrift  in  untrüglicher  Weise  zum  Ausdruck  . 


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Zur  Prof.  Volckschen  Schriftauffassung. 


wir  aber  das  Wort  c Gnadenmittel  >  in  minder  präciser  Begriffs- 
bestimmung, etwa  als  «Mittel,  durch  welches  die  Gnade  an  mir 
thätig  ist»,  dann  freilich  können  wir  die  Schrift  auch  Gnadenmittel 
nennen,  aber  dann  auch  nicht  die  Bibel  als  solche,  sondern  ans 
Herz  gelegt  und  ausgelegt  von  der  dienenden  Kirche.  Dass  Prof. 
Volck  das  Wort  Gnadenmittel  nicht  in  diesem  weiteren  Sinne  ge- 
brauchen will,  hat  einfach  darin  seinen  Grund,  dass  dann  die 
grösste  Confusion  in  der  dogmatischen  Terminologie  entsteht.  «Mittel, 
durch  welches  die  Gnade  am  Menschen  arbeitet»,  kann  auch  ein 
Trunkenbold  sein,  der  durch  sein  abschreckendes  Exempel  den 
Menschen  den  Fluch  der  Sünde  lehrt ;  jeder  Tisch  und  Stuhl  kann 
dann  Gnadenmittel  sein,  die  Kanzel,  auf  der  gepredigt,  der  Altar, 
der  Kelch,  bevor  er  gereicht  wird  u.  s.  f.  Ist  nun  die  obige  Be- 
stimmung von  «Gnadenmittel»  und  «Bibel»  die  richtige,  dann  folgt 
auch,  dass  die  h.  Schrift  nicht  in  absolutem,  sondern  nur  in  relativem 
Sinne  «Quelle»  des  Glaubens  ist.  Quelle  ist  doch  s.  v.  a.  Ursprung, 
dasjenige,  woher  mir  etwas  kommt.  Der  Glaube  aber  kommt,  d.  h. 
entsteht  uranfänglich,  nimmt  seinen  Anfang  («Quelle»),  nicht  aus 
der  Bibel.  Das  Christenkind,  wie  der  heidnische  Katechuinen  — 
z.  B.  ein  Neger  —  sie  glauben  an  Christum,  noch  bevor  sie  zu 
lesen  verstehen.  Wenn  man  sich  nur  einigermassen  zuerst  klar 
wird  über  die  Tragweite  jedes  einzelnen  Begriffs,  so  könnte,  so 
dürfte  über  solche  einfache  Dinge  wie  «Offenbarung»,  «Gnaden- 
mittel», «Quelle  des  Glaubens»  nicht  so  viel  unnützer  Streit  und 
Zank  sein,  von  dem  die  Gemeinde  entweder  nichts  versteht,  oder 
den  sie  wo  möglich  dahin  misversteht,  als  wenn  Prof.  Volck  der 
Bibel  glaubenwirkende,  d.  h.  glaubenerneuernde,  glaubenfestigende 
Kraft  abspräche,  wo  doch  Prof.  Volck  schon  im  allerersten  Vor- 
trag davon  geredet,  dass  «der  Bibel  eine  Kraft  entströmt,  die  alle 
andere  Kraft  überragt»  («In  wie  weit  ist  der  Bibel  Irrthums- 
losigkeit  zuzuschreiben  ?»  p.  G).  Pastor  Nerliug  hat  an  einer  Stelle 
die  Sache  auch  ganz  richtig  getroffen.  Er  sagt  p.  18  seiner 
Schrift:  «man  könnte  dann  höchstens  sagen,  dass  die  Schrift  nicht 
das  den  Glaubensanfang  wirkende  Gnadenmittel  sei».  Da  liegt's. 
Wenn  Prof.  Volck  von  «Glauben»  redet,  so  meint  er  in  diesem 
Zusammenhang  natürlich  den  Glaubensanfang,  wie  ja  Prof.  Volck 
in  seiner  Schrift  «zur  Lehre  von  der  h.  Schrift»  p.  8  sagt :  «beginnt 
der  Glaube  an  Christum  zu  keimen».  Darum  müssen  wir  noch- 
mals sagen  :  einen  grossen  Theil  der  Schuld  an  all  den  Differenzen 
trägt  die  mangelnde  Präcisiou  in  den  Begriffsbestimmungen.  Indes 


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Zur  Prof.  Volckschen  Schriftauffassung. 


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würde  Pastor  Nerling  nicht  an  seinen  erweiterten  und  unbestimmten 
Fassungen  theologischer  Begriffe  festhalten,  wenn  er  nicht  durch 
seine  gesammten  theologischen  Anschauungen  über  das  Verhältnis 
von  Bibel  und  Kirche,  Bibel  und  Predigt  hierin  unterstützt  würde. 
Hier  besteht  allerdings  eine  principielle  theologische  Differenz. 
Auf  dieselbe  einzugehen,  scheint  uns  der  Gemeinde  gegenüber  durch- 
aus unthunlich,  da  hier  Fragen  von  specifisch  theologischem  Inter- 
esse zur  Sprache  kommen,  es  uns  aber  nur  darauf  ankommt,  die 
irrigen  Vorstellungen,  welche  die  Gemeinde  durch  die  Schrift  Pastor 
Nerlings  von  den  Anschauungen  Prof.  Volcks  bekommen  muss,  zu 
berichtigen.    Dennoch  sind  wir  gezwungen,  darauf  einzugehen,  da 
sonst  eine  Hauptargumentation  Pastor  Nerlings,  die  sich  auf  die 
Bibel  als  Quelle  des  Glaubens  bezieht,  unerörtert  bliebe.  Nach 
Pastor  Nerling  kommt  nämlich  alle  Predigt  aus  der  Bibel  als 
ihrer  Quelle»,  die  Predigt  selbst  ist  nichts  anderes,  als  Darreichung 
des  Schriftwortes  und   nur  glaubenwirkend,  weil  sie  ihm  ent- 
stammt, nicht  weil  sie  Predigt  der  Kirche.    Nach  Prof.  Volck  con- 
stituirt  sich  aber  die  Predigt  immer  aus  drei  Bestandtheilen :  Dar- 
reichung des  Schriftwortes,  Zeugnis  der  Kirche  und  Zeugnis  der 
persönlichen  Erfahrung.    Es  ist  die  Predigt  [nicht  blosse  Wieder- 
gabe des  Schriftinhalts.    Das  von  Pastor  Nerling  citirte  Schrift- 
wort Rom.  10,  17  kann  niemals  als  Schriftbeweis  gelten,  denn  die 
Stelle:  «die  Predigt  kommt  aus  dem  Wort  Gottes>  darf  nicht  so 
ausgelegt  werden,  dass  «Wort  Gottes»  gleich  «heil.  Schrift»  ist. 
Das  ist  eine  ganz  unmögliche  Exegese.    «Wort  Gottes»  bedeutet 
hier  nach  allen  bewährten  Auslegern  s.  v.  a.  «Auftrag  Gottes». 
Das  Verhältnis  von  Predigt,  d.  h.  mündlicher  Verkündigung  des 
Evangeliums,  und  Bibel  ist  nicht  dasjeuige,  das  Pastor  Nerling 
angiebt.    Betrachten  wir  doch  die  Sache  historisch.    Seit  dem 
Ptingstfest  ist  der  Geist  ausgegossen,  er  wird  Wort ;  das  Evange- 
lium wird  verkündet.    Wo  die  Apostel  auch  seien,  sie  verordnen 
Diener,  die  das  Evangelium  in  der  betreffenden  Gemeinde  treiben 
durch  Predigt.    Von  einer  Generation  geht  die  Wahrheit  des  Evan- 
geliums auf  die  andere  über.    Die  Mutter  theilt  es  dem  Kinde  mit, 
der  Presbyter  der  Jugend,  so  geht  es  fort.    Die  meisten  dieser 
ersten  Gemeinden  haben  Briefe  von  Paulus.    Sind  diese  Briefe  der 
Quell  ihres  Glaubens  ?  Die  Briefe  setzen  ja  den  Glauben  voraus. 

1  cf.  Pastor  Nerling  p.  19 :    «Xicht  blos  die  Norm  für  das  Zeugnis  der 

Kirche,  sondern  vielmehr  die  Quelle,  aus  der  alles  Zeugnis  der  Kirche 

fort  und  fort  fliesst.» 

B.ltUcU.  Monttsichrift.  Bd.  XIX IV.  Hoft  2.  12 


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Zur  Prof.  Volckschen  Schriftauffassung. 


Haben  diese  Gemeinden  ganze  Bibeln  V  Auch  noch  nicht.  All- 
mählich entsteht  dieselbe.  Unterdes  sagt's  ein  Geschlecht  dem 
anderen,  was  der  Herr  gethan,  wobei  was  an  Schriften  vorhanden 
gelesen  wurde  zur  Belehrung  und  Auferbauung.  Nun  kommt  die 
Bibel,  wie  wir  sie  haben.  Ja,  wie  ist  es  nun  ?  Hat  die  ganze 
Gemeinde  Christi  Lethe  getrunken,  ist  dann  vom  Schlaf  erwacht 
und  fängt  nun  von  vorn  an  ihren  Glaubeu  aufzubauen,  nicht  durch 
die  häusliche  Lehre,  nicht  durch  die  Prediger,  sondern  es  con- 
struirt  sich  alles  neu  und  von  vorn  aus  der  Bibel  ?  !  Nimmermehr, 
sondern  die  Verkündigung  des  Evangeliums  in  der  Kinderstube 
durch  den  Mund  der  frommen  Mutter,  in  der  Schule  durch  den 
Lehrer,  auf  der  Kanzel  durch  den  Presbyter  und  Bischof  —  diese 
Verkündigung,  sie  ist  ja  n  i  e  m  a  1  s  unterbrochen  worden! 
Auch  in  den  schlimmsten  Zeiten  des  Katholicismus  nicht!  Und 
nun,  welche  Aufgabe  hat  dann  die  Bibel  gehabt?  Sie  hat  die  Norm 
sein  sollen  dafür,  dass  die  Verkündigung  eine  rechte  sei.  Sie 
wurde  versteckt,  weil  man  die  Norm  fürchtete.  Sie  soll  dabei 
nicht  «todte»  Norm  sein«.  Mache  ich  mir  etwas  zur  Norm,  zur 
Richtschnur,  der  ich  alles  unterwerfe,  so  ist  das  ein  Act  eminent 
innerlicher  Art.  Die  Schrift  ist  Norm  und  kann  es  sein,  weil 
sie  Willen  und  Denken  kraft  ihrer  h.  Geistesmacht  zu  unterwerfen 
im  Stande  ist.  Und  als  nun  die  Waldenser  kamen  und  Hussiten 
und  aus  ihrer  Schriftforschung  heraus  ein  neues  Leben  geboren 
wurde,  da  ist  nicht  ihr  Glaube  entstanden  unabhängig  von  der 
Verkündigung  der  Kirche  allein  aus  der  Bibel.  Nein,  sie  haben 
gewusst  von  Jesu,  dem  Sohne  Gottes,  haben  gewusst  von  Er- 
lösung, von  Heiligkeit  Gottes,  von  altem  und  neuem  Testament. 
Und  weil  sie  dieses  Wissen  und  den  Glauben  als  Keim  hatten,  so 
verstanden  sie  die  Bibel  recht  zu  lesen,  fingen  nicht  mit  dem 
«Hohenliede»  oder  mit  dem  «  Prediger»  an,  sondern  suchten  in  der 
Schrift  nach  Christum  und  seiner  unentgeltlichen  Gnade.  Ihn  im 
N.  Testament  zu  finden,  hat  die  katholische  Kirche  trotz 
ihrer  Verkommenheit  doch  sie  anzuleiten  vermocht,  vermöge  der 
Verkündigung  des  Heils,  die  trotz  alledem  von  ihr  ausging.  Prof. 
Volck  hat  in  der  bereits  angeführten  Stelle  gesagt:  «beginnt  der 
Glaube  an  Christum  zu  keimen,  so  wird  derselbe  durchs  Schrift- 
wort genährt,  gestärkt»  &c.   Der  Keim  des  Glaubens,  der  lag  in 


cf.  P.  Nerling  p.  51 :  «und  an  der  Bibel  nur   die  todte  Norm  hätte  als 
Probiretein  &c.» 


uigmz 


o  uy  Vjüo 


Zur  Prof.  Volckschen  Schriftauffassung.  177 

den  Waldensern,  der  Same  war  im  Herzen.  Nun  kam  das  Wort 
der  Schrift,  und  die  Saat  ging  auf.  Nach  Pastor  Nerlings  An- 
schauung  ist  aber  schon  der  Same  durch  die  ßibel  hineingelegt. 
Dem  ist  die  ganze  Kirchengeschichte  entgegen,  welche  das  von  uns 
gesetzte  Verhältnis  von  Predigt  und  ßibel  bestätigt.  Das  Ver- 
hältnis ist  so  einfach,  so  täglich  -  gewöhnlich,  so  natürlich,  so 
biblisch  und  dabei  so  eminent  historisch,  dass  man  nicht  begreift, 
worauf  hin  man  dasselbe  beanstanden  will.  Und  wie  ist  man  im 
Laufe  dieses  Streites  darüber  hergefallen  !  Man  hat  darin  eine  Be- 
einträchtigung der  Bibel  gefunden,  hat  sich  aufgehalten  über  den 
Hofmannschen  caparten  Strom»  der  Verkündigung,  hat  gemeint 
die  Bibel  in  Schutz  nehmen  zu  müssen  vor  ihrer  Degradirung  durch 
den  Professor !  Man  mnsste  wirklich  nicht,  was  mau  zu  diesem  allen 
sagen  solltet  Als  tNorm»  sollte  sie,  die  h.  Schrift,  gerade  hoch  und 
höher  gestellt  werden,  als  jede  andere  Schriftauffassung  sie  stellt! 
Pastor  Nerling  hat  nun  wieder  die  Predigt  als  direct  der  Bibel 
entstammend  bezeichnet!!  Wir  können  all'  die  diesbezüglichen  Er- 
örterungen nur  verstehen,  wenn  Pastor  Nerling  unter  Predigt  aus- 
schliesslich die  Kunstpredigt,  die  homiletisch  -  exegetisch  durch- 
arbeitete des  praktischen  Pastors,  am  Sonntag  Vormittag  gehalten, 
gemeint  hat.  Die  Erfahrung,  dass  aus  der  h.  Schrift  bei  der  Arbeit 
der  Predigt  Himmelskräfte  strömen,  legt  es  nahe,  die  Bibel  in  praxi 
als  Quelle  der  Predigt  zu  bezeichnen  —  was  in  dieser  praktisch- 
erbaulichen Meinung  ohne  weiteres  von  jedem  Pastor  unterschrieben 
werden  wird  —  allein,  sehen  wir  davon  ab,  dass  auch  hier  nur 
scheinbar  die  Bibel  allein  Quelle  ist,  unter  cPredigt»  ist  doch 
immer  Verkündigung  überhaupt  gemeint.  Verkündet 
der  Pastor  allein?  Predigt  nicht  auch  die  Mutter  dem  Kinde? 
Wenn  sie  aber  dem  Kinde  vom  Heiland  Jesus  erzählt,  vom  Gottes- 
sohn, von  des  himmlischen  Vaters  Barmherzigkeit,  nimmt  sie  das 
alles  selbständig,  direct  aus  der  Bibel,  d.  h.  also :  ist  die  Bibel  die 
t Quelle»  dieser  Kinderpredigt?  Wird  nicht  vielmehr  diese  Mutter 
aus  ihrem  Confirmandenunterricht ,  aus  den  Sonntagspredigten 
manches  schöpfen  (also  Zeugnis  der  Kirche),  vieles  aus  der  Er- 
fahrung ihres  Lebens  nehmen  und  dann  die  herrlichen  Bibelsprüche 
—  die  sie  n  i  c  h  t  nach  eigener,  sondern  nachAnleitung 
der  Kirche  gelernt  hat  im  Jesaias,  in  den  Psalmen,  im  Jo- 
hannisevangelium finden  —  als  vollkommenste  der  Gaben  ihrem 
Kinde  mittheilen? 

Wir  haben  darzulegen  gesucht,  wie  es  Prof.  Volck  gemeint  hat, 

12* 


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Zur  Prof.  Volckschen  Schriftauffassung. 


wenn  er  sagt :  die  Bibel  nicht  Quelle  des  Glaubens  für  den  Ein- 
zelnen, die  Bibel  zunächst  der  Kirche  gegeben,  die  Predigt  stammt 
nicht  direct  aus  der  Bibel.  Möchte  diese  unsere  Darlegung  etwas 
dazu  beitragen,  dass  die  unsinnigen  und  unverständigen  Vorstellungen 
und  das  ihnen  entsprechende  Gerede  —  wir  denken  eben  überhaupt 
an  einen  Theil  des  christlichen  Publikums  —  von  Beeinträchtigung 
des  Ansehens  der  Bibel  durch  Prof.  Volck,  Zurückführung  in 
Katholicismus  u.  s.  f.  endlich  mal  aufhören.  —  Dieser  Punkt  ist 
übrigens  auch  noch  nicht  derjenige,  welcher  in  der  ganzen  Streit- 
frage die  Gemiither  am  meisten  innerlich  bewegt  hat,  sondern  der 
andere,  von  der  Irrthumsfähigkeit  der  Bibel.  Wir  wollen  auf  die 
theologische  Frage  selbst  nicht  eingeheu.  Wir  nehmen  einen  anderen 
Standpunkt  ein  als  Pastor  Nerling,  halten  es  aber  dnrchaus  nicht 
für  ein  Glück,  wenn  die  Frage  von  der  Irrthumsfähigkeit  der 
Bibel  immer  wieder  vor  dem  grossen  Publicum  besprochen  wird. 
Wo  es  das  apologetische  Interesse  erheischt,  wo  gebildeten  Christen 
Aufklärung  über  diese  Frage  noth  thut,  da  ist  ihre  Besprechung 
angezeigt.  Hier  kann  davon  nicht  die  Rede  sein,  üeberhaupt  be- 
dürfte die  Frage  einer  specifisch  theologisch-wissenschaftlichen  Be- 
handlung, wozu  hier  weder  Zeit  noch  Ort  ist.  Wir  haben  uns 
hier  nur  die  Aufgabe  gestellt,  nachzuweisen,  wie  die  Ansichten 
Prof.  Volcks  nicht  die  äusserst  bedenklichen,  ja  verderblichen  siud, 
wie  sie  nach  der  Wiedergabe  und  Bekämpfung  durch  Pastor  Ner- 
ling sich  tder  Gemeinde >  darstellen  müssen.  Prof.  Volck  schreibt 
bekanntlich  der  Schrift  Irrungen  zu  in  den  Fragen,  die  nicht  das 
Heil  unmittelhar  berühren,  Irrungen  also  auf  dem  Gebiet  etwa  der 
Chronologie,  der  Geographie,  der  Profangeschichte  und  überhaupt 
dort,  wo  es  sich  um  rein  Accidentelles,  Zufälliges,  Aeusserliches, 
Nebensächliches  handelt.  Pastor  Nerling  dagegen  vertritt  den  ent- 
gegengesetzten Standpunkt.  Nach  ihm  ist  die  h.  Schrift  in  jedem 
Worte  Gottes  directe,  selbsteigene  Rede  (cf.  P.  Nerling  p.  7—9 
und  00-61),  bei  der  nichts  als  irrig  hinfallen  könne  und  nie  eiu 
Unterschied  zwischen  Heilswesentlichem  und  Nebensächlichein  zu- 
gestanden werden  dürfte.  Diesen  Standpunkt  versucht  Pastor  Ner- 
ling als  schriftgemäss  zu  erweisen  und  zugleich  die  Prof.  Volcksche 
Unterscheidung  zwischen  Heilsweseutlichem  und  andererseits  Neben- 
säehlich-Inthumsfähigem  als  schriftwidrig  darzuthun.  Der  Heiland 
citire  nämlich  (cf.  P.  Nerling  p.  8  u.  10)  in  Evang.  Joh.  10,  34 
deu  Psalm  82  (und  hiermit  mittelbar  2.  Mos.  22,  8)  und  nenne 
die  dortige  Bezeichnung  der  Richter,  als  t Götter»,  Gottes  eigenes 


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Zur  Prof.  Volckschen  Schriftauftässung. 


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Wort  und  eigenen  Ausspruch.  Die  Bezeichnung  der  Richter  als 
«Götter»  komme  aber  in  einer  untergeordneten  Gesetzesbestimmung 
über  Diebstahl  vor,  einer  Bestimmung,  die  unserem  Urtheil  nach 
durchaus  nichts  Heilswesentliches  enthalte,  sondern  etwas  ganz 
Nebensächliches  sei.  Desgleichen  werde  1.  Cor.  9,  9  die  Gesetzes- 
bestimmung «du  sollst  dem  Ochsen,  der  da  drischt,  nicht  das  Maul 
verbinden >  als  Gottes  eigenes 'Wort  angeführt.  Uud  auch  diese 
Gesetzesbestimmung  sei  noch  etwas  durchaus  Nebensächliches,  habe 
mit  der  Heilsgeschichte  nichts  zu  thun,  könnte  mithin  nach  dem 
Satz  «das  Heilsunwesentliche  kann  irrig  sein»  wegfallen.  Aber 
1.  Cor.  9,  9  wird  gerade  diese  Bestimmung  Gottes  Wort  genanut. 

Diese  Argumentation  erscheint  auf  den  ersten  Blick  schlagend 
und  ist  doch  der  allergrösste  Misverstand  der  Prof.  Volckschen 
Lehre.  Prof.  Volck  hat  doch  nicht  gesagt :  was  m  i  r  nebensächlich, 
d.  h.  unwichtig  erscheint,  brauche  ich  nicht  als  irrthumslreies  Gottes- 
wort anzusehen.  Prof.  Volck  hat  das  Gebiet  des  lrrthumsfähigen 
auf  das  Gebiet  des  Profanen  beschränkt.  Pastor  Nerling  ver- 
wechselt die  Begriffe  «unwichtig»  und  «profan».  Was  aber  «profan» 
ist,  stellt  Prof.  Volck  nicht  der  Entscheidung  des  subjectiven  Be- 
liebens anheim,  sondern  setzt  hier  mit  der  Lehre  ein  :  alles  Ein- 
zelne der  Schrift  haben  wir  nach  dem  Zusammenhang  des  Ganzen 
zu  würdigen.  Dann  ergiebt  sich,  dass.  was  profan  ist,  nur  den 
obgenannten  Gebieten  angehört.»  Nach  dieser  Regel  gehören  aber 
die  Stellen  über  die  «Götter»  und  den  «Ochsen»  zum  Gesetz.  Das 
Gesetz  gehört  doch  zur  Heilsgeschichte  !  Das  ist's,  was  Prof.  Volck 
betont :  man  soll  das  Einzelne  nach  dem  Zusammenhang  des  Ganzen 
fassen.  Alle  einzelnen  Gesetzesbestimmungen  in  3.-5.  Buche  Mose 
sind,  von  der  Summe  der  Gebote  aus:  «Liebe  zu  Gott  und  dem 
Nächsten»  zu  beleuchten,  dann  erhalten  sie  das  rechte  Verständnis. 

Ein  ähnlicher  Misverstand,  der  schlimmste,  derjenige,  der  uns 
im  letzten  Grunde  zu  diesen  Zeilen  veranlasst  hat,  ist  in  Pastor 
Nerlings  Schrift  p.  47-  49  enthalten.  Hier  bespricht  Pastor  N. 
den  sog.  Hofmannschen  Inspirationsbeweis,  den  Prof.  Volck  in 
seinem  Vortrag  «die  Bibel  als  Kanon»  öffentlich  vertreten.  Es  ist 
dies  der  Beweis  für  die  Göttlichkeit  der  Schrift,  der  der  inneren 
Einheit  des  Schriftganzen,  der  Unentbehrlichkeit  ihrer  einzelnen 
Schriften  und  ihrer  Bedeutung  im  Laufe  der  Kirchengeschichte 
entnommen  ist.  Von  diesem  Beweis  sagt  Pastor  NM  dass  er  nicht 
(p.  47)  «den  Gitmd  des  Glaubens  an  das  Wort  Gottes  abgebe». 
«Wer  fp.  48)  seinen  Glauben  auf  seine  wissenschaftlich-theologische 


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'.SO  Zur  Prof.  Volckschen  Schriftauffassung. 

Erkenntnis  gründen  will,  der  wird  zu  Schanden  werden.  Die 
theologisch-wissenschaftliche  Arbeit  kann  und  soll  die  Glaubens 
erkenntnis  vertiefen,  aber  den  Glauben  selbst  kann  sie  nicht  geben. 
Der  Glaube  ist  Gottes  Gnadengabe,  die  Gott  allen  denen  giebt, 
die  ...  .  und  ihren  Glauben  in  keinem  Stücke  auf  die  Resultate 
ihrer  wissenschaftlichen  Errungenschaften  gründen  wollen.»  <Wer 
seinen  Glauben,  dass  die  Schrift  seines  Fusses  Leuchte,  darauf 
baut,  dass  die  Kirche  allezeit  der  guten  Zuversicht  gelebt  hat,  in 
ihr  das  normative  Wort  Gottes  zu  besitzen,  der  hat  sein  Glaubens- 
haus auf  Sand  gebaut.»  (!)  Hiernach  hätte  Prof.  Volck  seinen 
Glauben  an  die  Schrift  auf  zweierlei  gebaut:  auf  eiuen  theologischen 
Beweis  und  auf  die  gute  Zuversicht  der  Kirche.  Schon  an  sich 
klingt  es  unglaublich,  dass  ein  gläubiger  Professor  der  Theologie 
seinen  Glauben  an  die  Schrift  in  genannter  Weise  begründet,  und 
Laien,  die  nicht  völlig  unkritisch  lesen,  werden  an  dieser  Stelle 
äusserst  stutzig  werden.  Wie  würden  sie  jedoch  erst  staunen, 
wenn  sie  in  Prof.  Volcks  Schrift:  «Die  Bibel  als  Kanon»  lesen 
würden  (p.  52):  «Oder  macht  er»  (der  oben  besprochene  wissenschaft- 
liche Nachweis  der  Einheit  des  Schriftganzen)  «auf  Irrthumslosig- 
keit  Anspruch  ?  Gewiss  nicht.  Er  ist,  wie  jeder  menschliche  Be- 
weis, dem  Irrthum  unterworfen.  Aber  der  Glaube  der  Kirche 
hängt  nicht  davon  ab,  ob  dieser  Beweis  gelingt.  Dieser  Glaube 
ist  vorhanden  vor  jedem  derartigen  Beweis.  Die  Kirche  hat 
immer  der  guten  Zuversicht  gelebt,  dass  sie  an  ihr  das  normative 
Wort  Gottes  besitze.  Je  weiter  sie  fortschreitet  auf  ihrem  Wege, 
um  so  sicherer  wird  sie  dieses  Glaubens,  indem  sie  in  allen  Lagen, 
in  den  Anfechtungen,  die  Erfahrung  ihrer  Gotteskraft 
macht.  An  dieser  «Erfahrung»  hat  «der  Einzelne  in  dem  Masse 
theil  (p.  53),  als  er  mit  dem  Leben  der  Kirche  verwachsen  ist  und 
in  das  Verständnis  der  Schrift  eindringt». 

Was  sehen  wir  also  ?  Prof.  Volck  verwahrt  sich 
ausdrücklich  dagegen,  dass  jener  Beweis  den 
Grund  seines  Glaubens  an  die  Bibel  bildet,  und 
nun  heisst  es  zwei  Seiten  hindurch,  er  gründe  den  Glauben  an  die 
Schrift  auf  eine  theologische  Idee !  1  Die  ganze  Schritt  Pastor  Nerlings 
ist  in  einem  durch  und  durch  friedfertigen  Ton  gehalten,  aufs  geflissent- 
lichste meidet  er  jedes  persönliche  Zunahetreten,  er  sagt  im  Vor- 
wort, er  hätte  «am  liebsten  gar  keinen  Namen  genannt»,  weshalb 
er  auch  nur  eingangs  den  Namen  Prof.  Volcks  nennt,  an  der  so- 
eben besprochenen  Stelle  jedoch  nicht  mal  den  Vortrag  Prof. 


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Zur  Prof.  Volckschen  Schriftauflfassung. 


181 


Voicks  anführt.  In  der  That,  wenn  dies  alles  uns  nicht  von  vorn- 
herein entwaffnete,  wir  würden  uns  hier  vom  Unmuth  hinreisseu 
lassen.  Denn  es  geht  doch  wahrhaftig  über  die  Grenze  dessen 
hinaus,  was  der  bona  fides  eines  an  sich  wohlmeinenden  Gegners 
zu  gute  gehalten  werden  kanu,  wenn  falsche  Darstellungen  der  gegne- 
rischen Ansicht  vorliegen,  wie  hier !  Natürlich  sind  es  unabsicht- 
liche und  unwissentliche  Entstellungen,  aber  die  Notwendigkeit  ge- 
nauer Kenntniss  der  gegnerischen  Meinung  wird  doch  hier  be- 
sonders dringend,  wo  die  «Gemeinde»  zu  einem  Urtheil  ange- 
leitet werden  soll  über  die  Lehren  des  Mannes,  der  eine  hohe 
geistliche  Vertrauensstellung  einnimmt.  Wer  will  leugnen,  dass 
Prof.  Volck  durch  allzu  concise  Erledigung  schwieriger  Fragen 
und  etwas  unvermittelte  Einführung  in  feinere  theologische  Un- 
terscheidungen (so  z.  B.  die  Unterscheidung  des  Inhalts  der 
Bibel  vom  kanonischen  Umfang  derselben,  der  Unterschied  zwi- 
schen dem  Zeugnis  des  h.  Geistes,  von  dem  der  Einzelne  und 
von  dem  die  Kirche  zu  reden  weiss)  selbst  einzelne  Misverständnisse 
hervorgerufen,  aber  die  Abwehr  des  Mis Verstandes,  als  gründe  er 
den  Glauben  an  die  Bibel  auf  einen  theologischen  Beweis,  war 
doch  Äusserst  klar!  Dagegen  müssen  wir  freilich  be- 
dauern, dass  Prof.  Volck  die  Frage,  worauf  der  Einzelne  seinen 
Gkuben  an  die  Bibel  als  Gottes  Wort  gründe,  nicht  ausführ- 
licher behandelt,  weil  dann  weniger  Misverstand  und  Streit  ge- 
wesen wäre.  Weshalb  Prof.  Volck  nicht  näher  darauf  einging,  hatte 
darin  seinen  Grund,  dass  es  ihm  nicht  auf  Beantwortung  dieser, 
als  vielmehr,  entsprechend  seinem  Thema  «Bibel  als  Kanon»,  auf 
Erledigung  einer  anderen  Frage  ankam,  einer  Frage,  die  dem 
Interesse  des  praktischen  Pastors  und  des  Laien  freilich  ferner 
liegt.  Es  ist  das  die  Frage,  die  der  sog.  Hofmannsche  Inspirations- 
beweis beantworten  will.  Dieser  von  Prof.  Volck  vertretene  Be- 
weis beantwortet  aber  nicht  die  Frage:  worauf  gründet  der  Einzelne 
seinen  Glauben  an  die  Bibel,  sondern  die  Frage:  kann  die 
Theologie  einen  wissenschaftlichen  Beweis  dafür  beibringen,  dass 
die  Bibel  in  ihrer  gegenwärtigen  Zusammensetzung  als  alt-  und 
neutestameutlicher  Kanon  für  alle  Zeiten  normatives  Gotteswort 
sein  soll,  also  in  ganz  anderem  Sinne  massgebend,  als  alle  sonstigen 
erleuchteten  Schriften.  Wer  Prof.  Volck  nicht  gänzlich  misver- 
stehen  will,  der  scheide  doch  diese  beiden  Fragen  von  einander  ! 
Der  sog.  Hofmannsche  Inspirationsbeweis  ist  eine  geniale,  eine  tief- 
sinnige theologische  Speculation,  aber  hat  mit  der  Frage  nichts  zu 


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182  Zur  Prof.  Volckschen  Schriftanft'assung. 

■ 

thun,  worauf  ich  meinen  Glauben  gründe,  dass  die  Bibel  Gottes 
Wort  ist.  Es  giebt  nur  einen  Beweis  für  die  Göttlichkeit  der 
Schrift :  das  ist  die  Erfahrung  der  Lebensmacht,  die  ihr  entströmt. 
Das  ist  auch  derjenige  Beweis,  den  Prof.  Volck  als  den  einzig 
tauglichen  kennt,  nur  dass  er  nicht  in  der  Erfahrung  des  Einzelnen, 
sondern  der  der  gesammten  Kirche  die  rechte  Beweiskraft  dieses 
Beweises  sehen  will.  Aber  dieser  Beweis  bezieht  sich  selbstredend 
nur  auf  den  Inhalt  der  Schrift.  Eine  ganz  andere  Frage  ist's  nun : 
wie  werde  ich  dessen  gewiss,  dass  die  Bibel  als  alt-  und  neu  testa- 
mentlicher Kanon,  in  dieser  Zusammensetzung  der  Schriften,  der 
Kirche,  im  Unterschied  von  allen  anderen  Schriften,  für  alle  Zeiten 
als  Norm  gegeben  ist?  Nach  Ansicht  Prof.  Volcks»  liesse  sich  für 
diese  Thatsache  kein  ausreichender,  lückenloser  Beweis  beibringen, 
weder  aus  der  h.  Schrift  selbst»,  noch  aus  dem  Zeugnis  der  Kirche 
über  Autorschaft  der  biblischen  Verfasser.  Es  müsse  vielmehr  ein 
anderer  Beweis  beigebracht  werden,  ein  Beweis,  entnommen  aus 
der  inneren  Einheit  des  Schriftganzen.  Es  handelt  sich  darum,  ob 
die  Wissenschaft  aus  dem  Zusammenhang  des  Schriftganzen  nach- 
weisen könne,  warum  diese  und  gerade  diese  Schriften  in  den  Kanon 
aufgenommen  wurden.  Es  fragt  sich  dabei,  ob  man  nicht  ein  ein- 
heitliches Princip  in  der  Zusammenstellung  des.  Kanon  entdecken 
könne,  nach  welchem  die  Kirche  unbewusst  gegangen,  in  welchem 
man  dann  die  göttliche  Leitung  und  den  göttlichen  Gedanken  bei 
der  Zusammenstellung  des  Kanon  entdecken  könnte.  Es  käme 
dabei  darauf  an,  ob  man  wissenschaftlich  die  Zugehörigkeit  jeder 
einzelnen  Schrift  zur  Bibel,  um  ihrer  Stellung  willen  im  Ganzen 
der  Schrift,  rechtfertigen  könne,  und  nachweisen,  warum  nicht  z.  B. 
Esther  oder  Jakobus  oder  die  Apokalypse  —  letztere  gehörte  im 
3.  Jahrh.  nicht  zum  Kanon  —  entbehrt  und,  wie  noch  Luther 
wollte,  aus  dem  Kanon  gewiesen  werden  dürfe,  nach  welchem  Princip 
dies  aber  andererseits  bei  den  Apokryphen  wol  zulässig  war.  Das 
ist  die  Aufgabe,  die  sich  der  sog.  Hofmannsche  Inspirationsbeweis, 
von  Prof.  Volck  vertreten,  stellt.    Die  Lösung  dieser  Aufgabe  er- 


1  Verfasser  verhiilt  sich  hier  lediglich  refcrirend. 

*  Beim  alten  Testament,  stellt  es  wegen  der  Stellung  des  Herrn  zur 
«Schrift»  und  wegen  2.  Tin.  8,  15  —  16  andern.  Der  Schrift  In  weis  für  den  gott- 
lichen Ursprung  des  A.  Testaments  in  allen  seinen  Theilen  ist  vorhanden.  Aber 
die  Wissenschaft  der  Kanonik  hat  weiter  zu  gehen  und  die  Bedeutung  des 
Schriftganzen  für  die  Kirche  hinsichtlich  des  A.Testaments  ehenso  ans  der  orga 
n Neben  Einheit  zu  erweisen  wie  für  das  N.  Testament. 


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^Zur  Prof.  Volckschen  Schriftauflfassung.  183 


giebt  sich,  sagt  Prof.  Volck  (cf.  Volck,  Bibel  als  Kanon  p.  24—43), 
so,  dass  ich  die  Bibel  als  ein  einheitlich  geschlossenes  Ganzes  er- 
kenne, als  einen  Organismus,  in  welchem  jeder  Theil  seine  Stelle 
und  seine  Aufgabe  hat,  darum  aber  auch  vom  Ganzen  nicht  abge- 
löst werden  kann.  Lasst  sich  nun  von  der  Bibel  nachweisen,  dass 
sie  solch  ein  einheitliches  Ganzes  ist  ?  Prof.  Volck  bejaht  die  Frage 
und  sucht  den  Nachweis  zu  führen,  wobei  er  selbst  von  einem 
t Versuch»  spricht,  den  er  «wagt»1,  welche  Ausdrücke  schon  den 
Gedanken,  dass  es  sich  um  Grund  des  Glaubens  handelt,  aus- 
schliefen. Wie  aber  wird  nun  dieser  Beweis  geliefert?  Es  wird 
dargethan,  wie  nur  aus  der  Gesammtheit  aller  alttestamentlichen 
Bücher  eine  allseitige  und  ausreichende  Urkunde  der  Offenbarungs- 
geschichte des  Volkes  Israel  zu  Stande  kommt.  Die  alttestament- 
liche  Heilsgeschichte  kommt  gerade  durch  die  Gesammtheit  der 
Schriften  des  alttestamentlichen  Kanons  nach  allen  Seiten  und 
Zeiten  zur  Darstellung.  Die  Gesch  ichts  bücher  berichten 
über  Israels  Vergangenheit  in  allen  ihren  Perioden  und  Abschnitten, 
die  prophetischen  Bücher  über  Israels  Zukunft,  da  Israel 
das  Volk  des  sich  anbahnenden  Heils  ist,  die  L  e  h  r  bücher  zeigen, 
wie  sich  das  sittlich-religiöse  Leben  ausgestaltet  auf  Grund  der 
Erkenntnisse,  die  Gott  durch  seine  Offenbarung  gewirkt  hat,  so 
die  Psalmen  und  Sprüche.  Andere  Lehrbücher  dagegen  zeigen, 
wie  die  allgemein-menschlichen  Dinge  und  Begegnisse  in  Folge 
Erkenntnis  Jehovas  derart  gefasst  wurden,  dass  des  Lebens  Lust 
nicht  in  sinnliche  Rohheit  ausartet  (Hohelied),  des  Lebens  Last 
nicht  in  Verzweiflung  führt  (Prediger  Salomonis),  des  Lebens  Leid 
nicht  zum  Verzagen  bringt  (Hiob),  wie  solches  alles  doch  überall 
da  der  Fall,  wo  die  Menschheit  ohne  Offenbarungswahrheit. 

So  hat  Israel  eiue  allseitige  Urkunde  am  A.  Testament,  ge- 
eignet, dasselbe  hindurchzuleiten  bis  zur  Zeit,  da  sich  das  ueu- 
testamentliche  Heil  verwirklicht.  Wie  dieses  erscheint,  tritt  au 
die  Stelle  Israels  die  Kirche  Christi.  Sie  hat  bis  zur  Wiederkunft 
ihres  Herrn  einen  weiten  Weg  vor.  Es  liegt  auf  der  Hand,  dass 
auch  sie  dazu  eines  Lichtes  bedarf,  eines  göttlichen  Wortes,  das 
die  ganze  neutestamentliche  Heilsoffenbarung  nach  allen  Seiten 
und  Zeiten  zur  Darstellung  bringt,  damit  die  Kirche  unter  allen 
Verhältnissen  an  diesem  Wort  Leuchte  und  Richtschnur  habe.  Ent- 
spricht hierin  das  N.  Testament  dem  A.  Testament?  Allerdings. 


1  cf,  Volck,  Bibel  iils  Kamm  p.  25. 


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I 


184  Zur  Prof.  Volckschen  Schriftauffassung. 

■ 

Wir  finden  im  N.  Testament  das  neutestamentliche  Heil  nach  allen 
Zeiten  und  Seiten  zur  Darstellung  gebracht  und  zwar  nach  den 
Seiten,  deren  Erkenntuis  die  Kirche  im  Laufe  der  kirchengeschicht- 
lichen Entwickelung  schon  bedurft  hat  und  bedürfen  wird.  Die 
Gesc  nichts bücher  stellen  die  Verwirklichung  des  Heils  dar, 
die  neutestamentliche  Vergangenheit,  die  prophetische  Schrift 
die  Vollenduug  des  Heils  bei  der  Wiederkunft  Christi,  die  Lehr- 
schriften aber  beleuchten  alle  denkbareu  Lagen,  Kämpfe,  Lehr- 
fragen, Anfechtungen,  welche  die  Gemeinde  Christi  durchleben 
kann.  Für  die  Zeit,  da  es  die  Rechtfertigung  allein  aus  dem 
Glauben  gilt,  hat  die  Kirche  den  Römer-  und  Galaterbrief ;  für  die 
Zeit,  da  die  Gefahr  des  todten  Orthodoxismus  vorliegt,  den  Jakobus- 
brief ;  für  die  Zeit  friedlicher  Entwickelung  innerer  und  äusserer 
Gemeindeverhältnisse  die  Pastoralbriefe,  für  die  Zeit,  da  es  Be- 
kämpfung jüdisch-gesetzlicher  Ascese  gilt,  den  Colosserbrief  u.  s.  f.». 
Hieraus  folgt,  dass  die  neutestamentliche  Gemeinde  in  der  That 
am  N.  Testament  ein  vollständiges,  allseitiges,  in  sich  geschlossenes 
Schriftganzes  hat,  eine  Urkunde  vom  Heil,  geeignet  der  Gemeinde 
eine  Leuchte  und  eine  Norm  zu  sein  bis  zu  ihrer  Vollendung. 
Der  Rückschluss,  der  nun  auf  die  Inspiration 
gemacht  wird,  ist  der  (Volck  ebend.  p.  53) :  ist  die  Schrift 
vollständiger,  allseitiger  Bericht  vom  Heil,  so  stammt  sie  auch  als 
Ganzes  von  dem,  von  dem  das  Heil  stammt.  Der  gegenwärtige 
Bestand  des  Kanons  ist  also  der  gottgewollte,  mit  anderen  Worten: 
die  Concile  von  Hippo  und  Karthago  (393,  419)  waren  bei  Zu- 
sammenstellung des  neutest.  Kanons  inspirirt,  wie  die  alttest.  Ge- 
meinde bei  Festsetzung  des  alttest.  Kanons.  Diese  Thatsache  hat 
dann  rückwirkende  Beweiskraft  für  die  Kauonicität  und  Inspiration 
insbesondere  der  nichtapostolischen  Schriften  (Hebräerbrief,  Lukas- 
evangelium), wie  der  Inspiration  des  Schriftinhalts  überhaupt. 
Letztere  Thatsache  soll  aber  mit  eben  entwickeltem  Beweis  nicht 
begründet,  sondern  nur  gestützt  werden.  Das  Ganze  ist  ein 
wissenschaftlicher  Beweis,  von  dem  Prof.  Volck  —  wir 
weisen  nochmals  auf  p.  52  und  53  seines  Vortrages  c  Bibel  als  Kanon  > 
—  seinen  Glauben  an  die  Göttlichkeit  der  Schrift  nicht  abhängig 
macht.  Man  mag  sich  nun  zu  diesem  theologischen  Gedanken 
stellen,  wie  man  will,  eins  muss  man  unbedingt  zugeben :  er 


•  Wir  können  hier  natürlich  nnr  andeuten  und  verweisen  nochmals  auf 
Prof.  Volck  ebend.  p.  24  -  43. 


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Zur  Prof.  Volck -chen  Schriftauffassung. 


185 


stärkt  den  Glauben  an  die  Schrift,  vertieft  die  Erkenntnis  ihres 
Wesens,  festigt  den  Glauben  an  ihren  göttlichen  Ursprung,  erölfnet 
tief  erbauliche  Einblicke  iu  die  Herrlichkeit  des  Schriftganzen  und 
löst  manche  Fragen,  auf  die  wir  sonst  kaum  Antwort  zu  geben 
wüssten.  Weil  dieser  Inspirationsbeweis  solchen  apologetischen 
Werth  hat,  vertrat  ihn  Prof.  Volck  vor  der  Oeffentlichkeit1.  Er 
wollte  der  Gemeinde  Christi  damit  einen  Dienst  leisten.  Es  ist 
unbegreiflich,  wie  man  das  nicht  verstanden,  und  noch  unbegreif- 
licher, wie  man  für  glaubenerschütternd  ansehen  kann,  was  doch 
glaubenstärkend  ist.  Geradezu  tragisch  aber  ist  es,  dass  die  Ge- 
meinde vor  den  Ansichten  des  Mannes  gewarnt  wird,  der  sein 
Leben  der  Vertheidigung  der  Schrift  gewidmet  und  mitten  im 
Sturm  der  Wellhausenschen  Kritik,  der  jetzt  über  die  h.  Schrift 
ergeht,  unter  heisser  Arbeit  die  Fahne  der  positiven,  d.  h.  gläubigen 
Theologie  hoch  hält. 

Um  dem  Vorwurf  flüchtiger  Behandlung  der  Pastor  N.schen 
Schrift  zu  entgehen,  betonen  wir  nochmals,  dass  wir  uns  eine  be- 
grenzte Aufgabe  gestellt,  wie  wir  dies  eingangs  bereits  sagten. 
Sollten  wir  dabei  Einiges  zum  Verständnis  der  Schriftfrage  beige- 
tragen haben,  so  soll's  uns  innig  freuen.  Nicht  behufs  Polemik, 
sondern  zur  Klarstellung  und  Verständigung  sind  diese  Zeilen 
geschrieben. 

#  J.  Lenz, 

Pastor  in  Reval. 


\ 


1  Volck,  Bibel  als  Kanon  p.  7 :  «Je  mehr  diese  Augriffe  in  den  Laien- 
kreieen  bekannt  werden,  um  so  mehr  wird  es  Pflicht  über  den  Zweifel  hinüber- 
luhtlfen.» 

ÄoasojeHO  uensypon.  —  Päse«,  18- ro  +eBpaja  1887  r. 


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Das  Wesen  der  Heimat. 


►•'iKVaV  giebt  Zauberworte  in  unserer  Sprache,  deren  blosser  Klang 
£jS*£4;  Vorstellungen  in  der  Seele  wachzurufen  pflegt,  welche  auch 
dem  kalten  und  nüchternen  Menschen  das  Blut  erwärmen  und  dem 
mit  reicherem  Empfindungsleben  Bedachten  momentan  das  Gemüth 
mit  einem  Bilde  ungetrübten  Glückes  erfüllen.  Auch  im  späten 
Alter  wird  es  selten  ohne  Resonanz  an  der  Seele  des  Hörers 
vorüberziehen,  wenn  Worte,  wie:  Weihnachten,  Jugendzeit,  Wald, 
Elternhaus,  Vaterland  die  entsprechenden  Begriffe  und  Gedanken- 
verbindungen hervorrufen. 

Es  ist  die  eigentümliche  Mischung  einer  edlen  geistigen  Vor- 
stellung mit  einem  real-sinnlichen  Bilde,  welche  bei  allen  den  ge- 
nannten Ausdrücken  die  Seele  mit  einer  zugleich  geistig  befriedi- 
genden und  dabei  doch  farbenprächtigen  Anschauung  erfüllt,  welche 
uns  über  das  blos  sinnliche  Behagen  hinaushebt  und  doch  der  ge- 
gebenen Vorstellung  durch  die  Anknüpfung  an  concrete  Gegen- 
stände diejenige  Dauer  und  dasjenige  Detail  der  Ausmalung  ver- 
leiht, ohne  welches  eine  wahrhafte  Glücksempfindung  in  der  Seele 
nicht  zu  entstehen  vermag.  Man  vergleiche  den  Eindruck,  welchen 
unstreitig  würdige  und  sittliche  Gedankenverbindungen,  wie  Tugend, 
Sittlichkeit,  Charakter  u.  a.  in  uns  erzeugen,  mit  dem  viel  volleren 
Widerhall,  welchem  der  Ausdruck  Elternhans,  Weihnachten,  Waldes- 
stille in  der  Seele  begegnet,  und  man  wird  sich  des  eigenthümlich 
Bestrickenden  der  letzteren  Vorstellungen  voll  bewusst  werden.  Hat 
sich  doch  z.  B.  in  unserer  Literatur  der  Begriff  der  t  Waldes- 
einsamkeit» eine  Zeit  lang  als  mit  das  höchste  irdische  Glück  in 

B.ltUcbe  MoMUackrift.  Bd.  XXXIV,  Heft  3.  13 


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188 


Das  Wesen  der  Heimat. 


sich  schliessend  der  Einbildungskraft  der  alten  Romantiker  be- 
mächtigt gehabt,  welche  aus  den  zerreibenden  und  an  den  Nerven 
zupfenden  Berührungen  der  Welt  und  der  Städte  in  die  tiefste 
Stille  der  Naturverborgenheit  flüchteten  und  erst  aufzuathmen  ver- 
mochten, wenn  hinter  dem  Flüchtlinge  die  Eingangsbüsche  des 
Waldesdickichts  zusammenschlugen.  Musste  doch  das  geistige 
Haupt  dieser  in  ihrer  poetischen  Kraft  jetzt  wol  nicht  genug  ge- 
schätzten Schule,  Ludwig  Tieck,  in  seiner  berühmten  Novelle 
c  Waldeinsamkeit  >  gegen  die  Uebertreibungen  dieses  krankhaften 
Naturgefühls  auftreten,  um  die  Eremiten  wieder  an  ihre  Menschen- 
pflicht zurückzutreiben. 

Was  ist  denn  der  Zauber,  welcher  uns  allen  das  Herz  höher 
schlagen  lässt,  wenn  das  Wort  ertönt,  welches  das  Thema  dieser 
Gedankenentwickelung  ist  und  welches  allerdings  als  Bezeichnung 
eines  ganzen  Comp  lexes  der  eben  genannten  Vorstellungen  vor 
allem  geeignet  erscheint,  die  beglückende  Kraft  dieser  letzteren  zu 
illustriren  ?  Warum  zieht  es  den  Sohn  der  Berge  trotz  ihrer  Armuth 
1  mit  immer  gesteigerter  Macht  aus  dem  reichen  Leben,  aus  dem 
befriedigenden  Familienglück,  aus  den  tausend  Banden  jahrelanger 
Gewöhnung  zurück  in  die  engen  Tliäler  und  grausen  Schluchten, 
zu  den  wolkenbedeckten  Kuppen  und  stürzenden  Wassern  der 
längst  verlassenen  Heimat?  Warum  sehnt  sich  der  Einwohner 
der  flachen  unendlichen  Ebenen  Hollands  oder  der  Mark  aus  der 
reizendsten  Landschaft  Mitteleuropas,  Italiens  und  der  Schweiz  in 
das  alte,  scheinbar  aller  Naturschönheiten  baare  Land  zurück,  in 
welchem  er  allein  tausend  Naturreize  findet,  die  der  Bewohner 
schönerer  Gegend  nur  mit  mitleidigem  Lächeln  betrachtet?  Es  ist 
die  Heimat!  das  Heimatland!  Dies  eine  Wort  deckt  alle 
Mängel  zu. 

Aus  zwei  verschiedenen  Seelenkräften  zieht  die  Heimat  ihre 
bestrickende  Macht,  von  welchen  jede  einzelne  stark  genug  ist, 
um  die  nimmer  rastende  Sehnsucht  der  Seele  zeitweilig  zu  be- 
friedigen und  uns  das  zu  gewähren,  was  wir  beständig  mit  nervöser 
Hast  zu  erreichen  suchen  :  Ausfüllung  der  Gedanken.  Diese  Kräfte 
sind :  das  Gemüt  h  und  die  Phantasie.  Das  Gemüth  wird 
durch  die  Anschauung  alles  dessen,  was  uns  in  früheren  Jahren 
lieb  gewesen  ist,  alles  dessen,  was  uns  selbst  erzogen  uud  unsere 
Bedürfnisse  geschaffen  und  ausgebildet  hat,  befriedigt  und  die 
Phantasie  gewährt  der  Vorstellung  wahre  Kraft  und  Dauerhaftig- 
keit durch  die  vielen  Bilder  bestimmter  erinuerungsvoller  Oertlich- 


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Das  Wesen  der  Heimat 


189 


keiten,  als  deren  höhere  Zusammenfassung  dann  der  Begriff  Heimat 
erscheint,  und  räumt  zugleich  mit  ihrem  verschönernden  und  reini- 
genden Pinsel  alle  Schatten  und  Mistöne  aus  dem  reichen  Gemälde, 
welches  sie  vor  die  Seele  zaubert. 

Wenn  aber  diese  beiden  Mächte  allein  im  Stande  sind,  uns  das 
volle  Glücks  g  e  f  ü  h  1  des  Heimatbegriffes  zu  gewähren,  so  sind  sie 
es  doch  nicht  allein,  welche  diesen  Begriff  selbst  geschaffen  haben. 
Sonst  wäre  auch  die  Heimat  nur  eine  trügerische  Fata  Morgana, 
gleich  so  manchem  Gebilde,  welches  die  lockende  Phantasie  dem 
unbefriedigten  und  gequälten  Gemüth  unserer  Jetztzeit  vorgaukelt. 
Steht  es  mit  der  Heimat  am  Ende  ebenso,  wie  mit  der  vielge- 
rühmten «guten  alten  Zeit>  oder  gar  wie  mit  der  «Freiheit,  die 
ich  meine>  ? 

Wir  werden  also  die  Gemüthsvorstellung  der  Heimat  zeit- 
weise verlassen  müssen,  um  mit  der  nüchternen  Kritik  den  Begriff 
derselben  etwas  näher  zu  untersuchen.  Nur  so  kann  sich  zeigen, 
was  an  ihm  echtes  Gold  ist. 

Das  Wort  « Heimat >  kommt  von  «Heim»  her  und  bezeichnet 
daher  etymologisch  den  Ort,  wo  wir  unseren  Herd  errichtet  haben, 
wo  wir  «zu  Hause»  sind.  Er  würde  sich  hiernach  mit  dem  Begriffe 
des  Wohnortes  oder  Wohnsitzes  decken  und  hat  sich  im 
Rechtsleben  meist  mit  demselben  gedeckt.  Hier  entsteht 
aber  sogleich  die  Frage  :  Was  ist  denn  der  Wohnort  oder  Wohn- 
sitz? Ist  jeder  zeitweilig  gewählte  Aufenthaltsort,  mag  er  sich 
auch  jahrelang  erhalten,  schon  ein  wirklicher  Wohnort  ? 

Die  Rechtswissenschaft  antwortet  auf  diese  Frage  damit,  dass 
sie  nur  denjenigen  Aufenthaltsort  als  einen  wahren  Wohnort  des 
Fragenden  ansieht,  an  welchem  zugleich  der  Mittelpunkt  der  bürger- 
lichen und  vermögensrechtlichen  Geschäfte,  sowie  das  Centrum  des 
Familienlebens  desselben  errichtet  ist.  Der  Beamte,  welcher  von 
seiner  Obrigkeit  auf  Jahre  an  einen  anderen  Ort  delegirt  wird, 
der  Student,  welcher  fünfzehn  bis  zwanzig  Semester,  selbst  durch 
die  Ferientage  hindurch,  das  Pflaster  der  Musenstadt  beglückt,  sie 
haben  im  rechtlichen  Sinne  ihren  Wohnort,  ihr  Domicil,  nicht  an 
dem  Orte  ihres  Aufenthalts.  Erst  wenn  sie  ihr  Hab'  und  Gut, 
ihr  Weib  und  Kind  an  den  letzteren  übertragen  haben,  zählen  sie 
zu  den  Bürgern  desselben  im  weiteren  Sinne  und  sind  daselbst  zu 
Hause.  Erst  dann  kann  er  ihre  Heimat  im  civilrechtlichen  Sinne 
bilden.  Im  staatsrechtlichen  Sinne  bleibt  das  Land,  resp.  der  Ort, 
von   welchem  der  Einwanderer  hergekommen ,  so  lange  dessen 

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Das  Wesen  der  Heimat. 


Heimat,  als  die  rechtlichen  Bande,  welche  denselben  mit  dem 
früheren  Aufenthalt,  resp.  mit  dessen  Staate  verknüpfen,  nicht  ge- 
löst sind.  Der  Wohnort  ist  erst  dann  ein  ausschliesslich  be- 
stimmender, wenn  er  das  Centrum  des  ganzen  öffentlichen  und 
Privatrechts  des  Wohnenden  geworden  ist. 

Hier  aber  finden  wir  den  Punkt,  in  welchem  sich  der  recht- 
liche Begriff  der  Heimat  von  dem  allgemein  üblichen  scheidet,  in 
welchem  das  Gemüth  seine  Ansprüche  geltend  macht  und  wirklich 
behauptet.  Ist  auch  der  wahre  Wohnort  dem  Wohnenden  sofort 
eine  Heimat  ?  Oder  braucht  er  es  überhaupt  zu  werden  ?  Der  Ver- 
bannte, welcher  mit  allem,  was  er  hat,  an  Gut  und  an  Liebe,  in 
die  Einöden  Sibiriens  gezogen  ist,  was  wird  er  auf  die  Frage 
antworten:  Wo  ist  deine  Heimat?  Wird  er  nicht  mit  trübem  Auge 
nach  Westen  weisen?  Und  auch  derjenige,  welcher,  durch  Beruf 
und  Kampf  ums  Dasein  veranlasst,  einen  neuen  Wohnort  erwählt 
hat,  wird  ihn  schwerlich  sofort  als  Heimat  bezeichnen.  Jahre 
müssen  vergehen,  ehe  sich  eine  liebgewordene  aus  der  alten  Heimat 
stammende  Gewöhnung  nach  der  anderen  von  seiner  Seele  löst  und 
durch  eine  Anschauung  des  neuen  Ortsgebietes  ersetzt  wird,  welche 
ihm  anfangs  zuwider,  dann  gleichgiltig,  dann  gewohnt  und  zuletzt 
lieb  wird.  Es  ist  für  jeden  von  besonderem  Interesse,  an  sich 
selbst  zu  beobachten,  wie  die  eigene  Stellung  zu  den  Eigentüm- 
lichkeiten des  neuen  Wohnorts  sich  ändert,  wie  er  zwar  oft  noch 
gewisse  Seiten  des  letzteren  den  alten  Einwohnern  gegenüber  tadelt 
und  angreift,  neuen  Zuzöglingen  gegenüber  aber  zu  entschuldigen 
und  zu  verteidigen  beginnt.  Sobald  der  Neu-Einwohner  sich  be- 
rufen fühlt,  als  Vertreter  des  Landes,  seines  neuen  Herdes  zu 
fungiren,  sobald  er  anfängt  teilzunehmen  an  dem  eigenthümlichen 
inneren  Leben  und  Weben  desselben,  erwirbt  er  das  Verständnis 
für  die  Ausgangspunkte  des  Denkens  der  alten  Einwohner,  welche, 
den  letzteren  oft  selbst  unbewusst,  in  den  Tiefen  ihrer  Seele  ge- 
schlummert haben ,  und  tritt  in  den  Process  der  Heimat- 
Veränderung  ein.  Ihm  selbst  wird  dieser  Entwickelungsgang 
meist  im  Stadium  der  Doppelheimat  stecken  bleiben,  bis  seine 
eigene  zweite  Generation,  die  Kinder,  unmerklich  die  Wagschale 
auch  bei  ihm  zu  Gunsten  ihrer  einzigen  Heimat  hinunter- 
drücken. Nur  wer  unter  dem  Druck  zwingender  Verhältnisse  im 
Falle  der  Vernichtung  alles  dessen,  was  die  alte  Heimat  zur  Heimat 
gemacht  hat,  dieselbe  fliehen  muss,  der  ist  im  Stande,  sich  rascher 
nicht  blos  ein  Heim,  sondern  eine  Heimat  zu  schaffen  1  Die 


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Das  Wesen  der  Heimat. 


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Refugies,  welche  nach  dem  Bruch  der  -  ihnen  beschworenen  Rechte 
Prankreichs  Erde  verliessen,  um  einen  Boden  zu  suchen,  auf  welchem 
sie  ungestört  Gott  auf  ihre  Weise  anbeten  konnten ;  der  Dichter, 
welcher  nach  der  Zerstörung  seiner  Familie  und  seines  Erbes 
hinüberfloh  vor  den  Schrecken  der  Revolution  in  ein  neues  fried- 
liches Land  —  sie  trugen  auch  ihre  Heimat  zusammen  mit  der 
kärglichen  geretteten  Habe  in  das  neue  Land  ihrer  Wahl  hinüber. 
Und  selbst  in  diesem  Falle  tönte  in  Stunden  stiller  Erinnerung  die 
Leier  Chamissos  zu  Ehren  des  zerstörten  altheimatlichen  Schlosses 
und  des  ctheuren  Bodens»,  auf  welchem  dasselbe  einst  gestanden  hatte. 

Also  das  Heim  braucht  noch  keine  Heimat  zu  sein.  Es 
wird  erst  zu  einer  solchen,  sobald  man  nicht  mehr  mit  kummer- 
voller Miene  sagt:  mein  Haus  steht  leider  dort  und  dort! 
sondern  sobald  man  sich  in  seinem  Wohnort  zu  Hause  fühlt, 
man  sich  eins  empfindet  mit  seinen  Sorgen  und  Kämpfen,  seinen 
Freuden  und  Besonderheiten.  Heimat  ist  somit  derjenige  Ort  und 
dasjenige  Land,  in  welchem  man  sich  zu  Hause  fühlt, 
mögen  sie  als  Wohnort  und  Wohnsitz  auch  aufgegeben  sein.  Erst 
wenn  das  neue  Heim  den  Einwanderer  auch  wirklich  <anheimelt>, 
wird  es  zu  Heimat.  Erst  als  Livland,  wie  der  alte  Chronist  sagt, 
ein  cB  1  i v  1  a n d>,  ein  Bleibeland  geworden  war,  wurde  es  das 
Heimatland  der  Deutschen. 

Welches  sind  nun  aber  die  tieferen  Gründe,  die  inneren  Be- 
dingungen, welche  ein  Land  zur  Heimat  zu  machen  vermögen  ? 
Dieselben  lassen  sich  nicht  auf  allgemeine  objective  Erfordernisse 
zurückführen.  Jedes  Land,  es  mag  noch  so  arm,  so  verkümmert, 
so  gedrückt  wie  möglich  sein,  kann  dem  Inwohner  wahre  Heimat 
sein.  Es  ist  bekannt,  wie  der  Eskimo  mitten  unter  den  Genüssen 
der  Civilisation  und  des  wärmeren  Klimas  sich  nach  dem  Eise  des 
Nordens  und  dem  Thranlämpchen  seiner  elenden  Hütte  zurück- 
gesehnt hat.'  Nur  auf  die  Bedürfnisse  und  Existenzbedingungen 
der  Seele  des  Betrachtenden,  nicht  auf  die  Eigenheiten  des  ge- 
wählten Ortes  kommt  es  an,  um  dem  Menschen  eine  Heimat  zu 
schaffen.  Daher  wechselt  der  Gebildete,  dessen  Erziehung  ihn 
über  locale  Gewöhnungen,  über  körperliche  Bedürfnisse  leichter 
hin  wegträgt,  auch  leichter  die  Heimat.  Der  Mann,  welcher  mehr 
an  seinem  Berufe  hängt,  lebt  sich  leichter  in  ein  neues  Heim  ein 
als  die  Frau,  die  ihr  Wirkungskreis  weit  mehr  mit  den  Eigen- 
tümlichkeiten des  Ortes  in  Zusammenhang  erhält.  Das  Kind 
wechselt  dagegen  leichter  die  Heimat,  weil  es  noch  nicht  in  deren 


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Das  Wesen  der  Heimat. 


Gewohnheiten  drinsteckt,  weil  es  sich  noch  nicht  feste  Existenz- 
bedingungen für  die  Bedürfnisse  seiner  Seele  geschaffen  hat  Je 
starrer  die  Persönlichkeit,  je  schwerer  der  Heimatwechsel.  Zur 
Heimat  selbst  kann  alles  werden,  was  in  Harmonie  mit  den  An- 
sprüchen der  Seele  treten  kann,  und  die  wahre  Heimat,  das  Ideal 
der  Heimat  liegt  da,  wo  die  Äusseren  Bedingungen  mit  den  inneren 
Idealen  völlig  zusammenfallen. 

Schon  hieraus  ersehen  wir,  dass  wir  Gäste  auf  Erden,  hier 
eine  vollkommene  Heimat  nie  finden  werden,  dass  auch  die  wahre 
irdische  Heimat  stets  mit  Mängeln  behaftet  sein  wird.  Wie  haben 
wir  uns  nun  gegenüber  diesen  Mängeln  zu  verhalten?  Zwei  Seelen- 
triebe werden  uns  stets  veranlassen,  leicht  über  dieselben  hinweg- 
zugehen, der  Trieb,  die  Seinigen  und  alles,  was  zu  denselben  ge- 
hört, zu  vertreten,  und  die  Kraft  der  Gewohnheit,  also  das  in 
jedem  steckende  Beharrungsvermögen,  die  Sehnsucht  nach  Ruhe 
und  Frieden.  Die  Mängel  scheinen  uns  mit  zu  den  Vorzügen  zu 
gehören,  und  allerdings  machen  erst  Mängel  eines  abstracten  Be- 
griffs denselben  zu  einem  concreten,  realen,  heben  erst  Schatten 
die  Lichter  eines  Gemäldes.  Und  so  erscheinen  die  Fehler  uns 
oft  nicht  blos  als  geringfügig,  ja  sie  werden  uns  als  mit  den  corre- 
spondirenden  Vorzügen  zusammengehörend  lieb.  Sie  vervollständigen 
die  Realität  des  concreten  Bildes,  der  festumgrenzten  Individualität, 
als  welche  uns  die  Heimatgegend,  der  Heimatort,  die  Heimatsitte 
gegenübertritt  und  mit  lächelnder  Selbstverspottung,  ja  oft  mit 
etwas  weichmüthiger  Rührung  sprechen  wir  von  den  heimatlichen 
Fehlern  im  Sprachgebrauch,  in  der  äusseren  Lebensführung,  in 
den  Sitten.  Denn  wir  sind  doch  Kinder  dieser  Fehler,  sie  haften 
uns  selbst  an  uud  wo  uns  in  der  Fremde  dieselben  entgegentreten, 
da  rufen  sie  in  uns  sofort  das  Gesammtbild  der  Heimat  in  die 
Seele,  in  welcher  die  freundlichen  und  lieben  Seiten  die  schwarzen 
Punkte  weit  überwiegen. 

Es  ist  nicht  zu  leugnen,  dass  aus  dieser  Kurzsichtigkeit 
gegenüber  den  Mängeln  des  Vaterlandes  ein  achtungswerther  Zug 
spricht.  Wie  das  Kind  gegenüber  den  Eltern,  übt  der  Eingeborene 
gegenüber  der  Heimat  die  Pietät  aus,  welche  aus  dem  Dankbarkeits- 
gefühl gegen  den  theuren  Boden  entspringt,  der  ihn  genährt  und 
in  Freude  und  Leid  getragen  hat.  Und  darum  sollte  auch  der 
fremde  Zuzügling,  welcher  mit  den  Gastesrechten  auch  die  Gastes- 
pflichten übernimmt,  dieses  Gefühl  achten  und  schonen.  Aber 
wahre  Dankbarkeit  darf  nie  kritiklos  werden  und  weiss  nur  dann 


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Das  Wesen  der  Heimat. 


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dem  geliebten  Gegenstande  die  wirklichen  Pflichten  des  Dankes  zu 
erfüllen,  wenn  sie  stets  zu  dessen  Veredelung  und  Verbesserung 
beiträgt.  Um  so  mehr  muss  dies  hier  der  Fall  sein,  wo  es  in 
Wahrheit  unsere  eigenen  Fehler  sind,  deren  Zusammenfassung  sich 
als  Heimatfehler  darstellt,  die  Pflicht  der  Selbsterziehung  also 
auch  die  Arbeit  an  der  Heimat  nach  sich  zieht.  Und  was  kann 
lohnender  und  herzausfüllender  sein,  als  das  Bewusstsein,  mit  der 
Förderung  des  geliebten  Landes  zugleich  an  dem  Glücke  und  der 
Besserung  des  eigenen  Herdes,  an  der  Hebung  der  Sitte  und  des 
Charakters  des  eigenen  Ich,  der  eigenen  Kinder  mitzuarbeiten.  Es 
bedarf  dabei  durchaus  nicht  —  wie  häufig  behauptet  wird  —  einer 
politischen  Stellung  und  Macht,  um  am  Heimatlande  zu  arbeiten. 
Ein  jeder,  der  seine  persönlichen  Pflichten  treu  erfüllt,  der  in 
seinem  Berufe  sich  stets  zugleich  der  Ehrenpflicht,  seiner  Heimat 
keine  Schande  zu  machen,  bewusst  ist,  der  treu  seiner  Familie 
vorsteht,  um  die  Nachkommen  zu  braven  Bürgern  des  Landes  und 
der  Stadt  zu  erziehen,  ist  ein  wahrer  Patriot,  tausendmal  mehr 
als  derjenige,  welcher  an  der  Spitze  des  ganzen  Landes,  der  ganzen 
Stadt  steht  und  nicht  blos  deren  Ehre,  deren  Sitte  und  Wesen, 
sondern  im  tiefsten  Grunde  eigene  Interessen  allein  vertritt. 

Gerade  der  Kampf  gegen  die  Mängel  der  Heimat  führt  uns 
überhaupt  auf  das  Gebiet  der  Gefahren,  welche  ein  ausge- 
bildeter Heimattrieb  zu  erzeugen  vermag.  Wie  wir  stets  in  Ver- 
suchung stehen,  gegen  Mängel  des  Heimatlandes  blind  zu  werden, 
so  wirkt  überhaupt  eine  alles  überwuchernde  Heimatliebe  ab- 
stumpfend auf  die  Kritik  und  Moral.  Wehe  dem,  in  welchem  die 
Antipathie  gegen  das  €  Fremde  >  als  solches  die  Freude  an  dem 
Weiterkommen,  an  dem  Besserwerden  ertödtet,  in  welchem  mit  den 
Pflichten  der  Gastfreundschaft  auch  das  Gefühl  der  Gerechtigkeit 
und  die  Sehnsucht  nach  dem  wahrhaft  Guten  erlöschen  und  statt 
dessen  der  Sinn  des  Spiessbürgers  erwacht,  welcher  nur  noch  gegen 
dasjenige  ankämpft,  was  ihm  nicht  altbekannt,  nicht  gewohnt  er- 
scheint. In  einer  unserer  kleinen  Städte  entschied  vor  einer  ge- 
raumen Reihe  von  Jahren  der  Bürgermeister  alle  Rechtsstreitig- 
keiten nur  nach  dem  Grundsatz,  ob  er  den  Rechtssuchendeu  kannte 
oder  nicht.  <Den  kenne  ich  nicht,  >  sagte  er  misbilligend,  wenn 
eine  neue  Partei  ihm  vors  Auge  trat,  und  wies  sie  ab.  Die 
tiefsten  Wurzeln  einer  derartigen  Fremdenfeindschaft  ruhen  in  der 
Faulheit  und  Bequemlichkeit  des  Denkens,  in  dem  Egoismus  der 
Seele.    Es  ist  eins  der  grössten  Verdienste  wahrer  Bildung,  gegen 


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Das  Wesen  der  Heimat. 


diesen  Trieb  stets  die  energischste  Bekämpfung  gerichtet  zu  haben. 
Möge  derselbe  dem  verdienten  Spott  verfallen,  welchen  unsere 
satyrische  Literatur  stets  gegen  ihn  geschleudert  hat! 

Mit  diesem  Fremdenhass  und  Spiessbttrgerthum  geht  dann 
eine  Verweichlichung  des  Gemüths  und  ein  Nachlassen  der  morali- 
schen Kraft  Hand  in  Hand.  Es  ist  —  namentlich  für  leidenschaft- 
liche Geister  —  nicht  leicht,  gegen  einen  bestehenden  M  brauch, 
eine  erkannte  Sünde  der  Gesammtheit  anzukämpfen,  wenn  man 
nicht  bald  ein  Ablassen  von  derselben,  eine  Besserung  der  Zustände 
bemerken  kann.  Solche  heissblütige  Reformer  gleichen  den  Kindern, 
die  täglich  nach  der  Erbse  gmben,  welche  sie  gesteckt  haben,  um 
zu  sehen,  ob  sie  bereits  gewachsen  ist.  Erst  Jahrhunderte  ver- 
mögen zu  stürzen,  was  Jahrhunderte  geschaffen  haben,  und  wer 
ruhig,  freundlich  und  voll  Verständnis  sein  unablässiges  Bemühen 
nicht  aufgiebt,  darf  nicht  daran  verzweifeln,  auch  schon  persönlich 
die  ersten  Spuren  des  kommenden  Morgenroths  zu  erblicken.  Auch 
hier  ist  es  vor  allem  die  Pflicht  des  Gebildeten,  voranzugehen 
und  sich  in  Gedanken  stets  ausser  seiner  Heimat  zu  stellen,  wenn  . 
er  dieselbe  beurtheilen,  heben  und  wahrhaft  lieben  will. 

Wir  haben  die  Voraussetzungen,  die  Mängel  und  die  Gefahren 
des  Heimatstriebes  betrachtet,  dabei  aber  verabsäumt,  uns  klar  zu 
werden,  wie  weit  denn  der  Begriff  der  Heimat  geht.  Welches  sind 
die  Grenzen  der  Heimat?  Ist  es  schon  die  blaue  Linie  am 
Horizont,  die  das  Kind  träumend  ansah,  wenn  es  zum  ersten  Male 
aus  dem  Thore  der  Vaterstadt  trat  ?  Ist  es  die  Grenze  des  Staats, 
zu  welchem  man  gehört  ?  Dann  wäre  die  Heimat  eine  in  ihrem 
Umfange  stets  wechselnde.  Dann  fehlte  ihr  die  Einheitlichkeit  der 
Eigenschaften,  dann  wäre  Sympathisches  und  Antipathisches,  ja 
ein  Complex  von  Gegensätzen  in  ihr  verbunden,  welcher  nicht  im 
Stande  wäre,  eine  bestimmte  Empfindung,  geschweige  denn  wahre 
Heimatliebe  in  uns  zu  erzeugen. 

Wol  ist  es  nicht  leicht,  die  Grenzen  eines  Gebietes  zu  ziehen, 
dessen  Existenz  vor  allem  durch  das  Gefühl  bedingt  wird.  Aber 
die  Verschwommenheit  der  Grenze  schädigt  nicht  das  reale  Vor- 
handensein der  Heimat.  In  Willibald  Alexis'  vortrefflichem  märki- 
schen Heimatroman  cCabanis>  liegt  der  Held  in  dem  auch  uns 
Balten  anheimelnden  Heidekraut  des  Kiefernwaldes  und  sinnt  über 
denselben  Begriff  wie  wir:  «Was  ist  das  Vaterland?  was  ist  der 
Zauber,  der  in  dem  Namen  ruht  ?  Was  berauscht  der  Klang,  was 
durchbebt  er  die  Adern,  was  macht  er  dein  Auge  strahlen,  schwellt 


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Das  Wesen  der  Heimat.  195 

dir  die  Brust,  wenn  er  in  der  Fremde  dein  Ohr  trifft  ?  Die  sich 
nie  sahen,  deren  Herzen  nicht  zu  einander  schlugen  in  der  Heimat, 
sind  dort,  wo  man  ihre  Sprache  nicht  versteht,  Brüder ;  Feinde 
fliegen  sich  in  die  Arme.  Was  ist  das  Vaterland  ?  —  Die  Scholle 
Sand  unter  unseren  Füssen  ?  Der  Wind  verweht  sie.  Die  fette 
Erdschicht,  auf  der  die  Weizenfelder  unserer  Vater  wucherten? 
Die  Ueberschweinmuug  spült  sie  ab,  die  Gräber  deiner  Väter  werden 
Staub  ;  ein  Erdbeben,  Städte  begrabend,  kann  selbst  Berge  stürzen ; 
ist  der  unfruchtbare  aufgewühlte  Kies,  der  todte  Schlackenboden 
noch  dein  Vaterland  ?  Sind  es  die  rauschenden  Wasser  ?  Sie  gehen 
alle  ins  Meer.  Die  Welle,  in  der  du  heut  dich  badest,  spült 
morgen  an  eine  fremde  Küste.  —  Die  Lüfte  über  dir  ?  Die  Wolken 
segeln,  dieselben  Sterne  blinken  auf  dich  am  Ural  und  am  Fuss 
der  Alpen.  —  Die  Geschlechter  der  Menschen  ?  Sind  die  es  ?  Sie 
wachsen  und  welken.  Das  Gemüth  findet  überall  ein  Gemüth  und 
die  nächsten  Nachbarn  wenden  sich  den  Rücken.  —  Die  eine 
Sprache  reden  ?  Die  Bürgerkriege  waren  seit  Anbeginn  die  grausam- 
sten. —  Was  sind  die  Grenzen  dieses  Begriffs  ?  Das  Dorf,  wo  du 
geboren  wurdest?  Der  District,  der  deine  Mundart  redet?  Die 
Grafschaft  V  Die  Provinzen,  welche  Erbschaft,  Tausch,  Eroberung 
an  einen  Fürsten  gebracht,  die  nun  ein  künstliches  Staatsband  um- 
schlingt ?  Warum  die  Grenzen  so  eng  gesteckt,  warum  Preussen, 
warum  nicht  Deutschland  ?  Warum  nicht  Europa  ?  —  Macht  es 
die  Erinnerung  an  gemeinsame  Gefahr,  an  grosse  Thaten,  Helden  ? 
Dann  ist  das  beste  Vaterland  ein  Heer  kühner  Abenteurer  ohne 
Wiege  und  Herd  ;  der  Flibustier  hat  die  schönste  Heimat.  Ists 
der  gemeinsame  Vortheil,  gemeinsame  Bildung?  —  Dann  suche 
dein  Vaterland  in  Bombay,  am  Strande  der  Themse,  am  Quai  der 
Seine.  Ists  das  gemeinsame  Blut,  eine  Abstammung?  O,  wie 
zerfliegt  dann  jeder  Staat,  wie  wären  dann  die  Nächsten  sich 
fremd,  die  Entfremdeten  Brüder  !  —  Ist  das  Vaterland  nur  ein 
Phantom  ?  Freiheit,  Liebe,  Tugend,  du  siehst  sie  nicht,  aber  du 
erklärst  sie  schulgerecht.  Das  Vaterland  erklärst  du  nicht,  aber 
du  fühlst  es.  —  Deine  Güter  stürzest  du  ihm  opfernd  in  den 
bodenlosen  Abgrund ;  sein  Name  ist  ein  Trompetenstoss  der  Luft ; 
tief  ausholend,  langschmetternd  weckt  er  das  Heiligste  in  dir,  und 
du  stürzst  dich  selbst  dafür  in  den  Tod.  Das  ist  doch  etwas  1  — 
—  Es  ist  eine  Zaubereiche  mit  Laub  und  Blüthen,  die^aus  Luft, 
Wasser,  Erde,  aus  Tönen  und  Klängen,  Reden  und  Gedanken 
Nahrung  ziehen.   Der  Baum  saugt  ein  Seufzer  und  Jubellaute  der 


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Das  Wesen  der  Heimat. 


blühenden  und  welkenden  Geschlechter.  Wenn  dann  der  Sturm  in 
der  Krone  rauscht,  tönen  in  der  Aeolsharfe  seiner  Zweige  die 
Stimmen  wieder  von  Jahrhunderten.  Sein  Laub  ist  ein  festes  Dach 
gegen  Regengüsse  nud  Sonnenbrand.  Lagere  dich  unter  ihm,  freue 
dich  seiner  Kühlung,  des  Schutzes,  horch  auf  die  tausend  Stimmen 
und  Klänge,  die  alten  Lieder  in  seinem  Wipfel,  aber  wühle  nicht 
nach  seineu  unergründlichen  Wurzeln.  Er  ist  oben  grün,  sei  zu- 
frieden ! » 

Nur  wenn  wir  den  wahren  psychologischen  Begriff  der  Heimat 
verlassen  und  uns  der  blos  juristischen  Heimat  und  dem 
Heimatrecht  zuwenden,  kommen  wir  zu  festen  Grenzen,  setzen 
uns  aber  dabei  der  Gefahr  aus,  den  Begriff  selbst  zu  verlieren. 
Das  alte  Recht  kannte  sogar  vielfach  eine  Zwangsheimat,  deren 
Verlassen  nur  unter  bestimmten  Bedingungen  gestattet  war;  es 
band  an  die  Scholle  Und  zu  seinen  schwersten  Strafen  gehörte 
zugleich  das  Ausschliessen  aus  der  Heimat.  Der  Heimatlose,  der 
Auswanderer,  der  Geächtete,  der  herumziehende  «fahrende»  Spieler 
und  Sänger  —  sie  alle  waren  dem  Rechte  nicht  voll  werthige 
Menschen.  Bis  in  die  Neuzeit  haben  sich  Bestimmungen  erhalten, 
welche  den  Auswanderer  mit  harten  Vermögenssteuern  belasten 
oder  wenigstens  ins  Ausland  gehendes  Vermögen  nicht  ohne  Abzug 
von  dannen  ziehen  lassen.  Erst  der  Gegner  des  Heimatstriebes 
und  seiner  Auswüchse,  der  Kosmopolitismus,  erkämpfte  dem  Fremden 
im  Namen  der  Freiheit  des  Verkehrs  Freiheit  der  Bewegung,  und 
Staatsverträge  haben  wenigstens  zwischen  den  Oulturstaaten  die 
Zurücksetzung  der  Fremden  verwischt,  nachdem  schon  im  Mittel- 
alter die  Handelsstädte  den  fremden  c Gästen»  durch  eigene  Gast- 
privilegien entgegengekommen  waren. 

Diesem  Zuge  gesunder  Entwicklung,  welcher  den  Zwangs- 
schutz der  Heimat  abschaffte  und  ihre  Vertretung  dem  wahrhaft 
genügend  vorhandenen  Heimat  g  e  f  ü  h  1  überliess,  hat  sich  vielfach 
in  neuester  Zeit  eine  Gegenströmung  entgegengestellt,  welche  im 
Namen  der  historischen  und  ethnographischen  Zusammengehörigkeit 
der  einzelnen  Nationen  einen  Cultus  der  Nationalität,  eine  Be- 
vorrechtung derselben  namentlich  gegenüber  kleineren  oder  ärmeren 
Nationen  des  gleichen  Landes  durchzuführen  begann  und  dadurch 
einen  Kampf  der  Völker  unter  einander  und  einen  steten  Zustand 
von  Unterdrückung  und  Verbitterung  unter  den  Genossen  desselben 
Staats  hervorgerufen  hat.  Dass  Europa  heute,  wie  der  landläufige 
Ausdruck  sagt,  von  Waffen  starrt,  ist  zum  grossen  Theil  auf  diese 


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Das  Wesen  der  Heimat. 


Uebertreibung  nicht  des  Heimat gefübls,  sondern  der  Abstaramungs- 
gemeinscliaft  zurückzuführen,  welche  weder  die  ökonomische  Wohl- 
fahrt noch  das  Recht,  weder  die  Sprache  noch  den  Glauben  der 
Unterdrückten  schont,  wo  es  sich  um  Ausbreitung  der  alleinselig- 
machenden Nation  handelt.  Nichts  ist  der  Bildung  einer  wahren 
Heimat  so  feindlich  als  diese  Richtung,  welche  für  den  Unter- 
drücker ebenso  wie  für  den  Unterdrückten  alle  Segnungen  und 
alles  Wohlgefühl  des  Heimatlandes  aufhebt. 

Seine  zügelloseste  Steigerung  hat  dieser  Nationalismus  in  der 
allerdings  zum  Glück  bisher  nur  in  einem  Falle  vertretenen 
Racentheorie  gefunden,  welche  nicht  einmal  eine  bestimmte  histo- 
risch verwachsene,  staatlich  organisirte  und  eine  Sprache  redende 
Nation,  wie  etwa  die  Franzosen,  die  Engländer,  die  Deutschen, 
die  Russen,  die  Italiener  zum  Zielpunkt  ihrer  Bestrebungen  macht, 
sondern  den  blos  durch  physische  Abstammung  zusammenhängenden 
weit  roheren  Verband  der  ganzen  R  a  c  e.  Eine  Ausbreitung  dieses 
Auswuchses  der  Nationalitätentheorie,  welche  sich  zwar  unter  die 
Flügel  dieser  letzteren  stellt,  würde  dazu  führen,  die  ganze  culti- 
virte  Welt  in  drei  grosse  Heerlager,  das  der  germanischen,  der 
romanischen  und  slavischen  Race  zu  spalten  und  beispielsweise 
Völker  wie  das  nordamerikanische,  das  englische,  das  holländische, 
das  deutsche,  das  dänische,  das  norwegische  und  das  schwedische 
nöthigen,  sich  in  einen  cPangermanismus>  zusammenzuthun. 

Alle  diese  Auswüchse  werden  der  wahren  Heimat  gegenüber 
nur  eine  Wirkung  üben,  nämlich  die  Vernichtung  des  grössten 
Zaubers  derselben,  des  Heimat  fr  i  e  d  e  n  s.  Wo  nicht  Völker 
aller  Zungen  und  Anschauungen  friedlich  neben  einander  wohnen 
könneu,  da  fehlt  dem  Orte  eine  der  intensivsten  Bedingungen  des 
Heimatglückes,  die  gegenseitige  Liebe  der  Genossen  des  gleichen 
Bodens.  Und  dies  führt  uns  schliesslich  auf  die  moralischen  Be- 
ziehungen zwischen  den  Heimatgenossen  und  der  Heimat  selbst, 
auf  die  Ansprüche,  welche  ein  jeder  an  sein  Heimatland  und 
welche  das  Heimatland  an  jedes  seiner  Kinder  erheben  darf. 

Damit  das  Land  des  Aufenthalts  dem  Einwohaer  auch  eine 
Heimat  bleibt,  muss  es  uns  vor  allem  die  Möglichkeit  der  Existenz, 
des  Entfaltens  unserer  Persönlichkeit  und  unseres  Wirkens,  wenn 
auch  in  noch  so  engen  Schranken,  gewähren.  Es  muss  uns  und 
unseren  heiligsten  Anschauungen  die  Möglichkeit  ihrer  Bewahrung 
—  wenn  auch  in  stetem  Kampfe  —  geben.  Es  muss  endlich  auch 
in  seiner  äusseren  Gestaltung,  in  seiner  Natur  und  seinen  äusseren 


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198 


Das  Wesen  der  Heimat. 


Sitten  und  Gebräuchen  mit  unserem  Herzen  verwachsen  und  so 
ein  Heiligthum  nicht  nur  unserer  Phantasie,  sondern  unserer  Seele 
geworden  sein. 

Dann  aber  dürfen  w  i  r  nie  vergessen,  was  wir  dem  Boden 
schulden,  der  uns  und  vor  uns  schon  unsere  Väter  genährt  hat 
und  dem  wir  eines  der  besten  Güter  unseres  Inneren  verdanken, 
den  Zusammenhang  mit  der  Vergangenheit,  das  historische  Bewusst- 
sein.  Wir  schulden  ihm  die  Ehrenpflicht  der  Vertretung  der 
Heimat,  nicht  in  ihren  vergänglichen  äusseren  Eigenschaften,  nicht 
in  jeder  kleinen  gleichmütigen  Sitte,  nicht  in  lange  gehegten  irrigen 
Anschauungen  und  Vorurtheilen,  sondern  in  den  unvergänglichen 
Bedingungen  der  Heimat,  welche  sie  uns  zur  Heimat  gemacht 
haben,  als  dem  Orte  des  Gedeihens  unserer  Seelenbedürfuisse,  unserer 
Grundüberzeugungen  und  berechtigten  Charakterzüge.  Wir  schulden 
die  Treue  gegenüber  dem  Boden,  ausserhalb  welches  wir  den 
noth wendigen  Zusammenhang  mit  den  realen  Mächten  dieser  Erde 
einbüssen  und  —  wie  die  tägliche  Erfahrung  an  Auswanderern 
zeigt  —  mit  der  Heimat  auch  den  richtigen  Blick  und  das  warme 
Herz  für  Menschen  und  Anschauungen  verlieren  oder  wenigstens 
schädigen. 

Sollte  dann  einem  treuen  Sohne  seiner  Heimat  die  schwere 
Stunde  schlagen,  dass  die  Heimat  untergeht  —  sei  es  durch  physische 
Gewalt,  wie  einst  Messene,  Karthago,  Jerusalem,  sei  es  durch  all- 
mähliches Degeneriren,  sei  es  durch  allmähliche  Zerstörung  der 
geistigen  Existenzbedingungen,  dann  wird  der  treue  Vertreter 
seines  Landes  weit  eher  im  Stande  sein,  die  ungetrübte  Harmonie 
seiner  Anschauung  und  seines  Heimatgewissens  sich  zu  bewahren 
und  seine  Penaten  an  einen  anderen  Ort  zu  tragen,  hoffend,  sich 
ein  neues  Heim  und  eine  neue  Heimat  zu  schaffen.  Zwar  kann 
man,  wie  Danton  mit  Recht  sagte,  als  man  ihm  zur  Flucht  vor 
dem  drohenden  Schaffot  rieth,  «das  Vaterland  nicht  an  den  Fuss« 
sohlen  mitnehmen  >,  wol  aber  die  durch  die  Heimat  gezeugten  und 
gereiften  Anschauungen. 

Bis  dahin  aber  giebt  jeder  Blick  auf  das  Heimatland  jene 
beseligenden  Eindruck,  den  eine  Zusammenfassung  physischer  und 
psychischer  Bedingungen  unseres  Wohlgefühls  stets  gewährt.  Gleich 
dem  Riesen  der  alten  Welt,  verleiht  seinem  wahren  Kinde  jede 
Berührung  des  theuren  Bodens  neue  Kraft  und  neuen  Muth. 

*  • 

* 


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Das  Wesen  der  Heimat. 


199 


Es  kommt  bald  unser  kurzer  Sommer  wieder.  Nicht  zum 
geringsten  Tlieil  ist  es  diese  Sehnsucht  nach  dem  Anschauen  der 
Heimat,  welche  den  ermatteten  Städter  aus  den  Thoren  und  der 
Strassen  «quetschender  Enge>  hinaus  in  das  freiere  Land  treibt,  um 
sie  alle  zu  sehen,  von  denen  ein  baltischer  Dichter  singt: 


«Burgen,  Städte,  die  getragen 
Geistes  Licht  in  Nordens  Nacht, 
Fluren  lachen,  Wälder  ragen, 
Saaten  stehn  in  voller  Pracht, 
Seen  und  Ströme  rauschens  laut : 
Heimatland!  so  hehr  !  so  traut !» 


C.  E  r  d  m  a  n  n. 


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•_ 


.••  .    .  .  . 


Unsere  bemerkenswerthesten  Singvögel. 


I. 

as  treibt  die  gebildeten  Stände  immer  und  immer  wieder 
in  bellen  Schaaren  zu  den  geöffneten  Thüren  eines 
Concertsaales,  eines  Opernbauses  hinein  ?  Was  drängt  die  rohe, 
fast  bildungslose  Bevölkerungsschicht  in  jene  schwülen  Locale,  in 
denen,  um  mit  Busch  zu  reden,  ein  €  harmonisches  Getöse»  das 
eigene  Wort  vom  Munde  verdrängt  ?  Sehen  wir  ab  von  den  kriti- 
schen Geistern  und  den  Gefallsüchtigen  und  den  nach  Zerstreuung 
Haschenden,  so  wird  die  Annahme  kaum  irrren :  der  grösste  Theil 
des  musiksuchenden  Publikums  ersehnt,  sich  selbst  oft  unbewusst, 
ein  Etwas,  was  meist  nur  zufällig  angeflogen  kommt,  was  von  un. 
berechenbar  feinfädigen  Umständen  bedingt,  was  nicht  durch  den 
Willen,  durch  kein  specielles  Verständnis  und  keine  Vertiefung  in 
das  Wesen  der  Composition  hervorgelockt  wird,  sondern  als  reines 
Gnadengeschenk  der  holden  Muse  sich  erweist.  Es  ist  das  selige 
t Sichselbstvergessen»,  die  vollkommene  Abstraction  von  allen  täg- 
lichen Plagen  und  Sorgen,  von  jeglicher  Nichtigkeit  nnd  den  geist- 
lähmenden Plattheiten  der  menschlichen  Existenz,  mit  einem  Worte: 
vom  Elend  des  Lebens!  Nur  die  beste  Harmonie  der  allerbesten 
Musik  ist  im  Stande,  wenn  auch  nur  für  ganz  kurze  Zeit,  eigent- 
lich nur  momentan,  das  reine,  traumhafte  Empfinden  einer  sonst 
auf  Erden  nimmer  zu  erhoffenden  Seligkeit  zu  gewähren.  Ein 
zwar  sinnlich  bedingter,  aber  doch  rein  geistiger  Rausch  lässt  uns 
in  solchen  seltenen  Augenblicken  das  Dasein  voll- gemessen,  ohne 


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Unsere  bemerkens  Werthesten  Singvögel.  201 

beengendes  Bewusstseiu  unserer  störenden  Körperlichkeit.  Also 
das  Haschen  nach  einem  Augenblicke  des  < Glückes»  drangt  zumeist 
das  Publicum  zum  Anhören  der  Tonharmonien  ;  diese  Verzückung 
des  musikempfänglichen  Gemüthes  ist  es,  wonach  wir  uns,  ohne  zu 
reflectiren,  sehnten  !  Nur  ein  ganz  verstörtes,  allem  Idealen  ab- 
holdes Gemüth  oder  eine  von  schwersten  Gewissensbissen  zernagte 
Seele  könnte  sich  völlig  der  erhebenden,  beseligenden  Wirkung 
tadellos  melodischer  Musik  verschliessen.  Von  den  seltenen,  be- 
dauernswerthen  Individuen,  welche  von  Geburt  an  stumpf  und 
gleichgiltig  jeder  musikalischen  Leistung  gegenüberstehen,  kann 
hier  als  von  Ausnahmen  nicht  die  Rede  sein. 

Musik,  von  Menschen  gemacht,  befriedigt  aber  fast  nie  in  er- 
wünschter Weise  das  in  breiter  Individualität  urtheilende,  so  un- 
gleich befähigte,  und  daher  so  verschieden  empfindende  und  ab- 
weichend geniessende  Publicum.  Falls  nicht  gerade  ein  Rubin- 
stein oder  eine  Lucca  concertirte,  so  tadelt  meist  der  eine,  während 
der  andere  lobt,  so  bemängelt  der  dritte  wenigstens  theilweise  das 
Gehörte,  während  ein  vierter  Specialitäten  bis  in  den  Himmel  erhebt. 

Der  Mensch  fühlt  sich  eben  berufen,  jede  menschliche  Leistung 
nach  Möglichkeit  «durchzuhecheln»,  zu  kritisiren  ;  der  reine  unge- 
trübte Genuss  kann  von  der  bunten  Menge  nur  dann  empfunden 
werden,  wenn  ungewöhnliche  Grössen,  die  anzugreifen  ein  Verstoss 
wäre,  ein  tcstimonium  jmupertatis  offenbaren  würde,  aufträten  ;  aber 
wie  selten  geschieht  das  ! 

Wie  anders  und  um  wie  vieles  besser  steht  es  da  mit  den 
lieblichen,  niemals  heiseren  Concertgebern  im  grünen  Walde,  den 
tadellos  singenden  Vöglein,  die  ohne  Entree,  ohne  nach  Beifall  zu 
lechzen  alljährlich  im  knospenden  Lenz  und  täglich  in  der  Saison 
ihrer  Liebe  die  allerschönsten,  über  jede  Kritik  erhabenen  Leistungen 
unermüdlich  der  ganzen  Natur  und  Creatur  zum  Besten  geben. 
Kein  fühlender,  kein  unverdorbener  Mensch  betrat  je  im  wunder- 
schönen Monat  Mai  zur  rechten  Tageszeit  die  grünlaubigen  Matinee- 
Hallen  unserer  herrlichen  Wälder,  ohne  vollkommen  befriedigt,  er- 
löst von  der  faden  Alltagsstimmung,  von  kürzlich  erlebten  Aerger- 
nissen,  den  Heimweg  anzutreten.  Jede  Art  Misstimmung  los  zu 
werden,  können  wir  getrost  in  den  thauperlenden  Morgen  hinein 
flüchten ;  beseligendes  Vergessen  allen  Ungemachs  fanden  wir  stets 
beim  aufmerksamen  Anhören  des  Jubelchors  der  nach  Hunderten 
zählenden  Sänger.  Wer  Ohren  hatte  zu  hören,  dem  schwoll  das 
Herz  im  Leibe,  der  fand  bald  die  allerbeste  Stimmung  wieder, 


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202  Unsere  bemerkenswerthesten  Singvögel. 


wenn,  wie  der  moderne,  allbeliebte  Baumbach  so  sinnig  schreibt, 
«der  Chor  vollstimmig  das  ewige  Lied  von  der  Waldschönheit 
sang.  Das  klang  so  glockenrein  und  wunderbar,  wie  kaum  der 
Englein  Gesang  im  Himmelssaal  erschallen  mag.»  —  Gestärkt, 
erhoben,  andächtig  und  fröhlich  dankt  der  Zuhörer  dem  gütigen 
Schöpfer  für  solch  ein  Gnadengeschenk,  das  aller  Welt  frei  geboten 
wurde,  und  stolz  gedenkt  er  des  Dichterwortes : 
«Wen  solche  Lieder  nicht  erfreun, 
Verdienet  nicht  ein  Mensch  zu  sein.» 
Die  verschiedenartigen  Hausthiere  sind  materiell  gar  nützliche 
Geschöpfe,  viele  Thiere  des  Waldes,  der  Fluren  und  der  Gewässer 
dienen  uns  zur  leiblichen  Nahrung,  einen  wesentlichen  Theil  unserer 
Bekleidung  liefern  grosse  Säuger  und  manch  winzig  kleines  Insect, 
aber  direct  auf  unser  Gemüth  und  Seelenleben  einzuwirken  sind 
allein  die  Singvögel  durch  ihre  herrliche  Begabung  im  Stande,  sie 
stehen  daher  uns  geistig  am  nächsten.  Sie  sind  wie  sonst  kein 
Geschöpf  unserer  herzlichen  Liebe  würdig,  verdienen  daher  unseren 
vollsten  Schutz,  sollten  uns  stets  «geheiligt»  sein.  Sie  sind  sogar 
in  gewisser  Beziehung  unsere  Lehrmeister  gewesen.  Der  grosse 
Oken  schrieb  einst :  <  Was  tönt,  giebt  seinen  Geist  kund.  •  Das 
thun  die  lieben  Singvögel  in  klarverständlichster  Weise  alljährlich. 
Sie  offenbaren  in  ihren  Lobliedern  nicht  nur  den  grossen  Geist, 
der  auch  sie  zum  Leben,  Singen  und  Lieben  erschuf,  sondern  sie 
geben  auch  ihr  eigenes  poesievolles,  halb  unbewusst  fungirendes 
Seelenleben  kund  und  wirken  dadurch  direct  auf  unser  Gemüth 
ein.  —  Höret  alle,  die  ihr  Ohren  habt  zu  hören,  diesen  Tönen, 
den  grossartigen  Jubelchören  zu ;  vertiefet  euch  in  die  süssen, 
reizvollen,  silberklaren  Strophen  unserer  besten  Sänger.  Den  Geist 
des  Friedens,  der  Liebe,  der  da  in  allem  webt  und  lebt,  werdet 
ihr  dann  bald  verstehen,  erfassen,  schätzen  lernen  und  nimmer 
vergessen ! 

Wollen  wir  uns  der  näheren  Betrachtung  unserer  Singvögel 
zuwenden,  so  drängen  sich  uns  vorher  unwillkürlich  einige  sehr 
naheliegende,  nicht  zn  umgehende  Fragen  auf,  als  da  sind : 

Welche  Vögel  singen,  wer  ist  Singvogel  ? 

Warum  singen  dieselbeu,  welcher  Trieb  ist  da? 

Wodurch  sind  sie  im  Stande  melodische  Strophen  vorzutragen  ? 

Wie  und  was  singen  sie? 

Wann  singen  sie? 


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Unsere  bemerk.enswerthesteu  Singvögel. 


203 


Ist  der  Gesang  ihnen  angeboren  ? 
und  schliesslich  noch : 

Wie  erhalten,  wie  vermehren  wir  uns  diesen  Gesang,  welchen 
Schutz  könnten  wir  den  Singvögeln  ohne  grosse  Mühe  angedeihen 
lassen  ? 

I.  Welche  Vögel  singen? 
Wenngleich  die  Vögel  allein  unter  all  den  Millionen  Thier- 
arten wirkliche  Singstimmen,  d.  Ii.  die  Fähigkeit,  ihre  Laute  «in 
bestimmbaren  musikalischen  Intervallen  erklingen  zu  lassen >,  be- 
sitzen, so  versteht  doch  nur  die  Minderheit  der  Vogelarten  diese 
Kunst  entsprechend  auszuüben  ;  es  sind  allein  die  Singvögel  dazu 
befähigt.  Raubvögel  singen  nicht.  Auch  den  kleineren  Vögeln 
könnte  man  zurufen : 

<Wo  man  singt,  da  lass  dich  nieder, 

Böse  Vögel  haben  keine  Lieder!» 
Unsere  flotten  Räuberlieder  in  so  mancher  Oper  sind  eigent- 
lich unerlaubt.  Räuber  dürften  als  cböse  Menschen»  nimmer  singen. 
Die  Bühne  sollte  nicht  sittlich  nivellirend  wirken,  sondern  nur  das 
Gute  und  Schöne  heben.  Ein  Räuberlied,  von  Meisterhand  com- 
ponirt  und  tadellos  vorgetragen,  idealisirt  die  ganze  Räuberbande 
und  giebt  ihr  in  den  Augen  der  leicht  erregbaren  Jugend  einen 
Nimbus,  den  sie  nimmer  erhalten  dürfte.  —  Doch  zur  Sache  ! 
Wer  ist  Singvogel  ?  Linn6  rechnete  eigentlich  alle  seine  sperling- 
artigen Vögel,  Passeres,  dazu,  wälirend  Johannes  Müller  diese 
Majoritätsgruppe  unter  den  Vögeln  in  Schreier  und  Sänger  unter- 
schied. Kein  wirklich  singender  Vogel  kann  des  Singmuskelapparates 
entbehren,  aber  die  Anwesenheit  des  letzteren  bedingt  nicht  durch- 
aus die  schöne  Eigenschaft  des  Gesanges,  wie  denn  auch  mehrere 
Familien,  die  ihn  besitzen,  sich  durch  eine  höchst  unangenehme 
kreischende  Stimme  auszeichnen.  Unter  den  krähenartigen  «Sing- 
vögeln» (!  ?)  z.  ß.  besitzt  bei  uns  eigentlich  nur  der  Marquart,  auch 
Eichelhäher  genannt,  das  Vermögen,  originell  sehr  wenig,  aber 
andere  Thierlaute  nachahmend  recht  viel  und  gut  singen  zu  können. 
Ausserhalb  der  Gruppe  der  «berechtigten  Singvögel»  sind  nur 
wenige  Vögel  im  Stande,  Gesangesstrophen  als  Ausnahmen  von  der 
Regel  zu  verlautbaren,  wie  z.  B  der  Wellensittich,  Melophittacus 
undulatus,  oder  unter  den  Schwimmvögeln  der  schwarze  Schwan 
Australiens,  der  eine  flötenartige  Strophe,  die  an  eine  Aeolsharfe 
erinnern  soll,  hervorzubringen  zuweilen  so  liebenswürdig  ist.  Das 
Sprichwort  sagt :  Den  Vogel  kennt  man  an  den  Federn.    Für  den 

Btltiiclie  Mon»t»fchrift.  «d.  XXXIV.  Heft  8.  14 


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204 


Unsere  bemerkenswerthesten  Singvogel. 


Specialbegriff  Singvogel  müsste  es  eigentlich  heissen  :  «Den  Vogel 
kennt  man  am  Gesang.»  Dem  ist  auch  gewiss  so.  Alle  Vögel, 
die  da  regelrecht  singen,  sind  also  Singvögel,  und  zwar  männlichen 
Geschlechts,  aber  nicht  alle  Singvögel  singen.  Da  wir  in  diesen 
Blättern  nur  unsere  bemerkenswerthesten,  also  besten  Singvögel 
kennen  lernen  wollen,  so  werden  wir  uns  verhältnismässig  wenigen 
Familien  der  beiden  Singvögelordnungen  zuzuwenden  haben,  d.  h. 
für  uns  sind  Singvögel  nur  die  kleineren  Vögel :  die  I  n  s  e  c  t  e  n- 
f  r  e  s  s  e  r  und  die  Samen  tresser.  Erstere  zerfallen  in  casu 
nur  in  Erdsänger,  Grasmücken,  Laubsänger,  Rohrsänger.  Pieper, 
Lerchen,  Fliegenschnäpper,  Schwalben,  Drosseln  und  Staare,  letztere 
in  Finken  und  Ammern,  da  die  übrigen  Familien  keine  hervor- 
ragenden Sänger  aufzuweisen  haben,  also  nicht  in  Betracht 
kommen. 

2.    Warum  singen  die  Vögel? 

Könnte  uns  der  also  befragte  Vogel  selbst  antworten,  so 
sagte  er  höchst  wahrscheinlich  : 

den  singe,  weil  ich  doch  singen  muss, 
Ich  singe,  weil  ich  nicht  anders  kann.» 

Der  Professor  Dr.  Altum  sieht  den  Gesang  des  Vogels  als 
einen  integrirenden,  nothwendig  zugehörigen  Theil  des  Vogellebens 
an,  insbesondere  des  Fortpflanzungsgeschäftes.  Das  Singen  sei 
«ein  berechnetes  Moment  in  dem  Kreise  der  Lebensäusserungen  des 
Vogels,  ein  unentbehrliches  Glied  der  ganzen  Kette,  eine  Natur- 
und  Lebensnothwendigkeit». 

Gleich  den  Menschen  haben  die  Singvögel  einen  regen,  eigen- 
thümlichen  Sinn  für  die  Harmonie  der  Töne.  Während  aber  der- 
selbe beim  Menschen  frei  für  alle  und  jede  Harmonie  und  Melodie, 
wo  und  wie  dieselbe  auch  entstehen  sollte,  unbegrenzt  empfänglich 
erscheint,  beschränkt  sich  derselbe  beim  Singvogel  doch  mehr  oder 
weniger  auf  eine  nur  ganz  bestimmte  Reihe  von  generell  ange- 
borenen Tonäusserungen,  der  artlichen  Melodie  oder  Gesangesstrophe. 
Das  rein  mechanische  Erlernen  und  Nachpfeifen  fremder  Lieder  in 
der  unnatürlichen  Gefangenschaft  beweist  nichts  dagegen,  da  der 
Lehrling  hierbei  die  falschesten  Töne  und  wahrhaft  grässliche 
Dissonanzen  erfahrungsmässig  mit  Ruhe  und  sichtlicher  Befriedigung 
nachsingt,  ohne  irgend  welchen  Anstoss  beim  erstmaligen  Anhören 
der  Disharmonie  zu  nehmen.  Der  Zoolog  Dr.  Weinland  schrieb  in 
Bezug  hierauf  vor  25  Jahren:  «Mithin  glauben  wir,  dass  der  Vogel 
nur  einen  Sinn  hat  für  die  Schönheit  und  Richtigkeit  seines 


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Unsere  bemerkenswertesten  Singvögel.  205 


Gesanges.»  —  Diese  scharfsinnige  Behauptung  wird  allerdings  noch 
bei  freilebenden,  gern  «spottenden»  Vögeln  dadurch  unterstützt, 
dass  dieselben  beim  zweifellosen  Nachahmen  fremder  Strophen  nie- 
mals diese  correct  zu  Ende  führen,  d.  h.  als  abgeschlossene  Melodie, 
sondern  dass  sie  solche  immer  nur  als  Bruchstücke  zu  acceptiren 
und  vorzutragen  im  Stande  waren.  Einzelne  abgehorchte  Laute 
und  sogar  widrige  Geräusche  mischen  die  Spottvögel  ohne  jede 
harmonische  Reihenfolge  im  buntesten  Sanggewirr  durch  einander. 
Aus  rein  abstractem  Wohlgefallen  am  Gesangesvortrage  resp.  aus 
Kunstsinn  singt  der  Vogel  muthmasslich  nicht,  so  aufmerksam  er 
auch  zu  lauschen  scheint.  Noch  viel  weniger  hat  jener  originelle, 
eine  zu  menschliche  Auffassung  verrathende  Ausspruch  eines 
Universitätsprofessors,  vom  Katheder  herab  gethan,  irgend  welchen 
Werth,  dass  nämlich  «gefangene  Vögel  aus  Langeweile  (?  sie!) 
sängen».  —  Der  geistreiche  Philosoph  Feuerbach,  ein  offenbar 
schlechter  Beobachter  des  Vogellebens,  schrieb  einst  phantasiereich, 
aber  höchst  unwahr : 

«Nur  an  des  Lebensquelles  Fall 

Da  singt  die  süsse  Nachtigall. 

Zum  Singen  wird  das  Herz  bewegt, 

Wo  eine  letzte  Stunde  schlägt.» 
Wer  denkt  da  nicht  unwillkürlich  an  die  poesievolle,  aber  erlogene 
Fabel  vom  Schwanengesang!  Sollte  nicht  jeder  Creatur,  also  auch 
der  «süssen  Nachtigall»,  in  der  Todesstunde  nichts  so  fern  liegen, 
als  die  Stimme  zum  Gesänge  zu  erheben  ? 

Das  Hauptmotiv  zum  Singen  ist  für  alle  Vögel  der  Geschlechts- 
trieb, die  Liebe  in  allen  ihren  bald  versteckten,  bald  offen  erkenn- 
baren Nttancen  ;  in  zweiter  Linie  tritt  auch  noch  als  Grund  das 
allgemeine  Wohlbefinden,  die  Lebenslust  hinzu.  —  Auch  der  Natur- 
mensch dürfte  nur  aus  diesen  beiden  Motiven  dem  übervollen 
Herzen  durch  Jodeln,  Jauchzen  und  Singen  Luft  machen.  Die 
natürliche  Eifersucht  ist  ein  sehr  starker  Reiz  für  alle  Vögel  zu 
erhöhter  Gesangesthätigkeit.  Zwei  aus  Eifersucht  tobende  Vogel- 
männchen singen  sich  oft  in  überstürzender  Kraft  und  wachsendem 
Tempo  so  lange  an,  bis  das  Vorgetragene  mehr  einem  verworrenen 
Geschrei  ähnelt,  die  Stimmen  «überschnappen»  und  die  Helden 
von  Worten  zu  scharfen  Thaten  übergehen,  wobei  nur  noch 
kreischende,  schrille  Kampfesfanfaren  ertönen. 

Ein  hübsches  Beispiel,  wie  ein  verspätetes  Liebesleben  alle 
Lust  und  Fähigkeit  zum  Singen  sogar  in  sonst  «stummer  Saison» 

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Unsere  bemerkenswerthesten  Singvögel. 


zu  erwecken  wusste,  also  zwingendes  Motiv  wurde,  erzählt  ein 
«Vogel  freund»  mit  folgenden  Worten: 

cEin  Amselmännchen,  das  alle  Jahre  und,  wie  es  scheint,  mit 
dem  gleichen  Weibchen  am  gleichen  Platze  nistete,  hatte  im  Sommer 
1860  mit  seinem  Weib  drei  Brüten  vollbracht.  Eines  Tages  fand 
der  Gärtner  das  Weibchen  todt  im  Wege  liegen ;  woran  sie  ge- 
storben, wusste  er  nicht.  Der  Gesang  des  Männchens  hatte  damals 
schon  aufgehört  oder  doch  sehr  nachgelassen.  Aber  nach  einiger 
Zeit  bemerkte  der  Gärtner,  der  ein  aufmerksamer  Beobachter  und 
Kenner  der  Vögel  ist,  dass  der  Wittwer  mit  einer  Tochter  aus 
einer  der  ersten  diesjährigen  Brüten  in  verliebtes  Getändel  sich 
einliess.  Bald  waren  Vater  und  Tochter  sogar  ein  Paar,  nisteten 
und  brüteten  wieder  in  denselben  Epheuranken,  und  während  schon 
längst  alle  Amseln  in  den  Nachbargärten  nach  und  nach  verstummt 
waren,  sang  der  nun  wieder  glückliche  Wittwer  mit  einer  Lust 
und  Kraft,  wie  kaum  im  März  und  April,  bis  auch  die  vierte 
Brut  flügge  war,  vom  9.  Juli  bis  2.  August.» 

Schliesslich  wäre  noch  anzuführen,  dass  sehr  alte  Männchen 
der  Singvögel,  bei  denen  der  Geschlechtstrieb  in  Abnahme  ge- 
kommen war  und  deren  Jahre  manche  Verdauungsstörung,  manches 
Unbehagen  mitgebracht  hatten,  das  Singen  gänzlich  einstellten. 
Also:  ohne  Liebe,  ohne  Behagen  kein  Gesang! 

3.    Womit  singen  die  Vögel? 

Vor  ein  paar  Jahrzehnten  hat  der  Dr.  D.  F.  Weinland  in 
den  Spalten  eines  Fachblattes  eine  so  hübsche  und  anschauliche 
Beschreibung  des  Singapparates  der  Vögel  veröffentlicht,  dass  es 
unrecht  wäre,  dem  Leser  der  «Baltischen  Monatsschrift»  dieselbe 
vorzuenthalten,  d.  h.  ihm  zur  Beantwortung  obiger  Frage  eine  eigens 
componirte  Description  statt  jener  ausgezeichneten  vorzuführen.  Der 
genannte  tüchtige  Naturforscher  schreibt  hierüber  wörtlich  : 

«  Die  Fähigkeit,  jene  Modulation  der  Stimme,  die  verschiedenen 
Töne  des  Gesanges,  hervorzubringen,  hängt  von  einem  etwas  zu- 
sammengesetzten Bau  des  Stimmorgans  dieser  Thiere  ab,  das  bei  den 
Vögeln  am  unteren,  nicht  wie  bei  den  Säugethieren  und  dem  Menschen 
am  oberen  Ende  der  Luftröhre  liegt.  Wie  bei  den  letzteren,  so  kommt 
auch  in  dem  Kehlkopf  der  Vögel  der  Ton  so  zu  Stande,  dass  die  aus 
den  Lungen  hervorströmende  Luft  mehrere  quer  in  der  Luftröhre  aus- 
gespannte halbmondförmige  Häute  (Stimmbänder  genannt)  in  eine 
zitternde  Bewegung  setzt;  diese  t heilt  sich  der  Luft  mit  und  die 


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Unsere  bemerkenswerthesten  Singvögel. 


207 


Schwingungen  der  Luft  vernimmt  das  Ohr  als  Töne.  Je  nachdem 
nun  jene  Bänder  mehr  oder  weniger  angespannt  sind,  sind  ganz 
wie  bei  einer  gespannten  Saite  ihre  Schwingungen  schneller  oder 
langsamer,  also  auch  die  Luftschwingungen,  die  dadurch  hervor- 
gebracht werden,  schneller  und  kürzer  oder  langsamer  und  länger, 
und  so  die  Töne,  die  wir  hören,  höher  oder  tiefer.  —  Es  kommt 
also  allein  darauf  an,  dass  das  Thier  jene  Stimmbänder  ganz  in 
seiner  Gewalt  hat,  und  zwar  in  der  Art,  dass  es  die  Spannung 
derselben  aufs  feinste  nach  seinem  Willeu  reguliren  kann.  Dies 
geschieht  nun  durch  Muskeln,  die  zwischen  den  Knorpelringen  des 
Kehlkopfs  ausgespannt  sind  und  von  deren  Spiel  eine  straffere  oder 
schlaffere  Spannung  der  Stimmbänder  abhängt.  Je  mehr  nun 
natürlich  ein  Vogel  solcher  Muskeln  besitzt,  um  so  mehr  hat  er 
die  Anspannung  jener  Häute  in  seiner  Gewalt,  um  so  freier  kaun 
er  also  den  Ton  moduliren,  gesetzt,  dass  ihm  auch  Uebung  genug 
im  Gebrauch  jener  Muskeln  und  die  nöthige  seelische  Stimmung 
eigen  ist  (denn  nicht  alle  Nachtigallen  haben  dasselbe  Temperameut 
und  nicht  alle  siugen  gleich  gut,  wie  ja  auch  nicht  alle  Menscheu, 
obgleich  sie  alle  gleich  viele  Stimmmuskeln  haben ;  sondern  wie 
unter  diesen,  so  giebt  es  auch  dort  manche,  die  von  Natur  hätten 
Sänger  werden  sollen  und  aus  denen  in  der  That  Schreier  geworden 
sind) ;  von  solchen  Muskeln  [Herr  Dr.  Weinland  hätte  eigentlich 
von  Muskelpaaren  erzählen  sollen,  da  jede  Stimmmuskel  eigentlich 
aus  einem  Paare  besteht]  nun  finden  wir  bei  der  ganzen  Familie 
der  Schreier  unter  den  sperliugartigen  Vögeln  (wie  auch  noch  bei 
vielen  anderen  Familien  der  Vögel,  so  den  Baien,  den  Reihern)  nur 
einen,  bei  den  Sängern  aber  zwei  bis  fünf.  Die  Hühner,  die  Enten, 
die  Gänse  haben  gar  keinen ;  die  Papageien  drei,  die  Nachtigall 
aber,  der  erste  unter  den  Sängern,  hat  fünf;  ebenso  der  Mönch 
und  noch  andere  Grasmücken.  > 

4.  Wie  singen  die  Singvögel? 
Wunderbar  originell  und  in  ausgeprägt  eigenthümlicher  Weise 
tragen  die  Vöglein  ihre  mannigfaltigen  schönen  Lieder  vor.  Nichts 
Aehnliches  existirt  dem  Vogelgesang  vergleichbar,  wenn  man  nicht 
das  Zwitschern  kranker  Hausmäuse  etwas  gewaltsam  zu  einem 
wenig  ehrenden  Vergleich  heranziehen  wollte.  Der  Gesang  der 
echten  Singvögel  ist  eine  gänzlich  isolirt  dastehende,  psychologisch 
sehr  merkwürdige  Erscheinung  in  der  Thierwelt.  Das  Liebes- 
geflüster, Melodienpfeifen  oder  freie  Singen  des  Menschen  bei  «aller- 


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Unsere  bemerkenswerthesten  Singvögel. 


geuiuthlichster»  Stimmung  mit  den  jeder  Art  Singvögeln  eigenen, 
melodischen  Strophen  in  Vei  gleich  stellen  zu  wollen,  dürfte  doch 
allzu  gesucht,  gewagt  und  sehr  «hinkend»  erscheinen.  So  mancher 
dazu  befähigte  Mensch  ist  allerdings  im  Stande,  auch  ohne  Instrument 
mit  Kehle,  Mund  und  Lippen  die  Stimmen  und  sogar  vollständige 
Gesänge  der  Vögel  täuschend  nachzuahmen,  aber  das  ist  etwas 
Apartes  für  sich,  keine  natürlich  innewohnende  Verlautbarung, 
sondern  nur  ein  Kunststück,  das  durch  festen  Willen  eingeübt  wurde. 

Ein  scherzhaftes  Beispiel ,  wie  ohne  grosse  Uebung  auch 
Knaben  mit  dem  Munde  die  Vogelstimmen  nachzuahmen  verstanden, 
mag  hier  Platz  finden.  Vor  35  Jahren  beschlossen  wir  Quartaner 
der  Schmidtschen  Pensionsanstalt  zu  Fellin  einen  allzu  schwachen 
Lehrer,  in  dessen  Stunden  nur  geschwatzt,  sogar  getobt  und  der 
Wissenschaft  keinerlei  Rechnung  getragen  wurde,  gründlich  zu 
«foppen».  Statt  mit  hellem  Spectakel,  wie  sonst  gewöhnlich,  die 
Stunde  zu  beginnen,  sollten  wir  absolut  stumm  und  regungslos  da- 
sitzen ,  bis  die  Uhr  «Halb»  schlagen  würde;  dann  sollte  der 
nahende  Frühling  (am  10.  März)  durch  getreues  Nachahmen  diverser 
Vogelstimmen  gefeiert  werden.  Viele  Tage  vorher  fand  die  Rollen- 
vertheilung  und  correcte  Einübung  der  Stimmen  statt.  Der  Birk- 
hahn, die  Waldschnepfe,  Schlag  wach  tel,  Kuckuck,  Pirol,  Staar, 
Singdrossel,  Lerche,  Fink,  Weidenzeisig  &c.  waren  wirklich  gut  ver- 
treten. Das  Concert  gelang  vortrefflich,  nachdem  der  arme  Lehrer 
währeud  der  stummen  Periode,  mißtrauisch  und  das  Schlimmste 
ahnend,  voller  Angst  umhergeschlichen  und  uns  beobachtet  hatte. 
Nun  beschwor  er  uns  händeringend,  wieder  menschliche  Laute 
äussern  zu  wollen,  doch  sehr  vergeblich.  Endlich  trat  der  hoch- 
verehrte Director,  die  Vogel- Voliere  suchend,  ein,  um  zu  rügen 
und  strenge  zu  strafen.  Aber  nach  Jahren  hat  er  noch  anerkannt, 
dass  der  schamlos  freche  Vortrag  der  Vogelstim raen  ein  bis  zur 
Täuschung  ausgezeichnet  guter  gewesen  sei. 

Die  Frage,  in  welcher  Tonart  oder  in  welchen  Tonarten  die 
Vögel  singen,  dürfte  so  bald  noch  nicht  abgeschlossen  werden.  Sehr 
auffallend  ist  aber  die  bisher  noch  unbestrittene  Thatsache,  dass 
bei  lautestem  Jubelgesang  und  gellendem  Liebesgeschrei  vieler 
hundert  Vögel  auch  auf  engem  Terrain  niemals  eine  Dissonanz, 
ein  störend  falsch  anklingender  Accord  wahrzunehmen  war.  Schleiden 
schreibt  in  Bezug  hierauf  wörtlich  also:  «Nach  den  vorliegenden 
Untersuchungen  scheiut  es,  als  ob  der  Gesang  der  meisten  unserer 
Vögel  der  G-moll-Tonart  angehöre;   wenigstens  liegen  alle  mit 


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Unsere  bemerkenswerthesten  Singvögel. 


209 


Sicherheit  unterschiedenen  Töne  in  dieser  Scala.  Bedenken  wir, 
dass  der  Gesang  der  verschiedenartigsten  Vögel  durch  einander  uns 
im  eingeschlossenen  Räume  zwar  durch  seinen  Lärm  unbequem 
werden  kann,  aber  niemals  unser  Ohr  mit  den  widerlichen  Disso- 
nanzen berührt,  welche  das  Zusammenklingen  verschiedener  Musik- 
stücke sonst  nothwendig  hervorruft,  so  werden  wir  schon  dadurch 
auf  die  Annahme,  als  die  unerlässliche  Bedingung  einer  solchen 
Harmonie,  geführt,  dass  die  Gesänge  aller  dieser  Vögel  aus  einer 
Tonart  erklingen  müssen. >  Und  weiter  in  Bezug  hierauf:  <\Venn, 
wie  sehr  wahrscheinlich,  die  Vögel  der  Menschen  Lehrmeister  im 
Gesänge  waren,  so  erklärt  sich  uns  daraus  leicht  das  Vorherrschen 
der  Molltöne  in  aller  ursprünglichen  Volksmusik.» 

Andere  Forscher  wollen  aber  auch  andere  Tonarten  heraus- 
gehört haben,  so  z.  B.  der  Vogelfreund  und  tüchtige  Kenner  A.  Rose, 
welcher  behauptet,  bei  Dompfaffen  im  Freien  « Anklänge  an  Chopins 
weltschmerzathmende  Mazurka  im  düsteren  B-moll  (op.  24  Nr.  4)> 
herausgehört  zu  haben.  Uebrigens  erklärt  derselbe  Ornitholog, 
dass  er  es  mit  sehr  wenigen  Ausnahmen  für  ein  vergebliches  .Be- 
mühen erachte,  den  Naturgesang  der  Vögel  mit  Hilfe  einer  Stimm- 
gabel  oder  irgend  eines  musikalischen  Instrumentes  akustisch  genau 
zu  bestimmen.  —  P.  Th.  A.  Bruhin  verlangt:  tDer  Gesaug  des 
Vogels  soll  in  möglichst  getreuer  Nachahmung  dargestellt  werden, 
und  das  kann  nur  durch  musikalische  Noten  geschehen, »  und  führte 
solches  auch  als  Beleg  bei  Benutzung  der  Stimmgabel  durch,  wo- 
bei er  aber  vier  Tonarten  für  neuu  Arten  Vögel  anzugeben  sich 
erlaubt  hat.  Der  Professor  Dr.  J.  Oppel  hat  über  dieses  Thema 
eingehende  Untersuchungen  angestellt,  sehr  interessante  Beob- 
achtungen veröffentlicht  und  auch  Noten  über  die  Vogelgesänge 
aufgesetzt,  wobei  er  sich  sogar  bei  Vorführung  des  Gesanges  der- 
selben Vogelart  verschiedener  Tonarten  bediente,  bei  Angabe  der 
Zeit,  der  Oertlichkeit  &c,  was  mindestens  eine  sehr  auffallende 
Sache  zu  sein  scheint.    Wer  hat  nun  schliesslich  Recht  V 

Die  durchführbare  Hauptsache  beim  Fixiren  des  Vogelgesanges 
würde  also  einstweilen  nur  die  genaue  Feststellung  der  Inter- 
valle sein,  bei  Angabe  der  Grenzen  der  Tonhöhe,  das  heisst 
der  Octaven,  in  denen  sich  die  Melodie  bewegt.  Die  eigentliche 
Tonart  scheint  nach  dem  jetzigen  Stande  der  Untersuchungen  recht 
schwer  bestimmbar  zu  sein.  Die  Moll-Accorde  dürften  muthmass- 
lich  die  vorherrschenden,  nahezu  alleinherrschenden  sein  ;  hoffentlich 
kommt  in  diese  Frage  auch  bald  volles  Licht. 


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210  Unsere  bemerkenswerthesteu  Singvögel. 

Aber  nicht  nur  die  ihnen  eigenthümlich  augeboreuen  Strophen 
werden  von  den  Vögeln  gesungen.  Viele  ahmen  recht  geschickt 
nach,  werden  Spottvögel  nicht  nur  im  Freileben,  sondern  noch  mehr 
in  der  engen  Gefangenschaft,  wo  ihnen  der  Wille  des  sie  besitzenden 
Menschen  durch  stetiges  Vorspielen  und  Vorpfeifen  andere  fremde 
Melodien  aufzwingt,  sie  quasi  mechanisch  zur  «Spieluhr»  macht. 

Einzelne  Singvogelindividuen  lernen  sogar  im  Vogelbauer 
Worte  so  gut  wie  Papageien  nachsprechen.  So  wurde  z.  B.  vor 
einigen  Jahren  durch  eine  Deputation  der  Berliner  ornithologischen 
Gesellschaft  wissenschaftlich  sicher  festgestellt,  dass  ein  Canarien- 
vogel  das  Wort  «Mama»  deutlich  ausgesprochen  habe. 

Manchen  durchgehend  einheitlichen  Ton  finden  wir  bei  den 
meisten  kleineren  Singvögeln  als  Ausdruck  gleichen  Empfindens. 
So  z.  B.  ist  der  Ton  für  Warnung  bei  nahender  Gefahr  bei  sehr 
vielen  Insectenfressem  und  auch  einigen  Körnerfressern  sich  sehr 
ähnlich,  fast  gleich.  Die  Vögel  gebrauchen  dabei  vorwiegend  einen 
schrillen  Laut,  der  als  ein  «hochliegendes»  scharf  gedehntes  «Zieh» 
zu  bezeichnen  sein  dürfte.  So  z.  B.  erklingt  beim  Betreten  eines  mit 
bunt  gemischter  Gesellschaft  besetzten  Vogelzimmers  durch  eine  ge- 
fürchtete Katze  in  nur  artlich  geringen  Nüancen  eiu  meist  a  tempo 
und  allgemein  hervorgestossenes :  Zieh-Zihp.  Wer  kennt  nicht  aus 
eigener  Erfahrung  diesen  angstvoll  kläglichen  Ton  bei  der  Sprosser- 
Nachtigall  und  anderen  Erdsängern  ! 

Beim  Orgelspiel  wird  zur  Verstärkung  des  Vorgetragenen 
zuweilen  ein  Register  gezogen,  welches  eigentlich  nicht  zum  Accord 
passt  und  welches  Mixtur  heisst.  Die  durch  die  Mixtur  mitlautenden 
Töne  hört  man  bei  den  Vollaccorden  eines  Chorals  als  selbständige 
Klänge  nicht  durch,  und  doch  sind  sie  vorhanden,  füllen  den  Accord 
und  erfüllen  brausend  die  Kirche  mit  grossem  Effect.  Umgekehrt 
klingt  bei  massenhaftem  Zusammensingen  der  Vögel  auf  einem 
Platze  etwas  der  Mixtur  Aehnliches,  aber  nicht  Gleiches  mit,  das 
nicht  direct  erzeugt,  aber  doch  gehört  wird,  und  sehr  wirkungsvoll 
und  erregend  mittönt.  Schon  Schleiden  machte  seiner  Zeit  darauf 
aufmerksam,  dass  in  den  grossen  Symphonien  unserer  gefiederten 
Waldbewohner  bei  hundertstimmigem  Gesänge  zuweilen  Töne  mit- 
klängen, die  keiner  Kehle  entsprangen,  sondern  «die,  in  der  Luft 
entstanden,  sich  consonirend  gewissen  anderen  Tönen  anschmiegen. 
Man  nennt  sie  die  Tartinischen  Töne,  weil  jener  geniale  Geigen- 
spieler sie  zuerst  entdeckte».  Sie  sollen  nicht  nur  das  gesammte 
Tongemälde  verstärken,  sondern  verschmelzen  auch  namentlich  die 


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Unsere  bemerken» werthesten  Singvögel.  211 


oft  so  sehr  verschiedene  Klangfarben  angebenden  Stimmen  und  Ge- 
sänge zu  einem  Concert,  das  nicht  unwesentlich-  durch  diese  soge- 
nannten Tartinischen  Töne  etwas  ungemein  Berauschendes,  etwas 
den  Geist  Bezauberndes  und  die  Seele  Berückendes  gewonnen 
haben  dürfte. 

5.    Wann  singen  die  Vögel? 

Die  schöne  Zeit  der  Lieder  währet,  ach  !  nur  kurze  Zeit.  Es 
ist  leider  die  Minorität  der  baltischen  Singvögel,  welche  uns  durch- 
schnittlich etwa  den  dritten  Theil  des  Jahres  hindurch  in  sehr  au- 
erkennenswerther  Weise,  und  zwar  im  Frühling,  voll  und  mit  aller 
Lust  im  April  und  Mai,  spärlich  beginnend  im  März  und  ermüdet 
beschliessend  im  Juni,  mit  ihren  munteren  Stimmen  erfreuen.  Ein 
grosser  Theil  musicirt  kaum  während  drei  Monate,  sehr  viele  nur 
ungefähr  zwei  Monate  hindurch,  ja  etliche  Arten  machen  sich  so 
crar»  (wie  sonst  auch,  sind  unter  diesen  gerade  die  herrlichsten 
Kräfte  vertreten),  dass  sie  sogar  fleissig  nur  drei,  einigermassen 
bemerkbar  etwa  vier  bis  höchstens  fünf  Wochen  singen.  —  Bei 
ungewöhnlich  früh  eintretendem  Lenz  hört  man  ausnahmsweise  auch 
Lerchen,  Staare  &c.  schon  im  Februar  singen ;  so  z.  B.  Feldlerchen 
1868  am  21.  Februar,  1872  am  26.  und  1882  sogar  am  14.  Februar. 
—  Zuweilen  verspäten  manche  liebe  Vögel  ihren  Schlusstermin 
und  singen  noch  bis  Mitte  Juli  ab  und  zu  einige  Strophen,  so  z.  B. 
Feld-  und  Haidelerchen,  Buchfinken,  Zaunkönige,  Siugdrosseln  ;  zu 
bemerken  ist  hierbei,  dass  die  spätesten  Sänger  zugleich  auch  die 
frühesten  waren. 

Was  nun  die  Tageszeit  anbetrifft,  so  wäre  der  frühe  Morgen 
als  regelrechte  Hauptsangeszeit  anzugeben,  wenngleich  der  Abend 
auch  gern  mit  lebensvollen  Stimmen  gefeiert  wird.  Ein  grosser 
Theil  der  insectenfressenden  Sänger  sind  auch  echte  Nachtsänger, 
von  denen  einige  sogar  um  Mitternacht  nimmer  schweigen  und 
nicht  einmal  für  kurze  Zeit  ruhen. 

Um  Mittagszeit  hört  man  Standvögel  nur  in  der  ersten 
Frühlingszeit,  der  eigentlichen  Begattungszeit,  oder  Durchzügler 
singen ;  namentlich  wenn  der  Morgen  stürmisch  und  regnerisch 
verlief,  holen  viele  emsige  Singvögel  dann  zu  Mittag  das  Ver- 
säumte theil  weise  nach,  aber,  wie  gesagt,  nur  in  der  ersten  c  Sturm- 
und Drangperiode».  Je  länger  die  Singsaison  dauerte,  desto  kürzer 
werden  die  täglichen  Singstunden  bemessen. 

Mit  c nüchternem  Magen»  beginnt  der  Morgengesang,  um  nach 
Sonnenaufgang  behufs  Nahrungssuche  auf  einige  Zeit  etwas  nach- 


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212  Unsere  bemerkeuswerthesten  Singvögel. 


zulassen,  worauf  dann  der  gesättigte  Vogel  zwar  auch  noch  recht 
munter,  aber  doch  nicht  mehr  so  laut,  so  freudig  und  anhaltend, 
wie  nach  dem  Erwachen  von  der  Nachtruhe,  weiter  zu  musiciren 
pflegt.  Nach  einem  milden,  warmen  Frühlingsregen,  wenn  die 
liebe  Sonne  wieder  siegreich  durch  das  Gewölk  hervorbricht  und 
alles  Lebende  zur  Bewegung  und  zur  Liebe  lockt,  dann  jubeln  die 
Singvögel  oft  in  geradezu  sinnebethörender  Weise,  so  dass  es  schwer 
hält,  einzelne  Stimmen  zu  unterscheiden,  die  mitsingenden  Arten 
genau  festzustellen.  In  solchen,  den  Vogelfreund  entzückenden 
Momenten  kann  man  noch  am  ehesten  die  oberwähnten  cTartinischen 
Töne»  consoniren  hören.  —  Nach  beendetem  Brutgeschäft  und  bei 
Beginn  der  Hauptmauserungszeit  verliert  der  männliche  Vogel  nach 
und  nach  den  Trieb  und  jegliche  Lust  zum  Singen.  Der  Gesanges- 
impuls verliert  sich  zuerst  am  Tage,  dann  auch  des  Abends,  bis 
schliesslich  der  unlustige  Vogel  nur  noch  des  Morgens  beim  Er- 
wachen einige  Strophen  mit  halber  Stimme,  oft  ohne  Schluss  oder 
den  Hauptschlag,  wie  eine  wehmüthige  Erinnerung  an  gewesene 
frohe  Festtage  erklingen  lässt.  Im  Herbst  zur  Zugzeit,  an  be- 
sonders sonnigen  schönen  Tagen  hört  man  zuweilen  junge  Vögel 
verzagt  und  schüchtern  ihr  Talent  versuchen,  das  noch  heisere 
Stimmchen  probiren,  leise  Anklänge  an  spätere  Vollmelodien  vor- 
tragen. Einige  gefangene  Vögel  beginnen  den  Gesang  verauchs- 
und  bruchstückweise  schon  im  November,  andere,  zwar  noch  etwas 
verschämt,  im  December,  die  meisten  aber  erst  Ende  Januar,  um 
im  Februar  recht  tapfer  zu  schmettern,  wenn  sonst  für  ihr  Behagen 
nur  genügend  gesorgt  wurde.  —  Es  berührt  deu  Vogelbesitzer  oft 
«eigen»,  wenn  er  den  stürmenden  Schnee  draussen  umher  wirbeln 
und  die  Eisblumen  am  Fenster  glitzern  sieht  und  zugleich  Gras- 
mücken und  Finken  zarte  Liebeslieder  als  Kündiger  des  Frühlings 
singen  hört. 

Aber  nicht  nur  bei  vollen  Sinnen,  im  Wachen  singen  die 
Vögel,  sondern  sie  sollen  auch,  wie  vielfach  verbürgt  wurde,  auch 
zuweilen  im  Schlafe  leise  singen.  Die  Singvögel  scheinen  lebhaft, 
wenn  auch  ihrem  Charakter  entsprechend  friedlich,  zu  träumen, 
namentlich  in  der  erregten  Zeit  beginnender  oder  erat  kürzlich  er- 
widerter Liebe.  In  ruhigen  Nächten  hört  man  ab  und  zu  ge- 
fangene, natürlich  nur  sehr  gut  eingewöhnte  Vögel  in  sehr  sanften, 
schmelzenden  Tönen  bei  sonst  scheinbar  festem  Schlafe  träumerisch 
zart  und  sehnsuchtsvoll  singen. 

Eifersucht,  nicht  vollkommen  befriedigter  Geschlechtstrieb  oder 


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Unsere  bemerkenswerthesten  Singvögel.  213 


versuchte  Untreue  des  Gatten  erhöhen  den  Gesangeseifer  in  nicht 
geringem  Grade,  während  ein  solides,  bereits  einige  Zeit  dauerndes 
Eheleben,  sowie  allgemeines  Wohlbehagen,  durch  gute  Sättigung 
und  wärmende  Sonnenstrahlen  erzeugt,  einen  nur  gemässigt  frohen, 
aber  sehr  befriedigt. klingenden  Gesang  zu  erwecken  scheinen. 

Dr.  Hermann  Müller  erzählt,  dass  einer  seiner  Freunde  einen 
Zeisig  besass,  welcher  in  jedem  beliebigen  Augenblicke  zum  Singen 
gezwungen  werden  konnte.  Man  brauchte  ihn  nur  mit  der  um- 
schliessenden  Hand  etwas  zu  drücken  und  konnte  des  Erfolges 
sicher  sein.  cDer  niedliche  Schelm  hat  mich  manchmal  gedauert, 
wenn  er  um  dieser  Eigenthümlichkeit  willen  die  Tafelrunde  machen 
musste,  um  sein  ganzes  Liedchen  mit  dem  Schlussrefraiu :  dideldei 
tähh  zum  Besten  zu  geben.»  Sollte  vielleicht  durch  den  sanften 
Druck  der  Hand  ein  gewisses  wollüstiges  Gefühl  erregt  worden 
sein?  Anders  dürfte  die  erzählte  Curiosität  kaum  zu  erklären 
sein;  oder  sollte  wirklich  hierzu  eine  mühsame  Dressur  angewandt 
worden  sein?  Das  hätte  denn  doch  miterzählt  werden  müssen. 

6.    Ist  der  Gesang  nur  angeboren? 

Seit  ungefähr  drei  Decennien  hat  diese  Frage  viele  deutschen 
Ürnithologen  mehr  oder  weniger  «in  Athem»  erhalten:  Hie  Ver- 
erbung, hie  Nachahmung !  Die  Wahrheit  dürfte  dieses  Mal  aber 
nicht,  wie  meist  bei  Streitfragen,  in  der  Mitte  liegeu,  sondern  die 
Wagschale,  in*  der  die  angeborene  Fähigkeit,  eine  artlich  bestimmte 
Strophe  oder  Melodie  eo  ipso  zu  singen,  befindlich  wäre,  würde 
wahrscheinlich  schwer  beladen  tief  herabsinken,  wenngleich  die 
andere  als  immerhin  befrachtet  nicht  in  die  «äusserste  Höhe» 
schnellen  könnte.  Das  Wesentliche,  die  Art  Kennzeichnende  beim 
Gesang  ist  gewiss  angeboren,  und  nur  die  rechte  Feinheit  des 
Tempo,  die  stimmliche  und  rhythmische  Vollentwickelung  und  der 
tonreichere,  beschliessende  Hauptschlag  des  Meistersängers  wird 
abgehorcht,  nachgeahmt  und  derart  wirklich  erst  erlernt.  Vielleicht 
giebt  es  auch  Genies  in  der  Vogelwelt,  die  nach  einer  Zeit  allge- 
meinen Verfalles  plötzlich  erstehen,  neuschöpferisch  das  .möglich 
Beste  als  Mustersänger  «von  Gottes  Gnaden»  wieder  vorzutragen 
berufen  wurden  ?  < 

Zur  höchsten  Vollkommenheit  des  artlichen  Gesangesvortrages 
würde  also  nur  der  junge  Vogel  gelangen  können,  {welcher  einen 
mustergiltigen  Vorsänger  als  Lehrmeister  sowol  in  der  Freiheit, 
als  im  Zimmer  zu  hören  bekäme.    Die  originell  artunterscheidende 


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214 


Unsere  bemerkeuswerthesten  Singvogel. 


Stimme  und  die  Modulationsscala  ist  natürlich  stets  angeboren. 
In  der  naturwidrigen,  alle  freie  Entwicklung  niederzwingenden 
Gefangenschaft  kann  man  allerdings  im  Abweichen  vom  angeboren 
artlichen  Gesänge  Erstaunliches  und  zu  Trugschlüssen  Führendes 
hören  und  constatiren.  Der  alte  M.  Bechsteiu  Hess  z.  B.  seine 
Grünlinge  den  Finkenschlag  und  seine  Hänflinge  den  Nachtigallen- 
schlag erlernen.  Eine  Lerche  des  ürnithologen  L.  Lungershausen 
«hatte  vollständig  den  Canarienvogelsang  erlernt.  Die  Stimme 
blieb  zitternd  lerchenartig,  allein  die  Melodie  war  bis  aufs  kleinste 
Jota  Canarienschlag».  Aber  Ausnahmen  bilden  nicht  die  Regel, 
ganz  besonders  nicht,  wenn  durchaus  unnatürliche  Verhältnisse 
alles  Angeborene  in  Gefahr  brachten,  künstlich  corrumpirt,  entartet 
und  unkenntlich  entstellt  erscheinen  zu  lassen,  d.  h.  verschwinden 
zu  machen.  Uebrigens  können  Nachtigallen  und  Finken,  überhaupt 
alle  diejenigen  Vögel,  welche  einen,  schlagartigen  Gesang  haben, 
die  Melodien  anderer  Vögel  auch  bei  gänzlicher  Absperrung  in  der 
Jugendzeit,  ehe  sie  Ihresgleichen  hörten,  mit  fremdartlichem  Vor- 
sänger, doch  nimmer  nachahmen,  sondern  sie  singen  das  ihnen  art- 
lich Eigentümliche,  wenn  auch  bleibend  stümperhaft. 

In  verschiedenen  Zonen,  im  Flachlande  oder  Hochgebirge 
herrscht  bei  manchen  Singvogelarten  wesentliche  und  andauernde 
Nüancirung,  sogar  starke  Abweichung  des  Gesanges.  Eine  überall 
ganz  gleiche  Melodie  scheint  demnach  nicht  absolut  allen  Arten 
angeboren,  aufgezwängt  zu  sein,  sondern  die  Gesangesstrophen 
werden  durch  klimatische  und  vielleicht  auch  andere  Einflüsse  be- 
einträchtigt und  sind  veränderbar.  Der  grosse  Humboldt  z.  B.  er- 
kannte einst  in  dem  cCapirote»  der  Einwohner  Orotavas,  den  er 
natürlich  nur  gehört  und  nicht  gesehen  hatte,  keineswegs  die  be- 
kannte Schwarzplatt-Grasmücke  seiner  Heimat  wieder.  Es  kommeu 
eben  auch  bei  den  Singvögeln  gewisse  Dialekte  vor.  —  In  der 
Regel  singt  dieselbe  Art  im  Süden  besser  als  im  Norden,  im  Ge- 
birge fertiger  als  in  der  Tiefebene,  auf  Inseln,  wahrscheinlich  in 
Folge  der  Inzucht  und  Anhörung  der  einen  gewissen  Familientypus 
an  sich  tragenden  Vorsänger,  meist  reiner  als  auf  dem  Festlande. 
Erfahrung  der  Zimmerzüchter  soll  ferner  sein,  dass  die  jungen  Vögel 
der  ersten  Brut  im  Jahre  nicht  nur  ungleich  kräftiger  sängen, 
sondern  auch  befähigter  erschienen  Meistersänger  zu  werden,  als 
die  Producte  der  späteren  Brüten.  Mehrere  Forscher  behaupten, 
dass  solches  auch  im  Frei  leben  beobachtet  und  festgestellt  sei, 
indem  Vögel  der  ersten  Brut  in  Wohllaut  und  Vollendung  des 


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Unsere  bemerkenswerthesten  Singvögel. 


215 


Gesanges  denjenigen  der  zweiten  Brut  bedeutend  überlegen  ge- 
wesen wären. 

Sogar  ein  theil  weises  Vergessen  der  Gesangeskunst,  nament- 
lich des  Hauptschlages  nach  überstandener  lange  dauernder  Mauser- 
und Winterszeit,  will  man  an  mehreren  Arten  wahrgenommen  haben. 
Beim  « Langerwerden  >  der  Tage  üben  diese  Singvögel  gleichsam 
die  alten  Erinnerungen  an  ihre  Kunstfertigkeit  erst  allmählich 
wieder  ein,  singen  dabei  anfangs  oft  geradezu  falsch,  wiederholen 
aber  unermüdlich  die  schwierige  <  Passage  >,  lassen  den  Hauptschlag 
oder  den  schönsten  Triller  erst  fort,  bis  endlich  nach  energischem 
Ringen  das  Ganze  complet  und  vollendet,  wie  in  der  vorjährigen 
Saison,  vorgetragen  werden  konnte. 

Im  grossen  und  ganzen  scheint  also  auf  Grundlage  der  seit- 
herigen Beobachtungen  die  allgemeine  artliche  Sonderweise,  Stimm- 
lage und  ein  gewisser  Rhythmus  der  Intervalle  den  Singvögeln 
angeboren  zu  sein,  nur  die  letzte  Weihe  des  Vortrages,  die  voll- 
kommene Meisterschaft  muss  nachgeahmt  und  angelernt  werden. 
Ohne  Schule,  ohne  Lehrmeister  bleiben  isolirte  junge  Sänger  nur 
Stümper,  denen  oft  der  schönste  Theil  des  Gesanges,  den  t  erlösenden  > 
Schlussaccord  zu  producireu,  versagt  bleibt. 

Wer  jung  gefangene  Vögel  zu  guten  Sängern  ihrer  Art  heran- 
bilden will,  muss  jedenfalls  für  alte,  tadellose  Vorsänger  sorgen ; 
dies  bleibt  eine  conditio  sine  qua  non. 

7.    Wie  schützen  wir  unsere  Singvögel? 

Vor  wem? —  Vor  ihren  leider  allzu  zahlreichen  fresslustigen, 
gefühllos  mordsüchtigen  Feinden,  die  sich  namentlich  unter  den 
Säugern  und  Vögeln,  in  sehr  geringer  Anzahl,  daher  weniger 
schadenbringend,  auch  noch  unter  Reptilien,  Fischen  &c.  vorfinden. 
Als  die  schlimmsten  Vertilger  unter  den  Sängern  wären  zu  nennen  : 

1.  Gattung  homo  sapiens,  spec.  romanus.  Es  ist  eine  wirk- 
liche Schande  für  die  Menschheit  und  eine  klägliche  Wahrheit,  dass 
keine  Geschöpfe  auf  weitem  Erdenrund  mehr  europäische  und  auch 
unsere  südwestlich  fortziehenden  Singvögel  morden  und  massenhaft 
verspeisen  als  die  italienische  und  in  zweiter  Linie  auch  die  fran- 
zösische Race.  Der  Papst  selbst  lässt  alljährlich  viele  Tausende 
unserer  schönsten  und  beliebtesten  Sänger  in  seinem  Vaticangarten 
fangen  und  schiessen.  Bei  solchem  Beispiel  giebt  es  natürlich  in 
ganz  Italien  für  unsere  armen  kleinen  Zugvögel  keinen  einzigen 
Zufluchtsort,  keine  einzige  unentweihte  Freistätte !  Wenngleich 


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216  Unsere  bemerkenswerthesten  Singvögel. 

* 

der  Preis  für  ein  Plünd  «Singvögel»  durchschnittlich  nur  ca.  4  bis 
höchstens  5  Kop.  beträgt,  so  wird  diese  Freveljagd  mit  einer 
Leidenschaft,  Energie,  Grausamkeit  (Victor  Hehn  würde  «Objecti- 
vität»  sagen)  und  einem  kostspieligen  Aufwand  von  Zeit  und  Ge- 
duld bei  Vorbereitungen  und  Ausübung  derselben  betrieben,  die 
bei  einer  weniger  schändlichen  Sache  verzeihlicher  erscheinen  würden 
und  in  andere  Bahnen  gelenkt  würdiger  wären.  Bei  Varenna  am 
Comersee  werden  im  September  und  October  täglich  ca.  10000  kleine 
Sänger  gefangen  und  verspeist,  was  binnen  dieser  kurzen  Saison 
von  zwei  Monaten  in  Summa  600000  Stück  ausmacht.  In  Udine 
allein  werden  in  der  Hauptzeit  bis  5000  Singvögel  täglich  ver- 
kauft, nach  demselben  Berichterstatter  in  der  ganzen  Zugzeit  minde- 
stens eine  Million ;  der  Gewährsmann  erzählt,  dass  er  eines  Tages 
allein  an  todten  Zeisigen  896  Stück  dort  auf  dem  Markt  gezählt 
habe.  Es  kommen  aber  bei  weitem  nicht  alle  erlegten  Vögel  zu 
Markt,  sondern  werden  auch  zahlreich  von  den  Schandjägern  zu 
Hause  uncontrolirbar  verschlungen.  Allüberall  aber  werden  mit 
grossen  Netzen,  mit  Millionen  Schlingen  und  diversen  Schiess- 
gewehren unzählbare  Schaaren  unserer  beliebtesten  Singvögel  gefühl- 
los gemordet,  so  dass  die  Totalsumme  der  vernichteten  Sänger 
für  Italien  auf  sehr  viele  Milliarden  sich  belaufen  muss.  Das 
nordische  Herz  blutet  beim  Anblick  der  zu  Hunderten  artlich  auf- 
gereihten Roth-  und  ßlaukehlchen,  Grasmücken,  Laubvögel,  Pieper, 
Lerchen,  Zeisige,  Finken,  Schwalben  und  all  den  vielen  anderen  von 
uns  gehegten  und  so  sehr  geliebten  Sängern  in  Wald,  Busch  und 
Feld !  Im  südlichen  Frankreich  gereicht  der  mit  List  vorbereitete 
Massenmord  der  «Kleinen»  mittelst  Schiessgewehre  namentlich  den 
Damen  der  sogenannten  «besten  Stände»  (?)  zum  unsäglichen,  uns 
ganz  unbegreiflichen  Vergnügen.  Während  diese  sich  «weiblich» 
nennenden  Modewesen  sonst  bis  zum  hellen  Mittag  in  den  Betten 
liegen  zu  bleiben  pflegen,  treibt  sie  die  aufregende  Mordlust  in 
der  Zugzeit  bereits  vor  dem  «Grauen»  des  Morgens  zum  An- 
stand hinaus. 

Die  leidige  Cultur  raubt  auch  ohne  absichtliches  Vernichten 
seitens  der  Culturträger  die  besten  Bedingungen  zur  Existenz  der 
durch  Vertilgen  der  schädlichsten  Insecten  so  sehr  nützlichen  und 
daher  zu  hegenden  Singvögel.  Die  stetige  Erweiterung  der  Aecker, 
die  Durchforstung  unserer  Wälder,  das  Urbarmachen  der  Moore 
und  das  Eingehen  der  mit  diversem  Gestrüpp  besetzten  Weide- 
ländereien verengen  alljährlich  die  Brutplätze.  Sogar  die  Telegraphen- 


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Unsere  bemerkenswerthesten  Singvögel. 


217 


drähte  verursachen  das  Eingehen  einer  nicht  geringen  Anzahl 
nächtlich  ziehender  Singvögel.  So  berichtet  der  Professor  Dr.  K. 
Th.  Liebe  in  Gera,  dass  bei  der  Ludwigsbahn  an  den  14  Drähten 
der  Leitung  in  einem  Frühjahr  allein  auf  der  kurzen  Strecke  von 
vier  Kilometern  sich  über  500  Singvögel  todtgeflogen  oder  wenig- 
stens unheilbar  zerschlagen  hätten. 

Die  gedankenlose  Rohheit  der  Dorfjugend  und  leider  auch  so 
mancher  Erwachsenen  aus  dem  Volke  gefährdet  alljährlich  die  Ge- 
lege und  die  hilflose  Jungbrut  der  Vögel. 

Das  Anzünden  der  Rodungen,  die  nicht  gewollten  Waldbrände 
zerstören  viele  hundert  Familien ;  sogar  die  Arbeit  der  Schnitter 
vernichtet  so  manches  Nest,  so  manchen  Jungvogel. 

2.  Die  Hauskatze,  welche  namentlich  zur  Zeit  des  Nest- 
flüchtens in  unglaublicher  Weise  die  Reihen  der  Jungvögel  lichtet ; 
doch  auch  das  ganze  Jahr  hindurch  sind  die  alten  Vögel  stets  be- 
droht und  werden  mit  Geschick  beschlichen  und  geraubt.  Nach 
Angabe  des  Stuttgarter  Vogelzüchters  und  Schriftstellers  Friedrich 
soll  in  Deutschland  mehr  als  die  Hälfte  aller  in  menschlicher  Nähe, 
also  die  Gehöfte  bewohnenden  Singvögel  unter  den  scharfen  Klauen 
der  Hauskatzen  verbluten.  Das  ist  eine  traurige,  den  Liebhaber 
geradezu  erschreckende  und  zum  unversöhnlichsten  Katzenhass  auf- 
reizende Behauptung.  —  3.  Der  Fuchs  stellt  mit  Energie  nur  dem 
Genist  und  den  nestflüchtig  gewordenen  Jungvögeln  nach ;  der  alten 
Singvögel  kann  er  ausser  den  fest  brütenden  Weibchen  nur  gelegent- 
lich und  sehr  ausnahmsweise  habhaft  werden.  Seine  feine  Spürnase 
macht  ihn  aber  zu  einem  gefährlichen  Räuber,  der  vieler  kleiner 
Singvögelein  zur  Stillung  des  Hungers  und  zur  Pflege  des  grossen 
Leibes  bedarf ;  namentlich  verfolgt  er  die  halbflüggen  Drosseln.  — 
4.  Marder,  Iltis  und  Hermelin.  Da  ersterer  noch  sicherer  und 
gewandter  zu  Baum  als  auf  dem  Boden  zu  jagen  und  bis  in  die 
dünnsten  Zweigspitzen  zu  gelangen  versteht,  so  richtet  besonders 
der  Baummarder  unter  den  Singvögeln  arge  Verheerungen  an;  er 
lebt  den  April,  Mai,  Juni  und  Juli  hindurch  fast  ausschliesslich 
nur  von  Eiern  und  Jungvögeln.  —  5.  Eichhorn,  Hasel-  und  Wald- 
mäuse. Unser  so  zierlich  und  reizend  graziös  umherhüpfendes 
Hörnchen  ist  in  den  oben  genannten  Monaten  ein  schädliches, 
mörderisches  Raubthier  für  alle  Singvögel ;  gleich  dem  Marder  jagt 
es  zu  Baum  und  auch  zu  ebener  Erde.  Mit  bewunderungswürdiger 
Kletterfähigkeit  begabt,  durchsucht  es  alle  Baumhöhlen,  alle  Winkel 
und  jedes  Gezweig  nach  Nestern  und  unfliiggen  Vögeln ;  dieser 


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Unsere  bemerkenswerthesten  Singvögel. 


gierigen  c  Ratte  der  Bäume  >  entgeht  in  ihrem  Revier  nur  ein  ge- 
ringer Theil  der  vorhandenen  Nester.  Im  Frühjahr  erlegt,  zeigt 
der  Mageninhalt  nur  zu  deutlich  die  Art  der  Körperern ährung ; 
ad  oculos  wird  das  räuberische  Wesen  demonstrirt.  —  6.  Weniger 
gefährliche,  aber  gelegentlich  immerhin  recht  verderbliche  Thiere 
sind  noch  der  Haushund,  der  Dachs,  das  kleine  Wiesel  und  ver- 
schiedene Feldmäuse,  wie  auch  der  Igel,  welcher  Nestjunge  als 
Speise  nicht  verschmäht. 

Unter  den  raubenden  Vögeln  sind  als  ganz  besonders  gefähr- 
liche und  unsere  Lieblinge  arg  decirairende  zu  erwähnen :  der 
blitzschnelle  Lerchenstösser,  der  kleine  Merlinfalke,  der  niedrig 
dahin  fliegende  Sperber,  die  diebische,  nesterplündernde  Elster  und 
der  schmucke,  so  oft  von  Unkundigen  als  unschuldig  erklärte,  aber 
in  Wahrheit  furchtbar  schadenbringende  Eichelhäher  oder  Marquart; 
und  in  zweiter  Linie  als  minder  schädliche  Räuber:  der  starke 
Kolkrabe,  die  bedächtig  am  Boden  suchende  Nebelkrähe,  der  hinter- 
listige Habicht,  die  Felder  und  Wiesen  unsicher  machenden  Korn- 
weihen, die  verschiedenen  Eulenarten  und  der  rothrückige  Würger, 
welcher  in  unseren  Gärten  die  noch  blinden  Jungen  der  Grasmücken 
erbarmungslos  zu  überfallen  und  zu  zerreissen  pflegt.  —  Die  giftige 
Kreuzotter  erhascht  auch  so  manches  an  der  Erde  nach  Nahrung 
umhersuchende  Vögelein  oder  die  nach  Aetzung  zirpenden,  unge- 
lenken, nach  oben  blickenden,  bewegungslosen  Jungen  der  Haide- 
lerchen, Rothkehlchen,  Pieper,  gelben  Bachstelzen  und  Grasmücken, 
welche  erst  kürzlich  das  schützende  Nest  verliessen  und  noch  keine 
Gefahren  kennen  lernten.  —  Stärkere  Hechte  und  grosse  Lachs- 
forellen erschnappen  mitunter  die  über  das  Wasser  dahinstreichenden 
Schwalben  oder  Rohrsänger,  welche  dem  Wasserspiegel  zu  nahe 
kamen.  Sogar  von  den  Stengeln  des  Schilfrohrs  herab  hat  man  in 
verhältnismässig  bedeutender  Höhe  Schwalben  von  springenden 
Fischen  erbeuten  sehen.  —  Wir  kennen  zwar  in  unserem  Norden 
keine  Vogelspinne,  die  im  Stande  wäre,  kleine  Vögel  zu  erwürgen, 
aber  Milben,  Zecken  und  Wanzen  setzen  den  Nestjungen  oft  der- 
art zu,  dass  etliche  abmagern  und  wirklich  durch  solch  elendes 
Ungeziefer  zu  Grunde  gehen  mussten. 

Womit,  wodurch  können  wir  nun  die  nöthige  Hilfe  gegen  die 
genannten  zahlreichen  Feinde  schaffen  ?  In  Betreff  der  erwähnten 
Massenmorde  in  Italien  wären  nur  diplomatische  Schritte  oder  ein 
sehr  starker  internationaler  moralischer  Druck  durch  Wort  und 
Schrift  von  irgend  welchem  Erfolge.    An  den  deutschen  Reichstag 


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Unsere  bemerkenswerthesten  Singvögel.  210 


sind  wiederholt  diesbezügliche  Anträge  eingegangen.  Es  sollen 
auch  von  Seiten  der  Reichsregierang  Demarschen  in  dieser  Richtung 
stattgefunden  haben,  welche  auch  nicht  ganz  unberücksichtigt  ge- 
blieben zu  sein  scheinen.  Einige  beschränkende  schrittliche  Erlasse 
in  Betreff  der  Hegezeit,  der  Anwendung  von  grossen  Netzen,  über- 
haupt der  Jagdordnung  sind  allerdings  seitens  der  italienischen 
Staatsverwaltung  ergangen.  Das  allgemeine  Uebel  wurzelt  aber 
zu  tief  im  Volke,  um  bald  Besserung  erhoffen  zu  lassen.  Die 
Schiesslust  und  Fangwuth  hat  bei  diesem  heissbiütigen  Stamme 
geradezu  krankhafte,  scheinbar  unheilbare  Dimensionen  angenommen ; 
sie  ist  eine  Volksleidenschaft  geworden.  Es  wird  daher  gewiss 
noch  sehr,  sehr  lange  währen,  bis  eine  erhöhte  Durchschnittsbildung, 
eine  Vertiefung  der  Religion,  ein  auch  der  Thierwelt  gegenüber 
erwachendes  Gewissen  den  Vogelschutz  im  schönen  Italien  zur 
Wirklichkeit  erwecken  wird.  Uns  Balten  fällt  hierbei  naturgemäss 
eine  verzweifelt  passive  Rolle  zu.  Wir  können  die  geschilderten 
Zustände  nur  tief  bedauern  und  für  die  Zukunft  fromme  Wünsche 
hegen,  oder  in  seltenem  Falle  vielleicht  gelegentlich  einem  Italiener 
den  «Kopf  waschen». 

Anders  steht  es  aber  mit  den  theils  gedankenlos  thierischen 
Instincten,  theils  bewussten  Grausamkeitsgelüsten  unserer  grossen 
und  kleinen  Kinder  im  Volke,  welche  mit  empörender  Brutalität 
alljährlich  zwecklos  Nester  zerstören  und  Jungbruten  vernichten. 
Hier  kann  und  muss  jeder  einzelne  von  uns  durch  Belehrung  und 
Strafen  helfend  eintreten,  namentlich  alle  Volkslehrer,  die  Prediger 
und  auch  Männer  der  Polizei.  Unsere  bereits  bestehenden  Thier- 
schutzvereine sollten  an  dieses  beklagenswerthe  Uebel  energisch  die 
Hand  legen.  Zweigvereine  zu  speciellem  Schutze  unserer  nütz- 
lichen Vogel  weit,  und  zur  Ausrottung  der  Raubvögel  müssten  ge- 
gründet und  von  der  Regierung  aus  nicht  nur  «moralisch»,  sondern 
auch  thatkräftig  untei-stützt  werden.  Die  meisten  Länder  Europas, 
in  denen  die  germanische  Race  herrscht,  aber  namentlich  Nord-  und 
Mitteldeutschland,  sind  mit  einem  dichten  Netze  von  Vogelschutz- 
vereinen überzogen,  d.  h.  beglückt.  Diese  über  alles  Lob  erhabenen, 
idealen  Verbindungen  mehren  sich  erfreulicher  Weise  stets  und 
haben  bereits  unendlich  und  evident  viel  Gutes  durch  ihre  nach- 
ahmungswürdigen  Bestrebungen  erwirkt  und  befestigt.  Unermüdlich 
durch  Schrift  und  Wort,  durch  Prämien  und  Anklagen  arbeiten 
dieselben  an  der  Erhaltung  und  Vermehrung  der  Singvögel.  Den 
Kampf  gegen  das  Raubzeug  in  «1er  Thierwelt  könnte  jeder  vogel- 

Balti.che  MoruL.rl.rin.  Bd.  XXXIV.  lUft  X  15 


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Unsere  bemerkenswerthesten  Singvögel. 


freundliche  Gutsbesitzer  ohne  grosse  Mühe  sowol  durch  eigeue 
directe  Bethätigung,  als  noch  wehr  durch  Anspornen  der  Forst- 
warte, Gärtner  und  sonstiger  Bediensteter  erfolgreich  aufnehmen. 
Das  rechte  Wort  und  kleine  Geldprämien  regen  oft  wunderbar  den 
Eifer  der  Leute  an. 

Katzen,  welche  im  Frühjahr  und  Sommer  das  Haus  oft  zu 
verlassen  und  sich  in  Gärten,  Feldern  und  Wäldern  herumzutreiben 
pflegen,  sind  als  sehr  schlimme  Vogelräuber  abzuschaffen  und  wo 
man  sie  strolchend  herrenlos  antrifft,  sofort  erbarmunglos  zu  er- 
schienen. An  eine  Besserung  durch  Dressur  ist  bekanntlich  bei 
Katzen  nimmer  zu  denken ;  sie  sind  zu  tödten. 

Der  bei  uns  überall  vogelfreie  Fuchs  wird  ohnehin  zu  keiner 
Jahreszeit  geschont;  für  den  hat  das  Wort  «Pardon»  keinen  Sinn. 
Wenngleich  der  «rothe  Rock»  sich  bei  uns  auch  einzubürgern  be- 
ginnt, so  ahmen  wir  in  der  Fuchshegung  einstweilen  den  Engländern 
noch  nicht  nach. 

Die  beiden  Marderarten  sind  bei  uns  so  selten  geworden,  dass 
der  durch  sie  den  Singvögeln  beigebrachte  Schaden  nicht  mehr  in's 
Gewicht  fällt.  Aber  noch  recht  häufig  sind  in  den  baltischen 
Landen  die  Iltisse  und  beide  Wieselarten.  Der  sehr  wünschens- 
werthe  Fang  des  Iltis  und  Hermelin  liegt  noch  bei  uns  «im  Argen». 
Die  systematische  Ausrottung  dieser  nächtlichen  Schleicher  und 
Stänkerer  müsste  rationell  und  um  höherer  Zwecke  willen  als  die 
geringe  Fellverwerthung  oder  gewöhnliche  Jagdlust  mit  einem  ge- 
wissen Hasse  betrieben  werden.  In  Bezug  dieser  besondere  schäd- 
lichen Räuber  haben  wir  uns  alle  sehr  bedeutender  Unterlassungs- 
sünden zu  zeihen. 

Wer  den  niedlichen,  unsere  Wälder  und  Gehege  so  anziehend 
belebenden  Eichhörnchen  keinen  Vernichtungskrieg  ansagen  will, 
der  sorge  aber  wenigstens  dafür,  dass  in  Gärten  und  Parks  dieser 
Raubmörder  nicht  zu  zahlreich  werde.  Man  schiesse  jedenfalls 
alle  im  April,  Mai  und  Juni  begegnenden  Hörnchen  herab.  Pulver 
und  Blei  machen  sich  durch  Erhaltung  resp.  Zunahme  der  besten 
Sänger  sehr  bald  bezahlt. 

Ferner  sei  ewiger  und  immer  gleich  unversöhnlich  erbitterter 
Krieg  den  Falken,  Sperbern,  Elstern  und,  wenigstens  unbedingt 
zur  Zeit  der  Brutgeschäfte,  auch  dem  sonst  eine  Zierde  unserer 
Wälder  bildenden  Eichelhäher  oder  Marquart  erklärt  Das  Nisten 
des  Marquart  in  der  Gegend  unserer  gewohnten  Spaziergänge 
*  müsste  ihm  gänzlich  verleidet  werden.    Vom  März  bis  Juli  sind 


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Unsere  bemerkenswerthesten  Singvögel. 


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diese  lebhaften  Bajazzi  des  Waldes  ausnahmslos  zu  erschiessen. 
Die  Wahl  dürfte  doch  nicht  schwer  zwischen  einem  Pärchen  dieses 
Grossvogels  und  einer  nach  Hunderten  zählenden  Menge  «Kinder» 
unserer  lieblichsten  Singvögel  sein!  Der  Marquart  ist  ein  fress- 
gieriger Vogel,  der  zur  täglichen  Sättigung  mehrere  Jungbruten 
ersehnt.  —  Durch  vielfaches  Anbringen  von  artverschiedenen  künst- 
lichen Nestern  und  Nistkasten,  durch  Herrichtung  diverser  passender 
Futterplätze  und  Hergabe  des  Futters  in  schlimmer  Jahreszeit, 
durch  Erhalten  alter,  hohler  Bäume,  durch  Anpflanzung  sehr  dichter 
Dornhecken  &c.  &c.  können  wir  ohne  nennenswerthe  Unkosten,  ohne 
allzu  viel  Mühe  in  hohem  Grade  die  Erhaltung  und  stetige  Ver- 
mehrung der  Singvögel  zu  Nutz  und  Freude  fördern.  Man  muss 
nur  wirklich  «wollen»,  das  «Vollbringen»  ist  dieses  Mal  nicht  so 
schwer ! 


Als  unsere  vorzüglichsten  Sänger  in  Wald,  Feld  und  Busch 
wollen  wir  nachstehende  Singvögel  zu  näherer  Betrachtung  im 
folgenden  Hefte  der  Monatsschrift  heranziehen : 

A.  Aus  der  Familie  der  Erdsänger : 

1.  Die  Sprosser-Nachtigall.    Sylvia  phitomela. 

2.  Das  Gartenrothschwänzchen.    Sylvia  phoeiricurus. 

3.  Das  Rothkehlchen.    Sylvia  rubecula. 

•   4.    Das  Blaukehlchen.    Sylvia  cyanecula. 

5.  Den  Zaunkönig.    Troglodytes  parvulus. 

B.  Ans  der  Familie  der  Grasmücken  : 

6.  Die  Gartengrasmücke.    Sylvia  hortensis. 

7.  Das  Schwarzplättchen.    Sylvia  atricapilla. 

C.  Aus  der  Familie  der  Laubvögel : 

8.  Den  Gartenlaubvogel.    Sylvia  hypolais. 

9.  Den  Fitissänger.    Sylvia  fitis. 

10.  Den  Weidenzeisig.    Sylvia  rufa. 

D.  Aus  der  Familie  der  Drosseln  : 

11.  Die  Misteldrossel.    Turdus  viscivorus. 

12.  Die  Amsel.    'Turdus  merttla. 

13.  Die  Singdrossel.    Turdus  musicus. 

E.    Aus  der  Familie  der  Rohrsänger: 

14.  Den  Sumpfrohrsänger.    Calamoherpe  palustris. 

F.    Aus  der  Familie  der  Pieper: 

15.  Den  Baumpieper.    Anthus  arboreus. 

15* 


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222  Unsere  bemerkenswerthesten  Singvögel. 

G.    Aus  der  Familie  der  Lerchen : 

16.  Die  Feldlerche.    Alauda  arvcnsis. 

17.  Die  Haidelerche.    Alauda  arborea. 

"  H.    Aus  der  Familie  der  Staare : 

18.  Den  gemeinen  Staar.    Sturnus  vulgaris. 

L    Aus  der  Familie  der  Fliegenschnäpper : 

19.  Den  schwarzrückigen  Fliegenschnäpper.  Muscicapa  atricapilla. 

K.    Aus  der  Familie  der  Schwalben  : 

20.  Die  Rauchschwalbe.    Hirundo  ruslica. 

L.    Aus  der  Familie  der  Ammern  : 

21.  Den  Rohrammer.    Emb&iza  schoeniclus. 

M.    Aus  der  Familie  der  Finken  : 

22.  Den  Buchfink.    Fringilla  coelebs. 

23.  Den  Stieglitz.    Fringilla  carduelis. 

24.  Den  Zeisig.    Fringilla  sjnnus. 

Oscar  von  L  ö  w  i  s. 


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Beiträge  zur  Bevölkerungsstatistik  Estlands. 


chon  früh,  im  Anfang  der  sechziger  Jahre,  hat  man  in 
den  Ostseeprovinzen  damit  begonnen,  die  Bevölkerungs- 
verhältnisse unserer  Heimat  auf  statistischem  Wege  zu  erforschen, 
eine  Erscheinung,  die  wir  zu  einem  nicht  geringen  Theil  der  an- 
regenden Thätigkeit  C.  Schirrens  verdanken.  Erst  seit  dem  Beginn 
der  sechziger  Jahre  kann  von  einer  wissenschaftlichen  Statistik, 
speciell  einer  Bevölkerungsstatistik  in  den  baltischen  Provinzeu 
gesprochen  werden.  Ich  will  hier  nicht  von  der  Administrativ- 
statistik sprechen  ;  diese  hat  in  erster  Linie  Verwaltungszwecken 
zu  dienen  und  kann  sich  daher  mit  den  Bevölkerungsverhältnissen 
meist  nur  so  weit  beschäftigen,  als  es  die  Bedürfnisse  der  Administra- 
tion verlangen.  Vielmehr  habe  ich  die  Privatstatistik  und  hier 
wiederum  unsere  einheimischen  biostatischen  Arbeiten,  die  sich  ein- 
gehender mit  den  Geburten,  Sterblichkeits-  und  Heiratsverhältnissen 
einzelner  Gebiete  der  Ostseeprovinzen  befasst  haben,  im  Auge. 

Das  Verdienst,  zu  derartigen  biostatischen  Studien  in  unserem 
Lande  angeregt  zu  haben,  gebührt  Prof.  Dr.  C.  Schirren.  Nach 
seinem  Plan  sollten  zunächst  einzelne  Theile  unserer  Provinzen  einer 
statistischen  Erforschung  unterworfen  werden,  um  so  allmählich 
ein  Material  zu  sammeln,  das  vielleicht  nach  Jahren  die  Möglich- 
keit zur  Bearbeitung  einer  einheitlichen  Biostatik  Li?-,  Est-  und 
Kurlands  geboten  hätte.  Zu  diesem  Zwecke  war  natürlich  Einheit- 
lichkeit in  den  Arbeiten  erforderlich,  wie  sie  in  der  Hauptsache 
auch  von  allen  Biostatikern  beobachtet  worden  ist.  Die  erste  der- 
artige bevölkerungsstatistische  Arbeit  nun,  die  den  Anspruch  auf 


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224  Beiträge  zur  Bevölkerungsstatistik  Estlands. 

Wissenschaftlichkeit  erheben  konnte,  ist  die  unter  Schirrena  Leitung 
von  Felix  Hübner  verfasste  «  Biostatik  der  Stadt  Dorpat  und  ihrer 
Landgemeinde  in  den  Jahren  1834—59».  Dorpat  1861.  Damit  war 
der  Grundstein  zu  einer  baltischen  Biostatik  gelegt,  und  schon 
wenige  Jahre  darauf  konnte  Dr.  Beruhard  Körber  seine  <  Biostatik 
der  im  dörptschen  Kreise  belegenen  Kirchspiele  Ringen,  Randen, 
Nüggen  und  Kawelecht  in  den  Jahren  1834—59».  Dorpat  1864> 
veröffentlichen.  Nun  folgt  eine  weitere  auf  Schirrens  Veranlassung 
geschriebene  Biostatik,  nämlich  die  von  Ernst  Kluge  t  Biostatik 
der  Stadt  Reval  und  ihres  Landkirchsprengels  für  die  Jahre  1834 
bis  1862».  Reval  1867.  Leider  gelangte  die  Statistik  der  Ge- 
storbenen in  dieser  Arbeit  nicht  zur  Veröffentlichung,  was  um  so 
mehr  zu  bedauern  ist,  als  die  Klugesche  Arbeit  entschieden  die 
beste  von  den  bisher  erschienenen  Biostatiken  ist. 

Nachdem  Schirren  Dorpat  verlassen,  trat  ein  längerer  Still- 
stand in  den  biostatischen  Arbeiten  ein,  bis  endlich  im  Anfang  der 
achtziger  Jahre  derartige  Studien  einen  neuen  Aufschwung  nehmen. 
Wie  zuvor  Schirren,  so  wirkt  in  unsereu  Tagen  Prof.  Dr.  Körber 
anregend  auf  diesem  Gebiete;  er  hat  das  Werk  Schirrens  fortzu- 
führen begonnen,  ihm  verdanken  wir  eine  ganze  Reihe  von  Bio- 
statiken, die  unter  seiner  Leitung  geschrieben  wurden.  Zunächst 
erschien  die  Arbeit  von  Walter  von  Kieseritzky  «Biostatik  der  im 
Fellinschen  Kreise  gelegenen  Kirchspiele  Oberpahlen,  Pillistfer  und 
Kl.-St.  Johannis  in  den  Jahren  1834—1880».  Dorpat  1882.  Dar- 
auf folgte  eine  Fortsetzung  der  Hübnerschen  Arbeit  von  Ottomar 
Grosset  «Biostatik  der  Stadt  Dorpat  und  ihrer  Landgemeinde  in 
den  Jahren  1860—1881».  Dorpat  1883.  Grossets  Schrift  dürfte 
wol  die  unbedeutendste  sämmtlicher  bisher  erschienenen  Biostatiken 
sein.  In  demselben  Jahre  erschienen  von  Erich  Oehrn  «Biostatik 
dreier  Landkirchspiele  Livlands  in  den  Jahren  1834—1881».  Dorpat 
1883,  und  von  Ewald  Kaspar  «Biostatik  der  Stadt  Libau  und  ihrer 
Landgemeinde  in  den  Jahreu  1834-1882».  Dorpat  1883.  End- 
lich wären  noch  die  zuletzt  veröffentlichten  Arbeiten  zu  nennen, 
einmal  die  von  Peter  Haller  «Biostatik  der  Stadt  Narva  nebst 
Vorstädten  und  Fabriken  in  den  Jahren  1860—1885».  Dorpat 
1886,  und  dann  die  Fortsetzung  der  Körberschen  Arbeit  von  Chr. 
Törne  «Biostatik  der  im  dörptschen  Kreise  gelegenen  Kirchspiele 
Ringen,  Randen,  Nüggen  und  Kawelecht  in  den  Jahren  1860  bis 
1881».  Dorpat  1886.  Ausser  den  genannten  Schriften  sind  auch 
noch  Arbeiten  erschienen,  die  nur  diesen  oder  jenen  Theil  einer 


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Beiträge  zur  Bevölkerungsstatistik  Estlands. 


225 


ßiostatik  berücksichtigen  und  meist  nur  wenige  Jahre  umfassen. 
Vielfach  ist  nun  unseren  Biostatiken  —  und  selbst  von  fach- 
männischer Seite  —  jeder  wissenschaftliche  Werth  abgesprochen 
worden,  doch,  wie  ich  glaube,  mit  Unrecht.  Es  muss  allerdings 
zugegeben  werden,  dass  bei  einem  so  wenig  umfangreichen  Material, 
wie  es  die  Biostatiker  aus  den  Kirchenbüchern  sammeln,  auf  Auf- 
deckung neuer  oder  Bestätigung  schon  gefundener  Gesetzmässig- 
keiten in  bevölkerungsstatistischer  Hinsicht  kaum  zu  rechnen  ist ; 
das  ist  aber  auch  nicht  der  Hauptzweck  jener  Arbeiten  geweseu  ; 
sie  sollten  ja  eben  in  der  Hauptsache  nur  das  Material  zu  einer 
baltischen  Biostatik  sammeln,  und  in  dieser  Beziehung  müssen  wir 
ihnen  entschieden  einen,  wenn  auch  nur  relativen,  Werth  für  unsere 
Wissenschaft  zuschreiben. 

Lässt  sich  nun  auch  allen  unseren  einheimischen  Biostatikern 
mit  Recht  der  Vorwurf  machen,  dass  ihre  Untersuchungen  ein  zu 
kleines  Beobachtungsfeld  umfassen,  ein  Misstand,  der  es  vielleicht 
nie  gestattet  hätte,  jenen  Plan  Schirrens  zu  verwirklichen,  so  gilt 
dieses  durchaus  nicht  von  einer  Arbeit,  die  nicht  unter  der  Be- 
zeichnung <  Biostatik  >  erschienen  ist,  im  wesentlichen  aber  doch 
denselben  Gegenstand  umfasst.  Ich  denke  hier  an  die  vorzügliche 
Arbeit  von  N.  Carlberg  tDie  Bewegung  der  Bevölkerung  Livlands 
in  den  Jahren  1873—1882»  (« Balt.  Mouatsschrift»  XXXIII,  l,  2, 3). 
Auf  die  Vorzüge  dieser  Arbeit  den  bisherigen  Biostatiken  gegen- 
über will  ich  hier  nicht  weiter  eingehen,  nur  so  viel  sei  kurz  er- 
wähnt, dass  Carlberg,  da  er  seine  Beobachtung  über  ganz  Livland 
ausgedehnt,  über  ein  bedeutendes  Zahlenmaterial  verfügt,  das  natür- 
lich weit  sicherere  Schlüsse  gestatten  muss,  als  ein  aus  Kirchen- 
büchern gesammeltes  Material.  Eine  derartige,  über  ein  grösseres 
Gebiet  sich  erstreckende  Arbeit  ist  aber  natürlich  nur  dort  möglich, 
wo  die  erforderlichen  Daten  für  eine  Reihe  von  Jahren  schon  nach 
bestimmten  Gesichtspunkten  gegliedert  und  geordnet  vorhanden 
sind,  wie  in  unseren  Provinzen  in  den  Bureaux  der  statistischen 
Comites. 

Auch  das  zur  vorstehenden  Arbeit  benutzte  Material  ist  den 
officiellen  Acten  eines  solchen  Bureau  —  des  estläudischen  —  ent- 
nommen«, und  möchte  ich  hier  einige  Worte  zur  Kritik  dieses 


1  Es  ist  mir  eine  angenehme  PHicht,  dem  Secretär  dieses  Bnreau  Herrn 
Jordan  auch  an  dieser  Stelle  meinen  Dank  für  die  mir  freundlichst  gestattete 
Benutzung  des  erwähnten  Materiiils  aussprechen  zu  diirfeu. 


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226 


Beiträge  zur  Bevölkerungsstatistik  Estlands. 


Materials  hinzufügen.  Das  für  die  Jahre  1860—84  auf  die  Be- 
völkerungsverhältnisse sich  beziehende  und  im  Comite  gesammelte 
Material  besitzt  nicht  für  den  ganzen  uns  interessirenden  Zeitraum 
dieselbe  Brauchbarkeit  und  Zuverlässigkeit  und  können  wir  bezüg- 
lich desselben  nach  dem  Vorgänge  .Jordans1  drei  Perioden  unter- 
scheiden. Die  erste  Periode  reicht  von  1860—1865  incl.  ;  in  diesen 
sechs  Jahren  wurde  das  Material  direct  von  der  Gouvernements- 
regierung gesammelt  und  zwar  in  der  Weise,  dass  die  lutherischen 
Prediger  Auszüge  aus  den  Kirchenbüchern  dem  Consistorium  und 
dieses  wiederum  die  betreffenden  Tabellen  über  die  Geborenen,  Ge- 
trauten und  Gestorbenen  der  Gouvemementsregierung  vorstellte. 
Ebenso  gingen  die  Auszüge  der  griechischen  Geistlichkeit  durch 
den  Blagotschinny  an  die  Gouvernementsregierung.  Derselben 
stellte  auch  der  katholische  Priester  die  Ergebnisse  der  Bevölkerungs- 
bewegung in  seiner  Gemeinde  vor,  desgleichen  die  Polizeiverwaltung 
bezüglich  der  Bewegung  der  jüdischen  und  die  Militärverwaltung 
bezüglich  der  muhamedanischen  Bevölkerung.  An  Zuverlässigkeit 
stehen  nun  die  Tabellen  der  griechischen  Geistlichkeit  bedeutend 
denen  der  lutherischen  und  wol  auch  denen  des  katholischen  Priesters 
nach,  wie  denn  überhaupt  das  Zahlenmaterial  aus  dieser  ersten 
Periode  nicht  durchgängig  zu  biostatischen  Arbeiten  geeignet  er- 
scheint und  zwar  besonders  durch  die  häutig  mangelhafte  Gliede- 
rung der  Tabellen.  So  werden  in  den  ersten  Jahren  dieser  Periode 
die  Todtgeboreuen  nie  getrennt  augegeben  ;  in  den  späteren  aller- 
dings getrennt,  aber  zum  Theil  nur  summarisch  für  die  Stadt-  und 
Landgemeinden.  Todtgeborene  griechischer  Confession  fehlen  für 
diese  Zeit  überhaupt.  Das  Alter  der  Gestorbenen  wird  nur  nach 
Jahrfünfen  angegeben,  die  Eheschliessungen  auch  nur  summarisch 
ohne  Gliederung  nach  dem  Oivilstande  der  Eheschliessenden ;  die 
Vertheilung  der  Geburten,  Sterbefälle  und  Heiraten  nach  Monaten 
fehlt  gänzlich.  Einige  dieser  Lücken  Hessen  sich  allerdings  durch 
Benutzung  anderer  Acten  beseitigen,  wo  dies  jedoch  nicht  möglich 
war,  konnte  ich  meine  Untersuchung  erst  mit  dem  Jahre  1866 
beginnen.  —  Anders  wird  es  nun  in  der  zweiten  Periode,  nachdem 
das  statistische  Gönnte"  ins  Leben  getreten.  Diese  zweite  Periode 
umfasst  neun  Jahre  (1866 — 74  incl.).  In  Folge  einer  Verfügung 
des  statistischen  Centralcomite  werden  jetzt  weiter  gehende  Gliede- 


1  Jordan,  ITehor  die  Kbi-srhlieHsnugcn  in  Estland  im  Verlauft'  von  24  Jahren 
(1854-1877  incl.).    «Balt,  Wochenwhr.i    Nr.  18,  19,  20. 


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Beiträge  zur  Bevölkerungsstatistik  Estlands.  227 

rungen  vorgenommen,  wie  z.  B.  die  nach  Monaten,  dann  bei  den 
Eheschliessungen  die  Gliederung  nach  dem  Civilstande  und  Alter 
der  Heiratenden.  Die  Tabellen  der  Gestorbenen  gestatten  jetzt 
weitgehende  Untersuchungen  und  eine  genaue  Berücksichtigung  der 
Kindersterblichkeit.  Auch  die  Todtgeborenen  werden  getrennt  nach 
dem  Legitimitätsverhältnis  angegeben,  wenigstens  bei  den  Prote- 
stanten. Die  Sammlung  der  Daten  geschieht  in  ähnlicher  Weise 
wie  früher,  nur  dass  die  Auszüge  aus  den  Kirchenbüchern  in 
Tabellenform  von  den  Predigern  direct  dem  Bureau  zugestellt 
werden.  —  Die  dritte  Periode  beginnt  1875  und  umfasst  in  unserer 
Arbeit  10  Jahre.  Das  auf  diese  Periode  bezügliche  Material  ist 
ein  vorzügliches,  indem  seit  1875  die  officielle  Statistik  in  unserer 
Provinz  allen  Ansprüchen  der  Wissenschaft  gerecht  geworden  ist. 
Durch  Beschluss  des  estländischen  statistischen  Comite  war  näm- 
lich in  dem  genannten  Jahre  die  Zählkartenmethode  eingeführt, 
wodurch  es  möglich  wurde,  die  früheren  Mängel  zu  beseitigen  und 
zugleich  Daten  zu  sammeln,  die  von  hohem  wissenschaftlichen  und 
praktischen  Werth  sind.  Auf  einen  Misstand  muss  ich  jedoch 
zum  Schluss  noch  hinweisen.  Die  Berechnung  einzelner  Verhältnis- 
Ziffern,  wie  z.  B.  der  Geburtenfrequenz,  der  Sterblichkeitsziffer  und 
der  Heiratsfrequenz,  ist  uns  besonders  für  die  ersten  der  von  uns 
zu  betrachtenden  Jahre  durch  die  mangelhafte  Kenntnis  der  Be- 
völkerungszahl fast  unmöglich  gemacht.  Ich  habe  allerdings  nach 
den  Acten  des  Bureau  die  Einwohnerzahl,  nach  Confessionen  ge- 
ordnet ,  für  sämmtliche  Jahre  festgestellt,  jedoch  können  diese 
Zahlen  —  und  dieses  gilt  namentlich  für  die  ersten  Jahre  —  keinen 
Anspruch  auf  Genauigkeit  erheben,  sie  beruhen  nämlich  für  die 
Jahre  1800—66  auf  den  unzuverlässigen  Angaben  der  Polizeiorgane 
und  können  daher  für  unsere  Zwecke  durchaus  keinen  Werth  haben. 
Von  1867  -81  berechnete  das  statistische  Bureau  auf  Grund  der 
früheren  Angaben  nach  dem  Zuwachs  oder  Ausfall  für  jedes  Jahr 
die  Bevölkerungsgrösse,  und  haben  wir  es  hier  somit  mit  etwas 
zuverlässigeren  Daten  zu  thun.  Eine  genaue  Kenutnis  der  Be- 
völkerungszahl des  gesammten  Landes  besitzen  wir  erst  seit  1881, 
indem  am  29.  December  des  genannten  Jahres  eine  allgemeine  Volks- 
zählung vorgenommen  wurde'.    Für  die  einzelnen  Städte  und  ein 


'  P.  Jordan,  Ergebnis  der  baltischeu  Volkszählung.  Reval  18b3— 86.  - 
Der»,  Die  Resultate  der  estlKndiachen  Volkszählung  am  29.  December  1881. 
Reval  1886. 


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228 


Beiträge  zur  Bevölkerungsstatistik  Estlands. 


kleines  Landgebiet  haben  wir  auch  schon  aus  früheren  Jahren 
sichere  Daten  über  die  Einwohnerzahl,  indem  hier  schon  früher 
Zählungen  stattfanden :  so  eine  Volkszählung1  am  6.  December 
1866  auf  den  Gütern  Johannishoff  und  Laakt  im  Kirchspiele 
St.  Jürgens  in  Harrien,  am  3.  November  1869  eine  Zählung1  in 
Wesenberg,  am  16.  November  1871  Volkszählungen'  in  fteval, 
Hapsal  und  Weissenstein  und  am  6.  December  1874  Volkszählungen« 
in  Wesenberg  und  Baltischport. 

Die  Geburten. 

Die  Geburtenfrequenz.  In  den  Jahren  1860—84 
sind  in  Estland  überhaupt  292203  Kinder  geboren  und  zwar  149452 
Knaben  und  142751  Mädchen.  Von  diesen  entfallen  nun  auf  die 
Protestanten    Griechen   Katholiken   Hebräer  Muhamedaner 

282429        8170  760  827  17. 

Unter  sämmtlichen  Geborenen  waren  ehelich  geboren  280636 
und  unehelich  Geborene  11454.  Auf  dem  Lande  beträgt  die  Zahl 
der  Geborenen  256356,  in  den  Städten  dagegen  35847,  und  zwar 
entfielen  nach  Kreisen  und  Städten  geordnet  auf 


Todtgeboren  wurden  in  den  erwähnten  25  Jahren  7094 ; 
Mehrgeburten  gab  es  3615  mit  7278  Geborenen».  Die  Bedeutung, 
welche  der  grössere  oder  geringere  Kinderreichthum  einer  Be- 

1  Beitrüge  zur  Statistik  des  Gouvernements  Estland.  Erster  Band.  Reval 
1867.    S.  85-106. 

•  N.  Dehio,  Resultate  der  in  der  Kreisstadt  Wesenberg  am  3.  November 
1869  stattgefundeuen  Volkszahlung.    Reval  1867. 

•  Jordan,  Die  Resultate  der  Volkszählung  der  Stadt  Reval  am  16.  Nov. 
1871.  Mit  einem  Anhange  über  die  Zahlung  in  Hapsal  und  Weissenstein. 
Reval  1874. 

•  Die  Volkszählung  in  Wesenberg  und  Baltisehport,  als  Nachtrag  zum 
vorhergebenden  AVerk.   Reval  1874. 

6  Wegen  Raummangels  bin  ich  leider  gezwungen,  auf  eine  Wiedergabe 
der  absoluten  Zahlen  meist  zu  verzichten  und  muss  mich  daher  vorherrschend  im 
Folgenden  auf  die  Verhältniszahlen  beschränken.  Wo  nicht  ausdrücklich  das 
Gegentheil  bemerkt  ist,  sind  die  Todtgeborenen  überall  in  den  Ziffern  mit  einge- 
rechnet ;  ich  kann  es  nicht  richtig  finden,  wenn  aus  vielen  Untersuchungen 
unserer  Biostatiken  die  Todtgeburten  ausgeschlossen  werden. 


Harrien  68880 

Wierland  86951 

Jerwen  40134 

die  Wiek  60391 


Reval  29536 

Baltischport  606 

Weseuberg  2643 

Weissenstein  1349 

Hapsal  1713. 


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Beiträge  zur  Bevölkerungsstatistik  Estlands.  229 

Völkerungsgruppe  für  das  gesammte  Land  sowol  in  socialer  als 
auch  politischer  Beziehung  hat,  muss  dazu  führen,  Mittel  aufzu- 
decken, durch  welche  sich  jener  Kinderreichthum  der  Gesellschaft 
messen  Hesse.  Ein  solches  Mittel  finden  wir  einmal  in  der  Fest- 
stellung der  Fruchtbarkeit  der  Ehen  und  dann  in  der  Bestimmung 
der  Häufigkeit  der  Geburten  —  der  Geburtenfrequenz.  Unter  der 
ehelichen  Fruchtbarkeit  haben  wir  nun  die  durchschnittlich  aus 
jeder  Ehe  während  ihrer  ganzen  Dauer  hervorgegangene  Kinderzahl 
zu  verstehen,  während  mit  Geburtenfrequenz  oder  Geburtenziffer 
das  Verhältnis  der  jährlichen  Geburtenzahl  zur  mittleren  Bevölke- 
rung des  Jahres  bezeichnet  wird.  Bei  der  Geburtenfrequenz  werden 
wir  weiter  eine  allgemeine  von  der  speciellen  unterscheiden  müssen: 
die  allgemeine  Geburtenfrequenz  giebt  das  Verhältnis  der  Geburten- 
menge zur  Gesammtbevölkerung  an,  die  specielle  dagegen  erhalten 
wir,  wenn  wir  das  Verhältnis  der  Geburtenzahl  zur  gebärfähigen 
weiblichen  Bevölkerung  feststellen.  Daraus  ergiebt  sich,  dass  in 
beiden  Fällen  eine  genaue  Kenntnis  der  Bevölkerungszahl  erforder- 
lich ist.  Diese  besitzen  wir,  wie  schon  erwähnt,  in  der  gewünschten 
Genauigkeit  nur  für  das  Jahr  1881 ;  wenn  ich  auch  für  einige  der 
früheren  Jahre  die  Geburtenfrequenz  berechnet  habe,  so  können 
diese  Ziffern  natürlich  keinen  Anspruch  auf  absolute  Genauigkeit 
erheben  ;  nichts  desto  weniger  werden  sie  der  Wahrheit  ziemlich  nahe 
kommen.  Wenden  wir  uns  zunächst  der  allgemeinen  Geburten- 
frequenz zu,  so  beträgt  dieselbe  (auf  1000  Einwohner  Geborene)  ■ 


1867 

1871 

1876 

1881 

in  Estland  .  . 

36,»» 

36,u 

84,,, 

3l„. 

auf  dem  Lande 

36,«3 

36,ii 

33,6i 

31„» 

in  den  Städten 

32,i« 

30,,. 

43,oi 

30,,, 

Mit  Ausnahme  eines  Jahres  ist  also  die  Geburtenfrequenz 
auf  dem  Laude  eine  grössere  als  in  den  Städten,  während  in 
unserer  Nachbarprovinz 1  die  ländliche  Geburtenfrequenz  von  der 
städtischen  übertroffen  wird.  Sowol  in  den  Städten  wie  auch  auf 
dem  Lande  lässt  sich  hier  eine  Abnahme  der  Geburtenfrequenz 
constatiren  ;  dasselbe  findet  auch  Carlberg»  in  Livland,  das  eine 
ähnliche  Geburtenziffer  wie  Estland  aufweist.  Vergleichen  wir 
Estland  mit  den  europäischen  Staaten,  so  ergiebt  sich  im  Durch- 
schnitt derselben  eine  gleich  hohe  Ziffer,  indem  sie  nach  Haushofer* 
30,,»  beträgt.   Für  Russland  berechnet  er  die  Geburtenfrequenz 

- 1  Carlberg,  a.  a.  O.  S.  48.  —   1  Der»,  a.  a.  0.  8.  46. 
•  Hanshofer,  Lehr-  und  Handbuch  der  Statistik.  2.  Aufl.  Wien  1882.  S.  130. 


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230  Beitrüge  zur  Bevölkerungsstatistik  Estlands. 

mit  49,! ,  Bracheiii1  sogar  mit  50.  Doch  dürfte  bei  dieser  Berechnung 
die  Bevölkerungszahl  Russlands  etwas  zu  niedrig  veranschlagt  sein, 
was  um  so  eher  möglich  ist,  als  wir  keine  genauen  Angaben  in 
dieser  Beziehung  besitzen.  Nehmen  wir  dagegen  die  Bevölkerung 
Russlands  nicht  mit  75—80  Mill.  -  wie  meist  geschieht  —  sondern 
mit  100  Mill  an,  so  erhalten  wir  Ziffern,  die  der  Wirklichkeit 
entschieden  näher  kommen,  und  würde  die  Geburtenfrequenz  in 
diesem  Falle  z.  ß.  für  das  Jahr  1880  (3678071  Geburten)'  36,« 
betragen,  also  bedeutend  näher  dem  europäischen  Durchschnitt 
stehen.  Während  zur  Ermittelung  der  allgemeinen  Geburtenfrequenz 
die  Zahl  der  Gesammtbevölkerung  genügt,  müssen  wir,  um  die 
specielle  Geburtenfrequenz  berechnen  zu  können,  die  Zahl  der 
gebärfähigen  weiblichen  Bevölkerung  kennen,  was  uns,  da  das  Ver- 
*  hältnis  dieser  zur  Gesammtbevölkerung  kein  constantes  ist,  nur  für 
die  Jahre  mit  Volkszählungen  möglich  wird.  Offenbar  haben  wir 
dann  auch  einen  exacteren  Ausdruck  gefunden,  als  ihn  uns  die  all- 
gemeine Geburten frequenz  zu  bieten  vermag.  Es  muss  sich  nuu 
die  Frage  aulwerfen,  welche  weiblichen  Personen  wir  als  zur  gebär- 
fähigen Bevölkerung  gehörig  anzusehen  haben.  Nach  Maurice 
Block»  erstreckt  sich  die  Gebärfähigkeit  vom  17.— 50.  Lebensjahre, 
nach  Mayr*  vom  15.— 45.,  nach  Rümelin»  vom  18.— 40.  Jahre.  Ich 
glaube  für  unsere  Verhältnisse  das  17.  Jahr  als  Anfang  der  Gebär- 
fähigkeit annehmen  zu  dürfen,  denn  wenn  diese  Fähigkeit  auch 
gewiss  schon  früher  vorhanden  ist,  so  werden  doch  hier  nur  ausnahms- 
weise von  jüngeren  Müttern  Kinder  geboren.  Das  Aufhören  der 
Zeugungsfähigkeit  des  Weibes  tritt  nun  nach  Hyrtl«  vor  dem  50. 
Jahre  ein,  und  werde  ich  daher  nicht  fehlgreifen,  wenn  ich  die  im 
Alter  von  17—45  Jahren  stehenden  Frauen  als  zu  den  gebär- 
fähigen gehörig  betrachte,  und  zwar  sowol  bei  Berechnung  der  ehe- 
lichen als  auch  der  unehelichen  speciellen  Geburtenfrequenz.  Es 
kamen  nun  im  Jahre  1881  auf  1000  gebärfähige  Frauen  Geborene: 
in  Estland  auf  dem  Lande  in  den  Städten 
I45,a.  146.9l)  136,,,. 

'  Brachem,  Die  Staaten  Europas.  4.  Aufl.   Brünn  1884.    S.  53. 
»  üothaer  Almanacli.    Jahrg.  1884.    S.  918. 

■  Handbuch  der  Statistik,  deutsche  Ausgabe  von  H.  v.  Scheel.  Leipzig 
1879.   S.  257. 

4  Die  (SeHctzuiassigkeit  im  (JeHellschaftHlebeii.    München  1877.    S.  244. 

*  Die  Bevolkerungslehre  in  Sehonhergs  Handbuch  der  politischen  Ökono- 
mie.  Tübingen  1882.    Bd.  I,  S.  1218. 

*  Hyrtl,  Lehrbuch  der  Anatomie  des  Menschen.  5.  Aufl.  Wien  1857.  S.  570. 


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Beiträge  zur  Bevölkerungsstatistik  Estlands.  231 

Wie  hieraus  ersichtlich,  erreicht  die  Geburtenhäufigkeit  auf 
dem  Lande  eine  bedeutendere  Höhe  als  in  den  Städten.  Ob  hier 
der  Unterschied  der  Wohnorte  oder  der  des  Berufs  diese  Ver- 
schiedenheit bewirkt,  lässt  sich  nicht  bestimmen  und  ist  auch  durch 
anderweitige  Untersuchungen  nicht  endgiltig  festgestellt  worden. 
Wappäus»  z.  B.  findet  sowol  Staaten  mit  höherer  ländlicher,  als 
auch  solche  mit  höherer  städtischer  Geburtenfrequenz,  und  scheint 
sich  somit  das  Verhältnis  zwischen  ländlicher  und  städtischer  Ge- 
burtenziffer unter  keine  Regel  bringen  zu  lassen.  Grosse  Schwan- 
kungen bezüglich  dieser  Ziffer  ergeben  sich  für  die  einzelnen  Kreise 
nicht,  wohl  aber  für  die  Städte,  und  lässt  sich  hier  ein  Anwachsen 
der  speciellen  Geburten frequenz  eonstatiren,  indem  diese  Zahl  in 
Reval  von  128, u  im  Jahre  1871  auf  135, 0t  im  Jahre  1881  und  in 
Wesenberg  von  96,, i  (1869)  auf  162,79  (188 1 )  gestiegen  ist. 

Betrachten  wir  jetzt  die  specielle  eheliche  und  uneheliche 
Geburtenfrequenz  getrennt,  so  finden  wir,  dass  im  .Fahre  1881  ge- 
boren wurden  auf  1000  gebärfähige 

verheiratete  Frauen  :    ledige  Frauen  : 
Estland       257,3«  ll,i8 
Land  257,«  11 .,, 

Stadt         257,.,  II*». 

Wie  überall,  so  ist  also  auch  hier  die  uneheliche  Geburten- 
frequenz in  den  Städten  grösser  als  auf  dem  Lande,  wenngleich 
der  Unterschied  kein  bedeutender  ist.  Zugleich  ergiebt  sich  aus 
den  angeführten  Ziffern,  dass  bei  steigender  ehelicher  Geburten- 
frequenz die  uneheliche  fällt  und  umgekehrt,  eine  Erscheinung,  die 
sich  auch  bei  den  von  Mayr»  angeführten  Ziffern  beobachten  lässt. 

Suchen  wir  jetzt  die  etwaigen  Ursachen  für  die  verschiedenen 
Geburtenziffern  aufzudecken. 

Vielfach  ist  die  Behauptung  ausgesprochen  worden ,  dass 
zwischen  der  Geburtenfrequenz  eines  Landes  und  seiner  Heirats- 
frequenz ein  gewisser  Zusammenhang  stattfände.  Einen  ziffer- 
mässigen  Nachweis  hat  man  jedoch  für  diese  Behauptung,  so  viel 
mir  bekannt,  nicht  zu  führen  vermocht,  wie  denn  auch  die  Ansichten 
über  das  Wesen  dieses  Zusammenhanges  sich  zum  Theil  geradezu 
widersprechen :  während  die  einen  behaupten,  mit  der  Heirats- 
frequenz steige  auch  die  Geburten  frequenz  und  umgekehrt,  meinen 
die  anderen,  die  Geburtenfrequenz  stehe  im  umgekehrten  Verhältnis 

1  Wappaus,  All»?.  KrvulkeruiiKrtHtrttistik,  18->9.    Th.  II.  S.  481. 
»  a.  a.  0,  S  244. 


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232 


Beiträge  zur  Bevölkerungsstatistik  Estlands. 


zur  Heiratsfrequenz.  Für  Estland  lasst  sich  ein  derartiger  innerer 
Zusammenhang  keineswegs  nachweisen,  und  verzichte  ich  auch  aus 
diesem  Grunde  auf  die  Anführung  der  betreffenden  Ziffern.  Wenn  nun 
auch  die  Heiratsfrequenz  keinen  directen  Einfluss  auf  die  Geburten- 
häufigkeit ausübt,  so  werden  wir  doch  gleich  einen  anderen  mass- 
gebenden Factor  kennen  lernen,  der  zum  Theil  in  Verbindung  mit 
dem  Heiratsalter  Verschiedenheiten  in  der  Geburtenzahl  bewirken 
kann ;  es  sind  das  confessionelle  oder  wol  richtiger  nationale  Ein- 
flüsse. Haushofer'  sowol  wie  Rümelin»  finden,  dass  sich  die  Völker- 
schaften slavischen  Ursprunges  durch  eine  starke  Geburtenziffer 
auszeichnen,  eine  Behauptung,  die  auch  durch  unsere  Ziffern  be- 
stätigt wird.  Es  betrug  die  allgemeine  Geburtenfrequenz  1881 
bei  den 

Lutheranern   Griechen   Katholiken  Juden 
Estland       3i,7,         20,„,  22,,»  44,,, 

Land         31,7t         13,,,         —  — 
Stadt         Sl*i  26,,0         27,™  45,»,. 

Die  stärkste  Geburtenfrequenz  zeigen  demnach  die  Juden, 
was  mit  den  bisherigen  Untersuchungen  vollständig  übereinstimmt; 
darauf  folgen  die  Lutheraner,  d.  h.  Deutsche  und  Esten,  dann  die 
Katholiken  und  endlich  die  Griechen.  Die  städtischen  Griechen, 
d.  h.  die  Rassen,  weisen,  wie  ersichtlich,  eine  bedeutend  grössere 
Ziffer  auf  als  die  ländlichen,  die  zum  Theil  Esten  sind.  Während 
im  Vorhergehenden  die  Behauptung  ausgesprochen  wurde,  dass  die 
Slaven  eine  besonders  starke  Geburtenfrequenz  besitzen,  haben  wir 
hier  gerade  das  Gegentheil  gefunden,  doch  ist  die  niedrige  Geburten- 
zifler  der  Griechen  eben  nur  eine  scheinbare,  die  durch  den  starken 
Männerüberschuss  (actives  Militär)  unter  den  städtischen  Russen 
hervorgerufen  wird.  Wir  werden  daher  zu  ganz  anderen  Ergeb- 
nissen gelangen,  sobald  wir  die  specielle  Geburtenfrequenz  für  die 
verschiedenen  Nationalitäten  berechnen. 

Es  kamen  nämlich  in  Reval  1881  auf  1000 

gebärfähige  Ehe-   nicht  in  d.  Ehe  lebende  gebäifähige 
frauen  gebärfähige  Frauen  Frauen 

bei  den        ehelich  Geborene  unehelich  Geborene     Geborene  überh. 

Lutheranern        247,»,  6,,.  127.,* 

Griechen  308,»«  47,0«  191,« 

Katholiken  298,.»  12,„»  158,,, 

Hebräern  308,,»  28,„  232,«. 

•  a.  a.  O.  S.  183.        1  a.  a.  0.  S.  1219. 


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Beiträge  zur  Bevölkerungsstatistik  Estlands  233 


Hieraus  geht  deutlich  hervor,  dass  die  Fruchtbarkeit  der 
Slaven  auch  bei  uns  eine  bedeutend  grössere  ist,  als  bei  den  anderen 
Nationalitäten,  und  nur  von  der  der  Juden  übertroffen  wird.  Welches 
sind  die  Ursachen  dieser  Erscheinung?  Von  klimatischen  Einflüssen, 
von  Einflüssen  des  wirtschaftlichen  Berufs,  des  Wohnortes  &c. 
müssen  wir  absehen,  da  alles  dieses  dann  auch  die  übrigen  Nationa- 
litäten in  derselben  Weise  beeinflussen  müsste.  Dagegen  ist  der 
Grund  jener  hohen  Geburtenfrequenz  bei  den  Slaven  in  der  Sitte 
des  frühen  Heiratens  und  der  damit  verbundenen  starken  Besetzung 
gerade  der  fruchtbarsten  Altersklassen  der  weiblichen  Bevölkerung 
zu  suchen.  Denn  wie  überall,  so  ist  auch  in  Estland  das  mittlere 
Heiratsalter  der  Russen  ein  niedrigeres  als  das  der  Lutheraner : 
dasselbe  gilt  auch  von  den  Juden  und  Katholiken.  So  kommen 
1881  auf  1000  verheiratete  Frauen  solche  im  Alter  bis  zu  30 
Jahren  bei  den  eheliche  Geburtenfrequenz 

Protestanten    293,,.  247,«,  . 

Griechen        417,,.  308,.. 

Katholiken      436,,.  298,.. 

Juden  505,o.  308,i4. 

Einen  noch  bedeutenderen  Einfluss,  als  vielleicht  confessionelle 
oder  nationale  Eigentümlichkeiten,  üben  wirtschaftliche  Verhält- 
nisse auf  die  Geburtenfrequenz  eines  Landes,  allerdings,  wie  ich 
gleich  hinzufügen  will,  meist  nur  indirect  aus.  Diesen  Einfluss 
ökonomischer  Zustände  erkannte  schon  Süssmilch,  und  weitere  Unter- 
suchungen konnten  diese  Behauptung  nur  bestätigen.  Betrachten 
wir  die  absolute  Zahl  der  Geborenen  während  einer  längeren 
Periode,  so  sehen  wir,  dass  sich  diese  Zahl  nicht  regellos  von  Jahr 
zu  Jahr  verändert,  wir  finden  im  Gegenteil  zeitliche  Ueberein- 
stimmungen,  die  uns  —  wie  Mayr«  treffend  sagt  —  ahnen  lassen, 
dass  hier  die  primitivste  Form  einer  Gesetzmässigkeit  in  der  Fort- 
pflanzung der  Menschen  liegt.  Bei  gleichbleibenden  Verhältnissen 
werden  die  Schwankungen  in  den  einzelnen  Jahren  nur  geringe 
sein  ;  zeigen  sich  aber  grössere  Schwankungen,  dann  können  wir 
diese  meist  auf  Aenderungen  in  den  ökonomischen  Zuständen  zurück- 
führen. Diese  wirtschaftlichen  Verhältnisse  beeinflussen,  wie  schon 
gesagt,  nicht  immer  direct  die  Höhe  der  Geburtenzahl,  sondern  oa 
nur  indirect,  indem  sie  zunächst  die  grössere  oder  geringere  Heirats- 
frequenz, was  auch  Rümelin»  betont,  veranlassen,  die  dann  ihrer. 


'  ».  n.  O.  S.230.        *  a.  n.  <  >.  S.  131». 


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234  Beiträge  zur  Bevölkerungsstatistik  Estlands. 

seits  ein  Sinken  oder  Steigen. der  Geburtenfrequenz  zur  Folge  hat. 
Die  günstige  ökonomische  Lage  einer  Bevölkerung  gestattet  einem 
grösseren  Theile  derselben  zur  Ehe  zu  schreiten ;  folgen  auf  gute 
Jahre  schlechte,  so  wird  sich  dieses  sofort  in  einer  sinkenden 
Heiratsfrequenz  äussern  und  umgekehrt  und  dementsprechend  eine 
Verminderung  oder  Vermehrung  der  Geburtenzahl  bewirken.  Aber 
nicht  blos  durch  eine  Verminderung  der  Heiratszilfer  wird  die 
Geburtenhäufigkeit  nach  wirtschaftlich  ungünstigen  Jahren  zurück- 
gehen, Zeiten  der  Noth  rufen  auch  an  sich  schon  eine  Abnahme 
der  Kinderzeugung  hervor. 

Es  fragt  sich  nun.  welches  die  Typen  solcher  Ursachen  sind, 
die  eine  Zu-  oder  Abnahme  der  Eheschliessungen  und  etwa  im 
folgenden  Jahre  der  Geburten  bedingen  und  durch  die  sich  die 
jeweiligen  wirtschaftlichen  Zustände  charakterisiren  lassen.  Einen 
vorzüglichen  Massstab  bieten  uns  hier  die  Preise  der  wichti- 
geren Nahrungsmittel ,  denn  ihre  Schwankungen  weisen  meist 
auch  auf  Schwankungen  im  Wohlbefinden  einer  Bevölkerung  hin. 
Ich  halte  mich,  wie  Mayr1 ,  im  Folgenden  an  die  Preise 
des  Roggens,  als  des  wichtigsten  Nahrungsmittels  eines  grossen 
Theiles  der  Bevölkerung.  Die  hier  angeführten  Roggenpreise 
sind  Durchschnittspreise,  die  ich  zum  grössten  Theil  den  An- 
gaben des  Herrn  Secretär  Jordan  verdanke.  Für  das  Jahr  1879 
habe  ich  die  Durchschnittspreise  nach  den  monatlichen  Angaben 
der  revaler  Börse»  und  für  die  Jahre  1880—1884  nach  den 
Angaben  des  statistischen  Bureau  des  revaler  Börsencomite»  über 
den  Export  berechnet.  Die  angeführten  Preise  dürften  durchaus  — 
ausgenommen  vielleicht  das  Jahr  1878,  für  welches  ich  keine 
sicheren  Angaben  erhalten  konnte  —  Anspruch  auf  Zuverlässigkeit 
erheben.  Im  Folgenden  führe  ich  in  der  einen  Reihe  die  Preise 
des  Roggens  in  Kopeken  pro  Tschetwert  an  und  in  der  nebenan- 
stehenden Reihe  die  absolute  Zahl  der  in  Estland  Geborenen, 
jedoch  so,  dass  neben  dem  Roggenpreise  des  einen  Jahres  stets 
die  Geburtenzahl  des  folgenden  Jahres  steht,  denn,  wie  schon  er- 
wähnt, werden  die  Schwankungen  in  den  Getreidepreisen  ent- 
sprechende Schwankungen  in  den  Geburtenzahlen  meist  erst  im 
folgenden  Jahre  nach  sich  ziehen. 

1  a.  a.  0.  S.  1219. 

•  "Revanche  Zeitung».  Jahrg.  187H. 

*  Beiträge  zur  Statistik  <les  Handel*  von  Keval  und  Balttafaport.  Hig. 
vom  hanilelsstatist.  Bureau  lies  revaler  Borseiieoinite    .lalirir.  1880—  84. 


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Beiträge  zur  Bevölkerungsstatistik  Estlands.  235 


Kalenderjahr  Preis  pro  Tsohetwert  Roggen    Absol.  Zahl  d.  Geborenen  Kalenderjahr 


1859 

543 

1 99 1 3 

lOOU 

18G0 

592 

1 9 1  f  19 

1ÖO  1 

1861 

L  V/VJ  L 

703 

11814. 

Holt 

1  8fi9 

1862 

»  www 

697 

1 948<1 

i  -  iOO 

I8fl3 

1  OUO 

1863 

628 

1864 

546 

1 90'-t9 

18fi^ 

1865 

671 

1 1  7  7 -'S 

L  JL 1  Iii 

1  ooo 

1866 

757 

1 1693 

1CU  4 

1867 

857 

101  7*» 

IUI  4  cJ 

1  8fl8 

1868 

1200 

931 ''S 

1  8fiQ 

1869 

1063 

1 1047 

1870 

1870 

740 

11899 

187  1 

lO  4  l 

1871 

786 

10917 

1872 

1872 

755 

11761 

1873 

1873 

700 

1  v/v/ 

12015 

1874 

1874 

846 

11843 

1875 

IO  4  O 

1875 

700 

1 1977 

187P» 

lo  4  ü 

1876 

700 

•  UV 

12087 

1  877 

IO  4  4 

7ön 

1878 

809 

11795 

1879 

1879 

867 

11259 

1880 

1880 

1049 

1 1698 

1881 

1881 

1100 

11871 

1882 

1882 

900 

11904 

1883 

1883 

900 

12073 

1884 

Mit  weuigen  Ausnahmen  correspondiren  steigende  Roggen- 
preise mit  fallender  Geburtenzahl,  fallende  Roggenpreise  mit  steigen- 
der Geburtenzahl.  Eine  Ausnahme  von  der  gefundenen  Regel 
machen  die  Jahre  1865,  1879,  1881  und  1882,  auf  die  ich  im 
Folgenden  speciell  zurückkommen  werde. 

Nach  Beendigung  des  Krimkrieges  begann  unser  Land,  das 
nicht  wenig  in  den  Kriegsjahren  zu  leiden  gehabt  hatte,  sich  zu 
erholen ;  die  Hoffnung  auf  Ruhe,  auf  geordnete  Verhältnisse  lasst 
die  Zahl  der  Eheschliessungen  und  somit  auch  der  Geburten  steigen, 
wozu  die  bis  zum  Jahre  1864  meist  guten  Ernten  nicht  wenig  bei- 
trugen. Von  1863  auf  1864  fallen  die  Getreidepreise,  zugleich 
aber  auch  in  den  folgenden  Jahren  die  Zahl  der  Geborenen,  was 
wol  eine  Wirkung  der  höheren  Preise  in  den  vorhergehenden  Jahren 
ist.    Mit  dem  Jahre  1865  tritt  ein  Rückschlag  ein,  die  Jahre 

B»Ui«ch©  Monat**ebrifl.  Bd.  XXXIV.    H«ft  I.  16 


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23(3 


Beiträge  zur  Bevölkerungsstatistik  Estlands. 


1805,  1866,  1867  und  1868  bilden  eine  schwere  Zeit  für  unser 
Land,  es  sind  das  Jahre  der  Misernten,  des  völligen  Miswachses 
und  der  Viehseuchen ;  die  Roggenpreise  steigen,  die  Geburten  ver- 
mindern sich.    Dazu  kommt  nun  noch  das  «Tahr  1869  —  in  wirt- 
schaftlicher Beziehung  das  schlimmste  für  Estland  in  der  von  uns 
beobachteten  Periode.    Gefährliche  Epidemien  raubten  dem  Lande 
einen  grossen  Theil  seiner  Bewohner,  ja  die  Sterblichkeit  war  eine 
so  grosse,  dass  der  Ueberschuss  der  Gestorbenen  über  die  Ge- 
borenen 5009  Individuen  betrug.    Natürlich  musste  durch  den  Tod 
eines  bedeutenden  Theiles  der  gebärfähigen  Bevölkerung  eine  starke 
Abnahme  der  Geburten  hervorgerufen  werden,  wozu  noch  der  un- 
gemein hohe  Roggenpreis  dieses  Jahres  wesentlich  beitrug.  Nun 
folgen  wieder  bessere  Jahre,  Jahre  mit  besseren  Ernten.    Der  Bau 
und  die  Eröffnung  der  Baltischen  Eisenbahn  (1870)  und  die  damit 
verbundene  Hebung  von  Handel  und  Verkehr,  sowie  die  niedrigen 
Getreidepreise  rufen  auch  eine  Vermehrung  der  Geburtenzahl  her- 
vor, bis  gegen  Ende  der  siebziger  Jahre  wieder  ein  Rückschlag  ein- 
tritt, der  jedoch  seit  1880  trotz  der  hohen  Roggenpreise  besseren 
Verhältnissen  Platz  zu  machen  scheint.    Kaum  wird  sich  das  auch 
von  den  Jahren  1885  und  1886  sagen  lassen,  doch  entziehen  sich 
diese  Jahre  hier  unserer  Betrachtung.    Ausser  dem  Jahre  1865  — 
von  1879  will  ich  nicht  weiter  sprechen,  da  der  Durchschnittspreis 
hier  vielleicht  ungenau  ist  —  zeigten  noch  die  Jahre  1881  und 
1882  Ausnahmen  von  der  gefundenen  Regel.    Das  Jahr  1880  war 
durch  den  totalen  Miswachs  ein  entschieden  kritisches  für  Russland ; 
der  Roggenexport 1  z.  B.  fiel  von  12020222  Tschetwert  im  Jahre 
1879  auf  5969987  Tschetwert  (1880);   1881  nahm  der  Roggen- 
export noch  mehr  ab  und  betrug  er  nach  Matthaei»  4,,«  Mill. 
Tschetwert.    Weniger  als  das  übrige  Russland  hatte  in  diesen 
beiden  Jahren  Estland  zu  leiden.    Einmal  waren  hier  die  Ernten 
besser  als  in  den  russischen  Gouvernements,  dann  mögen  hier  aber 
auch  grössere  Vorräthe  aus  früheren  Jahren  vorhanden  gewesen 
sein,  während  die  im  Inneren  des  Reiches  1880  eingetretenen  Noth- 
stände  gerade  auf  den  alle  Vorräthe  absorbirenden  Roggenexport 
des  Jahres  1879  zurückgeführt  werden.    Waren  daher  auch  in 
unserer  Provinz  die  Getreidepreise  in  Folge  der  starken  Nachfrage 

1  Xeumann-Spallart,  Uebersichten  der  Weltwirtschaft.  Jahrg.  1880.  Stutt- 
gart 1881.    S.  80. 

*  Die  wirtschaftlichen  Hilfsquellen  Kusslands.   Dresden  1883-85.  Bd.  II, 
S.  135. 


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Beiträge  zur  Bevölkerungsstatistik  Estlands.  237 


recht  hoch,  so  waren  die  hohen  Preise  doch  keineswegs  ein  Zeichen 
wirtschaftlichen  Nothstandes  und  konnte  daher  eine,  wenn  auch 
schwache,  Steigerung  der  Geburtenzahl  erfolgen,  während,  nach  den 
Getreidepreisen  zu  urtheilen,  ein  Fallen  der  Geburten  zu  erwarten 
gewesen  wäre.  Wir  sehen  also,  dass  diese  wenigen  Jahre,  von 
denen  wir  eben  gesprochen,  nur  eine  scheinbare  Ausnahme  bilden, 
da  ihre  Abweichungen  durch  andere,  wie  es  scheint,  wirksamere 
Factoren  veranlasst  werden.  Zu  ähnlichen  Resultaten  bezüglich 
des  Einflusses  der  Getreidepreise  gelangen  auch  Kieseritzky1  und 
zum  Theil  auch  Haller1  in  ihren  Biostatiken. 

Wenden  wir  uns  einer  neuen  Betrachtung  zu,  der  Vertheilung 
der  Geburten  nach  Monaten.  Natürlich  werden  wir  vom  Monat 
der  Geburt  meist  absehen  und  anstatt  dessen  von  dem  der  Con- 
ception  ausgehen  müssen,  wobei  sich  dann  bald  ergeben  wird,  dass 
sowol  physische  als  auch  sociale  Momeirte,  Klima,  sowie  Ein-  . 
richtungen  und  Gewohnheiten  ein  Steigen  der  Geburtenziffer  in 
einem  und  ein  Fallen  derselben  im  anderen  Monat  bewirken  können. 
Dass  diese  physischen  Ursachen  im  Thierleben  eine  fast  ausschliess- 
liche Geltung  besitzen,  ist  eine  längst  beobachtete  und  bekannte 
Thatsache,  die  den  Forscher  veranlassen  musste,  zu  ermitteln,  ob 
auch  die  menschliche  Gesellschaft  solchen  herrschenden  Factoren 
unterworfen  sei.  Nach  den  Arbeiten  von  Wargentin,  Villerm6, 
Quetelet,  Wappäus,  Sormani  und  anderen  ist  der  Einfluss  der 
Jahreszeiten  auf  die  Häufigkeit  der  Geburten  als  erwiesen  zu  be- 
trachten, und  zwar  erkannte  man,  dass  zu  den  in  der  Thierwelt 
wirkenden  physischen  Factoren  im  menschlichen  Gesellschaftsleben 
noch  eiu  anderer  hinzukommt,  ein  Factor  rein  socialer  Natur.  Dar- 
aus geht  auch  hervor,  dass  jener  das  Thierleben  beherrschende 
Factor  nicht  auch  dieselbe  Gesetzmässigkeit  im  Menschenleben 
hervorrufen  kann,  weil  eben  seine  Wirkung  hier  vielfach  durch 
sociale  Ursachen  abgeschwächt  oder  ganz  verdrängt  wird.  Bevor 
ich  dazu  übergehe ,  die  Gesetzmässigkeiten  der  erwähnten  Er- 
scheinungen auch  für  unsere  Provinz  nachzuweisen,  möchte  ich 
kurz  die  Resultate  anführen,  zu  denen  Wappäus\  der  seine  Unter- 
suchungen auf  eine  Reihe  von  Staaten  ausdehnte,  gelangt  ist. 
Wappäus  findet  im  Durchschnitt  der  europäischen  Staaten  in  jedem 
Jahre  ein  zweimaliges  Steigen  und  Fallen  der  Geburtenziffer,  und 
zwar  fällt  das  erste  Maximum  nach  ihm  auf  den  Februar  und 

•  a.  a.  0.  S.  L>2  ff        »  a.a.  0.  S.  M  fl.        "  a.  a.  0.  S.  2.JI  ff. 

16* 


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238  Beiträge  zur  Bevölkerungsstatistik  Estlands. 


März,  das  zweite  auf  den  September;  die  entsprechenden  Conceptions- 
monate  wären  also  für  das  erste  Maximum  Mai  und  Juni,  für  das 
zweite  der  December.  Für  das  erste  Maximum  sind  die  Ursachen 
nach  ihm  in  der  Natur,  für  das  zweite  dagegen  in  der  Gesellschaft 
zu  suchen.  Sormani*  berücksichtigt  bei  seiner  Untersuchung  zu- 
gleich auch  die  geographische  Lage  der  einzelnen  Länder  und  con- 
statirt,  dass,  je  südlicher  diese  Lage  sei,  um  so  näher  zum  Jahres- 
anfang das  Frühlingsmaximum  der  Empfängnisse,  je  nördlicher,  um 
so  näher  zum  December  das  Herbstmaximum  der  Conceptionen  falle. 

Was  nun  Estland  betrifft,  so  sei  zunächst  erwähnt,  dass  die 
angeführten  Zahlen  sich  auf  die  Jahre  18(30 — 84  beziehen,  weil 
in  den  früheren  Jahren  eine  Gliederung  der  Geburten  nach  Monaten 
in  den  officiellen  Acten  nicht  stattfindet.  Bei  42  Kindern  der 
griechischen  Gemeinden  fehlt  die  Angabe  des  Geburtsmonats  und 
.  bleiben  sie  daher  unberücksichtigt.  Im  Anschluss  an  ähuliche  sich 
auf  die  Ostseeprovinzen  beziehende  Arbeiten  habe  ich  im  Folgenden 
eine  Reduction  der  Monate  auf  30  Tage  vorgenommen.  Es  ent- 
fallen nun  Geburten : 


auf  den  Monat 

in  E.st]an<l 

auf  (1.  Lande 

in  d.  Städten 

Conceptiousinonat 

Januar 

20948,,, 

18309,., 

2639,,,, 

April 

Februar 

20275,,, 

17756,,» 

2518,,, 

Mai 

März 

19128,3. 

16738,0. 

2390,,, 

Juni 

April 

16325,,, 

14152,00 

2173,oo 

Juli 

Mai 

15292,,, 

13184,», 

2107,,, 

August 

Juni 

15976,00 

13810,oo 

2166,oo 

September 

Juli 

1(3315,,. 

14042„0 

2272,,, 

October 

August 

16614,,, 

14433,,, 

2177,,, 

November 

September 

19012,00 

16617,o0 

2395,oo 

December 

October 

18841,., 

15971„o 

2370)0o 

Januar 

November 

18353,0. 

15964„o 

2389„o 

Februar 

December 

18900,,. 

16648,o. 

2252,,0 

März 

im  Durchschnitt 

17956,,, 

15635,c 

2320,,,. 

Zunächst  ergiebt  sich,  dass  auch  hier  deutlich  zwei  Maxima 
der  Conceptionen  hervortreten  ;  das  erste,  das  absolute,  das  Früh- 
jahrsmaximum, fällt  auf  den  April,  das  zweite,  das  Herbstmaximum, 
auf  den  December  —  eine  Erscheinung,  die  von  den  Beobachtungen 
Wappäus'  abweicht,  die  aber  die  Untersuchungen  Sonnanis  bestätigt. 
Estland  hat  eine  nördliche  Lage  —  das  Frülijahrsmaximum  nähert 


1  Cit.  bei  Mayr  a.  a.  ü.  S.  241. 


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Beiträge  zur  Bevölkerungsstatistik  Estlands.  239 

sich  dem  Jahresanfang,  das  Herbst maximum  fällt  sogar  mit  dem 
letzten  Monat  des  «Jahres  zusammen. 

Wollen  wir  eine  Erklärung  für  die  Abweichungen  vom  Durch- 
schnitt geben,  so  werden  wir  zunächst  sagen  können,  dass  das 
erste  Maximum  der  Empfängnisse  —  das  Aprilmaximum  —  durch 
physische  Ursachen  bedingt  wird.  Mit  dem  Erwachen  der  Natur 
im  März  scheint  auch  das  geschlechtliche  Zusammenleben  ein  regeres 
zu  werden,  wie  dieses  sich  ganz  besonders  bei  der  ländlichen  Be- 
völkerung zeigt,  während  bei  der  städtischen  eine  Vermehrung  der 
Conceptionen  schon  im  Februar  beginnt.  Dieses  geschlechtliche 
Zusammenleben  erreicht  sowol  auf  dem  Lande,  als  auch  in  den 
Städten  seinen  Höhepunkt  im  April,  woraus  deutlich  die  Einwirkung 
der  Natur  hervorgeht.  Dieser  natürliche  Factor  würde  auch  noch 
im  Mai  seine  Wirksamkeit  äussern,  wenn  er  nicht  durch  einen 
anderen,  socialen,  sich  verdrängen  lassen  raüsste :  die  Conceptionen 
vermindern  sich,  weil  in  Folge  der  beginnenden  Feld-  und  Saat- 
arbeiten der  geschlechtliche  Verkehr  mehr  zurücktritt.  Auf  die 
Saatbestellung,  die  bis  in  den  Juni  hineinreicht,  folgt  die  Heuzeit, 
die  Erntezeit  überhaupt,  die  den  Landmann  den  Sommer  hindurch 
beschäftigt  und  besonders  im  August  seine  ganze  Thätigkeit  in 
Anspruch  nimmt.  Dem  entsprechend  sehen  wir  auch  ein  regel- 
mässiges Fallen  der  Geburtenzahl,  bis  sie  im  August  ihren  minimal- 
sten Stand  erreicht  hat.  Vielleicht  offenbart  sich  in  diesem  Fallen 
auch  der  Einfluss  der  erschlaffenden  Sommerhitze.  Befremden  muss 
es  uns,  dass  sich  auch  bei  der  städtischen  Bevölkerung  dieselbe 
Regelmässigkeit  offenbart.  Doch  dürfte  sich  dieses  zum  Theil  woi 
daraus  erklären,  dass  bei  der  städtischen  Bevölkerung  vielfach  im 
Sommer  eine  Trennung  der  Familien  stattfindet,  indem  ein  Theil 
der  arbeitenden  Klassen  im  Sommer  aufs  Land  geht,  um  sich  dort 
einen  Erwerb  zu  suchen.  Dass  die  angeführten  Ursachen  aus- 
schliesslich und  direct  jenes  Fallen  und  Sinken  der  Geburtenzahl 
bewirken,  soll  durchaus  nicht  behauptet  werden,  häufig  werden  sie 
nur  indirect  —  und  dieses  gilt  besonders  von  den  socialen  Factoren 
—  jene  Wirkung  äussern,  wie  sich  auch  aus  Folgendem  ergeben 
dürfte.  Das  Frühjahrsmaximum  der  Eheschliessungen  fällt  in 
unserer  Provinz  —  wenigstens  auf  dem  Lande  —  in  den  März,  was 
wol  weniger  auf  das  «Erwachen  der  Natur>,  als  vielmehr  auf  das 
Streben  der  Landbewohner  zurückzuführen  wäre,  noch  vor  Beginn 
der  ländlichen  Arbeiten  zu  heiraten ;  dieses  Maximum  der  Heiraten 
wird  natürlich  eine  Zunahme  der  Empfängnisse  im  März  und  April 


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240  Beiträge  zur  Bevölkerungsstatistik  Estlands. 


zur  Folge  haben.  Es  bewirkt  also  neben  der  früher  angegebenen 
physischen  Ursache  auch  eine  sociale  —  die  grössere  Heirats- 
frequenz —  das  Frühjahrsmaximum  der  Conceptionen.  Vom  März 
nimmt  die  Zahl  der  Eheschliessungen,  durch  jene  früher  erwähnten 
socialen  Ursachen  bewirkt,  ab,  um  im  August  ihren  niedrigsten 
Stand  zu  erreichen  ;  dieser  Abnahme  der  Heiraten  entsprechend 
vermindert  sich  auch,  wie  wir  sahen,  die  Zahl  der  Conceptionen 
constant  bis  in  den  August  Es  wirken  hier  also  sowol  die  socialen 
Factoren  direct,  als  auch  indirect  —  durch  Verminderung  der 
Eheschliessungen  —  auf  die  Empfängnisse  und  Geburtenhäufigkeit 
ein  und  scheint  mir  die  Behauptung  Kluges«,  dass  der  Heiratsfrequenz 
kein  derartiger  Einfluss  zukomme,  durchaus  unhaltbar.  Mit  dem 
September  beginnt  nun  für  den  Landmann  meist  ein  ruhigeres  und 
bequemeres  Leben ,  die  Ernten  sind  glücklich  eingebracht ,  die 
schwersten  Arbeiten  überstanden,  die  Nahrung  wird  eine  bessere, 
die  Heiratszift'er  wächst  und  dem  entsprechend  nimmt  die  Zahl  der 
Conceptionen  zu,  bis  das  Decembermaximum  erreicht  ist.  lu  den 
Städten  zeigt  sich  allerdings  im  November  eine  Abnahme  der  Con- 
ceptionen, was  sich  daraus  erklären  lässt,  dass  in  diesem  Monat 
in  den  Städten  im  Gegensatz  zum  Lande  eine  Abnahme  der  Ehe- 
schliessungen  stattfindet. 

Dieses  Decembermaximum  wird  nun  durch  ausschliesslich 
sociale  Ursachen  hervorgerufen,  und  zwar  dürfte  es  wol  in  erster 
Linie  die  hohe  Zahl  der  Eheschliessungen  sein,  die  auf  den  December 
fällt  und  mithin  ein  Anschwellen  der  Conceptionszitfer  veranlasst. 
Auf  dem  Lande  fällt  allerdings  das  Wintermaximura  der  Heiraten 
in  den  December,  nicht  aber  in  den  Städten,  wo  dieses  Maximum 
schon  dem  October  angehört ;  wenn  daher  auch  auf  dem  Lande  das 
Steigen  der  Heiratszift'er  ein  Steigen  der  Conceptionen  hervorruft, 
so  müssen  wir  doch  noch  einen  anderen  Factor  suchen.,  der  auf 
dem  Lande  neben  dem  erwähnten,  in  der  Stadt  aber  ausschliesslich 
wirkt.  Eine  solche  rein  sociale  Ursache  liegt  in  dem  regeren 
gesellschaftlichen  Leben  des  Winters,  der  Zeit  der  Feste  in  den 
Städten.  Auf  dem  Lande  möchte  ich  aber  diesen  «Festen»  —  wie 
es  vielfach  geschieht  —  nur  eine  untergeordnete  Bedeutung  und 
Wirksamkeit  einräumen,  sie  mag  auf  die  städtische  Bevölkerung 
beschränkt  bleibeu.  Die  ländliche  dagegen  —  ich  habe  hier  die 
grosse  Masse  des  Bauernstandes  speciell  im  Auge  —  feiert,  wenig- 

•  a.  ti.  0.  S.  15. 


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Beiträge  zur  Bevölkerungsstatistik  Estlands.  241 


stens  in  den  früheren  Jahren,  keine  Feste  im  stadtischen  Sinne ; 
hier  dürfte  neben  der  starken  Heiratsfrequenz  die  grössere  Ruhezeit 
eine  Zunahme  der  Conceptionen  im  December  bewirken. 

Nun  sinkt  wiederum  die  Conceptionszahl,  um  auf  dem  Lande 
im  März,  in  den  Städten  schon  im  Februar  emporzusteigen,  und 
zwar  entspricht  dieses  Steigen  genau  dem  Steigen  der  Heiratszift'er, 
die  bei  der  städtischen  Bevölkerung  im  Februar  ihren  Höhepunkt 
erreicht.  Wie  in  Estland,  fallen  auch  in  Livland  nach  Carlberg 1 
die  Conceptionsmaxima  auf  den  April  und  December  und  das 
Miniraum  auf  den  August,  dagegen  linden  sich  Abweichungen  bei 
Beobachtung  kleinerer  Gebiete,  wie  aus  unseren  Biostatiken 
hervorgeht. 

Betrachten  wir  nun  die  confessionelle  Gliederung  der  Geburten 
nach  Monaten.  Was  zunächst  die  Geburten  bei"  den  Protestanten 
betrifft,  so  gilt  von  ihnen  dasselbe,  was  sich  von  den  Geburten 
überhaupt  sagen  Hess  und  zwar  sowol  von  der  städtischen,  als  auch 
von  der  ländlichen  Bevölkerung. 

Anders  liegen  die  Verhältnisse  dagegen  bei  den  Griechen, 
wie  aus  folgenden  Ziffern  für  Estland  hervorgeht. 

Geburtsmonate  Conceptionsmonate 


Januar 

548.U 

April 

Februar 

507,., 

Mai 

März 

520,,» 

Juni 

April 

454,09 

Juli 

Mai 

439,,» 

August 

Juni 

57ü,o, 

September 

Juli 

619,,» 

October 

August 

560,30 

November 

September 

532,00 

December 

October 

555,«, 

Januar 

November 

565lCo 

Februar 

December 

380,,, 

März 

Mittel 

521,., 

Hier  fällt  das  absolute  Maximum  der  Conceptionen  in  den 
städtischen,  wie  in  den  ländlichen  Gemeinden  auf  den  October,  um 
nach  vielfachen  Schwankungen  im  März  das  absolute  Minimum  zu 
erreichen.  Von  einem  diese  Erscheinung  bedingenden  physischen 
Factor  müssen  wir  gänzlich  absehen,  vielmehr  werden  die  Schwankun. 


•  a.  a.  O.  S.  59. 


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242  Beiträge  zur  Bevölkerungsstatistik  Estlands. 

gen  fast  ausschliesslich  durch  die  Satzungen  der  griechischen  Kircl.e 
hervorgerufen  und  zwar  üben  hier  einen  massgebenden  Einfluss  die 
Fasten  aus,  während  welcher  die  Eheschliessungen  verboten  sind. 

Die  eheliche  Fruchtbarkeit.  Nahe  verwandt  mit 
dem  Begriff  der  Geburtenfrequenz  ist  der  der  ehelichen  Fruchtbar- 
keit, woher  ich  dieselbe  auch  hier  und  nicht,  wie  es  meist  geschieht, 
im  Anschluss  an  die  Statistik  der  Eheschliessungen  erörtere.  Was 
zunächst  die  Ermittelung  der  ehelichen  Fruchtbarkeit  in  einem 
Lande  betrifft,  so  habe  ich  die  Zahl  der  jährlich  geborenen  ehe- 
lichen Kinder  durch  die  Zahl  der  jährlich  geschlossenen  Ehen 
dividirt  und  so  die  Zahl  von  Geborenen  gewonnen,  welche  durch- 
schnittlich aus  jeder  Ehe  während  ihrer  gauzen  Dauer  hervor- 
gegangen. Darnach  beträgt  die  eheliche  Fruchtbarkeit  im  Durch- 
schnitt der  Jahre  1860—84 : 

in  Estland    auf  dem  Lande   in  den  Städten 
4,j»  4,j»  3,j«. 

Die  Höhe  dieser  für  Estland  gefundeneu  Ziffer  im  allgemeinen 
nähert  sich  so  ziemlich  dem  für  Europa  gefundenen  Durchschnitte, 
indem  nach  Mayr«  und  Rttmelin'  in  den  europäischen  Staaten  auf 
jede  Ehe  etwa  vier  Kinder  kommen  ;  auch  Oettingen1  und  Haus- 
hofer*  gelangen  etwa  zu  demselben  Durchschnitt,  wo  allerdings  zu 
bemerken  ist,  dass  Oettingen  seine  Ziffern  nach  einer  anderen  — 
d.  i.  der  von  Wappäus»  befolgten  —  Methode  berechnet  hat,  die 
ich  leider  meinen  Berechnungen  nicht  zu  Grunde  legen  konnte. 
Auch  mit  den  in  unseren  Biostatiken  angeführten  Ziffern  stimmen 
die  für  Estland  gewonnenen  Resultate  im  ganzen  überein.  In  Liv- 
land,;  beträgt  die  eheliche  Fruchtbarkeit  4,«0. 

Wie  aus  der  angeführten  Tabelle  hervorgeht,  ist  die  eheliche 
Fruchtbarkeit  der  ländlichen  Bevölkerung  eine  grössere  als  die 
der  städtischen,  ebenso  wie  die  Geburtenfrequenz  auf  dem  Lande 
an  Höhe  die  städtische  übertraf.  Auch  Hübner',  Grosset»  und 
Kaspar"  gelangen  zu  dem  Resultat,  das  gleichfalls  durch  die  Unter- 


1  a.  a.  O.  S.  267.  —    1  a.  a.  O.  S.  1218. 

■  Moralstatistik.  3.  Auflage.    Erlangen  1882.    S.  279. 

•  a.  a.  0.  S.408.  -    •  a.a.  O.  S.  314. 

6  CoufessionB  Wechsel  und  Mischehen  in  Livland,  <  Baltische  Monatsschrift  >< 
XXXIII,  4. 

7  a.  a.  0.  S.  29.  —    *  a.  a.  O.  S.  44. 

•  a.  a.  0.  S.  80. 


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Beiträge  zur  Bevölkerungsstatistik  Estlands.  243 


suchungen  Haushofers»  und  Stiedas»  bestätigt  wird.  Ebenso  be- 
rechnete ich»  die  eheliche  Fruchtbarkeit  für  Brandenburg  und  die 
Stadt  Berlin,  wobei  sich  für  das  Land  eine  höhere  Ziffer  ergab  als 
für  die  Stadt.  Die  Ursachen  dieser  Erscheinung  anzugeben,  ist 
nicht  leicht,  da  wir  es  hier  jedenfalls  nicht  mit  einem  Factor, 
sondern  mit  mehreren  gleichzeitig  und  zusammenwirkenden  Factoren 
zu  thun  haben.  Natürliche  Ursachen,  sittliche  und  wirthschaftliche 
Verhältnisse  dürften  einen  •  bedeutenden  Einfluss  auf  das  Sinken 
und  Fallen  der  ehelichen  Fruchtbarkeit  ausüben,  was  sich  auch  aus 
der  folgenden  Tabelle  ergiebt ;  es  betrug  nämlich  die  eheliche 
Fruchtbarkeit  in 


Estland 

Land 

Stadt 

1860-64 

4,8J 

4„. 

3,19 

1865-69 

4,., 

4,., 

3,i« 

1870-74 

3,8& 

3,»» 

3,18 

1875-79 

4„. 

3,30 

1880—84 

4,„ 

4,j, 

3,7J. 

In  den  auf  ökonomisch  ungünstige  Zeiten  folgenden  Jahren 
bemerken  wir  ein  Herabgehen  der  ehelichen  Fruchtbarkeit  und 
darauf  folgendes  langsames  Steigen  derselben.  Nach  dem  Krim- 
kriege wächst  die  eheliche  Fruchtbarkeit,  fällt  dann  aber  wieder, 
um  in  der  auf  schlechte  Jahre  folgenden  Periode  1870—74  ihren 
niedrigsten  Stand  zu  erreichen.  Zugleich  ergiebt  sich  auch,  dass 
die  städtische  Bevölkerung  weit  weniger  durch  Misernten  u.  s.  w. 
in  Mitleidenschaft  gezogen  wird  als  die  ländliche  —  was  ja  schon 
aus  den  verschiedenen  Berufsarten  beider  hervorgeht  —  denn  die 
Schwankungen  in  den  Fruchtbarkeitsziffern  sind  auf  dem  Lande 
kleiner  als  in  den  Städten.  Eine  Abnahme  der  ehelichen  Frucht- 
barkeit, wie  sie  in  den  meisten  Staaten  und  namentlich  in  Frank- 
reich beobachtet  worden  ist,  lässt  sich  in  unserer  Provinz  auf  Grund 
der  vorstehenden  Ziffern  nicht  constatiren. 

Ein  zweiter  die  eheliche  Fruchtbarkeit  beeinflussender  Factor, 
und  zwar  ein  solcher  natürlicher  Art,  wird  in  der  Kindersterblich- 
keit zu  suchen  sein.  Es  liegt  ja  auf  der  Hand,  dass  eine  Mutter, 
deren  Kind  bei  der  Geburt  oder  bald  nach  der  Geburt  gestorben, 

•  a.  a.  O.  S.  379  ff. 

1  Die  Ehesohliessungen  in  Elsaes-Lothringen  in  den  Jahren  1872— 76. 
Strasshurg  1879.    S.  114. 

■  Nach  «Statistisches  Jahrhuch  für  das  deutsche  Reich».  Hsg.  vom  Kais. 
Statist.  Amt.   Jahrg.  1—6.    Berlin  1880-85. 


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244  Beiträge  znr  Bevölkerungsstatistik  Estlands. 

früher  ein  weiteres  Kind  zur  Welt  bringen  kann  als  solche,  deren 
Kind  leben  geblieben  ist  und  von  ihr  selbst  gestillt  wird,  indem 
schon  das  Selbststillen  die  Conception  hinausschieben  soll. 

Hieraus  lässt  sich  dann  auch  der  Schluss  ziehen,  dass  das 
Ammenwesen  auf  die  eheliche  Fruchtbarkeit  befördernd  wirkt.  Die 
folgenden  Zahlen  werden  den  Einüuss  der  Kindersterblichkeit 
auf  die  Fruchtbarkeit  in  Estland  186(3—84  nachzuweisen  suchen. 
Unter  1000  Gestorbenen 

sind  Kinder  bis  zu  6  Monaten  :   eheliche  Fruchtbarkeit 
in  Estland        211,7*  4,„ 
auf  dem  Lande   215,»«  4,,» 
in  den  Städten    190,„  3,„. 
Je  grösser  also  der  Procentsatz  der  gestorbenen  Kinder,  um 
so  grösser  auch  die  eheliche  Fruchtbarkeit.    Dasselbe  Hesse  sich 
auch  beobachten,  wenn  wir  die  einzelnen  Kreise  uud  Städte  getrennt 
betrachten  würden. 

Audi  das  Heiratsalter  kann  auf  die  Gestaltung  der  ehelichen 
Fruchtbarkeit  einwirken,  denn  je  höher  dieses  ist,  eine  um  so 
kürzere  Zeit  kann  die  Gebärfähigkeit  der  Frau  dauern.  Bringen 
wir  das  relative  Alter  beider  Ehegatten  in  Anschlag,  so  sind  die- 
jenigen Ehen  am  fruchtbarsten,  wo  beide  Ehegatten  entweder  gleich- 
alterig  sind  oder  der  Mann  etwas  älter  ist,  dagegen  ist  die  Frucht- 
barkeit eine  kleinere,  wo  der  Mann  entweder  jünger  oder  bedeutend 
älter  als  die  Frau  ist.  Von  dem  relativen  Alter  beider  Ehegatten 
muss  ich  im  Folgeudeu  absehen  und  werde  ich  nur  das  Alter  der 
Frau  berücksichtigen.  Ich  bezeichne  diejenigen  Ehen,  welche  die 
Frauen  vor  dem  25.  Lebensjahre  eingehen,  als  rechtzeitige,  und 
werden  wir  doch  a  jtriori  annehmen  dürfen,  dass  in  solchen  Eheu 
mehr  Kinder  gezeugt  werden  können  als  etwa  in  Ehen,  die  die 
Fraueu  nach  dem  30.  Jahre  eingehen.  Es  betrug  nun  in  den 
Jahren  1866—84  die  Zahl  der  rechtzeitigen  Ehen  : 

auf  1000  Ehen   eheliche  Fruchtbarkeit 
in  Estland         63,ÖJ  4,30 
auf  dem  Lande   64,«;  4,«» 
in  den  Städten    58,91  3,„. 
Unter  der  ländlichen  Bevölkerung  heiraten  also  bedeutend 
mehr  Mädchen  vor  dem  25.  Jahre  als  in  den  Städten,  und  dem 
entsprechend  ist  auch  hier  die  Fruchtbarkeit  der  Ehen  eine  geringere 
als  dort. 

Erhebungen  über  die  Zahl  der  kinderlosen  Ehen  besitzen  wir 


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Beitrage  zur  Bevölkerungsstatistik  Estlands. 


245 


nicht,  können  daher  auch  nicht  beurtheilen,  wie  weit  die  eheliche 
Fruchtbarkeit  in  Estland  durch  die  Verbreitung  der  Unfruchtbar- 
keit unter  deu  Frauen  beeinflusst  wird.  Anführen  möchte  ich,  dass 
üehrn«  in  den  von  ihm  beobachteten  Landkirchspielen  8,«,  pOt. 
unfruchtbarer  Ehen  fand. 

Bezüglich  der  Fruchtbarkeit  der  verschiedenen  Confessionen 
und  Nationen  ist  häufig  die  Ansicht  ausgesprochen,  dass  die  An- 
gehörigen der  römisch-katholischen  Kirche  und  die  lateinische  Race 
eine  geringere  Vermehrungskraft  besässen  als  die  Protestanten  und 
Glieder  anderer  Racen  als  der  romanischen ;  die  slavische  Nation 
wird  dabei  als  besonders  fruchtbar  bezeichnet.  Allerdings  ist  die 
eheliche  Fruchtbarkeit  im  europäischen  Russland  eine  recht  hohe 
und  habe  ich  dieselbe  für  das  Jahr  1880  nach  den  Angaben  im 
Gothaer  AlmanaclP  mit  5,„i  berechnet,  dagegen  zeichnen  sich  die 
Russen  in  den  Ostseeprovinzen  nach  den  bisherigen  Untersuchungen 
durch  eine  geringe  Fruchtbarkeit  aus,  wie  auch  aus  den  Ziffern 
für  Estland  180(5—84  hervorgeht. 


Wie  ersichtlich,  weisen  die  Griechen  die  geringste  eheliche 
Fruchtbarkeit  unter  allen  Confessionen  auf;  auf  die  griechische 
Bevölkerung  des  flachen  Landes  bezieht  sich  diese  Aeusserung 
allerdings  nicht,  doch  gehört  dieser  Theil  der  Griechen  meist  der 
estnischen  Nationalität  an.  Es  ist  nun  wol  kaum  anzunehmen, 
dass  die  Russen  in  den  Ostseeproviuzen  eine  Sonderstellung  gegen- 
über den  übrigen  Slaven  einnehmen,  es  wird  wol  die  Ursache  dieser 
Erscheinung  sich  daraus  erklären,  dass  eine  bedeutende  Zahl  von 
Kindern,  die  aus  Mischehen  stammen,  nicht  griechisch,  sondern 
lutherisch  getauft  worden,  was  natürlich  die  Fruchtbarkeitsziffer 
verkleinern  muss.  Leider  lässt  sich  die  Zahl  solcher  aus  Misch- 
ehen hervorgegangener  Kinder  nicht  ermitteln,  es  wird  sich  aber 
gewiss  bald  nachweisen  lassen,  dass  die  eheliche  Fruchtbarkeit  seit 
1886  bei  den  Griechen  plötzlich  zunimmt,  weil  in  Folge  einer  Ver- 
ordnung aus  dem  Jahre  1885  die  Kinder  aus  Mischehen  unbedingt 
griechisch  getauft  werden  müssen,  eine  Bestimmung,  die  seit  1805 
nicht  mehr  bestand.    Wenn  die  Katholiken  eine  geringere,  die 

1  a.  a.  O.  S.  98.  -    1  a.  a.  0.  S.  918. 


in  Estland  4 
auf  dem  Lande  4 
in  den  Städten  3 


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24«; 


Beiträge  zur  Bevölkerungsstatistik  Estlands. 


Juden  dagegen  eine  bedeutend  höhere  Fruchtbarkeit  zeigen  als  die 
Protestanten,  so  stimmt  diese  Erscheinung  durchaus,  wie  erwähnt, 
mit  anderweitigen  Untersuchungen  überein,  und  mag  der  Grund 
hierzu  vielleicht  in  dem  verschiedenen  mittleren  Heiratsalter  der 
einzelnen  Confessioneu  liegen.  Es  betrug  nämlich  der  Procentsatz 
der  rechtzeitigen  Ehen  1 866— 84  in  Estland  bei  den 
Protestanten  Griechen  Katholiken  Juden 
63. st  63,»»  57,u  85,»«. 

■ 

Das  Geschlechtsverhältnis  der  Neuge- 
borenen. Es  giebt  kaum  ein  Ergebnis  statistischer  Forschung, 
das  so  sicher  festgestellt  wäre  als  das,  dass  unter  den  Neugeborenen 
regelmässig  ein  geringer  Ueberschuss  des  männlichen  Geschlechts 
über  das  weibliche  auftritt;  ebenso  ist  wol  kein  anderes  Gebiet 
der  Bevölkerungsstatistik  so  häufig  Gegenstand  der  weitgehendsten 
Untersuchungen  geworden  als  das  Sexualverhältnis  der  Neugeborenen. 
Obwol  nun  die  erwähnte  Thatsache.  schon  von  Süssmilch  erkannt 
und  nach  ihm  von  anderen  Forschern  stets  wieder  bestätigt  wurde, 
ist  es  doch  bisher  nicht  gelungen,  die  Ursachen  dieser  Erscheinung 
zu  ermitteln.  Die  verschiedenen  hierüber  ausgesprochenen  Ansichten 
stehen  häufig  in  directem  Widerspruch  zu  einander,  wobei  ich  gar 
nicht  von  jenen  Hypothesen  reden  will,  die  nur  ins  Reich  der 
Phantasien  gehören.  Die  Theorien  von  Hofacker,  Sadler,  Ploss 
und  Breslau  haben  bisher  die  meisten  Verteidiger  gefunden,  nur 
betonen  sie  leider  stets  in  einseitiger  Weise  das  eine  Moment  als 
allein  wirksames,  entweder  die  Alters  Verhältnisse  der  Eltern  oder 
die  Ernährungsverhältnisse  der  Mutter  &c.  Es  ist  nun  das  Ver- 
dienst von  Karl  Düring',  in  neuerer  Zeit  diese  ganze  Frage  ein- 
gehend erörtert  zu  haben.  Auf  Grund  ausgedehnten  Materials  und 
experimenteller  Untersuchungen  kommt  Düring  zu  dem  Resultat, 
dass  nicht  ein  Factor,  sondern  viele  neben  einander  wirkende 
Factoren  das  Geschlecht  des  Kindes  beeinflussen,  wobei  er  ein 
besonderes  Gewicht  auf  die  Ernährung  und  das  relative  Alter  der 
Eltern  legt.  Unter  schlechteren  Ernährungsverhältnissen  entstehen 
nach  ihm  verhältnismässig  mehr  Knaben  (p.  155),  und  ist  der 
Knabenüberschuss  um  so  grösser,  je  mehr  der  Mann  die  Frau  an 
Alter  übertrifft  (p.  66);  ferner  sollen  Frauen,  die  auf  der  Höhe  der 
Reproductionsfähigkeit  stehen,  mehr  Knaben  erzeugen  als  ältere 

1  Die  Regulirnng  des  Geschlecht«  verhiiltnisnes  bei  der  Vermehrung  der 
Menschen,  Thier«  und  Pflanzen.    Jena  1884. 


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Beiträge  zur  Bevölkerungsstatistik  Estlands. 


247 


oder  allzu  junge  Mütter  (p.  166).  Ausserdem  erkennt  Düriug  noch 
eine  Reihe  anderer  Factoren  als  geschlechtbestimmend  an,  wie  z.  B. 
Klima,  Nationalität  &c.  Natürlich  kann  die  eine  Ursache  durch 
die  andere  abgeschwächt  oder  auch  ganz  beseitigt  werden,  und  wird 
es  daher  nicht  leicht,  häufig  sogar  unmöglich  sein,  anzugeben, 
welche  von  den  zusammenwirkenden  Ursachen  die  massgebende 
gewesen.  Wenn  die  das  Sexualverhältnis  betreffenden  Fragen  über- 
haupt je  zu  einer  endgiltigen  Lösung  gelangen,  dann  dürfte  jeden- 
falls das  Düringsche  Werk  nicht  unwesentlich  dazu  beitragen. 

Nach  Wappäus  werden  im  europäischen  Durchschnitt  auf 
100  Mädchen  106,j,  Knaben  geboren,  eine  Ziffer,  wie  sie  in  Est- 
land nicht  erreicht  wird ;  auch  Livland  hat  eine  etwas  kleinere 
Ziffer  aufzuweisen,  indem  sie  nach  Carlberg»  lOo,™  beträgt. 

In  unserer  Provinz  wurden  auf  100  Mädchen  Knaben  geboren 
1860-84 

in  Estland   auf  dem  Lande   in  den  Städten 
104,«,  104,.,  105,40- 

Während  man  in  den  meisten  Ländern  bisher  die  Beobachtung 
gemacht  hat,  dass  der  Knabenüberschuss  in  den  Städten  ein  ge- 
ringerer sei  als  auf  dem  Lande,  zeigt  sich  das  Gegentheil  in  Est- 
land und  in  Livland.  Carlberg3  glaubt  die  Ursache  dieser  Er- 
scheinung darin  suchen  zu  können,  dass  in  den  Städten  Livlands 
diejenigen  Nationalitäten  besonders  stark  vertreten  sind,  die  über- 
haupt einen  bedeutenden  Knabenüberschuss  aufweisen ;  es  wären 
das  in  unseren  Städten  die  Juden  und  Russen,  wie  aus  der  folgen- 
den Tabelle  ersichtlich.  Es  betrug  der  Knabenüberschuss  1860—84 
bei  den         in  Estland   auf  dem  Lande   in  den  Städten 


Protestanten 

104,» 

104,,, 

103,7! 

Griechen 

112,7, 

116,8* 

111,2. 

Katholiken 

104,,, 

100,,, 

104,,. 

Juden 

125,,. 

125,,, 

Muharaedanern 

88,,» 

88,g». 

Hieraus  ergiebt  sich  allerdings,  dass  die  Protestanten,  die 
doch  den  Hauptbestandteil  unserer  Bevölkerung  ausmachen,  die- 
selbe Regelmässigkeit  bezüglich  des  Geschlechtsverhältnisses  auf- 
weisen, wie  man  sie  bisher  im  übrigen  Europa  beobachtet ;  ebenso 
auch  die  Russen.  Es  wird  daher  der  städtische  Knabenüberschuss, 
wie  wir  ihn  im  Vorhergehenden  kennen  lernten,  uur  durch  den 


'  a  a.  O.  S.  55.  —    1  a.  a.  0.  S.  57. 


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248  Beiträge  zur  Bevölkerungsstatistik  Estlands. 


wie  immer  starken  Knabenüberschuss  bei  den  Juden  veranlasst ; 
in  zweiter  Linie  folgen  die  Russen,  dann  die  Katholiken  und  end- 
lich die  Protestanten ;  hinsichtlich  der  Muhamedaner  konnte  hier 
nur  eine  geringe  Zahl  von  Fällen  beobachtet  werden.  Vielleicht 
findet  sich  hier  eine  Bestätigung  der  Düringschen  Theorien,  wenn 
wir  nämlich  annehmen,  dass  die  Ernähr ungs Verhältnisse  der  Esten 
auf  dem  Lande  schlechtere  sind  als  in  den  Städten  und  doch  wieder 
besser  als  die  der  Juden  und  Russen  und  ebenso,  wenn  wir  die 
Sitte  der  frühen  Heiraten  bei  den  Juden  und  Russen  berücksichtigen. 
Auch  in  Livland  ist  das  Geschlechtsverhältnis  der  Neugeborenen 
bei  den  einzelnen  Confessionen  ein  ähnliches  wie  in  unserer  Provinz. 

Während  für  Livland  eine  Zunahme  des  Knabenüberschusses 
nachgewiesen  ist,  lässt  sich  in  Estland  eine  solche  Erscheinung  nicht 
beobachten,  im  Gegentheil  ist  in  den  Städten  der  Knabenüberschuss 
sogar  ein  kleinerer  geworden,  wie  aus  folgenden  Ziffern  hervorgeht : 


Estland 

Land 

Stadt 

1800-04 

103>33 

103,,« 

104,7B 

18G5-G9 

I00,ao 

106„3 

106,,, 

1870—74 

106,, , 

105,SI 

111,14 

1875—79 

103,,  > 

I03(,i 

103,,, 

1880-84 

104,,, 

104,,, 

103,,,, 

Wie  wir  sehen,  ist  in  jenen  für  Estland  so  ungünstigen  Jahren, 
d.  h.  im  zweiten  Quinquennium,  sowie  in  den  auf  die  Misemten 
folgenden  Jahren  der  Knabenüberschuss  ein  recht  grosser;  über- 
haupt sind  die  Schwankungen,  und  dieses  gilt  namentlich  von  den 
Städten,  in  den  verflossenen  Jahren  sehr  bedeutend  gewesen. 

Betrachten  wir  die  ehelichen  Geburten  getrennt  von  den  un- 
ehelichen, so  ergiebt  sich  auch  für  unsere  Provinz  eine  bisher  all- 
gemein beobachtete  Thatsache,  dass  nämlich  bei  illegitimen  Kindern 
das  üeberwiegen  der  Knaben  geringer  ist  als  bei  legitimen. 
1800—84  wurden  auf  100  Mädchen  geboren 

in  Estland    auf  dem  Lande   in  den  Städten 
eheliche  Knaben       104,,,  104,7&  105,,» 

uneheliche  Knaben    101,73  100,, i  107,,,. 

Dass  bei  den  unehelichen  Geburten  in  den  Städten  ein  grösserer 
Knabenüberschuss  herrscht  als  auf  dem  Lande,  wird  wol  aus  dem 
starken  Knabenüberschuss  bei  den  unehelichen  Geburten  der  städti- 
schen Russen  zu  erklären  sein.    Auch  Carlberg »  findet,  dass  in 

1  a.  n.  <  ).  S.  Km. 


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Beiträge  zur  Bevölkerungsstatistik  Estlauds. 


249 


Livland  der  Knabenüberschass  bei  den  unehelichen  Geburten  in  den 
Städten  grösser,  auf  dem  Lande  dagegen  kleiner  ist  als  bei  den 
ehelichen.  Ob  das  geringere  Ueberwiegen  der  Knaben  bei  illegitimen 
Geburten  auf  das  Altersverhältnis  der  Eltern  zurückzuführen  ist, 
lässt  sich  statistisch  nicht  nachweisen,  ebenso  wie  jene  Aeusserung 
von  Mayr»  über  den  Einfluss  des  Wunsches  der  Mutter.  <  Während 
die  eheliche  Mutter, >  sagt  Mayr,  «so  bald  sie  weiss,  dass  sie 
empfangen  hat,  in  der  Regel  einen  Knaben  und  nur  selten  ein 
Mädchen  erhofft,  machen  sich  bei  der  unehelichen  Mutter  vor- 
waltend die  Empfindungen  der  Reue  über  den  Fehltritt,  verbunden 
mit  Apathie  gegen  die  Geschlechtszugehörigkeit  des  zu  erwartenden 
Kindes,  geltende  Wenn  sich  im  Vorhergehenden  ein  geringerer 
Knaben überschuss  bei  den  unehelichen  Geburten  constatiren  Hess, 
so  gilt  dieses  nicht  von  allen  Confessionen,  sondern  nur  von  den 
Protestanten  und  Katholiken ;  es  wurden  nämlich  1860— 84  in 
Estland  auf  100  Mädchen  geboren 

bei  den    eheliche  Knaben    uneheliche  Knaben 


Protestanten  104, »o  100,»,, 

Griechen  112,,.  120,0(, 

Katholiken  105)0,  100,00 

Hebräern  123, 3»  500,0o- 


Bei  den  Protestanten  kann  also  kaum  noch  von  einem  Knaben- 
überschuss  überhaupt  die  Rede  sein ;  die  ungewöhnlich  hohe  Ziffer 
bei  den  .luden  erklärt  sich  aus  der  geringen  Zahl  ihrer  unehelichen 
Geburten. 

Wie  überhaupt  mehr  Knaben  als  Mädchen  geboren  werden, 
so  ist  auch  der  Knabenüberschuss  bei  den  Todtgeburten  bedeutend 
grösser  als  bei  den  Lebendgeborenen.    In  den  Jahren  1860 — 84 
kamen  nämlich  auf  100  todtgeborene  Mädchen  Knaben 
in  Estland   auf  dem  Lande   in  den  Städten 
123,7s  123,  it  128,00. 

Oder  nach  Confessionen  geschieden  betrug  in  demselben  Zeitraum 
der  Knabenüberschuss  in  Estland  bei  den 

Protestanten      Griechen  Juden 
124,,o  103,9S  183.™. 

In  den  Städten  ist  also  der  Knabenüberschuss  bei  den  Todt- 
geburten viel  grösser  als  auf  dem  Lande,  weil  in  ihnen  die  Todt- 
geburten überhaupt   viel  häufiger  sind.     Während   im  Vorher- 

'  a.  a.  O.  S.  252 


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250  Beiträge  zur  Bevölkerungsstatistik  Estlands. 


gellenden  die  Griechen  grössere  Ziffern  aufzuweisen  hatten  als  die 
Protestanten,  zeigen  sie  innerhalb  der  Todtgeburten  nur  einen  sehr 
geringen  Knaben überschuss.  Wie  die  Juden  überhaupt  den  stärksten 
Knabenüberschuss  besassen,  so  ist  er  auch  bei  ihren  Todtgeburten 
besonders  hoch. 

Betrachten  wir  jetzt  die  ehelichen  und  die  unehelichen  Todt- 
geburten getrennt,  so  finden  wir,  dass  in  den  Jahren  186G— 84 
bei  den  Protestanten  todtgeborene  Knaben  kameri  auf  100  todt- 
geborene  Mädchen 

eheliche  uneheliche 


in  Estland 

124,,, 

118,,, 

auf  dem  Lande 

123,., 

U4„o 

in  den  Städten 

132,o» 

147,e3 

Bei  den  unehelichen  Todtgeburten  ist  also  der  Knaben- 
überschuss geringer  als  bei  den  ehelichen,  wenigstens  auf  dem 
Lande,  während  das  entgegengesetzte  Verhältnis  in  den  Städten 
besteht  und  zwar  weil  der  Knabenüberschuss  überhaupt  bei  den 
unehelichen  Geburten  auf  dem  Lande  geringer  ist  als  bei  den  ehe- 
lichen, in  den  Städten  dagegen  bei  den  ehelichen  geringer  als  bei 
den  unehelichen.  Auch  Carlberg 1  fand,  dass  in  Livland  bei  den 
unehelichen  Todtgeburten  die  Knaben  nicht  so  stark  überwiegen 
wie  bei  den  ehelichen. 

Was  den  Knabenüberschuss  in  den  einzelnen  Monaten  betrifft, 
so  erreicht  derselbe  das  Maximum  im  Februar,  wie  die  folgenden 
Ziffern  für  Estland  1866—84  zeigen  : 


Geburten 

Conceptionen 

Januar 

104.36 

April 

Februar 

107,„ 

Mai 

März 

106,54 

Juni 

April 

103,.. 

Juli 

Mai 

103,»0 

August 

Juni 

103,«, 

September 

Juli 

105,M 

October 

August 

106,,. 

November 

September 

104,,. 

December 

October 

103„„ 

Januar 

November 

105,,. 

Februar 

December 

i06,„ 

März 

Mittel 

104,96. 

'  a.  a.  0.  S.  113. 


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Beitrage  zur  Bevölkerungsstatistik  Estlands.  251 


Vielleicht  ergiebt  sich  auch  aus  diesen  Ziffern  eine  theilweise 
Bestätigung  der  Düringschen  Behauptung,  dass  nämlich  unter 
schlechteren  Ernährungsverhältnissen  mehr  Knaben  entstellen  als 
unter  besseren. 

Die  uneheliche  Progenitur.  Bei  Behandlung  der 
unehelichen  Geburten  glaubte  man  früher  in  der  Häufigkeit  ihres 
Vorkommens  innerhalb  einer  Bevölkerungsgruppe  einen  vorzüglichen 
Sittlichkeitsmassstab  gefunden  zu  haben,  eine  Ansicht,  die  jetzt 
wol  nur  noch  vereinzelt  Vertheidiger  finden  dürfte.  Es  prägt  sich 
ja  allerdings  der  moralische  Standpunkt  einer  Bevölkerung  zum 
Theil  in  der  Grösse  der  unehelichen  Fruchtbarkeit  aus,  jedoch  ist 
nicht  zu  vergessen,  dass  einerseits  auch  äussere,  von  der  Moral 
unabhängige  Verhältnisse  gleichfalls  und  vielleicht  in  wirksamerer 
Weise  diese  Fruchtbarkeit  beeinflussen  können  und  dass  anderer- 
seits die  factische  Unsittlichkeit  eine  bedeutend  grössere  sein  kann 
als  die  in  der  unehelichen  Fruchtbarkeit  zum  Ausdruck  gelangte. 
Gewiss  hat  Engel  Recht,  wenn  er  sagt:  «die  unehelichen  Geburten 
repräsentiren  nicht  den  tausendsten  Theil  der  factischen  Unzucht, 
sondern  nur  die  dabei  stattgehabte  grössere  Unvorsichtigkeit  und 
Leidenschaftlichkeit  und  —  grössere  Unschuld,  wäre  man  fast 

versucht,  hinzuzufügen  :  denn  die  Liederlichkeit,  die  sich 

anderwärts  und  im  Schosse  der  Ehen  bei  Treulosigkeit  der  Männer 
und  Frauen  verbirgt,  wird  wol  nie  zur  Ziffer  zu  bringen  sein,  ob- 
schon  die  Existenz  jener  Liederlichkeit  in  einzelnen  Theilen  des 
Landes  als  eine  Schattenseite  der  gesteigerten  Civilisation  ein 
öffentliches  Geheimnis  ist.» 

Dass  der  Leichtsinn,  der  Mangel  an  Moral  mit  eine  Ursache 
der  vielen  unehelichen  Geburten  in  einem  Lande  ist,  unterliegt 
keinem  Zweifel ;  dazu  kommt  dann  die  Sitte  oder  vielmehr  Unsitte, 
die  sich  unter  Umständen  in  einer  Bevölkerungsklasse  so  weit  aus- 
bilden kann,  dass  sie  in  einem  Fehltritt  kein  Vergehen  erblickt ; 
ich  erinnere  hier  nur  an  die  Verhältnisse,  wie  sie  in  englischen 
Fabrikdistricten  und  im  Schwarzwalde  noch  anzutreffen  sein  sollen 
und  welch  letztere  wol  auch  Mayr1  im  Auge  hat,  wenn  er  sagt, 
dass  der  Bauernsohn  schon  vor  der  Heirat  die  Gewissheit  einer 
Nachkommenschaft  gewonnen  haben  möchte.  Aeussere  Verhältnisse, 
welche  die  Zahl  der  unehelichen  Geburten  vergrössern  können,  sind 

1  a.  a.  0,  S.  253. 

Baltisch«  Mon»t-.chrirt.  Bd.  XXXIV,  H.fl  3.  17 


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252  Beitrüge  zur  Bevölkerungsstatistik  Estlands. 


häufig  durch  die  Gesetzgebung  veranlasst ;  der  Heiratsconsens,  das 
Niederlassungsgesetz  kommen  hierbei  in  Betracht,  was  sich  be- 
sonders deutlich  an  Bayern  beobachten  lässt.  Auch  die  gesetzlichen 
Bestimmungen  über  Deflorationsentschädigung  und  Alimentation 
üben  in  dieser  Beziehung  einen  bedeutenden  Einfluss  aus.  Der 
Code  Napoleon  z.  B.  enthält  das  Verbot  der  Ermittelung  der  Vater- 
schaft des  unehelichen  Kindes;  die  Gegenden  Deutschlands,  in 
denen  dieser  Codex  noch  Giltigkeit  besitzt  oder  besass,  haben  nur 
eine  niedrige  uneheliche  Geburtenziffer.  Auch  die  Agrarverhältnisse 
mit  ihren  Bestimmungen  über  Theilbarkeit  und  Untheübarkeit  des 
Grundbesitzes,  und  namentlich  des  kleinen,  wären  hier  zu  erwähnen. 
Ebenso  mögen  auch  religiöse  Satzungen  nicht  ohne  Einfluss  sein. 
Dass  die  erwerbsmässige  Prostitution  die  Zahl  der  unehelichen  Ge- 
burten herabzudrücken  im  Stande  wäre,  ist  nicht  anzunehmen,  denn 
gerade  in  den  Städten,  wo  diese  doch  fast  ausschliesslich  vertreten 
ist,  werden  bekanntlich  mehr  uneheliche  Kinder  geboren  als  auf 
dem  Lande.  Dass  aber  tiberall  dort,  wo  die  Gesetzgebung  das 
Heiraten  erschwert,  die  unehelichen  Kinder  sehr  häufig  durch  eine 
nachfolgende  Eheschliessung  legitim  werden,  liegt  auf  der  Hand, 
und  sind  daher  in  solchen  Ländern  die  unehelichen  Kinder  nicht 
so  sehr  zu  jener  Klasse  der  c Parias»  der  Gesellschaft  zu  rechnen, 
wie  dort,  wo  das  uneheliche  Kind  eben  nur  eine  Frucht  des  Leicht- 
sinns ist. 

Für  Estland  Hess  sich  die  uneheliche  Geburten  frequenz  nur 
für  das  Jahr  1881  berechnen,  und  zwar  kamen  auf  1000  gebär- 
fähige, d.  h.  im  Alter  von  17—45  Jahren  stehende  ledige  Frauen 
uneheliche  Geburten  : 

in  Estland   auf  dem  Laude   in  den  Städten 

11,11  H)00  11,M- 

Während  wir  an  einer  anderen  Stelle  gesehen  haben,  dass 
die  eheliche  Geburtenfrequenz  auf  dem  Lande  grösser  ist  als  in 
den  Städten,  ergiebt  sich  aus  der  vorstehenden  Tabelle,  dass  die 
uneheliche  Geburtenfrequenz  sich  umgekehrt  verhält,  d.  h.  sie  ist 
auf  dem  Lande  kleiner  als  in  den  Städten.  Einen  Vergleich  mit 
anderen  Ländern  können  wir  hier  nicht  anstellen,  wohl  aber,  so- 
bald wir  das  Procentverhältnis  der  unehelichen  Geburten  berechnen. 

Wie  bei  der  Betrachtung  des  Geschlechtsverhältnisses  der 
neugeborenen  Kinder,  so  wird  sich  auch  beim  Auftreten  der  un- 
ehelichen Geburten  eine  merkwürdige  Gleichmässigkeit  erkennen 
lassen.    In  den  europäischen  Staaten   werden  in  regelmässiger 


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Beiträge  zur  Bevölkerungsstatistik  Estlands.  253 


Wiederkehr  von  Jahr  zu  Jahr  etwa  7  pCt.  von  allen  Geborenen 
unehelich  geboren,  wobei  natürlich  die  uneheliche  Geburtenzahl  in 
den  einzelnen  Staaten  eine  verschiedene  ist.  Im  Verhältnis  zum 
übrigen  Europa  nimmt  nun  Estland  (ebenso  auch  Livland)  eine 
sehr  günstige  Stellung  ein,  indem  hier  die  unehelichen  Geburten 
im  Durchschnitt  der  Jahre  1860—84  nur  3,«  pCt.  sämmtlicher 
Geburten  betragen  und  zwar 

auf  dem  Lande      in  den  Städten 

3,7g  4,M.  t 

Wie  überall,  können  wir  auch  hier  in  den  Städten  eine  grössere 
uneheliche  Fruchtbarkeit  beobachten  als  auf  dem  Lande,  was  wol 
hauptsächlich  in  der  industriellen  Thätigkeit  der  städtischen  Be- 
völkerung und  dem  damit  verbundenen  dichteren  Zusammenleben 
derselben  &c.  seinen  Grund  hat.  Von  den  Kreisen  weist  Wierland 
die  kleinste  Ziffer  (3,43),  Jerwen  die  höchste  (4,«*)  auf,  von  den 
Städten  hat  Weissenstein  die  grösste  uneheliche  Fruchtbarkeit  (6,«0), 
Baltischport  dagegen  die  geringste  (3,8S). 

Dass  die  Nationalität  einen  Einfluss  auf  die  grössere  oder 
geringere  Häufigkeit  der  unehelichen  Geburten  ausübt,  unterliegt 
wol  keinem  Zweifel  und  scheint  auch  in  den  folgenden  Ziffern  eine 
Bestätigung  zu  finden.  Es  betrug  nämlich  der  Procentsatz  der 
unehelichen  Geburten  in  den  Jahren  1860—84  bei  den 

Protestanten    Griechen   Katholiken  Hebräern 


in  Estland 

3,(t 

6,00 

3,i« 

0,., 

auf  dem  Lande 

3,7» 

1... 

0,00 

in  den  Städten 

4,»» 

7,« 

3,tt 

Den  geringsten 

Antheil 

an  den 

unehelichen 

Geburten  h 

also  die  Juden,  worauf  die  Katholiken  und  Protestanten  folgen, 
während  die  Griechen  in  den  Städten  eine  überaus  grosse  unehe- 
liche Fruchtbarkeit  aufweisen.  Dass  bei  den  Juden  so  überaus 
wenig  Kinder  unehelich  geboren  werden,  erklärt  sich  wol  zum 
Theil  aus  dem  frühen  Heiratsalter  der  Jüdinnen,  sowie  aus  ihrer 
grösseren  Sittenreinheit,  die,  wie  (Dettingen1  bemerkt,  bei  allen  in 
der  Diaspora  lebenden  Bevölkerungsgruppeu  eine  grössere  ist.  Die- 
selbe Erscheinung  zeigt  sich  auch  bei  den  Juden  anderer  Länder. 
Eigentümlich  ist  es,  dass  sowol  in  Livland,  als  auch  in  Estland 
die  uneheliche  Fruchtbarkeit  der  Griechen  eine  so  bedeutende  Höhe 
erreicht,  während  sie  im  übrigen  Reich  nach  Oettingen1  nur  3,00  pCt. 

'  ii.  a.  O  S.  324,  325. 

17» 


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254  Beiträge  zur  Bevölkerungsstatistik  Estlands. 


betiageu  soll.  Möglich,  dass  diese  Ziffer  in  Wirklichkeit  grösser 
ist,  was  um  so  eher  anzunehmen  ist,  wenn  man  bedenkt,  dass  die 
Registrirung  der  Todtgeburten  in  der  griechischen  Kirche  eine 
überaus  mangelhafte  und  dass  der  Procentsatz  der  unehelichen 
Kinder  unter  den  Todtgeburten  gerade  ein  sehr  bedeutender  ist. 
Jedenfalls  weist  die  griechische  Bevölkerung  der  estläudischen 
Städte  eine  grössere  Depravation  auf  als  die  der  anderen  Con- 
fessionen. 

Die  Frage,  ob  im  Laufe  der  Zeit  eine  Zu-  oder  Abnahme 
der  unehelichen  Fruchtbarkeit  stattfindet,  wird  verschieden  beant- 
wortet und  können  wir  bezüglich  Estlands  sagen,  dass  sich  hier 
seit  1860  erfreulicher  Weise  eine  Abnahme  constatiren  lässt,  wie 
aus  folgenden  ZitFern  hervorgeht. 


Jahr 

pCt.  der  unehel.  Geburten 

Roggenpreis 

1860 

5,»» 

543 

1801 

4,<t 

592 

1862 

4,,. 

703 

1863 

4,»» 

697 

1864 

4,» 

(528 

1865 

4,84 

546 

1866 

3, i4 

671 

1867 

3,7S 

757 

1868 

4„. 

857 

1869 

3,14 

1200 

1870 

3,fi4 

1063 

1871 

3,08 

740 

1872 

4„, 

786 

1873 

4,» 

755 

1874 

3,»0 

700 

1875 

4,., 

846 

1876 

3,7» 

700 

1877 

3,66 

700 

1878 

3,M 

750 

1879 

3,46 

809 

1880 

3,C6 

867 

1881 

3,»| 

1049 

1882 

3,i» 

1100 

1883 

4,60 

900 

1884 

4,™ 

900 

Die  uneheliche  Fruchtbarkeit  in  Estland  ist  also  in  den  letzten 

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Beitrüge  zur  Bevölkerungsstatistik  Estlands. 


255 


25  Jahren  zurückgegangen,  wenn  sich  auch  dazwischen  wieder 
Jahre  finden,  die  eine  steigende  Ziffer  aufweisen.  Woher  mögen 
nun  diese  Schwankungen  herrühren  ?  Es  scheint  ein  inniger  Zu- 
sammenhang zwischen  wirtschaftlichen  Zuständen  und  der  unehe- 
lichen Geburtenfrequenz  stattzufinden  und  bemerkt  Oettingen1 
treffend,  dass  karge  Zeiten  einen  günstigen,  d.  h.  hemmenden,  reiche 
Jahre  einen  ungünstigen,  d.  h.  fördernden  Einfluss  auf  die  unehe- 
liche Fruchtbarkeit  ausüben.  Ein  charakteristisches  Merkmal  für 
karge  und  reiche  Jahre  bieten  nun  die  Preise  der  wichtigsten 
Nahrungsmittel,  z.  B.  des  Roggens,  und  wirklich  erkennen  wir 
auch  aus  den  angeführten  Ziffern,  dass  bei  niedrigen  Roggenpreisen, 
also  in  günstigen  Jahren,  die  Zahl  der  unehelichen  Geburten  zu-, 
in  theuren,  also  schlechten  Jahren  dagegen  abnimmt.  Das  wirth- 
schaftlich  ungünstigste  Jahr  hat  auch  in  unserer  Provinz  den  klein- 
sten Procentantheil  an  unehelichen  Geburten.  Ohne  die  betreffen- 
den Zahlen  anzuführen,  will  ich  kurz  erwähnen,  dass  die  Abnahme 
der  unehelichen  Geburten  ganz  besonders  deutlich  auf  dem  Lande 
hervortritt.  Diese  Abnahme  der  unehelichen  Geburten  bezieht  sich 
aber  eigentlich  nur  auf  die  Protestanten  und  nicht  auch  auf  die 
übrigen  Confessionen,  wie  folgende  Tabelle  zeigt.  Es  betrug  der" 
Procentsatz  der  unehelichen  Geburten  in  Estland  bei  den 


Protestanten    Griechen    Katholiken  Hebräern 


1860-64 

4,« 

5,»0 

1,.. 

0.00 

1865-69 

3,BS 

4,„ 

2,o. 

0,00 

1870-74 

3.8| 

5,i» 

3,i« 

o,„ 

1875-79 

3,87 

5,aa 

6,77 

0,00 

1880-84 

3,89 

9.1T 

3,o 

1,1«. 

Unterziehen  wir  jetzt  die  Vertheilung  der  unehelichen  Ge- 
burten nach  Monaten  einer  Betrachtung,  wobei  zu  bemerken  ist, 
dass  bei  den  Griechen  und  Hebräern  nur  die  Lebendgeborenen  be- 
rücksichtigt sind,  da  sich  von  177  Todtgeborenen  in  diesen  Ge- 
meinden das  Legi timitäts Verhältnis  nicht  feststellen  Hess  ;  ebenso 
Hess  sich  von  mehreren  dieser  Todtgeborenen  der  Monat  der  Geburt 
nicht  ermitteln.  Es  entfielen  uneheliche  Geburten  in  Estland  auf 
die  Monate  Concrptiomn 


Januar 

757,74 

April 

Februar 

754,,. 

Mai 

März 

681,,, 

Juni 

1  a.  a.  0.  8.  308. 


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256  Beiträge  zur  Bevölkerungsstatistik  Estlands. 


Conceptionen 


April 

716too 

Juli 

Mai 

661 .7 

■ 

August 

Juni 

656. «n 
,01, 

September 

Juli 

566,1» 

October 

August 

570,,. 

November 

September 

761,00 

December 

October 

619,,, 

Januar 

November 

654,oo 

Februar 

December 

664,,, 

März 

Mittel 

67L,„. 

Wie  aus  vorstehenden  Zahlen  ersichtlich,  vertheilen  sich  die 
unehelichen  Geburten  in  ganz  anderer  Weise  auf  die  einzelnen  Monate 
als  die  Geburten  überhaupt,  eine  Erscheinung,  die  bisher  allgemein 
beobachtet  ist.  Wenn  (Dettingen1  behauptet,  dass  bei  den  unehe- 
lichen Geburten  die  socialen  Einflüsse  vollständig  von  den  physisch- 
klimatischen verdrängt  werden,  so  scheint  diese  Behauptung  zu- 
nächst durch  unsere  Zahlen  keine  Bestätigung  zu  finden.  Wir 
finden  in  Estland  das  Maximum  der  unehelichen  Conceptionsfrequenz 
auf  den  December  fallen  und  dürfte  diese  Erscheinung  wol  kaum 
die  Folge  klimatischer  Einflüsse  sein.  Vielmehr  wird  dieses  Maximum 
wol  durch  Factoren  socialer  Art  hervorgerufen :  der  regere  gesell- 
schaftliche Verkehr  in  den  Städten,  das  engere  Zusammenleben 
der  beiden  Geschlechter  bei  der  ländlichen  Bevölkerung  mag  im 
Winter  und  besonders  im  December  die  Gelegenheit  zu  Aus- 
schweifungen fördern.  Im  Frühjahr  steigt  wiederum  die  Zahl  der 
ausserehelichen  Conceptionen,  vielleicht  durch  physisch-klimatische 
Ursachen  veranlasst ;  im  Juni  mögen  die  Feldarbeiten  den  ausser- 
ehelichen Verkehr  einschränken,  im  Juli  dagegen  die  vielfach  gemein- 
samen Arbeiten  denselben  wieder  anwachsen  lassen.  Darauf  sinkt  die 
Conceptionsfrequenz  und  erreicht  im  October  ihr  absolutes  Minimum. 

Deutlicher  als  aus  den  zuletzt  angeführten  Ziffern  dürften  die 
physischen  Einflüsse  hervorgehen,  wenn  wir  die  einzelnen  Jahreszeiten 


betrachten.    Es  entfieleu  nämlich 

uneheliche  Geburten 

auf  den 

Conceptionsmonate 

Frühling 

2059,,, 

Sommer 

Sommer 

1793,,, 

Herbst 

Herbst 

2034,,, 

Winter 

Winter 

2176,,. 

Frühling 

»  a.  a.  0.  S.  305  ff. 

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Beiträge  zur  Bevölkerungsstatistik  Estlands.  257 

In  diesen  Ziffern  scheint  eine  Bestätigung  der  Oettingenschen 
Behauptung  zu  liegen,  wenigstens  erklärt  sich  das  Frühlings- 
maximum aus  rein  physischen  Gründen. 

Die  Todtgeburten.  Neben  der  Grösse  der  unehelichen 
Fruchtbarkeit  wollen  einige  Statistiker  auch  die  Zahl  der  Todt- 
geborenen  als  Massstab  des  sittlichen  Lebens  einer  Bevölkerung 
ansehen,  jedoch,  wie  mir  scheint,  mit  Unrecht.  Es  wird  die  Zahl 
der  Todtgeborenen  nicht  sowol  einen  Rückschluss  auf  das  Mass 
der  Sittlichkeit  in  einem  Lande  gestatten,  als  vielmehr  auf  die 
vorhandene  oder  mangelnde  Kraft  der  Reproduction  in  einer  Be- 
völkerung hinweisen.  Häufig  wird  ja  allerdings  die  Todtgeburt 
eine  Folge  leichtsinnigen  oder  unmoralischen  Lebens  sein  ,  meist 
werden  jedoch  Mangel  und  Noth,  geringe  Schonung  der  Frau 
während  der  Schwangerschaft,  wie  namentlich  fortgesetzte  Thätig- 
keit  in  Fabriken  die  Todtgeburten  veranlassen. 

Leider  setzt  sich  gerade  der  Statistik  der  Todtgeburten  die 
grösste  Schwierigkeit  einer  exacten  Beobachtung  entgegen.  Häufig 
ist  die  Registrirung  der  Todtgeburten  eine  überaus  unvollkommene 
—  und  dieses  gilt  besonders  von  den  griechischen  Gemeinden  — 
oft  lässt  es  sich  überhaupt  nicht  constatiren,  ob  ein  Kind  todt- 
geboren  oder  bald  nach  der  Geburt  gestorben. 

Wir  können  mit  Körösi1  annehmen,  dass  im  europäischen 
Durchschnitt  etwa  3—4  pCt.  von  sämmtlichen  Kindern  todt  zur 
Welt  kommen.  Carlberg'  findet  für  Livland  eine  günstigere  Ziffer, 
während  der  für  Estland  berechnete  Procentsatz  sich  jenem  europäi- 
schen Durchschnitt  nähert.  Es  entfielen  nämlich  "  in  den  Jahren 
1806—84  (für  die  vorhergehenden  Jahre  sind  die  Angaben  nicht 
gauz  zuverlässig)  auf  100  Geburten  Todtgeburten 

in  Estland   auf  dem  Lande   in  den  Städten 

3,a»  3,u  3,6j. 

Die  Städte  haben  somit  eine  höhere  Todtgeburtenziffer  als 
das  flache  Land,  denn  die  Todtgeburten  sind  bei  den  unehelichen 
Geburten  häufiger  als  bei  den  ehelichen,  und  die  unehelichen  Ge- 
burten unter  der  städtischen  Bevölkerung  zahlreicher  als  unter  der 
ländlichen.  Von  den  Kreisen  ist  die  Wiek,  trotz  der  vielen  un- 
ehelichen Geburten  am  günstigsten  gestellt,  von  den  Städten  hat 

1  Die  Kindersterblichkeit  in  Budapest  während  der  Jahre  1876-1881. 
Berün  1885.    S.  60. 

■  a.  a.  O.  S.  112. 


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258 


Beitrage  zur  Bevölkerungsstatistik  Estlands. 


Reval  die  höchste  Todtgeburtenziffer,  obgleich  hier  ärztlicher  Bei- 
stand am  ehesten  zu  erlangen  ist. 

Der  Antheil  der  einzelnen  Confessionen  an  den  Todtgeburten 
ergiebt  sich  aus  der  folgenden  Tabelle.  1866—84  kamen  Todt- 
geburten auf  100  Geburten  bei  den 

Protestanten    Griechen    Katholiken  Hebräern 


in  Estland 

3,i« 

3,13 

0,,0 

2,14 

auf  dem  Lande 

3,n 

liti 

0,00 

in  den  Städten 

3,«» 

3,18 

0,40 

2.34 

Während  nach  Körösi1  die  Israeliten  und  Katholiken  mehr 
Todtgeburteu  aufweisen  als  die  Protestanten,  tritt  in  Estland  die 
entgegengesetzte  Erscheinung  auf.  Der  Grund  für  die  verschiedenen 
Ziffern  bei  den  einzelnen  Confessionen  dürfte  jedoch  weniger  in 
confessionellen  oder  nationalen  Eigentümlichkeiten,  als  vielmehr 
in  socialen  Verhältnissen  zu  suchen  sein.  Bezüglich  der  zeitlichen 
Vertheilung  der  Todtgeburten  macht  Körösi'  die  Beobachtung,  dass 
ihre  Zahl  in  entschiedener  Zunahme  begriffen  sei,  während  andere 
Statistiker  gerade  das  Gegentheil  behaupten.  In  unserer  Provinz 
beträgt  in  den  einzelnen  Pentaden  der  Procentsatz  der  Todtgeburten: 


Estland 

Land 

Stadt 

1866- 

-69 

3,n 

3,ii 

3,13 

1870- 

-74 

3,si 

3,|  6 

3,«i 

1875 

-79 

3,,. 

3,n 

4,„ 

1880- 

-84 

3,09 

3,*  5 

O.Ii. 

Bis  1880  ist  die  Todtgeburtenziffer,  wie  ersichtlich,  gewachsen, 
jedoch  lässt  sich  im  letzten  Quinquennium  eine  entschiedene  Besse- 
rung dieser  Verhältnisse  constatiren.  In  Livland  ist  nach  Carl- 
berg» die  Todtgeburtenziffer  seit  1868  stetig  gefallen  (wol  nur 
durch  genauere  Registrirung  und  Unterscheidung  von  den  bald  nach 
der  Geburt  Gestorbenen.  Nach  gef.  Mittheilung  des  citirten  Hrn. 
Verf.    Die  Re  d.). 

Wie  wir  sahen,  ist  bisher  in  allen  Ländern  bei  den  Geburten 
ein  Knabenüberschuss  beobachtet  worden,  und  zwar  werden  auf 
100  Mädchen  105—106  Knaben  geboren.  Weiter  ist  beobachtet 
worden,  dass  dieser  Knabenüberschuss  bei  den  Todtgeburten  ein 
bedeutend  grösserer  ist  als  bei  den  Lebendgeburten.  Es  entfielen 
nun  in  den  Jahren  1866—84  auf  100  todtgeborene  Mädchen  Knaben 

in  Estland   auf  dem  flachen  Lande   in  den  Städten 
 123,,.  123,„.  128,„. 

'  a.  a.  0.  S.  62.  -    •  a.  a.  0.  S.  61.  -    1  a.  a.  0.  S.  112. 


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Beiträge  zur  Bevölkerungsstatistik  Estlands.  259 

Der  grössere  Knabenüberschuss  unter  den  Todtgeborenen 
gegenüber  den  Lebendgeborenen  erklärt  sich  daraus ,  dass  der 
männliche  Organismus  überhaupt  und  sogar  im  Mutterleibe  viel 
grösseren  Gefährdungen  ausgesetzt  ist  als  der  weibliche.  Einer 
beträchtlichen  Steigerung  der  Gefährdung  unterliegt  das  männliche 
Leben,  wenn  es  ausser  der  Ehe  gezeugt  ist. 

Es  kamen  1866—84  (NB.  nach  den  lutherischen  Gemeinde- 
listen) auf  100  todtgeborene  Mädchen  todtgeborene 

in  Estland   auf  dem  Lande  in  den  Städten 
eheliche  Knaben        124,,,  123,*»  132,0i 

uneheliche  Knaben     ll8,u  U4,9.  147,».. 

Dass  uneheliche  Kinder  verhältnismässig  viel  häufiger  todt 
zur  Welt  kommen  als  eheliche,  ist  eine  bekannte  Thatsache.  die 
sich  auch  in  unserer  Provinz  beobachten  lässt.  Es  kamen  1866 
bis  1884  bei  den  Protestanten 

auf  100  eheliche  Geburten    auf  100  uneheliche  Geburten 
eheliche  Todtgeburten         uneheliche  Todtgeburten 
Estland  3tlJ  6,., 

Land  2,99  6,„ 

Stadt  3,&,  5,... 

Es  ist  ja  selbstverständlich,  dass  die  uneheliche  Mutter  weit 
weniger  Sorgfalt  und  Pflege  ihrer  Frucht  zukommen  lassen  kann 
als  die  eheliche ;  sie  sucht  ja  meist  möglichst  lange  ihren  Zustand 
zu  verbergen,  und  dass  dieses  häufig  dem  Fötus  zum  Nachtheil 
gereichen  muss,  bedarf  nur  eines  Hinweises.  Der  materielle  Mangel, 
dem  die  unehelich  Schwangeren  oft  ausgesetzt  sind,  übt  natürlich 
auch  einen  schädlichen  Einfluss  auf  das  werdende  Leben  aus ;  Reue 
über  den  Fehltritt,  Sorge,  Kummer  etc.,  alles  dieses  vermehrt  die 
Zahl  der  Todtgeburten  ;  dazu  kommen  dann  noch  hier  und  da  ge- 
schlechtliche Ausschweifungen,  ansteckende  Krankheiten  mit  ihren 
schädlichen  Folgen. 

Dass  tiberall  bei  den  Mehrgeburten  bedeutend  mehr  Kinder 
todt  zur  Welt  kommen  als  bei  den  Einzelgeburten,  wird  auch 
durch  folgende  Ziffern  für  die  Protestanten  in  Estland  illustrirt. 
1866—84  kamen  Todtgeburten  auf  100 

Zwillinge    Drillinge  Mehrgeburten 


Estland 

11,., 

28,.. 

12,,. 

Land 

U... 

28,«i 

11... 

Stadt 

14,.. 

33, »a 

15,1.. 

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260  Beiträge  zur  Bevölkerungsstatistik  Estlands. 

Der  Grund  für  diese  höheren  Ziffern  unter  den  Mehrgeburten 
ist  der,  dass  man  unter  ihnen  häufig  nicht  ganz  ausgetragene, 
schwächliche  Kinder  findet,  die  natürlich  auch  weniger  Lebens- 
kraft und  Widerstandsfähigkeit  besitzen.  Ferner  ist  bei  Mehr- 
geburten die  Lage  der  Kinder  oft  eine  anormale,  die  ein  operatives 
Eingreifen  von  Seiten  des  Arztes  erforderlich  macht. 

Wie  nun  die  unehelichen  Mütter  häufiger  todte  Kinder  gebären 
als  die  ehelichen,  so  sind  auch  die  todten  Kinder  bei  den  unehe- 
lichen Mehrgeburten  viel  zahlreicher  als  bei  den  ehelichen,  obgleich 
uneheliche  Mütter  überaus  selten  Zwillingen  oder  Drillingen  das 
Leben  schenken. 

Suchen  wir  jetzt  die  Frage  zu  entscheiden,  ob  die  Monats- 
differenzen  für  die  Lebendgeborenen  und  die  Todtgeborenen  ver- 
schiedene sind.  Die  Lebendgeborenen  zunächst  befolgen  dasselbe 
Gesetz  wie  die  Geborenen  überhaupt  (s.  p.  238  ff.),  nicht  aber  so  die 
Todtgeburten,  wie  aus  folgenden  Zahleu  ersichtlich : 

Geburtsmonate  Conceptionen 


Januar 

653,»> 

April 

Februar 

663,ji 

Mai 

März 

591,,, 

Juni 

April 

534,}0 

Juli 

Mai 

459,«7 

August 

Juni 

469,00 

September 

Juli 

437,., 

October 

August 

529.,, 

November 

September 

538,35 

December 

October 

589.,» 

Januar 

November 

570,., 

Februar 

December 

635,8  • 

März 

Mittel 

555,i0 

Bei  der  Betrachtung  der  Todtgeburten  handelt  es  sich  weniger 
um  den  Empfängnismonat  als  um  den  Geburtsmonat,  weil  die  Todt- 
geburten häutig  auch  zugleich  Frühgeburten  sind. 

Die  grösste  Zahl  der  Todtgeburten  in  Estland  fällt  nun  aut 
den  Februar,  was  auch  von  den  Protestanten  speciell  gilt,  während 
die  Griechen  die  höchste  Ziffer  im  October  aufweisen.  Am  wenig- 
sten Todtgeburten  kommen  im  Juli  vor,  bei  den  Griechen  dagegen 
im  December. 

Vielleicht  dürfte  eine  theilweise  Erklärung   des  Februar- 


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Beiträge  zur  Bevölkerungsstatistik  Estlands. 


861 


maximums  in  folgender  Erwägung  liegen.  Bekanntlich  ist  die 
Zahl  der  Todtgeburten  unter  den  Mehrgeburten  grösser  als  unter 
den  einfachen  Geburten,  unter  den  Knabengeburten  grösser  als  unter 
den  Mädchengeburten.  Nun  ist  der  Knabenüberschuss  bei  den  Ge- 
burten im  Februar  am  stärksten  und  ebenso  erreichen  die  Mehr- 
geburten  im  Februar  ihr  absolutes  Maximum,  und  dieses  gilt  sowol 
von  den  Mehrgeburten  überhaupt,  als  auch  ganz  besonders  von  den 
todt  zur  Welt  kommenden  Mehrgeborenen.  Diese  beiden  Thatsachen 
werden  wol  jenes  Anschwellen  der  Todtgeburtenzahl  im  Februar 
veranlassen. 

Die  Mehrgeburten.  Während  die  Todtgeburten  auf 
eine  mangelnde  Kraft  der  Reproduction  in  einer  Bevölkerung  hin- 
deuten ,  sind  die  Mehrgeburten  ein  Zeichen  übergrosser,  über- 
schiessender  Fruchtbarkeit  bei  einzelnen  Individuen,  wie  bei  ganzen 
Völkern.  Die  Mehrgeburten  haben  im  wesentlichen  ein  physiolo- 
gisches Iuteresse,  sie  sind  durch  ihre  geringe  Zahl  vou  keiner  Be- 
deutung für  die  social-ökonomiscue  Gestaltung  eines  Landes  oder 
für  das  Leben  einer  Bevölkerung,  ihr  Auftreten  ist  ein  reines 
Naturphänomen. 

Auf  die  Hypothesen  über  das  Woher?  oder  Warum?  will 
ich  hier  nicht  weiter  eingehen,  nur  so  viel  sei  erwähnt,  dass 
das  Alter  der  Frau  von  Einfluss  zu  sein  scheint,  und  wollen  einige 
Statistiker  behaupten,  dass  die  Mehrgeburten  am  häufigsten  vor- 
kommen bei  Frauen  im  krästigsten  Lebensalter,  bei  Frauen,  die 
schon  einmal  geboren  haben. 

Wie  dem  auch  sei,  eine  grosse  Regelmässigkeit  in  der  Häufig- 
keit der  Mehrgeburten  ist  constatirt  worden,  und  zwar  beträgt  sie 
bei  den  meisten  Völkern  etwa  1  Ii  pCt.  von  sämmtlichen  Geburten, 
eine  Zahl,  wie  sie  annähernd  von  Carlberg 1  für  Livland  angegeben 
wird  und  wie  ich  sie  auch  für  Estland  berechnet  habe.  Es  kamen 
nämlich  1866—84  auf  100  Geburten  überhaupt 

Zwillingsgeburteu  Drillingsgeburten  Mehrgeburten  überhaupt 
Estland     1*.  0,01 
Land        !,«.  0,0>  I.to 

Stadt       1,,7  O.o,  1,»,. 

Dass  Drillingsgeburten,  wie  überall  so  auch  hier,  seltener 


'  a.  a.  O.  S.  114. 


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262  Beiträge  zur  Bevölkerungsstatistik  Estlands. 

sind  als  Zwillingsgeburten,  ist  selbstverständlich,  denn  wie  die 
Mehrgeburt  an  sich  ein  Naturphänomen  ist,  so  ist  natürlich  die 
Drillingsgeburt  eine  noch  anormalere  Erscheinung.  Vierlings- 
geburten sind  in  den  von  uns  beobachteten  Jahren  überhaupt  nicht 
in  Estland  vorgekommen.  Auf  dem  Lande  sind,  wie  die  obige 
Tabelle  zeigt,  die  Mehrgeburten  häufiger  als  in  den  Städten, 
während  in  diesen  Drillingsgeburten  häufiger  vorzukommen  pflegen, 
als  auf  dem  Lande,  wie  aus  folgenden  Ziffern  ersichtlich.  Von 
100  Mehrgeburten  sind  nämlich  1866—84 

Zwillingsgeburten  Drillingsgeburten 
in  Estlaud  98,,,  1,„ 

auf  dem  Lande  98,7«  L*« 

in  den  Städten  98,„  1,M. 

Im  Ganzen  sind  die  Schwankungen  in  den  einzelnen  Kreisen 
und  Städten  ziemlich  unbedeutend,  und  nur  Weissenstein  zeigt  einen 
recht  hohen  Procentantheil  an  Mehrgeburten,  nämlich  2,t  pCt. 

Dass  die  eine  Nation  mehr  zu  Mehrgeburten  disponirt  sei 
als  die  andere,  wird  wol  behauptet,  und  zwar  sollen  darnach  die 
Slaven  die  höchste  Ziffer  aufweisen,  was  sich  jedoch  für  Estland 
nicht  nachweisen  lässt;  es  kamen  nämlich  hier  1866-  84  auf  100 
Geburten  überhaupt  Mehrgeburten  bei  den 

Protestanten    Griechen    Katholiken  Hebräern 

ltIO  Iii«  0,]o  1.1I- 

Interessant  ist  die  Frage  nach  dem  Sexualverhältnis  der 
Kinder  unter  den  Mehrgeburten.  Es  kamen  nun  in  den  Jahren 
1866—84  bei  den  Mehrgeburten  auf  100  Mädchen  Knaben 

in  Estland  ....    104,tJ  . 

auf  dem  Lande    .    .    104,  «0 

in  den  Städten  .  .  109 ,»„. 
Der  Knabenüberschuss  unter  den  Mehrgeburten  ist  also  in 
Estland  überhaupt,  wie  in  den  Städten,  etwas  stärker  als  uuter 
den  Einzel-  und  Mehrgeburten  zusammengenommen.  Es  wirft  das, 
wie  Mayr*  sagt,  <ein  weiteres  Licht  auf  den  Drang  der  Natur,  ein 
Plus  von  Knabengeburten  zu  Stande  zu  bringen  >.  Die  Zwillings- 
geburten zeigen  einen  noch  grösseren  Knabenüberschuss  als  die 
Drillingsgeburten,  wie  aus  folgenden  Zahlen  hervorgeht.  Es  kamen 
nämlich  1866—84  auf  100 

1  a.  a.  O.  S.  259. 


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Beiträge  zur  Bevölkerungsstatistik  Estlands.  268 

Zwilliugsgeburten  Drillingsgeburteu 
Knaben    Mädchen  Knaben  Mädchen 


Estland    ol,u  48,T» 

Land       51,,  0  48,90 

49,n  50,m 

Stadt       51,,»  48,o, 

ol  i*o  38,io- 

Von  100  Mehrgeborenen  waren  in 

Estland  1800—84 

Knaben 

Mädchen 

Protestanten  51,,, 

48,., 

Oriechen  52,,, 

47,„t 

Katholiken  50,00 

50,oo 

Hebräer  50,00 

50,oo- 

Wie  der  Knabenüberschuss  bei  den  Griechen  überhaupt  in 
Estland  ein  grösserer  war  als  bei  den  Protestanten,  so  auch  hier 
bei  den  Mehrgeburten.  Eigentümlich  ist  es,  dass  die  Juden,  die 
in  unserer  Provinz  den  stärksten  Knabenüberschuss  aufweisen,  bei 
den  Mehrgeburten  keinen  solchen  besitzen. 

Dass  uneheliche  Mütter  seltener  Zwillinge  oder  Drillinge  ge- 
bären, wurde  schon  erwähnt,  und  zwar  waren  1860—84  bei  den 
Protestanten  von  den  Mehrgeborenen 

eheliche  uneheliche 
in  Estland  90,,,  3*1 

auf  dem  Laude  96,B,  3,„ 
in  den  Städten  96,4,  3,„. 
Uneheliche  Drillingsgeburten  sind  in  den  Jahren  1860—84 
nicht  vorgekommen.  Wie  die  obigen  Zahlen  zeigen,  sind  also  die 
unehelichen  Zwillinge  in  den  Städten  häufiger  als  unter  der  länd- 
lichen Bevölkerung,  obgleich  die  Zwillingsgeburten  häufiger  auf  dem 
Lande  vorzukommen  pflegen  als  in  der  Stadt.  Wenn  wir  jedoch 
die  Frage  anders  stellen,  ergiebt  sich,  dass,  wie  die  Mehrgeburten 
überhaupt,  so  auch  die  unehelichen  Mehrgeburten  auf  dem  Lande 
häufiger  sind  als  in  der  Stadt. 

Es  kamen  nämlich  1800—84  Mehrgeburten  entstammende 
Kinder  bei  den  Protestanten  auf  100 

ehelich  Geborene   unehelich  Geborene 
in  Estland  3,37  3,«, 

auf  dein  Lande        3,3,  3,,, 
in  der  Stadt  3,ao  2,„. 

Was  die  zeitliche  Vertheilung  der  Mehrgeburten  betrifft,  so 
betrugen  dieselben  bei  den  Protestanten 


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204 


Beiträge  zur  Bevölkerungsstatistik  Estlands. 


Estland       Land  Stadt 
18GG-69  pCt.    l,„  pCt.    i,,0  pCt. 

1870-74      1,„    «      l,7o    «      Um  * 
1875—79     1,„    «      1,„    t      1>7T  « 
1880—84     l,s.    <      ll6i    «      t,„  « 
Ob  das  weibliche  Geschlecht  in  eiuigen  Jahren  eine  grössere 
Tendenz  zu  Mehrgeburten  zeigt  als  in  anderen,  lässt  sich  nicht 
nachweisen,  wohl  aber,  dass  von  1806  an  in  Estland  eine  ganz 
regelmässige  Abnahme  der  Mehrgeburtenfrequenz  stattgefunden. 

.T.  X  i  e  1  ä  n  d  e  r. 


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Erinnerung  an  Theodor  von  Bernhardi. 


ei  Gelegenheit  eines  längeren  Aufenthalts,  den  ich  während 
der  Jahre  1884  und  1885  in  Berlin  genommen,  lernte  ich 
einen  alten  Herrn  kennen,  dessen  Namen  ich  in  meiner  Kindheit 
zuweilen  nennen  gehört  hatte,  der  unserem  heimischen  Gesichts- 
kreise indessen  länger  als  seit  einem  Menschenalter  entrückt  worden 
war:  den  Historiker  und  Militärschriftsteller  Theodor  von  Bern- 
hardi. Jetzt,  da  der  Tod  dieses  im  fünfundaelitzigsten  Lebensjahre 
verstorbenen,  in  mehr  als  einer  Rücksicht  bedeutenden  Mannes  ge- 
meldet wird,  taucht  die  Erinnerung  an  die  mit  ihm  verbrachten 
Stunden  so  lebhaft  in  mir  auf,  dass  ich  um  die  Erlaubnis  bitte, 
Bernhardis  und  seiner  eigentümlichen  Beziehungen  zu  Liv-  und 
Estland  in  einem  kurzen,  der  «ß.  M.»  gewidmeten  Worte  gedenken 
zu  dürfen. 

Im  Jahre  1802  zu  Berlin  geboren,  gehörte  der  Verstorbene 
zweien  Familien  an,  deren  Namen  in  der  deutschen  Literatur- 
geschichte vollen  Klang  haben:  sein  Vater  war  der  als  Mitbegründer 
der  modernen  Sprachwissenschaft  und  als  romantisch-geistreicher 
Satyriker  bekannte  Gymnasialdirector  August  Ferdinand  Bernhardi, 
seine  Mutter  eine  Schwester  der  Brüder  Tieck  und  vieljährige  ver- 
traute Mitarbeiterin  Ludw.  Tiecks,  des  Chorführers  der  romantischen 
Schule.  Aber  nicht  Berlin  und  nicht  dem  Kreise  berühmter  Männer, 
die  seines  Vaters  Hausfreunde  und  Genossen  gewesen  waren,  ge- 
hörten Bernhardis  lebhafteste  Jugenderinnerungen  an :  wer  den 
alten,  zur  Zeit  unserer  Bekanntschaft  bereits  zweiundaehtzigj ährigen 


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266  Erinnerung  an  Theodor  von  Bernhardi. 

Herrn  mit  dem  langen  schneeweissen  Bart  in  Feuer  bringen  und 
zur  Oeffnung  des  reichen  Schatzes  seiner  Beobachtungen  und  Er- 
lebnisse bestimmen  wollte,  musste  mit  ihm  von  Estland  und 
von  Dorpat  reden.  Zwar  nicht  von  dem  heutigen  Estland,  das 
für  manche  Leute  nur  noch  als  Adjacent  der  Baltischen  Bahn  und 
als  Mittelglied  zwischen  Dorpat  und  Petersburg  in  Betracht  zu 
kommen  scheint,  sondern  von  dem  Estland,  dessen  Spiritus  rector 
«der  treffliche  Herr  von  Berg»  gewesen  war  und  in  welchem  «unser 
Ost-Jerweu»  eine  Welt  für  sich  bildete.  Und  wenn  er  von  Dorpat 
redete,  so  meinte  mein  verehrter  Gönner  nicht  die  Stadt,  welche 
ihr  85.  Universitätsjubiläum  begangen,  sondern  das  alte  Dorpat, 
dessen  Curator  Maximilian  v.  Klinger  hiess,  in  welchem  die  Parrot 
und  Ewers  den  Ton  angaben  und  das  Bernhardi  im  Jahre  1812 
zuerst  kennen  gelernt  hatte,  «damals  als  ich  Barclay  bei  Gelegen- 
heit des  Besuchs,  den  er  dem  General  Knorring  machte,  zum  ersten 
und  letzten  Male  sah».  —  Mit  den  Beziehungen  vou  Ludwig  Tiecks 
Neffen  zu  unserem  Lande  aber  hatte  es  die  folgende  Bewandtnis. 

Wie  viele  andere  Damen  des  romantischen  Zeitalters  hatte 
sich  auch  Frau  Director  Bernhardi  (als  dramatische,  epische  und 
lyrische  Dichterin  und  Mitherausgeberin  der  Tieckscheu  «Straussen- 
federn»  wohl  bekannt)  von  ihrem  Manne  scheiden  lassen  und  einige 
Jahre  später  eine  zweite  Ehe  geschlossen.  Der  zweite  Gatte  der 
geistreichen,  anmuthigen,  damals  etwa  dreissigj ährigen  Frau  war 
ein  Herr  von  Knorring,  Besitzer  des  in  Jerwen  belegenen  Gutes 
Arroküll  und  Bruder  der  aus  den  türkischen  und  schwedischen 
Kriegen  rühmlich  bekannten  Generale  Karl  und  Gotthard  v.  Knor- 
ring. Nach  Arroküll  war  der  zehnjährige  Theodor  seiner  Mutter 
gefolgt  und  hier,  in  Reval  und  in  Dorpat  hatte  er  die  entscheiden- 
den Jahre  seines  Knaben-  und  Jünglingsalters  verlebt.  Kaum  je- 
mals ist  mir  ein  Landsmann  begegnet,  der  von  der  alten  Zeit  und 
dem  lustigen  Liv-Estland  unserer  Väter  und  Grossväter  so  lebensvoll 
und  zugleich  so  kritisch  zu  berichten  gewusst  hätte  wie  dieser 
Berliner,  der  zur  Zeit  unserer  Bekanntschaft  seit  etwa  vierzig 
Jahren  in  Deutschland  lebte  und  als  preussischer  Diplomat  Spanien 
und  Italien  mehrere  Jahre  lang  bewohnt  und  studirt  hatte.  Von 
den  Personen,  nach  denen  man  ihn  fragte,  hatte  er  immer  nur  die 
Väter  und  Grossväter  gekannt,  diesen  aber  ein  treues,  schier  un- 
trügliches Gedächtnis  bewahrt.  Dass  er  die  Licht-  und  Schatten- 
seiten unserer  damaligen  agrarischen  Organisation  bereits  als  Jüng- 
ling deutlich  erkannt  hatte,  ist  aus  seinem  Geschichtswerk  sattsam 


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Erinnerung  an  Theodor  von  Bernhardi. 


267 


bekannt.  Ungleich  lieber  als  bei  den  Mängeln,  verweilte  er  aber 
bei  den  Vorzügen  der  alt-livländischen  Lebensgestaltung.  Die  be- 
deutenderen Personen  jener  Zeit  hatte  er  grossen  Theils  gekannt, 
insbesondere  die  zahlreichen  alten  Generale  der  Katharinaischen 
und  der  Alexandrinischen  Zeit,  die  in  Reval  und  Dorpat  ihre 
Pensionen  verzehrten  und  Mittelpunkte  der  dortigen  Gesellschaft 
bildeten.  Aus  Karl  von  Kuorrings  eigenem  Munde  hatte  Bern- 
hardi die  lehrreiche  und  merkwürdige  Kunde  von  den  durch  diesen 
im  Auftrage  Alexei  Orlows  Anno  1773  geführten  diplomatischen 
Verhandlungen  in  Konstantinopel  und  von  dem  im  J.  1800  gefassten 
Plane  eines  Angriffs  auf  Indien  gehört ;  dem  General  Gotthard 
v.  Knorring,  der  Barclays  erster  Regimentscommandeur  und  Gönner 
gewesen  war,  hatte  der  Feldmarschall  die  Rechtfertigung  seines 
Feldzugsplanes  von  1812  im  Winter  desselben  Jahres  ausführlich 
vorgetragen;  Parrot  war  ein  Freund  des  «Arroküllschen  Hauses», 
Shukowski  ein  vielbeliebtes  Mitglied  der  dorpater  Gesellschaft  ge- 
wesen, in  welche  er  durch  den  ihm  verwandten  Chirurgen  Moier 
(den  t Namenlosen»  des  um  Karl  Petersen  geschaarten  < Winkel- 
clubs bei  Volkmann»)  eingeführt  worden  war;  auch  auf  den 
«Dicken»  wusste  Bernhardi  sich  zu  entsinnen,  wenn  er  von  dessen 
(erst  sehr  viel  später  veröffentlichten)  Gedichten  gleich  niemals  ge- 
hört, auch  den  liebenswürdigsten  Dorpatenser  seiner  Zeit  nicht  aus 
persönlichem  Umgang  kennen  gelernt  hatte.  Dafür  war  Krusenstern, 
der  Weltumsegier  von  1803,  in  der  Folge  sein  Schwiegervater  ge- 
worden und  hatte  ein  anderer  berühmter  Estländer,  Graf  Toll,  ihm 
die  Herausgabe  seiner  wichtigen  «Denkwürdigkeiten»  übertragen. 
Auch  in  die  Interna  estländischer  Landes-  und  Ritterschafts- 
verhältuisse  war  der  jugendliche  Stiefsohn  des  Arroküllschen  Hauses 
tiefer  eingeweiht  worden  als  mancher  Eingeborene  :  die  Geschichte 
des  Rosenkampff-Bergschen  Handels  kannte  er  z.  B.  so  genau,  dass 
er  sich  noch  nach  einem  halben  Jahrhundert  gedrungen  fühlte,  das 
Gedächtnis  des  schmählich  betrogenen  und  misliandelten  Ehren- 
mannes im  Anhange  seines  bekannten  Geschichtswerkes  (Geschichte 
Russlands,  Bd.  II,  2.  letzte  Note)  zu  retten.  All  diese  halb  ver- 
gessenen Dinge  aus  dem  Munde  eines  Zeitgenossen  berichten  zu 
hören,  war  wunderbar  anziehend.  Am  wunderbarsten  erschien  mir 
'indessen  die  Feinheit  und  Schärfe,  mit  welcher  Bernhardi  die  Eigen- 
thümlichkeiten  baltischen  Lebens  und  Wesens  aufgefasst  hatte 
Sein  erster  Aufenthalt  in  Liv-  und  Estland  hatte  bis  zum  Jahre 
1819  gedauert;  zehn  Jahre  später  war  er  nach  Estland  zurück- 

Baltltche  MonaUschrlft.  Bd.  XXXIV.   H.ft  3.  18 


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268  Erinnerung  an  Theodor  von  Bernhardi. 


gekehrt,  wo  sein  Stiefvater  das  ihm  durch  Erbgang  zugefallene 
Gut  Erwita  besass,  —  wenig  später  indessen  nach  St.  Petersburg 
übergesiedelt  und  seitdem  immer  nur  als  sommerlicher  Gast  in 
Liv-  und  Estland  anwesend  gewesen.  Um  die  Mitte  der  vierziger 
Jahre  aber  hatte  er  das  russische  Reich  für  immer  verlassen  und 
die  Stätten  seiner  Jugend  nie  wieder  gesehen.  —  üeber  das,  was 
sich  seitdem  auf  baltischer  Erde  zugetragen,  wusste  er  nur  aus 
Büchern  und  Zeitungen.  Seine  Zeitgenossen  waren  todt,  ihre 
Kinder  waren  ihm  zumeist  fremd  geblieben:  die  t jüngsten»  Namen 
hervorragender  livländischer  Gelehrten,  auf  welche  er  sich  besinneu 
konnte,  waren  diejenigen  der  Brüder  Walter  (des  dorpater  Professors 
und  seines  Bruders,  des  Bischofs)  —  im  übrigen  schienen  die  Fäden, 
welche  den  königl.  preuss.  Legationsrath  mit  unserem  alten  Lande 
verbanden,  seit  dem  Tode  der  Söhne  Krusensterns  und  seiner  Halb- 
brüder, der  Herren  von  Knorring,  zerrissen  zu  sein.  Uud  doch 
hatte  sich  der  hochbetagte,  als  Militärschriftsteller,  Historiker  und 
Nationalökonom  gleich  hervorragende  alte  Herr  (der  sich  u.  a.  der 
Freundschaft  Goethes  rühmen  durfte)  ein  Herz  für  unser  Land  und 
ein  Apercu  für  die  Beurtheilung  desselben  erhalten,  um  das  mancher 
jüngere  und  den  baltischen  Verhältnissen  näher  stehende  Mann  ihn 
hätte  beneiden  können.  Ganz  so  unbedeutend  und  reizlos,  wie 
gewisse  Leute  meiuen,  können  diese  Verhältnisse  doch  wol  nicht 
gewesen  sein. 

Bernhardi,  der  sein  Leben  lang  aufmerksamer  Beobachter  und 
unermüdlich  genauer  Arbeiter  gewesen,  hat  aller  Wahrscheinlich- 
keit nach  Aufzeichnungen  über  die  Hauptereignisse  seines  langen 
und  reichen  Lebens  hinterlassen.  Die  wichtigsten  dürften  sich  auf 
die  Verhältnisse  Italiens  im  Jahre  1866  und  Spaniens  im  Jahre 
1870  beziehen,  denen  der  Verstorbene  als  diplomatischer  Agent 
und  Militärbevollmächtigter  bis  auf  den  Grund  gesehen  hatte. 
Hoffen  wir,  dass  der  Sohn  der  Frau  Sophie  von  Knorring  auch 
der  Tage  gedacht  hat,  in  welchen  er  der  Stiefsohn  des  cArroküll- 
schen»  Herrn  gehiessen  und  von  deren  eigenthümlicher  Gestaltung 
er  eben  so  lebensvoll  und  geistreich  zu  erzählen  wusste  wie  von  den 
Zuständen  des  gelehrten  und  des  politischen  St.  Petersburg  der 
dreissiger  und  der  ersten  vierziger  Jahre,  —  den  Zeiten  der  Krug. 
Toll,  Krusenstern,  Löwenstern  und  F.  v.  Smitt.  N.  * 


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Notizen. 


Friedrich  B  i  e  n  e  in  a  n  n  ,  Conrad  von  Scharfenberg,  Bischof  von  Speyer 
und  Metz  und  kaiserlicher  Hofkanzler  1200—1224.  (Sirassburtrer 
Doctordissertation.)    Stra«8bnrg,  18bH.  8.182.8. 

||PlpeI'  Verfasser  hat  sich  zur  Aufgabe  gemacht,  monographisch 
%£&Mj  politische  Thätigkeit  eines  Mannes  zu  behaudeln,  der 
während  der  Regierung  dreier  deutscher  Kaiser  als  Kirchenfürst 
und  hochgestellter  Reichsbeamter  auf  die  Gestaltung  der  politischen 
Verhältnisse  des  deutschen  Reichs  im  13.  Jahrhundert  von  nach- 
haltigstem Einfluss  gewesen  ist.  Nicht  mit  Unrecht  weist  die  Ein- 
leitung auf  die  Bedenken  hiu,  welche  gegen  den  Versuch  geltend 
gemacht  werden  können,  die  Biographie  eines  mittelalterlichen 
Staatsmannes  des  13.  Jahrhunderts  zu  schreiben.  Wenn  wir  von 
der  Lebensbeschreibung  eines  hervorragenden  Mannes  erwarten, 
dass  sie  uns  das  Bild  einer  greifbaren  Persönlichkeit  mit  indivi- 
duell ausgestalteten  Zügen  biete  und  das  Verständnis  für  dieselbe 
durch  die  Darstellung  ihrer  inneren  Entwickelung  in  uns  wecke, 
so  müssen  wir  für  den  weitaus  grössten  Theil  des  Mittelalters  auf 
diese  Forderung  verzichten.  Nur  das  zweite  wesentliche  Moment 
einer  Biographie :  die  Darstellung  der  allgemeinen  Verhältnisse, 
auf  deren  Hintergrund  das  Lebensbild  der  einzelnen  Persönlichkeit 
erst  seine  rechte  Beleuchtung  erfährt,  der  Antheil,  welchen  dieselbe 
an  den  Ereignissen  der  Epoche  nimmt,  das  Mass  seiner  Einwirkung 
auf  diese  allgemeine  Zeitlage,  die  Rückwirkung  der  letzteren  auf 
sie,  kann  hier  Berücksichtigung  finden.    Es  ist  ja  eine  bekannte 

18» 


270 


Notizen. 


Tlmtsache,  dass  alle  grossen  geschichtlichen  Persönlichkeiten  des 
Mittelalters  bis  ins  14.  Jahrhundert  hinein  für  uns  mehr  oder 
weniger  schemenhafte  Erscheinungen  bleiben,  die  uns  menschlich 
fast  gar  nicht  nahe  treten.  Die  Sympathie,  welche  wir  der  einen 
entgegenbringen,  die  Abneigung,  welche  uns  eine  andere  einflösst, 
werden  nicht  so  sehr  durch  das  persönliche  Interesse  an  ihnen  be- 
stimmt, sondern  viel  mehr  durch  unser  Verhältnis  zur  Sache,  welche 
sie  vertreten.  Erst  mit  dem  Beginn  der  Memoirenliteratur  treten 
die  interessanten  Gestalten  unserer  Vorzeit  aus  dem  dämmerhaften 
Dunkel,  das  sie  bisher  umgab,  heraus,  erst  da  wird  es  uns  möglich 
Charaktere  zu  unterscheiden  und  zu  beurtheilen.  Es  darf  daher 
niemand  Wunder  nehmen,  wenn  auch  die  vorliegende  Arbeit  sich 
lediglich  auf  die  politische  Thätigkeit  Conrads  von  Scharfen- 
berg beschränken  musste.  Und  doch,  welche  Fülle  erschütternder 
Ereignisse ,  gewaltiger  Umwälzungen  vollzogen  sich  unter  den 
Augen  dieses  Mannes  und  grossentheils  unter  seiner  Mitwirkung  I 
Erlebnisse,  die  unter  allen  Umständen  geeignet  sein  mussten,  einen 
Charakter  nach  der  einen  oder  der  anderen  Seite  hin  zu  bilden. 
Aber  es  ist  eine  der  merkwürdigsten  Wahrnehmungen,  welche  die 
Betrachtung  des  Mittelalters  bietet,  dass  demselben  Verständnis 
und  Interesse  für  den  individuellen  Werth  der  Persönlichkeit  fehlten, 
während  doch  gerade  seine  führenden  Elemente,  die  weltliche  und 
geistliche  Aristokratie,  sich  einer  politischen  und  rechtlichen  Un- 
gebundenheit  erfreuten,  in  die  wir  uns  nur  mit  Mülie  hineindenken 
können. 

Conrad  von  Scharfenberg  entstammte  einem  jener  Reichs- 
dienstmannengeschlechter,  welche  den  Staufern  die  tüchtigsten  Be- 
amten lieferten  und  auf  die  sich  die  Reichsgewalt  vor  allem  stützte. 
In  früher  Jugend  für  den  geistlichen  Stand  bestimmt,  erhielt  (Jonrad 
seine  Erziehung  in  der  speyerer  Domschule  und  trat  bald  als 
Propst  und  Domdekan  in  das  speyerer  Domcapitel  ei».  Der  Ver- 
fasser hat.  wo  sich  ihm  die  Möglichkeit  dazu  bot,  einige  Streif- 
lichter auf  den  Entwickelungsgang  seines  Helden  fallen  lassen.  Es 
verdient  hervorgehoben  zu  werden,  dass  ihm  der  Nachweis  gelungen 
ist,  wie  sehr  Conrads  Schulzeit  in  Speyer  und  der  Umgang  mit 
seinen  staulisch  gesinnten  Lehrern  auf  die  Kräftigung  seiner 
reichstreuen,  staufischen  Gesinnung  von  Einfluss  gewesen  sein  muss. 
Im  Jahre  111)8  trat  Conrad  als  Protonotar  in  die  Dienste  König 
Philipps,  der  ihn  1200  nach  seiner  Wahl  zum  Bischof  von  Speyer 
mit  den  Regalien  dieser  Kirc  he  belehnte.  Während  des  wechselvollen 


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Notizen. 


271 


Kampfes  zwischen  Philipp  von  Schwaben  und  Otto  IV.  stand  Conrad 
von  Speyer  unentwegt  auf  des  ersteren  Seite.  B.  zeigt,  wie  er  von 
Jahr  zu  Jahr  dem  König  näher  tritt,  wie  dieser  ihn  immer  mehr 
zu  den  wichtigsten  politischen  Arbeiten  verwendet.  Mit  grossem 
Geschick  weiss  der  Bischof  sein  Verhältnis  zu  der  Curie  so  zu  ge- 
stalten, dass  es  trotz  seines  entschiedenen  Eintretens  für  eine  vom 
Papst  verurtheilte  Sache  doch  nur  vorübergehend  getrübt  wird. 
«Wie  er  von  Anfang  an  ihm  seiue  Dienste  gewidmet,  so  fand 
auch  die  letzte  Stunde  Philipps  Conrad  an  dessen  Seite. >  Als  die 
Mörderhand  Ottos  von  Wittelbach  den  König  traf,  war  Conrad 
zugegen,  ohne  seinen  Herrn  retten  zu  können.  Die  grosse  Be- 
deutung Conrads  tritt  nun  voll  zu  Tage:  in  seiuen  Schutz  begiebt 
sich  die  Familie  des  Gemordeten,  er  nimmt  die  Reichsinsignien  in 
seine  Verwahrung.  Sein  Entschluss,  dem  unseligen  Bürgerkrieg 
durch  die  Anerkennung  Ottos  IV.  ein  Ende  zu  machen,  hat  dann 
wesentlich  mitgewirkt,  dessen  Stellung  im  Reiche  zu  befestigen. 
Otto  ernaunte  ihn  sofort  zum  Reichshofkanzler,  und  als  solcher 
hat  er  bis  auf  ein  .fahr  vor  seinem  Tode  im  Mittelpunkt  der 
politischen  Geschäfte  Europas  gestanden.  Auch  in  Italien,  dem 
Papste  gegenüber,  verfocht  der  weltkluge  Bischof  das  kaiserliche 
Interesse.  Als  aber  die  Verhältnisse  zum  Bruche  zwischen  dem 
Papst  und  seinem  ehemaligen  Schützling  führten,  als  Otto  IV.  dem 
Bann  der  Kirche  verfiel  und  der  junge  Friedrich  II.  seinen  Einzug 
in  Deutschland  hielt,  da  hat  auch  Conrad  die  Fahne  gewechselt. 
B.  zeigt,  wie  die  Politik  Ottos  mit  der  Zeit  immer  mehr  einen 
Charakter  annahm,  den,  wie  so  viele  andere,  auch  Conrad  im 
Interesse  des  Reiches  für  verhängnisvoll  halten  musste ;  dieser  Um- 
stand, sowie  die  stautischen  Sympathien,  in  denen  er  gross  geworden 
war,  lassen  seinen  Abfall  vom  Kaiser  bis  zu  einem  gewissen  Grade 
verständlich  erscheinen.  Aber  gewiss  hat  der  Verfasser  Recht, 
wenn  er  an  dieser  Stelle  die  Worte  Winckelmanns  citirt,  der 
Uebertritt  Conrads  von  Scharfenberg  sei  «der  beste  Beleg  für  die 
allgemeine  Wahrnehmung,  dass  der  Begriff  politischer  Ehrenhaftig- 
keit den  Grossen  Deutschlands,  wenige  ausgenommen,  vollständig 
abhanden  gekommen  war».  Dasselbe  Jahr  1212  brachte  Conrad 
auch  das  Bisthum  Metz  zu.  Innocenz  III.  willigte  in  diese  ordnungs- 
widrige Vereinigung  zweier  Bisthümer  in  einer  Hand  in  Aner- 
kennung der  Dienste,  welche  Conrad  seiner  und  Friedrichs  II.  Sache 
geleistet  hatte.  Seinem  neuen  Herrn  hat  Conrad  mit  Hingebuug 
und  Eifer  gedient    Besonders  ausführlich  verweilt  der  Verfasser 


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272 


Notizen. 


bei  seiner  Thätigkeit  als  kaiserlicher  Legat  in  Italien,  wo  er  un- 
gefähr zwei  Jahre  hindurch  die  Verhandlungen  mit  der  Curie  wegen 
Auslieferung  der  mathildinischen  Güter  an  den  Papst  leitete  und 
die  gesammte  Reichsregierung  mehr  oder  weniger  in  seiner  Hand 
vereinigte.  Nach  Deutschland  1222  zurückgekehrt,  schränkte  Conrad 
seine  politische  Wirksamkeit  ein,  doch  finden  wir  ihn  häufig  am 
Hofe  des  jungen  Königs  Heinrich  (VII.),  für  dessen  Wahl  er  seiner 
Zeit  seinen  ganzen  Einfluss  geltend  gemacht  hatte,  ohne  sich  um 
die  abweichenden  Forderungen  der  Curie  zu  kümmern.  eDie  recht- 
liche Stellung  Conrads  von  Speyer  bei  der  Regentschaft  lässt  sich 
nicht  mit  Präcision  umgrenzen^  Er  starb  am  24.  März  1224. 
cEin  reiches,  viel  bewegtes  Leben  fand  seinen  Abschluss,  eine  be- 
deutende Persönlichkeit  schloss  ihre  Augen.  Was  wol  selten  einem 
Manne  und  noch  keinem  seiner  Vorgänger  —  Conrad  von  Scharfen- 
berg ist  es  zu  Theil  geworden :  an  der  Seite  seines  Königs,  dem 
er  von  der  Stunde  seiner  Erhebung  bis  zu  der,  als  Mörderhand  ihn 
traf,  in  unwandelbarer  Treue  zur  Seite  gestanden,  fand  er  seine 
letzte  Stätte.  Er  ruht  in  der  Königsgruft  des  speyerer  Domes 
neben  dem  Hohenstaufen  Philipp  von  Schwaben.» 

Der  sehr  fleissigen  und  gut  geschriebenen  Arbeit  ist  zum 
Schluss  ein  Anhang  mit  kritischen  Untersuchungen,  in  welchen  u.  a. 
einige  belangreiche  diplomatarische  Fragen  erörtert  werden,  und 
einem  Verzeichnis  der  Urkunden  Conrads  in  Regestenform  beige- 
fügt. —  Der  Verfasser  ist  ein  Schüler  Hausmanns  in  Dorpat  und 
Scheffer-Boichorsts  in  Strassburg,  unter  dessen  bewährter  Leitung 
die  historische  Wissenschaft  bereits  um  eine  stattliche  Anzahl 
tüchtiger  Monographien  bereichert  worden  ist.  B  g  n. 


J.  Tli.  He  Irnsing,  Leitfaden  der  Kirchenge»chichtc  für  höhere  evangelische 
Schulen  nebet  einer  übersichtlichen  Darstellung  «ler  wichtigsu-u 
Untersehcidnnpslehren.  Dritte  Aufl.  Dresden,  Bleyl  und  Kaemmerer. 
1887.    S.  176  und  13.  8. 

Auch  die  Zeit  des  *  kleinen  Kurtz>  scheint  im  Schwinden. 
Ein  Hinweis  darauf  mag  in  der  Thatsache  der  erforderlich  ge- 
wordenen dritten  Auflage  des  oben  genannten  Leitfadens  gesehen 
werden,  der  nicht  nur  in  unseren  Provinzen  viel  benutzt  ist,  sondern 
auch  in  Deutschland  ungeachtet  der  ihm  dort  begegnenden  starken 
Concurrenz  zur  Einführung  in  die  Mittelschulen  empfohlen  und  viel- 
fach eingeführt  war.    Die  Anbequemung  an  die  Reichsorthographie 


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Notizen. 


273 


wird  der  gegenwärtigen  Auflage  das  dem  Buch  einige  Zeit  über 
entzogene  Terrain  gewiss  rasch  wieder  gewinnen.  Die  immer 
dringender  sich  geltend  machende  Nothwendigkeit  der  Beschränkung 
des  Memorirstoffes  hat  den  erfahrenen  Verlässer  dazu  gebracht,  ein 
Lernbuch  zu  liefern,  das  die  Masse  der  Facten,  Namen  und  Zahlen 
beträchtlich  zusammenschrumpfen,  dabei  aber  die  erzählende  Form, 
namentlich  von  der  Reformationsgeschichte  ab,  vorwalten  lässt. 
Dieses  Bestreben,  durch  klare  einfache  Sprache,  warmen  kirchlichen 
Sinn  und  ruhiges  Urtheil  unterstützt,  hat  seine  Anerkennung  und, 
wie  erwähnt,  den  praktischen  Erfolg  gefunden. 

Dem  Schulmann  werden  bei  aller  gern  und  nothwendig  er- 
theilten  Zustimmung  doch  immer  auch  einige  Differenzen  mit  dem 
verehrten  Verfasser  über  die  Behandlungsweise  im  Einzelnen  sich 
ergeben,  so  über  das  Mass  der  Beschränkung  der  Zahlen.  Referent 
ist  z.  B.  der  Ansicht,  dass  an  gewissen  Stellen  Jahrzahlen  zur 
Deutlichkeit  beitragen ,  ohne  dass  sie  deshalb  gelernt  werden 
müssten.  Wenn  der  Verfasser  p.  137  nach  der  Erwähnung  des 
Einflusses  des  Darwinismus  auf  die  materialistische  Weltanschauung 
den  betr.  Abschnitt  mit  dem  Satz  schliesst :  «Doch  zeigten  Männer, 
wie  Steffens  und  Schubert,  dass  man  ein  grosser  Naturforscher  und 
zugleich  ein  gläubiger  Christ  sein  kann»  —  so  dürfte  ein  zu  Hause 
lernender  Schüler  über  die  Lebenszeit  dieser  beiden  Männer  doch 
leicht  sich  unrechte  Gedanken  machen.  —  Eine  andere  Frage,  zu 
der  die  Besprechung  des  Mönchthums  p.  45  Anlass  böte,  wäre  die 
über  die  Beibehaltung  der  Tradition  gegenüber  den  neueren  sicheren 
Ergebnissen  der  Wissenschaft.  So  weit  Referent  geschichtliche 
Lehrbücher  kennt,  will  ihm  scheinen,  dass  die  Vorsicht  in  der  Auf- 
nahme neuer  Errungenschaften  der  Forschung  sehr  weit  getrieben  ist. 
Auch  in  diesem  Sinne  wäre  eine  Entlastung  der  Schüler  wol  angezeigt. 

Für  die  Benutzung  des  Buches  in  unserer  Heimat  ist  der 
Anhang,  einen  knapp  gehaltenen  Abriss  der  provinziellen  Kircheu- 
geschichte  bis  auf  die  neuere  Zeit  bietend,  sehr  dankenswerth. 

Fr.  B. 


Hansische!  U  r  k  u  u  d  en  h  u  c  h  ,  herausg.  vom  Verein  für  hansische  (Je- 
Hellicht«-,  hearheitet  von  Konstantin  H  ö  h  I  h  a  u  in.  Band  III. 
Mit  einem  Glossar  von  Paul  Feit.  Halle,  Buchhandlung  de«  Waisen- 
hauses.   1882—1886.    S.  XXI.  und  586.  4. 

Als  Sartorius  v.  Waltershausen  1830  die  erste  urkundliche 
Geschichte  der  Hause  geschrieben,  deren  zweiter  Band  das  Urkunden- 


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274 


Notizen. 


buch  umfasste,  sprach  Karl  Friedrich  Eichhorn  es  aus.  «dass  dieser 
reiche  Vorrath  sich  zusammenbringen  lasse,  hätte  niemand  gehofft»1. 
Was  sollen  wir  sagen,  nach  der  Weiterarbeit  eines  halben  Jahr- 
hunderts ,  inmitten  einer  unvergleichlich  gesteigerten  Publicität, 
beim  Aublick  der  archivalischen  Schätze,  die  in  durchgeführtester 
Methodik  behandelt,  in  ansprechendster  Gestalt  vor  unseren  Augen 
ausgebreitet  werden  !  Der  Freude  über  den  Fortschritt  der  Er- 
kenntnis, über  den  Fortschritt  wenigstens  der  Möglichkeit  zu  tieferer 
und  vollerer  Erkenntnis  zu  gelangen,  mischt  sich  unwillkürlich  die 
Empfindung  des  Verzichts  auf  die  selbständig  eigene  Durchdringung 
des  für  den  Einzelnen  nicht  mehr  zu  bewältigenden  Materials  — 
und  resigniit  unterwirft  mau  sich  aufs  neue  dem  Gesetz  des  Tages, 
das  den  Durchschnittsmenschen  in  die  Masse  hineinzwingt,  welche 
statt  der  Einzelnen  vergangener  Generationen  an  der  Entwickelung 
schafft  und  so  auch  die  Wissenschaft  fördert. 

Das  Gegengewicht  gegen  diese  demüthigende  Erfahrung  — 
denn  es  ist  nicht  allen  gegeben,  in  der  Beschränkung  sich  wohl 
zu  fühlen  —  bietet  dann  freilich  die  Wahrnehmung,  wie  vorzüglich 
auf  abgegrenztem  Wirkungsfelde  die  Kraft  geschult,  der  Sinn  ge- 
schärft wird,  welche  ausgezeichneten  Ergebnisse  die  Theilung  der 
Arbeit  erzielt. 

Solche  widerstreitenden  Empfindungen  sind  Referenten  aber- 
mals  rege  geworden  bei  der  Durchsicht  des  ausgezeichneten  Buches, 
das  oben  genannt  wurde.  Es  bildet  den  Abschluss  der  Thätigkeit 
Höhlbaums  an  demselben,  das  vor  zehn  Jahren  als  erstes  der 
grossen  Unternehmen  des  Hansischen  Geschichtsvereins  hervortrat 
1870  erschien  der  erste,  1879  der  zweite  Band  des  Hansischen 
Urkundenbuche8,  1882  die  erste  Abtheilung  dieses  Bandes,  dem  nun 
eist,  verzögert  z.  Th.  durch  persönliche  Verhältnisse  des  Bearbeiters, 
z.  Th.  durch  den  Reichthum  der  Resultate  seiner  Forschungsreisen 
in  Frankreich  und  Flandern,  der  Schluss  gefolgt  ist.  Das  Hansische 
Urkundenbuch  bezweckt  in  Ergänzung  des  Zieles  der  Editionen 
der  Hanserecesse  vor  allem  den  Stoff  für  die  Vorgeschichte  des 
Bundes  zu  liefern :  es  verfolgt  die  Spuren  des  ersten  Auftretens 
und  der  Vereinigung  der  deutschen  Kaufleute  im  Auslande  und 
begleitet  deren  Gestaltung  und  Geschicke,  soweit  sie  nicht  auf 
Grund  allgemein  hansischer  Anstösse  sich  vollziehen  ;  es  stellt  die 
Verbindung  der  norddeutschen  Städte  in  der  Heimat  dar;  es  über- 

•  Rechtagesch.,  6,  Aufl.  11,  j>.  169. 


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Notizen. 


275 


schaut  das  Wachsthum  des  Gebiets,  in  welchem  das  lübische  Recht 
Geltung  gewinnt.  Demgemäss  umfasst  das  Werk  die  Zeit  von 
975  bis  13(i0. 

Wie  Höhlbaum  bisher  seiner  Aufgabe  gerecht  geworden,  dar- 
über ist  nur  eine  Stimme  und  hat  auch  Referent  sich  wiederholt 
(in  der  «Rev.  Ztg  >)  geäussert.  Auch  über  die  neuen  Gesichts- 
punkte, die  sich  für  die  Erkenntnis  des  Werdens  des  grossen 
Bundes  ergeben,  ist  schon  gesprochen  ;  die  Bedeutung  der  in  helleres 
Licht  gestellten  städtischen  und  städtisch-territorialen  Landfriedens- 
bündnisse für  den  Zusammenschluss  der  hansischen  Verfassung  ward 
bereits  gewürdigt.  Eine  Fülle  frischer  Anregung  zu  vertierterem 
Studium  hansischer  Geschichte  ist  geboten,  und  mit  Verlangen 
dürfte  der  Wegweisung  entgegengesehen  werden,  wie  sie  die  übliche 
Einleitung  zu  diesem  Bande  bringen  sollte. 

Dieser  Erwartung  ist  allerdings  noch  nicht  entsprochen,  doch 
wahrt  sich  H.  das  Recht ,  in  einem  selbständigen  Werke  zur 
deutschen  Geschichte  seine  Eindrücke  aus  dem  Stoffe,  mit  dem  er 
lange  Jahre  sich  beschäftigt,  niederzulegen.  Einstweilen  beschränkt 
er  sich,  wie  er  sagt,  auf  den  Bericht  darüber,  was  er  für  diesen 
Band  des  Urkundenbuches  getlian  hat,  obwol  jede  Seite  desselben 
das  beredteste  Zeugnis  für  den  Eifer  ablegt,  nicht  nur  die  Texte 
in  der  vollkommensten  Gestalt  dem  Benutzer  vorzulegen,  sondern 
ihm  auch  diejenige  Beherrschung  des  Materials  zu  ermöglichen, 
nach  der  er  selbst  gestrebt  hat.  In  diesem  Bemühen  hat  der 
Herausgeber  noch  mehr  als  zuvor  und  in  solchem  Masse,  dass  er 
damit  wol  eigentlich  einen  neuen  Weg  in  der  Methode  der  Urkunden- 
edition eingeschlagen,  sich  entschlossen,  den  fast  überreichen  Stoff 
zu  gliedern,  die  Zeugnisse  zweiten  Ranges  an  zweiter  Stelle  zu 
bieten,  aus  den  vollen  Texten,  die  ihm  vorlagen,  nur  die  ent- 
scheidenden Sätze  mitzutheilen,  die  anderen  blos  anzudeuten,  ganze 
Urkundengruppen,  die  dem  Rahmen  des  Werkes  sich  nicht  hätten 
fügen  können,  nur  inhaltlich  auszunutzen,  ihre  Mittheilung  jedoch 
anderer  Gelegenheit  aufzubewahren  und  in  langer  Reihe  von  An- 
merkungen, Erläuterungen  und  Ausführungen'  dem  Leser  gleich  bei 
der  ersten  Benutzung  mit  dem  Gewinn  jener  Einsicht  an  die  Hand 
zu  gehen,  die  ihm  selbst  erst  allmählich  zu  erwachsen  vermochte. 

Indem  Höhlbaum  in  seinem  Bericht  die  Oertlichkeiten  be- 
zeichnet, an  welchen  er  neue  Beiträge  heben  konnte  oder  von  denen 

1  S.»  nauuMitlich  zu  Nr.  4'23,  504,  5-15,  KOI  u.  v.  a. 


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270 


Notizen. 


sie  ihm  zuflössen,  skizzirt  er  leicht  die  Momente  der  Geschichte, 
welche  durch  jene  Beiträge  in  neue  oder  wol  auch  überhaupt  in 
die  erste  Beleuchtung  treten.  Fast  zum  ersten  Mal  erschlossen 
wird  die  Bedeutung  der  flandrischen  Begebenheiten  für  die  Ent- 
wickelung  des  allgemeinen  Handelsverkehrs  und  specieü  auch  des 
hansischen.  Die  bisherige  Entlegenheit  dieses  Forschungsgebietes 
bewog  den  Herausgeber,  die  Lage  jener  Landschaft  in  den  kritischen 
Jahren  1358—60  eingehender  zu  erörtern.  —  An  denselben  Zeit- 
punkt knüpft  der  Versuch  an  einer  neuen,  von  der  Darstellung 
Schäfers  abweichenden  Begründung  der  Stellungnahme  Waldemars 
von  Dänemark  zur  Hanse.  —  Hinsichtlich  des  Ostens  vermag 
dieser  Urkundenband  die  Linien  sicherer  nachzuziehen,  auf  denen 
der  Verkehr  der  Deutschen  und  Slaven  in  einer  Zeit  verschärfter 
nationaler  Gegensätze  sich  bewegt  hat.  Andererseits  bietet  er 
Zeugnisse  aus  dem  Westen  dar,  in  welchen  die  Kaufleute  von 
Preussen  auf  weitem  Wege  jenseit  des  Rheins  und  des  Kanals 
und  als  mächtige  Geldherren  im  alten  Europa  erkannt  werden. 

«Weiter  hinaus,  drüben,  wo  vor  700  Jahren  der  norddeutsche 
Kaufmann,  bald  der  Vertreter  der  hansischen  Gedanken,  die  Lande 
an  der  Düna  und  an  der  finnischen  Bucht  für  Deutschland  zuerst 
erschloss,  war  noch  immer  nach  neuen  Abdrücken  seines  Wesens 
zu  forschen,  so  eifrig  man  auch  schon  seit  langer  Zeit  die  deutsche 
Natur  der  fernen  Colonien  hatte  feststellen  können.  Es  ist  eine 
ernste  Aufgabe  der  lebendigen  Wissenschaft,  welche  sich  nicht  in 
die  Alterthümer  verliert  und  erstorbenen  Bildungen  nachspürt,  die 
gemeinsamen  Grundlagen  der  alten  Heimat  und  dieser  Nieder- 
lassungen am  Meere  beständig  nachzuweisen ;  denn  eine  geschicht- 
lich gewordene  Kraft  des  deutschen  Volks  sieht  sie  vor  sich,  deren 
Beruf  noch  nicht  vollendet  ist.  Bis  in  die  jüngste  Zeit  hat  der 
geschichtliche  Sinn  der  Nachkommen  der  norddeutschen  Colonisten 
den  Anschluss  an  die  schöpferische  Vergangenheit  deutschen  Bürger- 
thums gesucht :  die  Entdeckungen,  welche  ihn  belohnten,  gewannen 
unter  diesem  Lichte  erhöhte  Bedeutung.» 

Wiewol  bereits  im  zweiten  Bande  es  geschehen,  hat  Höhlbaum 
durch  erneute  Studien  verstärkten  Anlass  gefunden  zu  betonen, 
dass  in  der  hansischen  Forschung  Westfalen 
überhaupt  näher  in  den  Vordergrund  der  Be- 
trachtung gerückt  werden  muss.  «Es  zeigt  sich, 
dass  die  Handlungen  der  Einzelnen  und  die  Triebe  der  Gesammt- 
heit  der  Städte  aus  Westfalen  einen  grösseren  Antheil  an  der 


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Notizen.  277 

Gestaltung  des  hansischen  Wesens  gewonnen  haben,  als  ihnen  die 
altere  Ansicht  eingeräumt  hat.»  Eine  Wahrnehmung,  die  sich  Re- 
ferenten auf  eigenem  Forschungswege  erst  jüngst  zwingend  aufge- 
drungen hat. 

Schon  aus  diesen  wenigen  Bemerkungen  lässt  sich  auf  den 
unerschöpflichen  Reichthum  der  Beziehungen  schliessen ,  die  uns 
in  diesem  Bande  erschlossen  werden.  Selbst  nur  beim  Durchblattern 
treten  sie  überraschend  hervor.  Noch  1882  erschien  e'nem  Kenner 
hansischer  Geschichte  wie  Frensdorff  die  zu  Ende  des  12.  Jahr- 
hunderts in  Frank  reich  verbreitete  Kenntnis  der  Handelsbedeutung 
Dortmunds  auffällig.  Eine  als  Nachtrag  zu  den  früheren  Bänden 
mitgetheilte  Urkunde  des  Erzbischofs  Friedrich  I.  von  Köln  aus 
dem  J.  1103  (Nr.  601)  belehrt  uns  jetzt,  dass  Dortmund  im  ge- 
nannten Jahre  bereits  ein  alter  Angelpunkt  auf  dem  Handels- 
wege aus  Nord  frank  reich  über  die  Maas  nach  Sachsen  gewesen.  — 
Oder :  ein  Tarif  des  kölnischen  Rheinzolles  aus  den  JJ.  1350 — 60 
(Nr.  545)  wirft  die  bisher  vielfach  geltende  Vorstellung  vom  rheini- 
schen Wasserverkehr  bis  1819  über  den  Haufen.  Es  galt  die  An- 
sicht, dass  vor  der  Sprengung  der  Klippen  im  Binger  Loch  die 
Schifffahrt  ab-  und  aufwärts  in  Bingen  sistirt  sei ;  hier  Stapelplatz 
und  Hauptzollstätte  naturgemäss  habe  eingerichtet  sein  müssen. 
Süd-  und  norddeutsche  Schiffer  hätten  hier  die  natürliche  Grenze 
ihres  Bereichs  gefunden.  Nichts  von  alledem.  Der  Tarif  kennt 
Schiffe,  die  von  Köln  jiach  Speier,  die  von  Köln  den  Main  auf- 
wärts fahren  ;  das  Binger  Loch  hatte  also,  wenn  auch  immerhin 
seine  Gefahren,  so  doch  keineswegs  eine  den  Verkehr  hemmende 
oder  gar  abschliessende  Bedeutung.  —  So  einige  Beispiele. 

Ein  Anhang  in  drei  Theilen  handelt  vom  Recht  des  deutschen 
Kaufmanns  in  England,  Flandern  und  Russland.  Eine  Gesamrnt- 
ausgabe  der  Nowgoroder  Skraen  wird  als  ein  Band  der  Hansischen 
Geschichtsquellen  in  Aussicht  gestellt,  vorläufig  nur  Bericht  über 
die  Vorarbeiten,  die  bisher  benutzten  Handschriften  erstattet.  — 
Abweichend  von  der  bisher  festgehaltenen  Weise  ist  das  Orts-  und 
Personenregister  zusammengezogen  und  die  Trennung  der  Personen 
nach  Ständen  unterblieben. 

Ist  es  den  Freunden  hansischer  Geschichte  ein  schwerer  Ge- 
danke, den  seit  mein-  als  15  Jahren  mit  dem  Urkundenbuch  ver- 
bundenen Herausgeber  fortan  von  demselben  getrennt  zu  wissen, 
so  freut  sie  andererseits  die  Erwartung,  die  in  der  langjährigen 
Hingabe  an  das  Werk  gereiften  Anschauungen   Höhlbaums  in 


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278  Notizen. 

zusammenhängender  Darstellung  kennen  zu  lernen.  Dass  die  voll«' 
Kraft  zur  Ausgestaltung  seines  Planes  ihm  vergönnt  wäre,  ist  des 
Ref.  warmer  Wunsch.  Fr.  B.- 

L  n  t  h  i'  r  ,  der  Schöpfer  der  protestantischen  Schule,  als  Knabe  und  Schüler.' 

Rede,  am  10.  Nov.  1886  gehalten  in  der  Realschule  zu  Mi  tau  'von 
Carl  H  n  n  u  i  u  s.    Riga,  A.  Stieda.    1887.    S.  18.   8.        .  .  . 

Ein  frisches  lebendiges  Wort,  das  die  Aufmerksamkeit  der 
jugendlichen  Hörer  gefesselt  haben  rauss,  wie  es,  im  Familien- 
kreise gut  vorgetragen,  eine  ernste  Weihestunde  hervorzurufen 
geeignet  ist. 

Fr.  B. 


AoaBOjeHo  uen3ypo».  —  Pcbcji.,  19-ro  MapTa  1887  r. 

lednckt  bei  Lindfor»'  Erb.n  in  ImL 


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Die  Gegenreformation  und  die  rigasche  Domschule. 

Ein  Vortrag. 


-  -%J>fQ|rn  12.  Juni  1522  hatte  Andreas  Knopken  in  der  Petrikirche 
@j#?Jk  in  Riga  unter  dem  Vorsitze  des  Bürgermeisters  Durkop 
in  öffentlicher  Disputation  das  Evangelium  von  der  freien  Gnade 
Gottes  in  Christo  gegen  die  von  den  Mönchen  vertretene  papistische 
Lehre  siegreich  verfochten.  Seitdem  war  der  durch  Luther  be- 
gonnenen Reformation  der  christlichen  Kirche  auch  in  unseren 
Heimatlanden  die  Bahn  gebrochen.  Sie  fand  nach  Hinwegräumung 
der  aus  der  Papstkirche  hervorgewachsenen  Herrschaft  des  deutscheu 
Ritterordens  uijd  der  Landesbischöfe  allgemeine  Verbreitung,  und 
zwar  in  Estland  «unter  dem  Schutze  der  schwedischen  Herrschaft, 
in  Kurland  unter  der  Pflege  des  Herzogs  Gotthard  Kettler,  in 
Livland  endlich  unter  dem  Schutze  der  vom  Polenkönig  Sigismund  II. 
August  vertragsmässig  (am  28.  Nov.  15G1  in  Wilna)  zugesicherten 
Religionsfreiheit.  Die  Städte  waren  vorangegangen,  das  flache 
Land  folgte  allgemach,  so  weit  die  Wirren  und  Schrecken  des  seit 
1558  in  Livland  und  theilweise  auch  in  Estland  wüthenden  Krieges 
diese  Friedensarbeit  sich  hier  vollziehen  Hessen.  Als  das  von  der 
Kriegsgeissel  tief  verwundete  Livland  nach  24  Jahren  schrecklicher 
Drangsal  endlich  durch  den  Friedensvertrag  von  Sapolsk  unter 
polnischer  Herrschaft  verblieb,  war  es  durchweg  lutherisch.  Der 
päpstliche  Gesandte  Antonio  Possevino  bezeichnete  es  damals  als 
ein  von  der  wahren  Religion  der  römischen  Kirche  abgefallenes 
Land,  in  welchem,  wie  er  sich  boshaft  ausdrückt,  die  Augsburgische 

BaltUclie  Mo».t*«chrift.  Bd.  XXXIV.   lieft«.  19 


280      Die  Gegenreformation  und  die  rigasche  Domschule. 


<Confusion»  bekannt  werde,  während  nach  seinem  Bericht  König 
Stephan  Livland  als  eine  c leere  Tafel»  ansah,  ganz  dazu  geeignet, 
die  katholische  Religion  wieder  einzuführen.  So  vollständig  war 
also  das  Land  damals  dem  Augsburger  Bekenntnis  beigetreten. 
Die  junge  evangelische  Kirche  Livlands  ging  jetzt  einer  langen 
und  schweren  Prüfung  ihrer  Lebensfähigkeit  entgegen,  da  trotz 
zugesagter  Religionsfreiheit  Jesuiten  und  Polenkönig  darin  überein- 
stimmten, sie  dürfe  hier  im  Lande  nicht  geduldet  werden. 

Possevino  hatte  nämlich  schon  vor  Abschluss  des  Sapolsker 
Friedens  mit  König  Stephan  alles  Nöthige  vereinbart  und  entwickelte 
nun  in  einem  an  den  Papst  Gregor  XIII.  gerichteten  umfangreichen 
Schriftstück  vom  30.  März  1583  auf  Grund  einer  perfid  zugeschnitte- 
nen kurzen  Uebersicht  der  livländischen  Geschichte,  in  welcher  die 
fürchterlichen  Schläge  der  letzten  Jahrzehnte  als  directe  Strafe  für 
die  Reformation  bezeichnet  werden,  einen  vollständigen  Plan  zur 
Katholisirung  des  Landes.  Er  zeigte,  wie  unter  Benutzung  der  durch 
die  Besitzergreifung  Livlands  seitens  des  katholischen  Königs 
Stephan  dargebotenen  Gelegenheit  trotz  dessen  Zusage  freier 
Religionsübung  nach  dem  Augsburgischen  Bekenntnis  doch  diese 
ganze  Provinz  wieder  zum  Gehorsam  gegen  den  päpstlichen  Stuhl 
zurückgeführt  werden  könnte,  dann  aber  auch  zu  einem  Stützpunkt 
gemacht  werden  müsste  für  weitere  Ausbreitung  des  katholischen 
Glaubens  auch  noch  nach  Schweden  und  Russland.  Er  war  ja 
Jesuit  und  mit  fanatischem  Eifer  darauf  bedacht,  die  unter  Führer- 
schaft seines  Ordens  schon  seit  einem  Menschenalter  weit  und  breit 
betriebene  Gegenreformation  auch  für  Livland  zu  organisiren  und 
in  Gang  zu  bringen.  Und  er  konnte  bereits  damals  dem  Papste 
mit  Genugthuung  berichten,  welch  vielversprechender  Anfang  mit 
der  Verwirklichung  seiner  Pläne  gemacht  sei.  Denn  es  war  ihm 
gelungen,  nicht  nur  König  Stephans  energische  Mitwirkung  zu  ge- 
winnen, sondern  auch  in  der  Person  des  dem  Könige  nahestehenden 
Reichskanzlers  und  Krongrossfeldherrn  Jan  Zamoiski,  der  selbst 
vom  Protestantismus  zur  Papstkirche  übergetreten  war,  einen  alle- 
zeit bereiten  Werkgenossen  zu  finden.  Beide,  König  und  Kanzler, 
waren  mit  grossem  Eifer  an  die  Ausführung  des  Actionsprogramms 
gegangen. 

Schon  einen  Tag  nach  Unterzeichnung  des  Sapolsker  Friedens, 
in  welchem  der  Zar  gegen  Räumung  russischer  Gebiete  dem  Könige 
Livland  förmlich  abtrat,  hatte  Stephan  von  Grodno  aus  einen  Be- 
fehl an  den  dörptschen  Magistrat  erlassen,  es  dürften  die  Katholiken 


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Die  Gegenreformation  und  die  rigasche  Domschale.  281 

in  Dorpat  von  städtischen  Aemtern  nicht  ausgeschlossen  werden, 
wie  ihnen  denn  auch  freie  Ausübung  ihrer  Religion  zustehe.  Allein 
es  existirte  damals  kein  Magistrat  in  Dorpat ;  denn  nachdem  fast 
alte  früheren  Einwohner  nach  Russland  waren  abgeführt  worden, 
bestand  die  dermalige  Einwohnerschaft  fast  durchweg  aus  Russen. 
Als  diese  im  Februar  1582  die  Stadt  räumten  und  Zamoiski  ein- 
gezogen war,  zeigte  es  sich,  dass  auch  ein  zweites  Mandat  des 
Königs,  welches  14  Tage  nach  dem  Friedensschluss  katholische 
Ansiedler  unter  Zusage  günstigster  Bedingungen  herbeigerufen 
hatte,  wirkungslos  geblieben  war.  Es  existirten  damals  in  Dorpat 
elf  Kirchen,  Zamoiski  aber  bestimmte,  es  solle  nur  die  eine  St. 
Johanniskirche  den  Protestanten  eingeräumt  werden,  alle  übrigen 
Kirchen  sollten  den  Katholiken  gehören.  Vergebens ;  die  Stadt 
blieb  leer.  Ein  Versuch  des  Königs,  katholische  Massovier  überzu- 
siedeln, war  auch  nicht  gelungen ;  man  mussie  sich  dazu  eut- 
schliessen,  die  Stadt  mit  protestantischen  Bürgern  zu  bevölkern, 
welchen  mittelst  königlichen  Patentes  vom  14.  Mai  1582  freie 
Ausübung  ihrer  Religion  nach  dem  Augsburgischen  Bekenntnis  zu- 
gesichert wurde.  Jetzt  füllte  sich  die  Stadt  rasch  mit  deutschen 
Bürgern  lutherischen  Glaubens  und  das  erste  Protokoll  des  förmlich 
wieder  bestallten  Rathes  trägt  das  Datum  des  9.  Juli  1583. 

In  Dorpat  hatte  der  Erfolg  nicht  ganz  dem  Eifer  entsprochen. 
In  Riga  war  anders  vorgegangen  worden. 

Am  12.  März  1582  war  König  Stephan  unter  grossem  Ge- 
pränge in  Riga  eingezogen,  das  zum  ersten  Male  einen  König  in 
seinen  Mauern  beherbergen  sollte.  Dieser  wollte  das  Osterfest 
daselbst  feiern  und  Hess,  als  seine  Forderung,  ihm  solle  eine  Kirche 
eingeräumt  werden,  Bestürzung  und  Gegenvorstellungen  hervorrief, 
am  Freitag  vor  Palmsonntag  kurzer  Hand  die  St.  Jacobikirche  für 
den  katholischen  Gottesdienst  einfach  wegnehmen.  Ebenso  wies  er 
die  beim  Nonnenkloster  befindliche  Marien-Magdalenenkirche  den 
Katholiken  zu,  da  sich  im  Kloster  noch  einige  hochbetagte  Nonnen 
befanden.  Gegen  Ueberlassung  der  übrigen  Kirchen  und  der  ehe- 
mals im  Besitz  des  Erzbischofs  und  des  Domcapitels  gewesenen 
Häuser  an  die  Stadt  musste  diese  schnöder  Weise  zum  Besten  der 
weggenommenen  Jacobikirche  auch  noch  jährlich  100  Gulden  zahlen. 
Am  2.  Mai  1582  verliess  König  Stephan  die  Stadt ;  Tags  zuvor 
aber  hatte  er  seinen  seitherigen  Secretär  Solikowski  zum  Curator 
der  beiden  den  Protestanten  weggenommenen  Kirchen  und  des 
Nonnenklosters  ernannt    und  als  unzweideutigen  Beweis  seiner 

19* 

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282      Die  Gegenreformation  und  die  rigasche  Domschule. 


Absichten  den  wilnaschen  Bischof  und  nachmaligen  Cardinal  Georg 
Radziwil  zum  Statthalter  von  Livland  in  Riga  eingesetzt.  Bereits 
in  jenem  Mandat,  welches  katholische  Einwanderer  ins  Land  rief, 
hatte  der  König  die  Wiedererrichtung  eines  katholischen  Bisthums 
für  Livland  angekündigt;  am  3.  December  1582  führte  er  dieses 
Vorhaben  aus,  indem  er  Solikowski  zum  Bischof  von  Wenden  er- 
nannte, diesen  Bischofssitz  mit  den  Schlössern  und  Gebieten  von 
Wolmar,  Trikaten,  Burtneck,  Wrangelshof,  Rodenpois  und  Odenpä 
ausstattete  und  dem  Bischof  ausserdem  die  Schlösser  in  Wenden, 
Pernau,  Dorpat  und  Fellin  zur  Wohnung  anwies,  während  den 
Prälaten  und  Domherren  in  Wenden  eine  ganze  Gasse  überlassen 
wurde.  Der  zum  Katholicismus  übergetretene  livländische  Edel- 
mann Otto  Schenking  wurde  Dompropst.  Am  Tage  nach  der  Aus- 
fertigung dieser  Stiftungsurkunde  unterzeichnete  der  König  die 
Constitutiones  Livotiiae,  welche  die  Verfassung  und  Verwaltung  des 
Landes  regeln  sollten.  In  diesem  Erlass  wurde  der  soeben  erst 
ernannte  Wendensche  Bischof  zum  Stellvertreter  des  Statthalters 
bestimmt,  und  damit  man  darüber  nicht  im  Zweifel  bleibe,  welche 
Kirche  der  König  als  die  in  Livland  zur  Herrschaft  berufene  an- 
sehe, so  bezeichnete  er  die  Lutheraner  Livlands  in  diesem  Grund- 
gesetz des  Laudes  als  «Dissidenten». 

Das  waren  die  vielversprechenden  Anfänge ,  über  welche 
Possevino  dem  Papst  berichten  konnte.  Alles  war  nunmehr  ein- 
gerichtet, die  Propaganda  konnte  beginnen.  Die  erforderlichen 
Missionskräfte  lieferte  das  von  Possevino  errichtete  jesuitische 
Seminar  in  Wilna.  von  wo  bereits  am  7.  März  1583  zwölf  Jesuiten 
nach  Riga  kamen,  vom  Könige  schriftlich  dem  Rathe  dringend 
empfohlen.  Sie  rühmten  sich  vor  dem  Rath  ihrer  selbstlosen  Hin- 
gabe an  Seelsorge  und  Jugendunterricht  und  verlangten  zunächst 
nichts  weiter,  als  in  Leistung  ihrer  guten  Dienste  nicht  gestört 
zu  werden,  die  sie  wie  ehedem  der  heilige  Priester  Meinhard  diesem 
Lande  widmen  wollten.  Sie  boten  auch  gleich  die  Errichtung 
einer  Jesuitenakademie  in  Riga  an.  Der  Rath  lehnte  nun  zwar 
dieses  Anerbieten  ab,  konnte  aber  dessen  Ausführung  doch  nicht 
hindern,  da  die  Jesuiten  sich  im  Nonnenkloster  festsetzten,  welches 
der  König  ihnen  sogar  sammt  der  Marien-Magdalenenkirche  schenkte, 
als  sie  gegen  Ende  des  Jahres  1584  ihr  Collegium  wirklich  er- 
öffneten. Auch  in  Dorpat  zogen  die  Jesuiten  schon  Eude  März 
1583  eiu  und  nahmen  auch  hier  das  ehemalige  Nonnenkloster  mit 
der  Katharinenkirche  für  sich  in  Besitz.    Ihre  Agitation  behufs 


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Die  Gegenreformation  und  die  rigasche  Domschule.  283 

massenweiser  Ueberführung  des  Landvolkes  in  den  8choss  der 
alleinseligmachenden  Papstkirche  wurde  gleichzeitig  begonnen. 
Schenking,  welcher  vier  Jahre  später  Wendenscher  Bischof  wurde, 
predigte  in  der  Umgegend  Rigas  den  Bauern  in  ihrer  Sprache,  die 
er  als  Landeskind  konnte,  während  andere  Jesuiten  die  Sprachen 
des  Landvolkes  mit  Eifer  sich  anzueignen  suchten  und  bald  ihm 
zur  Seite  treten  konnten.  Was  Schenking  predigte,  ist  höchst  be- 
zeichnend :  die  lutherischen  Prediger  seien  Miethlinge ;  die  katho- 
lischen Geistlichen  dagegen,  wie  z.  B.  der  Cardinal  Radziwil  und 
er  selbst,  hätten,  wiewol  vornehmen  Geschlechtern  entstammend, 
dennoch  alles  verlassen,  um  sich  dem  Dienste  der  katholischen 
Kirche  zu  weihen,  woraus  denn  doch  klar  hervorgehe,  dass  die 
katholische  Kirche  die  wahre  Kirche  Christi  sei.  Andere  Sendlinge 
redeten  den  Fischerbauern  auf,  der  Fischfang  habe  wegen  ihres 
Uebertrittes  zum  Lutherthum  abgenommen,  tauften  sodann  das 
Meer,  segneten  Wasser  und  Fischer,  warfen  die  gefangenen  Fische 
wieder  in  die  See  und  versprachen  glücklichen  Fang,  wenn  die 
Bauern  silberne  Fische  würden  machen  lassen  und  der  katholischen 
Jacobikirche  in  Riga  verehren.  —  Religionsbücher  und  Flugschriften 
wurden  verbreitet  zur  Unterstützung  der  mündlichen  Ueberredung. 
Die  stattgefundenen  Uebertritte  wurden  sorgsam  gezählt  und  ge- 
hörig bekannt  gemacht,  wobei  auch  wol  Uebelthäter  in  Folge  ihres 
Uebertrittes  Milderung  oder  gar  Erlass  ihrer  Strafe  erhielten. 
Laienbruderschaften  wurden  in  Riga  und  in  Dorpat  gebildet,  welche 
in  jeder  Weise  die  Propaganda  der  Jesuiten  unterstützten.  Dazu 
erklärte  der  Cardinal-Statthalter  auf  dem  Landtage  von  1583,  er 
wolle  sich  zwar  der  vom  Könige  für  Livland  gewährten  Zulassung 
des  Augsburgischen  Bekenntnisses  nicht  widersetzen,  müsse  aber 
doch  um  seines  Gewissens,  Standes  und  Amtes  willen  dagegen 
protestiren.  Im  Jahre  1584  machte  er  persönlich  eine  Rundreise 
durchs  Land  uud  stellte  schon  damals  in  Dorpat  das  Verlangen, 
die  lutherischen  Pastoren  sollten  den  Esten  nicht  mehr  predigen. 
Er  drang  zwar  nicht  durch,  weil  der  Rath  sich  auf  das  Privilegium 
des  Königs  berief,  doch  war  er  von  der  überall  durch  die  Jesuiten 
mit  Eifer  betriebenen  Propaganda  so  sehr  befriedigt  und  von  dem 
schliesslichen  Erfolg  derselben  so  sehr  überzeugt,  dass  er  auf  die 
Mauer  des  Schlosses  in  Riga  eine  Inschrift  setzen  Hess,  in  welcher 
er  die  Wiederherstellung  der  alten  Religion  in  Livland  pries. 

Das  Bekehrungswerk  wurde  unter  Hochdruck  betrieben,  ging 
aber  auf  diesem  Wege  den  Jesuiten  doch  noch  zu  langsam  vorwärts. 


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284      Die  Gegenreformation  und  die  rigasche  Domschule. 

Sie  achteten  darum  dessen  nicht,  dass  der  König  in  seiner  dein 
Cardinal-Statthalter  ertheilten  Instruction  vom  i.  Mai  1582  aus- 
drücklich alle  Mässigung  im  Vorgehen  geboten  hatte,  damit  die 
Gegner  keinerlei  Handhabe  gewinnen  könnten,  Bewegung  oder  Auf- 
ruhr im  Volk  zu  entfachen,  sondern  fingen  bald  genug  an,  feind- 
selig gegen  evangelische  Prediger  und  Laien  aufzutreten.  Ein 
lutherischer  Landwirth  in  der  Umgegend  Dorpats  wurde  dessen 
angeklagt,  die  Bauern  zum  Lutherthum  verführt  zu  haben;  der 
Pastor  Mag.  Johann  zum  Dahle  in  Riga  wurde  angeklagt,  die 
Jesuiten  von  der  Kanzel  Zauberer  gescholten  zu  haben,  weil  er, 
die  Worte  des  Apostels  Paulus  an  die  Galater  (Cap.  3,  l)  an- 
wendend, gesagt  hatte :  «o  ihr  unverständigen  Rigenser,  wer  hat 
euch  bezaubert,  ohne  Noth  die  Jesuiten  in  die  Stadt  aufzunehmen  I> 
Der  Cardinal-Statthalter  verlangte  höchst  aufgebracht  vom  Rath 
die  Auslieferung  des  Pastors,  und  nur  die  Drohung  der  Bürger- 
schaft, <den  Jesuiten  ihre  weiss  abgeputzte  Kirche  blutroth  anzu- 
streichen!,  wenn  dieses  Wesens  zu  viel  gemacht  würde,  bereitete 
diesem  Process  ein  rasches  Ende.  Anderen  Predigern  Rigas  aber 
wurde  vom  Cardinal-Statthalter  die  Kanzel  verboten ;  andere  Pro- 
cesse  wurden  von  den  Jesuiten  angestrengt,  da  sie  als  Vertreter 
der  Papstkirche  jegliche  Zurückweisung  ihrer  schnell  sich  steigernden 
Ansprüche  und  Eingriffe  als  Beleidigung  ihrer  Kirche  und  des  der- 
selben angehörenden  Königs  bestraft  zu  sehen  verlangten.  Im 
Laufe  der  Jahre  sollen  sie  allein  in  Riga  bis  400  Processe  an- 
hängig gemacht  haben.  In  Dorpat  bewiesen  sie  sich  ebenso  händel- 
süchtig, während  sie  stets  über  Streitsucht  der  Lutheraner  klagten. 
Ueberall  aber  hatten  sie  an  den  immer  zahlreicher  ins  Land  ge- 
schickten polnischen  Beamten  willfährige  Beschützer  ihres  Treibens. 
Zugleich  benutzten  sie  jede  Gelegenheit,  um  die  Autorität  der 
protestantischen  Magistrate  zu  untergraben.  Tbeils  handelten  sie 
selbst  den  bestehenden  Gesetzen  zuwider,  theils  ermuthigten  sie 
ihre  Schützlinge  zu  solchen  Handlungen,  wussten  dann  für  Straf- 
losigkeit zu  sorgen  und  so  dem  niederen  Volk  eine  hohe  Meinung 
von  ihrer  Macht  beizubringen,  da  sie  es  eben  fertig  brachten,  offen 
aller  Autorität  zu  trotzen. 

Die  Zerwürfnisse  zwischen  Rath  und  Bürgerschaft  in  Dorpat 
und  gleichzeitig  in  Riga,  welche  Macht  und  Ansehen  der  Magi- 
strate zu  vernichten  drohten,  waren  den  Jesuiten  eben  recht.  In 
Dorpat  drohte  ein  Bürger,  er  wolle,  wenn  der  Rath  nicht  nach- 
gebe, c unter  die  Jesuiten  ziehen  und  unter  ihnen  wohnen,  wie 


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Die  Gegenreformation  und  die  rigasehe  Domschule.  285 

denn  der  Rath  in  einem  halben  Jahre  kaum  den  zehnten  Theil  der 
Bürger  behalten  würde >.  In  Riga  kam  es  ja  gelegentlich  der 
Einführung  des  neuen  Kalenders  zu  offener  Empörung  unter  Martin 
Gieses  Leitung,  der  zugleich  die  Jesuiten  benachrichtigen  Hess,  es 
sei  gar  nicht  auf  sie  abgesehen,  sondern  auf  Abwerfung  der  Herr- 
schalt des  Rathes.  Die  Jesuiten  antworteten  beifällig  und  kenn- 
zeichneten damit  deutlich  genug  ihre  ganze  Taktik.  Freilich,  sie 
säeten  Wind  und  ernteten  Sturm.  Denn  als  Giese  zwei  und  ein 
halbes  Jahr  später  seine  durch  blutigen  Terrorismus  angemasste 
Herrschaft  über  die  Gemüther  seiner  Mitbürger  nur  noch  dadurch 
behaupten  konnte,  dass  er  diese  zu  immer  grösseren  Ausschreitungen 
mit  sich  fortriss,  da  veranlasste  gerade  er,  dass  die  Jacobikirche 
den  Jesuiten  mit  Gewalt  entrissen  und  sie  selbst  aus  Riga  verjagt 
wurden.  Zwei  Jahre  darauf  wurde  Giese  auf  Befehl  einer  be- 
sonderen königlichen  Commission  nebst  zweien  seiner  thätigsten 
Genossen  öffentlich  enthauptet,  der  Verfassungsstreit  aber  zwischen 
Rath  und  Bürgerschaft  nach  Bestrafung  der  anderen  Rädelsführer 
beigelegt. 

Mittlerweile  war  König  Stephan  am  2.  (12.)  December  1580 
gestorben  und  ihm  war  der  katholisch  erzogene  schwedische  Kron- 
prinz als  Sigismund  III.  auf  dem  polnischen  Königsthrone  gefolgt. 
Als  nun  König  Sigismund  vom  12.— 21.  November  1589  in  Riga 
weilte,  verlangte  er  die  Wiederaufnahme  der  Jesuiten.  Die  Stadt 
protestirte  unter  Appellation  an  den  polnischen  Reichstag  ;  allein 
dieser  nahm  sich  der  Sache  nicht  an  und  der  König  setzte  die 
Rückkehr  der  Jesuiten  und  die  Rückgabe  der  Jacobikirche  im 
Jahre  1590  durch.  Als  Entgelt  dafür  gestattete  er,  die  Zahl  der 
lutherischen  Kirchen  in  Riga  um  eine  zu  vermehren,  —  es  war 
das  die  neuerbaute  St.  Gertrudkirche.  Die  Jesuiten  aber  waren 
nun  doch  wieder  da  und  König  Sigismund,  ganz  der  Leitung  seines 
Beichtvaters,  des  Jesuiten  Bernhard,  folgend,  verlieh  ihnen  dazu  auch 
noch  ansehnliche  Gtiterdonationen  und  reichliche  Mittel  zur  Er- 
richtung eines  neuen  Collegiums  in  Wenden,  welches  nunmehr  das 
dritte  im  Lande  war.  Ihre  Stellung  war  jetzt  stärker  als  vor  ihrer 
Vertreibung  aus  Riga,  demzufolge  auch  ihr  Auftreten  dreister  als  vor- 
her. Aus  Dorpat  wurde  der  estnische  Prediger  Christoph  Berg  auf 
Bischof  Schenkings  Befehl  gefangen  weggeführt,  weil  er  nicht  aufge- 
hört hatte,  den  Esten  zu  predigen.  Ja,  der  Bischof  wirkte  endlich 
einen  Befehl  des  Königs  vom  1.  December  1012  aus,  der  den  lutheri- 
schen Predigern  Livlauds  geradezu  untersagte,  den  <  Undeutschen  >  zu 


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286      Die  Gegenreformation  und  die  rigasche  Domschule. 


predigen  und  sie  seel sorger isch  zu  bedienen.  Die  Proteste,  welche 
dagegen  laut  wurden,  beantwortete  der  Bischof  im  Jahre  1613  mit 
Anordnung  jener  berüchtigten  < Kirchenvisitation»,  deren  Zweck 
die  Durchführung  dieses  Mandates  war.  Die  Visitatoren  verlangten 
überall  auf  dem  flachen  Lande  die  Entfernung  der  lutherischen 
Prediger  dnrch  die  weltliche  Obrigkeit,  d.  h.  durch  die  polnischen 
Beamten.  In  Dorpat  wurde  1617  die  Feier  des  hundertjährigen 
Reformationsfestes  verboten,  während  in  Wenden  die  Protestanten 
an  Feiertagen  der  katholischen  Kirche  nicht  ihre  Werktagsarbeit 
thun  durften.  Ein  lutherischer  Prediger  Dorpats  hatte  zwei  Kinder 
lutherisch  getauft,  welche  der  katholische  Pfarrer  von  Marien  bürg 
für  sich  in  Anspruch  nahm,  und  dafür  sollte  der  Pastor  500  Gulden 
Strafe  zahlen,  wie  er  denn  auch  auf  Uebertretung  des  königlichen 
Befehls  verklagt  wurde,  weil  er  Esten  auf  ihr  dringendes  Bitten 
mit  dem  heil.  Abendmahl  bedient  hatte.  In  Wenden  drohte  der 
polnische  Unterstarost,  die  lutherischen  Einwohner  zum  Besuch  der 
katholischen  Gottesdienste  zu  zwingen ;  in  Dorpat  geschah  das 
wirklich  mit  denjenigen  Esten,  welche  die  lutherische  St.  Johannis- 
kirche  besuchen  wollten,  indem  die  Jesuiten  sie  von  Heiduken  in 
die  katholische  Marienkirche  treiben  Hessen.  Jeder  Widerspruch 
aber  gegen  dergleichen  Bekehrungsmittel  wurde  von  den  polnischen 
Beamten  als  Auflehnung  gegen  den  König  mit  Strafe  bedroht. 


Der  Demagoge  Giese  hatte  aus  Riga  die  Jesuiten  zwar  ver- 
trieben, aber  sie  waren  wiedergekehrt  und  man  hatte  die  Erfahrung 
gemacht,  dass  ihrer  Propaganda  mit  Gewaltmitteln  nicht  beizu- 
kommen war,  da  die  polnische  Staatsgewalt  je  länger  je  mehr  ihre 
Stellung  im  Lande  zu  einer  übermächtigen  werden  Hess.  Ihrer 
Propaganda  konnte  nur  erfolgreich  begegnet  werden,  wenn  es  ge- 
lang, bei  reinlicher  Sonderung  der  religiösen  Interessen  von  den 
politischen  Dingen  das  confessionelle  Bewusstsein  der  Lutheraner 
zu  stärken  und  zu  vertiefen.  Was  kurzsichtiger,  wenn  auch  ehr- 
lich gemeinter  Religionseifer  für  Schaden  angerichtet  hatte,  war 
in  Riga  an  dem  Rector  der  Domschule,  Heinrich  Möller,  erlebt 
worden.  Unter  dem  Vorwande  des  Widerstandes  gegen  päpstliche 
Einflüsse  hatte  Giese  nebst  seinen  Genossen  die  Leidenschaften  der 
Bürgerschaft  entfesselt  und  diese  veranlasst,  gegen  den  Rath,  als 
den  Vertreter  des  übrigens  von  König  Stephan  anbefohlenen  neuen 
Kalenders,  in  hellem  Aufruhr  aufzustehen,  und  Möller  hatte  in 


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Die  Gegenreformation  und  die  rigasche  Domschule.  287 

höchster  Unbesonnenheit  sich  dazu  verleiten  lassen,  mit  der  ihm 
anvertrauten  Schuljugend  in  der  Auflehnung  gegen  den  neuen 
Kalender  eine  active  Rolle  zu  spielen.  Seine  Beliebtheit  bei  den 
Schülern,  die  ihn,  als  er  in  Haft  genommen  war,  unter  Anführung 
des  Conrectors  Mag.  Valentin  Rasch  gewaltsam  befreiten,  scheint 
gerade  nicht  die  gesundeste  pädagogische  Grundlage  gehabt  zu 
haben.  Denn  wenn  man  auch  gegen  die  von  ihm  veranlasste 
Wiedereinführung  des  seit  30  Jahren  nicht  mehr  begangenen  Mai- 
grafenfestes nichts  Erhebliches  einwenden  wollte,  so  ist  es  doch 
etwas  seltsam,  dass  es  in  einer  Rechnung  der  Schwarzenhäupter 
vom  Jahre  1588  heisst:  *noch  hebbe  ick  betalet  vor  bere,  dat  in 
der  tyd  gedrunken  wort ,  do  de  scholere  rymeden ,  32  Mark 
10  Schillinge.*  Schülerkomödien  mit  obligatem  Bier,  —  und  drei 
Jahre  früher  ein  erfolgreicher  Schuljungensturm  auf  das  Rathhaus- 
gefänguis  —  wo  war  da  die  Zucht  geblieben  V  Als  die  königliche 
Oommission  1588  in  Riga  erschien,  entwich  Heinrich  Möller  heim- 
lich aus  Riga,  um  nie  wiederzukommen.  Bei  solcher  Zerrüttung 
konnte  die  Domschule  es  in  tüchtiger  Schularbeit  mit  dem  Jesuiten- 
collegium  unmöglich  aufnehmen.  Es  musste  Wandel  geschafft 
werden. 

Als  die  ganze  böse  Zeit  dieses  verderblichen  Bürgerzwistes 
iu  Riga  vorüber  war  und  wieder  geordnete  Verhältnisse  Platz 
greifen  konnten,  da  besann  man  sich  auch  darauf,  wessen  man  im 
Kampfe  um  die  evangelische  Glaubensfreiheit  im  letzten  Grunde 
bedurfte.  Nicht  rohe  Gewalt,  sondern  innere  üeberlegenheit  geistiger 
Macht  und  evangelisch-christlicher  Durchbildung  des  heranwachsen- 
den Geschlechtes  musste  hier  deu  Ausschlag  geben  und  konnte  es 
auch  allein.  Denn  Rom  stirbt  nur  am  Evangelium  von  der  freien 
Gnade  Gottes  in  Christo.  Und  es  gab  in  Riga  noch  Männer,  die 
den  Sachen  auf  den  Grund  sahen  und  auch  Hand  ans  Werk  legten. 
Es  galt  der  Jesuitenakademie  eine  evangelische  Schule  gegenüber- 
zustellen, welche  ihr  den  Vorrang  abgewinnen  konnte.  Der  Syndi- 
kus David  Hilchen  ward  die  Seele  der  dahin  zielenden  Bestrebungen, 
ein  Mann,  der,  von  den  Anhängern  Gieses  gefürchtet,  gehasst  und 
geschmäht,  von  den  Urteilsfähigen  seiner  Mitbürger  und  Zeit- 
genossen hoch  und  werth  gehalten,  seiner  Gesinnung  in  dem  Giebel- 
spruch seines  Hauses  in  schwüler  Zeit  kurzen  und  beredten  Aus- 
druck verlieh  mit  den  Worten  :  t  Concordia  res  parvae  crescunt, 
discordia  magnae  dilabuntur.*  Er  betrieb,  von  dem  Bürgermeister 
und  königlichen  Burggrafen  Nicolaus  Ecke,  von  Rath  und  Bürger- 


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288      Die  Gegenreformation  und  die  rigasche  Domschule. 


schaft  kräftig  unterstützt,  mit  unermüdlichem  Eifer  und  Geschick 
die  Reorganisation  der  evangelischen  Domschule,  zu  deren  oberstem 
Leiter  der  gelehrte  und  erfahrene  Johannes  Rivius,  welcher  seit 
1580  Lehrer  und  Erzieher  der  herzoglichen  Prinzen  von  Kurland 
gewesen  war,  bereits  im  Jahre  1589  berufen  wurde.  Besonders 
seit  1591  wurde  die  Erweiterung  der  Schule  energisch  gefördert. 
Kehrten  doch  die  Jesuiten  in  diesem  Jahre  nach  Riga  zurück  und 
hatten  sie  doch  bald  auch  Söhne  angesehener  Bürger  und,  wie  sie 
in  ihrem  Berichte  rühmen,  sogar  im  Jahre  1593  drei  Söhne  des 
berühmtesten  Arztes  in  Riga  zur  Erziehung  in  ihr  Institut  auf- 
nehmen können.  Die  Leitung  der  Schulsache  wurde  vom  Rath  den 
beiden  Scholarchen  Ecke  und  Hilchen  und  dem  Rector  Rivius  an- 
vertraut, und  diese  wussten,  was  sie  wollten. 

Vor  allen  Dingen  wurde  das  Ziel  der  Schularbeit  fest  und 
klar,  und  zwar  höher  als  seither,  dahin  festgestellt,  dass  die 
Schüler  für  das  Universitätsstudium  vorbereitet  werden  sollten. 
Zu  dem  Zweck  wurde  die  bisher  dreiklassige  Schule  in  eine  fünf- 
klassige  Lateinschule  umgewandelt.  Und  nach  fünfjähriger  stiller, 
aber  eifriger  Arbeit  war  man  so  weit,  dass  am  18.  Juli  1594  in 
einem  feierlichen  Schulactus  die  solchergestalt  verjüngte  und  er- 
weiterte Schule  der  evangelischen  Bürgerschaft  Rigas  vorgestellt 
werden  konnte.  Bei  dieser  Gelegenheit  hielten  Ecke  und  Hilchen 
als  Scholarchen,  Rivius  als  oberster  technischer  Leiter,  seit  1593 
mit  dem  neuen  Titel  eines  Inspector  scholae  ausgezeichnet,  öffent- 
liche Reden.  Diese  drei  Reden,  selbstverständlich  in  correctem  und 
glänzendem  Latein  verfasst,  hat  Rivius  auf  Wunsch  der  beiden 
Scholarchen  noch  vor  Schluss  des  Jahres  bei  dem  durch  Hilchen 
nach  Riga  gezogenen  allerersten  Buchdrucker  Livlands  Nicolaus 
Mollin  zum  Druck  befördert. 

Ecke  betont  mit  Nachdruck  die  Absicht  des  Rathes,  das 
väterliche  Erbe  zu  erhalten  und  zu  schützen  zur  Ehre  Gottes 
und  zur  Förderung  der  öffentlichen  Gesittung  und  Wohlfahrt.  Das 
war  der  deutliche  und  kräftige  Grundton  dieser  Feier.  Hilchen 
deutet  erst  vorsichtig  die  Verwirrung  aller  Angelegenheiten  an, 
inmitten  welcher  der  Rath  sich  der  Schule  angenommen,  verlangt 
dann  in  ernstem  Ton,  dass  Haus  und  Schule  Hand  in  Hand  gehen 
sollen,  in  dem  Sinne  nämlich,  dass  das  Haus  nicht  hemme  oder 
gar  niederreisse,  was  die  Schule  mühsam  aufbaut.  Weiter  ver- 
breitet er  sich  über  die  Pflichten,  welche  Obrigkeit  und  Eltern, 
Schüler  und  Lehrer  in  aller  Treue  zu  erfüllen  haben,  um  das  Ziel 


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Die  Gegenreformation  und  die  rigasche  Domschule.  289 

zu  erreichen.  Schliesslich  stellt  er  den  Inspector  förmlich  und 
feierlich  den  Anwesenden  vor  und  legt  dabei  <allen  und  jeden,  die 
sich  zu  den  Unsrigen  rechnen  wollen»,  im  Namen  des  Rathes 
dringend  ans  Herz,  sich  willig  und  vertrauensvoll  um  diesen  Mann 
zu  schaaren  und  seiner  Leitung  und  Führung  zu  folgen,  der  durch 
Geist  und  Erfahrung,  durch  Gelehrsamkeit  und  Bildung  sich  des 
ausgezeichnetsten  Rufes  erfreue.  Wie  in  heller,  das  Tongeschlecht 
entscheidender  Terz  stimmt  Hilchens  Rede  zu  Eckes  Grundton, 
und  wie  die  Dominante  schliesst  diesen  Dreiklang  harmonisch  ab 
die  Rede  des  also  eingeführten  Rivius.  Der  damals  bereits  66- 
jährige  Schulmann  hebt  seine  formvollendete  Rede  damit  an,  dass 
er  die  Gründung  solcher  Schulen,  welche  auf  die  Ehre  des  heiligen 
Gottesnamens  abzielen  und  zur  Mehrung  der  Kirche  Jesu  Christi 
dienen,  als  Gnadengeschenk  des  allmächtigen  Gottes  preist,  welchem 
die  Wiederherstellung  der  durch  Lügen  und  Aberglauben  der 
Menschen  misbildeten  und  verderbten  Kirche  zu  ihrer  vormaligen 
Zier  zu  verdanken  sei.  Das  ist  bei  ihm  nicht  Redensart,  sondern 
ein  Ausdruck  eigener  Lebenserfahrung,  da  er  in  seiner  Jugend 
Zeuge  gewesen  war,  wie  die  Reformation  im  Herzogthum  Sachsen 
und  in  Westfalen  im  Geleite  der  evangelischen  Schule  ihren  Einzug 
gehalten  hatte.  Als  Luther  starb,  war  ja  doch  Rivius  bereits  ein 
achtzehnjähriger  Jüngling.  Damit  man  aber  wisse,  wessen  man 
sich  in  Riga  von  ihm  zu  versehen  habe,  giebt  er  nun  weiter  Rechen- 
schaft von  seiner  religiösen  uud  kirchlichen  Stellung.  Er  bekennt 
sich  in  sorgfältig  präcisirten  und  dabei  doch  wannen,  durch 
edle  Einfachheit  ergreifenden  Worten  voll  und  ganz  als  ein  Glied 
der  Kirche,  welche  der  Augsburgischen  Confession  folgt  und  in 
welcher  er  sich  als  in  der  Gemeinschaft  der  wahren  Kirche  ge- 
borgen weiss,  da  er  nicht  daran  zweifle,  dass  aus  dieser  Gemein- 
schaft, in  welcher  Gott  selber  durch  den  Dienst  des  lauteren  und 
unverfälschten  Evangelii  und  den  rechten  Gebrauch  der  Sacramente 
Wohnung  macht,  das  ewige  Erbe  dem  Sohne  Gottes  gesammelt 
werde.  Von  allen  anderen,  diesem  Bekenntnis  abholden  Haufen 
und  Genossenschaften,  welches  Namens  immer,  sagt  er  sich  in 
den  entschiedensten  Ausdrücken  los.  Indem  er  sich  nuu  zu  der 
speciellen  Aufgabe  des  Gymnasiums  wendet,  bestimmt  er  dieselbe 
in  breiterer  Ausführung  dahin,  dass  die  Jugend  zu  Frömmigkeit 
und  Ehrenhaftigkeit  erzogen  und  zu  gelehrter  Bildung  solle  ange- 
leitet werden,  so  dass  Geist  und  Wort,  Herz  und  Zunge  zu  leben- 
diger Einheit  und  wirkungskräftiger  Tüchtigkeit  fürs  Leben  durch- 


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290      Die  Gegenreformation  und  die  rigasche  Domschule. 


gebildet  werden.  Nach  einer  passenden  Ermahnung  an  die  Schüler 
zu  Pleiss  und  Ausdauer  schliesst  er  mit  einer  kurzen  Bezugnahme 
auf  gegnerische  Bestrebungen  und  Verleumdungen,  um  zu  deren 
Entkräftung  nicht  Worte,  sondern  Thaten  als  wirksamstes  Mittel 
zu  empfehlen. 

So  vorsichtig  auch  in  allen  diesen  Reden  jede  Polemik  gegeu 
die  Jesuiten,  ja  selbst  die  Nennung  ihres  Namens  vermieden  und 
nur  ganz  allgemein  auf  die  schweren  Zeitverhältnisse  hingedeutet 
wird,  so  deutlich  musste  doch  jedem  Zuhörer  zum  Bewusstsein 
kommen,  in  welchem  Sinne  die  so  nachdrücklich  betonte  positive 
Aufgabe  dieser  Schule  zu  verstehen  war.  Durch  energische  ße- 
thätigung  in  confessionell  bewusster  und  dem  hohen  Ziel  stets  zu- 
strebender gemeinsamer  Arbeit  an  der  heranwachsenden  Jugend 
sollte  ein  Geschlecht  erzogen  werden,  welches  in  evangelisch-christ- 
licher Mannhaftigkeit  und  Leistungsfähigkeit  der  Aufgabe  gewachsen 
wäre,  das  Erbe  der  Väter  zu  erhalten  und  zu  schützen  zur  Ehre 
Gottes  und  zur  Förderung  der  öffentlichen  Gesittung  und  Wohl- 
fahrt. Zu  solcher  Bethätigung  sollten  eben  diese  Reden  anspornen, 
sollte  der  ganze  Schulactus  vom  18.  Juli  1594  aufs  neue  die 
lutherische  Bevölkerung  Rigas  anregen  und  ermuthigen. 

Hat  nun  die  also  erneuerte  rigasche  Domschule  der  ihr  ge- 
stellten Aufgabe  entsprochen  ? 

Ein  von  Rivius  mit  grossem  Fleiss,  mit  Umsicht  und  pädago- 
gischem Tact  ausgearbeiteter  ausführlicher  Schulplan  zeigt,  wie 
ernst  und  nach  allen  Seiten  hin  wohlerwogen  die  Arbeit  der  Schule 
geleitet  und  betrieben  werden  sollte.  Rivius  selbst  starb  schon 
am  8.  Mai  1596 ;  der  Umstand  aber,  dass  sein  Schulplan  erst  im 
folgenden  Jahre  bei  Mollin  gedruckt  und  zur  Nachachtung  ver- 
öffentlicht wurde,  lässt  deutlich  die  Absicht  der  Scholarchen  er- 
kennen, die  von  Rivius  begonnene  Arbeit  in  den  von  ihm  gewiesenen 
Bahnen  und  in  seinem  Geiste  fortzuführen.  Uns  darf  dabei  nicht 
wundern,  dass  die  humanistischen  Studien  auf  dem  Gebiete  der  alt- 
klassischen Literatur  nach  diesem  Schulplau  neben  dem  evangelischen 
Religionsunterrichte  Zeit  und  Kraft  der  Lehrer  und  Schüler  vorzugs- 
weise in  Anspruch  nehmen  sollten.  Denn  das  durch  die  wittenberger 
Reformatoren  für  die  evangelischen  Gymnasien  gesteckte  Ziel  und 
der  ihrer  Arbeit  gewiesene  Weg  war  eben  damals  noch  so  durch- 
aus massgebend,  dass  sogar  die  Jesuiten  das  in  dieser  Beziehung 
von  allen  Zeitgenossen  als  Musterinstitut  betrachtete,  von  Johannes 


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Die  Gegenreformation  und  die  rigasche  Domschule.  291 

Sturm  organisirte  und  während  der  langen  Zeit  von  1538  bis  1583 
geleitete  Strassburger  Gymnasium  für  die  äussere  Organisation 
ihrer  Schulanstalteu  zum  Vorbild  nahmen.  Der  älteste  Lehrplan  der 
Jesuiten,  welcher  für  die  von  ihnen  so  genannten  «niederen  Studieu» 
fünf  Schulklassen  festsetzte,  datirt  vom  Jahre  1588,  wurde  1599  nach 
vielfacher  Prüf  ung  public^  und  ist  von  ihnen  bis  zur  Mitte  unseres 
Jahrhunderts  im  wesentlichen  unverändert  befolgt  worden.  Galt 
es  nun  in  Riga  gerade  den  Jesuiten  auf  dem  Gebiete  der  gelehrten 
Schulbildung  erfolgreich  zu  begegnen,  so  durfte  auch  schon  des- 
halb die  Pflege  der  alten  Sprachen  keinen  geringeren  Raum  erhalten. 
Im  übrigen  lässt  sich  der  damals  weit  über  Strassburgs  Schulwesen 
hinausreichende  Sturmsche  Einfluss  unschwer  auch  aus  der  Formu- 
lirung  erkennen,  in  welcher  das  Bildungsideal  der  Domschule  aus 
Hilchens  Rede  und  aus  Rivius'  Sch  ul  pro  gram  m,  wenn  auch  in  selb- 
ständiger Weise  entwickelt  und  motivirt,  uns  entgegentritt,  da 
dasselbe  hier  ebenso  wie  von  Sturm  in  die  Formel  zusammengefasst 
wird:  «Fr  öm  m  i  g  k  e  i  t ,  K  e  n  n  t  n  i  s  s  e  ,  Kunst  der  Rede.» 
Bei  alledem  aber  bietet  das  Programm  der  erneuerten  rigaschen 
Domsclmle  doch  noch  etwas  Neues  und  Eigenartiges  dar,  sofern 
auch  die  polnische  Sprache  als  Lehrgegenstand  darin  einen  Platz 
gefunden  hat.  Der  Beweggrund  wird  ausdrücklich  hervorgehoben 
und  zeigt,  dass  die  Scholarchen  Rigas  die  Zeitlage  begriffen  hatten. 
Im  letzten  Abschnitt  des  Schulplanes  werden  nämlich  die  Sprachen 
aufgezählt,  welche  in  dieser  Schule  erlernt  werden  müssen;  es  sind 
Griechisch,  Lateinisch,  Deutsch  und  Polnisch,  und  zwar  letzteres, 
weil  Livland  und  Riga  zum  polnischen  Reiche  gehörten. 

Indessen  wird  man  die  Leistungen  einer  Schule  doch  niemals 
allein  nach  ihrem  Arbeitsprogramm,  sei  dieses  auch  noch  so  vor- 
trefflich, in  zutreffender  Beurtheilung  würdigen  können ;  die  Be- 
währung ihrer  Zöglinge  im  späteren  Leben  muss  ergänzend  hinzu- 
treten und  den  Thatbeweis  liefern,  dass  die  Schule  der  ihr  gestellten 
Aufgabe  auch  wirklich  nachgekommen  ist,  die  von  ihrer  Arbeit 
erhoffte  Frucht  auch  wirklich  gezeitigt  hat.  Und  in  dieser  Be- 
ziehung hat  die  rigasche  Domschule  die  von  ihrer  Reorganisation 
erwarteten  Früchte  in  reichem  Masse  getragen.  Demi  unter  den- 
jenigen Männern,  welche  im  Laufe  des  letzten  Jahrzehnts  der 
polnischen  Herrschaft  und  nachgehends  während  der  ersten  Zeit 
der  schwedischen  Herrschaft  in  Riga  und  in  Livland  eine  hervor- 
ragende Bedeutung  erlangt  haben,  findet  sich  eine  stattliche  Reihe 
von   Bürgermeistern ,   Aelterleuten   grosser  Gilde ,  Rathsherren, 


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292      Die  Gegenreformation  und  die  rigasche  Domschule. 

Pastoren  und  Professoren,  welche  den  Grund  zu  ihrer  Ausbildung 
in  der  reorganisirten  rigaschen  Domschule  gelegt  und  nachmals 
durch  ihre  Tüchtigkeit  und  Ehrenhaftigkeit,  durch  ihre  amtliche 
Wirksamkeit  und  ihre  schriftstellerische  Thätigkeit  eine  Zierde 
ihrer  Heimat  geworden  sind.    Die  imponirendste  Persönlichkeit  in 
dieser  Reihe  ist  der  Magister  Hermann  Samson.    In  Riga  am 
4.  März  1579  geboren,  verlor  er  seinen  Vater,  den  aus  Geldern 
stammenden  Kriegshanptmann  Rigas,  Naeman  Samson,  als  vier- 
jähriger Knabe  gerade  in  dem  Jahre,  in  welchem  die  Jesuiten 
zum  ersten  Male  nach  Riga  kamen.    Der  begabte  und  aufgeweckte 
Knabe  wurde  später  von  diesen  in  Beschlag  genommen  und  gewalt- 
samer Weise  fortgebracht.    Er  sollte  in  dem  Jesuitencollegium  zu 
ßraunsberg  in  Polnisch-Preussen  erzogen  werden,  unterwegs  aber 
entfloh  er  und  glücklich  gelangte  er  nach  Riga  zurück.  Als 
zwanzigjähriger  Jüngling  bezog  er  nach  beendigten  Schulstudien 
die  Universität  Rostock,  wo  er  altklassische  Literatur  studirte, 
dann  ging  er  von  dort  nach  Jahresfrist  weiter  nach  Wittenberg. 
Hier  studirte  er  nun  Theologie,  wurde  nach  fünf  Jahren  zum 
Magister  promovirt,  vicarirte  als  Prediger  an  der  Schlosskirche 
einige  Monate  und  hielt  auch  an  der  Universität  Vorlesungen. 
Im  Sommer  1608  erhielt  er  von  Riga  aus  einen  Wink,  er  solle 
heimkehren  ;  die  Stadt,  welche  ihm  zu  seinen  Studien  ein  Stipendium 
gewährt  hatte,  bedurfte  seiner.    Der  neunundzwanzigjährige  junge 
Mann  kehrte  heim  und  wurde  schon  im  August  desselben  Jahres 
zum  Pastor  an  St.  Peter  und  zum  Inspector  der  Domschule  be- 
rufen.   Sein  Altersgenosse   und  Schulkamerad ,  der  uachmalige 
Bürgermeister  Dr.  Ludwig  Hintelmann,  wurde  in  demselben  »fahre 
Rathsherr.    Vier  Jahre  früher  hatte  Samson  in  Wittenberg  eine 
Dissertation  gegen  den  Primat  des  Papstes  veröffentlicht,  in  seiner 
Präsentationspredigt  vom  24.  Juni  16Q8  zu  St.  Peter  in  Riga  führte 
er  den  Beweis,  cdass  der  Glaub  und  Religion,  welche  die  Luthe- 
raner haben,  der  uhralte  Gatholischer  Glaub  sey:  hjnwiederumb 
der  Jesuiten  und  Bäpstlichen  Glaub  ein  Span-neuer  Glaub  sey  > 
Er  trat  also  von  Anfang  an  in  Riga  mit  offenem  Visir  gegen  die 
Jesuiten  auf ;  er  kannte  sie  schon  aus  eigener  Jugenderfahrung  ein 
gut  Stück,  seine  Studien  hatten  ihn  ausserdem  in  Stand  gesetzt, 
sie  bis  auf  den  Grund  zu  durchschauen  und  ihnen  mit  dem  Evan- 
gelio  schneidig  und  mannhaft  entgegenzutreten,  wie  seine  zahl- 
reichen gegen  sie  veröffentlichten  Schriften  zeigen.    Sie  versuchten 
ihn  durch  Druckschriften,  die  unter  fingirtem  Namen  erschienen, 


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Die  Gegenreformation  und  die  rigasche  Domschule.  293 


zu  widerlegen,  allein  sie  konnten  seiner  nicht  mächtig  werden ;  er 
war  ihnen  in  jeder  Hinsicht  überlegen.  So  verklagten  sie  ihn 
denn  endlich  beim  König  Sigismund  III.  Der  Rath  schützte  ihn 
nach  bestem  Vermögen,  auch  verteidigte  ihn  der  Syndikus  Johann 
Ulrich  aufs  kräftigste,  während  Samson  seinen  Gegnern  nicht  um 
einen  Schritt  breit  wich.  Berufungen  nach  dem  Auslande  lehnte 
er  ab  ;  er  blieb  auf  seinem  Posten  in  Riga.  Indessen  wäre  es 
den  Jesuiten  vielleicht  doch  noch  gelungen,  ihn  durch  königlichen 
Gewaltspruch  zu  fällen  und  zu  verderben,  wenn  nicht  damals 
gerade  Gustav  Adolf  unter  dem  18.  März  1621  an  Polen  nach 
Ablauf  des  letzten  Waffenstillstandes  den  Krieg  erklärt  hätte. 
Nach  hartnäckiger  Verteidigung  mnsste  Riga  am  16.  September 
1621  capituliren  und  dem  siegreichen  Schwedenkönig  seine  Thore 
öffnen.  Schon  Tags  zuvor  hatten  die  Jesuiten  während  der 
Capitulationsverhandlungen  dem  Könige  die  Schlüssel  der  Jacobi- 
kirche  in  seinem  Lager  vor  der  Stadt  übergeben  in  der  richtigen 
Erkenntnis,  dass  fortan  ihres  Bleibens  in  Riga  nicht  mehr  sein 
werde.  Wenden  kam  in  die  Gewalt  der  Schweden  und  damit 
hörte  auch  das  dortige  Bisthum  auf  sammt  dem  Jesuitencollegium. 
Endlich  fiel  auch  Dorpat  im  Jahre  1625  den  Schweden  in  die 
Hände  und  damit  ging  die  letzte  Jesuiteuschule  in  Livland  in  die 
Brüche.  So  muthig  und  erfolgreich  Samson  an  der  Spitze  ehe- 
maliger Schulkameraden  und  späterer  Schüler  im  Kampf  gegen 
die  Jesuiten  ausgeharrt  hatte,  so  eifrig  und  besonnen  hat  er  nach- 
mals  als  erster  lutherischer  Superintendent  Livlands,  zu  welchem 
Amte  ihn  Gustav  Adolf  schon  1622  ernannte,  an  der  Evangelisirung 
des  Landes  mit  gutem  Erfolg  gearbeitet. 

Die  letzten  Jesuiten  waren  mit  den  Polen  und  den  ihnen 
anhangenden  Katholiken  noch  vor  Schluss  des  Jahres  1625  aus 
Livland  abgezogen,  welches  sie  für  ihre  Propaganda  fortan  ver- 
loren geben  mussten.  Die  Gegenreformation  war  in  Livland  nach 
dreiundvierzigjährigen  Bemühungen  vollständig  gescheitert,  dem 
Lande  aber  blieb  das  Evangelium  von  der  freien  Gnade  Gottes  in 
Christo  erhalten,  wie  es  die  dem  Augsburgischen  Bekenntnis 
folgende  Kirche  predigt. 


Fr.  Hollmann, 
Seminardirector. 


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Unsere  bemerkenswerthesten  Singvögel. 


II. 

A.  Insectenfresser. 

tonn  gleich  nicht  alle  Vögel  dieser  Ordnung  ausschliesslich 
Hü  von  Kerbthieren  und  Würmern  leben,  so  bildet  solches 
Ungeziefer  dennoch  ihre  hauptsächlichste  Nahrung,  welche  nur 
während  der  Beerenzeit  für  einige  Arten  in  den  Hintergrund  treten 
dürfte.  Der  Rachen  der  Insectenfresser  ist  meist  weit  und  zum 
Erhaschen  und  Verschlucken  der  lebendigen  Speise  geschickt.  Die 
Schnäbel  sind  verhältnismässig  dünn,  gerade,  oft  pfriemenförmig 
und  scheinbar  schwächlich.  Es  sind  kleine  Vögel,  die  bei  uns 
zwischen  der  Grösse  eines  Zaunkönigs  und  einer  Misteldrossel 
variiren  ;  das  Gefieder  hat  gewöhnlich  ein  zartf'edriges  und  lockeres 
Ansehen.  —  Die  vorzüglichsten  Sänger  der  Mutter  Erde  sind  in 
dieser  Gruppe  anzutreffen  ;  die  Kraft  und  Fülle  der  Stimmen 
steht  mit  der  Körpergrösse  in  gar  keinem  Verhältnis.  Die  Liebes- 
laute des  grossen  Auerhahns  sind  z.  B.  schwächer  und  weniger 
weit  hörbar  als  das  Lied  oder  der  lockende  Ruf  auch  der  kleinsten 
Repräsentanten  unserer  Insectivoren.  Sie  sind  für  die  ganze  Land-, 
Forst-  und  Garten wirthschaft  durch  ihre  Nahrung  so  ungemein 
nützliche  Vögel,  dass  ihre  Erhaltung  und  Vermehrung,  abgesehen 
von  der  Schönheit  des  Gesanges  und  dem  Reize  ihres  Gtobahrens, 
geradezu  eine  ernste  volkswirtschaftliche  Frage  geworden  ist, 
welche  jeder  pflichtbewusste  Staat  fürsorgend  in  die  Hand  nehmen 
und  durch  strenge  Special gesetze  fördern  müsste.    Durch  nichts 


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Unsere  bemerkenswertesten  Singvögel. 


295 


könnte  die  insectenvertilgende ,  segensreiche  Thätigkeit  dieser 
Stützen  pflanzlichen  Gedeihens  ersetzt  werden  ;  praktische  Utilitäts- 
gründe  zwingen  zur  Schonung. 

Aus  der  Familie  der  Erds&n  ger 
wollen  wir  fünf  Arten  hervorheben.  Die  grossen  dunkelschönen 
Augen,  der  sehr  dünne,  zarte  Schnabel,  die  unbedeckten  Nasen- 
löcher, das  gefleckte  Gefieder  der  Jungvögel,  die  stolze,,  freie 
Haltung  des  Körpers,  das  ausdrucksvolle  Schnellen  und  Zittern 
des  Schwanzes,  die  Furchtlosigkeit  dem  nahenden  Menschen  gegen- 
über, das  gewandte,  sichere  Umherhüpfen  und  Suchen  der  Nahrung 
auf  dem  schattigen  Boden  charakterisiren  die  niedlichen  Arten 
dieser  durchweg  liebenswürdigen  Sippe  für  das  offene  Auge  eines 
jeden  Vogelliebhabers  in  genügender,  d.  h.  Zweifel  ausschliessender 
Weise. 

1.  Die  Sprosser  -  Nachtigall.  Sylvia  philowela.  Lettisch: 
lag«btgal ;  estnisch  :  öpik  (auch  sisalc) ;  rassisch  :  cojioßefl  oeurepcKift. 
Wird  in  Deutschland  im  Gegensatz  zur  echten  Nachtigall  auch 
Wiener  oder  Aunachtigall,  grosse  oder  polnische  Nachtigall,  ge. 
wohnlich  aber  Sprosser  schlechtweg  genannt. 

Altem  Brauche  folgend,  wollen  wir  dem  Sprosser  auch  hier 
den  ersten  Platz  einräumen,  obgleich  ich  nach  meinem  subjectiven 
Geschmack  manchem  anderen  Sänger  den  Ehrenplatz  zu  gönnen 
geneigt  gewesen  wäre.  Unser  baltisches  Publicum  hält  auch  unsere 
t  falsche >  Nachtigall  für  die  Königin  von  Gottes  Gnaden  aller 
Vogelvirtuosen,  zum  Theil  verführt  durch  Deutschlands  Dichter 
welche  die  echte  Nachtigall  mit  Begeisterung  priesen  und  glorifi- 
cirten.  Wo  aber  viele  Sprosser  nahe  beisammen  schlagen  und  das 
Wohnhaus  inmitten  des  Gesangbezirkes  liegt,  da  kann  man  des 
überlauten,  oft  harten  Schlags,  des  cHämmerns>  leicht  überdrüssig 
werden.  Lebhaft  erinnere  ich  mich  noch  einiger,  durch  Sprosser- 
gesang sich  geradezu  qualvoll  gestaltender  Nächte  in  Lipskaln. 
Unmittelbar  unter  dem  Fenster  des  Schlafzimmers  schlug  ein  un- 
verdrossener, mit  einer  riesig  starken  Stimme  begabter  Sprosser, 
150  Schritte  weiter  rechts  am  See  ein  zweiter,  links  hinter  dem 
Knechtshause  ein  dritter,  gegenüber  in  Trikaten  ein  vierter  &c. 
Jeder  dieser  Ariensänger  suchte  den  anderen  zu  übertönen.  Ver- 
zweifelt sprang  ich  zuweilen  aus  dem  Bette,  öffnete  das  Fenster 
und  schrie  dem  fünf  Schritte  entfernten  « Ständchensänger >  zu,  er 
möge  Ruhe  halten.    Diese  Zurechtweisungen  halfen  nur  für  wenige 

R.Uiicbe  MonaUichrift.  Bd. XXXIV,  H«ft  4.  20 


296 


Unsere  bemerkenswerthesten  Singvögel. 


Secunden,  dabei  lies3  sich  nichts  machen.  —  Wie  sehne  ich  mich 
jetzt  in  dem  vom  Sprosser  leider  beharrlich  gemiedenen  Meiershof 
nach  dem  grossen  Schlag,  der  in  stiller,  dunkler  Nacht  liebe- 
durstend und  liebeverheissend  von  des  Frühlings  Wonnen  so  beredt 
zu  uns  spricht,  schluchzend  jauchzt !  Um  diesem  Genuss  nicht 
ganz  zu  entsagen,  bin  ich  genöthigt,  in  die  Stadt  zu  fahren,  um 
dort  im  wendenschen  Schlosspark  den  Sprosser  anzuhören.  Mit 
der  echten  westeuropäischen  Nachtigall  besitzt  der  Sprosser  die 
gemeinsame  Eigenthümlichkeit,  scheinbar  grundlos  manche  Land- 
striche, Oertlichkeiten  oder  Plätze  zu  meiden,  andere  in  auffallend- 
ster Weise  zu  begünstigen.  Eine  Bedingung  sine  qua  non  ist  das 
Vorhandensein  von  Wasser,  feuchtem  Boden  und  dichtem  Gebüsch 
aus  Weiden,  Faulbaum,  Erlen  &c.  Mit  uns  unlogisch  erscheinendem 
Eigensinn  werden  auch  Oertlichkeiten  gemieden,  wo  alle  diese  Be- 
dingungen ungewöhnlich  reichlich  und  gut  vorhanden  sind,  und 
andere  wiederum  alljährlich  aufgesucht  und  bewohnt,  wo  diese 
Voraussetzungen  nur  sehr  mangelhaft  angetroffen  werden;  z.  B. 
haust  der  Sprosser  stets  unter  Nurmis  (im  Kirchspiel  Rujen)  in 
einer  Ellern koppel,  wo  in  einem  kaum  mehr  erkennbaren  Graben 
nur  geringe  Wasserpfützen,  keine  Faulbäume  und  sonstiges  Strauch- 
gewirr zu  bemerken  sind.  Wo  der  stolze  Vogel  nicht  Wohnung 
nehmen  will,  da  hilft  kein  rechtzeitiges  Abschiessen  der  Katzen, 
kein  Aufstauen  kleiner  Bäche,  kein  Anpflanzen  der  verlockenden 
Faulbaumsträucher,  da  muss  das  betrübende  Fernbleiben  geduldet 
werden.  Das  ist  ein  hochmüthiges  Verhalten  dem  souveränen, 
schaffenden ,  so  gerne  die  ganze  Natur  zwingenden  Menschen 
gegenüber  I 

Genau  genommen,  ist  die  Beschreibung  des  Aeusseren  unserer 
<  Nachtigall»  für  die  Leser  der  *  Baltischen  Monatsschrift >  wenig 
wichtig  ;  denn  so  leicht  man  die  grosse  Stimme  derselben  zu  hören 
bekommt,  so  schwer  hält  es,  den  Vogel  bei  genügend  hellem  Lichte 
zu  betrachten.  Schleicht  sich  ein  Neugieriger  der  Sängerin  durch 
dichtes  Gebüsch  in  der  Abenddämmerung  heran,  so  sieht  er  im 
günstigen  Falle  doch  nur  die  Umrisse  eines  Vogels :  Grau  in  Grau 
gegen  Grau.  Im  Dunkeln  sind  bekanntlich  «alle  Katzen  grau>. 
Dieses  Mal  brächte  übrigens  auch  das  schönste  Tageslicht  keine 
andere  Federfärbung  zum  Vorschein,  denn  die  Königin  unserer 
Mainächte,  oder  wie  der  alte  Naumann  vom  ungarischen  Sprosser 
sagte :  <der  König  der  Sänger >  besitzt  in  Betreff  der  Toilette  gar 
keine  Eitelkeit,  sondern  trägt  mit  Würde  ein  nur  sehr  schlichtes 


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Unsere  bemerkenswerthesten  Singvögel.  297 

Kleid.  Oberseits  herrscht  eine  graubraune  Tonfarbe  vor;  die 
Kehle  ist  trübweisslich,  die  Brust  dunkelgrau,  etwas  gemustert, 
der  Bauch  licht  grau-weisslich,  der  Schwanz  trübe  rostbraun  ge- 
färbt ;  gewiss  ein  einfaches  Hochzeitskleid  !  Die  Totallänge  dieses 
grössten  Erdsängers  beträgt  18,  die  Flugbreite  26  Centimeter.  Männ- 
chen und  Weibchen  sind  sich  äusserlich  so  sehr  ähnlich,  dass  auch 
ein  gewiegter  Ornithologe  beim  Ansprechen  des  Geschlechtes  nach 
dem  Aeusseren  rathlos  dazustehen  pflegt.  —  Die  Sprosser  sind, 
wie  alle  hier  in  Betracht  kommenden  Insectenfresser,  richtige  Zug- 
vögel, welche  den  Ankunftstermin  im  Frühjahr  sehr  regelmässig 
einzuhalten  pflegen.  Nach  meinen  langjährigen  Beobachtungen 
variirt  derselbe  nur  selten  bis  zu  einer  Woche,  d.  h.  zwischen  dem 
25.  April  bis  2.  Mai ;  gewöhnlich  aber  treffen  die  Sprosser  am  26., 
27.  oder  28.  April  ein.  Russow  giebt  als  frühestes  Ankommen 
den  20.  April  an  ;  ich  erinnere  mich  nur  an  4  Jahre  (1858,  1868, 
1872  und  1882),  in  welchen  der  Sprosser  vor  St.  Georg  anwesend 
war.  Wie  alles  wahrhaft  Gute,  so  dauert  auch  die  Sangeszeit  für 
unseren  Sprosser  nur  wenige,  etwa  sechs  Wochen,  die  rechte, 
fleissige  Saison  aber  genau  genommen  kaum  drei  Wochen,  etwa 
vom  10.  Mai  bis  1.  Juni.  In  vielen  trefflichen  Handbüchern  findet 
man  die  Zeichnung  der  vier  bis  sechs  Eier  als  «dunkel  gewölkt» 
angegeben ;  ich  habe  sehr  vielen  Sprossernestern  (dem  Erdboden 
nahe  oder  aufliegend)  die  fünf  Eier  selbst  entnommen,  sie  genau 
angesehen,  aber  dieselben  ohne  Ausnahme  nur  gleichmässig  ein- 
farbig, ziemlich  dunkel  olivengrau-grünlich  (grünlich  chocoladeufarbig) 
ansprechen  können.  Sollte  diese  stetige  Eintönigkeit  der  Färbung 
eine  klimatisch  -  provinzielle  Abweichung  oder  meine  Augen  für 
«Gewölk»  farbenblind  sein? 

Der  Sprosser  ist  ein  echter  Nachtsänger,  der  nur  in  den 
ersten  Flittertagen  oder  ausnahmsweise  am  Tage  singt.  Zeitig 
gegen  Abend  das  weit  hörbare  (bei  günstigem  Lufthauch  bis  2  Werst) 
Schlagen  beginnend,  setzt  er  den  Gesang  mit  geringen  Pausen  bei 
schönem  Wetter  die  ganze  Nacht  hindurch  fort,  um  morgens  ziemlich 
frühe  abzubrechen.  —  Unsere  «Nachtigall»,  gleich  der  echten,  ge- 
hört nicht  zum  Orchester  der  Vogelconcerte,  sondern  sie  ist  die 
wahre  Solosängerin,  durch  die  Wahl  der  Zeit,  des  Standortes  und 
die  alle  sonstigen  Stimmen  übertönende  Kraft  des  Vortrages.  Mit 
menschlichem  Vergleiche  beehrt,  wäre  sie  als  Sängerin  der  grossen 
Arie  oder  Kirchensängeriu  zu  betiteln.  Was  aber  ungezählte 
germanische  Dichter  in  unzählbaren  Versen  feierten,  war  nicht  das 

20* 


298  Unsere  bemerkenswerthesten  Singvögel. 

Product  der  Sprosserkehle,  sondern  entsprang  allein  der  Brust 
jener  echten  Nachtigall,  der  Sylvia  luscinia.  Wenn  H.  Schacht 
von  der  echten  Nachtigall  schreibt,  ihr  Nachtgesang  sei  die  voll- 
endetste Tonschöpfung  unter  allen  Vogelgesängen,  ein  unvergleich- 
licher Genuss,  die  seelenvollen  Melodien,  auf  den  Schwingen  des 
Nachthauchs  getragen,  an  unser  entzücktes  Ohr  wallen  zu  hören 
oder  die  tiefe  Empfindung,  die  aus  einigen  Strophen  spricht,  in 
uns  aufzunehmen,  so  gilt  dieses  nur  theihveise,  und  gerade  im 
Wesentlichen  des  Vortrages  nur  stark  beschränkt  von  der  östlichen 
cCousine»,  unserer  Sprosser-Nachtigall.  Der  Oruithologe  Friderich 
sagt  vom  Sprosser  ;  cEs  fehlen  zwar  die  ziehenden,  sanft  klagenden 
und  verschmelzenden  Töne,  welche  den  Gesang  der  Nachtigall  so 
anziehend  machen,  aber  die  kühn  schmetternden  Läufe,  die  Stärke 
und  Abwechselung  der  Strophen,  welche  mit  unbegreiflicher  Leichtig- 
keit seiner  Kehle  entströmen,  machen  ihn  zu  eiuem  würdigen 
Nebenbuhler  derselben.  Kein  Vogel  von  gleicher  Grösse  hat  eine 
so  ausserordentliche  Gewalt  in  den  Stimmorganen.»  In  würdigen 
Pausen,  feierlich  und  ungemein  tactfest  wird  das  hehre  Lied  vor- 
getragen, nicht  bescheiden,  sondern  in  vornehm  ungenirter,  domini- 
rend  lauter  Weise,  mit  zum  Himmel  empor  gestrecktem  Kopfe 
und  weit  aufgeblähter  Kehle.  Der  Vogel  sitzt  dabei,  in  nur  ge- 
ringer Höhe  vom  Boden,  auf  einem  blattfreien  Asttheile  des  Busch- 
werks oder  eines  niedrigen,  laubdichten  Baumes,  mit  leicht  herab- 
hängenden Flügeln,  in  solcher  Selbstverzückung  befangen  da,  dass 
er  nahende  Gefahr  häufig  unbeachtet  lässt,  daher  leicht  eine  Beute 
der  Katzen  und  anderer  Räuber  wird,  und  dass  er  den  bewundern- 
den Vogelfreund  in  grosser  Nähe  noch  duldet. 

Lock-  und  Warnungsruf  sind  während  der  Erziehungs-  und 
Mauserzeit  die  einzigen  Verräther  des  Aufenthalts,  da  die  Sprosser 
sich  so  versteckt  zu  halten  pflegen,  dass  man  nur  zufällig  im 
dichtesten  Gebüsch  dieselben  zu  Gesicht  bekommt.  Im  allgemeinen 
machen  sich  die  meisten  Vögel  beim  Suchen  nach  Nahrung  am  be- 
merkbarsten ;  der  Sprosser  aber  betreibt  gerade  das  Ernährungs- 
geschäft besonders  heimlich,  indem  er  laullös  im  tiefsten  Schatten- 
duukel  undurchdringlich  geschlossener  Gesträuche  am  Boden  nach 
Würmern,  Kerfen,  Larven  &c.  jagt.  Das  scharfe,  hochlautige 
zih-zieh  mit  nachfolgendem,  tiefrauh  erklingendem  korr-karr  er- 
möglicht dem  Kenner  allein,  den  Lieblingsanfenthalt,  den  Nistplatz 
der  Familie  zu  bestimmen.  —  Das  Erscheinen  der  gefürchteten 
Katze,  entschieden  der  gefährlichsten  Feindin  dieser  Art,  wird  mit 


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Unsere  bemerkenswertesten  Singvögel.  209 


erhöhtem  tsih-tsüh  angemeldet ;  dieser  in  grosser  Angst  hervorge- 
stossene  Laut  klingt  wirklich  wie  ein  Hilferuf. 

Sobald  die  gefleckten  Jungen  genügend  flugtüchtig  erachtet 
werden  und  die  Hauptmauserung  glücklich  uberstanden  wurde,  be- 
ginnt auch  bereits  der  nächtliche  Rückzug  nach  dem  «gelobten 
Lande»,  von  Busch  zu  Busch,  von  Gehege  zu  Gehege,  nicht  hoch 
in  den  Lüften,  wie  so  mancher  andere  Vogelreisende,  oft  schon  in 
den  letzten  Tagen  des  Juli,  gewiss  aber  in  der  ersten  Woche  des 
August.  Ich  erinnere  mich  nicht,  noch  in  der  Mitte  des  Monats 
jemals  einen  verspäteten  Sprosser  gesehen  zu  haben.  Vornehme 
Herrschaften  machen  meist  nur  kurze  Besuche. 

2.  Der  Garten-Rothschwanz.  Sylvia  phoenicurus.  Lettisch : 
cri}fiufd),  o^rmanniufd) ;  russisch :  ropuxBocTKn,  auch  KpacHoxiiocTKa. 

Dieser  allbekannte,  schönfarbige  und  muntere  Vogel  wird 
auch  Gartenröthling  genannt.  So  vornehm  unsichtbar  und  aristokra- 
tisch zurückgezogen  der  Sprosser  lebt,  so  überall  bemerkbar,  in 
die  Augen  fallend  zeigt  sich  der  lebhafte,  stets  bewegliche  Garten- 
röthling, gleich  einem  Spiessbürger  am  Wochenmarkttage.  Er 
scheut  die  Nähe  des  Menschen,  den  Lärm  des  Gehöftes  durchaus 
nicht,  sondern  siedelt  sich  ganz  vorzugsweise  gern  zwischen  Ge- 
bäuden, in  Baumgärten,  Parkanlagen  und  sonstigen  Einfriedigungen 
an.  Altes  Gemäuer  und  Kopfweiden  sind  specielle  Lieblingsplätze. 
Sein  gesammtes  Treiben  liegt  uns  klar  anschaulich  wie  ein  ge- 
öffnetes Buch  vor.  Wir  sehen  ihn  bei  der  meist  zwischen  den 
14.  und  20.  April  fallenden  Ankunft  aus  dein  Südwesten  bald  auf 
dem  Zaune,  bald  auf  einem  freien  Aste  dasitzeu,  das  Schwänzchen 
schnellen  und  hören  sein  sanft  tönendes  füid-hüd-häd  oder  fiht-ft/U- 
düdä,  das  auf  Deutsch  übersetzt  etwa  wie  «da  biu  ich  —  hier 
bleib1  ich  —  störet  mich  nichti  klingen  würde.  Wir  können  ihn 
sein  Liebeswerben  ungenirt  betreiben  sehen  ;  wir  beobachten  mit 
Interesse  das  Nisten  in  der  Höhlung  eines  alten  Apfelbaumes  oder 
einer  Scheune,  das  Füttern  der  Kinder,  das  Ausführen  der  gefleckten, 
kurzschwänzigen  Jungen,  deren  Erziehung,  das  Rüsten  zur  Abreise, 
vernehmen  eines  Abends  bei  kühlem  Nordost  einen  traurigeu 
Abschiedsruf  und  vermissen  anderen  Tages  schmerzlich  den  Freund. 

Er  bewohnt  aber  auch  unsere  grösseren  Gehege  und  Wälder 
gemischten  Bestandes.  Wenn  in  diversen  Naturgeschichtsbüchern 
für  Deutschland  notirt  wurde,  dass  das  Gartenrothschwänzchen 
sich  «in  reinen  Nadelholzwaldungen >  nicht  aufhält,  so  muss  ich 
dem  für  unsere  Heimat  widersprechen.    In  Deutschland,  dem  Lande 


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300  Unsere  bemerkenswerthesten  Singvögel. 

der  rationellen  Forstcultur,  wird  eine  ttberstämmige,  holde  Conifere 
nimmer  geduldet,  daher  kann  im  dortigen  Nadelwald  unser  Röch- 
ling nicht  hausen,  da  er  zum  Nisten  absolut  noth wendig  einer 
Baumhöhlung,  eines  Schlupfloches  bedarf.  In  unseren  baltischen 
Landen  giebt  es  aber  noch  in  den  meisten  geschlossenen  Kiefern- 
und  Grä  linenbeständen  eine  genügende  Anzahl  solcher  alten,  durch- 
löcherten < Recken»  aus  früheren  Jahrhunderten  (lettisch:  botjrc«» 
fol)Ti)  und  demnach  auch  diesen  Vogel  als  Bewohner.  Dieses  Factum 
habe  ich  häufig  genug  z.  B.  in  Schloss  Ti  ikaten-Lubbenhofschen, 
Schloss  Luhdeschen  und  anderen  grossen  Kiefernforsten  constatiren 
können.  Seine  unzweifelhafte  Anwesenheit  in  weiten  Haidewäldern 
wird  leicht  bei  nächtlichem  Gange  zur  Auerhahnbalz  bemerkt,  in- 
dem der  Röthling  von  Mitte  April  ab  einer  der  zuerst  erwachenden 
Vögel  ist  und  schon  im  Dunkeln  vor  der  Singdrossel  und  lange 
ehe  der  ganze  Vogellärm  beginnt,  sein  t treuherziges»  Liedchen  in 
die  stille  Nacht  hinein  erklingen  lässt.  Er  ist  ein  fleissiger  Tag- 
sänger, der  nur  die  eigentliche  Nachtzeit  über  schweigt,  bei  schönem 
Maiwetter  aber  kaum  um  Mitternacht  eine  kurze  Weile,  denn,  wie 
gesagt,  beim  ersten  Grauen  des  Morgens  beginnt  er  seinen  Gesang 
und  setzt  ihn  mit  geringen  Pausen  bis  in  die  tiefsten  Schatten 
des  Abends  fort.  Sein  vierstrophiges  Lied  ist  bescheiden,  lieblich, 
herzlich  und  vielleicht  auch  etwas  wehmüthig  angehaucht.  Zur 
rechten  Frühlingsstimmung  trägt  der  anmuthige  Gesang  nicht 
wenig  bei;  der  Natur-  und  Vogelfreund  könnte  ihn  nimmer  ent- 
missen. 

Seinen  Namen  erhielt  der  schlanke  Vogel  von  seinem  lebhaft 
rostroth  gefärbten  Schwanz,  in  welchem  beim  Ausbreiten  nur  zwei 
Mittelfedern  in  dunkelbrauner  Farbe  charakteristisch  abstechen. 
Das  Männchen  ist  mit  tiefschwarzer  Kehle  und  Schnabelumrandung, 
einer  rein  weissen  Stirn  und  Augenstreif  geziert,  oberseits  schön 
bläulich  aschgrau,  an  der  Brust  und  den  Schenkelseiten  leuchtend 
orange-rostroth  und  auf  dem  Bürzel  fuchsroth  gefärbt,  während  das 
Weibchen  ein  nur  einfaches,  oben  graubraunes,  unten  trübfahles,  leicht 
rostfarben  angeflogenes  Kleid  trägt.  Die  fünf  bis  sechs  arlattschaligen, 
schön  lichtblauen  Eier  werden  mit  solcher  Pflichttreue  bebrütet, 
dass  man  das  Weibchen  bei  erstmaliger  Störung  und  vorgeschrittener 
Brutzeit  unschwer  mit  der  Hand  erfassen  könnte ;  bei  wiederholter 
< Revision»  des  Genistes  wird  aber  das  Geschöpfchen  schon  ge- 
witzigter und  entschlüpft  ohne  Hast  noch  rechtzeitig ;  sie  nehmen 
übrigens  solche  frivole  Störungen  nicht  leicht  übel  und  brüten 


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Unsere  bemerkenswerthesteu  Singvögel. 


301 


höchst  verständiger  Weise  ruhig  weiter.  Ich  erinnere  mich,  als 
Knabe  nach  jedesmaligem  Verjagen  des  Brutvogels  ein  am  Wohn- 
hause befindliches  Nest  täglich  mindestens  zweimal,  wenn  es  Gasten 
gezeigt  werden  sollte,  auch  weit  öfter  genau  in  Augenschein,  sogar 
zuweilen  die  Eier  betastet  und  das  Brutgeschäft  dennoch  damit 
nicht  gestört  zu  haben,  so  dass  schliesslich  die  Jungen  froh  und 
glücklich  aufkamen.  Es  ist  eben  ein  rechter  Kinderfreund,  der 
geeignet  erscheint,  dem  empfänglichen  Kindergemüth  die  ganze 
Vogelwelt  als  solche  näher  zu  bringen.  Ihre  mannigfaltige  Nahrung 
suchen  sie  nicht  nur  auf  dem  Boden,  sondern  ebenso  oft  auch  in 
den  Kronen  der  Bäume ;  auch  erhaschen  sie  selbst  rasch  fliegende 
Insecten  mit  grosser  Gewandtheit  und  blitzartiger  Schnelligkeit, 
dadurch  an  die  Fliegenschnäpper  erinnernd.  Zur  Beerenzeit  werden 
auch  gern  Johannis-  und  Faulbaumbeeren  angenommen.  Katzen, 
Eichhörnchen,  Haselmäuse,  Sperber  und  Eichelhäher  sind  die  ge- 
fährlichsten Feinde  für  diesen  liebenswürdigen,  unsere  Gehöfte  so 
anmuthig  belebenden,  soliden  Ehe-  und  Hausstand  repräsentirenden 
Vogel. 

3.  Das  Rothkehlchen.  Sylvia  rubecula.  Russisch:  penojioBT,, 
auch  gpacHomeflica. 

Wahrlich,  es  lohnte  sich  nicht,  auf  den  Schnepfenstand  hinaus 
zu  ziehen,  wenn  die  beiden  Abendsänger  Rothkehlchen  und  Sing- 
drossel njcht  der  Sache  einen  ungewöhnlich  poetischen  Reiz  ver- 
leihen und  die  oft  langen  Pausen  des  Abwartens  mit  fesselnden 
Gesangesvorträgen  ausfüllen  würden.  Wenigstens  ich  für  meine 
Person  würde  an  duftig  mildem  Frühlingsabend  weit  eher  auf  die 
f murksende»  Schnepfe,  als  auf  die  stimmungsvollen,  zwitschernd 
sanften  Sangeslaute  des  lieblichen  Rothkehlchens  verzichten.  Bei 
hellem  Mondlicht  wird  unser  Rothbrüstchen  zuweilen  auch  Nacht- 
sänger; es  ergreift  das  Gemüth  gar  eigen,  wenn  dann  durch  den 
lautlosen  Wald  das  zu  Herzen  sprechende,  einfach  und  tief  empfundene 
Lied  oder  besser  gesagt  «Volkslied»  dieses  Vogels  ertönt.  Er  re- 
präsentirt  in  seiner  Stimme  die  Flöte  im  Waldorchester,  denn  nur 
ungemein  weich  flötende  Laute  entquellen  der  Kehle.  Treffend 
schön  schreibt  H.  Schacht  in  einem  Fachblatte  über  den  Gesang 
des  Rothkehlchens:  «Die  einsamen,  abgelegenen  Gegenden  werden 
durch  den  süssen  Minnesang  des  Rothkehlchens  gar  wunderbar 
belebt.  Wenn  tiefere  Schatten  schon  auf  dem  schweigenden  Walde 
ruhen,  wenn  das  Lied  der  Singdrossel  längst  verhallt,  da  erklingen 
noch  ringsum  die  zarten  Weisen  unseres  Lieblings.    Wie  fernes 


302 


Unsere  beinerkenswerthesten  Singvögel. 


Abendläuten  klingt  es  an  unser  Ohr,  wie  ein  leises  Gebet  geht  es 
durch  die  Seele.  > 

Schlüpft  nach  öder  Winterszeit  das  Rothkehlchen  wieder  im 
dichten,  von  der  Nachmittagssonne  nur  spärlich  beleuchteten  Unter- 
holz Nahrung  suchend  umher,  lässt  es  bei  einbrechendem  Abend- 
dunkel aus  allen  feuchtgründigen  Waldecken  sein  Liedlein  ertönen, 
so  kann  der  sehnsüchtige  Waldschnepfenjäger  getrost  zur  Flinte 
greifen  und  auf  den  < Strich >  gehen.  Kein  Waldvogel  zeigt  so  sicher 
durch  »eine  süss  lockende  Stimme  die  Zeit  des  beginnenden  Schnepfen- 
zuges an  als  unser  Rothbrüstchen.  Beide,  sowol  die  Waldschnepfe 
als  letzteres,  treffen  freilich  einige  Tage  früher  ermüdet  ein,  aber 
ohne  sich  hören  zu  lassen ;  singt  endlich  das  Rothkehlchen  im 
Walde,  dann  < piepst»  und  -quarrt  >  auch  die  Schnepfe  sogleich.  Ein 
ungleiches,  aber  die  Reisezeit  treulich  zusammen  einhaltendes  Paar. 
Nur  auf  dem  Zuge  trifft  man  das  Rothkehlchen  auch  in  Gärten, 
Hecken  uud  Feldgebüschen  an,  erfreut  es  uns  mit  seiner  Gegen- 
wart sogar  auf  Gehöften. 

Seine  Ankunft  im  Frühjahr  ist  je  nach  dem  Vorschreiten  des 
Lenzes  ein  recht  unpräcises,  fällt  durchschnittlich  in  die  Tage 
zwischen  dem  20.  März  uud  1.  April,  wurde  aber  in  sehr  extremen 
Frühjahren  auch  bereits  am  9.  März  und  wiederum  erst  am  10.  April 
constatirt. 

«In  Sibirien  soll  es  nicht  angetroffen  werden,»  heisst  es  in 
manchen  älteren  Lehrbüchern.  Brehm  hat  sehr  richtig  die  Ver- 
breitung ostwärts  bis  zum  Ob  angegeben.  Diese  Mittheilung  wurde 
mir  kürzlich  durch  die  Zuschritt  eines  soeben  in  Kathrinenburg 
in  der  Verbannung  weilenden  lieben  Freundes  bestätigt,  indem  der- 
selbe das  sommerliche  Hausen  des  Rothkehlchens  für  den  ganzen 
Kreis  Irbit  östlich  des  Ural  ausdrücklich  betont.  Bei  uns  findet 
es  sich  in  allen  Laubwäldern  und  Gehegen  gemischten  Bestandes, 
welche  dichtes  Unterholz  und  feuchte  Bodenstellen  aufzuweisen 
haben  ;  ohne  schützendes,  das  Leben  im  Verborgenen  ermöglichendes 
Walddickicht  kann  das  grössere  Freiplätze  durchaus  meidende 
Waldvöglein  sich  nimmer  eine  Heimstätte  erwählen.  Hierin  und 
in  der  Art  der  Bodensuche  nach  Nahrung  ähnelt  es  der  Nachtigall, 
aber  seelisch  nicht,  denn  es  ist  ein  bürgerlich  bescheidenes  Geschöpf, 
ohne  Selbstgefühl  in  Haltung  und  Geberden ;  schon  das  nur  zag- 
hafte Erheben  der  Stimme  zeigt  seine  niedrige  gesellschaftliche 
Rolle  an.  Das  stets  überwölbte,  ein  moosiges  Ansehen  habende 
Nest  ist  sehr  schwierig  aufzufinden ;  entweder  ist  es  in  einer 


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Unsere  bemerkenswerthesten  Singvögel. 


303 


Baumstumpf-  oder  Steinhöhlung,  zwischen  Baumwurzeln  oder  gar 
im  Moose,  der  Erde  aufliegend,  erbaut ;  in  letzterem  Falle  wird 
es  viel  eher  zertreten,  als  rechtzeitig  entdeckt  werden.  Auf  weiss- 
lichem  Grunde  sind  die  fünf  bis  sieben  zarten  Eierchen  dicht  rosa- 
rostfarben überspritzt  und  meist  am  Stumpfende  durch  einen  Flecken- 
kranz geziert.  Die  gefleckten,  unscheinbar  aussehenden  Jungen 
leben  sehr  versteckt  und  schlüpfen  fast  wie  Zaunkönige  umher. 
Im  Hochsommer  gehen  sie  den  Beeren  nach  und  nehmen  nicht 
ungern  auch  die  reifen  Beeren  des  Pfaffenhütchens ,  Eronymiis 
europaeus,  zu  sich.  In  der  Gefangenschaft  sind  sie  leicht  zu  er- 
halten, werden  sehr  zahm  und  dauern  bei  passender  Pflege  lange 
aus.  Im  K&fige  beginnen  sie  bereits  im  December  ganz  leise  zu 
singen,  bis  im  Januar  das  froh  erklingende  Lied  verkündet:  «Eis 
muss  doch  Frühling  werden.  »  —  Das  weiche,  Locker  und  breit  ab- 
stehende Gefieder  der  alten  Vögel  entbehrt  durchaus  nicht  der 
Farbenschönheit.  Der  ganze  Oberleib  zeigt  einen  dunkel  oliven- 
braun-grünlicheu  Ton,  während  die  etwas  vorstehende  Brust,  Kehle, 
Wangen  und  Stirn  durch  ein  lebhaftes  Orangeroth  geziert  erscheinen. 
Die  Männchen  haben  auf  den  Flügeln  rothgelbe  Federränder,  die 
im  Fluge  ein  Band  bilden.  Auffallend  gross  und  charakteristisch 
sind  die  glänzenden,  schwarzbraunen  Augen,  fast  einen  «nächt- 
lichen» Eiudruck  machend,  wie  bei  echten  Nachtthieren.  Die  Ge- 
sammtlänge  beträgt  etwa  13  und  die  Flügel  breite  ca.  22  Centimeter. 

4.  Das  Blaukehlchen,  schwedische  Nachtigall.  Sylvia  cya- 
nccula.    Russisch :  cuueiueflica,  auch  BapaKyuiKa. 

An  Oertlichkeiten,  die  reich  an  stehenden  und  fliessenden 
Wassern  sind,  wo  der  Wiesenboden  quellig,  mit  Gebüschen  besetzt 
und  hin  und  wieder  mit  Schwarzellern,  Weiden,  Eschen  und  anderen 
Bäumen  bewachsen  ist,  einerlei  ob  unmittelbar  bei  Gehöften,  in- 
mitten Culturlandes  oder  in  abgelegener  Wildnis,  trifft  in  der  Mitte 
des  April  oder  etwas  später  zu  St.  Georg  das  fleissig  singende, 
leicht  bemerkbare  Blaukehlchen  ein.  Es  ist  ein  lebhafter,  wenn 
man  «so  sagen  darf,  sogar  «geistreicher»  Geselle,  der,  gern  auf  den 
Spitzen  grösserer  Büsche  oder  nicht  zu  hoher  Bäume  mit  herab- 
hängenden Flügeln  und  stark  aufwärts  gehobenem  Schwänze  sitzend, 
seine  reich  wechselnden,  ziemlich  laut  und  flott  vorgetragenen 
Gesangesstrophen,  die  stets  von  einem  Zwischenspiel,  einem  «leier- 
artigen Schnurren»  getrennt  werden,  verlautbart.  In  «ziemlich 
gewissenloser  Art»  entlehnt  er  dabei  die  Weisen  nicht  nur  anderer 
Vögel,  sondern  ahmt  auch  sonstige  Naturlaute  sehr  gut  nach.  Er 


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Unsere  bemerkenswerthesten  Singvogel. 


ist  ein  Improvisator,  der  das  «Schnurren»  statt  des  Guitarren- 
geklimpers zur  Vorbereitung  eines  neuen  Verses  zu  benutzen  scheint. 
Wie  früher  bereits  als  allgemein  giltig  angedeutet  wurde,  gelingt 
es  auch  diesem  Singvogel  nimmer,  das  ganze  Lied  eines  anderen 
Sängers  wiederzugeben,  sondern  er  verwebt  die  fremden  Strophen 
nur  bruchstückweise  in  seine  Originalstücklein  sehr  geschickt  hin- 
ein, benutzt  diverse  gestohlene  Laute  mit  oft  bewunderungswürdiger 
Meisterschaft  und  erzielt  dadurch  frappirende  Effecte,  kurz,  er  ist 
ein  unermüdlicher  «Plauderer»,  ein  liebenswürdiger  Schelm,  dem 
nimmer  der  Stoff  ausgeht,  der  seinen  Zuhörern  niemals  langweilig 
werden  könnte.  Im  Allegro  seines  Potpourri  hört  der  Kenner  mit 
Freuden  altbekannte,  anderweitige  Stimmen  heraus,  wie  z.  B.  den 
«Franzosenschrei»  des  Kiebitz,  das  Balzen  der  Becassine,  das 
Quaken  der  Frösche,  das  Läuten  der  Unken,  das  Schnarren  des 
Erdkrebses,  den  Ruf  der  Rallen,  das  Flöten  der  Singdrossel  und 
Amsel,  das  Jubiiiren  der  Feldlerche,  den  Schlag  des  Sprossers,  das 
«Gegeige»  der  Grasmücken,  das  Zwitschern  der  Schwalben,  das 
Pfeifen  der  Meisen  &c.  &c.  In  der  ersten  Liebeswonne  hört  man 
das  Blaukehlchen  zu  jeder  Tages-,  auch  Nachtzeit  singen,  doch  will 
mir  scheinen,  dass  in  mondheller  Nacht  und  an  windstillem  sonnig- 
klarem Morgen  der  Gesang  besonders  begeistert,  weithin  schallend 
und  herzlich  froh  vorgetragen  wurde. 

Leider  sind  die  Bedingungen  zu  seinem  Hausen  nicht  überall 
gleichmässig  vertheilt  anzutreffen,  so  dass  das  Blaukehlchen  durch- 
schnittlich zu  den  durchaus  nicht  häufigen  Vögeln  bei  uns  zu 
rechnen  ist  (z.  B.  ist  es  in  der  wendenschen  Umgegend  sehr  selten) 
und  gewiss  so  manchem  Leser  der  «Baltischen  Monatsschrift»  von 
Ansehen  und  Anhören  fremd  blieb.  Und  doch  wäre  beides  so  sehr 
genussreich  und  erwünscht,  indem  auch  das  Gefieder  entschieden 
das  schmuckeste  aller  hiesigen  Erdsänger,  wenn  nicht  aller  Insecten- 
fresser  sein  dürfte.  Das  ca.  14  %  Centim.  lange,  in  der  Flugbreite 
23 H  Centim.  haltende  Männchen  zeigt  uns  auf  Kehle  und  Brust 
ein  herrlich  leuchtendes,  durch  eiuen  kleinen  weissen  Mittelstern 
noch  besonders  gehobenes  Lasurblau,  welches  nach  unten  von  einer 
schwarzen  Binde  mit  feiner  weisser  Randlinie  begrenzt  wird. 
Diesem  schliesst  sich  als  Uebergang  zum  weisslichen  Bauche  ein 
zweites,  breiteres,  schön  rostrothes,  grell  abstechendes  Band  an. 
Der  Oberleib  ist  olivenbraun,  die  Flügel  siud  stark  verdunkelt,  die 
Zügel  schwarz.  Ueber  dem  grossen,  glänzend  dunkelbraunen  Auge 
verläuft  ein  rostgelber  Brauenstrich;  der  halbe,  innere  Schwanz 


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Unsere  bemerkenswerthesten  Singvögel. 


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ist  lebhaft  rostroth,  der  äussere,  sowie  die  beiden  ganzen  Mittel- 
federn dunkelbraun,  der  Schnabel  schwarz,  der  Rachen  pomeranzen- 
gelb. Dem  Weibchen  fehlt  das  Lasurblau  und  die  schmückende 
rothe  Binde,  so  dass  dasselbe  ein  nur  sehr  schlichtes  Kostüm  zu 
tragen  berufen  ist.  —  Das  oben  offene  Nest  wird  stets  nahe  beim 
Wasser  in  Hümpeln,  Wurzelstöcken,  zwischen  Ellernstämmchen  &c. 
aus  Moos,  Grashalmen,  Härchen  &c.  erbaut  und  ist  ungemein 
schwierig  zu  entdecken.  Es  enthält  ca.  vier  Wochen  nach  dem 
ersten  Eintreffen  fünf,  zuweilen  auch  sechs  grünliche,  mit  einigen 
braunen  Punkten  unregelmässig  besetzte  Eier;  doch  findet  man 
auch  ganz  einfarbige  Gelege.  Die  uuterseits  gefleckten  Jungen 
leben,  wie  die  des  Rothkehlchens,  sehr  versteckt,  kriechen  wie 
Mäuse  im  dichtesten  Gesträuch  herum  und  sind  die  rechten  Busch- 
schlüpfer, das  Freie  meidend. 

5.  Der  Zaunkönig.  Sylvia  troglodytes  jtarvtdus.  Lettisch: 
jipliti«,  jcölifyt*.    Estnisch  :  pöial  pois.    Russisch  :  kjuwihhhiik  k. 

Das  ist  noch  nicht  dagewesen  1  oder  c  Wie  wagt  man  den 
Zaunschlüpfer,  diesen  bisher  stets  selbständigen  uud  einzigen  europäi- 
schen Vertreter  einer  besonderen  Familie,  unter  die  Erdsänger  ein- 
zureihen ?»  so  höre  ich  im  Geiste  bereits  vogelkundige  Leser  aus- 
rufen. Ja,  ich  wage  es  —  meiner  Ansicht  nach  aus  eben  so  viel 
gnteu  Gründen,  als  es  problematische  Gründe  zum  Verstössen  dieses 
< Kleinsten >,  dieses  < Benjamin»  aus  der  ihm  in  biologischer  und 
mancher  anderen  Beziehung  so  nahe  verwandten  Familie  gab.  Das 
gestutzte,  abgerundete  Schwänzchen,  die  etwas  kurzen  Flügel,  die 
besonders  schmalen  Nasenlöcher  &c.  sind  mir  nicht  genügende  That- 
sachen,  um  diesen  reizenden  Liebling  in  der  c kalten  und  bösen 
Welt»  allein  dastehen  zu  lassen. 

Er  ist  ein  wichtiges,  ja  nothwendiges  Glied  des  Orchesters 
in  der  Vogel  weit.  Er  bläst  das  Cornet  a  Piston,  indem  er  sein 
fröhliches  Reiterstücklein  in  den  frischen  Morgen  hinein  schmettert, 
dass  es  eine  wahre  Lust  ist  ihm  zuzuhören.  Der  Zaunkönig  ist 
auch  im  schneereichen  März  einer  der  Ersten,  welcher  seine  Stimme 
zu  Lob  und  Preis  des  Frühlings  hell  und  klar  erklingen  lässt, 
und  er  ist  zugleich  einer  der  Letzten,  welcher  im  Juli  das  resolute 
Abschiedslied  von  der  schönen  Saison  in  den  still  gewordenen  Wald 
hinaus  trillert  resp.  trompetet ;  er  ist  im  Ausdauern  und  Beherrschen 
des  zeitlichen  A  und  O  ein  König  unter  all'  den  gefiederten 
Musikern. 

Wenngleich  bei  uns  die  Zaunschlüpfer  echte  Zugvögel  zu  sein 


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306  Unsere  beraerkenswerthesten  Singvögel. 


pflegen,  welche  im  März  zeitig  ankommen  und  zu  Michaelis  ab- 
ziehen,  so  findet  man  doch  in  milden  Wintern  an  warmen,  stets 
offenen  Quellen  in  geschützter  Thalwaldlage  zuweilen  einzelne  über- 
winternde,  der  Kälte  trotzende  Helden  aus  der  Liliput-Familie. 
Scheint  nun  die  Sonne  licht  an  einem  thauwarmen  Januartage  durch 
den  starrenden  Wald,  so  traut  man  seinen  Ohren  kaum,  wenn  das 
fruhlingsheitere  Reiterliedcheu,  wie  z.  B.  heuer  in  Meiershof  geschah, 
so  frisch,  so  muthig  erklingt,  als  wäre  alles  winterliche  Elend, 
aller  nordische  Schrecken  nur  ein  Spass  für  den  tapferen  Vogel- 
könig. Ich  hörte  ihn  im  März  zuweilen  am  frühen  Morgen  bei 
5-6°  Kälte  lustig  singen,  wenn  nur  die  liebe  Sonne  schien  und 
der  Ostwind  nicht  allzu  rauh  blies.  Dankbar  lauschte  ich  dann 
dem  einzigen  Sänger,  dem  klar  und  rein  erschallenden  Gesänge, 
welcher  bald  vom  Dache  eines  Hofgebäudes,  bald  aus  einem  Birken- 
baume, dann  wieder  aus  einer  Hecke  erklang,  indem  das  « Podium  t 
fortwährend  im  nervös  tänzelnden  Bogenfluge  gewechselt  wurde. 
Bei  mildem  Wetter  bleibt  und  singt  er  mehr  unsichtbar,  im  Gewirr 
der  Sträucher  eines  verwachsenen  Grabens,  Waldbächleins  oder  in 
der  dichten  Krone  eines  Waldbaumes.  —  Brehm  schreibt  zutreffend 
von  seinem  Hausen  :  <Er  bewohnt  die  verschiedensten  Oertlichkeiten, 
am  liebsten  aber  doch  Thäler,  deren  Wände  mit  Gebüsch  bedeckt 
sind,  und  in  deren  Grunde  ein  Wässerchen  fliesst.>  Ich  bin  sehr 
glücklich  darüber,  dass  im  Meiershofschen  Parkwalde  sich  mehrere 
bewachsene  Thäler  mit  den  beliebten  «  Wässerchen  >  vorfinden,  und 
dass  ich  daher  auch  nirgend  in  Livland  bisher  so  viele  Zaunkönige 
regelmässig  anzutreffen  im  Stande  war.  Stets  habe  ich  nun  diesen 
Herzensliebling  nahe,  kann  ihn  in  der  Saison  stündlich  trillern 
hören  und  nach  Belieben  beobachten,  wovon  ich  denn  auch  aus- 
giebigsten Gebrauch  machte  und  noch  zu  macheu  hoffe.  —  Karl 
Müller  spricht  mir  «aus  der  Seele»,  wenn  er  schreibt:  «Der  Zaun- 
könig nimmt  durch  seine  niedliche  Gestalt,  sein  ewig  heiteres 
Wesen  und  seinen  schönen,  für  den  kleinsten  der  europäischen 
Vögel  wahrhaft  bedeutenden  Gesang  den  Freund  der  Vogel  weit  so 
sehr  ein,  dass  der  Wunsch,  ihn  in  der  Stube  als  ständigen,  unter- 
haltenden Gast  zu  besitzen,  natürlich  erscheint.»  Der  Wunsch 
reifte  aber  aus  selbstloser  Liebe  zum  lebendigen  Zaunkönig  bei  mir 
niemals  zur  bösen  That ;  er  ist  nämlich  in  der  Gefangenschaft  sehr, 
sehr  schwer  zu  erhalten  und  noch  viel  schwerer  einzugewöhnen.  Ich 
hatte  niemals  den  Muth,  einem  «Könige»  Kerkerhaft  zu  dictiren  und 
denselben  dadurch  einem  unnatürlich  frühen  Tode  zu  überantworten. 


Unsere  bemerkenswerthesten  Singvögel.  307 

* 

Der  stets  kecke,  neugierige  und  doch  zugleich  auch  flucht- 
bereite, den  beobachtenden  vermeintlichen  Feind  kriegerisch  <an- 
zeternde»  (zerreck-keck-kcck-zerr-zerr-serr)  und  unendlich  leicht  erreg- 
bare Vogel  ist  kaum  9  bis  9H  Cent,  lang  und  hält  nur  14  bis 
14H  Cent,  in  der  Flugbreite.  Die  Gesammtfärbung ,  ist  ein  ange- 
nehmes Rostbraun,  mit  wellenförmigen,  dunkelbraunen  Querstrichen 
und  Flecken  durchzogen,  Unterseite  etwas  lichter  erscheinend.  Das 
sehr  künstlich  hergestellte  Nest  wird,  kaleschenartig  gewölbt  und 
mit  seitlichem  Flug  loche  versehen,  auf  dem  Erdboden,  in  Baum- 
stümpfen und  Wurzelstöcken  oder  in  Baumhöhlungen,  oft  in  ziem- 
lieh  bedeutender  Höhe,  d.  h.  bis  zu  20  Fuss,  angelegt.  Ich  fand 
die  meisten  Nester  bei  uns  in  Baumhöhlen,  7  bis  9  Fuss  vom  Boden 
entfernt.  Im  Mai  findet  man  in  demselben  7  bis  9,  angeblich  aber 
auch  zuweilen  bis  14,  auf  weissem  Grunde  dicht  blutroth  gefleckte 
Eierchen.  Spater  gewährt  es  einen  gar  niedlichen  Anblick,  die 
flugfähigen  Jungen  mit  ihren  glänzenden  «Corinthenaugen»  im 
warmen  Nestchen  zusammen  hocken  und,  verscheucht,  auseinander- 
stieben und  sich  mäuseartig  verkriechen  zu  sehen.  Ich  selbst  fand 
nicht  mehr  als  acht  Junge  derart  beisammen,  aber  die  bekannten 
Ornithologen  Gebrüder  Müller  beschreiben  in  einem  Fachblatte 
sehr  anmuthig,  wie  zehn  erwachsene  Jungen  von  den  wieder  heck- 
lustig gewordenen  Alten  mit  List  und  Gewalt  aus  dem  geliebten 
Vaterhause  hinausgedrängt  wurden. 

6.  Die  Garten-Grasmücke.  Sylvia  hortensis.  Estnisch  :  poesa 
Und.   Russisch :  cjiaBKa,  auch  TpaBiituck  (beides  Gattungsnamen). 

Der  Gesang  dieser  in  Gärten,  Parkanlagen  und  Feldgehegen 
nicht  seltenen,  einfach  olivengrau,  Unterseite  heller,  grauweisslich 
gefärbten  Grasmücke  ist  wunderschön,  reichhaltig,  zusammen- 
hängend, ohne  grelle  Uebergänge,  ein  liebliches  c Geigenspiel»,  der 
Anlage  nach  eine  Symphonie  für  sich  allein.  Von  Unkundigen 
wird  der  schnelle,  geschmeidige  Vortrag  leicht  mit  dem  des  Sumpf- 
schilfsängers  oder  sogar  des  Garten-Laubvogels  verwechselt ;  eine 
gewisse,  theilweise  Aehnlichkeit  waltet  allerdings  ob,  namentlich 
im  Tempo,  in  der  ununterbrochenen  Weise,  in  der  Verschmelzung 
der  geigenartigen  und  flötenden  Töne.  —  Die  Gartengrasmücke 
ist  ein  sehr  fleissiger  Sänger ;  leider  aber  pflegt  sie  bei  uns  sehr 
spät,  durchschnittlich  etwa  um  den  8.  bis  10.  Mai  einzutreffen  und 
bereite  vor  St.  Johannis  ihren  die  Gärten  besonders  belebenden, 
allerlei  fremde  Melodien  nachspottenden  Gesang  einzustellen.  — 
Im  Nestbauen  ist  diese  Grasmücke  der  leichtfertigste,  untüchtigste 


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308  Unsere  bemerkenswerthesten  Singvögel. 

und  pflichtvergessen  sorgloseste  Vogel,  den  ich  kennen  lernte.  Ein 
starker  Wind  ist  im  Stande  das  allzu  locker  in  Hecken  und  Ge- 
büschen eingehängte,  nur  aus  leichten  Grashalmen  und  wenigen 
Härchen  gefügte,  das  Licht  durchscheinen  lassende  Nest  zu  ent- 
führen, zu  zerstören.  Ein  durchaus  noch  nicht  derbes  Berühren 
mit  der  Hand  verschiebt  den  ganzen  nichtsnutzigen  Bau,  der 
übrigens  solchenfalls  auch  sofort  von  der  mistrauischen  Grasmücke 
an  einer  anderen  Stelle,  aber  in  derselben  frivolen  Manier  errichtet 
wird.  —  Etwa  15 — 20  Tage  nach  dem  Eintreffen  finden  sich  in  diesem 
unzuverlässigen  Behälter  fünf  Eier  vor,  die  sich  von  denen  der  Mönchs- 
grasmücke eigentlich  nur  durch  ihre  übertreffende  Grösse  wesentlich 
unterscheiden,  da  die  variirende  Färbung  allein  für  gewiegte  Nest- 
kenner und  Eiersammler  trennende  Momente  zu  erkennen  giebt. 
Sie  sind  auf  fahlfleischfarbigem,  licht  staubgelblichem  oder  hell 
nebelbläulichem  Grunde  mit  matt  granem  und  bräunlichem  Gewölke 
marmorirt  und  gefleckt,  zuweilen  auch  mit  einigen  dunklen  Pünkt- 
chen spärlich  .bedeckt.  Die  lebhafte  und  doch  sehr  friedfertige, 
in  der  Gefangenschaft  nicht  unschwer  zu  erhaltende  < graue»  Gras- 
mücke wird  im  Hochsommer  ein  gieriger  Beerenfresser  und  im 
Süden  speciell  ein  Freund  der  Feigen,  die  sie  sehr  fett  machen 
sollen  und  ihr  den  Namen  < Feigenfresser»  gaben. 

7.  Die  Mönchsgrasmücke ,  das  Schwarzplättchen.  Sylvia 
atricapilla.    Lettisch  nach  Russow:  fauti*. 

Dieser  in  Deutschland  sehr  populäre  Vogel  verdiente  auch 
bei  uns  vom  Publicum  besser  gekannt  zu  sein.  Ein  deutscher 
Componist  schrieb  vor  mehr  als  dreissig  Jahren  eine  c Schwarz- 
plättchen-Polka»  nieder  und  Hess  sie  in  einer  Musikzeituug  im 
Druck  erscheinen.  Als  Thema  hatte  er  dem  ersten  Theile  die  vom 
Vogel  sehr  laut,  voll  und  weit  vernehmbar  gesungene  Schlussstrophe, 
den  sogenannten  tRuf»  mit  viel  Glück  und  Geschick  zu  Grunde 
gelegt.  Fände  doch  solches  erfreuliche  Bekanntmachen  mit  unseren 
besten  Vogelmelodien  mehr  Nachahmung  I  —  Friderich  schreibt 
über  die  musikalischen  Leistungen  der  Schwarzplatte :  elhr  Gesang 
ist  als  einer  der  lieblichsten  und  angenehmsten  unter  allen  Sängern 
zu  nennen :  flötend,  schmelzend  und  mit  einem  helltönenden,  lauten 
Ruf.  Er  besteht  aus  einem  Piano,  ähnlich  dem  der  grauen  Gras- 
mücke, nur  viel  leiser,  und  aus  einem  Forte,  welches  letztere  man 
ihren  Ruf  nennt.  Das  Piano  dauert  ziemlich  lange,  ist  sehr  melodisch 
und  abwechselungsvoll,  der  Ruf  ist  sehr  stark,  flötenartig  und  gut 
verständlich.    Dieser  Ruf  ist  mit  dem  Munde  leicht  nachzuahmen.» 


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Unsere  bemerkenswerthesten  Singvögel.  309 

Im  Norden,  also  auch  bei  uns,  wo  die  Mönchsgrasmücke  in  den 
ersten  Tagen  des  Mai  anlangt,  soll  ihr  Gesang  weniger  gut,  in 
Deutschland  schon  besser,  namentlich  in  Thüringen,  am  besten  aber 
in  Madeira.  Teneriffa  und  auf  den  Inseln  des  grünen  Vorgebirges 
sein,  wo  sie  *Tutinegra>  heisst.  —  In  kleineren  Gärten  lässt  sie 
sich  nicht  häuslich  nieder,  gern  in  Parkanlagen,  am  liebsten  aber 
in  grösseren  Feldgehegen  und  an  Waldrändern  gemischten  Be- 
standes mit  viel  Unterholz.  Der  «Möncht  ist  bei  uns  überall 
häutig  und  verräth  sich  dem  Kenner  schon  von  weitem  durch  seinen 
sehr  charakteristischen  Ruf,  der  aber  nur  von  guten,  alten,  hitzigen 
Vögeln  jedesmal  als  Schlusssatz  abgesungen  wird.  Jüngere  und 
träge  Vögel  lassen  denselben  leider  öfter  fort,  namentlich  wenn 
das  Wetter  sehr  ungünstig  ist  oder  das  eigentliche  Liebestreiben 
sich  dem  Ende  nähert.  —  In  der  Gefangenschaft  soll  er  viele 
Jahre,  man  behauptet  sogar  bis  16,  ausdauern.  Karl  Müller,  der 
sie  gelegentlich  <  wahre  Möhren-,  Obst-  und  Beeren  vögelt  nennt, 
schreibt  darüber  :  «Es  giebt  wenige  Vögel,  welche  in  der  Gefangen- 
schaft so  wenige  Ansprüche  hinsichtlich  der  Wartung  machen  und 
so  lange  gesund  und  kräftig  ausdauern  wie  das  Schwarzplättchen. » 
—  Den  Namen  gab  ihnen  der  bei  den  Männchen  schwarze,  bei 
den  Weibchen  braune  Oberkopf,  welcher  ihn  auch  jedem  Laien 
leicht  und  sicher  erkennbar  erscheinen  lässt.  Oberseits  ist  dieser 
Vogel  einfach  olivenbraun,  Unterseite  schmutzig  weisslich,  an  den 
Wangen,  Halsseiten  und  in  den  Zügeln  rein  aschgrau  gefärbt. 
Die  Länge  beträgt  14- 14^,  die  Flugbreite  23— 23 H  Centimeter. 
Der  Schnabel  ist  schwarzbraun,  das  Auge  sehr  schön  dunkelbraun, 
die  stämmigen  Füsse  sind  grau. 

Ueber  die  Familie  der  Laub  vögel 
ist  zu  bemerken,  dass  sie  sich  durch  eine  gestreckte,  längere  Stirn, 
einen  ausgeschnittenen  Schwanz,  eine  meist  grünliche  Färbung  aus- 
zeichnen. Männchen,  Weibchen  und  Junge  unterscheiden  sich  nicht 
wesentlich  in  der  Färbung.  Sie  hüpfen  flatternd  in  den  Baum- 
kronen umher,  meiden  möglichst  den  Boden,  auf  dem  sie  sich  nur 
ungeschickt  fortbewegen.  Wir  wollen  uns  drei  Arten  dieser  liebens- 
würdigen Familie  näher  ansehen. 

9.  Der  Garten-Laub vogel,  gelber  Spottvogel,  Bastardnachtigall. 
Sylvia  hypaiäis.    Russisch  :  nliHOMKa. 

Von  der  Mitte  des  Wonnemonats  an  verkündet  dieser  hervor- 
ragende «Concertsänger>  in  unseren  Baumgärten  und  Laubgehegen 


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310  Unsere  bemerkenswerthesten  Singvögel. 


den  Eintritt  der  wannen  Jahreszeit,  den  Beginn  des  Sommers. 
Alljährlich  wird  mir  beim  erstmaligen  Anhören  der  sehr  geliebten 
Hypolais-Strophen,  die  in  gewissen  Pausen  vom  charakteristischen 
<fefehüheh-fifehüjei  unterbrochen  werden,  eigentümlich  «sommerlichi 
zu  Muthe.  Diese  Strophen  und  schönes,  warmes,  allgemeine  Lebenslust 
athmendes  Wetter  gehören  so  recht  zusammen.  Da  sitzt  der  oberseits 
grüngraue,  unterseits  hübsch  hellgelbe  Vogel  mit  seinen,  artlich  be- 
zeichnend, blaugrauen  Füsschen  auf  einem  Zweige  oder  in  einer 
grösseren  Baumkrone,  am  liebsten  in  Birken  und  Linden,  sträubt 
die  Eopffedern  zu  einem  anmuthigen  Häubchen  und  singt  mit  einer 
innerlichen  Lust,  einer  Verzückung,  die  sich  durch  kein  energisches 
ßetrachteu,  nicht  einmal  durch  einen  vorbeisausenden  Stein  stören 
lässt.  Der  oft  mehrere  Stunden  ohne  längere  Unterbrechung  an- 
haltende Gesang  besteht  für  gewöhnlich  aus  drei  Hauptweisen. 
Er  beginnt  meist  mit  einem  Allegro-Geschwätze  in  sanften,  geigen- 
artigen Tönen,  einem  Liebesgeflüster  vergleichbar,  dann  folgt  in 
der  Regel  eine  Art  Recitativ,  das  sich  wie  ein  Selbstgespräch,  wie 
eine  verlautbarte  Reflexion  anhört,  worauf  das  den  Artgesang  von 
weitem  bestimmbar  machende,  clarinettenartig  und  tief  ausdrucks- 
voll innig  vorgetragene  *fifehiijc>  drei-  bis  höchstens  viermal  zu 
folgen  pflegt.  Dieser  eRuf>  verhalf  dem  Vogel  in  manchen  Gegenden 
Deutschlands  zu  dem  Volksnamen  <Tideritchen>.  In  diesen  leb- 
haften Gesang  werden  improvisirte  Strophen  und  leicht  variirende 
Nachahmungen  anderer  Sänger  sehr  geschickt  und  geradezu  musika- 
lisch genial  hineingeflochten.  Kein  anderer  Vogel  gönnt  dem  ent- 
zückt lauschenden  Menschen  in  so  geduldig  liebenswürdiger  Weise 
das  ruhige,  nicht  so  leicht  zu  störende  Anhören  des  symphonien- 
artig angelegten  Concertes,  des  zartsinuigen  und  technisch  exact 
verlaufenden  Vortrages,  der  ein  Meisterwerk  sonder  gleichen  ge- 
nannt zu  werden  verdient.  Ein  weiteres  Meisterwerk  unseres 
hypolais  ist  die  ungewöhnlich  kunstvolle  Herstellung  des  überaus 
niedlichen,  dabei  sehr  starken,  warmen  und  »/•  kugelförmigen  Nestes, 
welches  äusserlich  durch  angewandte  Birkenrindenhäutchen  ein 
weissliches  Ansehen  hat  und  innerlich,  wie  aus  Filz  gemacht,  fest, 
glatt  und  fein  fügig  erscheint.  Es  ist  auf  hellrindigen  ßirkenbäumen 
nicht  ganz  leicht  zu  entdecken,  steht  vom  Boden  5  bis  höchstens 
15  Fuss  entfernt  und  ist  dem  tragenden  Aste  so  fest  aufgesetzt 
und  angewebt,  dass  man  es  bei  der  Absicht,  dasselbe  heil  zu  er- 
halten, meist  herausschneiden  resp.  sägen  muss.  —  In  der  ersten 
Woche  des  Juni  findet  man  in  demselben  in  der  Regel  fünf  rosa 


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Unsere  bemerkenswerthesten  Singvögel. 


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mit  «gebrannt»  schwarzen  Punkten  gezierte,  etwas  längliche  Eier, 
die  in  der  schmucken  Umgebung  einen  ganz  reizenden,  fesselnden 
Anblick  gewähren.  Wenn  es  über  die  Verbreitung  dieses  Vogels 
in  den  betr.  Büchern  zuweilen  heisst,  dass  er  die  wärmeren  Gegenden 
Europas  mehr  bevorzugt  und  nirgend  häufig  sei,  so  muss  ich  solchen 
Ansichten,  gestützt  auf  meine  eigenen  Erfahrungen,  lebhaft  wider- 
sprechen, denn  nirgend  in  Deutschland  und  in  der  Schweiz  fand 
ich  den  Hypola'is  so  zahlreich  wie  bei  uns  in  Livland  vor,  wo  er 
sogar  als  ein  häufiger  Sommerbewohner  der  Gärten,  Parks  und 
Laubwälder  angesprochen  werden  muss. 

9.  Der  Fitissänger.    Sylvia  fitis. 

Ungefähr  gleichzeitig  mit  dein  Sprosser,  aber  nicht  ganz  so 
präcise,  langt  dieses,  die  Bescheidenheit  und  Friedfertigkeit  sowol 
im  zarten  Gesänge  als  in  seinem  ganzen  harmlosen  Wesen  re- 
präsentirende  kleine  Vöglein  bei  uns  an,  um  in  Zaungesträuchen, 
buschreichen  Gartenanlageu  und  in  jüngeren  Laubwaldschlägen  sein 
Standquartier  zu  nehmen.  Seine  Länge  beträgt  nur  wenig  über 
11,  seine  Flugbreite  ca.  18  H  Centiraeter,  seine  Färbung  ist  ober- 
seits  grünlich  grau,  unterseits  hell  mattgel blich,  seine  Füsschen 
sind  gelblich  fleischfarben.  —  Der  oft  hörbare  Lockton  ist  dem 
des  Gartenröthling  ähnlich,  aber  unendlich  viel  sanfter ;  der  einfache, 
aber  sehr  liebliche  Gesang  erinnert  in  der  Melodie  ein  wenig  an 
den  Finkenschlag,  ist  aber  sonst  als  das  Gegentheil  eines  « Schlages > 
zu  bezeichnen,  indem  die  abwechselungslose  kurze  Strophe  nur  in 
sanftestem  Flötenton,  gleichsam  gehaucht,  zart  und  leise  vorgetragen 
wird.  Er  macht  einen  etwas  wehmüthigen,  poesievollen,  sehr 
sympathischen  Eindruck  und  wird  recht  fleissig  von  dem  allent- 
halben häufig  anzutreffenden  Vogel  executirt.  —  Das  überwölbte, 
mit  einem  seitlichen  Eingang  versehene  Nest  wird  immer  auf  die 
Erde  gesetzt  und  enthält  gewöhnlich  in  der  zweiten  Hälfte  des 
Mai  fünf  bis  sieben  sehr  niedliche,  etwas  stark  zugespitzte  Eierchen, 
die  auf  mattweisslichem  Grunde  rosa  bespritzt  und  punktirt  sind. 

10.  Der  Weidenzeisig.  Sylvia  rufa.  Lettisch  nach  Russow: 
tfd)antfd)infd)  (den  Gesang  wiedergebend). 

Von  allen  Laubvogelarten  trifft  dieser  echte  Waldvogel,  der 
sich  niemals  in  den  Gärten  niederlässt,  am  frühesten,  durchschnitt- 
lich schon  in  der  Mitte  des  April,  aber  je  nach  der  Witterung  des 
Frühjahrs  oft  sehr  unregelmässig,  von  der  ersten  bis  letzten  Woche 
des  Monats,  ein.  Nicht  als  einen  vorzüglichen,  sondern  nur  als 
einen  sehr  bemerkbaren,  leicht  hörbaren  Sänger  in  unseren  Wäldern 

BaltUeke  Monatmchrifl.  Bd.  XXXIV.    Hüft  4.  12 


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312  Unsere  bemerkenswerthesten  Singvögel. 

habe  ich  auch  den  Weiden-Laub vogel  den  Lesern  vorzuführen  mir 
erlaubt.  Nicht  schön  oder  lieblich  ist  sein  einförmiger,  sehr  charak- 
teristischer Vortrag,  sondern  nur  originell  und  jedem  Waldbesucher 
sofort  in  die  Ohren  fallend.  Es  ist  dies  wahrscheinlich  der  einzige 
Gesang  unserer  Singvögel,  den  man,  ohne  ihn  jemals  vorher  gehört 
zu  haben,  nur  allein  und  sogleich  nach  den  gelesenen  Wortsilben 
der  Wiedergabe,  meiner  Ansicht  nach,  zweifellos  zu  erkennen  im 
Stande  sein  wird.  Er  singt,  wie  ein  Silberschmied  das  kleine 
Amboslein  zu  bearbeiten  pflegt,  mit  grossem  Eifer  etwa:  ziltn-zelm, 
zelm-ziltn-zilm-zäm-zemm-zemm,  auch  :  dilm-deltn,  demm  :  zilp-zalp, 
oder,  wie  es  der  lettische  Name  ausdrückt :  tschan-tschin,  tschin-tschan- 
tschan  &c.  Unterbrochen  wird  dieses  beim  längeren  Hinhorchen 
fast  ermüdende,  aber  ins  Vogelconcert  gut  hineinpassende,  etwa 
den  Triangel  vertretende  Gehämmer  durch  ein  wenig  weit  schallendes, 
leiseres  :  derr-der-derr  oder  jededetjed,  worauf  wieder  das  ziltn-zelm 
mit  erneuerter  Lust  und  der  besten  Lungenkraft  fortgesetzt  wird. 
—  Auch  dieser  kleinste  aller  Laubsänger  (10»/»  Cent,  lang,  bei 
17Vi  Cent.  Flugbreite)  ist  von  olivengrünlicher  Färbung  auf  dem 
Oberleibe,  auf  der  Brust  bottergelb,  am  Bauche  weiss,  während 
die  Füsse  artunterschiedlich  schwärzlich  sind.  —  Sein  Nest  ist  nicht 
vollständig  überwölbt,  so  dass  man  die  Eierchen  in  demselben  sehen 
kann.  Diese  sind  auf  rein  weissem  Grunde  sehr  hübsch  mit  roth- 
braunen und  schwarzröth liehen  Punkten,  namentlich  am  Dickende 
besetzt  und  werden  je  nach  dem  Jahre  vom  1.  bis  12.  Mai  voll- 
zählig beisammen  gefunden. 

Die  Familie  der  Drosseln 
ist  durch  bedeutende  Grösse  wesentlich  von  allen  unseren  Sängern 
unterschieden.  Es  sind  kluge  und  muthige  Vögel,  die  sich  beim 
Wandern  oft  in  verschiedenen  Arten  zu  einem  grösseren  Zuge  ver- 
einigen und  die  dann  tmitgegangen,  mitgeliangen »  auch  eine  gemein- 
schaftliche Beute  der  in  West-  und  Südeuropa  so  ungemein  esslustigen 
Menschen  durch  deren  Fangnetze,  Schlingen  und  die  böse  Schrot- 
flinte werden.  —  Die  Füsse  sind  kräftig,  der  Oberschnabel  ist  ein  wenig 
gebogen,  am  Mundwinkel  finden  sich  einige  Borstenhaare  vor;  die 
Augenlidränder  und  der  Schnabelwinkel  färben  sich  im  Hochzeitskleide 
gelb  aus.    Als  tüchtige  Sänger  sind  bei  uns  drei  Arten  zu  erwähnen. 

11.  Die  Misteldrossel.  Turdus  viseivorus.  Auch  Ziemer 
oder  Schnarre.  Lettisch  :  peUctai«  flra«b«  (malfönifd)) ;  estnisch :  hobbo 
rüstas  ;  russisch :  jepflCa  oder  öojF.mofl  chpufl  genannt. 


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Unsere  bemerkenswerthesten  Singvögel.  313 

Den  Namen  erhielt  sie  in  Deutschland  von  der  Mistelbeere 
niscum,  welche  bereits  die  Römer  als  beliebte  Nahrnng  der  Drosseln 
und  als  Stoff  zur  Bereitung  des  Vogelleims  kannten.  Daher  sagten 
sie  witzig :  «  Turdus  sibi  ipse  malum  cacat!  »  —  Von  dem  schnarrenden 
Lockton  stammt  naheliegend  die  Bezeichnung  «Schnarre»  her.  — 
Diese  stattlichste  unserer  Drosselarten  ist  bis  26'/»  Cent,  lang  und 
misst  in  der  Flugbreite  46  Centimeter.  Dementsprechend  ist  auch 
ihr  Gesang  sehr  laut,  weithin  schallend,  uud  wäre  nicht  eine  ge- 
wisse Rauhheit  des  Tones  vorhanden,  so  müsste  er  sehr  schön  ge- 
nannt werden;  ein  wenig  melancholisch,  düster  und  bei  schlechtem 
Wetter  geradezu  traurig-ernst  wird  das  volle  Pfeifen  meist  er- 
scheinen. In  den  Mittelstrophen  ähnelt  das  Singen,  namentlich 
bei  windigem  Wetter  und  flüchtigem  Hinhorchen,  dem  Amselgeflöte, 
sogar  bis  zur  Möglichkeit  des  Verwechselns.  Als  ich  1885  die 
Auerhahnbalz  unter  Schloss  Luhde  bei  windigem  Wetter  in  Be- 
gleitung des  in  der  Kreisschule  gut  geschulten  Bauke-Forstwarts 
verliess,  fragte  ich  ihn,  ob  er  die  Farbe  des  Vogels,  dessen  Pfeifen 
wir  durch  den  Wind  bruchstückweise  hörten,  gut  kenne.  Er  sei 
grau,  meinte  er ;  schwarz,  sagte  ich.  «Sie  versehen  sich,  Herr,  es 
ist  keine  Amsel»  —  und  der  Mann  hatte  Recht I  «Die  Amsel  singt, 
wie  der  Lette  spricht,  der  Ziemer  aber  pfeift,  wie  der  Este  redet, » 
erläuterte  er  mir  nicht  übel  das  Vorliegende.  Das  musste  mir 
alten  Waldläufer  und  Vogelkenner  passiren  1 

Für  gewöhnlich  ist  die  Misteldrossel  oberseits  olivengrau, 
unterseits  hellgelb  mit  braunschwarzen  Flecken  auf  Kropf  und 
Brust  gezeichnet,  aber  am  10.  Mai  1885  sah  ich  ein  Exemplar  auf 
der  17.  Werst  vor  Riga,  welches  rein  weiss,  vielleicht  mit  einem 
Stich  ins  Schmandfarbene,  gefärbt  war.  Zur  Unterscheidung  von 
Sing-  und  Weindrossel  sei  hier  noch  erwähnt,  dass  die  unteren 
Flügeldeckfedern  immer  rein  weiss  sind.  —  Früh  im  März,  wenn 
noch  wenige  Vögel  ihre  Stimme  erklingen  lassen,  meldet  sich  schon 
von  der  Spitze  einer  «himmelhohen»  Grähne  oder  Kiefer  herab  der 
Ziemer,  um  erst  im  October  die  baltischen  Gefilde  wieder  zu 
verlassen. 

12.  Die  Amsel.  Turdus  merula.  Russisch:  uepuift  aposax; 
lettisch:  mit  dem  Staar  gleich. 

So  allgemein  bekannt  und  überall  häufig  vorkommend  die 
Amsel  auch  in  Deutschland  ist,  so  wenig  dürfte  sie  bei  uns  vom 
grösseren  Publicum  gesehen  oder  bewusst  gehört  werden.  Denn 
sie  ist  bei  uns  nicht  nur  selten  und  sehr  scheu,  sondern  lebt  auch 

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314  Unsere  bemerkenswertesten  Singvögel. 

hierorts  nur  in  geschlossenen,  abgelegenen  Wäldern  und  nicht,  wie 
in  Deutschland,  dreist  und  scheinbar  furchtlos  auch  im  kleinsten 
Garten.    Wer  in  Livland  eine  Amsel  hören  will,  kann  lange 
suchen  und  manche  Ausfahrt  umsonst  machen.    In  den  baltischen 
Landen  ist  sie  ein  echter  Zugvogel,  der  in  Mittellivland  gewöhnlich 
in  der  ersten  Hälfte,  falls  spät,  in  der  Mitte  April  anlangt  und 
bereits  im  September  zu  verschwinden  pflegt.    Meyer  und  Fischer 
behaupten  mit  Unrecht,  sie  sei  auch  hier  Standvogel ;  der  schlimme 
Gedanke,  hieran  sei  Ab-  und  Nachschreiberei,  jedenfalls  aber  Mangel 
an  Erfahrung  und  kenntnisloses  Substituiren  mitteldeutscher  Vor- 
,  kommnisse  nicht  ohne  wesentliche  Schuld,  steigt  unwillkürlich  dem 
langjährigen  Freunde  unserer  Vogelwelt  auf.  —  Wenn  es  gelehrte 
Liebhaber  giebt,  die  da  schreiben,  ihr  Flötengesang  habe  «einen 
sehr  heiteren  Charakter»,  so  kann  ich  solches  absolut  nicht  ver- 
stehen, geschweige  denn  nachempfinden.    Wenn  die  Amsel  ihr 
siebennotiges:  «J  geh'  und  steh\  wo  i  wilh  in  ziemlich  tiefer  Ton- 
lage vorträgt,  liegt  alles  andere  eher  darin  ausgedrückt  als  «grosse 
Heiterkeit».    Man  sage  z.  ß. :  Sehnsucht  mit  Liebe,  Wohllaut  mit 
Anstand,  oder  Treue  mit  Wehmuth,  so  würde  sich,  meiner  Ansicht 
nach,  ein  jeder  da  so  ziemlich  gut  hineindenken  können.  Aber 
wo  ich  deutlich  noch  Schwermuth  herauszuhören  im  Stande  bin. 
da  finden   andere  «eine  ungeheure  Heiterkeit»  vertreten.  Die 
Menschen  sind  doch  gar  zu  verschieden  !  Wem  soll  man  glauben, 
folgen  ? 

Ich  bin  so  glücklich,  in  meinem  stillen,  «weltvergessenen»,  die 
eine  Seite  des  waldumkränzten  Aathales  bildenden  Parkwalde  all- 
jährlich ein  oder  gar  zwei  Pärchen  Amseln  als  Nistvögel  beschützen 
zu  dürfen  und  dieselben  dann  Gästen,  denen  ihr  Hausen  bei  uns 
unbekannt  geblieben  war,  nicht  ohne  einige  Mühe  vor  Aug'  und 
Ohr  führen  zu  können.  Ausser  in  Meiershof  fand  ich  ferner  die 
Amsel  als  Brutvogel  noch  unter  Kudling,  Paibs,  bei  Stackein  an 
der  Aa,  in  Pernigel  und  in  Kaipen.  Die  tief  schwarze  Farbe,  der 
hellgelbe  Schnabel,  der  breite  und  lange  Schwanz,  wie  auch  der  * 
schwankend  unbeholfene  Flug  lassen  diesen  im  Norden  jede  An- 
näherung des  Menschen  ängstlich  meidenden  Vogel  schon  aus 
ziemlich  bedeutender  Entfernung  sicher  erkennen.  Auch  die  Amsel 
ist  wieder  ein  Beweis  dafür,  wie  sehr  verschieden  die  Lebensart 
und  der  Charakter  vieler  Vögel  im  Centrum  und,  oft  geradezu 
entgegengesetzt,  in  der  Peripherie  ihrer  geographischen  Verbreitung 
aufzutreten  pflegen.    Während  z.  B.  in  Bad  Ems  etwa  kaum  20  Fuss 


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Unsere  bemerkenswerthesteu  Singvögel. 


315 


von  unserem  besetzten  ßalcon  die  Amsel,  ungenirt  und  in  grösster 
Seelenruhe  auf  dem  Fahnenstock,  einer  Giebel-  oder  Baumspitze, 
sogar  auf  Geländern  sitzend,  ihr  ruhesehnendes  Abendlied  uns  vor- 
trug, oder  ihre  Weckstimme  als  Morgenständchen  uns  ins  Schlaf- 
zimmer hinein  flötete,  muss  ich  mich  in  Meiershof  wie  ein  Dieb, 
marderartig,  im  tiefsten  Schatten  und  Dickicht  heranschleichen, 
um  den  Vogel  auf  der  Spitze  einer  tewig»  hohen  Grähne  erblicken 
und,  wie  Herr  Röse  sagt,  cden  Anfang  einer  Ciaviersonate  von 
Clementi>  mit  einiger  Müsse  anhören  zu  können. 

Die  jung  von  Menschenhand  aufgezogenen  Amseln  sollen  sehr 
gelehrig  und  leicht  zum  Nachpfeifen  fremder  Arien  zu  bringen 
sein.  Ich  ziehe  aber  jeden  Naturgesang  allem  künstlich  Erlernten 
freudig  vor. 

13.  Die  Singdrossel.  Turdus  musictis.  Lettisch :  niafai« 
ftraGbe ;  estnisch:  laulo  rästas;  russisch:  ntaifl  AP03AI. 

Wo  soll  man  noch  Worte  linden,  um  diese  c Königin  des 
Waldes >  zu  feiern?  Ihr  Lob  ist  schon  so  beredt,  so  begeistert  ge- 
sungen worden,  dass  ich  besser  thue,  Vorgänger  in  dieser  dank- 
baren Aufgabe  anzuführen  !  So  schreibt  Professor  Dr.  K.  Th.  Liebe 
in  seinen  «Ornithologischen  Skizzen >  188G  über  unseren  grossen 
Liebling:  cAls  Sängerin  müssen  wir  die  Zippdrossel  unter  unseren 
deutschen  Walddrosselarten  obenan  stellen,  denn  sie  ist  die  fleissigste 
unter  ihnen,  welche  früh  von  dem  Augenblick  an,  wo  die  Sonneu- 
scheibe den  Horizont  berührt,  bis  weit  in  den  Morgen  hinein,  und 
später  wieder,  wo  die  Sonne  sich  tiefer  stellt,  bis  zu  der  Zeit,  wo 
schon  die  dunkelen  Abendschatten  über  die  Waldblössen  hinhuschen, 
ihren  Schlag  ertönen  lässt,  und  dabei  beginnt  sie  zeitig  im  Früh- 
jahr, sobald  die  Leberblümchen  ihre  blauen  Sterne  öffnen,  um  erst 
spät  im  Sommer  aufzuhören.  Zudem  zeichnet  sich  ihr  Schlag  durch 
seinen  weichen  Wohllaut  und  durch  seinen  grösseren  Reichthum 
an  Abwechselung  aus.  Der  Schlag  wird  übrigens  mit  jedem  Jahre, 
welches  der  Vogel  zurücklegt,  besser,  volltöniger  und  mannig- 
faltiger. > 

Der  bekannte  Vogelzüchter  Friderich  schreibt  ferner  :  <Ihr 
Gesang  ist  ausgezeichnet,  und  sie  beleben  dadurch  schon  im  März 
unsere  Wälder  auf  das  angenehmste ;  besonders  machen  sie  dem 
Jäger  Freude,  weil  sich,  wenn  dieser  erschallt,  auch  die  Wald- 
schnepfen bald  zeigen  und  der  Anstand  auf  diese  nun  beginnt.  Die 
Singdrossel  ist  in  der  That  eine  der  ersten  Zierden  des  Waldes, 
und  da  ihr  an  sich  schon  lauter  und  volltönender  Gesang  von  den 


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Unsere  bemerkenswerthesten  Singvögel. 


höchsten  Gipfeln  der  Bäume  erschallt,  so  wird  ihr  schönes  Lied  in 
weitem  Umkreise  hörbar.  Am  schönsten  singen  sie  des  Abends 
bis  zum  Einbrüche  der  Nacht,  worauf  sie  ins  niedere  Gebüsch 
herabfliegen  und  noch  eine  Zeit  lang  ihr  durchdringendes  *tsi  tsi» 
hören  lassen.  In  den  lieblichsten  Abwechselungen  folgen  sich  die 
verschiedenartigsten  Strophen,  und  deren  Zahl  ist  nicht  gering.» 

Man  hat  oft  das  Lied  der  allbekannten,  allbeliebten  Sing- 
drossel in  Worten  auszudrücken  versucht.  So  meint  das  Volk  in 
Deutschland,  sie  sänge  z.  B.  <Fillip  !  (Viel  Lieb)  Fillip!  ba  büstu? 
Im  Siezen*  (Sumpf) ;  oder  :  Zwieback,  Zwiebach,  Zwieback,  %  wollt',  i 
hätte  viel,  ich  <&c.  (zwei-  und  dreimal)  und  Wiho!  Wibö  !  Wibö!  i  wollt1, 
i  hat?  dich  nit,  ich  &c.  (zwei-  und  dreimal).  Etwas  ungemein  Sprechen- 
des und  Ausdrucksvolles  hat  allerdings  ganz  besonders  der  in  kunst- 
schönen Intervallen  vorgetragene  innige  Gesang  der  «Zippe»  an  sich. 

Unsere  Singdrossel,  die  wir  so  oft  hören,  aber  dank  dem 
vogelfreundlichen  Sinn  der  Balten,  welche  «brave  Sänger»  nimmer 
schiessen,  abfangen  oder  gar  verspeisen,  in  alten  Exemplaren  nur 
selten  und  besonderer  Umstände  halber  zur  Ansicht  in  die  Hände 
bekommen,  ist,  oberflächlich  betrachtet,  der  Misteldrossel  ziemlich 
ähnlich,  nur  sehr  auffallend  viel  kleiner.  Die  oberen  Theile  sind 
bräunlich-olivengrau,  der  Schwanz  und  die  zweireihig  hell  getupften 
Flügel  etwas  dunkler,  rauchbraun,  die  unteren  Flügeldeckfedern 
aber  artentscheidend  sehr  hübsch  hell  rostgelb  (bei  der  Wein- 
drossel schön  blattroth).  Der  breite  Kropf  ist  bruttgelb-rostig 
überlaufen,  während  Kehle  und  Unterleib  weiss  bleiben.  Die 
Kehlseiten  sind  mit  kleinen  schwarzbraunen  Fleckchen  streifig 
eingefasst,  welche  nach  unten  hin  immer  grösser  und  gleich  massiger 
vertheilt  erscheinen,  bis  sie  sich  in  der  Weichengegend  gänzlich 
verlieren.  Das  Weibchen  weicht  in  der  Farbe  und  Grösse  so  wenig 
vom  Männchen  ab,  dass  es  schwierig  wird,  sie  zu  unterscheiden, 
d.  h.  wenn  man  das  Paar  zum  Vergleich  nicht  beisammen  hat. 
Denn  im  letzteren  Falle  giebt  der  ganze  Habitus,  die,  wenn  auch 
nur  sehr  geringe  Abschwächung  der  Farbentöne,  namentlich  bei 
den  Flügeltupfen,  dem  Kenner  eine  genügend  sichere  Handhabe 
zur  Unterscheidung. 

Das  Nest,  welches  nur  vormittags  gearbeitet  wird,  ist  nicht 
schwierig  aufzufinden,  da  seine  Grösse  und  sein  vom  Boden  nur 
4 — 16  Fuss  entfernter  Stand  das  Entdecken  erleichtert.  Es  werden 
meist  junge  Grähnen,  Kiefern,  staike  Wachholder-,  Birken-  und 
andere  Laubbäume  zur  soliden  Anlage,  bei  der  auch  Lehm  zum 


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Unsere  bemerkenswerthesten  Singvögel. 


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Innenputz  verwendet  wird ,  erlesen  und  benutzt.  Für  jeden 
jugendlichen  Eiersammler  ist  die  Freude  gross,  in  den  Besitz  der 
stattlichen,  geradezu  wunderschönen  fünf  Eier  zu  gelangen,  die 
hell-himmelblau  (ich  bin  nicht  im  Stande,  den  Farbenton  als  « grün- 
spanfarbig »  anzusehen  und  anzusprechen,  wie  fast  alle  betr.  Bücher 
es  sagen)  gefärbt  und  mit  brandig-schwarzen,  sich  rein  abhebenden 
Flecken  allerliebst  geziert  sind.  —  Den  gefleckten  halbflüggen 
Jungen  stellen  leider  auf  dem  Erdboden  die  Füchse  mit  besonderer 
Liebhaberei  und  Energie  nach,  wodurch  ein  sehr  bedeutender  Theil 
der  Jungbrut  alljährlich  vernichtet  wird. 

Die  Familie  der  Rohrsänger 
ist  zwar  den  Grasmücken  und  Laubsängern  nahe  verwandt,  aber 
doch  wieder  so  eigentümlich,  dass  es  auch  dem  Freunde  gemein- 
schaftlicher Familiennamen  in  casu  gestattet  sei,  diesen  meist  weit 
ab  von  menschlichen  Wohnungen  und  in  sumpfigen  Gegenden 
hausenden  Singvögeln  einen  der  griechischen  Sprache  entlehnten, 
häufig  gebrauchten  Gruppennamen  zu  geben.  Die  Stirn  dieser 
niedrig  gestellten,  oft  fast  gebückt  erscheinenden  Vögel  ist  flach 
und  gegen  den  Schnabel  hin  stark  verschmälert,  die  Füsse  sind 
kräftig,  der  Schwanz  ist  keilförmig,  durch  verlängerte  Mittelfedern 
fast  gespitzt  aussehend  und  wird  beim  Fliegen  sichtlich  auseinander- 
gespreizt. Sie  klettern  sehr  gewandt  im  Rohr  und  Gezweige  um- 
her, fast  papageienartig ;  auf  der  Erde  laufen  sie  schrittweise  ein- 
her. Wir  erwähnen  als  Repräsentanten  nur  eine  Art,  da  die 
übrigen  schwache  Sänger  sind. 

14.  Der  Sumpf-Rohrsänger.  Calamoherpe  palustris.  Russ.: 
KauuuieBKa  Apo3AOBHAHaa,  ob  spec.  ? 

Karl  Müller  nennt  diesen  ausgezeichneten  Sänger  mit  allem 
Rechte  einen  «kleinen  Tausendkünstler >,  denn  was  Reichhaltigkeit 
des  Vorgetragenen  anbetrifft,  so  überragt  er  nicht  nur  die  Garten- 
grasmücke und  das  Blaukehlchen,  sondern  auch  den  Garten-Laub- 
vogel, dem  er  hinsichtlich  des  Singens  am  meisten  ähnelt,  doch 
gelingt  es  ihm  niemals,  dessen  charakteristische  Strophe:  <Fehehüjc~ 
fifehüje*  auch  nur  annähernd  wiederzugeben.  Auf  der  weiten  Her- 
reise, die  in  den  späteren  Mai  fällt,  ist  er  ausschliesslich  Nacht- 
sänger, der,  erst  des  Abends  gegen  zehn  Uhr  beginnend,  bis  einige 
Zeit  nach  Sonnenaufgang,  aber  in  dieser  nächtlichen  Zeit  auch 
ganz  unermüdlich  zu  singen  pflegt.  Das  strömt  in  einem  Tempo, 
mit  solcher  Leidenschaftlichkeit  dahin,  wird  mit  so  vielen  ccarneval- 


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Unsere  bemerkenswerthesten  Singvögel. 


artigen»  Nachahmungen  fremder  Typen,  als:  des  Rauchschwalben- 
gezwitschers, des  Trillerns  der  Baumpieper,  des  Schnalzens  der 
Staare ,  des  Wachtelschlages ,  der  Weisen  der  Grasmücken, 
Drosseln  &c,  untermischt  mit  Originaleinfällen  vom  allersonderbar- 
sten  Gepräge  und  fremdartigem,  wunderbarem  Reize,  sicher  vor- 
getragen, dass  man  unwillkürlich  in  ihm  den  Südländer  erkennt 
und  ihm  auch  gern  verzeiht,  wenn  er  vor  allen  Zug-Singvögeln  in 
unseren  Breiten  rauhes  Frühjahrswetter  zu  übergehen  abzuwarten 
bemüht  war  und  daher  als  letzter  und  möglichst  spät  zur  Villeg- 
giatur  anlangte.  —  Sein  kräftig  lautes,  widerstandslos  fliessendes 
Allegro  mit  dem  gerühmten  c bestrickenden  und  fesselnden  Zauber 
des  Liedes»  ertönt  aber  bei  Standvögeln  nicht  nur  des  Nachts, 
sondern  auch  am  Tage,  nicht  nur  in  der  wasserreichen  Wildnis, 
sondern  auch  in  feuchtgründigen  Gärten  und  nicht  zu  wasserarmen 
Parkanlagen,  welche  viel  Gebüsch  aufzuweisen  haben.  Von  den 
Rohrsängerarten  ist  er  der  einzige,  welcher  die  beliebten  Fluss- 
gelände und  eigentlichen  Sumpfgestrüppe  zuweilen  gern  verlässt, 
um  dem  Menschen  in  dessen  Baumanlagen  näher  zu  rücken,  denn 
in  die  Wälder  geht  er  doch  nimmer  hin.  Zu  sehen  bekommt  man 
ihn  aber  dadurch  nicht,  denn  er  liebt  das  Versteckspiel  ganz  ausser- 
ordentlich und  hockt  stets  im  dichtesten  Astgewirre  der  dichtesten 
Buschwerke.  Dieser  Trieb  zum  Näherrücken  an  den  Menschen 
geht  aber  durchaus  nicht  so  weit,  dass  er  sich  auch  gern  einfangen 
und  einkerkern  Heese.  Im  Gegentheil,  er  verträgt  auch  die  «süsseste, 
satteste»  Gefangenschaft  so  wenig,  wie  kaum  ein  anderer  zart- 
lebiger,  insecten fressender  Vogel.  Es  wäre  recht  vernünftig,  die 
vielen  Versuche  zum  Eingewöhnen  in  Deutschland  ein  für  alle  Mal 
gänzlich  aufgeben  zu  wollen  und  den  Sumpfsänger  zwar  nicht  für 
< vogelfrei»,  aber  im  Hinblick  auf  Vogelschutz  für  «ewig  frei»  zu 
erklären.  Er  will  uns  nicht,  er  bleibe,  wo  er  ist  I  —  Dieser  nur 
13>/i  Cent,  lange  und  in  der  Flugbreite  gegen  19  Cent,  haltende 
Vogel  ist  am  Oberleibe  grünlichgrau,  auf  den  Flügeln  und  dem 
8chwanze  dunkler  graubraun,  am  Unterleibe  weissgelblich  gefärbt 
und  hat  über  dem  Auge  einen  gelbweissen  Streifen,  während  die 
Mundwinkel  orangegelb  sind.  —  Das  dem  Boden  und  dem  Wasser 
gern  nahe  und  ziemlich  künstlich  erbaute,  niemals  über  dem  Wasser- 
spiegel hinragende  Nest  ist  seitlich  den  stützenden  und  tragenden 
Aesten  eingewebt,  so  dass  der  Grund  desselben  frei  schwebt  und 
nirgend  aufliegt,  wie  solches  bei  allen  anderen  Rohrsängern  auch 
üblich  ist.  In  demselben  findet  man  Mitte  Juni  fünf  leicht  variirende 


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Unsere  bemerkens werthesten  Singvögel. 


319 


Eier,  die  auf  klar  grünlichweissem  Grunde,  schön  aschgrau  gefleckt 
und  braunschwarz  gestriegelt  sind.  Ueber  die  Jungen  wüsste  ich 
aus  eigener  Erfahrung  so  gut  wie  nichts  zu  berichten  und  schweige 
daher  lieber. 

Aus  der  Familie  der  Pieper 
heben  wir  auch  nur  eine  Art  als  gesanglich  bemerkenswerth  hervor. 
Die  Pieper  bilden  den  Uebergang  von  den  Stelzen  zu  den  Lerchen ; 
wie  letztere  schlafen  sie  des  Nachts  auf  dem  Boden,  nisten  auf 
demselben,  ähneln  ihnen  in  der  Färbung  und  der  Fussform.  Der 
Schwanz  ist  ein  wenig  ausgeschnitten  und  wird  stelzenartig,  aber 
langsam  gewippt. 

15.    Der  Baumpieper.  Anthus  arboreus.  Russisch  :  meBpHua. 

Dieser  unsere  Wälder  und  Gehege  angenehm  belebende  Vogel 
ist  ein  echter  Tagsänger,  der  erst  kurz  vor  Sonnenaufgang  seine 
Stimme  erhebt,  um  gewöhnlich  bereits  vor  Sonnenuntergang  zu  ver- 
stummen. Er  ist  der  einzige  Pieper,  welcher  nicht  nur  einen 
grossen  Theil  des  Tages  auf  den  Bäumen  verlebt,  sondern  auch 
seinen  Gesang  auf  denselben  executirt.  Ist  der  Vogel  bei  schöner 
Witterung  in  animirter  Stimmung,  so  erhebt  er  sich  singend,  schräg 
aufwärts  flatternd  bei  anschwellender  Melodie,  erhält  sich  schwingend 
emige  Secunden  gleich  hoch  oben,  immer  laut  jubelnd,  um  sich 
dann  in  sanftem  Bogenfluge,  ohne  Flügelschlag  mit  hohlrund  ge- 
halteneu Schwingen,  langsam  auf  einen  niedrigeren  als  den  Ausgangs- 
fast  herab  zu  lassen,  wobei  er  seine  Schlussstrophe  :  eiei,  jne^a-jne^a 
in  abnehmendem  Tempo,  gemessen  und  jeden  Ton  für  sich,  ausdrucks- 
voll zu  c geigen»  pflegt;  ich  gebrauche  das  Wort  t geigen >  sehr  ab- 
sichtlich, denn  kein  anderer  Vogel gesang  dürfte  sowol  in  seinen  Trillern 
als  auch  in  den  gezogenen  Lauten  so  sehr  an  das  schmiegsame 
Singen  der  Geige  erinnern,  als  eben  der  unseres  lichtfreundlichen 
Baumpiepers.  So  gern  ich  diesem  eigentümlichen  Gesänge  zu 
lauschen  liebe,  so  ungern  vernahm  ich  bisher  stets  bei  der  Morgen- 
suche nach  einem  unbestätigten,  etwa  noch  balzenden  Auerhahn 
die  den  grossen  Tag  ankündende  Baumpieperstimme.  Sobald  diese 
erschallt,  hat  das  dunkelfrühe  Liebesgeklapper  des  grossen  Hahnes 
mit  nur  sehr  seltenen  Ausnahmen  bereits  sein  Ende  gefunden. 
Höre  ich  alter  Practicus  daher  den  Baumpieper  sein  na,  zia,  Ha 
schwirren,  so  werfe  ich  unwillkürlich  das  Gewehr  über  die  Schulter 
und  wende  den  jagdlichen  Schleichgang  zum  Trott  nach  Hause. 

Das  einfache  Nest  wird  zwischen  Grasbüschel,  in  zufälligen 
Vertiefungen  des  Waldbodens,  in  grasverwachsenera  alten  Graben- 


320  Unsere  bemerkenswerthesten  Singvögel. 

auswarf,  zwischen  die  Stengel  des  Haidekrauts  &c.  gebaut  und  in 
der  ersten  Hälfte  des  Mai,  zuweilen  sogar  von  Ende  April  ab 
(nicht,  wie  Russow  falschlich  <im  Juni»  angiebt,  vermuthlich  ein 
Versehen  ;  1881  z.  B.  fand  ich  am  14.  Mai  ein  bereits  fest  brütendes 
Weibchen)  mit  fünf  in  der  Färbung  sehr  stark  variirenden  Eiern 
besetzt.  Sie  sehen  chocolade-lilla,  grau-violett,  bräunlich  &c.  aus, 
bleiben  sich  aber  in  der  gesprenkelten  «grützigen»  Zeichnung  und 
Fleckenverlheilung  stets  einander  ähnlich,  fast  gleich.  Mitunter 
schleicht  sich  unter  diese  Eier  auch  ein  unerbetenes  Kuckucksei 
hinein,  das  dem  ganzen  Gelege,  wie  bekannt,  verhängnisvoll,  ver- 
nichtend wird. 

Die  Familie  der  Lerchen 
ist  äusserlich  durch  einen  sehr  langen,  gestreckten  Nagel  an  der 
Hinterzehe,  durch  grosse,  breitfedrige  Flügel  einen  walzenförmigen, 
schmalen  Schnabel  und  eine  einfache,  erdig-graue  Färbung  des  Ge- 
fieders, die  als  «lerchengrau»  zu  einem  bestimmten  Begriff  erhoben 
worden  ist,  wesentlich  charakterisirt.  Die  Glieder  dieses  sanges- 
begabten Geschlechtes  steigen  beim  Singen  flatternd  hoch  in  die  Lüfte. 
Unserer  Betrachtung  würdig  erscheinen  die  zwei  folgenden  Arten : 

16.  Die  Feldlerche.  Alauda  arvensis.  Lettisch:  jif)ruU*; 
estnisch:  löoJcene,  in  der  Poesie  auch:  Jciuro  (finnisch:  kirtoinen) ; 
russisch :  nojeßofl  saßoponoK-B. 

Wollte  man  einen  stattlichen  Bücherschrank  hergeben,  um 
alles  das,  was  zum  Lobe  des  Lerchengesanges  bis  dato  gedruckt 
wurde,  hineinzustellen,  so,  fürchte  ich,  würde  ein  Schrank  nimmer 
dazu  reichen !  Das  kennzeichnet  die  bedeutsame  Stellung  dieser 
fleissigsten  Sängerin  zum  deutschen  Volk,  zur  ganzen  Menschheit ; 
sie  ist  eine  unerschütterliche  ;  sie  wird  den  lieblichen  Freundschafts- 
bund erhalten,  so  lange  es  noch  warm  fühlende  Menschen  und 
singende  Lerchen  auf  Gottes  weitem  Erdenrund  geben  wird.  Wie  ' 
man  als  tägliche  Nahrung  das  liebe  Brod  nimmer  überdrüssig 
werden  kann,  so  ergeht  es  dem  echten,  rechten  Liebhaber  mit  dem 
Lerchengesang,  der  über  die  Saaten  dahin  klingt.  Zu  viel  «Nachti- 
gall» könnte  ermüden,  immer  nur  «Amsel»  müsste  abspannen,  der 
stetige  Finkenschlag  würde  gleichgiltig  machen  &c,  falls  eben  zu 
einseitig  nur  eine  Species  längere  Zeit  hindurch  allein  vernommen 
werden  sollte,  aber  beim  stundenlangen,  ausschliesslichen  Anhören 
des  Gesanges  sowol  der  Feld-  als  auch  der  Haidelerche  tritt  diese 
Uebersättigung  nicht  ein.  Das  auch  ohne  Pausen  Erträgliche, 
alleweil  Angenehme  dieses  frischen  Jubelgesauges  wird  durch  die 


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Unsere  bemerkenswerthesten  Singvögel.  321 

unerreichte  Fülle,  die  unendliche  Reinheit,  einschmeichelnde  Weich- 
heit und  doch  auch  zugleich  schlichte  Effectlosigkeit  der  reizvollsten 
Tonharmonie  bedingt.  —  Dank  haben  wir  dem  Schöpfer  für  dieses 
erquickende  Gnadengeschenk  bei  jedesmaligem  Hören  von  Herzens- 
grund zu  sagen !  Die  Lerche  ist  eine  köstliche  Gabe  der  Natur, 
ein  c grauer»  Stern  ersten  Ranges  am  blauen  Frühlingshimmel !  Und 
wenn  der  Lenz  nichts  wie  singende  Lerchen  brächte,  er  wäre  doch 
die  schönste  Jahreszeit,  die  Zeit  der  Minne,  der  Wonne,  die  Vor- 
ahnung eines  ewigen  Frühlings !  —  Niemand  schilderte  in  neuester 
Zeit  so  wahr,  so  innig  und  sinnig  die  Poesie  des  Lerchengesanges 
in  prosaischer  Form  als  H.  Schacht,  indem  er  in  einem  Fachblatte 
schreibt:  cUnd  wenn  man  ihr  zusieht,  wie  sie  sich  erhebt  aus  dem 
saftigen  Saatengrün  und  nun  trillernd  und  wirbelnd  hinaufsteigt  zu 
dem  blauen  Himmelszelte,  immer  höher  und  höher,  und  mit  dem 
Steigen  die  Töne  sich  verstärken  und  anschwellen,  wahrlich,  da 
durchfliesst  Entzücken  unsere  Seele,  und  wir  müssen  aufjubeln  und 
mitjauchzen  ob  der  Frühlingspracht  der  wunderschönen  Gotteserde.  > 

Deutschlands  Ackervolk  lässt  die  Lerche  singen : 
Überland-Hochdeutsch : 

Mi  Vatter  ist  im  Himmel  im  Himmel 
Im  Himmel  ist  nüt  als  Frieden  und  Frcud\ 
Wie  ist's  so  wit—wil—toit! 
oder  im  Aufsteigen: 

Mein  Vater  ist  im  Hümmel, 
Da  wollt1  ich  auch  gern  sein, 
im  Herabsinken  : 

Doch  isfs  so  weit,  weit  —  weit ! 
Niederdeutsch  :       Ach,  wo  is  dat  schön ! 

Schön  is  dat ! 
Ach,  wo  is  dat  schön! 
Hppippip,  körnken  rip, 
Kritt  de  arme  Lü  oh  wat! 
Ik  ok  wat  —  ik  ok  wat! 

oder : 

Driew,  Peterken,  driew,  driew,  driew,  driew, 
Höst  en  gode  Werth,  dann  bliew,  bliew,  bliew,  bliew, 
Höst  en  schlechte  Werth,  so  driew  wiet  weg,  wiet  weg,  wiet  weg,  wiet  weg 

—  wiet  weg! 

Als  vor  etwa  44  oder  45  Jahren  im  März  der  livländische 
Landtag  zu  Riga  tagte,  sich  die  damals  noch  beneidenswerth 


322 


Unsere  bemerkenswertesten  Singvögel. 


gemttthlichen  internen  Verhandlungen  der  Landesangelegenheiten 
ein  wenig  in  die  Länge  gezogen  hatten,  auch  die  Sehnsucht  nach 
den  heimatlichen  Fluren,  nach  Weib  und  Kind  bei  den  berathenden 
Vätern  ziemlich  herangewachsen  gewesen  sei,  hat  man  eines  schönen 
Tages,  als  die  liebe  Märzsonne  gar  hell  zu  den  Fenstern  herein- 
geschienen, die  jubelnden  Weisen  einer  aufsteigenden  Lerche,  und 
zwar  einer  Meistersängerin,  mitten  im  Saale,  von  einer  rechts 
stehenden  Bank  aus  erklingen  hören.  Lautlos  hätte  die  Ritter- 
schaft gelauscht,  wildes  Heimweh  die  Männer  erfasst.  Der  Früh- 
ling ist  da  —  nach  Hause,  auf  nach  Hause  !  dachte  da  flugs  jeder 
brave  Landwirth,  jeder  Schnepfenjäger,  jeder  liebende  Ehemann 
und  zärtliche  Vater.  Consequente  Verweisungen  an  den  Convent, 
an  Commissionen,  Vertagungen  sollen  esturmisch>  erfolgt  sein. 
Siehe  I  am  anderen  Tage  sei  der  Landtag  eilends  geschlossen 
worden,  wie  eine  dunkle,  un verbriefte  Sage  später  in  der  Kinder- 
stube den  Kleinen  dieses  als  Lerchenwunder  ins  Ohr  raunte.  — 
O  Lerche  1  Das  hast  du  mit  deinem  Singen  gethan  —  oder  viel- 
mehr dein  rivalisirender  Verehrer,  der  talentvolle  Graf  I 

Die  Lerche  ist  Tag-  und  Nachtsäugerin.  Genau  genommen 
singt  sie  in  der  besten  Wonnezeit  täglich  tihre»  24  Stunden  hin- 
durch; wann  sie  Nahrung  zu  sich  nimmt,  wann  sie  dem  Schlafe 
obliegt,  mag  Gott  wissen. 

Während  sonstige  Sangesvögel  in  südlicheren  Gegeuden  besser 
als  in  den  rauheren  des  Nordens  zu  singen  belieben,  machen  die 
Lerchen  eine  dankenswerthe,  unendlich  liebenswürdige  Ausnahme. 
Es  wurde  allgemein  anerkannt,  dass  in  nördlichen,  also  auch  unseren 
Gegenden,  wie  im  Hochgebirge,  der  Lerchengesang  lauter,  entr 
zückend  klarer  und  voller,  fast  den  unübertrefflichen  Lauten  der 
Haidelerche  sich  nähernd,  als  im  Süden  und  in  der  Tiefebene  ertönen 
solle.  —  Am  begeistertsten  und  fröhlichsten  erschallt  bei  uns  der 
Gesang  im  April  des  Morgens  und  gegen  Ende  Mai  in  der  Blüthen- 
nacht.  Kein  zweiter  Vogel  leistet  so  Ausserordentliches  an  c Ge- 
sangesquantum», bei  gleichzeitiger  Güte,  wie  die  Lerche.  Sie  singt 
in  der  Regel  über  vier,  in  selten  warmen  Frühjahren,  wie  z.  B. 
1882,  sogar  nahezu  fünf  Monate  hindurch  und  täglich  während  so 
vieler  Stunden,  wie  kaum  ein  Rivale  auch  nur  annähernd.  Der 
früheste  Termin  ihres  Eintreffens  aus  dem  Südwesten  für  Mittel- 
livland  ist  bisher  der  14.  Februar  1882  gewesen ;  so  schneearra 
der  heurige  Februar  verlief,  so  milde  das  Wetter  war,  so  konnte 
heuer  bei  Wenden  erst  der  22.  als  Ankunftstag  und  zwar  nur  für 
vereinzelte  Exemplare  notirt  werden. 


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Unsere  bemerkenswerthesten  Singvögel.  323 

17.  Die  Haidelerche.  Alauda  arborea.  Lettisch  nachRusssow: 
nrilltnfä,  fo^fo  jiljruli«  ist  falsch,  sondern  es  wird  fiüa  jitjrulie  gesagt ; 
estnisch  :  pere-pingas  oder  Jcaera  lind ;  russisch  :  jitcHOfl  acaBoponoK-L. 

Nach  Recht  und  Verdienst  wird  die  Haidelercbe  in  vielen 
Gegenden  Deutschlands  auch  Waldnachtigall  oder  die  cNachtigall 
der  Berge  >  genannt  und  dadurch  geehrt.  —  Ueber  Sachen  des 
Geschmackes  soll  man  nicht  disputiren ;  man  gelangt  aber  dennoch 
leicht  dazu,  wenn  jeder  sich  über  sein  Wohlgefallen  oder  Misfallen 
zu  äussern  bemüht,  wenn  man  angelegentlich  declarirt,  was  man 
am  höchsten  stellt  oder  was  man  am  geringsten  schätzt.  Da 
platzen  die  Geister  des  Geschmackes  von  selbst  auf  einander. 
Jeder  Vogelliebhaber  hat  naturgemäss  seine  besonderen  Günstlinge, 
seine  speciellen  Lieblinge  und  sicherlich  auch  eine  Sängerin  in  der 
gefiedel  ten  Welt,  welche  er  über  alle  erhebend  zu  seiner  Prima- 
donna erwählte.  Hier  schwärmt  N.  für  die  Nachtigall,  da  erhebt 
K.  die  Singdrossel  auf  den  Thron,  dort  behauptet  P.,  es  gäbe  nur 
ein  Genie :  die  Gartengrasmücke  &c.  Nun  —  meine  Primadonna, 
meine  Königin  des  Naturgesanges  ist  die  Haidelerche,  die  Ver- 
körperung waldesduftiger  Poesie,  graziöser  und  lauterster  Melodie, 
die  glückliche  Besitzerin  der  glockenreinsten  und  reizvollsten  aller 
Vogelstimmen !  Schon  der  kürzeste,  wie  zufällig  entschlüpfte  Laut, 
der  gewöhnliche  Lockton,  bei  jedesmaligem  Auffliegen  hörbar,  ist 
unendlich  schmiegsam,  abgerundet  melodiös  und  von  wunderbarem, 
silberhellem  Glockenton.  Es  ist  unbeschreiblich  anmuthig,  wenn 
die  Haidelerche  sich  lautlos  in  die  Höhe  schwingt,  dann  ihr  eigen- 
tümliches c  Lullen  beginnt  und  in  sanften  Fluglinien  mit  ausge- 
breitetem Schwänze  oft  hoch,  hoch  am  tiefblauen  Frühlingshimmel 
ihren  weit  hörbaren  Gesang  executirt,  mitunter  dabei  wie  ein  fester 
Punkt  still  hält,  um  nach  Schluss  lautlos  und  fast  senkrecht  ins 
Haidekraut  hinabzustürzen.  Die  grossartigste  Wirkung  erzielt 
aber  das  klangreiche,  weithin  flötende  und  doch  immer  mildsanfte 
Waldlied  in  stiller  Nacht  auf  stiller  Haide,  wenn  in  lauer  Maien- 
zeit tiefes  Dunkel  auf  Hügeln  und  Schluchten  ruht  und  nur  der 
nicht  mehr  erlöschende  Abendschein  der  nahenden  Morgenröthe  die 
Stirn  zum  Kusse  bietet.  Wem  erschauert  da  nicht  das  Herz  in 
heiliger  Naturentzückung  ?  Der  für  die  Singvögel  so  warm  fühlende 
H.  Schacht  sagt  in  sympathischer  Form  von  unserer  ausgezeichneten 
Mainachtsängerin  :  <Bei  Nacht  aber  singt  der  Vogel  im  Beginn  des 
Frühjahrs  noch  nicht,  dazu  bedarf  es  erst  warmer  Frühlingsnächte, 
welche  seine  Gesangslust  anfeuern  und  ihn  empor  zum  Aetherzelte 


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324  Unsere  bemerkenswerthesten  Singvögel. 

treiben.  Dann  erst  vernimmt  man  im  Gebirge  oft  die  ganze  Nacht 
hindurch  die  süssen,  lieblichen  Strophen,  die  bald  in  steigenden, 
bald  in  fallenden  Tonen,  meist  aber  im  gleichen  Rhythmus  dahin- 
fluthen.  In  mondhellen  Nächten  ist  der  Vogel  oft  so  in  sein  Lied 
vertieft,  dass  er  von  den  Gebirgshaiden  hinwegschwebt  über  die 
im  Schlummer  liegenden  Dörfer  und  hier  stundenlang  die  schönsten 
Serenaden  singt.  Ich  muss  gestehen,  dass  es  nicht  bald  ein  ent- 
zückenderes und  ergreifenderes  Bild  geben  kann,  wie  es  uns  eine 
solche  Frühlingsnacht  bietet.  Rings  umher  die  flehten  gekrönten 
Häupter  der  Berge,  unten  im  Thale  das  schlummernde,  kirchen- 
stille Dorf  und  darüber  im  Mondenglanze  —  die  singende  Haide- 
lerche. Nur  wer  es  selbst  erlebt  und  empfunden  hat,  kann  diesen 
Naturgenuss  verstehen  und  beurtheilen.» 

Es  ist  trostreich  sagen  zu  können,  dass  diese  Gesangsperle 
bei  uns  ziemlich  häufig  ist  und  überall  dort  gefunden  wird,  wo 
haidige  Waldblössen,  trockene  Viehtriften  mit  Wachholdergebüschen, 
Kiefernforstschläge  mit  Haidekraut  und  erst  fusshohen  Bäurachen 
vorhanden  sind.  Mit  Ausnahme  der  Zugzeit  schlafen  sie  nur  im 
Haidekraut,  nisten  nur  im  Haidekraut  und  verbringen  auch  den 
grössten  Theil  des  Tages  und  daher  ihres  Lebens  im  Haidekraut. 
—  Fast  gleichzeitig  mit  der  Feldlerche  beginnt  das  Singen,  meist 
aber  einige  Tage  später  (in  Meiershof  in  fünf  Jahren  höchstens 
24  Stunden  später),  um  erst  Anfang  Juli  beendet  zu  werden.  Die 
letzten  Wochen  erklingt  der  Gesang  nur  noch  um  Mitternacht. 
Der  kürzere  Schwanz,  geringere  Grösse  und  etwas  lichtere  Färbung 
unterscheiden  sie  auf  den  ersten  Blick  von  der  Feldlerche. 

In  der  Familie  der  S  t  a  a  r  e 
besitzen  wir  nur  eine  Species  und  führen  dieselbe,  als  mit  tüchtigen 
Gesangeskräften  begabt,  gern  vor. 

18.  Der  Staar.  Sturmis  vulgaris.  Lettisch  :  metoi«  ftra*b«  ; 
estnisch  :  Must  rästas ;  russisch :  cKBopem». 

Wenn  alljährlich  laue  Südwinde  den  märzlichen  Schnee  lecken, 
wenn  die  Lerchen  schon  seit  ein  bis  zwei  Tagen  singend  die  weiss- 
scheckigen  Feldflächen  zu  beleben  anfingen,  dann  guckt  Gross  und 
Klein  hinauf  zu  den  Spitzen  der  hohen  Linden  und  Birken  des 
Gehöftes,  ob  die  cschwarzen  Gesellen  >  nicht  da  oben  hocken,  dann 
horcht  Herr  und  Knecht  hin,  ob  die  Staare  nicht  pfeifen.  Und 
wenn  sie  da  sind,  wie  freut  sich  Alt  und  Jung ;  einer  erzählt  es 
dem  anderen ;  wie  ein  Lauffeuer  verbreitet  sich  die  frohe  Lenzes- 


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Unsere  bemerkenswerthesten  Singvögel.  325 

botschaft.  Immer  dichter  werden  auf  den  Sammelbäumen  die 
schwarzen  Gruppen ;  täglich  kommen  beim  Südwest  müde  Reisende 
noch  hinzu  ;  wie  wird  da  geschwätzt,  man  begrüsst  sich,  erzählt 
von  der  weiten  Reise,  «schneidet  die  Cour>  und  feiert  Verlöbnisse ; 
ein  Stutzer  sucht  den  anderen  in  künstlichen  Sangestouren,  im 
flotten  Schnalzen,  im  bekannten  Kutscherpfiff  zu  überbieten ;  keiner 
hört  schliesslich  beim  allgemeinen  Spectakel,  wie  die  Spatzen  Ge- 
fahr melden ;  da  schiesst  ein  Sperber  daher  —  alles  kreischt,  aber 
auch  ein  lustiges  Mätzchen  in  Todesnoth  den  letzten  Schrei ;  für 
kurze  Zeit  giebt  es  nun  ernste  Ruhe !  —  Sobald  die  Erde  durch 
warmen  Regen  erweichte,  bedeckt  sich  fortan  jeden  Morgen  der 
grosse  Rasenplatz  mit  gravitätisch  einherspazierenden,  mit  dem 
klugen  Köpfchen  wackelnden,  dunkelschillernden  Sprehen,  die  gar 
emsig  mit  den  spitzen,  goldgelben  Schnäbeln  in  den  Rasen  hinein- 
bohren,  denselben  «auszirkeln»  und  zur  Freude  des  Gutsherrn  von 
vielem  —  vielem  schädlichen  Gewürm  befreien.  Wer,  der  jemals 
ein  zahmes  Mätzchen  sein  eigen  nannte,  kennt  nicht  die  sehr  eigen- 
thümliche,  durchaus  angeborene  Eigenschaft  der  Staare,  mit  dem 
Schnabel  in  jede  Ritze,  in  jede  noch  so  kleine  Oeffnung,  in  die 
Ohren,  Nasenlöcher,  in  die  Kopfhaare  &c.  tief  hineinzubohren,  um 
dann  denselben  mit  Energie  plötzlich  weit  aufzuspreizen.  Man 
nennt  diese  Art  nach  Nahrung  zu  suchen  das  «Ausmessen»  oder 
«Auszirkeln».  Dieser  Trieb  wird  im  Zimmer  von  zahmen  Staaren 
oft  an  befreundeten  Katzen  und  Hunden  zu  deren  nicht  geringem 
Schreck  und  Verdruss  mit  grossem  Fleiss  geübt  und  mit  List  be- 
thätigt.  Ich  besass  einst  einen  von  frühester  Jugend  «selbst»  auf- 
erzogenen Staar,  der  hierin  eine  wahre  Manie  besass,  indem  er 
jedem  Menschen,  ob  jung  oder  alt,  ob  Frau  oder  Mann,  auf  den 
Kopf  fliegend  das  Haar  quadratzollweise  auszuzirkeln  pflegte. 
Für  kurze  Zeit  war  das  ein  anrasantes  und  nicht  ganz  unange- 
nehmes Spiel,  welches  aber  auf  die  Dauer  geradezu  lästig  werden 
konnte.  Die  komische  Lust  alles  auszumessen  ging  so  weit,  dass 
der  meist  frei  lebende  Vogel,  eingefangen  und  in  die  hohlen  Hände 
genommen,  auf  dem  kurzen  Transport  bis  zum  Käfig  Zeit  und  Ge- 
legenheit zu  finden  wusste,  um  alle  Fingerritzen  der  Reihe  nach 
gehörig  auszumessen,  denn  um  dieses  liebe  Geschäft  mit  allem 
Eifer  zu  besorgen,  konnte  ihm  auch  die  denkbar  unbequemste 
Stellung  nicht  hinderlich  sein. 

Wahrscheinlich  machen  die  Weibchen  jährlich  zwei  Brüten, 
aber  oft  mit  verschiedenen  Männchen.    Da  letztere  bei  der  Auf- 


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Unsere  bemerkenswerthesten  Singvögel. 


zuclit  der  stets  hungrigen  Jangen  sehr  fleissig  sind  und  dieselben 
entschieden  mehr  und  länger  zu  füttern  pflegen,  so  scheint  einigen 
trägeren  Individuen  ein  zweites  mühevolles  Familienleben  lästig 
und  reizlos  zu  sein.  Sie  entziehen  sich  den  Sorgen  durch  Verbleib 
bei  den  umherschwärmenden  ersten  Jungbruten  oder  flüchten  zur 
Mauser  in  die  geliebten  Rohr-  und  Schilffelder  der  vorläufigen 
Sammelplätze. 

Auffallend  ist  die  Thatsache,  dass  bei  den  hitzigen  Kämpfen 
mit  dem  frechen  und  zähen  Sperling  um  den  gewohnten  Nistplatz 
im  Staarkasten  oder  in  einer  Baumhöhle  der  grosse,  mit  *  goldigem 
Spiess»  so  gut  bewaffnete  Staar,  in  der  Regel  den  Kürzeren  ziehend, 
das  Weite  zu  suchen  gezwungen  wird. 

Eine  bemerkenswerthe  Erscheinung  ist  ferner  das  zuweilen 
beobachtete  Eintragen  von  ßlumenblüthen  und  grünen  Blättern  in 
das  längst  fertige  und  bereits  von  schreienden  Jungen  bewohnte 
Nest.  Es  dürfte  nicht  unwahrscheinlich  sein,  dass  die  kluge  Ab- 
sicht vorliegt,  den  heisslagernden  Jungen  damit  eine  gewisse  sanitäre 
Kühlung  zuzutragen,  in  dieser  leicht  zu  beschaffenden  Weise  die 
Höhlen luft  etwas  zu  verbessern. 

Ausser  der  gewöhnlichen  Würmer-  und  Larvennahrung  frisst 
unser  Staar  im  Freileben  auch  gelegentlich  kleine  Eidechsen  und 
Blindschleichen,  wie  auch,  aber  glücklicherweise  nur  sehr  ausnahms- 
weise in  der  grössten  Noth,  sogar  nackte  kleine  Nistvögel  aus  den 
Nestern  benachbarter,  friedfertiger  Singvögel.  Wenn  der  Teufel 
in  der  Noth  Fliegen  frass,  so  wollen  wir  dem  liebenswürdigen 
schwarzen  Gesellen  eine  einmalige  derartige  Sünde,  aus  zwingender 
Noth  begangen,  gnädig  verzeihen  und  nach  wie  vor  seine  sonst 
ungemein  nützliche  Existenz  nach  Möglichkeit  schützen,  erhalten, 
pflegen.  Den  Staar  hält  man  für  einen  < hitzigen  >  Vogel,  der  grosse 
Wärme  nicht  mag,  sich  möglichst  gegen  eine  solche  zu  schützen 
sucht.  Am  fröhlichsten  erscheint  er  allerdings  im  rauhen  März 
und  kühlen  April  zu  sein ;  sobald  Ende  Mai  die  Hitze  gewisse 
Höhe  erreichte,  wird  der  Vogel  still,  lichtscheu  und  verbirgt  sich 
im  tiefsten  Schatten.  Nach  der  Fortpflanzungs-  resp,.  Entwickelungs- 
zeit  schlafen  die  alten  und  jungen  Staare  gesellig  in  grossen 
Schwärmen,  wo  nur  irgend  möglich,  im  Rohr  und  Schilf  der  Seen, 
Flüsse  und  Teiche,  um  wenigstens  nach  des  Tages  Last  und  Hitze 
ein  kühles,  feuchtnebliges  Plätzchen  zur  Nachtruhe  gewinnen  zu 
können. 


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Unsere  bemerkenswertesten  Singvögel.  327 

Die  kleine  Familie  der  Fliegenschnäpper 
wird  durch  einen  kurzen,  breiten,  mit  einer  geringen  Hakenspitze 
versehenen  Schnabel,  kurze,  schwächliche  Füsse,  lange  Flügel  und 
ein  weiches,  strahliges  Gefieder  gekennzeichnet. 

19.    Der  schwarzrückige  Fliegenschnäpper.  Muscicapa  atrica- 
pilla.    Estnisch  :  mets  tikk  ;  russisch  :  qepuaa  MyxoaoBica. 

Während  die  meisten  der  zeitig  anlangenden  Zugvögel  ein- 
zelne  kühne  Sendboten  in  den  Nordosten  vorauszuschicken  pflegen, 
welche  etwa  die  Witterung,  Nahrungsverhältnisse  &c.  zu  erkunden 
scheinen  und  uns  auf  das  Eintreffen  der  erwarteten  Stammesgenossen 
vorbereiten,  überraschen  uns  die  schmucken  schwarzscheckigen 
Fliegenschnäpper  eines  Morgens  mit  ihrer  zahlreichen  Anwesenheit, 
indem  die  Männchen  in  nicht  grossen  und  nicht  compacten  Schaaren 
allenthalben,  an  Waldesrändern,  im  Gebüsch,  in  Gärten  oder  auf 
Zäunen  ihr  kurzes,  heiteres  und  scharfhelles  Liedchen  erklingen 
lassen  und  mit  fast  schwalbenartiger  Gewandtheit  Fluginsecten 
erhaschen.  Erst  sechs  bis  acht,  auch  zehn  Tage  später  erscheinen 
gleichfalls  in  grösserer  Anzahl  plötzlich  die  weniger  auffallend  ge- 
zeichneten Weibchen.  —  Mir  ist  nicht  erinnerlich,  ob  sich  Darwin 
irgendwo  über  die  Fliegenschnäpper  der  Vergangenheit  und  ihre 
Stellung  zu  den  Grasmücken  und  8chwalben  geäussert  hat.  Sie 
scheinen  mir  aber  das  Typische  beider  sonst  weit  auseinander- 
stehenden Familien  so  sehr  zu  vereinigen,  dass  man  unwillkürlich 
auf  den  Gedanken  zu  kommen  verführt  werden  könnte,  sie  seien 
die  Stammform  für  Grasmücke  und  Schwalbe  vor  deren  Trennung 
gewesen.  Letztere  entnahmeu  vielleicht  bei  ihrer  Selbständig- 
werdung  von  den  Fliegenschnäppern  den  kurzen  Schnabel,  den 
weiten  Rachen,  die  grossen  Flügel,  die  kleinen,  zum  Gehen  fast 
unbrauchbaren  Füsschen,  als  einziges  Nahrungsmittel  fliegende 
Insecten  und  die  Haschgewandtheit  zur  Erlangung  derselben, 
während  sich  erstere  das  lockere,  etwas  strahlige  Gefieder,  die 
grossen  Augen;  die  Art  des  Singens,  Sitzens  auf  Gezweige,  Nistens, 
die  Haltung  des  Körpers  und  dessen  ganzen  Habitus  aneigneten. 
Der  Refrain  eines  heiteren  Liedes  lautet  naheliegend : 

cKaun  sein,  kann  auch  nicht  sein  1 

Man  weiss  nicht  gewiss.» 
Merkwürdig  ist  bei  dieser  Art  die  grosse  Verschiedenheit  in  der 
Färbung  beider  Geschlechter.    Während  das  Männchen  oben  bis 
auf  ein  weisses  FlügelschHd  und  weissen  Schwanzrand  schwarz, 
au  Stirn  und  Unterleib  aber  rein  weiss  ist,  trägt  das  Weibchen 

BalUacba  MonaUaehrifk  Bd.  XXXIV,  Haft  4,  22 


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32« 


Unsere  beraerkenswerthesten  Singvogel. 


ein  oberseits  graues,  unten  schmutzig  fahles  Kleid,  welches  artlich 
gut  nur  durch  einen  weissen  Flügelstrich  gekennzeichnet  wird.  Die 
Länge  beträgt  nur  wenig  über  13  Centimeter,  aber  die  Flugbreite 
fast  23  Centim.,  was  auf  seine  grosse  Flugtüchtigkeit  deutlich 
hinweist. 

Die  Familie  der  Schwalben 
dürfte  ihrem  Wesen  und  Aeusseren  nach  so  allgemein  bekannt  sein, 
dass  die  Angabe  einiger  Kennzeichen  überflüssig  erscheint.  Der  Name : 
cSegler  der  Lüfte»  schliesst  alles  Charakterisirende  in  sich  ein. 

20.  Die  Rauchschwalbe.  Hirundo  rustica.  Lettisch :  besbcliga  ; 
estnisch  :  päsokene  ;  russisch  :  KocaTKa  oder  jacroisa  KpaceosoÖKa. 

Die  Dorfschwalbe  ist  unstreitig  der  im  besten  Sinne  des 
Wortes  populärste  Vogel  in  allen  Gauen  deutscher  Zunge.  8ie 
ist  das  Sinnbild  gemüthlicher  Häuslichkeit,  zufriedenen  Familien- 
glückes, trauter  Heimatlichkeit,  unwandelbarer  Treue.  Wenn  sie 
uns  im  Herbst  verlässt,  fühlen  wir  eine  trübselige  Vereinsamung, 
das  Entweichen  der  besten  Tage.  Eine  nicht  zu  bewältigende 
Wehmuth  erfüllt  dann  den  Vogelfreund,  der  da  poesievoll  schrieb  : 
cFort  sind  nun  die  geliebten  Gäste,  die  treuen  Mitbewohner  meines 
Hauses.  Während  sie  unter  einem  ewig  blauen  Himmel  die  grünen 
Kronen  der  schlanken  Palmen  umsegeln,  steht  das  Land  ihrer 
Wiege,  stehen  ihre  Nester  verödet  und  vereinsamt  da.  Aber  leise 
schon  im  Geiste  knüpfen  wir  an  ihr  Wiedererscheinen  die  Hoffnuug 
einer  neuen  Zeit,  die  Hoifnung  des  Lenzes.» 

Wie  lieblich  erklingt  nach  langem  Winter  das  Zwitschern 
und  schwätzende  Singen  der  auf  hohem  Sitze  thronenden  Rauch- 
schwalbe ;  es  ist  ein  melodisches  Recitativ  mit  eigentümlichem 
Schlusstriller  oder  vielmehr  Schnarren.  Deutschlands  Volksmund 
legte  dem  Gesang  Worte  unter: 

cAls  ich  fortzog,  waren  alle  Kisten  und  Kasten  schwer: 

Da  ich  wiederkam,  da  ich  wiederkam,  war  alles  wüst  und  leerrrr.» 

Oder : 

<Als  ich  auszog,  auszog,  hatt1  ich  Kisten  und  Kasten  voll; 
Als  ich  wiederkam,  wiederkam,  hatte  der  Sperling, 
Der  Dickkopf,  der  Dickkopf,  alles  verzehrt.» 
Niederdeatsch  : 

<As  ick  weg  genk,  as  ich  weg  genk, 

Was  Hus  und  Schüür  vtdl ; 

As  ick  wier  kam,  as  ick  wicr  kam, 

Was  alles  verröUclt,  vertöttelt,  verpf umfeit  > 


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Unsere  bemerken« wertbesten  Singvögel.  329 

Oder: 

*Als  ick  hier  vörrig  Johr  wass, 
Durin  tcüss  hier  Löf  und  Gras; 
Bit  Johr  is  hier  nix  —  nix  —  nix.» 
Im  Elsass  (Schwatzende  Weiber  am  Braunen  glossirend) : 

Die  ratsche  und  dätsche, 
und  wenn  sie 

isch  innen  he  Funkele  Fier.» 

Recht  schnöde  klingt  der  nachstehende  Angriff  auf  die  Weiber  ■ 
*Dat  Fruensvolk,  dat  wackre  Volk  ;  To  Felle,  to  Felle ! 
Wenn  Du  se  seist,  Wie  ick  sein,  Des  Morgens,  wenn  se  in  de  Koken  gaht, 
Seist  se  ut  as  de  Düvel,  as  de  Düvel,  as  de  Düvel  in  die  Helle!» 

Schon  im  13.  Jahrh.  waren  derartige  Verslein  im  Schwange : 
<Nu  merket  baz  der  smaleven  ort, 
Die  sie  zu  stunden  wiset, 
Sie  vliuget  hin  und  schliuzet  her  wieder: 
Du  diep,  du  diq>.  sie  schriet.» 

Leider  standen  speciell  die  Rauchschwalben  bei  den  Bienen- 
züchtern herzlich  schlecht  angeschrieben.  Sie  litten  unschuldig 
unter  schwerwiegendem  Verdachte.  Erst  1883  hat  ein  hervor- 
ragender Imker,  Herr  A.  Lipp  in  Königsstädteu,  die  sichere  Beob- 
achtung gemacht  und  veröffentlicht,  dass  die  Schwalben  nur  Drohnen, 
also  stachellose  Bienen,  fangen,  die  ja  keinen  Honig  eintragen 
und  deren  Decimirung  daher  niemandem  Schaden  bringt.  Professor 
Dr.  Glaser  schreibt  hierüber:  tAuch  die  um  Bienenstöcke  jagenden 
oder  vor  ihnen  erscheinenden  sonstigen  Insectenfanger  haben  es 
nicht  etwa  lediglich  auf  Drohnen  abgesehen,  sondern  fangen  auch 
andere  von  dem  Honigduft  angelockte  Insecten,  wie  allerlei  Fliegen 
und  Motten,  besondere  aber  die  in  Bienenstöcke  eindringenden 
schädlichen  Schmarotzerinsecten,  als  die  Wachsmotten  Galeria  melo- 
nella,  Achroea  alvearia  und  Aphonia  colonella,  ferner  Immenwölfe 
Clerus  apiarius  und  alvearius,  Ameisen  und  Ohrgrübel  Forficula 
auricularia.  Alle  diese  von  dem  Honig  der  Bienen  angelockten 
und  ihnen  selbst  theilweise  verderblichen  Insecten  sind  das  Ziel 
und  Object  der  sich  da  einfindenden  insecten  fressenden  Vögel  und 
während  der  Nachtzeit  dasjenige  der  Fledermäuse;  die  stachel- 
führenden Honigbienen  sind  dabei  von  ihnen  durchaus  nicht  ge- 
fährdet.» —  Ausser  den  bisherigen  Feinden  der  Rauchschwalben, 
den  Katzen,  Eulen,  Hausmardern,  Elstern,  dem  Lerchen-  und 
Merlinfalken  und  den  widerlichen  Lausfliegen  (Hippobosca  hirundinis) 


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1  330  Unsere  bemerkenswerthesten  Singvögel. 

ist  noch  in  der  Neuzeit  ein  eiserner,  der  Telegraphendraht,  direct 
und  indirect,  also  in  zwiefacher  Weise  hinzugekommen.  —  Zur 
Zugzeit  in  der  Nacht  erschlagen  sich  alljährlich  in  Europa  un- 
zählige Rauchschwalben  durch  tödtlichen  Anprall,  wie  auch  ein- 
zelne bei  der  jähen  todesbangen  Flucht  vor  den  Falken.  —  Die 
Schwalben  sitzen  bekanntlich  gern  gesellig  auf  den  Telegraphen- 
drähten, oft  zu  Hunderten  beisammen.  Nach  Prof.'K.  Th.  Liebe 
werden  sie  dann  zuweilen  massenhaft  durch  den  Blitz  getödtet, 
indem  derselbe,  sich  theilend,  bis  zu  zwei  und  drei  Werst  den 
Draht  entlang  zu  gleiten  pflegt.  Dabei  werden  auch  viele  andere 
Singvögel  und  Mandelkrähen  plötzlich  dem  Tode  geweiht.  —  Die 
Rauchschwalbe  trifft  meist  zwei  bis  drei  Tage  vor  der  Fenster- 
schwalbe, gewöhnlich  zwischen  dem  17.— 22.  April  bei  uns  ein. 
Ihr  Nest  wird  immer  unter  Dach  in  offener  Schalenform  gebaut 
und  enthält  im  Mai  fünf  bis  sechs  weisse,  braun  und  grau  gefleckte 
schmale  Eier,  während  die  Fensterschwalbe  rein  weisse  Eier  hat. 

B.  Samenfresser. 

Der  Name  giebt  die  hauptsächlichste  Ernährungsart  dieser 
mit  einem  muskulösen  Magen  und  kurzem,  starkem  und  hartem 
Schnabel  ausgestatteten  Ordnung  an.  Sie  sind  ungleich  geselliger 
als  die  Insectenfresser;  namentlich  zur  Zugzeit  und  in  den  Winter- 
quartieren findet  man  oft  Schwärme  von  tausend  und  mehr  zu- 
sammen; auch  sonst  leben  sie  meist  in  Familien  und  kleinen  Ge- 
sellschaften gern  vereint,  nur  ausnahmsweise  so  isolirt  wie  die 
kleineren  Vögel  der  vorigen  Ordnung.  Der  Gesang  ist  nicht  so 
schmelzend,  so  flötend,  überhaupt  weniger  bedeutend,  aber  bei  eini- 
gen Arten  immerhin  noch  recht  gut  zu  nennen;  sie  zwitschern 
zu  viel. 

Aus  der  Familie  der  Ammern, 

die  durch  eine  sehr  eigenthümliche  Schnabelbildung  ausgezeichnet 
und  charakterisirt  erscheint,  heben  wir  nur  eine  wenig  bekannte, 
aber  durch  besseren  Gesang  ausgezeichnete  Art  hervor.  Ihre  aus 
mehligen  Sämereien  und  im  Frühling  resp.  Frühsommer  auch  aus 
Insecten  bestehende  Nahrung  suchen  sie  ausschliesslich  vom  Bo- 
den auf. 

21.  Die  Rohrammer.  Emberisa  schoeniclus.  Lettisch:  fwite* 
prat)flit)t«  ;  estnisch:  wezi  rfistas ;-  russisch :  öojiothuA  BopoÖefl  oder: 
oiepeTanKa.    Wird  bei  uns  gewöhnlich  Rohrsperling  genannt,  da 


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Unsere  bemerkenswerthesten  Singvögel.  331 

die  Zeichnung,  wenngleich  viel  lichter  und  lebhafter,  vom  Haus- 
sperling etwas  Aehnlichkeit  hat. 

In  Sumpfniederungen  träge  dahinfliessender  Gewässer,  an 
sumpfigen  Seeufern,  die  mit  Erlengebüsch,  Weidengestrüpp  und 
sonstigen  verkrüppelten  Baumformen  reichlich  besetzt  sind,  sieht 
man  spätestens  zu  Beginn  unseres  neuen  ökonomischen  Jahres  auf 
den  Spitzen  der  höchsten  Büsche,  falls  von  der  Vormittags-  oder 
Abendsonne  grell  beschienen,  eine  scheinbar  weissliche  Vogelgestalt 
frei  und  aufrecht  dasitzen  und  hört  von  solchen  meist  schwer  zu- 
gänglichen Oertlichkeiten  her  einen  originellen,  lebhaften,  etwas 
stammelnden,  jedenfalls  nichts  weniger  als  fliessenden  Gesang  mun- 
ter herüberschallen.  Das  ist  der  Rohrsperling,  ein  so  fleissiger 
Sänger,  dass  er  in  der  rechten  Wonnezeit  auch  in  der  Nacht  und 
sogar  zuweilen  um  Mittagszeit  seine  laute,  etwas  rauhhelle  Stimme 
ertönen  lässt,  wobei  er  oft  den  Stand  wechselt  und  dabei  höchst 
eigenartig,  schwankend  und  stets  aufsteigend  fliegt,  um  ziemlich 
jäh  zum  erkorenen  Sitzplatz  niederzufallen.  Diese  Art  des  frei- 
willigen Fliegens  (gescheucht  und  flüchtend  schiesst  er  niedrig  im 
Gestrüpp  dahin)  und  der  absonderliche  Gesang  verrathen  dem  Ken- 
ner seinen  Aufenthalt  sehr  bald.  Anfang  Mai  findet  man  in  dem 
sehr  versteckt  auf  dem  Boden  in  Rohrgras,  Gestrüpp  &c.  angelegten 
Nest  fünf  Eier,  die  wie  bei  allen  Aramerarten  mit  Federzügen, 
Brandflecken  &c.  geziert  sind. 

Die  Familie  der  Finken 
ist  unter  den  Samenfressern  in  gesanglicher  Beziehung  entschieden 
die  wichtigste,  die  zweifellos  hervorragendste.  Für  den  Liebhaber 
gefangener  Vögel  ergeben  die  buntfarbigen  Glieder  dieser  Familie 
das  dankbarste  und  beliebteste  Material.  Welcher  Balte  hätte 
nicht  mit  treuer  Sorgfalt  in  seiner  schönen  Knabenzeit  einen  Buch- 
link,  Stieglitz  oder  Zeisig  im  Käfig  gepflegt  uud  erhalten  I 

22.  Der  Buchfink.  Fringilla  coelebs.  Lettisch:  pintift,  auch: 
fdmbbitc;  estnisch:  wink]  russisch:  srfjHKi.  Bei  auffallend  früh 
eintretendem  Lenz  erschallt  bereits  in  der  ersten  Woche  des  März 
(z.  B.  1882),  in  der  Regel  aber  erst  in  der  letzten  Märzwoche 
frisch,  froh  und  frei  der  klare,  muntere  Finkenschlag  aus  der  hohen, 
alten  Linde  am  Herrenhause.  «Ich  halt'  den  Fink  gehört,  ich  ganz 
zuerst!»  verkündet  dann  jubelnd  ein  junger  Sprosse  der  «landschen» 
Familie,  die  hoffentlich  immer  ob  dieser  Botschaft  lebhafte  Freude 
äusserte.    Wie  lustig  gestaltet  sich  da  jeder  Gang  in  den  Garten, 


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Unsere  bemerkenswerthesten  Singvögel. 


in  den  Park,  durch  das  ganze  baumreiche  Gehöft;  denn  schon  hört 
man  überall  das  schmetternde,  kurze  Lied  des  herzigen  Pinken; 
Leben  kehrte  wieder  in  die  winterlich  öden,  einstweilen  noch  « kah- 
len >  Kronen  der  Bäume  ein! 

In  ganz  Deutschland  dürfte,  nächst  dem  Jubiiiren  der  Feld- 
lerche und  dem  Gezwitscher  der  Rauchschwalbe,  der  Finkenschlag 
der  volkstümlichste  Vogelgesang  sein,  den  jedes  Kind  kennt,  jeder- 
mann  lieb  hat  und  jeder  Greis  mit  Wehmuth  verehrt,  indem  er  an 
seine  längst  entwichenen  Jugendjahre  denkt,  wie  auch  er  einst 
frisch,  froh  und  frei  mit  Energie  und  Muth  ins  ungewisse  Dasein 
trat  und  gleich  dem  Fink  sorglos  und  glückselig  des  Lebens  Mai 
singend  und  kosend  genoss. 

Am  Niederrhein  hört  der  Bauer  den  Finken  sagen:  *Titsches, 
titsches,  hitsches  Maria!*  und  in  Westfalen 
Sük,  sük,  sük,  suk, 
Im  twe  un  twintigsten  jar, 
Stiky  suk,  sük,  siiky 
Da  kommen  die  prtisken  Soldaten.» 
Im  Hochdeutschen  soll  er  deutlich  verküuden:    «Der  Engel 
brachte  Maria  die  Botschaft.» 

Im  17.  Jahrhundert,  meinte  man,  lehrte  er,  wie  folgt: 
«Fein  fröhlich  reit  herzu! 
Früh  ist  gar  gut  studiren, 
Wann's  kühl,  still  ruhig  ist: 
Steh  auf  und  thu's  probiren, 
Du  fauler  Syntaxist.  > 
Der  Finkenschlag  ist  einer  weitgehenden  Mannigfaltigkeit 
unterworfen;  in  einigen  Gegenden  sollen  sich  ganz  eigenthümliche 
Schläge  ausgebildet  haben,  woher  denn  auch  die  vielen  Namen  für 
die  verschiedenen  Nüancen  des  Gesanges  und  der  betreffenden 
Schläger  entstanden.    Die  gerühmten  und  kostbaren  Doppelschläger 
sollen  fast  gänzlich  ausgestorben  sein.    In  Thüringen  z.  B.  bei 
Oberhof,  am  Inselsberge  und  einigen  umliegenden  Plätzen  soll  es 
noch  im  Freien  echte  Doppel schläger  geben.    Vererbung  allein 
scheint  eben  nicht  zu  genügen. 

Nach  A.  Bruhin  habe  Beethoven  im  Menuett  einer  Symphonie 
die  Saugesart  des  Buchfinken  zum  Muster  gehabt,  indem  er  «den 
Bass  zu  wiederholten  Malen  einen  Anlauf  nehmen  und  erst  nach 
einigen  vergeblichen  Versuchen  den  weiteren  Gedanken  finden» 
lässt,  wie  solches  beim  Frühlingsschlag  des  Finken  vorkommt  und 


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Unsere  bemerkenswerthesten  Singvögel. 


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zu  hören  ist.  Ich  raeine,  das  sei  recht  viel  Ehre  für  unseren 
Edelfinken. 

Der  Fink,  welcher  im  wärmeren  Deutschland  zum  Theil  auch 
Standvogel  ist,  wird  in  unseren  nördlichen  Landstrichen  echter  Zug- 
vogel. Bei  einer  Blutwärme  von  42  bis  44  ,j  0  C.  dürfte  ihn  we- 
niger die  Kälte  als  Nahrungsmangel  zum  Abzüge  aus  den  unwirth- 
lichen  Wintergefilden  der  baltischen  Lande  nöthigen.  Einzelne 
sehr  seltene  Ausnahmen,  vielleicht  nur  aus  den  bedauernswerthen 
Angehörigen  eines  allzu  verspäteten  Genistes  zweiter  Brut,  die  zur 
Reise  zu  unentwickelt  waren,  oder  aus  verletzten  und  kränklich 
gewordenen  Vögeln  bestehend,  sind  auch  bei  uns  notirt  worden.  So 
überwinterten  im  sehr  schneereichen,  anhaltenden  und  nicht  beson- 
ders warmen  Winter  1880—81  je  ein  jüngeres  Männchen  und 
Weibchen  im  Gehöft  zu  Lipskaln,  indem  sie  sich  vornehmlich  bei 
einer  niemals  zufrierenden,  mit  grünen  Moosen  und  Gräsern  um- 
wucherten Quelle  unweit  der  düngerbedeckten  Strasse  aufhielten. 
Da  für  Vögel,  die  ausnahmsweise  oder  nur  theil  weise  bei  uns  über- 
wintern, Regel  zu  sein  pflegt,  dass  alte  Mäunchen  vorzugsweise 
dem  Klima  und  der  Nahrungsnoth  in  besonders  milden  Wintern 
trotzen,  so  scheint  mir  das  Lipskalnsche  Beispiel  dafür  zu  sprechen, 
dass  in  casu  die  Abzugsverspätung  durch  mangelhafte  Entwicke- 
lung  eintrat,  aus  der  dann  schliesslich  durch  Führerlosigkeit  und 
einen  überraschend  früh  eintretenden  Winter  mit  grossen  Schnee- 
massen (am  5.  üctober  1880  fiel  massenhaft  Schnee,  der  erst  Mitte 
April  1881  schwand)  ein  zwangsweises  Verbleiben  und  Ueberwin- 
tern  resultirte.  Ende  Februar,  als  eine  ziemlich  bedeutende  Kälte 
eintrat,  verlor  ich  übrigens  die  Finken  aus  dem  Gesicht;  vielleicht 
gingen  sie  zuletzt,  der  Unbill  des  Klimas  erliegend,  doch  noch  zu 
Grunde.  Einen  zweiten  Fall  des  Ueberdauerns  constatirte  ich 
1884—85  im  wendenschen  Schlosspark,  wo  ein  offenbar  im  Fliegen 
untüchtiges  Finkenweibchen  sich  kümmerlich  durchzuschlagen  ver- 
stand. Also  nicht  freiwilliges  Bleiben,  nicht  der  Trieb  zur  Accli- 
raatisation,  keine  Reflexion  über  den  Satz  tibi  bette  ibi  patria,  son- 
dern einfach  zwingende  Umstände  irgend  eines  zufälligen  Noth- 
standes  scheinen  mir  Ursache  des  ausnahmsweisen  Ueberwinterns  der 
Finken  in  Livland  zu  sein.  Ob  die  Verhältnisse  im  südwestlichen 
milderen  Kurland  anders  bestellt  sind,  blieb  mir  bisher  unbekannt; 
möglich  wäre  es  immerhin,  dass  schon  dort  das  Winterquartier  er- 
träglicher erscheint. 

23.  Der  Stieglitz.    Fringilla  carduelis.    Lettisch:  babflti«, 


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Unsere  bemerkenswerthesten  Singvögel. 


iiglift;  estnisch:  tiglits;  russisch:  mero.n,.  —  Als  der  Herrgott  die 
Welt  erschaffen,  auch  allen  Thieren  Namen  gegeben,  jedem  seine 
Nahrung  angewiesen  und  sämmtliche  Vögel  mit  ewig  haltenden, 
herrlichen  Farben  angemalt  hatte,  sagte  er,  den  Pinsel  ausspritzend, 
halblaut  zu  sich:  es  ist  doch  gut,  dass  keiner  mehr  übrig  blieb, 
denn  just  sind  mir  die  Himmelsfarben  ausgegangen,  alle  Nahrung 
ist  vertheilt  und  ich  käme  wirklich  in  Verlegenheit,  noch  einen 
Vogel  ausstatten  zu  müssen.  Aber  in  unendlicher  Güte  und  tiber- 
grosser  Ordnungsliebe  gedachte  der  liebe  Gott  einen  förmlichen 
Abschluss  zu  raachen  und  rief  daher  mit  seiner  Donnerstimme  über 
das  Erdenrund,  dass  er  die  Schöpfung  beenden  müsse,  so  noch  ein 
Wesen  vergessen  sei,  es  sich  schleunigst  zu  melden  habe,  sonst 
wäre  alles  zu  spät.  Siehe !  da  kam  ein  kleines,  noch  farbloses  Vög- 
lein in  Aengsten  herzugeflogen,  meldete  sich  und  bat  ergebenst  um 
Namen,  Nahrung  und  Färbung.  «Ach,  *  da  habeu  wir's!»  seufzte 
der  gütige  Schöpfer,  sah  sich  voll  Erbarmen  um,  entdeckte  auch 
noch  einen  Distelbusch,  dessen  Samen  niemand  gemocht,  und  auf 
dem  Boden  der  Farbentöpfe  noch  winzige  Reste  von  allen  bunten 
Farbstoffen.  Nun  wies  er  dem  Vöglein  die  Distelsamen  für  immer 
als  Nahrung  an,  betupfte  das  in  banger  Erwartung  zitternde  Seel- 
chen mit  allen  Resttropfen  der  schönsten  Farben  und  siehe!  es 
ward  dadurch  so  schön  bunt,  wie  kein  anderes.  Gnädigst  sprach 
schliesslich  der  liebe  Gott,  es  taufend:  «Distelfink  sollst  du  auf 
deutsch,  Stutzer  auf  russisch  heissen.>  Da  ward  das  Vöglein  so 
kreuzfidel,  dass  es  sich  vor  Vergnügen  fortan  stets  wandte  und 
drehte  und  mit  heller  Stimme  den  allgütigen  Schöpfer  pries,  der 
ihn,  den  säumig  Letzten,  zum  ersten,  schönsten  Stutzer  gemacht  hatte. 

So  weit  die  Sage.  Die  heutige  Kenntnis  sagt  über  den  all- 
bekannten Distelfink,  dass  kein  Singvogel  gelehriger,  dass  er  bei 
uns  uniherstreichender  Standvogel,  dass  sein  Nest  zürn  Leidwesen 
aller  Eiersammler  sehr  schwierig  zu  finden,  d.  h.  zu  erreichen,  dass 
er  in  der  Gefangenschaft,  sich  mit  den  Canarienvögeln  gern  ehelich 
verbindend,  wunderschöne  Bastarde  zu  erzeugen  befähigt  und  dass 
er  als  Sänger  unter  den  Samenfressern  eine  hervorragende  Rolle 
zu  spielen  berufen  sei.  Bekannt  ist  ferner,  dass  die  Weibchen  von 
den  Männchen  sehr  schwierig  zu  unterscheiden  sind,  woher  Neu- 
linge von  Verkäufern  leicht  und  arg  betrogen  werden. 

24.  Der  Zeisig.  Fringilla  spinus.  Lettisch:  jUtfif«;  russisch: 

nm, 

Wenn  im  Februar  oder  Anfang  März  noch  tiefer  Schnee  die 


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Unsere  bemerkenswerthesten  Singvögel. 


335 


Fluren  deckt,  das  Thermometer  über  Null  steigt,  ein  heiterer  Sonnen- 
schein den  Wald  erglitzern  lässt,  der  winterlich  rauhe  Wind  sich 
friedlich  legte  und  man  dann  Vormittags  einen  Spaziergang  in's 
Nadelgehölz  unternimmt,  so  wird  man  ungemein  angenehm  durch 
ein  munteres,  vielstimmiges  Singen  und  Zwitschern  berührt  und 
unwillkürlich  an  den  leider  viel  zu  langsam  nahenden,  bereits  sehn- 
süchtig erwarteten  Frühling  gemahnt.  So  reizend  sorglos,  <  sommer- 
lich warm»  und  voll  Lebenslust  erklingen  die  frohen  Liederchen, 
dass  man  den  kleinen  grünen  Vögeln  im  schönen  dunkelgrünen 
Grähnenbaum  ordentlich  gut  gesinnt  und  herzlich  zugethan  wird. 
Das  sind  die  flinken,  auch  im  kältesten  Winter  bei  uns  ausdauern- 
den und  der  Heimat  immer  treu  verbleibenden  Zeisige,  welche  be- 
kanntlich auf  jedem  baltischen  Vogelmarkt  wesentliche  Handels- 
objecte  und  im  Zimmer  des  Vogelfreundes  verhätschelte  Lieblinge, 
das  heitere  Element  in  der  Voliere  zu  sein  pflegen.  Trotz  aller  er- 
wähnten Liebenswürdigkeiten  des  kleinen  Gesellen  bin  ich  seiner 
ganzen  Race  im  Herzen  doch  ein  wenig  gram.  Es  gelang  mir 
nämlich  niemals,  seines  Nestes,  seiner  Eier  selbst  habhaft  zu  wer- 
den, und  das  Auffinden  und  Ausnehmen  giebt  dem  Liebhaber  und 
Sammler  erst  den  rechten  Reiz,  die  rechte  Freude;  gekaufte  Waare 
erwärmt  nicht  das  Gemüth,  so  gut  sie  auch  die  Lücke  im  Eier- 
kästen  auszufüllen  verstand.  Bei  uns  bauen  sie  ihre  Nester  in  die 
dichtesten  und  höchsten  Grähnenbäume.  Hat  man  auch  endlich 
mit  vieler  und  wirklich  anstrengender  Mühe  den  betreifenden,  nur 
Sparrendicke  haltenden,  mit  nur  tkleinfingerstarken»  Aesten  erst 
in  einer  Höhe  von  6  bis  7  Faden  ausgestatteten  Baum  entdeckt  oder 
wenigstens  zu  entdecken  geglaubt,  so  hilft  das  nur  wenig  oder  besser 
gesagt  nichts,  denn  wo  ist  sogleich  im  Binnenlaude  ein  Matrose  zu 
beschaffen,  der  im  Stande  wäre,  am  dünnen  Stamme  7  Faden  ast- 
los und  dann  noch  ein  Paar  Faden  durch  hinderndes  Geäste  hinauf 
zu  klettern?  Ingrimmig  verzichtet  der  Sammler  sehr  vernünftiger 
Weise  auf  die  selbst  zu  machende  Beute,  sieht  sich  genöthigt,  in  den 
Beutel  zu  greifen  und  fremde  Mühe  reichlich  zu  belohnen. 


Oskar  von  L  Ö  w  i  s. 


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> 


Die  Lepra  und  ihre  Gefahr  für  Riga. 

Kiu  Vortrag 


litten  in  dem  Getriebe  unseres  heimatlichen  socialen  Le- 
bens, in  dem  Kampf  zwischen  der  Flut  des  Elends 
und  der  Noth  und  den  Dämmen,  welche  Nächstenliebe  und  Menschen- 
geist ihr  entgegenstellen,  taucht  als  neues  Schreckgespenst  ein 
Name  auf,  der  für  uns  längst  nur  historischen  Klang  besass,  starrt 
uns  das  Scbauerbild  des  Aussatzes  entgegen,  das  wir  ausgelöscht 
wähnten  aus  dem  Eumenidenkreise  der  chronischen  Seuchen. 

Wenn  der  schwarze  Tod,  die  Pest,  über  die  Erde  ging,  die 
Cholera  in  Massenmorden  wütbete,  dann  regte  alles  in  fieberhafter 
Hast  die  Hände.  Staat,  Gemeinde  und  Privatmann  strengten  alle 
Mittel  an,  um  den  Feind  abzuwehren.  Wenn  er  ihre  Desinfections- 
feuer  übersprang,  die  Absperrungscordons  durchbrach  und  sein  Ver- 
nichtungswerk fortsetzte,  so  wurden  neue  Mittel  in  den  ungleichen 
Kampf  geworfen,  trotz  der  geringen  Erfolge  und  der  ungeheuren 
Opfer  wurde  derselbe  mit  grösster  Energie  fortgeführt,  bis  das 
Fortschreiten  der  Seuche  ein  Ende  erreicht,  die  Gefahr  der  An- 
steckung geschwunden  war.  In  dieser  Gefahr  ist  die  Triebfeder 
für  alle  Kampfesmühen,  für  alle  Opferwilligkeit  begründet;  je  acu- 
ter sie  ist,  je  deutlicher  sie  vorhanden  zu  sein  scheint,  desto  leb- 
hafter regen  sich  die  Hände,  die  ach  so  oft  ruhen,  wenn  die  Leiden 
und  das  Elend,  das  Unglück  nicht  schnell  schreitend,  sondern  lang- 
sam schleichend  sein  Vernichtungswerk  vollzieht. 

Schauen  Sie  hin  auf  die  heutigen  chronischen  Seuchen,  unter 
denen  das  Menschengeschlecht  seufzt,  die  hier  den  Mann  aus  seiner 
glänzenden  Laufbahn,  aus  vielverheissendster  Thätigkeit  heraus- 


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Die  Lepra  und  ihre  Gefahr  für  Riga.  337 

reisseu  und  langsamem  Siechthum  in  die  Arme  werfen,  dort  blühen- 
des Familienleben  langsam  zerblättern  und  auflösen,  'sie,  die  den 
wichtigsten  Factor  dafür  abgeben,  dass  die  Menschen  unserer  Tage 
blass  und  blutarm,  schwächlich  und  nervös  geworden  sind,  was  ist 
zu  ihrer  Abwehr  eigentlich  geschehen?  Ist  es  abzusehen,  wann 
man  radicale  Massnahmen  gegen  sie  ergreifen  wird?  Neinl 

In  erster  Linie  wol  deshalb,  weil  das  Angriffsobject  so  riesen- 
gross  geworden,  dass  nicht  abzusehen,  von  wo  den  Augriff  begin- 
nen, und  wol  auch  kein  Staat  besässe  die  Mittel,  denselben  ratio- 
nell auszuführen,  dann  aber,  weil  das  Bewusstsein  der  Contagiosität 
theils  fehlt,  theils  nicht  genügend  lebhaft  ist.  Die  rigorosen  Mass- 
regeln, welche  früher  an  einzelnen  Orten  gegen  die  Schwindsucht 
ergriflen  worden  waren,  die  Thatsache,  dass  einzelne  wilde  Volker- 
stämme aus  Furcht  vor  derselben  alles  stehen  und  liegen  lassen, 
womit  sie  einen  vortheilhaften  Tauschhandel  abzuschliessen  hofften, 
und  sich  in  angstvolle  Flucht  begeben,  sobald  der  tauschende 
Europäer  zu  husten  anfängt,  beweisen,  dass  mit  dem  veränderten 
Gesichtspunkt,  von  dem  aus  die  Seuche  betrachtet  wird,  die  Frage 
der  Abwehr  auch  auf  eine  ganz  andere  Höhe  lancirt  wird,  als  sie 
uns  heutzutage  interessirt. 

Sache  der  Wissenschaft  ist  es,  den  richtigen  Weg  hier  zu  zeigen. 

Die  Art  des  Ansteckungsstoffes,  die  Bedingungen,  unter  wel- 
cheu  die  Ansteckung  erfolgt,  müssen  präcisirt,  mit  unantastbaren 
Thatsachen  belegt  werden.  Diese  Forderung,  so  einfach  sie  klingt, 
so  schwer  ist  sie  zu  realisiren.  Nur  Sprosse  um  Sprosse  hebt  sich 
unsere  Erkenntnis  der  Wahrheit  näher,  und  wie  unabsehbar  weit 
ist  noch  die  Stufenleiter,  die  wir  zu  ersteigen  haben! 

Die  Baccillen  sind  entdeckt  worden,  und  welche  Combinatio- 
nen  über  Ursache  und  Wesen  der  Krankheit  sind  daraus  entstan- 
den, für  wie  viele  noch  offene  Fragen  ist  der  Baccillus  als  will- 
kommener Lückenbüsser  sofort  zur  Stelle,  wie  viel  falsche  Vor- 
stellungen sind  durch  ihn  in  der  Laienwelt  heraufbeschworen !  Und 
wenn  dann  die  Wissenschaft  zur  Erkenntnis  kommt,  dass  nicht 
der  Baccillus  als  solcher  die  Erklärung  der  Krankheit  giebt,  dass 
die  Stoffwechselvorgänge  dieses  kleinsten  Lebewesens  —  chemische 
Processe  —  in  diese  Rolle  treten,  oder  wenn  sich  andere  neue 
noch  ungeahnte  Gesichtspunkte  eröffnen,  dann  wird  jäh  alles  fort- 
geworfen, was  heute  als  feststehend  gegolten,  und  der  neuen  Strö- 
mung fällt  vieles  zum  Opfer,  was  gut  angelegt  war  und  nur  noch 
des  stetigen  Ausbaues  bedurfte. 


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338  Die  Lepra  und  ihre  Gefahr  für  Riga. 

So  zieht  sich  durch  die  Geschichte  der  Krankheiten  ein  Stei- 
gen und  Fallen  der  Anschauungen.  Das  heutige  Geschlecht  bringt 
zur  Anerkennung,  was  vor  hundert  und  mehr  Jahren  unseren  Vor- 
fahren 1" Überzeugung  gewesen,  Ansichten,  die  für  abgethan  gegolten, 
sie  finden  heute  wiederum  ihre  Würdigung.  Aus  diesem  Auf-  und 
Abwogen  der  Anschauungen  schlägt  als  unvergänglicher  Nieder- 
schlag ein  Körnchen  Wahrheit  zu  dem  anderen,  die  objectiv  beob- 
achteten, sachlich  belegten  Thatsachen,  welche  die  Generationen  in 
ihrer  Folge  an  einander  reihen. 

Wenn  ich  es  versuche,  ein  Bild  des  Aussatzes  jetzt  vor  Ihnen 
zu  entrollen,  so  schicke  ich  voraus,  dass  der  Aussatz  die  einzige 
chronische  Seuche  gewesen,  gegen  welche  ein  energischer,  mühe- 
voller Kampf  geführt  worden,  und  dass  derselbe,  allerdings  nach- 
dem er  Jahrhunderte  gedauert,  mit  völligem  Siege,  wenigstens  für 
den  grössten  Theil  Europas,  geendet  hat.  In  den  wenigen  Orten, 
wo  er  sich  gehalten  bis  auf  unsere  Tage,  schien  das  Interesse  für 
ihn  abhanden  gekommen  zu  sein,  selbst  die  Wissenschaft  fing  an 
ihn  stiefmütterlich  zu  behandeln.  Den  uralten  Aussatz,  der  als 
ein  einheitliches  Krankheitsbild  über  zwei  Jahrtausende  gekannt 
und  als  ansteckend  gefürchtet  worden  war,  den  wollte  man  zu  einem 
Hautleiden  stempeln,  in  Abrede  stellen,  dass  er  eine  schwere,  ge- 
fahrliche Allgemeinerkrankung  des  ganzen  Körpers  sei. 

Nach  den  verschiedenen  Orten,  in  denen  er  auftauchte,  fing 
man  an,  sich  über  die  Verwandtschaft  zu  streiten,  welche  bestehe 
zwischen  der  Scarliero  in  Dalmatien,  der  KpuucBaa  6ojrb3Hi>  der 
Radesyge  in  Norwegen  und  dem  alten  Aussatz,  der  Lepra,  welche 
griechische  Bezeichnung  seit  mehr  als  einem  Jahrtausend  die  ge- 
wöhnliche geworden  war,  oder  der  Spedalskhed,  dem  Namen,  mit 
welchem  Norwegen,  der  heutige  Hauptherd  dieser  Seuche,  dieselbe 
bezeichnet.  Da  kam  die  Entdeckung  des  Leprabaccillus  und  schaffte 
Klarheit ;  nur  wo  der  Baccillus  zu  finden,  hatte  man  es  mit  Lepra 
zu  thun.  Mit  neuem  Interesse  wandte  sich  die  wissenschaftliche 
Welt  jetzt  wiederum  der  Lepra  zu,  eine  neue  Perspective  hatte 
sich  für  die  Forschung  ergeben.  Es  galt,  die  Lebensbedingungen 
des  Baccillus  zu  erforschen,  seine  üebertragbarkeit  zu  constatiren 
und  damit  den  Beweis  zu  liefern,  dass  die  Lepra  keine  durch  Ein- 
flüsse des  Bodens  und  der  Luft,  durch  unzweckmässige  Nahrung, 
und  was  sonst  alles  behauptet  worden,  bedingte  Krankheit  sei, 
sondern  dass  jeder  einzelne  Leprose  einen  Ansteckungsherd  reprä- 
sentire,  der  verderblich  werden  könne  für  jeden,  welcher  mit  ihm 


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Die  Lepra  und  ihre  Gefahr  für  Riga. 


339 


in  nähere,  innigere  Beziehungen  tritt.  Aber  noch  sind  diese  Fragen 
nur  zum  kleinsten  Theil  gelöst.  Nachgewiesen  ist  nur,  dass  der 
Baccillus  vorhanden  ist  in  allen  der  Krankheit  eigentümlichen 
Krankheitsproducten ;  nachgewiesen  ist  ferner,  dass  er  eine  unge- 
mein grosse  Lebensfähigkeit  besitzt,  deren  Grenzen  bisher  noch 
nicht  festgestellt  worden,  und  dass  Fäulnisorganismen,  welche 
anderen  Baccillen,  wie  vor  allem  dem  der  Cholera,  so  verderblich 
sind,  auf  seine  Lebensfähigkeit  nicht  den  mindesten  schädlichen 
Einfluss  ausüben.  Endlich  ist  es  zwei  Forschern  gelungen,  den 
Leprabaccillu8  auf  Kaninchen  zu  übertragen,  an  deren  inneren  Or- 
ganen Veränderungen  zu  constatiren  waren ,  welche  denen  der 
menschlichen  Lepra  sehr  ähnlich  sahen  und  namentlich  sämmtlich 
den  Baccillus  enthielten.  Allein  diesem  positiven  Ergebnis  steht 
eine  Reihe  von  negativ  ausgefallenen  Versuchen  gegenüber,  so  dass 
in  dieser  Frage  noch  kein  endgiltiges  Urtheil  gefällt  werden  kann. 
Bisher  ist  es  weder  gelungen,  den  Baccillus  ausserhalb  des  kran- 
ken Körpers  auf  ein  Medium  zu  verpflanzen,  auf  dem  er  fortlebt 
und  sich  weiter  entwickelt,  noch  die  Art  seiner  Weiterentwickelung 
zu  constatiren,  noch  wissen  wir  die  Eingangspforten,  die  er  zur 
Einwanderung  in  den  menschlichen  Körper  wählt,  sowie  die  ersten 
Erscheinungen,  unter  denen  er  wächst  und  sich  vermehrt,  um  dann 
in  den  Organismus  hereinzubrechen.  Auch  die  Wege,  die  ihm  zur 
Verbreitung  im  Körper  dienen,  sind  noch  nicht  festgestellt,  ob  er 
im  kreisenden  Blutstrom  hingeffihrt  und  abgelagert  wird  an  den 
Orten,  wo  wir  ihn  finden,  ob  er  langsam  fortwandernd  ausserhalb 
desselben  sich  die  Gebiete  der  menschlichen  Körperoberfläche  oder 
d  i  e  inneren  Organe  aufsucht,  die  seinen  Lieblingssitz  bilden. 

Man  unterscheidet  zwei  Formen  der  Lepra,  di^  sogenannte 
Knollen-  oder  Knotenform  und  die  Nervenlepra. 

Während  bei  der  ersteren  die  Haut,  namentlich  des  Gesichts, 
verunstaltet  wird  durch  kleinere  oder  grössere  Knollen  und  Knöt- 
chen, welche  anfangs  vereinzelt,  dann  in  dichten  Massen  aufschiessen, 
dann  sich  zu  grösseren  Platten  vereinigen  oder  sich  in  eiternde 
Geschwüre  verwandeln  können  und  so  dem  Gesicht  ein  entsetz- 
liches, schreckenerregendes  Aussehen  geben,  finden  wir  bei  der 
zweiten  Form  den  Baccillus  in  den  Nerven  und  um  dieselben,  und 
alle  sichtbaren  Krankheitserscheinungen  sind  zurückzuführen  auf 
die  dadurch  beschränkten  oder  aufgehobenen  Nervenfunctionen. 
Wenn  Hände  und  Füsse,  Arme  und  Beine  gefühllos  werden,  so 
dass  man  eine  Nadel  tief  in's  Fleisch  senken  kann,  ohne  dass  es 


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-» ■ 


340 


Die  Lepra  und  ihre  Gefahr  für  Riga. 


der  Kranke  merkt,  wenn  weite,  landkartenartige  Zeichnungen  auf 
der  Haut  auftreten,  wenn  die  Ballen  an  den  Händen  einsinken,  so 
dass  man  den  Eindruck  gewinnt,  als  strecke  sich  einem  die  haut- 
übersponnene  Hand  eines  Skeletts  entgegen,  wenn  Zehen  und  Fin- 
ger allmählich  Glied  für  Glied  absterben  und  abfallen,  ja  es  wieder- 
holt beobachtet  worden  ist,  dass  die  ganze  Hand  sich  von  dem 
Arme  löste,  so  ist  für  dieses  alles  nur  die  Erkrankung  der  Nerven 
das  ursächliche  Moment.  Sie  müssen  sich  vorstellen,  dass  der  Nerv 
nicht  blos  der  Leitungsdraht  ist,  welcher  dem  Gehirn  das  äusser- 
lich  einwirkende  Moment  als  8chmerz  oder  irgend  eine  andere 
Qualität  unserer  Empfindung  vermittelt,  und  der  wieder  vom  Ge- 
hirn den  Willen  in  die  Glieder  des  Körpers  leitet  und  ihn  hier  in 
Bewegung  oder  eine  andere  Qualität  unseres  Handelns  umsetzt, 
sondern  dass  der  Nervenstrang  Fasern  enthält,  deren  Vorhanden- 
sein das  Leben  seines  Verzweigungsgebietes  bedingen.  Nicht  der 
Zu-  und  Abstrom  des  Blutes  allein  genügt,  um  warmes  Leben  zu 
erhalten ;  sind  die  lebenerhaltenden  Nervenfasern  zerstört,  so  stockt 
die  Welle  des  Lebenssaftes  und  dem  Tode  fällt  anheim  das  ganze 
Gebiet,  in  dem  das  Nervenleben  aufgehört  hatte.  Und  nun  stellen 
Sie  sich  vor,  dass  diese  beiden  Formen  sich  die  Hand  reichen  und, 
während  Knollen  und  Knoten  das  Gesicht  bis  zur  Unkenntlichkeit 
entstellen,  die  Erkrankung  der  Nerven  an  Händen  und  Füssen  ihre 
Verheerungen  anrichtet,  und  Sie  erhalten  ein  Bild,  dessen  Grausig- 
keit auszumalen  Sie  mir  erlassen  mögen.  Genug,  dass  von  diesem 
furchtbaren  Leiden  der  Tod  endlich  das  unglückliche  Opfer  erlöst, 
der  lange,  oft  fünf  bis  sechs  und  mehr  Jahre  sehnsüchtig  erwartet 
und  herbeigefleht  war.  Es  ist  zu  verstehen,  wie  das  durch  den 
Anblick  eines  solchen  Unglücklichen  geweckte  tiefe  Mitleid  zurück- 


und  durch  die  Furcht,  in  gleiches  Leiden  zu  verfallen. 

So  sehen  wir  denn  auch  von  alters  her  die  schärfsten  Bestim- 
mungen existiren,  welche  strengste  Absonderung  der  Kranken  von 
den  Gesunden  verlangen  und  die  Handhabung  einer  solchen  aufs 
gewissenhafteste  regeln. 

Ob  Aegypten  oder  Indien  oder  etwa  beide  Länder  die  Wiege 
der  Lepra  gewesen,  wissen  wir  nicht.  Die  ältesten  bis  auf  unsere 
Tage  erhaltenen  sanitätspolizeilichen  Bestimmungen  gegen  die  Seuche 
sind  die,  welche  Moses  vor  mehr  als  3000  Jahren  geschaffen :  « Wer 
aussätzig  ist,  des  Kleider  sollen  zerrissen  sein,  des  Haupt  blos 
und  die  Lippen  verhüllet  und  soll  allerdings  unrein  genannt  werden; 


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Die  Lepra  und  ihre  Gefahr  für  Riga. 


341 


so  lange  das  Mal  an  ihm  ist,  soll  er  unrein  sein,  allein  wohnen 
und  seine  Wohnung  soll  ausser  dem  Lager  sein.>  Es  scheint,  dass 
Moses  ganz  besonderes  Gewicht  auf  das  Erkennen  der  Nervenlepra 
gelegt,  der  diagnostisch  schwierigsten  Form.  Es  ist  möglich,  dass 
diese  Form  auch  die  bei  weitem  häufigere  war,  wie  solches  jetzt 
in  Ostasien  der  Fall  ist,  und  wäre  uns  damit  die  Erklärung  dafür 
gegeben,  dass  die  Bestimmungen  Mosis  wiederholt  der  Reini- 
gung, der  Heilung  vom  Aussatz  erwähnen.  Denn  wenn  es  auch 
bei  beiden  Formen  des  Aussatzes  vorkommt,  so  ist  es  der  Nerven- 
lepra ganz  besonders  eigen,  dass  der  Verlauf  der  Krankheit  ein 
äusserst  ausgedehnter ,  sich  über  einen  Zeitraum  von  15—20 
Jahren  erstreckender  sein  kann.  Es  kommen  dann  Perioden  von 
Jahres-  und  noch  längerer  Dauer  vor,  wo  der  Träger  der  Krank- 
heit dem  Laien  ganz  gesund  erscheint,  bis  dann  mit  einem  Schlage 
oder  allmählich  die  Erscheinungen  wieder  da  sind,  von  denen  sich 
der  Kranke  befreit,  geheilt  glaubte. 

Vom  Jahre  GOO  v.  Chr.  an  sehen  wir  die  Perser  Massregeln 
gegen  die  Lepra  ergreifen,  welche  sich  inzwischen  auch  über  Ostr 
asien  und  China  verbreitet  hatte.  In  Griechenland  war  der  Sage 
nach  der  Ort  Lepreon  in  der  elischen  Landschaft  Triphylia  von 
aussätzigen  Ansiedlern  gegründet  worden ;  seit  345  v.  Chr.  herrscht 
jedoch  der  Aussatz  notorisch  in  Griechenland,  wie  solches  von 
Aristoteles  bezeugt  und  genau  beschrieben  wird.  Im  letzten  Jahr- 
hundert vor  unserer  Zeitrechnung  hatte  er  Italien  erreicht.  Von 
hier  aus  ist  er  dann  von  den  römischen  Heeren  an  die  Grenzen 
des  Imperiums  und  über  diese  hinaus  verschleppt  worden.  Die 
Reihenfolge  der  nun  ergriffenen  Gebiete  Europas  lässt  sich  nicht  mit 
Sicherheit  feststellen,  etwa  zwei  Jahrhunderte  nach  Christi  Geburt 
finden  wir  ihn  bereits  in  der  Lombardei,  Spanien,  Frankreich  und 
Deutschland. 

Es  ist  den  vom  ersten  Kreuzzug  heimkehrenden  Pilgern  und 
Streitern  die  Einschleppung  der  Lepra  zugeschrieben  worden,  je- 
doch fälschlicher  Weise.  Wol  ist  mit  den  Kreuzzügen  die  Lepra- 
frage für  die  Menschen  des  Mittelalters  in  ein  anderes  Licht  ge- 
stellt worden,  die  Abtrennung  der  Kranken  von  den  Gesunden  und 
die  Verpflegung  der  Unglücklichen  in  ein  rationelleres  Stadium  ge- 
treten ;  wol  mag  auch  die  Verbreitung  der  Seuche  durch  die 
Strömungen,  welche  die  verschiedenen  Gesellschaftsschichten  unter 
einander  mengte,  durch  die  Schaaren  von  Pilgern  und  Kreuzfahrern 
wesentlich  begünstigt  worden  sein,  allein  urkundlich  beglaubigt  ist 


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Die  Lepra  und  ihre  Gefahr  für  Riga. 


die  Existenz  der  Leprosen  in  Frankreich  und  Deutschland  mehr 
als  ein  halbes  Jahrtausend  vor  dem  ersten  Kreuzzuge.  —  Während 
ursprünglich  die  aus  der  Gemeinschaft  gestossenen  Leprosen  ausser- 
halb der  Stadtmauern  sich  aufhalten,  in  kleinen  elenden  Hütten 
von  Stroh  oder  Heu  auf  freiem  Felde  leben  und  ihr  Leben  als  sog. 
Feldsieche  auf  eigene  Hand  erhalten  raussten  —  durch  Bettelbrod 
und  die  Mildthfttigkeit  guter  Menschen,  sehen  wir  nach  den  Kreuz- 
zügen Städte  und  Fürsten  sich  bemühen,  der  Landescalamität  Ab- 
hilfe zu  schaffen  durch  Gründung  von  Siechenhäusern  —  Leprose- 
rien  —  und  Concentriren  aller  Aussätzigen  in  solchen  Anstalten. 
Den  Anlass  dazu  mag  gegeben  haben,  dass  durch  die  furchtbaren 
Opfer,  welche  die  Kreuzzüge  an  Menschenleben  gefordert,  für  jedes 
einzelne  Gemeinwesen  die  Aufgabe  herantrat,  durch  energische 
Massregeln  die  gelichteten  Reihen  seiner  Angehörigen  vor  weiteren 
Verlusten  zu  schützen.  —  Die  praktische  Lösung  dieser  Aufgabe 
ist  am  meisten  gefördert  worden  durch  das  System,  welches  die 
Orden  in  die  Krankenpflege  gebracht.  Die  im  heiligen  Lande  im 
Dienst  für  die  leidenden  Brüder  geschulten  Hände  waren  mit  dem 
Aufgeben  des  heiligen  Landes  in  reichlicher  Anzahl  vorhanden,  um 
in  der  Heimat  das  Werk  der  Liebe  und  Barmherzigkeit  zu  fördern, 
für  welches  sie  herangebildet  waren.  Wenn  wir  trotzdem  bis  etwa  1400 
noch  Feldsieche  treffen,  so  ist  das  nur  ein  Beweis  der  ungeheuren 
Verbreitung  der  Krankheit;  die  Leproserien  genügten  eben  nicht, 
um  alle  zu  fassen.  Das  Loos  der  armen  Feldsiechen  war  in  der 
That  ein  entsetzliches ;  so  lange  sie  sich  bewegen  konnten,  fanden 
sie  wenigstens  auskömmliche  Nahrung ;  denn  Speise  und  Trank, 
auch  Geld  wurde  ihnen  oft  so  reichlich  gespendet,  dass  einzelne 
Orte  strenge  Verordnungen  gegen  solche  erlassen  mussten,  welche, 
ohne  lepros  zu  sein,  sich  unter  die  Siechen  begaben,  um  mit  ihnen 
Almosen  einzusammeln.  Aber  wenn  die  Krankheit  den  armen 
Feldsiechen  aufs  Lager  warf,  er,  von  Fieberschauern  und  Schmerzen  . 
geschüttelt,  sein  regenfeuchtes  Strohlager  nicht  verlassen  konnte, 
dann  war  sein  Schicksal  nur  dem  Mitleid  seiner  Leidensgenossen 
anheimgestellt  und  der  Aufopferungsfähigkeit  edler  Menschen,  welche 
Abscheu  und  Furcht  vor  Ansteckung  überwanden  und  diese  Un- 
glücklichen auf  ihrem  Schmerzenslager  aufsuchten.  Namentlich 
Frauen  sind  es,  die  Grosses  in  solchem  Samariterdienst  geleistet. 
Mögen  auch  die  Legenden  dieser  zum  grössten  Theil  heilig  ge- 
sprochenen Frauen  ihrem  Wirken  manches  angehängt  haben,  was 
uns  heute  ein  Lächeln  auf  unsere  Lippen  bringt,  so  darf  das  unsere 


Die  Lepra  und  ihre  Gefahr  für  Riga. 


343 


Bewunderung  ihrer  aufopfernden  Nächstenliebe  nicht  schmälern.  — 
Der  erste  uns  überlieferte  Name  ist  die  heilige  Odilie.  Als  ein 
Leproser  vor  den  Mauern  des  Klosters  erschien,  in  dem  sie  gott- 
geweihten Dienstes  pflog,  und  alles  sich  scheu  und  voll  Entsetzen 
von  ihm  wandte,  da  eilte  sie  auf  den  Aermsten  zu,  umarmte  ihn, 
half  ihm  eine  Strohhütte  in  der  Nähe  des  Klosters  errichten, 
pflegte  und  verband  seine  Wunden  bis  an  sein  Lebensende.  Die 
heilige  Odilie  lebte  vor  der  Zeit  Karls  des  Grossen.  —  Zu  Anfang 
des  12.  Jahrhunderts  war  weit  und  breit  die  Aebtissin  des  Klosters 
auf  dem  Rupertsberge  bei  Bingen  —  die  heilige  Hildegard  —  be- 
kannt und  verehrt  als  Wohlthäterin  der  Aussätzigen.  Wol  hatte 
sie  es  damals  nicht  mehr  ausschliesslich  mit  Feldsiechen  zu  thun, 
sondern  konnte  in  Leproserien  Curen  vollziehen,  welche  ihren  Ruf 
immer  weiter  ausbreiteten.  Ihre  guten  Erfolge  sind  der  ausge- 
zeichneten Pflege  und  der  consequenten  Anwendung  von  Bädern 
zuzuschreiben,  welche  sie  in  ihren  nachgelassenen  Schriften  so  sehr 
betont ;  sie  selbst  sieht  freilich  das  Heilkräftige  in  einer  Salbe,  die 
sie  aus  Hühner-  und  Gänsefett  und  Hühnerdünger  bereitete.  Man 
sollte  damit  nur  die  Kranken  recht  tüchtig  einreiben,  dieses  lange 
fortsetzen  und  sie  würden  genesen,  wenn  nicht  der  Tod  sie  früher 
hin  wegraffte,  oder  Gott  sie  überhaupt  nicht  heilen  wolle,  —  fügt  sie 
vorsichtigerweise  hinzu. 

Aus  dem  13.  Jahrhundert  sind  uns  die  Namen  der  heiligen 
Hedwig  und  ihrer  Schwiegertochter,  der  Herzogin  Anna  in  Schlesien, 
überliefert.  1234  gründet  Hedwig  bei  Neumarkt  ein  Asyl  für  aus- 
sätzige Frauen,  welches  in  den  wenigen  Jahren,  welche  Hedwig 
noch  lebte,  eine  grosse  Berühmtheit  erlangte. 

Die  grösste  Aufopferung  in  der  Pflege  der  Leprosen  hat  ge- 
wiss die  heilige  Elisabeth,  die  Landgräfin  von  Thüringen,  bewiesen. 
Es  ist  zu  beklagen,  dass  der  Einfluss  eines  Konrad  von  Marburg 
in  schwärmerische  Excentricität  ein  Frauenherz  getrieben,  das 
warm  für  alle  Unglücklichen  schlug,  ein  zartbesaitetes  Gemüth  in 
Conflicte  gedrängt,  aus  denen  es  befriedigenden  Ausweg  nicht  ge- 
funden. Zu  früh  starb  eine  Frau,  die  unter  anderen  Verhältnissen 
berufen  gewesen  wäre,  noch  lange  zum  Segen  der  Armen  und 
Kranken  zu  wirken,  in  gesunder  Thätigkeit  die  Reihe  der  Wohl- 
thaten  fortzusetzen,  mit  denen  sie  ihr  kurzes  Leben  verschönt. 
Grausig  widerwärtig  ist,  was  ihre  Zeit  ihr  als  hohes  Verdienst  ange- 
rechnet, dass  sie  das  Wasser,  mit  dem  sie  die  Füsse  der  Leprosen 
gewaschen,  einstmals  getrunken  habe,  um  ein  Gott  wohlgefälliges 

BftltUcho  MotwU.cluift.  Bd.  XXXIV,  Heft  4.  23 


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Die  Lepra  und  ihre  Gefahr  für  Riga. 


Werk  zu  üben.  Ob  sie  ihrem  Gatten  grosse  Freude  bereitet,  als 
sie  einen  Leprosen  in  sein  Bett  gelegt,  weiss  die  Legende  nicht 
zu  berichten,  wol  aber  geschah  das  Wunder,  dass  sie  nach  einigen 
Stunden  an  Stelle  des  Kranken  das  Bild  des  gekreuzigten  Heilands 
in  dem  Bette  fand.  Einstmals  äusserte  sie,  ihr  Herzenswunsch 
sei,  man  möge  sie  wie  die  gemeinen  Aussätzigen  behandeln,  ihr 
wie  diesen  eine  kleine  Hütte  von  Heu  und  Stroh  bauen  und  vor 
die  Thür  ein  Leintuch  hängen  und  einen  Kasten  aufstellen,  dass 
die  Vorübergehenden  ihr  ein  Almosen  hineinwürfen.  Wenn  dieser 
Wunsch  der  frommen  Landgräfin  unausgeführt  geblieben,  so  hat 
Ulrich  von  Lichtenstein  es  möglich  gemacht,  einen  Tag  lang  unter 
den  Feldsiechen  als  ihres  Gleichen  zu  leben.  Freilich  trieben  ihn 
dazu  ganz  andere  Wünsche  als  die  der  heil.  Elisabeth,  da  er  das 
<schwache  Kleid >  der  Aussätzigen  angelegt  und  sich  die  Näpfe 
hatte  bereiten  lassen,  wie  sie  die  Aussätzigen  zum  Einsammeln  von 
Speise  und  Trank  gebrauchten.  So  ausgestattet,  klopfte  er  an  die 
Thür  seiner  Herzensdame,  Agnes  von  Meran,  auf  deren  über- 
müthige  Laune  hin  er  diese  ganze  Mummerei  unternommen.  Mit 
den  erhaltenen  Gaben  geht  er  unter  die  Aussätzigen,  die,  wol 
dreissig  an  der  Zahl,  vor  der  Burg  sassen  und  denen  ihr  Siechthum 
wehe  that,  um  das  Empfangene  zu  theilen ;  sie  sprachen  cja,  das 
soll  sein,  wir  theilen  alles  mit  einander  und  leben  geselliglich.» 
So  sassen  sie  alle  zu  Ringe  und  setzten  die  Speise  in  die  Mitte. 
Herrn  Ulrich  grausete  vor  den  Siechen  und  er  hätte  nicht  gegessen, 
wenn  er  nicht  die  Ehre  seiner  Dame  hätte  hüten  müssen.  Als  er 
aber  zuletzt  von  jedem  aufgefordert  wurde,  zu  ihm  in  die  Hütte 
zu  kommen,  dort  zu  übernachten,  konnte  er  sich  dazu  doch  nicht 
entschliessen  uud  blieb  lieber  in  Frost  und  Regen  auf  dem  Felde. 
Leider  versichert  Ulrich,  dass  seine  Zucht  ihn  verhindere,  all  die 
Krankheit,  die  er  an  den  Siechen  sah,  zu  erzählen  ;  so  hätte  diese 
Episode  seines  Lebens  doch  einigen  Werth  für  die  Nachwelt 
erhalten. 

Die  Bestimmungen,  welche  die  Städte  für  die  Feldsiechen  in 
ihrem  Weichbilde  trafen,  beschränkten  sich  auf  Vorschriften  über  die 
Kleidung,  die,  grau  oder  schwarz,  so  zugeschnitten  sein  musste,  dass 
man  schon  von  weitem  die  Träger  als  Sieche  erkennen  konnte ; 
ferner  auf  die  Tage  und  Stunden,  in  denen  die  Siechen  der  Stadt 
nahen  und  ihre  Bettel gäuge  machen  durften.  Wo  die  Noth  dieser 
armen  Ausgestossenen  zu  drückend  geworden,  da  sehen  wir  sie,  oft 
im  Verein  mit  den  Juden,  einen  Aufstand  gegen  die  Stadt  insceniren, 


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Die  Lepra  und  ihre  Gefahr  für  Riga.  345 

der  jedoch  stets  mit  der  grausamsten  Bestrafung  dieser  Aermsten 
endete. 

Ein  besseres  Loos  wurde  den  in  den  geschlossenen  Anstalten 
—  den  Leproserien  —  Behandelten  zu  Theil.  ffereits  636  unter 
der  Regierung  König  Dagoberts  werden  Aussätzige  zu  Verdun, 
Metz  und  Maastricht  genannt,  denen  durch  Schenkung  Dörfer  zu- 
gewiesen werden.  Das  weist  darauf  hin,  dass  dieselben  offenbar 
in  corporativer  Gemeinschaft  gelebt  haben  müssen.  Hundert  Jahre 
später  sammelt  der  heil.  Othmar  die  Aussätzigen  auf  den  Feldern 
von  St.  Gallen  und  vereinigt  sie  in  ein  Siecheuhaus.  992  wird  von 
Siegfried,  Grafen  von  Lützelburg,  das  von  Irmina,  der  Tochter 
Dagoberts,  gestiftete  und  vom  heil.  Willibrord  erbaute  Kloster 
Echternach  mit  einem  Heim  für  die  von  der  Miselsucht  Befallenen 
verbunden ;  hier  wird  dann  —  zum  ersten  Mal  —  urkundlich  der 
Name  Miselsucht  genannt,  den  später  die  Aussätzigen  in  der 
vulgären  Sprache  führten.  Dann  folgen  weitere  Klöster  mit  der 
Gründung  kleiner  Leprahäuser,  der  wachsenden  Notli  suchen  dann 
die  Städte  durch  Gründung  grösserer  Siechenhäuser  gerecht  zu 
werden.  Würzburg  und  Bremen  sind  allen  anderen  darin  voraus- 
gegangen, und  in  rascher  Aufeinanderfolge  sind  ihnen  die  übrigen 
gefolgt.  Zu  Anfang  des  13.  Jahrhunderts,  als  noch  die  Zahl  der 
Leproserien  stetig  im  Wachsen  war,  zählte  man  19000  Leprahäuser 
in  allen  christlichen  Ländern  zusammen,  in  Frankreich  allein 
deren  2000. 

Die  Leprahäuser  befanden  sich  stets  ausserhalb  der  Mauern 
der  Stadt,  meist  waren  sie  dem  heiligen  Lazarus  und  Johannes 
geweiht.  Im  Norden  und  Osten  Deutschlands  sehen  wir  die  Georgs- 
hospitäler diesem  Zwecke  dienen,  dann  werden  neben  den  Georgs- 
auch  ein  Lazarus-  und  ein  Johannisspital  genannt,  und  alle  drei 
beherbergen  Leprose.  Einzelne  Städte  im  Süden  und  Westen 
Deutschlands  verwandten  dazu  die  heil.  Geistspitäler,  die  nun  eben- 
falls ausserhalb  der  Stadtmauer  liegen  mussten.  Alle  die  uns 
näher  interessirenden  Städte  Norddeutschlands,  Bremen  und  Lübeck, 
zu  denen  ja  unsere  Vaterstadt  in  engsten  Beziehungen  gestanden, 
sie  haben  ihr  Jürgenhaus  ausserhalb  der  Mauern  für  Leprose  und 
ihr  Spital  zum  heiligen  Geist  innerhalb  derselben  für  Gebrechliche 
gehabt.  Die  Hausordnung  dieser  Anstalten,  in  Einzelheiten  ab- 
weichend, stimmte  im  Grossen  und  Ganzen  in  allen  Städten  über- 
ein. Der  Spitalmeister  hatte  die  Oberaufsicht,  ihm  standen  ver- 
schiedene Wirthschaftsbeamte  zur  Seite.    Von  Aerzten,  welchen 

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Die  Lepra  und  ihre  Gefahr  für  Riga. 


die  Beaufsichtigung  der  Behandlung,  die  Untersuchung  neu  Aufzu- 
nehmender von  Rathswegen  vorgeschrieben  wird,  ist  erst  nach 
1500  und  auch  keineswegs  allgemein  die  Rede.  Bis  dahin  ent- 
scheiden  die  Aussätzigen  des  Leprosoriums  selbst,  ob  der  sich  zur 
Aufnahme  Meldende  in  der  That  hineingehört;  oder  der  Spital- 
meister sendet  den  Bettelknecht,  dessen  Obliegenheit  sonst  war,  die 
milden  Gaben  für  das  Leprosorium  einzusammeln,  und  den  Spital- 
knecht dem  Aufnahme  Begehrenden  ins  Haus,  und  erst  wenn  diese 
die  Hingehörigkeit  des  Kranken  erforscht  und  die  Diagnose  ge- 
stellt hatten,  konnte  seine  Ueberführung  ins  Leprosorium  erfolgen. 
Die  Frage  liegt  nahe,  ob  denn  die  Diagnose  dieser  beiden  Knechte 
nicht  dazwischen  eine  falsche  gewesen  ?  Zweifellos  ist  später  solches 
vorgekommen,  als  die  Lepra  zu  erlöschen  begann  und  eine  neue 
Seuche  ähnliche  Erkrankungsformen  schuf.  Da  mögen  die  beiden 
Abgesandten  des  Spitalmeisters  dazwischen  in  ein  arges  Dilemma 
gekommen  sein  und  manchen  Unglücklichen  ins  Leprosorium  spedirt 
haben,  der  nicht  dahin  gehörte.  Indessen  bis  gegen  das  16.  Jahrh. 
ist  die  Kenntnis  der  Lepra  eine  so  allgemeine  gewesen,  ihre  Herr- 
schaft eine  fast  ausschliessliche  unter  den  chronischen  Seuchen, 
dass  ein  Irrthum  wol  recht  unwahrscheinlich  erscheint.  Ein  Bild 
des  älteren  Holbeiu,  welches  gegenwärtig  sich  in  der  münchener 
Pinakothek  befindet,  stellt  die  heilige  Elisabeth  dar,  wie  sie,  von 
der  Wartburg  herabkommend,  ohne  Gefolge  unter  eine  auf  der  Erde 
kauernde  Gruppe  von  Leprosen  tritt;  drei  von  diesen  und  ein  Bein 
aus  der  übrigen  Gruppe  sind  deutlich  zu  unterscheiden  und  sind 
an  diesen  allen  die  Merkmale  der  beiden  verschiedenen  Formen 
des  Aussatzes  in  grösster  Vollkommenheit  wiedergegeben.  Das 
sind  dieselben  Köpfe,  wie  sie  die  Spedalske  Norwegens  haben,  wie 
wir  sie  in  einzelnen  Gegenden  Livlands  erblicken,  wie  sie  uns  hier 
in  den  Strassen  unserer  Stadt  dazwischen  begegnen. 

Reimchroniken,  Hartmann  von  der  Aues  Dichtung  <Der  arme 
Heinrich»  schildern  uns  die  Miselsucht.  Die  beste  Beschreibung 
derselben  hat  uns  jedoch  Konrad  von  Würzburg  in  seiner  Dichtung 
Engelhardt  hinterlassen  ;  wenn  auch  diese  dem  Kritiker  poetisch 
verfehlt  erscheint,  so  bleibt  ihr  ungetheilt  das  Lob  treffender  Zeich- 
nung.  Sie  lautet: 

Und  also  seines  Lebens  Freude 

Ward  bald  in  trübes  Leid  verkehret : 

Sein  Leib,  der  stattlich,  wohlgenähret, 

Ward  nun  getroffen  und  geschlagen 


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Die  Lepra  und  ihre  Gefahr  für  Riga.  347 

Mit  einer  schlimmen,  bösen  Plagen, 

Man  nennt  sie  hier  die  Miselsucht. 

Die  fiel  auf  ihn  mit  grosser  Wucht 

Und  also  aussätzig  er  ward. 

Von  seinem  Haar  und  seinem  Bart 

Verlor  er  viel,  wie  ichs  berichte, 

Nur  wenig  blieb  ihm  im  Oesichte. 

Sein1  Augen  gaben  gelben  Schein, 

Als  sassen  Milben  ihm  darein. 

Auch  fiel  ihm  aus  des  Auges  Brauen. 

Des  Leibes  Farbe,  sonst  zu  schauen 

In  früh'rer  Zeit  so  licht  und  gut, 

Sie  ward  viel  röther  noch  denn  Blut 

Und  gab  so  sonderbaren  Schein. 

Die  harfensüsse  Stimme  sein, 

Die  ward  ohn'  Massen  heiser. 

Ihm  schuf  des  Himmels  Kaiser 

Gross  Leid  an  allen  Enden, 

An  Füssen  und  an  Händen. 

Da  waren  seine  Ballen 

So  gänzlich  eingefallen, 

Dass  kaum  ich's  konnte  fassen. 

Der  Arme  musste  lassen 

All',  was  das  Leben  schmücket, 

Und  wurde  arg  bedrücket, 

Gar  jammervoll  beladen 

Von  dieser  Krankheit  Schaden. 

Den  edlen  Fürst,  dem  so  geschehen, 

Den  konnte  männiglich  erspähen 

Gar  traurig,  aller  Freuden  baar. 
Mit  dem  IG.  Jahrhundert  ist  eine  entschiedene  Abnahme  der 
Lepra  zu  constatiren ;  bereits  während  des  17.  werden  mehrfach 
Leproserien  aufgehoben,  und  im  18.  Jahrhundert  sehen  wir  nach  ein- 
ander die  letzten  Leprahäuser  ihre  Thore  schliessen.  Nur  an  der 
Südküste  von  Frankreich,  an  einzelnen  Orten  der  Riviera,  in  Dal- 
matien  und  den  Donauländern,  in  der  Krim  hat  sie  sich  erhalten 
bis  auf  unsere  Tage. 

Den  Hauptherd  der  Lepra  in  Europa  repräsentirt  jedoch  Nor- 
wegen. Trotzdem  sein  Jürgenhospital  zu  Bergen  bereits  seit  mehr 
als  sechs  Jahrhunderten  den  Leprosen  offen  steht,  trotzdem  im 


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Die  Lepra  und  ihre  Gefahr  für  Riga. 


Lande  noch  mehrfach  andere  Leproserien  bestehen,  ist  die  Abnahme 
.  der  Seuche  nur  sehr  allmählich  vor  sich  gegangen.  Erst  jetzt,  seit- 
dem vor  etwa  fünf  Jahren  das  Gesetz  erschienen,  das  eventuell 
durch  Zwang  jeden  Leprosen  in  die  Anstalt  abzufertigen  befiehlt, 
hat  sich  eine  beträchtliche  Abnahme  der  neuen  Erkrankungsfälle 
gezeigt.  Vom  Bergener  Georgenhospitale  aus  ist  die  Lepralehre 
zu  einer  Zeit,  als  in  Deutschland  auch  in  der  medicinischen  Welt 
dieselbe  in  unklaren  und  verschwommenen  Vorstellungen  aufzugehen 
drohte,  mit  exactester  Schärfe  und  Klarheit  wieder  aufgerichtet 
worden.  Danielisen  und  ßoeck,  langjährige  Leiter  des  erwähnten 
Krankenhauses,  haben  sich  durch  ihre  vollendete,  klassische  Schilde- 
rung der  Lepra  und  die  subtile  Differenzirung  ihrer  beiden  Formen 
ein  unvergängliches  Denkmal  gesetzt.  Das  Ergebnis  ihrer  Beob- 
achtungen gipfelt  in  dem  Schlussatz:  Die  Lepra  ist  nicht  an- 
steckend. So  wären  denn  die  Ansichten  der  verflossenen  Jahrhun- 
derte Thorheit,  alle  Massregeln,  welche  man  ergriffen,  Grausam- 
keiten gewesen,  mit  denen  man  die  durch  ihr  physisches  Leiden 
ohnehin  schwer  Getroffenen  nutzlos  gemartert  hat. 

Daniellsen  und  Boeck  stützen  ihre  Ansichten  auf  die  That- 
sache,  dass  sie  während  langjähriger  Beobachtung  in  den  Hospitä- 
lern nie  Wartepersonal  oder  andere  Kranke  haben  angesteckt  werden 
sehen  ;  die  Familien,  welche  Leprose  bei  sich  aufnahmen  und  ver- 
pflegten, haben  niemals  Erkrankungen  unter  ihren  Angehörigen 
dadurch  entstehen  sehen.  Endlich  habe  auch  das  Volk  selbst  keine 
Furcht  vor  Ansteckung,  sei  jedoch  von  der  Vererbung  der  Krank- 
heit völlig  überzeugt.  Und  diese  sei  denn  auch  wissenschaftlich 
als  der  Hauptfactor  für  die  Ausbreitung  der  Seuche  anzusehen. 
Als  die  Seuche  eingeschleppt,  da  habe  sie  in  den  Wohnungsverhält- 
nissen, den  Lebensgewohnheiten  der  armen  norwegischen  Bevölke- 
rung, in  der  Feuchtigkeit  und  Rauhheit  ihres  Klimas,  in  ungeeig- 
neter und  einförmiger  Nahrung  Bedingungen  gefunden,  welche  ihr 
eine  rasche  Entwickelung  ermöglichten  und  denen  es  zuzuschreiben 
sei,  dass  die  Lepra  in  Norwegen  sich  so  hartnäckig  gehalten. 

Und  einige  Jahrzehnte  später  tritt  der  neue  Leiter  des  Ber- 
gener Hospitals  Armauer  Hansen  für  die  Ansteckungsfähigkeit  der 
Lepra  ein.  Es  ist  dasselbe  Beobachtungsmaterial,  das  ihm  und 
das  Danielisen  und  Boeck  zur  Verfügung  gestanden,  und  doch  gehen 
ihre  Ansichten  diametral  aus  einander.  Es  ist  zweifellos  richtig, 
dass  von  einer  Anzahl  Leproser  ein  grosser  Theil  von  leprakranken 
Eltern  stammt,  nach  einer  Zusammenstellung  von  1400  Kranken 


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Die  Lepra  und  ihre  Gefahr  für  Riga. 


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hallen  800  leprakranke  Vorfahren;  allein  noch  ist  nie  ein  Neu- 
geborenes mit  Lepra  behaftet  gesehen  worden,  und  spricht  die  That- 
sache,  dass  Kinder  selten  vor  dem  achten  Jahr,  meist  aber  noch 
später,  an  dieser  Seuche  erkranken,  doch  viel  eher  gegen  die  Ver- 
erbung und  für  eine  Ansteckung  durch  den  täglichen  innigen  Ver- 
kehr mit  den  Eltern  oder  Verwandten.  Wenn  wir  die  600  Krauken 
ohne  leprose  Ascendenz  mit  den  800  mit  einer  solchen  vergleichen 
—  spricht  die  Verhältniszahl  von  3  : 4  nicht  schon  gegen  die  all- 
gemeine Giltigkeit  eines  Vererbungsgesetzes  und  findet  die  Erkran- 
kung der  600  nicht  ihre  zwanglose  Erklärung  bei  Annahme  einer 
Ansteckung,  die  sie  sich  ausserhalb  ihrer  Familie  zugezogen? 
Danielisen  giebt  selbst  eine  Handhabe  gegen  seine  eigene  Lehre, 
wenn  er  von  den  Erkrankten  aus  der  besseren  Gesellschaftsschicht 
sagt:  cdie  Erblichkeit  ist  in  diese  Familien  nicht  gedrungen,  trotz- 
dem sie  bei  der  armen  Bevölkerung  ringsum  in  Blut  he  steht,  t 

Zweifellos  haben  die  Beobachtungen  Daniellsens  und  Boecks 
es  zur  Thatsache  erhoben,  dass  die  Gefahr  der  Ansteckung  eine 
minime,  sobald  der  Kranke  unter  günstige  Verhältnisse  versetzt 
wird,  sorgfältige  Pflege  und  grosse  Sauberbeit  die  Factoreu  fort- 
räumen, welche  eine  Verbreitung  des  Ansteckungsstoffes  ermöglichen. 
Allein  sich  heutzutage  den  Thatsachen  verschliessen  zu  wollen, 
welche  für  die  Ansteckungsfähigkeit  sprechen,  ist  nicht  mehr  mög- 
lich. In  einem  Lande,  wo  die  Lepra  herrscht,  die  Zahl  der  Kran- 
ken eine  derartige  ist,  dass  Berührung  und  Verkehr  mit  ihnen  nicht 
mehr  zu  den  vereinzelten  Ereignissen  des  Lebens  gehört,  kann  es 
sehr  schwer  sein,  die  Quelle  festzustellen,  aus  der  das  arme  Opfer 
seine  Plage  geschöpft.  Um  sichere  Beobachtungen  über  die  An- 
steckungsfähigkeit zu  macheu,  müssen  die  Gegenden  ins  Auge  ge- 
fasst  werden,  wo  die  Seuche  frisch  aufgetreten,  oder  wo  die  Zahl 
der  Erkrankungsfälle  eine  geringe,  übersehbare  ist. 

Amerika,  welches  bis  vor  Kurzem  frei  von  Lepra  war,  hat 
jetzt  dieselbe;  von  Osten  her  ist  sie  durch  norwegische  Einwanderer 
nach  Canada  verschleppt,  von  Westen  haben  die  Einwanderungen 
der  Chinesen  sie  gebracht.  Wenn  die  Seuche  keine  grossen  Dimen- 
sionen angenommen,  so  ist  es  den  energischen  Isolirungsmassregelu 
zuzuschreiben,  welchen  die  Regierung  die  Kranken  unterworfen.  — 
Auf  der  Insel  Mauritius  wurde  1745  von  einem  dänischen  Schiff 
ein  Aussätziger  ausgesetzt,  zehn  Jahre  später  zeigen  sich  die  ersten 
Erkrankungsfälle  auf  der  Insel,  und  jetzt  beträgt  die  Zahl  der 
Leprosen  daselbst  mehrere  Tausende.       Auf  den  Sandwichsinseln 


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Die  Lepra  und  ihre  Gefahr  für  Riga. 


beginnt  mit  den  vierziger  Jahren  unseres  Jahrhunderts  die  Einwande- 
rung von  chinesischen  Kulis.  Anfang  der  fünfziger  Jahre  wird  der 
erste  Leprose,  ein  Chinese,  der  in  der  Nahe  von  Honolulu  lebte, 
notirt  und  im  Jahre  1880  zählt  man  bereits  2000  Kranke,  von 
denen  nur  900  in  Leproserien  sich  befanden;  dabei  zählt  die  Ge- 
sammtbevölkerung  44,000  Personen. 

Endlich  sind  unsere  baltischen  Provinzen  ein  für  die  Erfor- 
schung der  Lepra  höchst  interessantes  Land.  Wann  die  Seuche 
hierher  gekommen,  wissen  wir  nicht ;  die  erste  Notiz,  welche  sich 
in  einer  skandinavischen  Bischofschronik  findet,  giebt  an,  dass  der 
Erzbischof  Andreas  von  Lund  sein  Amt  niederlegen  musste,  weil 
der  Aussatz  bei  ihm  ausgebrochen,  den  er  sich  von  einem  Feldzuge 
in  Livlaud  geholt.  Die  Aufzeichnungen  über  die  Verbreitung  wäh- 
rend des  13.,  14.  und  15.  Jahrhunderts  sind  höchst  spärliche;  ver- 
einzelte Notizen  stammen  aus  späterer  Zeit.  Ueber  Altlivland  ver- 
theilt waren,  heisst  es,  etwa  hundert  Krankenhäuser,  einige  der- 
selben mögen  ausschliesslich  für  Leprose  bestimmt  gewesen  sein, 
bei  den  meisten  wird  nur  eine  gesonderte  Abtheilung  des  Gebäudes 
diesem  Zweck  gedient  haben.  Die  sichersten  Nachrichten  haben 
wir  über  Reval.  Hier  bestand  ein  Johannishospital  ausserhalb  der 
Mauern  der  Stadt  für  die  Leprosen.  Reiche  Schenkungen  an  das- 
selbe haben  es  bis  zum  Jahre  1370  zu  einem  grossen  Landbesitz 
gedeihen  lassen.  —  Für  Riga  liegt  die  Vermuthung  nahe,  dass  das 
Georgenhospital  zu  der  Zeit,  als  es  ausserhalb  der  Stadt  am.  Mühl- 
bach lag,  in  einer  Gegend,  wo  jetzt  die  stolzen  Häuser  am  Nikolai- 
und  Todleben-Boulevard  sich  erheben,  ebenfalls  Leprose  beherbergt 
haben  mag.  Nach  Analogie  der  anderen  Hansestädte  spricht  der 
Name  dafür,  denn  der  bedeutende  Grundbesitz,  der  es  von  den 
übrigen  Spitälern  auszeichnet,  und  ferner  der  Umstand,  dass  das 
Georgenhospital  c Sieche»  beherbergte,  ein  Ausdruck,  der  wieder- 
holt für  Leprose  vorkommt,  im  Gegensatz  zu  den  «Bresthaften» 
der  heil  Geistspitäler  im  Inneren  der  Stadt.  Allein  Aufzeichnungen 
darüber  fehlen  im  Archiv  des  Georgenhospitals,  welches  übrigens 
durch  die  Wechselfalle,  denen  das  Hospital  ausgesetzt  gewesen,  so 
mangelhaft  ist,  dass  uns  das  schliesslich  nicht  Wunder  nehmen 
kann.  Es  bleibt  uns  nur  zu  hoffen,  dass  eine  Durchforschung  des 
Rathsarchivs  Belege  für  unsere  Muthmassuugeu  bringt».  Sicher 

1  Ann»,  der  Red.  Der  St.  Jürgenshof  an  der  Weide  wird  der  gef. 
Mitteilung  de»  Hrn.  Stadtarehivar  Dr.  Hildehrand  zufolge  vor  1551  nicht  er 
wähnt,  womit  allerdings  nicht  gesagt  int,  da*«  er  sich  nicht  doch  früher  daselbst 


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Die  Lepra  und  ihre  Gefahr  für  Riga. 


3öl 


hat  ausserhalb  der  Stadtmauern  im  sog.  Ellernbruch  ein  Aussatz- 
haus bestanden ;  hiess  dasselbe  zuletzt  schlechtweg  das  Siechenhaus 
im  Ellernbruch,  so  war  es  ursprünglich  dem  heil.  Lazarus  geweiht 
uud  kommt  spater  z.  B.  im  Vermächtnis  der  Mechthildis  Rapesylver 
vom  Jahre  1324  als  Aussatzhaus  des  heiligen  Johannes  vor.  Es 
werden  bereits  im  Jahre  1225  hospitalarii  des  heil.  Lazarus  genannt; 
es  lässt  diese  Bezeichnung  den  Zweifel  ollen,  ob  damit  nur  Pflege- 
befohlene des  Hospitals  gemeint  sind  oder  ob  sie  vielmehr  Hospital- 
brüder bedeutet,  Brüder  des  Ordens,  der  ausschliesslich  der  Pflege 
Aussätziger  geweiht  war,  ja,  dessen  Ordensmeister,  nach  den  vor- 
handenen Angaben,  selbst  ein  Aussätziger  sein  musste. 

Versetzen  wir  uns  ums  Jahr  1800  ins  alte  Riga.  Es  ist 
wieder  ein  Aussätziger  angezeigt  worden.  Da  ein  Stadtarzt  noch 
nicht  existirt,  so  ist  anzunehmen,  dass  Spital-  und  Bettelknecht 
den  Auftrag  erhalten,  den  Kranken  zu  untersuchen.  Nach  ge- 
schehener Meldung  wird  der  Unglückliche  von  den  beiden  Knechten 
zur  Johanniskirche  geführt,  von  Angehörigen  und  Freunden  in 
scheuer  Entfernung  begleitet.  Der  Priester  tritt  ihm  in  vollem 
Ornat  entgegen,  er  ermahnt  ihn,  in  Demuth  und  Geduld  das  von 
Gott  gesandte  schwere  Leid  zu  tragen,  dann  wird  er  mit  Weih- 
wasser besprengt,  eine  Todtenmesse  wird  für  ihn  gelesen,  eine  noch- 
malige Ermahnung  folgt  und  dann  setzt  sich  der  Zug  in  Bewegung, 

befunden  haben  kann.  Ist  das  von  Bischof  Albert  in  der  Neustadt  gestiftete 
Hospital,  wie  anzunehmen,  das  Georgenhospital,  so  spräche  dessen  Luge  gegen 
seine  Verwendung  als  Leprosorium.  Die  Annahme,  dass  der  St.  Jürgeushof  an 
der  Weide  ein  Filial  für  Leprose  gewesen,  ist  immerhin  zulässig,  obschou  die  im 
Text  angeführten  Motive  kaum  ausschlaggebend  sein  dürften.  Namentlich  fallt 
die  Berufung  auf  den  Grundbesitz,  als  eine  die  Leproseuhänser  auszeichnende 
Eigenschaft,  in  sich  zusammen,  da  die  bezügliche  Angabe  Amelnngs  in  seinen 
"Baltischen  Culturstudien»  p.  174  ganz  und  gar  aus  der  Luft  gegriffen  ist  Es 
heiset  da:  Der  Legat  Wilhelm  von  Modena  habe  1237  jedermann  gestattet,  dem 
Hause  der  Aussätzigen  bewegliche  uud  unbewegliche  Güter  zu  schenken,  wah- 
rend es  im  übrigen  nach  wie  vor  in  Riga  und  Keval  verboten  blieb,  Immnhi 
lien  an  die  Kirche  und  die  sog.  todte  Hand  zu  vergeben.  Die  Urkunde,  auf 
die  Amelung  sich  beruft  Livl.  V.  U.  148),  nicht  aus  Riga,  sondern  ans  Reval 
datirt,  verleiht  nicht  dem  Hause  oder  den  Häusern  der  Aussätzigen  ein  Privileg, 
sondern  publicirt  daa  Gesetz  Kaiser  Friedrich»  II.  über  die  Aufhebung  aller  der 
Freiheit  der  Kirche  entgegenstehenden  Bestimmungen.  Der  Legat  folgert  aus 
diesem  die  Ungiltigkeit  des  bis  dahin  in  Liv  und  Estland  bestandenen  Verbots 
der  Schenkungen  und  Vermächtnisse  an  die  Kirche,  «woher  denn  auch  jeder,  der 
dem  Hause  der  aussätzigen  Brüder  von  seinen  beweglichen  oder  unbeweglichen 
Gütern  für  seine  Seele  opfern  wolle,  freie  Macht  hierzu  habe». 


352 


Die  Lepra  and  ihre  Gefahr  für  Riga. 


hinaus  nach  dem  Ellernbruch.  Hier  wird  der  neue  Ankömmling 
vom  Spitalmeister  empfangen  und  eingekleidet:  Ein  schwarzer  oder 
grauer  Mantel,  ohne  farbiges  Unterfutter,  fein  ehrbar  gemacht, 
nicht  zu  kurz,  nicht  verbrämt,  c sondern  schlecht >,  wie  von  alters 
Herkommen  ist:  Rock,  Beinkleider,  eine  Kappe  aus  wollenem  Zeug 
oder  Linnen.  Ausdrücklich  bestand  das  Verbot,  furnirte  Hüte  zu 
tragen.  Nur  zu  bestimmten  Zeiten  durften  die  Aussätzigen  aus- 
gehen, dann  wurden  ihnen  zwei  weisse  wollene  Hände  auf  die 
Brust  geheftet,  oder  sie  erhielten  eine  Klapper  in  die  Hand,  um  so 
weithin  sieht-  und  hörbar  die  Gesunden  zu  warnen.  War  eine  Be- 
gegnung unvermeidlich,  oder  namentlich  wenn  ein  Herr  vom  hohen 
Rath  den  Leprosen  auszuforschen  hatte,  so  musste  sich  dieser  in 
respectvoller  Entfernung  unter  den  Wind  stellen,  damit  sein  Hauch 
den  hohen  Herrn  nicht  treffen  könne.  In  strengster  Abgeschieden- 
heit verbrachten  die  Aermsten  die  Jahre,  die  ihnen  noch  unter 
Schmerzen  und  Qualen  zu  leben  bestimmt  war. 

Allein  die  strengen  Massregeln  haben  ein  Erlöschen  der 
Seuche  in  dem  Masse  zur  Folge  gehabt,  dass  mit  dem  17.  Jahr- 
hundert die  Leprahäuser  in  Livland  bereits  geschlossen  werden. 
Zu  Anfang  unserer  sechziger  Jahre  stellte  Prof.  Wachsmuth  in 
Dorpat  das  Vorkommen  der  Lepra  in  den  baltischen  Landen  über- 
haupt in  Abrede.  Jedoch  war  seine  Ansicht  irrig  ;  mit  der  grösseren 
Verbreitung  des  Rufes  der  dorpater  Klinik,  mit  der  Verbesserung 
der  Communicationswege  tauchten  bald  aus  Riga,  dann  aus  Tarwast, 
von  Pemau  her  und  von  den  Ufern  des  Peipussees  Leprakranke 
in  der  Klinik  auf.  Fortgesetzt  wird  von  der  Klinik  aus  an  einer 
statistischen  Erhebung  über  die  Zahl  der  Kranken  gearbeitet.  Im 
Landvolk  sehen  wir  vielfach  Indolenz  diesen  Kranken  gegenüber 
herrschen,  an  anderen  Orten  regt  sich,  namentlich  mit  der  Zunahme 
der  Erkrankungsfälle,  die  Furcht,  so  haben  wir  in  Tarwast  noch 
augenblicklich  Feldsieche,  die  in  elenden  Hütten,  fern  von  mensch- 
licher Wohnung,  im  Walde  ihr  trostloses  Dasein  führen  müssen.  — 
Auch  unsere  Vaterstadt  zeigt  jetzt  wieder  Lepraerkrankungen. 
Seit  zwanzig  Jahren  etwa  nimmt  das  Krankenhaus  alljährlich 
Leprose  auf,  anfangs  waren  es  nur  zwei  oder  drei  pro  Jahr,  jetzt 
melden  sich  schon  fünf  bis  sechs  und  darüber,  die  tlieils  aus  Riga 
selbst,  theils  aus  nächster  Umgebung  stammen.  Dabei  ist  zu  be- 
rücksichtigen, dass  das  Krankenhaus  nur  solche  Leprose  aufnimmt, 
die  an  irgend  einer  heilbaren  Krankheit  erkrankt  sind.  Leprose 
als  solche  gehören,  weil  sie  bisher  unheilbar,  nicht  ins  Krankenhaus. 


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Die  Lepra  und  ihre  Gefahr  für  Riga. 


853 


Weitere  Nachforschungen  ergaben,  dass  die  Zahl  der  Kranken 
eine  erheblich  grössere  ist,  als  man  bisher  angenommen.  Drausseu 
in  Mühlgraben,  an  der  rothen  Düna,  in  den  Vorstädten,  auch  selbst 
in  der  inneren  Stadt  leben  Leprose.  Anfangs  schienen  alle  Er- 
krankungen isolirt  aufgetreten  zu  sein,  dann  aber  gelang  es,  An- 
steckung nachzuweisen.  Eine  Wäscherin  will  durch  die  Wäsche 
einer  Leprosen  angesteckt  worden  sein,  die  sie  ständig  gewaschen ; 
eine  andere  Kranke  hat  mit  Leprosen  in  einer  Stube  gewohnt,  eine 
dritte  ist  durch  ihre  Köchin,  eine  vierte  durch  eine  Nähterin,  ein 
kräftiger  Mann  durch  seinen  Bruder  angesteckt  worden,  welche  alle 
mit  richtiger  Lepra  behaftet  waren.  Wenn  die  Aufschlüsse,  welche 
wir  von  den  Kranken  über  etwaige  Ansteckung  erhalten,  so  mangel- 
hafte sind,  so  liegt  das  an  der  Thatsache,  dass  nach  stattgefundener 
Ansteckung  mehrere,  oft  fünf  bis  sechs  und  noch  mehr  Jahre  ver- 
gehen, ehe  die  Krankheit  zum  Ausbruch  kommt.  Natürlich  ent- 
schwinden da  die  Daten  dem  Gedächtnis,  namentlich  bei  etwas 
indolenter  Anlage,  und  im  besten  Glauben  mag  dann  der  Kranke 
die  Berührung  mit  Leprosen  in  Abrede  stellen.  —  Die  bisher  fest- 
gestellte Zahl  der  in  Riga  lebenden  Aussätzigen  beträgt  ca.  25 ; 
sicher  ist  diese  Ziffer  zu  klein,  und  müssen  wir  annehmen  —  nach 
den  bisherigen  Erfahrungen  —  dass  sie  stetig  zunehmen  wird.  Die 
nächste  Umgebung  Rigas  von  Sehlock  bis  nach  Peterscapelle  ist 
im  vorigen  Sommer  von  Dr.  Paulson,  ehemaligem  Assistenten  unseres 
Krankenhauses,  durchforscht  worden.  Die  Untersuchung  hat  höchst 
interessante  Ergebnisse  geliefert,  als  deren  wichtigste  ich  die  Er- 
krankungen auf  dem  Gut  Holmhof,  das  etwa  1000  Seelen  zählt, 
hervorhebe. 

In  Holmhof  ist  zu  Anfang  der  sechziger  Jahre  die  Lepra  un- 
bekannt gewesen.  Da  wanderte  ein  aussätziger  Soldat  aus  der 
Krim  ein  und  trat  beim  Schulmeister  in  Arbeit.  Einige 
Jahre  darauf  erkrankte  der  Schulmeister ;  noch  ahnte  niemand, 
was  es  mit  den  Knoten  und  Knollen  im  Gesicht,  mit  der  Ent- 
stellung des  früher  wohl  aussehenden  Mannes  für  eine  Bewandtnis 
habe.  Der  Schulmeister  starb,  und  neue  Erkrankungen  tauchten 
auf.  Das  Sallatsch-,  Rudsiht-  und  Stehkelgesinde  zeigen  die  meisten 
Erkrankungsfälle,  die  heute  dort  lebenden  Leprosen  —  elf  an 
der  Zahl  stellten  sich  Dr.  Paulson  zur  Untersuchung  —  be- 
schuldigen die  Ansteckung  als  Grund  ihrer  Erkrankung;  theils  ist 
sie  von  Onkeln,  Tanten,  Eltern  überkommen,  welche  jedoch  aus- 
nahmslos aussätzig  wurden  lange  nach  der  Geburt  ihrer«Kinder, 


354 


Die  Lepra  und  ihre  Gefahr  für  Riga. 


so  dass  Vererbung  hier  völlig  ausgeschlossen  ist,  theils  werden 
ausserhalb  der  Familie  Stehende  als  Ansteckungsquelle  bezeichnet. 
Mit  dieser  Ueberzeugung  wachst  denn  auch  die  Ansteckungsfurcht. 
Man  soll  die  Kranken  anfangen  zu  isoliren,  jedoch  in  primitivster, 
roher  Form.  Noch  ist  keine  rationelle  Massnahme  zur  Linderung 
des  Elends  getroffen  worden.  Die  Mehrzahl  der  Leprosen  lebt 
unter  den  alten  Verhältnissen  weiter.  Wenn  die  Kräfte  den  Kranken 
verlassen,  dann  bildet  ein  Winkel  des  allgemeinen  Wohnzimmers 
seine  Krankenstube,  hier  bleibt  er  auf  feuchter  Strohschütte,  auf 
eiterdurchtränktem  Lager  liegen  bis  zu  seinem  Ende  —  eine  stete 
Ansteckungsquelle  für  die  übrigen  Bewohner  des  Zimmers. 

Herrn  Pastor  Schröder  in  Holmhof  haben  wir  eine  höchst 
sorgfältig  geführte  Zusammenstellung  der  Leprosen  daselbst  zu 
danken.  Im  Jahre  1863  ist  der  erste  Todesfall  verzeichnet,  dann 
einer  1876  und  in  den  Jahren  1878  bis  1886  acht. 

Die  elf  augenblicklich  in  Holmhof  lebenden  Kranken  und 
sechs  aus  Holmhof  stammende,  jedoch  nach  Majorenhof,  Assern  und 
Riga  verzogene  Leprose  haben  bis  auf  zwei  den  Ausbruch  ihrer 
Krankheit  in  den  letzten  Jahren  bemerkt. 

Wir  haben  zwei  Erkrankungen  aus  den  sechziger  Jahren,  zehn 
aus  den  siebziger  Jahren  (einige  von  diesen  sind  möglicherweise 
bereits  Ende  der  sechziger  Jahre  erkrankt)  und  fünfzehn  aus  den 
sechs  ersten  Jahren  des  laufenden  Jahrzehnts !  —  Diese  Reihe 
enthält  eine  ernste  Mahnung,  sie  gebietet  uns,  einzuschreiten  und 
hemmend  einzugreifen  in  die  Entwickelung  einer  Progression,  die 
verderbenbringend  werden  muss  auch  über  die  Grenzen  Holmhofs 
hinaus. 

Zum  Schluss  wollen  wir  nochmals  betonen,  dass  unter  guten, 
geregelten  hygieinischen  Verhältnissen  die  Ansteckungsgefahr  eine 
minime  ist ;  dass  sie  aber  auch  unter  solchen  Verhältnissen  vor- 
handen, haben  wir  hier  in  Riga  in  einem  Fall  zur  Evidenz  nach- 
weisen können.  Für  das  in  Schmutz  und  Elend  lebende  Proletariat 
bietet  jeder  Leprose  eine  tägliche  Gefahr  —  eine  Gefahr,  welche 
für  das  Gemeinwesen  oder  private  Wohlthätigkeit  die  Aufgabe 
involvirt,  durch  Gründung  eines  Lepraheims  den  Gesunden  sicher 
zu  stellen  und  dem  unglücklichen  Kranken  eine  Zufluchtsstätte  zu 
schaffen,  wo  er  Pflege  seiner  Leiden,  inmitten  gleicher  Leidens- 
genossen Ruhe  vor  den  entsetzten  Blicken  seiner  Mitmenschen  hat, 
die  ihm  voll  Scheu  und  Entsetzen  ausweichen,  wo  sie  ihm  begegnen. 

Utssen  Sie  mich  schliessen  mit  dem  Wunsch,  dass  Riga  bald 


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Die  Lepra  und  ihre  Gefahr  für  Riga. 


355 


ein  derartiges  Heim  erstehen  sehen  möge,  jetzt,  wo  es  mit  geringen 
Kosten  herzustellen,  ehe  die  Krankheit  um  sich  greifend  von  einer 
späteren  Generation  ganz  andere  Opfer  heischen  wird,  als  sie  es 
jetzt  von  uus  thut. 

Benutzte  Literatur: 

W.  v.  Gutziit,  Rigas  älteste  Wohlthätigkeitsanstalten.    Mitth.  aus  d.  Geschichte 

Liv-,  Est-  und  Kurlands,  Bd.  11. 
F.  Ainelung,  Baltische  Culturstudien. 
Daniellsen  u.  Boeck,  Tratte  de  la  Spedalskhed. 
Daniellsen,  TraiU  de  la  forme  anaesthetique  de  la  Spedalskhed. 
Leloir,  Tratte  pratique  et  theorique  de  la  Lipre. 
Virchow,  V.  Archiv,  Bd.  XVIII,  XX,  XXII  &c. 
L.  Brucq,  Annales  de  Dermatologie  1885. 
F.  Paulson,  Ein  Beitrag  zur  Kenntnis  der  Lepra.  Pissert. 


Dr.  A.  Bergmann. 


59 


Religionstatistisches  aus  Livland  für  das  Jahr  1886. 


jm  Aprilhefte  des  vorigen  Jahres  ist  bereits  auf  die  Bedeutung 
hingewiesen  worden,  welche  statistische  Nachrichten  über  die 
Häufigkeit  des  Confessionswechsels  und  der  Mischehen  für  die  Ver- 
hältnisse unseres  Heimatlandes  besitzen.  Es  wurde  an  jener  Stelle 
auch  betont,  dass  die  relative  Häufigkeit  der  Mischehen  zwischen 
Lutherischen  und  Griechisch-Orthodoxen  in  den  Ostseeprovinzen 
namentlich  für  das  verflossene  Jahr  von  besonderer  Bedeutung  sein 
werde,  weil  man  aus  der  Zunahme  resp.  Abnahme  solcher  Ehen 
im  Jahre  1880  einen  Schluss  werde  ziehen  können  auf  die  Stellung- 
nahme der  lutherischen  Bevölkerung  zu  der  gegen  Ende  des  Jahres 
1884  erfolgten  Wiedereinführung  des  sog.  Reversalz wanges. 

Für  Estland  und  Kurland  stehen  uns  die  betreffenden  Angaben 
z.  Z.  nicht  zur  Verfügung,  daher  wir  uns  auf  Livland  beschränken 
müssen. 

Wir  erinnern  uns,  dass  in  Livland  nach  griechisch-orthodoxem 
Ritus  getraut  wurden  : 


Paare  überhaupt 

1880  1643 

1881  1591 

1882  1721 

1883  1584 

1884  1678 

1885  1550 
Dagegen  wurden  im 

orthodoxen»  Ritus  getraut 


darunter  mit 

Lutherischen 
788 

797 

946 

744 

813 

766 

vergangenen 
1566  Paare, 


pCt. 

47,, 

50,o 
54,, 
48,, 
48,« 
49,.. 

Jahre  nach  griechisch- 
worunter  sich  nur  601 


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Religionstatistisches  aus  Livland. 


357 


gemischte  Paare  oder  38,37  pCt.  befanden.  Die  absolute  Zahl  der 
griechisch-orthodoxen  Eheschliessungen  hat  also  gegen  das  Vorjahr 
um  16  getraute  Paare  zugenommen,  die  Zahl  der  Mischehen  zwischen 
Griechischgläubigen  und  Lutherischen  hat  sich  dagegen  um  165 
Paare  vermindert,  wodurch  eine  Verhältnisziffer  entsteht,  so  niedrig, 
wie  sie  sich  in  den  verflossenen  sieben  Jahren  nie  gestellt  hat. 

Wir  überlassen  es  unseren  Lesern,  über  die  Bedeutung  dieser 
Ziffern  nachzusinnen. 


Dass  ein  Rückgang  in  der  Häufigkeit  lutherisch-griechischer 
Trauungen  in  allen  einzelnen  Theilen  Livlands  stattgefunden  hat, 
lässt  sich  aus  der  nachstehenden  Zusammenstellung  ersehen  : 


griech.  1 

""ranungen 

darunter  Mischehen 

auf  100  Trauungen 

überhaupt 

mit  Lutherischen 

kamen  Mischehen 

1885 

1886 

1885 

188G 

1885 

1886 

in  Riga    .    .  . 

209 

200 

96 

70 

45,» 

35,o. 

«  Dorpat  .    .  . 

38 

34 

25 

18 

65„ 

52„ 

c  Pernau     .  . 

13 

13 

6 

2 

46„ 

15,. 

t  d.  übr.  Städten 

15 

22 

8 

5 

53,, 

22,, 

im  Kr.  Riga  .  . 

129 

133 

75 

75 

58,, 

56,. 

t    c  Wolmar  . 

81 

87 

55 

43 

67,. 

49,t 

«    c  Wenden  . 

220 

197 

124 

84 

56,, 

42,. 

<    «  Walk  .  . 

45 

39 

32 

22 

71„ 

56,. 

«    «  Dorpat 

160 

164 

79 

62 

49,, 

37,. 

t    t  Werro.  . 

95 

117 

40 

42 

42,, 

35„ 

c    €  Pernau  . 

231 

240 

74 

62 

32„ 

25,. 

«    «  Fellin  .  . 

123 

118 

70 

43 

56„ 

36,. 

c    «  Oesel  .  . 

191 

202 

82 

73 

42„ 

36,0 

in  d.  Städten  zus. 

275 

269 

135 

95 

49,. 

35,, 

«  c  Kreisen  zus. 

1275 

1297 

631 

506 

49,. 

39,,,. 

Wir  sehen  also  eine  Reaction  auf  der  ganzen  Linie.  Dieselbe 
ist  im  lettischen  Theile  Livlands  fast  die  gleiche  wie  im  estnischen 
Theile.    Es  sank  nämlich  der  Procentantheil  der  Mischehen 


in  den  lettischen  Kreisen  von  59,,,  pCt.  auf  49,,,  pCt. 
c  c  estnischen  f  «  43,,,  <  <  33,,,  « 
Auf  die  Frage,  welche  Combination  bei  den  in  Rede  stehenden 
Mischehen  die  häufigere  sei,  Mischehen  zwischen  givorthod.  Männern 
und  lutherischen  Frauen  oder  zwischen  gr.-orthod.  Frauen  und  lutheri- 
schen Männern,  antwortete  die  Statistik  für  das  J.  1885,  dass  unter 
100  gemischten  Paaren  bei  66,,,  der  männliche  Theil  dem  griechisch- 
orthodoxen, der  weibliche  Theil  dem  lutherischen  Bekenntnisse  an- 


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358 


Religionstatistisches  aas  Livland. 


gehörten,  während  bei  33,«  Paaren  das  entgegengesetzte  Verhältnis 
anzutreffen  sei.  Im  Jahre  1886  hat  anch  in  dieser  Beziehung  eine 
Verschiebung  der  betreffenden  Verhältniszahlen  stattgefunden.  Der 
Fall  nämlich,  dass  ein  lutherischer  Mann  eine  Griechisch-Orthodoxe 
zum  Weibe  wählte,  trat  unter  je  100  Mischehen  nur  16,»,  mal 
ein,  während  in  je  83,0  Fällen  lutherische  Frauen  von  griechisch- 
orthodoxen Männern  zur  Ehe  begehrt  wurden. 

Bs  folgt  also  hieraus,  dass  neuerdings  die  lutherischen  Männer 
gegen  früher  in  der  Wahl  griechisch-orthodoxer  Frauen  bedächtiger 
geworden  sind,  während  das  weibliche  Geschlecht  lutherischen  Be- 
kenntnisses noch  weniger  als  früher  Bedenken  trägt,  mit  Männern 
griechisch-orthodoxer  Confession  die  Ehe  einzugehen. 

Schliesslich  wollen  wir  noch  hervorheben,  dass  im  Jahre  1885 
in  nur  8  griechisch-orthodoxen  Gemeinden  gar  keine  Mischehen 
mit  Lutherischen  stattgefunden  haben,  während  diese  Erscheinung 
im  Jahre  1886  uns  in  15  Gemeinden  entgegentritt. 

Was  den  Confessionswechsel  in  Livland  betrifft,  so  traten  im 
Jahre  1886  zur  griechisch-orthodoxen  Kirche  über  ■  656  Personen, 
d.  h.  194  Personen  weniger  als  im  Jahre  1885.  Alle  diese  Con- 
vertiten  gehörten  mit  nur  wenigen  Ausnahmen  dem  lutherischen 
Glaubensbekenntnisse  an.  Von  der  Gesammtzahl  der  Convertiten 
entfielen  auf 


1885 

1886 

4-  oder  - 

Riga  

51 

63 

1 

12 

12 

23 

i 

T* 

11 

Pernan  

11 

8 

3 

die  übrigen  Städte  .    .  . 

36 

24 

12 

alle  Städte  zusammen  . 

110 

118 

-+- 

8 

den  Rigaschen  Kreis  .  . 

42 

40 

2 

<    Wolmarschen  Kreis  . 

11 

7 

4 

t    Wendenschen  < 

42 

55 

+ 

13 

«    Walkschen  « 

12 

7 

5 

die  lettischen  Kr.  zus. 

107 

109 

+ 

2 

den  Dorpater  Kreis    .  . 

346 

79 

267 

t    Werroschen  Kreis 

27 

52 

+ 

25 

c    Pernauschen  « 

97 

118 

+ 

21 

«    Fellinschen  < 

44 

100 

+ 

56 

c    Oeseischen  < 

119 

80 

39 

die  estnischen  Kr.  zus. 

633 

429 

204 

auf  d.  flache  Land  überh. 

~T40 

538 

202 

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Religionstatistisches  aus  Livland. 


359 


Nach  dem  Civilstande  und  Geschlecht  vertheilen  sich  die 
Uebergetretenen  des  Jahres  1886,  wie  folgt1: 

männl.  weibl. 


Die  Altersverhältnisse  der  Convertiten  des  verflossenen  Jahres 
sind  denen  des  Jahres  1885  sehr  ähnlich.  Eine  hervorragende 
Stelle  bei  der  Vertheilung  nach  Altersklassen  nehmen  diejenigen 
Convertiten  ein,  welche  das  15.  Lebensjahr  noch  nicht  erreicht 
hatten ;  sie  betrug  (mit  Ausschluss  der  Stadt  Riga)  132  oder 
22.15  pCt.  der  Gesammtzahl,  darunter  vier  Kinder  unter  einem  Jahr. 

Die  Gesammtzahl  der  in  Livland  zur  griechisch-orthodoxen 
Kirche  im  Jahre  1886  Uebergetretenen  betrug,  beiläufig  bemerkt, 
nicht  mehr  denn  0,ne  pCt.  der  gesammten  lutherischen  Bevölkerung 
unserer  Provinz.  Uebrigens  ist  es  leicht  möglich,  das3  in  der  an- 
gegebenen Anzahl  Convertiten  auch  solche  Individuen  mit  enthalten 
sind,  welche  ehedem  schon  in  den  Büchern  der  griechisch-orthodoxen 
Kirche  als  zu  dieser  gehörend  verzeichnet  standen. 

Im  Jahre  1886  wurden  innerhalb  der  griechisch-orthodoxen 
Gemeinden  Livlands  geboren  5134  Kinder,  d.  i.  609  Kinder  mehr 
als  im  Jahre  1885.  Gestorben  sind  innerhalb  dieser  Gemeinden 
3380  Individuen.  Es  hat  somit  die  griechisch-orthodoxe  Kirche 
in  Livland  durch  Ueberwiegen  der  Geburten  über  die  Sterbefälle 
einen  Zuwachs  von  1754  Individuen  erhalten. 


Ledig  220 


218 
81 
4 

2 


Verheiratet  57 
Verwittwet  7 
ohne  Angabe  4 


zusammen  288 


305. 


•  Hier  fehlen  die  Angaben  für  die  Stadt  Riga. 

Baltische  MunaUtclirin.  Itd.  XXXIV.    Urft  4. 


24 


Die  Akademie  der  Künste  zu  St.  Petersburg. 


Historischer  TJeberblick  der  Entwicklung  der  Kaiserlich  russischen  Akademie  der 
Künste  iu  Petersburg.  Ein  Beitrag  zur  Geschichte  der  Kunst  in 
Russland  von  Julius  Hasse  lblatt.  Petersburg,  Verlag  von 
F.  A.  Mareks,  und  Leipzig,  Franz  Wagner,  1886'. 

ie  Aufgabe,  durch  eine  eingehende  Charakteristik  russischer 
Kunst  und  Kunstgeschichte  das  grosse  Ostreich  auch  in 
ästhetischer  Beziehung  dem  Verständnis  des  Westens  näher  zu 
rücken,  dürfte  heute  zu  den  schwierigsten  zählen  und  zu  ihrer  Lö- 
sung Eigenschaften  voraussetzen,  wie  alter  Culturboden  sie  hier 
und  da  zu  zeitigen  pflegt;  einstweilen  ist  es  gut,  dass  die  Materia- 
lien für  eine  künftige  allseitige  Würdigung  russischer  Kunst  sorg- 
fältig gesammelt  und  gesichtet  werden  und  entsprechend  dem  Gange, 
welchen  russische  Kunstgestaltung  geuommen,  namentlich  die  äussere 
Kunstgeschichte,  die  Geschichte  der  Kunstinstitute,  wie  sie  sich  seit 
Peter  dem  Grossen  auf  Initiative  und  durch  Förderung  der  Regie- 
rung ausgestaltet,  von  befugten  Kräften  rüstig  in  Angriff  genommen 
werde.  Julius  Hasselblatt  in  St.  Petersburg  hat  sich  die  Mühe 
nicht  verdriessen  lassen,  das  weit  zerstreute  und  zum  Theil  schwer 
zugängliche  Material  für  die  Geschichte  des  centralen  Instituts 
russischer  Kunstentwickelung,  der  Petersburger  Kunstakademie, 
zu  sammeln,  in  leicht  übersichtlicher  und  geschmackvoller  Form 
für  weitere  Leserkreise  zu  verarbeiten  und  so  ein  Buch  zu  schaffen, 

•  Obwol  daa  genannte  Bnch  in  diesen  Blättern  eine  kurze  kritische  Be- 
sprechung bereits  erfahren,  geben  wir  dem  nachstehenden  Aufsatz  Raum,  weil 
er  die  eingehendere  Keuntuisnahme  des  interessanten  Inhalt«  zu  vermitteln  ge- 
eignet ist.  D.  Red. 


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Die  Akademie  der  Künste  zu  St.  Petersburg. 


3C,1 


das  auch  für  unsere  baltischen  Provinzen  —  und  wie  mancher 
Künstler  aus  baltischen  Landen  verdankt  ganz  oder  theilweise  seine 
Ausbildung  der  Petersburger  Akademie  —  kein  geringes  Interesse 
beanspruchen  dürfte.  Wir  gehen  hier  zuvörderst  auf  den  Inhalt 
ein,  uns  für  den  Schluss  einige  kritische  Bemerkungen  und  Aus- 
stellungen aufsparend. 

Nach  kurzer  Darstellung  der  byzantinischen  und  westeuropäi- 
schen K  im  stein  Iltisse »,  wie  letztere  namentlich  seit  Mitte  des  17. 
Jahrhunderts  durch  Vermittelung  Polens  sich  in  Russland  geltend 
machten,  geht  Hasselblatt  auf  die  Schilderung  von  Peters  des 
Grossen  Stellungnahme  zur  Kunst  über.  Der  grosse  Reformator 
des  äusseren  Lebens  seines  Volkes  kounte  die  Bedeutung  der  Kunst 
im  Völkerleben  unmöglich  ignoriren,  und  Russland,  dem  letzten 
Ankömmling  an  der  gedeckten  Tafel  des  Culturlebens,  stand  es  in 
dieser  seiner  Eigenschaft  wol  an,  ein  hochzeitlich  Gewand  umzu- 
thun,  doch  lag  es  in  der  Natur  der  Sache  und  in  der  Denkweise 
des  grossen  Zaren,  dass  die  Kunst  des  petrinischen  Russland  einen 
vorzugsweise  technischen  Charakter  tragen  musste,  und  wir  finden 
sie  deshalb  eng  verschwistert  mit  all  den  Zweigen  angewandter 
Wissenschaft,  die  nicht  an  letzter  Stelle  den  Hebel  in  Bewegung 
setzten,  welcher  das  Zarenreich  auf  das  Culturniveau  der  übrigen 
europäischen  Mächte  emporheben  sollte.  Paläste  und  Kirchen,  Colle- 
gien  und  Festungswerke,  Museen  und  Akademien  wuchsen  am 
blauen  Newastrom  empor,  Lust-  und  Jagdschlösser  schlössen  sich 
an  das  Weichbild  der  neuerstandenen  Residenz,  an  erster  Stelle  dem 
Architekten,  an  weiterer  dem  Maler  und  Sculpteur  ein  reiches  Be- 
thätigungsrevier  eröffnend.  Selbstverständlich  waren  es  Ausländer, 
deren  Namen  die  plötzlich  und  mit  einem  Schlage  erfolgte  Ein- 
bürgerung westeuropäischer  Kunst  in  Russland  bezeichnen:  die 
Architekten  Leblond,  Michetti,  Schwerdtfeger,  Förster,  Brandt, 
Hamann,  Münnich,  der  Medailleur  und  Bildhauer  Graf  Rastrelli 
der  Aeltere,  die  Maler  Tannhauser,  Oaraval,  Gsell  und  dessen  Frau 
Marie  Dorothea,  Tochter  der  bekannten  Frankfurterin  Maria  Sibylla 
Merian,  jene  Maria  Dorothea  Gsell,  welche  zuerst  in  der  von 
Peter  I.  bei  der  petei-sburger  Typographie  eingerichteten  Zeichen- 
schule, später  in  der  Figurenklasse  der  Akademie  der  Wissen- 
schaften wirkte.    Die  Zweiseitigkeit,  die  jede  durch  einen  mächti- 


'  Ueber  die  ans  erforderlich  scheinende  Einschränkung  des  byzantinischen 
Einflntj«e»  vgl.  B.  M.,  Bd.  33,  p.  616.  P.  Red. 

2V 


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302 


Die  Akademie  der  Künste  zu  St.  Petersburg. 


gen,  individuellen  Willen  auferlegte  Cultur  für  deren  Empfänger 
birgt,  machte  sich  auch  an  deu  Werkzeugen  geltend,  welcher  Peter 
sich  bei  Einbürgerung  westeuropäischer  Kunst  in  Russland  bediente; 
die  Kunst  läuft  Gefahr,  unter  ihren  Händen  zur  Technik  zusammen- 
zuschrumpfen, die  mannigfachen  Aufgaben,  die  das  rasch  geweckte 
('ulturbedürfnis  auf  dem  der  europäischen  Civilisation  jüngst  ge- 
wonnenen Boden  an  den  Jünger  der  Kunst  stellen  mnsste,  entfalten 
in  ihm  eine  überschwängliche  Vielseitigkeit  auf  Kosten  des  Gehalts 
der  einzelnen  Leistung,  und  was  an  Breite  gewonnen,  geht  oft  an  Tiefe 
verloren :  Caraval,  ursprünglich  Schlachtenmaler,  legt  sich  auf  Blumen- 
und  Plafondmalerei,  Rastrelli  der  Aeltere,  ursprünglich  Architekt  und 
Bildhauer,  wird  zugleich  Lehrer  der  Mechauik.  und  der  Porträtmaler 
Tannhauser  entwickelt  gar  in  seiner  neuen  Heimat  ein  neues  und  un- 
gemein lucratives  Talent  für  Reparatur  von  aller  Art  Uhren.  Hier 
und  da  tauchen  bereits  einheimische  russische  Talente  auf,  und  Peter 
nimmt  ihrer  sorgsam  wahr:  die  Brüder  Iwan  und  Roman  Nikitin, 
sowie  Matwejew  werden  zur  Erlernung  der  Malerei,  Jeropkin  und 
Issakow  zum  Studium  der  Architektur,  Korowin  um  die  Graveur- 
kunst zu  erlernen,  ins  Ausland  geschickt.  Das  Schicksal  dieser 
Pensionäre  Peters  ist  mit  wenigen  Ausnahmen  dunkel,  nicht  durch 
ihre  Schuld,  sondern  durch  den  Wechsel,  welchem  die  Geschicke 
Russlands  nach  dem  Tode  des  grossen  Zaren  unterlagen.  Schon 
zu  Peters  des  Grossen  Zeit  macht  sich  der  Gedanke  geltend,  dem 
Bedürfnisse  nach  Künstlern  durch  Errichtung  einer  eigenen  Kunst- 
akademie Rechuung  zu  tragen ;  die  Bemühungen  Awramows,  des 
Directors  der  ersten  Typographie  von  St.  Petersburg,  zuvörderst 
Peter  und  hernach  Katharina  I.,  letztere  durch  ein  interessantes 
und  noch  vorhandenes  Memoire,  die  Gründung  einer  vollständigen 
Akademie  der  Malkunst  betreffend,  zur  Schaffung  einer  einheimischen 
Pflegstätte  der  Kunst  zu  veranlassen,  blieben  einstweilen  erfolglos. 
Doch  fehlte  der  uuter  Katharina  I.  im  December  1725  ins  Leben 
gerufenen  Akademie  der  Wissenschaften  eine  besondere  Abtheilung 
für  die  Künste  nicht,  in  welcher  insbesondere  die  Pflege  der  Graveur- 
kunst im  Dienste  der  Wissenschaft  zu  Erläuterung  und  Belebung 
der  von  den  ersten  Akademikern  herrührenden  Editionen  ihre 
Stätte  fand. 

Unter  den  nächsten  Nachfolgern  Peters  des  Grossen  tritt  der 
allgemeine  Charakter  der  Kunst  in  der  ersten  Hälfte  des  18.  Jahr- 
hunderts, ihre  Aufgabe,  den  Grossen  dieser  Welt  Altäre  zu  er* 
richten,,  auch  in  Russland  immer  deutlicher  hervor.  Was  Peter  als 


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Die  Akademie  der  Künste  zu  St.  Petersburg. 


363 


unerlässlich  für  die  äussere  Repräsentation  des  jüngsten  Gliedes 
europäischer  Staatengemeinschaft  erachtet,  Kunst  und  Kunstgewerbe, 
sie  dienen  von  nun  ab  dem  prunkenden  Zeitvertreib  von  Hof  und 
Hofadel.  Die  Akademie  entwirft  in  ihrer  bereits  erwähnten  Kunst- 
abtheilung die  Pläne  für  Feuerwerk  und  Illumination,  für  das 
Arrangement  von  Festen  und  Lustbarkeiten  aller  Art;  es  war  die 
Zeit,  wo  der  Akademiker  und  Dichter  Tredjakowski  auf  Wolynskis 
Geheiss  seine  Ode  zu  Ehren  der  Feier  des  bekannten  Eispalastes 
dichtete,  die  Zeit,  wo  in  ganz  Europa,  von  Versailles  bis  Dresden 
und  St.  Petersburg  hin,  die  Welt  ein  einziger  grosser  Lustgarten 
geworden,  ein  ä  la  mode  zugestutztes  Tempe,  in  dem  die  modernen 
Olympier  in  sorgloser  Unbefangenheit  dem  Muster  der  antiken 
nachlebten.  Was  man  auch  über  die  französische  Aufklärungs- 
literatnr  des  18.  Jahrhunderts,  über  die  Voltaire,  Rousseau,  Diderot 
sagen  mag,  uuleugbar  bleibt,  dass  sie  in  das  bisher  ausschliesslich 
dem  Genuss  gewidmete  Leben  der  höheren  Klassen  ein  geistiges 
Ferment  hineingetragen,  welches,  wenn  auch  vielfach  in  verlogenen 
Humanitätscultus  ausartend,  doch  in  mehr  als  einer  Richtung  ver- 
edelnd gewirkt  hat.  Jener  Graf  Iwan  Iwanowitsch  Schuwalow, 
welcher  unter  der  Kaiserin  Elisabeth  I.,  als  am  Hofe  von  St. 
Petei*sburg  der  deutsch-holländische  Einfluss  dem  französisch-italie- 
nischen Platz  gemacht,  die  Akademie  der  Künste  gründete,  war 
einer  der  ersten  Grandseigneurs  Russlands,  die  den  Errungenschaften 
der  französischen  Aufklärungsphilosophie  ernstlich  nachgegangen, 
und  besass  unstreitig  tieferes  Verständnis  für  die  Bedeutung  west- 
europäischen Kunstlebens  und  die  hohe  Mission,  die  diesem  Kunst- 
leben auch  in  seinem  Vaterlande  zustehe.  Dem  Grafen  1. 1.  Schuwalow 
gelang  es  1757,  die  Regierung  zur  Annahme  seines  Plaues  der 
Gründung  einer  Kunstakademie  zu  bestimmen,  welche  letztere  auch 
in  der  That  1758  auf  Wassili-Ostrow  eröffnet  und  von  der  Krone 
einstweilen  mit  26000  Rbl.  jährlich  dotirt  wurde.  Was  in  alten 
Culturstaateu  Frucht  eines  reichen  Kunstlebens  ist,  die  Gründung 
einer  Akademie  der  freien  Künste,  das  sollte  in  Russland  mit  seinen 
von  oben  her  geschaffenen  neuen  Culturbedingungen  Ausgang  für 
die  Gestaltung  einer  einheimischen ,  nationalen  Kunst  werden. 
Wunderlich  und  den  Maximen  Peters  I.  entsprechend  sind  die  An- 
fänge der  petersburger  Akademie  :  wer  irgend  zur  Kunst  befähigt 
scheint,  wird  von  der  Universität  Moskau,  die  Schuwalow  im  Jahre 
1755  ins  Leben  gerufen  und  deren  Curator  er  war,  als  Schüler  in 
die  Kunstakademie  von  St.  Petersburg  versetzt,  die  etwa  noch  leer 


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364 


Die  Akademie  der  Künste  zu  St.  Petersburg. 


gebliebenen  Bänke  der  Lehrsale  des  Instituts  werden  mit  Soldaten- 
söhnen der  Residenz  gefüllt,  aber  ehrend  für  Schuwalows  Bestreben 
ist  doch  die  bewusste  Werthschätzung  des  geistigen  Gutes  um  seiner 
selbst  willen,  welche  aus  dem  vom  Gründer  der  Akademie  her- 
rührenden Reglement  derselben  spricht.  Ihre  8chüler  sollen  ins- 
gesammt  zur  Zahl  der  Freien  gehören;  kein  Leibeigener,  es  sei 
denn,  dass  sein  Herr  auf  das  Eigenthumsrecht  an  ihm  verzichtet, 
Aufnahme  finden,  Bestimmungen,  die  bedeutungsvoll  waren  in  einer 
Zeit,  wo  der  begüterte  russische  Landedelmann  sich  aus  seinen 
Leibeigenen  eine  ständige  Schauspielertruppe  oder  Musikcapelle  zu 
eigener  und  fremder  Belustigung  heranbildete,  oder  gar  die  intelli- 
genteren leibeigenen  Dienstboten  in  allerlei  Wissen  unterweisen 
liess,  um  sie  später  zu  Lehrern  und  Erziehern  der  eigenen  Kinder 
zu  machen.  Talentvolle  Schüler  —  so  bestimmte  ferner  das  Regle- 
ment der  Akademie  —  werden  behufs  weiterer  Ausbildung  von  der 
Krone  ins.  Ausland  geschickt;  nach  ihrer  Rückkehr  besitzen  sie 
ein  Anrecht,  bei  der  Akademie  Anstellung  zu  finden,  dürfen  jedoch, 
wofern  sie  dieses  vorziehen  sollten,  nach  eigener  Wahl  arbeiten 
oder  Dienste,  selbst  solche  in  auswärtigen  Staaten,  nehmen.  Die 
bei  der  Akademie  thätigen  Personen  sollen  zu  Arbeiten  für  den 
Allerhöchsten  Hof  nur  mit  eigener  Einwilligung  und  Erlaubnis  der 
Akademie  verwandt  werden.  Auch  die  Rechte,  welche  ein  bestan- 
denes Schlussexamen  dem  scheidenden  Schüler  gab,  waren  beträcht- 
lich ;  eine  Massnahme,  die  zu  jener  Zeit  um  so  mehr  geboten  er- 
schien, als  die  unteren  und  mittleren  Klassen  des  damaligen  Russ- 
land mit  unverhohlener  Verachtung  auf  den  Künstlerberuf  herab- 
zusehen pflegten.  Schuwalows  Schöpfung  trug  übrigens,  wenn  man 
von  einigen  durch  specitisch  nationale  Bedingungen  bestimmten 
Momenten  absieht,  ein  durchaus  französisches  Gepräge;  als  Muster 
hatte  ihr  die  pariser  Kunstakademie  gedient  und  Franzosen,  die 
Lorrain,  Gillet  u.  s.  w.,  waren  ihre  ersten  Lehrer.  Den  Bedürf- 
nissen der  Zeit  gemäss  wurde  ihr  ein  Gymnasium  beigegeben,  in 
dem  moderne  Sprachen,  Mathematik,  Geschichte  und  Geographie, 
sammt  russischer  Orthographie  tractirt  werden  sollten;  für  Ge- 
mäldegallerie  und  Bibliothek  sorgte  die  Munificenz  des  Grafen,  der 
ausser  einem  Theil  seines  Bücherschatzes  nicht  weniger  als  hundert 
Gemälde  der  eigenen  Bildersammlung  seiner  Schöpfung  spendete 
und  dafür  die  Genugtuung  hatte,  dass  die  Kaiserin  Katharina  II. 
gleich  nach  ihrer  Thronbesteigung  das  neu  geschaffene  Institut  mit 
ihrem  Besuche  beehrte  (28.  Juni  17(32).  —  Russland  besass  jetzt 


Die  Akademie  der  Künste  zu  St.  Petersburg.  365 


seine  eigene  Kunstakademie ;  nach  fremdem  Vorbilde  geschaffen  und 
in  der  ersten  Zeit  ihres  Bestehens  ausschliesslich  durch  fremde 
Kräfte  belebt  und  geleitet,  hat  sie  trotz  Indifferenz  der  Mehrzahl 
der  höheren  und  ausgesprochener  Abneigung  der  ganzen  Mittel- 
klasse —  soweit  im  damaligen  Russland  von  einer  solchen  die  Rede 
sein  kann  —  es  vermocht,  die  Keime  des  Kunstinteresses  allmäh- 
lich von  der  Hauptstadt  aus  in  die  entfernteren  und  künstlerisch 
vollkommen  rohen  Theile  des  Reichsinnern  zu  tragen. 

Es  ist  bekannt,  dass  die  politischen  Alchymisten  des  18. 
Jahrhunderts,  dass  all  die  glaubensseligen  Welt-  und  Menschheits- 
beglücker  der  tonangebenden  pariser  Salons,  von  Voltaire  bis  auf 
die  Encyklopädisten ,  in  dem  Russland  der  Kaiserin  Katharina  II. 
das  gelobte  Land  für  ihre  socialpolitischen  Experimente  erblickten. 
Hier  schien  das  wildgewachsene  Unkraut  feudaler  Ordnungen,  das 
planmässig  angelegte  Hecken-  und  Mauerwerk  hierarchischer  Orga- 
nisation ihren  Plänen  eines  eben  so  rationellen,  wie  imposanten  Neu- 
baues der  Gesellschaft  am  wenigsten  im  Wege  zu  stehen,  hier  hatte 
vor  nicht  allzu  langer  Zeit  ein  einzelner  Mann  es  vermocht,  einem 
ganzen  grossen  Volke  anscheinend  seine  Vergangenheit  abzunehmen 
und  es  wider  seinen  Willen  fest  eingefügt  in  eine  ihm  fremde  und 
von  Grund  aus  antipathische  Welt.  Jetzt  stand  au  der  Spitze  jenes 
wunderbaren  Reiches,  das  sich  von  der  Ostsee  bis  zum  Behrings- 
meer  erstreckte,  eine  Frau,  die,  zugänglich,  wie  es  schien,  den 
neuen  Weltbeglückungstheoremen,  dem  Glauben  der  französischen  Auf- 
klärer nach 1  nur  ein  Wort  zu  sprechen  brauchte,  um  dem  Menschen- 
geschlechte  in  ihrem  ungeheueren  Reiche  ein  neues  Paradies  zu 
schenken,  das  dauerhafter  wäre  als  das  alte. 

Es  war  der  Generallieutenant  ßetzkoi,  gewöhnlich  Betzki 
genannt,  ein  natürlicher  Sohn  des  Fürsten  Trubetzkoi,  dem  die 
Kaiserin  Katharina  II.  die  Aufgabe  zugewiesen,  die  Maximen  der 
ueuen  französischen  Pädagogik  in  ihrer  ganzen  Reinheit  auf  russi- 
schem Boden  zur  Anwendung  zu  bringen.  Der  Mensch  ist  ein 
Product  seiner  Erziehung ;  um  ein  vernünftiges  und  mithin  glück- 
liches Geschlecht  zu  erzielen,  hat  man  blos  nöthig  eine  gegebene 
Generation  von  möglichst  zartem  Alter  an  von  allen  schädigenden 
Einflüssen  abzusperren,  ihr,  getrennt  von  der  übrigen  Welt,  eine 
Erziehuug  im  Sinne  der  ewigen  und  unwandelbaren  Principien  der 
Vernunft  zu  geben  und  die  lächerliche  Fabel  von  der  sogenannten 


'  Und  nicht  uur  dieser,  sondern  auch  der  heimischen  Schwärmer.  D.  Red. 


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366  Die  Akademie  der  Künste  zu  St.  Petersburg. 

Erbsünde  wäre  aus  der  Welt  geschafft,  das  Reich  des  Lichtes  und 
der  Tugend  für  alle  Zukunft  dauernd  gegründet.  Das  jüngst  er- 
schienene Buch  des  Ministers  Grafen  Tolstoi  f  Geschichte  des 
akademischen  Gymnasiums»  giebt  eine  eingehende  Schilderung  der 
Betzkischen  Erziehungsmaximen  und  der  durch  sie  erzielten  Re- 
sultate in  letztgenannter  Anstalt,  und  Betzki  war  nicht  allein 
Präsident  der  Akademie  der  Wissenschaften,  der  das  Gymnasium 
beigegeben  war,  sondern  auch  Nachfolger  Schuwalows  in  der 
Präsidentschaft  der  Akademie  der  Künste  und  hatte  sein  System 
auch  in  der  dieser  letzteren  zugeordneten  Schule  in  Anwendung 
gebracht.  Als  Vorbereitungsanstalt  für  die  eigentliche  Kunst- 
akademie ward  ein  Lehr-  und  Erziehungsinstitut,  ein  Iuternat 
klösterlicher  Art  eingerichtet,  in  Welches  Kinder  von  dem  fünften 
bis  zum  sechsten  Lebensjahre  Aufnahme  fanden ;  in  drei  Alters- 
gruppen getheilt,  rückten  die  Zöglinge  in  je  drei  Jahre  dauernden 
Cursen  im  Laufe  von  15  Jahren  bis  zu  ihrem  Eintritt  in  die 
Akademie  herau,  deren  Absolvirung  wiederum  zwei  Curse  von  je 
drei  Jahren  in  Anspruch  nahm.  Die  Kinder,  aus  denen  sich  die 
Zöglinge  der  Erziehungsanstalt  rekrutirten,  wurdeu  dem  moskauer 
Findelhause  entnommen  oder  von  Leuten  aus  dem  niedrigen  Volke 
hergegeben,  da,  wie  schon  erwähnt,  die  mittleren  Klassen  auf 
Kunst  und  Künstlerberuf  mit  Mistrauen  und  Verachtung  herab- 
sahen. Französische  Lehrer,  französische  Gouverneure  und  Gouver- 
nanteu,  die  der  russischen  Sprache  gar  nicht  oder  doch  sehr  mangel- 
haft kundig,  schalteten  hier,  mangelhafter  Oontrole  unterworfen, 
und  es  wiederholten  sich  in  dem  der  Akademie  der  Künste  beige- 
gebenen Vorbereitungsinstitut  all  die  zahlreichen  durch  Rohheit 
und  Pflichtvergessenheit  des  Lehr-  und  Erziehungspersonals  hervor- 
gerufenen Misstände,  deren  Grat  Tolstoi  bei  seiner  Schilderung 
der  Anwendung  des  Betzkischen  Systems  auf  das  Akademische 
Gymnasium  gedenkt.  Ein  glücklicher  Gedanke  war  es,  dass  mau 
dem  Umstände,  dass  einige  Eleven  der  Erziehungsanstalt  wol  weder 
Lust  noch  Talent  für  die  bildenden  Künste  haben  könnten,  durch 
Gründung  von  Werkstätten  aller  Art  an  der  eigentlichen  Akademie 
Rechnung  getragen  ;  es  konnten  dergestalt  die  für  die  Kunst  un- 
tauglichen Zöglinge  nach  ihrem  Austritt  aus  dem  Erziehungs- 
institute sich  der  Uhrmacherei,  Drechslerei,  Kunsttischlerei,  der 
Instrumentenmacherei,  Schlosserei,  Giesserei  &c.  widmen.  Was 
die  Schüler  der  eigentlichen  Kunstakademie  betrifft,  so  befolgte 
man  auch  unter  dem  Regime  Betzkis  die  von  Schuwalow  inaugu- 


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Die  Akademie  der  Künste  zu  St.  Petersburg.  367 

rirte  Massnahme,  sie  nach  bestandenem  Examen  behufs  weiterer 
Ausbildung  ins  Ausland  zu  schicken,  bis  die  französische  Revolu- 
tion und  die  ihr  auf  dem  Fusse  folgenden  welterschütternden  Er- 
eignisse diesem  Verfahren  eine  Grenze  setzten.  Innerhalb  der 
Jahre  17G0 — 88  sind  im  ganzen  60  Schüler,  deren  Arbeiten  heute 
zum  Theil  die  Gallerie  der  Akademie  enthält,  auf  Kosten  der 
Regierung  ins  Ausland  geschickt  worden.  Aus  dem  von  der 
Kaiserin  Katharina  II.  gelegentlich  der  Grundsteinlegung  des  neuen 
Gebäudes  der  Akademie  —  es  ist  das  noch  heute  existirende  — 
dieser  letzteren  ertheilten  Privilegium  (Nr.  1764)  heben  wir  die 
erneuerte  Einschärfung  der  schon  aus  dem  Reglement  Schuwalows 
bekannten  Bestimmung  über  deu  Ausschluss  der  Leibeigenen  vom 
Künstlerberufe,  sowie  das  strenge  Verbot  hervor,  Künstler  der 
Akademie  oder  deren  Kinder  zu  Leibeigenen  zu  machen ;  die  frei- 
willige Verschreibung  eines  Künstlers  zu  Erb  und  Eigen  eines 
Anderen  solle  rechtsungiltig  sein,  die  Ehe  einer  Leibeigenen  mit  einem 
Künstler  der  ersteren  und  allen  aus  dieser  Verbindung  entsprosseneu 
Kindern  die  Freiheit  geben.  In  Betreff  der  Pensionäre  hebt  das 
Privileg  ausdrücklich  hervor,  dass  deren  auf  Kosten  der  Krone 
erfolgte  Entsendung  ins  Ausland  keine  Gegenleistung,  welcher  Art 
sie  auch  sei,  im  Gefolge  haben  solle,  sie  solle  nicht  den  Charakter 
der  Verpflichtung,  sondern  ausschliesslich  den  der  Anerkennung 
für  das  bereits  Geleistete  tragen.  Man  sieht,  die  grosse  Kaiserin 
verstand  es,  Kunst  und  Künstlern  das  Ihre  zu  geben. 

Indessen  machte  Betzki  mit  seinen  Erziehungsmaximen  nicht 
nur  in  der  Vorschule  der  Akademie  der  Künste,  sondern  auch  im 
Akademischen  Gymnasium  bedenklich  Fiasko,  in  den  letzten  Jahren 
der  Kaiserin  Katharina  II.  begann  überhaupt  eine  für  die  Akademie 
der  Künste  schlimme  Zeit,  Unredlichkeiten  der  Autoritäten  und 
Zügellosigkeiten  der  Schüler  führten  zu  wiederholten  Amtsentsetzun- 
gen und  Ausschliessungen,  und  doch  kann  man  sagen,  dass  der 
Hauptzweck  des  Instituts,  das  zu  seinen  Ehrenmitgliedern  einen 
Joseph  II.  und  Gustav  III.  von  Schweden  zählte,  auch  für  jene 
Zeit  nicht  unerreicht  blieb,  indem  die  künstlerische  Anregung,  die 
von  ihm  ausging,  sich  nicht  allein  unter  dem  hohen  russischen 
Adel,  sondern  auch  in  immer  weiteren  Kreisen  geltend  machte. 
Berühren  wir  hier  in  aller  Kürze  die  auf  einander  folgenden 
Präsidentschaften,  des  Nachfolgers  Betzkis,  Grafen  Mussin  Puschkin, 
der,  ein  unerhörtes  Exempel  für  die  damalige  Gesellschaft,  aus 
eigenen  Mitteln  eine  Prämie  von  200  Rubeln  für  das  beste  Kunst- 


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368  Die  Akademie  der  Künste  zu  St.  Petersburg. 

werk  aussetzte,  des  französischen  Emigranten  Grafen  Choiseul 
Gouffier  und  des  Grafen  Stroganow,  welche  in  das  Ende  der 
Regierung  Katharinas  II.  und  in  die  der  Kaiser  Paul  I.  uud 
Alexander  I.  fallen.  —  Der  Einfluss  J.  J.  Rousseaus  hatte  am 
Schluss  des  Jahrhunderts  auch  in  Russland  das  Interesse  für  Land- 
schaft und  Landschaftsmalerei  geweckt.  Kaiser  Paul  theilte  dieses 
Interesse  in  hohem  Grade  und  gab  dadurch  Veranlassung  zur  Grün- 
dung einer  besonderen  landschaftlichen  Kupferstecherei  bei  der 
Akademie  der  Künste.  In  Betreff  des  Betzkischen  Systems  einer 
Brütofenerzieliung  stellte  sich  bei  Regierung  und  Gesellschaft  all- 
mählich eine  skeptische  Haltung  ein  ;  der  Gedanke,  das  Kind  von 
der  Fülle  der  Bedingungen,  die  das  Menschenloos  bestimmen,  herme- 
tisch abzuscliliessen,  eine  phantasieertödtende  Erziehjing  für  die 
gerade  dem  künftigen  Künstlerberuf  vorzüglich  zweckentsprechende 
zu  erachten,  konnte  denn  doch  vor  Erfahrung  und  psychologischer 
Einsicht  auf  die  Dauer  nicht  stichhaltig  bleiben,  und  dennoch  ist 
der  Uebergang  zu  neuen  Erziehungsmaximen  nur  ein  sehr  all- 
mählicher. —  Der  Vicepräsident  Bashenow  —  im  Jahre  1799  war 
der  Posten  eines  Vicepräsidenten  der  Akademie  geschaffen  worden 
—  legt  Kaiser  Paul  I.  ein  Memoire,  betreffend  die  Widersinnigkeit 
des  Betzkischen  Systems  vor,  aber  erst  die  Erziehungsstatuten  des 
Jahres  1802  brachten  unter  Alexanderl.  eine  Milderung  desselben, 
indem  der  Kaiser  verfügte,  dass  künftighin  Kinder  nicht  vor  dem 
achten  oder  neunten  Jahre  iu  die  Vorschule  der  Kunstakademie 
aufgenommen  werden  sollten.  Die  lange  unterlassene  Entsendung 
fähiger  Schüler  ins  Ausland  wird  vom  Präsidenten  Grafen  Stroganow 
bei  zeitweiliger  Aufheiterung  des  politischen  Horizontes  wieder 
aufgenommen,  muss  aber  bald  wieder  eingestellt  werden,  da  der 
Krieg  von  1812  sie  schon  in  Ansehung  der  durch  ihn  ganz  in  An- 
spruch genommenen  Finanzen  untersagt.  Wichtig  für  jene  Zeit 
ist  vorzüglich  die  Thatsache,  dass  die  bis  dahin  geltende  ausschliess- 
liche Nachahmung  fremder,  insbesondere  französischer  und  italieni- 
scher Kunstschöpfuugen  bei  der  damaligen  Isolirtheit  Russlands 
vom  Westen  wenigstens  vorübergehend  dem  Bestreben  Platz  macht, 
das  Einheimisch-Nationale  künstlerisch  zu  würdigen  und  zu  ver- 
werthen,  und  zugleich  der  Wirkungskreis  der  Akademie  sich  er- 
weitert, indem  die  Regierung  gelegentlich  alles  dessen,  was  mit  Bei- 
hilfe der  Kunst  in  den  Provinzen  zu  schaffen  war,  sich  an  die  petens- 
burger  Akademie  zu  wenden  beginnt.  Indes,  die  Zeit  der  grossen 
Napoleonischen  Kriege  konnte  dem  Gedeihen  der  Kunst  in  Russ- 


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Die  Akademie  der  Künste  zu  St.  Petej-sburg.  369 

land  und  also  auch  dem  der  Akademie  nicht  förderlich  sein,  Un- 
ordnungen in  der  Administration,  Anhäufung  von  Schulden,  durch 
die  Zeitverhältniase  gebotene  Beschränkung  des  Etats  lassen  die 
Vicepräsidentschaft  Tschekalewskis  1811  —  1817  als  eine  der  schlimm- 
sten Zeiten  erscheinen,  welche  die  inzwischen  dem  neugeschaffenen 
Ministerium  der  Volksauf klärung  unterstellte  Akademie  der  Künste 
durchgemacht,  und  erst  die  Präsidentschaft  Olenins  1817—1843, 
die  allerdings  von  einem  etwas  weit  gehenden  Bureaukratismus 
nicht  freizusprechen,  brachte  ihr  wenigstens  die  conditio  sine  qua 
nun  ihres  Bestehens,  die  Ordnung  in  Administration  und  Finanzen 
und  hat  daneben  noch  das  grosse  Verdienst,  die  schon  früher  wieder- 
holt durch  Gesetze  eingeschärfte  Bestimmung,  welche  den  Leib- 
eigenen den  Eintritt  in  die  Akademie  versagte,  zu  end gütiger 
Geltung  gebracht  zu  haben.  Immer  -wieder  war  früher  durch  die 
Schwäche  der  Directoren  diese  Bestimmung  umgangen  worden, 
nicht  zu  Gunsten  der  Akademie  und  noch  weniger  zu  dem  ihrer 
leibeigenen  Schüler,  von  denen  viele,  die  bei  Vollendung  ihrer 
Studien  seitens  ihres  Leibherrn  die  Freiheit  nicht  erlangen  konnten, 
dem  Trünke  verfielen  oder  sich  das  Leben  nahmen. 

Die  Kunstliebe  des  Kaisers  Nikolaus  ist  bekannt ;  der  Besuch, 
mit  dem  er  1829  die  Akademie  der  Künste  beehrte,  hatte  deren 
Ueberführung  aus  dem  Ressort  des  Ministeriums  der  Volksaufklä- 
rung in  das  des  Hofministeriums  und  ihre  Unterstellung  unter  das 
unmittelbare  Protectorat  des  Kaisers  zur  Folge,  und  die  Consequenzen 
dieses  für  die  Akademie  so  ungemein  wichtigen  Actes  Hessen  nicht 
lange  auf  sich  warten.  Sie  waren  theils  finanzieller,  theils  organi- 
satorischer Art.  Die  neuen  Statuten  von  1830  hoben  das  Internat 
für  Erziehung  jüngerer  Zöglinge,  das  Gesetz  vom  4.  Mai  1840  die 
Gymnasialklassen,  d.  h.  den  bei  der  Akademie  ertheilten  Schul- 
unterricht auf,  und  die  Lehrtätigkeit  der  Akademie  hat  sich  seit- 
dem auf  den  praktischen  Unterricht  in  den  schönen  Künsten  uud 
einige  kunsttheoretische  Vorlesungen,  wie  die  über  Anatomie  und 
Kunstgeschichte  beschränkt.  Das  jährliche  Budget  des  Instituts 
wurde  auf  221825  Rbl.  erhöht,  und  der  rege  Antheil,  den  der 
Kaiser  selbst  durch  wiederholte  Besuche,  reichliche  Bestellungen 
und  Stipendienspenden  an  der  Thätigkeit  der  Akademie  nahm,  konnte 
nicht  verfehlen  anspornend  auf  ihre  Leistungen  einzuwirken.  Ein 
Aufschwung  künstlerischen  Schaffens  war  unverkennbar,  wir  brauchen 
hier  nur  auf  die  Namen  eines  Brüllow,  Feodotow,  Bruni,  Schtsche- 
drin  &c.  hinzuweisen.    Auch  das  Innere  des  Reiches  ward  mehr 


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370 


Die  Akademie  der  Künste  zu  St.  Petersburg. 


und  mehr  in  den  Kreis  der  Thätigkeit  der  Akademie  gezogen,  deren 
Lehrer  und  Schüler  dasselbe  künstlerisch  verwerteten  und  daselbst 
den  Samen  des  Kunstinteresses  streuten.  Kunstinstitute  beginnen 
aus  privater  Initiative  in  der  Provinz  hervorzugehen  ;  zu  der  schon 
in  den  zwanziger  Jahren  eröffneten  Stupinschen  Zeichen-  und  Mal- 
schule in  Arsamass  (Gouvernement  Ssamara)  gesellen  sich  die 
Nadeshdinsche  Schule  in  Koslow,  die  Tschirikowsche  in  Woronesh, 
vor  allem  die  Kunstklasse  in  Moskau,  heute  die  Schule  für  Malerei 
und  Sculptur  und  die  c Gesellschaft  zur  Aufmunterung  der  Künstler» 
in  Petersburg.  Olenin  war  der  letzte  Präsident  der  Akademie  ge- 
wesen, welcher  der  Zahl  der  blossen  Würdenträger  angehörte;  seit 
seinem  1843  erfolgten  Tode  haben  Glieder  der  kaiserlichen  Familie 
als  Präsidenten  die  Interessen  der  Akademie  der  Künste  vertreten. 
Es  war  eine  besoudere  Gunst  des  Kaiser  Nikolaus,  dass  er  seinen 
Schwiegersohn,  den  Herzog  Maximilian  von  Leuchtenberg,  einen 
Sohn  des  kunstsinnigen  ehemaligen  Vicekönigs  von  Italien,  dessen 
nach  Russland  übergeführte  Gemäldegallerie  eine  der  schönsten 
Zierden  der  Museen  der  Petersburger  Akademie  bildet,  am  24.  Mai 
1843  zum  Präsidenten  der  Kunstakademie  machte ;  konnte  der  neu 
ernannte  Präsident  dem  seiner  Obhut  anvertrauten  Institut  gleich 
wenig  Zeit  widmen,  so  stand  ihm  doch  als  Vicepräsident  in  der 
Person  des  Grafen  F.  P.  Tolstoi  ein  Mann  zur  Seite,  der  durch 
künstlerische  Bildung  und  regen  Antheil  an  den  Interessen  der 
Kunst  für  die  Entwicklung  der  Akademie  von  grosser  Bedeutung 
geworden  ist.  —  In  den  vierziger  und  fünfziger  Jahren  sehen  wir 
die  Regierung  in  Betreff  der  sonst  ins  Ausland  gesendeten  Zöglinge 
der  Akademie  eine  neue  und  originelle  Praxis  befolgen,  der  maleri- 
sche Kaukasus  sollte  an  Stelle  des  damals  revolutionären  West- 
europa die  hohe  Schule  vielversprechender  Kunstjünger  werden  und 
mag  auch  wirklich  für  den  Schlachten-  und  Genremaler  wie  für  den 
Landschafter  manch  glückliches  Motiv  geboten  haben.  Nachfolgerin 
des  Herzogs  von  Leuchtenberg,  in  dessen  Todesjahr  1852  die  Ein- 
weihung des  prachtvollen  neuen  Gebäudes  der  Eremitage  fällt, 
ward  seine  hohe  Gemahlin,  die  Grossfürstin  Marie  Nikolajewna, 
1852—1876,  unter  deren  Präsidentschaft  die  gelegentlich  des  Baues 
der  Isaakskathedrale  angeregten  und  durch  den  Kunstmäcen  Fürsten 
G.  G.  Gagarin  geförderten  Bestrebungen,  die  byzantinische  Heiligen- 
malerei als  Unterrichtsgegenstand  bei  der  Akademie  einzuführen, 
fallen,  Bestrebungen,  welche  die  Gründung  des  Museums  für  alt- 
christliche Kunstdenkmäler  bei  der  Akademie  zur  Folge  hatten. 


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Die  Akademie  der  Künste  zu  St.  Petersburg. 


371 


Wichtiger  für  jene  Zeit  sind  die  1859  bestätigten  neuen  Statuten, 
die  das  Gesetz  von  1840  wesentlich  modificiren,  indem  sie  der 
theoretischen  Vorbildung  des  Künstlers  durch  Einrichtung  von  Vor- 
lesungen allgemein  bildender  oder  fachwissenschaftlicher  Art  und 
Verpflichtung  der  Zöglinge  der  Akademie  zum  Besuche  derselben 
wieder  energischer  Rechnung  zu  tragen  suchen.  Die  Statuten  ver- 
fügten ferner  die  Uebertragung  des  im  Gebiete  wissenschaftlichen 
Unterrichts  geltenden  Systems  eines  Parallelismus  wissenschaftlicher 
Grade  und  staatlicher  Rangstufen  auf  das  des  künstlerischen,  dem 
zufolge  die  Schüler  der  Akademie  mit  der  sogenannten  grossen 
silbernen  Medaille  den  Rang  des  Collegienregistrators,  mit  der 
kleinen  goldenen  den  des  Gouverneinentsseci  etärs,  mit  der  grossen 
goldenen  den  des  Collegiensecretärs  erwerben  sollten.  Ein  Auf- 
nahmeexamen, in  seinen  Anforderungen  etwa  denen  einer  Mittel- 
klasse des  Gymnasiums  entsprechend  und  ausserdem  ein  gewisses 
Mass  von  Fertigkeit  im  Zeichnen  erfordernd,  sollte  fürderhin  Be- 
dingung des  Eintritts  sogenannter  <  Akademisten»  in  die  Akademie 
bilden;  sogenannte  «freie  Zuhörer»  wurden  unter  ausschliesslichem 
Vorbehalt  von  Rechten  und  Privilegien  für  die  eigentlichen  Schüler 
der  Akademie  gegen  Entrichtung  von  25  Rbl.  zum  Kunstunterrichte 
zugelassen. 

Eine  derartige  Sichtung,  der  die  Aspiranten  zum  Eintritt  in 
die  Akademie  seit  dem  Jahre  1859  unterlagen  und  die  1881  durch 
die  Bestimmung,  welche  diesen  Eintritt  an  die  Absolvirung  eines 
Abiturientenexamens  knüpfte,  noch  beträchtlich  verschärft  wurde, 
erklärt  zum  Theil  wenigstens  die  seit  1859  erfolgte  beträchtliche 
Abnahme  der  Frequenz  des  Instituts,  welches  bei  666  Schülern 
im  Jahre  1859  1866  nur  433  und  am  4.  November  1885  gar 
blos  323  zählte.  Klagen  über  mangelnde  allgemeine  Bildung 
unter  den  jüngeren  russischen  Künstlern  haben  wesentlich  die 
Regierung  zu  den  betreffenden  Massnahmen  der  Jahre  1859 
und  1881  veranlasst.  —  Die  Präsidentschaft  Sr.  kaiserlichen 
Hoheit  des  Grossfürsten  Wladimir  Alexandrowitsch,  weicher  bereits 
1869  an  Stelle  des  Grafen  Tolstoi  zum  Adjuucten  der  Präsidentin 
und  1876  zum  Präsidenten  ernannt  wurde,  ist  durch  zahlreiche 
Massnahmen  bezeichnet,  die,  unter  Vermittlung  der  Kunstakademie 
ins  Werk  gesetzt,  die  Verbreitung  von  Kunst  und  Kunstinteresse 
im  Reich  zum  Zwecke  hatten.  Wir  nennen  hier  die  Bemühungen 
um  Hebung  des  Zeichenunterrichts  in  allen  Instituten  des  Ministe- 
riums der  Volksaufklärung  und  in  denen  der  Kaiserin  Maria,  die 


372         Die  Akademie  der  Künste  zu  St.  Petersburg. 

Schöpfung  von  Wanderausstellungen  und  Kunstmuseen  in  der 
Provinz,  die  Gründnng  periodischer  Zeitschriften  zur  Pflege  der 
schönen  Künste  (B^cthmk  e.  Haamnuxi  hckvctm,  und  XyAOxecTBeHimfl 
hobocth)  und  die  Bemühungen  um  Katalogisirung  und  zweckent- 
sprechende Anordnung  der  Kunstsammlungen  der  Akademie,  welche 
lange  Zeit  nicht  einmal  den  an  ihr  wirkenden  Lehrern  recht  zu- 
gänglich waren. 

Bücher,  wie  das  Hasselblattsche,  haben  der  Mehrzahl  ihrer 
Leser  gegenüber  keinen  leichten  Stand;  der  Verfasser  mag  sie  noch 
so  sehr  daran  erinnern,  dass  es  ihm  nicht  sowol  um  eine  Darstel- 
lung der  Geschichte  der  Kunst  in  Russland  oder,  wenn  man  die 
Gegenwart  und  jüngste  Vrgangeuheit  in  Betracht  zieht,  um  eine  Schil- 
derung russischer  Kunst,  als  um  eine  solche  der  Mittel  und  Maximen 
zu  thun  ist,  deren  sich  die  Regierung,  entsprechend  ihrem  jeweili- 
gen Charakter,  zur  Kunstförderung  bedient  hat  —  der  Leser  wird 
sich  schwer  zufrieden  geben.  Denn  wer  ein  Buch,  welches  das 
Wort  Kunst  auf  seinem  Titel  tragt,  aufschlägt,  erwartet  nun  ein- 
mal mit  geistigem  Auge  zu  sehen,  und  wenn  Basselblatt  gleich 
hin  und  wieder  uns  ein  russisches  Kunstwerk  nennt  oder  eine  vor- 
zugsweise bezeichnendeEntwickelungsphase  russischen  Kunstschaffens, 
wie  es  die  ist,  deren  Beginn  sich  an  den  Namen  Iwanows  knüpft, 
schildert,  so  können  derartige  Charakteristiken  und  Schilderungen 
doch  nur  episodischer  Art  sein  und  müssen  dem  verwaltungsrecht- 
lichen Elemente,  das  den  Grundton  des  Ganzen  bestimmt,  gegen- 
über völlig  zurücktreten.  Es  ist  deshalb  eine  Ergänzung  des 
Buches  dringend  wünschenswerth,  und  hoffen  wir,  dass  Hassel blatt 
seiner  Geschichte  der  Akademie  in  Bälde  eine  entsprechende  Kunst- 
geschichte folgen  lasse.  —  Was  die  formale  Behandlung  betrifft,  so 
ist  das  Bestreben  des  Verfassers,  dem  oft  etwas  spröden  Stoff  die 
künstlerische  Abrundung  zu  geben,  unverkennbar;  das  Buch  liest 
sich  im  ganzen  durchaus  angenehm,  hie  und  da  hat  uns  ein  Satz 
als  etwas  aufdringlicher  Deuunciant  tagespresslicher  Gewohnheiten 
stutzig  gemacht;  so  8.  11 :  «Die  Technik  (die  byzantinische  näm- 
lich) steckte  noch  immer  in  den  Kinderschuhen,  in  denen  sie  aus 
Konstantinopel  hinübergetragen  wurde»  —  der  Relativsatz  ist  be- 
kanntlich ein  eingefleischter  Realist  und  geschworener  Feind  der 
Metapher.  S.  6:  «Gleich  dem  Christenthum  verdankt  das  russische 
Volk  jegliche  Aufklärung  in  den  ältesten  Zeiten  seiner  Geschichte 
—  Byzanz. »  Unerfindlich  ist,  weshalb  der  Verfasser  den  Byzantiner 
Basilius  S.  7  zu  einem  Wassili  macht.    «Peter  beschloss,  junge 


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Die  Akademie  der  Künste  zu  St.  Petersburg. 


373 


Russen  auf  Kosten  seiner  Schatulle  ins  Ausland  zu  schicken», 
eVor  allem  fiel  schon  die  geplante  glänzende  Feier  des  hundert- 
jährigen Jubiläums  der  Akademie  ins  Wasser,  oder  wenigstens- nur 
ganz  bescheiden  aus».  Wenn  es  S.  2  heisst,  dass  das  Culturleben 
Russlands  erst  seit  den  Zeiten  Peters  datire,  und  gleich  darauf 
S.  7  der  Cultureinflüsse  von  ßyzanz  auf  Kirchen-  und  Profanstyl 
des  mittelalterlichen  Russland  gedacht  wird,  so  ist  das  ja  durch 
blosses  Vergessen  eines  Beiwortes  hinlänglich  entschuldbar,  frappirt 
aber  durch  enge  Nachbarschaft.  Das  alles  sind  Dinge,  auf  die  wir 
hier  im  Interesse  des  Verfassers,  der  gewiss  in  der  Lage  sein  wird, 
sein  Buch  in  erneuerter  Auflage  erscheinen  zu  lassen,  hinzuweisen 
für  geboten  erachteten.  Der  Verleger  hat  das  Seinige  gethan,  dem 
c  historischen  Ueberblick»  eine  elegante  äussere  Erscheinung  zu 
geben,  die  beigegebenen  Stiche,  die  heutige  Akademie  der  Künste, 
ihre  inneren  Räumlichkeiten,  Pläne  u.  s.  w.  darstellend,  sowie  die 
die  Abschnitte  einführenden  und  abschliessenden  Vignetten  sind 
hübseh  und  sauber  ausgeführt.  Für  einen  Neudruck  erlauben  wir 
nur  zu  empfehlen,  die  Gedankenstriche  nicht  unmittelbar  zwischen 
zwei  Worte  zu  zwängen.  —  Verfasser  und  Verleger  haben  ihr 
Werk  Ihrer  Kaiserl.  Hoheit  der  Grossfürstin  Maria  Pawlowna  ge- 
widmet. Th.  P. 


Aoaaoieao  uea3jrpoD.  —  Peiieib,  15-ro  Aopufl  1887  r. 

Gedruckt  bei  Lindfora  Erbon  in  ReraL 


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Die  Generation  vor  uns. 


ie  baltische  Provinzial-  und  Landesgeschichte  hat  eine 
nicht  ganz  unbedeutende  Zahl  von  Mannern  aufzuweisen, 
die  über  das  Mittelmass  hervorragten  und  ihren  Namen  ein  blei- 
bendes Gedächtnis  erwarben.  Während  der  beiden  letzten  Jahr- 
hunderte ist  die  Reihe  dieser  Begünstigten  besonders  ansehnlich 
gewesen.  Die  Namen  Patkul,  ßiron,  G.  E.  Loudon,  J.  J.  Sievers, 
Barclay  de  Tolly,  Todleben,  M.  R.  Lenz,  K.  E.  von  Baer  gehören 
einem  verhältnismässig  kurzen  Zeitraum  an,  haben  innerhalb  des- 
selben aber  so  vollen  Klang  gehabt,  wie  diejenigen  der  meist  ge- 
nannten Staatsmänner,  Generale  und  Gelehrten  ihrer  Zeitgenossen- 
schaft. Sieht  man  näher  zu,  so  findet  man  indessen,  dass  —  den 
einzigen  Patkul  ausgenommen  —  die  berühmteren  unserer  Lands- 
leute für  ihre  specielle  Heimat  von  ungleich  geringerer  Bedeutung 
gewesen  sind,  als  gewisse  Männer,  deren  Namen  kaum  jemals  über 
den  Narew  und  den  Njemen  hinausdrangen.  Es  hat  das  eines- 
theils  daran  gelegen,  dass  für  gewisse  Thätigkeiten  innerhalb  des 
Rahmens  unserer  Provinzialentwickelung  kein  Spielraum  vorhanden 
war,  anderenteils  an  der  Anziehungskraft,  welche  grösser  und 
reicher  entwickelte  Verhältnisse  für  bedeutend  angelegte  Menschen 
zu  haben  pflegen,  lieber  die  Thatsache  selbst  ist  eine  Verschieden- 
heit der  Meinungen  nicht  möglich.  Den  bekanntesten  der  oben  ge- 
nannten Namen  begegnet  man  auf  den  Blättern  der  Provinzial- 
geschichte  überhaupt  nicht  oder  nur  beiläufig,  während  unter  den 
Urhebern  der  grössten  innerhalb  Landes  gemachten  Fortschritte 
kein  einziger  zählt,  der  es  auch  nur  zum  Schatten  europäischer 
Berühmtheit  gebracht  hätte.    Indessen  London  die  Welt  mit,  seinem 

BtUtMke  MonaLafhrifl,  Hand  WX1V,  Heft  5.  25 


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376 


Die  Generation  vor  uns. 


Ruhm  erfüllte,  Graf  Sievers  die  Geschicke  Polens  in  Händen  hielt, 
hiess  am  heimischen  Herde  C.  F.  Schoultz  von  Ascheraden  «der 
Mann  des  Landes»,  Rathsherr  Berens  <der  Mann  der  Stadt».  In 
den  Annalen  zweiten,  geschweige  denn  ersten  Ranges  wird  man 
diese  Namen  ebenso  vergeblich  suchen,  wie  diejenigen  der  Vor- 
kämpfer unseres  Aufklärungszeitalters.  Karl  Gottlob  Sonntag. 
Sivers-Ranzen,  Graf  Mellin  sind  der  Weltgeschichte  ebenso  unbe- 
kannt geblieben,  wie  J.  C.  Schwartz  und  A.  W.  Hupel;  nicht  ihren 
Verdiensten  um  die  Förderung  unserer  Bildung  und  Cultur,  son- 
dern den  Diensten,  welche  sie  Herder  erweisen  durften,  haben 
Berens  und  Hartknoch  ihre  beiläufige  Nennung  in  der  Literatur- 
geschichte zu  danken,  und  wenn  in  derselben  von  Lenz  die  Rede  ist, 
wird  nicht  der  livländische  Generalsuperintendent,  sondern  der  un- 
glücklichste von  dessen  Söhnen  gemeint:  Herr  Garlieb  Merkel  aber 
heisst  niemals  «Verfasser  der  Letten»,  sondern  höchstens  «der  Mann, 
der  gegen  Goethe  geschrieben».  Aber  nicht  das  allein;  dank  der  Enge 
und  Festigkeit  der  um  das  Pro vinzial  leben  jener  Zeit  gezogenen  Schran- 
ken blieben  manche  in  der  halben  Welt  bekannt  gewordenen  Liv-,  Erst- 
und Kurländer  ihrem  Heimatlande  homines  obscuri.  Dass  einer  der 
hervorragendsten  Marschälle  Ludwigs  XIV.  ausRoop,  der  berühmteste 
österreichische  Feldherr  des  späteren  18.  .Jahrhunderts  aus  Tootzen 
stammte,  ging  an  der  Mehrzahl  ihrer  L  indsleute  so  spurlos  vor- 
über, dass  noch  in  den  achtziger  Jahren  Urtheile,  wie  «aus  einem 
ausländischen  Feldmarschall  machen  wir  uns  nichts»,  möglich  waren 
und  dass  Goethes  genialer  Jugendfreund  der  eigenen  Familie  Zeit 
seines  Lebens  für  den  verlorenen  Sohn  eines  ausgezeichneten  Vaters 
galt.  Und  selbst  später,  als  die  Berührungen  zwischen  unserer 
kleinen  und  der  grossen  Welt  häufiger  und  lebhafter  zu  werden 
begannen,  kam  es  vor,  dass  so  viel  genannte  Männer,  wie  die  Publi- 
cisten  Lindner  und  Jochmann  und  der  Archäologe  Stackelberg,  nir- 
gend unbekannter  waren  als  in  der  eigenen  Heimat.  In  dieser 
wie  in  anderer  Rücksicht  machte  sich  geltend,  dass  unsere  Gewohn- 
heit, Separatconten  zu  führen,  nicht  nur  mit  Vortheilen,  sondern 
auch  mit  Nachtheilen  verbunden  war.  Die  den  Rahmen  unseres 
Provinziallebens  hinausgewachsenen  Figuren  haben  beinahe  aus- 
nahmslos ihre  Maler  gefunden.  Anders  diejenigen,  die  ausschliess- 
lich die  unsrigen  geblieben  sind.  Es  mag  darum  gestattet  sein, 
auf  den  nachstehenden  Blättern  ausschliesslich  von  den  letzteren 
zu  handeln. 

Wie  allenthalben,  haben  auch  bei  uns  Zeiten  der  Reichlich- 


Die  Generation  vor  uns. 


377 


keit  mit  denen  der  Armuth  gewechselt  und  ist  die  Zahl  hervor- 
ragender Söhne  des  Landes  bald  grösser,  bald  geringer  gewesen. 
Auf  das  Zeitalter  der  ausgezeichneten  Persönlichkeiten,  welche  den 
Entwicklungsgang  der  Pauluccischen  Periode  bestimmten,  folgte 
während  der  nächsten  beiden  Jahrzehnte  ein  Regiment  von  Mittel- 
mässigkeiten,  die  den  schwierigen  an  sie  gestellten  Aufgaben  nicht 
gewachsen  waren  und  deren  Schwäche  mit  der  Stärke  ihrer  Vor- 
gänger in  verhängnisvollem  Zusammenhang  stand.  Die  Gunst  der 
Zeiten  Kaiser  Alexanders  I.  und  seines  rigaer  Vertrauensmannes 
hatte  einen  Optimismus  gross  gezogen,  der  an  den  durch  die  Mängel 
des  Emancipationsgesetzes  von  1819  hervorgerufenen  Schwierig- 
keiten arglos  vorüberging,  einen  Umschlag  der  Verhältnisse  für 
ausgeschlossen  hielt  und  der  schliesslich  kaum  mehr  vou  Theilnahm- 
losigkeit  zu  unterscheiden  war.  Die  Vertrauensseligkeit  und  Selbst- 
zufriedenheit der  Väter  waren  auf  Söhne  übergegangen,  denen  im 
übrigen  die  entscheidenden  Tugenden  des  früheren  Geschlechtes 
fehlten.  So  war  man  um  die  Mitte  des  Jahrhunderts  einem 
Rankerott  nahegekommen,  dessen  thatsächl icher  Eintritt  allein  da- 
durch abgewendet  werden  konnte,  dass  im  letzten  entscheidenden 
Augenblick  die  rechten  Männer  plötzlich  da  waren  und  in  die 
Bresche  sprangen.  Genannt  brauchen  dieselben  auch  heute  nicht 
zu  werden.  Wenn  auch  vielfach  ins  Schwanken  gerathen,  ist  die 
Tradition  des  Landes  immer  noch  fest  genug  geblieben,  um  den 
Namen  derer,  die  die  provinzielle,  städtische  und  kirchliche  Haupt- 
arbeit der  letzten  vierziger  und  ersten  fünfziger  Jahre  besorgten, 
bei  den  Nachfahren  ein  Gedächtnis  zu  sichern. 

Um  den  Verdiensten  der  leitenden  Männer  unserer  vierziger 
und  fünfziger  Jahre  gerecht  werden  zu  können,  muss  man  die  Ver- 
hältnisse, unter  denen  dieselben  emporkamen,  bis  ins  einzelne 
kennen.  Kaum  jemals  früher  haben  zwischen  zwei  auf  einander 
folgenden  Generationen  so  tiefgehende  Verschiedenheiten  bestanden, 
wie  zwischen  der  unsrigen  und  der  vorigen.  Das  beste  Theil  desseu, 
was  wir  als  Besitz  und  Errungenschaft  der  letzten  fünfundzwanzig 
Jahre  rühmen  dürfen,  fehlte  jenen,  während  ihre  entscheidenden 
Vorzüge  uns  versagt  geblieben  sind.  Beruhte  die  öflentliche 
Leistungsfähigkeit  allein  oder  vornehmlich  auf  rationeller  Thei- 
lung  der  Arbeit,  fachmässiger  Abgrenzung  der  von  den  Einzelnen 
übernommenen  Aufgaben,  auf  systematischer  Vorbildung  und  schnl- 
gerechter  Fähigkeit  zu  planraässigem  Zusammenwirken,  so  müsste 
jeder  Vergleich  zwischen  Sonst  und  Jetzt  ausgeschlossen  erscheinen. 


378 


Die  Generation  vor  uns. 


Auf  einen  leidlichen  Arbeiter  von  damals  kommt  deren  gegen- 
wärtig ein  Dutzend,  auf  ein  Dutzend  Männer  von  geschlossener 
akademischer  Bildung  die  zehnfach  stärkere  Zahl.  Wer  theoretische 
Vorbereitung  auf  die  öffentliche  Thätigkeit  überhaupt  für  noth- 
wendig  hielt,  glaubte  zu  damaliger  Zeit  durch  Absolvirung  des 
Cursus  der  dorpater  Juristenfacultät  das  Seiuige  gethan  zu  haben. 
Wie  gering  die  Zahl  derer  war,  die  auch  nur  dieser  Pflicht  ge- 
nügten, ist  aus  Osenbrüggens  viel  citirter  Abhandlung  (Inland,  Jahrg. 
1848,  Nr.  42)  ebenso  bekannt,  wie  dass  verschiedene,  heute  für  un- 
entbehrlich gehaltene  Disciplinen  vor  dreissig  .Jahren  überhaupt 
nicht  getrieben  wurden.  Volkswirtschaftslehre  und  Statistik  galten 
für  brodlose  Künste,  deren  Erlernung  man  den  sogen.  Cameralisten 
überliess  und  von  deren  Bedeutung  für  das  Staats-,  Provinzial-  und 
Communalleben  nur  wenige  eine  Vorstellung  besassen.  Geschicht- 
liche Studien  wurden  alle  Zeit  mit  einer  gewissen  Vorliebe,  zu- 
meist indessen  unmethodisch  und  in  belletristischer  Absicht  getrie- 
ben ;  bei  Napiersky  und  Bunge  sind  eigentlich  erst  die  Enkel  ihrer 
Zeitgenossen  in  die  Schule  gegangen.  Unter  den  Berufenen  aber 
bildete  die  Zahl  der  Halbstudirten  immer  noch  eine  begünstigte 
Minderheit,  —  die  Mehrheit  hatte  bereits  mit  der  Schulbank  von  allem 
Studium  Abschied  genommen  und  die  entscheidenden  Lebensjahre 
auf  dem  Husaren-  oder  dem  Jagdsattel  verbracht  und  öffentlichen 
Dingen  erst  in  reiferen  Jahren  eine  gewisse  Aufmerksamkeit  zu- 
zuwenden begonnen. 

Aus  der  Unfertigkeit  des  damaligen  Bildungszustandes  er- 
klärt sich,  warum  der  Zusammenhang  zwischen  den  Strebsamen, 
Gebildeten  und  Gleichgesinnten  der  verschiedenen  Landschaften  und 
Gesellschaftsklassen  ein  höchst  loser  war.  Adel,  Geistlichkeit, 
rigasches  und  ausserrigasches  Bürgerthum  gingen  getrennte  Wege, 
die  nur  selten  auf  einander  trafen  und  deren  Zusammentreffen  noch 
seltener  fruchtbar  genannt  werden  konnte.  Im  einzelnen  wussten 
die  Einzelnen  allenfalls,  was  sie  sollten  und  wollten,  —  von  einer 
Zusammenfassung  dieser  Einzelaufgaben  zu  einem  Gesammtbilde 
war  nicht  die  Rede.  In  dem  Streben  nach  behaglicher  und  an- 
strengungsloser Gestaltung  der  Privatexistenz  ging  für  die  grosse 
Mehrzahl  auch  der  Gebildeten  das  gesammte  Leben  auf.  Nicht 
Gemeinsamkeit  der  Pflichten  und  der  Interessen,  sondern  Gewohn- 
heit und  Gleichartigkeit  der  Neigungen,  Sym-  und  Antipathien  be- 
stimmten die  gesellschaftlichen  Zusammenhänge  und  die  Berührungen. 
Mit  der  Bescheidenheit  des  herkömmlichen  Zuschnitts  ging  eine 


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Die  Generation  vor  uns. 


379 


Genusssucht  Hand  in  Hand,  die  gerade  ihrer  Harmlosigkeit  wegen 
ansteckend  und  verderbend  wirkte,  für  den  höchsten  aller  Genüsse 
aber  sah  man  das  gesellige  Behagen  an,  dessen  Cultus  mit  Meister- 
schaft getrieben  wurde.  Von  dem  Drang  modernen  Wettbewerbes 
war  man  so  weit  entfernt,  dass  die  Nachfrage  nach  gebildeten 
Arbeitskräften  das  Angebot  häufig  überwog.  Im  ersten  Anlauf 
Lebensstellungen  zu  gewinnen,  bei  denen  bis  an  das  Ende  der  Tage 
beharrt  werden  konnte,  kostete  leidlich  brauchbaren  Juristen,  Theo- 
logen und  Medicinern  kaum  Mühe,  —  bei  Besetzung  wichtigerer 
Lehrämter  aber  musste  in  der  Regel  die  Beihilfe  des  Auslandes 
angegangen  werden.  Mit  der  Begründung  eines  eigenen  Herdes, 
die  heutzutage  ein  Lebensziel  bildet,  wurde  damals  der  Anfang 
gemacht,  und  das  Drücken,  Bücken  und  Drängen,  in  welchem  die 
Jugend  der  «Ausländer!  verging,  wurde  für  einen  unleidlichen  und 
unmöglichen  Zustand  gehalten.  Von  Ausnahmen  abgesehen  war 
jedermann,  dem  es  darauf  ankam,  vor  Erreichung  des  dreissigsten 
Lebensjahres  unter  Dach  und  Fach  gebracht  und  auskömmlich, 
weungleich  bescheiden  versorgt. 

Diese  auf  die  Pflege  privater  und  gesellschaftlicher  Interessen 
gerichtete  Tendenz  war  von  weitgreifendstem  Einfluss  auf  die  öffent- 
lichen Angelegenheiten  und  deren  Behandlung.  Einfluss  und  erfolg- 
reiche Wirksamkeit  erschienen  nicht  sowol  durch  Herrschaft  über 
die  Rede  und  den  schriftlichen  Ausdruck,  als  durch  den  Besitz 
geselliger  Tugeuden  bedingt.  Während  die  Zahl  erträglicher  Redner 
und  leidlich  geübter  Publicisten  eine  so  geringe  war,  dass  ein 
einziger  öffentlicher  Vortrag  oder  eine  druckbar  geschriebene  Ab- 
handlung zu  localer  Berühmtheit,  mindestens  zum  Ruf  besonderer 
Befähigung  verhelfen  konnten,  gab  es  einen  Ueberfluss  an  Meistern 
feiner  und  geistreicher  Unterhaltung.  Die  heute  fast  verloren  ge- 
gangene Kunst,  anziehend  zu  erzähleu  und  durch  ein  paar  glück- 
lich eingestreute  Bemerkungen  einen  ganzen  Kreis  zu  wecken  und 
zu  beleben,  hat  kaum  irgend  wo  in  üppigerer  Blüthe  gestanden  als 
im  alten  Livland.  Nahezu  alle  bedeutenden  und  einflussreichen 
Männer  jener  Zeit  waren  liebenswürdige  Gesellschafter,  manche 
von  ihnen  unerreichte  «Virtuosen  der  Persönlichkeit»,  die  vermittelst 
ihrer  gesellschaftlichen  Talente  Wirkungen  erzielten,  die  wohlein- 
studirten  Reden  oder  glänzend  geschriebenen  Aufsätzen  versagt 
geblieben  wären.  Damit  hing  zusammen,  dass  die  wichtigsten  Ent- 
scheidungen nicht  sowol  in  öffentlichen  als  in  privaten  Versamm- 
lungen getroffen  und  in  eng  geschlossenen  Kreisen  vorbereitet 


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380  Die  Generation  vor  uns. 

wurden.  Auf  eigentliche  Reden  waren  in  der  Regel  nur  Theologen, 
auf  grössere  schriftliche  Auseinandersetzungen  höchstens  einzelne 
Juristen  eingerichtet,  —  die  einen  wie  die  anderen  aber  mussten 
sich  gesellschaftlich  geltend  zu  machen  verstehen,  wenn 
sie  Bleibendes  ausrichten  wollten.  Die  wirksamste  Art  der  Pro- 
paganda für  Gedanken,  welche  in  Thaten  umgesetzt  werden  sollten, 
bestand  in  Rundreisen  durch  das  Land,  die  nicht  zum  Zweck  öffent- 
licher Ansprachen ,  sondern  behufs  freundschaftlicher ,  an  der 
Tafel  oder  auf  dem  Jagdausfluge  gepflogener,  zumeist  gelegent- 
licher Unterredungen  unternommen  wurden.  Durch  das  Einsetzen 
der  eigenen  Persönlichkeit,  nicht  durch  gesprochene  oder  ge- 
schriebene Worte  gewannen  die  damaligen  Beherrscher  der  öffent- 
lichen Meinung  ihre  Leute,  —  als  Menschen,  nicht  als  Führer 
und  Leiter  mussten  sie  die  Anhänglichkeit  der  Gesinnungs-  und 
Parteigenossen  erwerben  und  festhalten.  Was  auf  Landtagen, 
Synoden  &c.  Gegenstand  der  ßerathungeu  bilden  sollte,  musste  in 
einer  Anzahl  kleinerer  Kreise  durchsprachen  und  durchlebt  worden 
sein,  wenn  es  entsprechende  Würdigung  finden  sollte. 

Mit  den  Licht-  und  Schattenseiten  des  vorstehend  geschilderten 
Zustandes  hingen  die  Vorzüge  und  Mängel  der  massgebenden 
Personen  aufs  engste  zusammen.  Prüft  man  dieselben  auf  die 
Gründlichkeit  ihrer  Vorbildung  und  das  Mass  ihres  technischen 
Könnens,  so  wird  die  Mehrzahl  schlecht  bestehen.  Mit  gutem 
Grunde  haben  die  Mängel,  Lücken  und  Inconsequenzen  des  wichtig- 
sten Werkes  der  vierziger  Jahre,  der  Ii  vi.  Agrar-  und  Bauer- 
verordnung von  1849,  sowie  ihrer  Nachtrage  und  Ausführungs- 
verordnungen den  Gegenstand  der  Verwunderung  neuerer  Beur- 
theiler  gebildet.  Um  wie  viel  strenger  würden  diese  Kritiker  noch 
urtheilen,  wenn  sie  wüssten,  dass  der  geistreiche  Urheber  des  ge- 
nannten Gesetzbuches  gute  Gründe  hatte,  der  eigentlich  redactio- 
nellen  Arbeit  überhaupt  fern  zu  bleiben,  dass  das  schriftstellerische 
Können  desselben  sich  wesentlich  auf  die  Abfassung  von  Briefen 
und  flüchtig  skizzirten  Denkschriften  beschränkte  und  dass  die 
Männer,  die  für  ihn  eintraten,  zu  den  fähigsten  und  tüchtigsten 
ihrer  Zeit  zählten,  die  ihrer  eigentlichen  Berufssphäre  abliegende 
Mühewaltung  aber  lediglich  aus  Patriotismus  übernahmen.  Von 
Ausnahmen  abgesehen,  waren  die  das  öffentliche  Leben  der  vierziger 
und  fünfziger  Jahre  beherrschenden  Männer  sammt  und  sonders 
Naturalisten  oder  (wie  man  heute  zu  sagen  pflegt)  Dilettanten. 
Nichtfachleute,  denen  Drang  und  Noth  der  Zeit  Arbeiten  auf- 


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Die  Generation  vor  uns.  381 

nöthigten,  auf  welche  sie  sich  niemals  vorbereitet  hatten,  weil  es 
für  die  einen  an  der  Gelegenheit,  für  die  anderen  an  der  Veran- 
lassung zu  solcher  Vorbereitung  gebrach.  Vergegenwärtigt  man 
sich  die  Schwierigkeiten,  mit  welchen  die  Besetzung  gewisser  Aus- 
ländern nicht  zugänglichen  dorpater  akademischen  Lehrstühle  noch 
vor  dreissig  Jahreu  zu  kämpfen  hatte,  so  wird  man  für  die  Mängel 
gleichzeitiger  provinzial  -  politischer  Leistungen  die  richtige  Er- 
klärung  besitzen. 

Den  unbestreitbaren  Mängeln  und  Unvollkommenheiten  des 
Geschlechts,  auf  dessen  Schultern  wir  stehen ,  waren  indessen 
grosse  und  entscheidende  Vorzüge  gepaart.  Zunächst  Vorzüge  des 
Charakters.  Die  Breite  der  damaligen  Verhältnisse  brachte  mit 
sich,  dass  auch  den  mittleren  Gesellschaftsschichten  entstammende 
Männer,  sobald  sie  eine  gewisse  Leistungsfähigkeit  bewiesen,  ver- 
hältnismässig rasch  emporkamen.  Sorge  und  Entbehrung  hatten 
manche  von  ihnen  kennen  gelernt,  Druck  und  Demüthigung  der 
Armuth  waren  ihnen  dagegen  fast  ausnahmslos  erspart  geblieben. 
Von  Jugend  auf  gewöhnt  aufrecht  zu  stehen,  andere  als  mit  ihrer 
Würde  verträgliche  Arbeit  nicht  zu  thun  und  nicht  Unterordnung 
unter,  sondern  Herrschaft  über  die  Verhältnisse  als  Aufgabe 
des  Mannes  anzusehen,  waren  bürgerliche  und  adelige  Genossen  jener 
merkwürdigen  Zeit  geborene  Aristokraten.  Souveräner,  als  zu  den 
Zeiten  der  Fölkersahm,  Walter,  O.  Mueller  &c.  seitens  der  mass- 
gebenden Personen  und  Kreise  geschah,  sind  die  Unterschiede  des 
Vermögens,  des  Ranges  und  der  äusseren  Lebensstellung  schwerlich 
irgend  wo  in  der  Welt  behandelt  worden.  Was  bei  den  einen 
angeborene  innere  Vornehmheit  war,  mochte  bei  anderen  auf  Leicht- 
sinn, Unwirthschafilichkeit  und  Nachahmungssucht  zurückzuführen 
sein.  Allesa  um  it.  huldigten  sie  einem  Idealismus,  der  von  moderner 
Glücks-  und  Erwerbsjagd  nicht  einmal  die  Namen  kannte.  Jeder 
andere  Culttis  schien  ernster  genommen,  eifriger  verfolgt  zu  werden, 
als  derjenige  der  mitunter  arg  vernachlässigten  materiellen  Inter- 
essen. Wo  es  die  Verfolgung  gewisser  Ziele  galt,  schien  die  Frage 
nach  den  mit  denselben  verknüpften  Opfern  ein  für  alle  Male  aus- 
geschlossen zu  sein.  Weil  man  es  in  mehr  wie  einem  Falle  mit 
unlösbar  erscheinenden  und  dennoch  unabweisbaren  Aufgaben  zu 
thun  hatte,  war  man  gewohnt,  die  Methode  des  <Draufgehens>  auf 
Dinge  zu  übertragen,  bei  welchen  eine  andere  Art  der  Behandlung 
ebenso  gut,  wenn  nicht  besser  angebracht  gewesen  wäre.  Der 
fröhliche  Uebermuth,  mit  welchem  private  Verhältnisse  behandelt 


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Die  Generation  vor  uns. 


wurden,  übertrug  sich  nicht  selten  auf  öffentliche  Angelegenheiten; 
zwischen  diesen  und  jenen  eine  scharfe  Grenze  zu  ziehen,  war  man 
ohnehin  nicht  gewöhnt.  Dafür  wurden  die  Dinge,  welche  den 
Besseren  am  Herzen  lagen,  aber  auch  mit  einem  Feuer  und  einer 
Hingebung  getrieben,  welche  für  den  Maugel  an  sorgfältiger  und 
methodischer  Vorbereitung  entschädigte.  Dieses  Geschlecht  zumeist 
ungeschulter  Naturalisten  zählte  ausserdem  eine  Auzahl  von  Talenteu, 
wie  sie  auf  gleich  engem  Boden  nur  selten  neben  einander  gefunden 
worden  sein  mögen.  Der  führende  Geistliche  war  ein  Manu,  der 
allenthalben,  wo  er  erschien,  durch  die  Wucht  seiner  Persönlich- 
keit, die  Gewalt  seines  sittlichen  Ernstes,  die  Tiefe  seiner  Bildung 
und  seines  Geistes  imponirte,  der  überall  und  unter  allen  Verhält- 
nissen eine  bedeutende  Rolle  gespielt  haben  würde.  Ihm  stand 
eine  Schaar  von  Seelsorgern  und  Kanzelrednern  zur  Seite,  welche 
das  kirchliche  Leben  des  Landes  binnen  eines  Menschenalters  un- 
kenntlich veränderte  und  das  Niveau  der  sittlichen  uud  intellec- 
tuellen  Bildung  um  eine  ganze  Stufe  hob.  Im  Bunde  mit  diesen 
Geistlichen,  welche  zu  verschiedene  theologische  und  philosophi- 
sche Richtungen  vertraten,  als  dass  von  pastoralen  Einseitigkeiten 
hätte  die  Rede  sein  können,  befanden  sich  Schulmänner,  deren  Einfluss 
auf  unsere  öffentliche  und  private  Moral  noch  heute  nachgewiesen 
werden  kann.  Unter  den  städtischen  Juristen,  welche  iunerhalb 
ihres  besonderen  Berufskreises  auf  Erfüllung  der  Zeitforderungen, 
ausserhalb  desselben  auf  Beseitigung  der  alten  ständischen  Schranken 
und  auf  Zusammenfassung  aller  gesunden  Kräfte  des  Landes  hin- 
zuwirken versuchten,  war  der  Verfasser  der  « Li  vi  ändischen  Landes- 
privilegien t  der  hervorragendste,  aber  keineswegs  der  einzige,  und 
erst  während  der  letzten  Periode  seines  Lebens  der  einflussreichste 
und  bekannteste.  Unter  seinen  Zeitgenossen  nahm  Otto  Mueller 
auch  dadurch  eiue  Ausnahmestellung  ein,  dass  er  die  charakteristi- 
schen Vorzüge  unserer  Landesart  theilte,  ohne  mit  den  Mängeln 
derselben  behaftet  zu  sein.  An  Festigkeit  der  Gesinnung,  innerer 
Unabhängigkeit  und  gesellschaftlicher  Liebenswürdigkeit  den  Besten 
ebenbürtig,  verband  er  mit  umfassender  allgemeiner  Bildung  gründ- 
liches juristisches  und  staatsmännisches  Wissen  und  echt  bürger- 
liche Gewissenhaftigkeit.  Während  die  Ursprünglichkeit  und  Frische 
seines  Wesens  auf  einen  tüchtigen  Naturalisten  und  Praktiker  hätte 
schliessen  lassen  können,  besass  er  alle  Eigenschafteu  eines  streng 
geschulten  Kopfes  und  durchgebildeten  Geschäftsmannes.  Unter 
den  Genossen  seiues  Berufs  kam  er  darum  ebenso  zur  Geltung,  wie 


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Die  Generation  vor  uns. 


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in  dem  Kreise,  den  der  universellste  und  genialste  Livländer  der 
vorigen  Generation,  Hamilkar  Fölkersahm,  um  sich  gesammelt  hatte. 

Dass  Fölkersahm  weder  Jurist  noch  Volkswirth  war  und 
dass  sein  staatsmänuisches  Wissen  ebenso  bestimmte  Grenzen  hatte 
wie  sein  technisches  Können,  ist  bekannt.  Eben  darum  war  er 
der  typische  Repräsentant  und  der  einflussreichste  Agitator  seiner 
Zeit.  Die  Herrschaft,  welche  Fölkersahm  durch  eine  Reihe  vou 
Jahren  über  Menschen  der  verschiedensten  Bildungsstufen  und 
Lebenstendenzen  übte,  war  nur  zur  Hälfte  auf  seine  ausserordent- 
liche ßeredtsamkeit  zurückzuführen,  eine  ßeredtsamkeit,  für  deren 
Würdigung  übrigens  wenige  seiner  Zuhörer  den  gehörigen  Massstab 
besessen  haben.  Mindestens  eben  so  hoch  müssen  die  Anziehungs- 
kraft seiner  Persönlichkeit  und  die  hohe  Kunst  angeschlagen  wer- 
den, mit  welcher  er  starke  wie  schwache  Seiten  unserer  Landsleute 
in  den  Dienst  seiner  Ideen  zu  zwingen  wusste.  An  Begabung  und 
Bildung  drei  Viertheile  seiner  Umgebung  weit  überragend,  landes- 
und  standesüblichen  Vorurtheilen  längst  entwachsen  und  in  mancher 
Rücksicht  zum  einsamen  Menschen  geworden,  war  er  dem  Kreise, 
welchem  seine  Wirksamkeit  zunächst  galt,  dennoch  durch  hundert 
Fäden  verbunden.  Wenn  Fölkersahm  cmit  jedem  Kesselflicker  in 
seiner  Sprache  zu  reden  wusste>,  so  lag  das  nicht  nur  an  der  Be- 
weglichkeit seines  Geistes,  sondern  vornehmlich  daran,  dass  er  die 
anscheinend  heterogenen  Eigenschaften  des  Idealisten  und  des  Lebe- 
mannes, des  liberalen  Theoretikers  und  des  selbstbewussten  Aristo- 
kraten, des  allenthalben  heimischen  Gesellschaftsmeuschen  und  des 
in  sich  selbst  versenkten  Denkers  verband,  —  dass  er  im  Salon, 
an  der  Tafel  und  auf  dem  Jagdsattel  mindestens  ebenso  heimisch, 
wenn  nicht  heimischer  war,  denn  am  Studirtisch  und  auf  der  Tri- 
büne.  Dass  er  vom  geistreichen  und  vornehmen  Dilettanten  ungleich 
mehr  hatte  als  vom  Gelehrten  oder  technisch  geschulten  Beamten, 
wurde  von  der  aus  Naturalisten  und  Praktikern  zusammengesetzten 
Gesellschaft  seiner  Zeit  nicht  als  Mangel,  sondern  als  Vorzug  an- 
gesehen. Mit  dem  Abstände,  der  ihn  von  anderen  trennte,  ver- 
söhnte es,  dass  er  den  Durchschnittsmenschen  gewohnten  Schlages  in 
mehr  als  einer  Beziehung  ähnlich  sah  und  dass  er  ihre  Gewohnheiten, 
ihre  Rede-  und  Denkweise  so  genau  kannte,  als  sei  sie  seine  eigene. 
Lessings  «Weniger  wäre  mehr»  konnte  auf  Fölkersahm  in  der 
Umkehrung  angewendet  werden:  Mehr  wäre  weniger  gewesen. 

Zu  den  Eigenthümlichkeiten  der  Menschen,  von  denen  hier 
die  Rede  ist,  gehörte  ein  Zug  unverwüstlichen  Humors,  der  dem 


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Die  Generation  vor  uns. 


heutigen  Geschlechte  verloren  gegangen  zu  sein  scheint.  Inmitten 
der  schwierigsten  Umstände,  angesichts  der  unttbersteiglichsten  Hemm- 
nisse wussten  sich  die  Männer  der  vierziger  und  itinfziger  Jahre 
ein  Stück  schier  studentischer  Freude  am  Leben  und  insbeson- 
dere am  Verkehr  zu  erhalten,  um  das  man  sie  herzlich  beneiden 
könnte.  Es  mag  das  mit  der  grösseren  Bequemlichkeit  des  dama- 
ligen äusseren  Zuschnitts  und  mit  den  bescheidenen  Ansprüchen 
zusammengehangen  haben,  die  an  die  Arbeitsleistung  gestellt  wur- 
den. Dass  nach  der  Arbeit  gut  ruhen  ist  und  dass  Thätigkeit 
die  Genussfähigkeit  erhöht,  ist  ein  vortrefflich  klingender,  bedauer- 
licherweise aber  nur  innerhalb  gewisser  Grenzen  wahrer  und  zu- 
treffender Moralsatz.  Ueber  ein  gewisses  Mass  getiieben  und 
durch  gebieterische  Umstände  erzwungen,  führt  die  auf  die  Berufs- 
arbeit gewendete  Anstrengung  zu  Trübsinn,  Einseitigkeit  und  Ge- 
nussunfahigkeit.  Arbeit  kann  ebenso  blasirt  raachen  wie  Genuss, 
—  dem  Druck  beständigen  Zwanges  unterliegt  schliesslich  die 
beste  natürliche  Laune,  und  was  der  Arbeit  allenfalls  widersteht, 
bricht  schliesslich  unter  der  Sorge  zusammen.  Von  solchem  Drucke 
war  vor  dreissig  und  vierzig  Jahren  nur  ausnahmsweise  die  Rede. 
Auf  einzelne,  welche  dank  der  Ungleichheit  der  Arbeitsverthei- 
lung  für  zehn  andere  zu  thun  hatten,  kamen  viele,  die  im  gehöri- 
gen Gleichgewicht  blieben  und  in  jede  gesellschaftliche  Vereinigung 
ungebrochene  Lebenskraft  und  frischen  Humor  mitbringen  konnten. 
Dieser  Eigenschaften  aber  bedurfte  es,  weil  die  Geselligkeit  selber 
ein  Stück  Arbeit,  eine  Gelegenheit  zur  Klärung  und  Erörterung 
zahlreicher  wichtiger  Fragen  war,  bei  welcher  seine  Gedanken  zu- 
sammennehmen musste,  wer  mit  einigem  Anstände  bestehen  wollte. 

■ 

Den  Untergrund  der  heftigsten  und  ermüdendsten  Discussionen  bil- 
dete indessen  ein  die  Gegensätze  bändigendes  Zusammengehörigkeits- 
gefühl, die  Empfindung,  dass  das  Leben  selbst  wichtiger  sei  als  seine 
einzelnen  Probleme  und  dass,  wenn  man  über  diese  Probleme  streite, 
man  es  eben  wolle  und  nicht  müsse.  In  der  Regel  war  es  ein  an 
rechter  Stelle  eingeworfenes  Scherzwort,  das  dem  Streit  die  Spitze  ab- 
brach und  die  Streitenden  daran  erinnerte,  dass  eine  Welt  von 
Dingen  übrig  bleibe,  über  welche  man  ebenso  einig  sei,  wie  dar- 
über,  dass  <  unter  uns>  wol  über  die  zum  Ziele  führenden  Wege, 
nicht  aber  über  das  ein  fiir  alle  Male  feststehende  Ziel  verschie- 
dene Meinungen  bestehen  könnten! 

Der  zwischen  damals  und  heute  bestehenden  Verschiedenheiten 
sind  so  zahlreiche,   tiefgehende  und  handgreifliche,  dass  es  eines 


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Die  Generation  vor  uns.  385 

Nachweises  derselben  nicht  bedürfen  wird.  Einige  besonders  bemer- 
kenswerthe  Punkte  verdienen  indessen  besonderer  Erwähnung.  Allen 
Klagen  über  zunehmende  Lauheit  und  Gleichgiltigkeit  zum  Trotz 
darf  behauptet  werden,  dass  die  Zahl  derjenigen,  die  an  öffentlichen 
Angelegenheiten  theilnehmen,  seit  den  letzten  zwanzig  Jahren  be- 
ständig und  erheblich  zugenommen  hat.  Was  damals  Privilegium 
einzelner  eng  geschlossener  Kreise  war,  ist  mindestens  so  weit  Ge- 
meingut geworden,  dass  Betheiligung  an  allgemeinen  Interessen 
niemandem  verwehrt,  den  Meisten  sogar  nahe  gelegt  worden  ist. 
Was  während  der  vierziger  und  fünfziger  Jahre  geflüstert  uud 
allenfalls  geschrieben  zu  werden  pflegte,  durfte  während  der  folgen- 
den Jahrzehnte  gesagt  und  gedruckt  werden.  Begreiflicherweise 
ist  das  nicht  ohne  Wirkung  geblieben.  Hat  an  der  im  Verlauf  der 
letzten  fünfundzwanzig  Jahre  erfolgten  Klärung  der  Ansichten 
auch  eine  an  und  für  sich  bedauerliche  Verschärfung  der  Gegen- 
sätze den  Hauptantheil  gehabt,  so  ist  diese  Klärung  immerhin  ein 
Gewinn  gewesen.  Die  unvermeidliche  Periode  der  allgemeinen  Phrasen 
und  Redensarten  ist  verhältnismässig  rasch  zurückgelegt  und  durch 
nothgedrungene  Gewöhnung  an  nüchterne  und  genaue  Formulirungen 
ersetzt  worden.  Wie  anderswo,  weiss  man  auch  bei  uns,  dass 
Theilung  der  Arbeit,  technische  und  methodische  Schulung  der  Ar- 
beitskräfte und  Beschränkung  auf  erreichbare  Ziele  unveräusser- 
liche Bedingungen  jedes  Erfolges  sind  und  dass  der  Vogel  in  der 
Hand  mehr  bedeutet  als  die  Taube  auf  dem  Dache.  Für  den 
Mangel  an  hervorragenden  und  anerkaunten  Führern  bildet  die  ge- 
steigerte Leistungsfähigkeit  der  Durchschnittsarbeiter  einen  wenig- 
stens annähernden  Ersatz.  Als  schlechthin  ungünstiges  Zeichen 
darf  das  Zurücktreten  von  Einzelnen  geübter  Einflüsse  überhaupt 
nicht  angesehen  werden.  Sich  über  das  Mittelmass  zu  erheben, 
hält  eben  nicht  mehr  so  leicht  wie  früher,  wo  (um  ein  bekanntes 
Wort  Goethes  anzuführen)  «die  Tafel  noch  unbeschrieben»  und  die 
Zahl  der  Schriftkundigen  eine  beschränkte  war.  Als  Fortschritt 
darf  weiter  angesehen  werden,  dass  der  Vermischung  privater  und 
öffentlicher  Interessen  gesteuert  und  dass  mit  der  Gewohnheit  ge- 
brochen worden  ist,  die  letzteren  wie  Unterhaltungsgegenstände  zu 
behandeln.  Mag  die  Methode,  nach  welcher  das  Gemeinwohl  be- 
treffende Angelegenheiten  heutzutage  erörtert  werden,  auch  sehr 
viel  unliebenswürdiger  als  die  ehemals  beliebte  sein,  —  an  Männ- 
lichkeit und  Reife  haben  unsere  öffentlichen  Sitten  unzweifelhaft 
gewonnen.    Das  Nämliche  lässt  sich  von  der  Beschaffenheit  der 


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386 


Die  Generation  vor  uns. 


modernen  Bildung  sagen,  die  an  Reichthum,  Mannigfaltigkeit  und 
Reiz  hinter  derjenigen  der  vorigen  Generation  erheblich  zurück- 
steht,  dieselbe  in  Bezug  auf  praktische  Ergiebigkeit  und  Anwend- 
barkeit auf  das  Leben  dagegen  weit  übertrifft.  Rücksichtlich  dessen, 
was  gewöhnlich  als  « allgemeine  Bildung >  bezeichnet  wird,  dürfte 
die  Sache  allerdings  so  liegen,  dass  die  Zunahme  der  Zahl  ihrer 
Theilhaber  auf  Unkosten  ihrer  Qualität  erfolgt  und  die  Bildungs- 
substanz  dünner  und  immer  dünner  geworden  ist.  Zu  der 
Höhe  philosophischer,  ästhetischer  und  geschichtlicher  und  damit 
allgemein  menschlicher  Bildung,  auf  welcher  die  ausgezeichneten 
Männer  der  cvorinärzlichen»  Zeit  standen,  ragen  nur  wenige  Zeit- 
genossen empor.  Rückgang  der  philosophischen  Studien  und  Ent- 
wöhnung von  den  Klassikern  der  älteren  und  neueren  Literatur 
haben  zusammt  gesteigertem  Anspruch  an  das  Special  wissen  eine 
Bildungsunfertigkeit  der  Gebildeten  möglich  gemacht,  die  von  Un- 
bildung sehr  häufig  nicht  mehr  zu  unterscheiden  ist.  Wohl  kamen 
sogenannte  Gebildete,  die  überhaupt  nicht  lasen  und  kaum  jemals 
gelesen  hatten,  in  älterer  Zeit  sehr  viel  häufiger  vor,  als  in  un- 
seren « gebildeten >  und  civilisirten  Tagen:  dafür  wurde  an  die- 
jenigen, die  für  voll  gebildet  gelten  wollten,  der  Anspruch  ge- 
stellt, über  alle  literarischen  Erscheinungen  ersten  und  möglichst 
auch  zweiten  Ranges  einigen  Bescheid  zu  besitzen.  Wohlbestellte 
und  im  Rufe  der  Fachtüchtigkeit  stehende  Candidaten  der  Theologie, 
die  Schleiermacher  und  Hegel  nur  dem  Namen  nach  gekannt  und 
niemals  ein  Shakespearesches  Stück  gelesen  hatten,  waren  damals 
ebenso  unerhört  wie  < anerkannt  tüchtige»  Juristen  und  Staats- 
wissenschaftler, denen  zur  Leetüre  des  Rousseauschen  amtrat  social 
und  des  Gansschen  t Erbrecht»  die  Zeit  gefehlt  haben  sollte,  oder 
wie  Gymnasiallehrer,  denen  Voltaire  ein  Atheist  und  Ernst 
Theodor  Amadeus  Hoffmann  ein  Jugendschriftsteller  bedeuten 
konnte.  Das  hat  sich  geändert,  aber  nicht  nur  zum  Schlechteren. 
Was  der  allgemeinen  Bildung  verloren  gegaugen  (und  dieser  Ver- 
lust wird  in  anderen  Ländern,  z.  B.  in  Deutschland,  noch  stärker 
empfunden  als  bei  uns),  wird  aufgewogen  durch  das  Wachsthum 
der  Zahl  derjenigen,  die  an  Bildungsinteressen  überhaupt  theil- 
nehmen  und  durch  die  grossen  in  Sachen  des  Fachstudiums  ge- 
machten Fortschritte  der  letzten  Jahrzehnte.  Mit  Zunahme  der 
Concurrenz  um  höhere  Aemter  und  gesicherte  Lebensstellungen  hat 
der  an  die  Leistungsfähigkeit  der  Bewerber  gestellte  Durchschnitts- 
anspruch sich  beträchtlich  gehoben.    Trägt  der  Arbeitseifer  der 


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Die  Generation  vor  uns. 


887 


Neueren  auch  nicht  selten  ein  zünftiges,  auf  die  Erreichung  be- 
stimmter und  greifbarer  Ziele  gerichtetes  Gepräge,  so  bedeutet 
derselbe  doch  einen  Gewinn  für  die  Allgemeinheit.  Nach  dem 
Schwung  und  der  idealen,  um  äussere  Rücksichten  und  Erfolge 
unbekümmerten  Begeisterung  der  vorigen  Generation  wird  man 
sich  dabei  wol  vergeblich  umsehen,  vielleicht  auch  die  nüchterne 
Lebensklugheit  und  lebeuskluge  Nüchternheit  der  von  metaphysi- 
schem Bedürfnis  unberührt  gebliebenen  Allerneuesten  unjugend- 
lich schelten :  dass  dieselben  durchschnittlich  reichlicheres  und  sorg- 
fältiger gearbeitetes  Rüstzeug  für  den  Lebenskampf  mitbringen, 
als  die  Streiter  der  vierziger  und  fünfziger  Jahre,  bleibt  darum 
nicht  weniger  wahr.  Der  demokratische  Zug  der  Zeit  hat  mit  sich 
gebracht,  dass  die  aristokratischen  Bildungsmomente  des  ästheti- 
schen Geschmacks,  der  harmonisch  abgerundeten  Menschlichkeit 
und  der  Fähigkeit  zur  Abstraction  von  kleinlichen  Interessen  in 
der  allgemeinen  Schätzung  verloren  haben;  durch  Beseitigung  der 
früheren  Schranken  unseres  Provinziallebens  ist  dem  Zeitgeist  wei- 
terer Einfluss  und  Spielraum  eröffnet  worden,  als  damals  vorhanden 
war,  wo  wir  wesentlich  auf  uns  selbst  angewiesen  zu  sein  schienen. 
Starke  Strömungen  haben  enge  und  hohe  Ufer  zur  Bedingung,  wo 
diese  fehlen,  geht  es  ins  Breite,  Weite  und  Flache.  Wer  wenige 
äussere  Dinge  zu  sehen  bekommen  hat,  denkt  und  empfindet  bei 
Betrachtung  derselben  mehr  und  stärker,  als  wer  früh  an  wechseln- 
den Gestalten  vorübergegangen  und  mit  der  Mannigfaltigkeit  der 
Erscheinungen  vertraut  geworden  ist.  Um  die  grossen  Eindrücke, 
welche  ein  mühsam  erlangtes  neues  Buch,  ein  bedeutender  Mann, 
eine  nach  Ueberwindung  von  hundert  Schwierigkeiten  errungene 
Reise  über  die  Grenze  zurückliessen,  ist  es  geschehen,  wenn  man 
sich  neue  Bücher  und  neue  Menschen  förmlich  vom  Leibe  halten 
muss,  wenn  man  bereits  als  Student  ein  Stück  Welt  gesehen  und 
Vergleichungen  anzustellen  gelernt  hat.  Was  der  Kopf  dabei  ge- 
winnt, verliert  nicht  selten  das  Herz:  caus  dem  Herzen  aber  kom- 
men die  grossen  belebenden  Gedanken  des  Menschen ». 

Wichtiger  noch  erscheint  freilich  eine  andere  Frage  :  diejenige 
nach  dem  Einfluss,  den  die  stattgehabte  Veränderung  auf  die 
Oharakterent Wickelung  übt.  Kein  Zweifel,  dass  «die 
einzigen  Tugenden,  deren  der  Mensch  sich  zu  rühmen  das  Recht 
hat>,  dass  Fleiss  und  Ausdauer  heutzutage  anstrengungsloser  und 
wol  auch  häufiger  erworben  werden  als  damals,  wo  der  Kampf 
ums  Dasein  leichter  erschien  und  die  Zahl  der  Unfleissigen  grösser 


388 


Die  Generation  vor  uns. 


war.  Lässt  dasselbe  sich  aber  auch  von  den  übrigen,  namentlich 
von  eigentlich  männlichen  Charaktertugendeu  sagen?  Lieber  das 
oft  beklagte  Verschwinden  der  originellen  Figuren  und  Denker  «auf 
eigene  Hand>  könnte  man  sich  trösten,  wenn  man  nicht  wüsste, 
dass  zwischen  Eigenart  des  Kopfes  und  Unabhängigkeit  des  Charak- 
ters ein  verhängnisvoller  Zusammenhang  besteht.  Die  Kunst,  auf 
eigenen  Füssen  zu  stehen,  lässt  sich  weder  in  der  Schule,  noch  auf 
der  Universität  erlernen,  und  die  am  meisten  gelernt  haben,  ver- 
stehen dieselbe  zuweilen  am  schlechtesten.  In  dieser  Kunst  waren 
die  im  übrigen  naturalistisch  geschulten  älteren  Söhne  unseres 
Landes  und  ganz  besonders  diejenigen  der  vierziger  und  fünfziger 
Jahre  vielfach  Meister.  Auf  sich  selbst  ruhend  gingen  sie  ihre 
Wege,  weil  sie  andere  nicht  kannten  und  weil  die  Unterordnung 
unter  vorgeschrittene  Etappen  sie  um  die  Freude  und  Freudigkeit 
des  Lebens  gebracht  hätte.  Erfüllt  von  idealen  Bedürfnissen,  gingen 
sie  diesen  mit  einer  Leidenschaftlichkeit  nach,  die  ihnen  über  tausend 
Lebensschwierigkeiten  hinweghalf.  Kein  Zweifel,  dass  man  dabei 
vielfach  in  Illusionen  lebte,  dass  man  Erfolge  zu  sehen  glaubte,  wo 
keine  da  waren,  dass  man  Menschen  und  Beziehungen  einen  Werth 
zumass,  den  sie  nicht  besassen  :  das  Resultat  war  aber  doch,  dass 
Lebenskraft  und  Lebensfreude  durchschnittlich  stärker  als  heutzu- 
tage waren  und  dass  sie  Quellen  der  Leistungsfähigkeit  bildeten, 
die  seitdem  versiegt  zu  sein  scheinen.  «Sehr  viel  vermag  die 
Pflicht  —  unendlich  mehr  die  Liebe»,  nämlich  die  Liebe  zur  Sache, 
die  genährt  wurde  durch  einen  Verkehr  zwischen  den  Gesinnungs- 
genossen, wie  er  lebhafter  und  ausgiebiger  kaum  gedacht  werden 
kann.  Damals  zählten  die  dem  Gedankenaustausch  gewidmeten 
Stunden  zu  den  wichtigsten  des  Tages,  während  die  neuere  Ge- 
selligkeit mit  den  Brocken  fürlieb  nehmen  muss,  welche  die  alles 
verzehrende  Berufs-  und  Erwerbsarbeit  übrig  lässt. 

Bei  diesem  letzteren  Umstände  darf  einen  Augenblick  verweilt 
werden.  Die  Beschäftigung  mit  gedruckten  Gedanken  für  wichtiger 
zu  halten  als  den  mündlichen  Gedankenaustausch,  ist  ein  modischer, 
mit  der  Veräusserlichkeit  der  Geselligkeit  zusammenhängender 
Irrthum.  Wie  anders  zu  den  Zeiten  höchster  geistiger  Productivität 
über  diesen  Punkt  gedacht  wurde,  lehrt  u.  a.  die  in  Taines  be- 
rühmtem Buche  enthaltene  Bemerkung,  dass  die  historisch  gewordenen 
Mittagsmahlzeiten  der  Encyklopädisten  bereits  um  drei  Uhr  be- 
gonnen zu  werden  pflegten,  weil  die  Genossen  der  Holbachschen 
Tafelrunde  für  ihre  Unterhaltungen  volle  geistige  Frische  mit- 


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Die  Generation  vor  uns. 


389 


bringen  wollten  ;  dass  der  Rest  der  diesen  Zusammenkünften  ge- 
widmeten Tage  dem  einmal  begonnenen  (Tedankenaustausch  ge- 
hörte, sah  man  dabei  für  selbstverständlich  an.  —  Im  kleinen  galt 
das  nämliche  von  den  Vereinigungen  gewisser  hervorragender  Männer 
der  hier  besprochenen  livländischen  Periode.  Wo  eine  der  vor 
vierzig  und  dreissig  Jahren  massgebenden  Personen  erschien,  war 
nahezu  Regel,  dass  an  die  mit  derselben  verbrachte  Zeit  kein  Mass 
gelegt  und  dass  die  einmal  gebotene  Gelegenheit  zum  Verkehr  im 
höheren  Styl  bis  auf  die  Neige  ausgekostet  wurde.  Uns  erscheint 
unbegreiflich,  wie  im  höheren  Lebensalter  stehende  Männer  zu  zehn- 
uud  zwölfstündigen  Unterhaltungen  Kraft  und  Zeit  haben  übrig 
behalten  können:  wer  an  denselben  theilgenommen,  weiss,  wie 
das  zugegangen  und  dass  er  seine  Zeit  nicht  verloren  habe.  Weil 
man  weniger  las  und  schrieb  als  im  Zeitalter  der  Zeitungsseuche, 
hatte  man  einander  unendlich  mehr  zu  sagen ;  man  tauschte  nicht 
nur  Gedanken,  sondern  auch  Empfindungen  aus  und  war  schon 
darum  niemals  um  den  Stoff  verlegen.  Dass  der  sonst  von  Person 
zu  Person  geführte  Meinungsaustausch  gegenwärtig  durch  Delegirte, 
nämlich  durch  Zeitungen  geführt  werde,  ist  eine  blosse  Ausrede, 
im  günstigsten  Falle  ein  halber  Trost.  Abgesehen  von  der  immer 
grösser  werdenden  Zahl  von  Dingen,  die  sich  schriftlicher  Erörte- 
rung entziehen,  steht  erfahrungsmässig  fest,  dass  publicistische  Dis- 
cussionen  zumeist  rechthaberischer  und  unehrlicher  geführt  werden 
als  Disputationen,  und  dass  sie  fast  niemals  zur  Annäherung,  sehr 
häufig  aber  zur  Entfremdung  der  Streitenden  tühren'.  Die  Zeitungs- 
debatte lässt  den  Betheiligten  in  der  Regel  nur  Aerger  zurück, 
während  glücklich  und  geschmackvoll  geführte  Dispute  Kämpfer 
und  Zeugen  mit  wohlthuender  Wärme  erfüllen  und  fest  verbinden 
konnten. 

Zu  den  früheren  Formen  des  Verkehrs  und  der  Geselligkeit 
können  wir  eben  so  wenig  zurückkehren  wie  zu  den  Verhältnissen, 
die  ihre  Entstehungsursachen  waren.  Heilsam  wird  indessen  sein, 
dass  wir  wenigstens  gelegentlich  daran  erinnert  werden,  wie  der 


•  Die  gewohnliche  Art  der  Zeitungspolemik  hat  L.  Bücher  in  seinem 
«Parlamentarismus,  wie  er  ist»  höchst  zutreffend  gekennzeichnet:  «Der  eine  hat 
Gründe,  der  andere  hat  Gründe,  der  eine  beweist  und  der  andere  heweist ;  jeder 
sucht  sich  ans  den  Gründen  des  anderen  d  i  e  aus,  mit  denen  er  am  leichtesten 
fertig  werden  kann,  jeder  Inhalt  Recht,  wo  nicht  handgreifliche  Thatsachen  die 
Entscheidung  Oedingen.  Diese  Art  des  Kaisonnirens,  halb  nnehrlich,  halb 
nachlässig,  wird  zuletzt  Gewohnheit.» 


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Die  Generation  vor  uns. 


Wechsel  der  Zeiten  nicht  nur  Gewinn,  sondern  auch  Verlust  und 
umgekehrt  gebracht  hat  und  dass  mit  vornehmer  Aburtheilung 
derer,  die  vor  uns  waren,  eben  so  wenig  gesagt  ist  wie  mit  ein- 
seitiger Verhimmelung  vergangener  Zeiten  und  Menschen.  Wer 
sich  seiner  besonderen  Art  und  ihrer  Berechtigung  bewusst  bleiben 
will,  wird  sich  darüber  Rechenschaft  geben  müssen,  auf  wessen 
Schultern  er  steht :  gelegentlich  wird  er  sich  auch  wol  sagen  müssen, 
dass  der  Zwerg,  der  auf  den  Schultern  eines  hochgewachsenen 
Mannes  steht,  zwar  weiter  sieht  als  jener,  dass  das  aber  kein  Ver- 
dienst und  noch  weniger  einen  Vorzug  ausmacht.  Erhalten  kann 
uns  das  Bewusstsein  der  Continuität  unserer  Bntwickelung  nur 
bleiben,  wenn  wir  zur  Vergangenheit  unseres  Landes  das  richtige 
Verhältnis  gewinnen.  Aus  der  Gegenwart  in  die  Vergangenheit 
zu  flüchten,  wird  sich  darum  nur  für  diejenigen  verlohnen,  die 
aus  derselben  Bleibendes  zu  holen  wissen  —  die  Ueberzeugung 
nämlich,  dass  es  auch  zu  den  schwierigsten  Zeiten  (und  zu  diesen 
müssen  die  vierziger  und  fünfziger  Jahre  gezählt  werden)  etwas 
gegeben  hat,  was  des  Schweisses  der  Edlen  werth  war  und  dass  es 
an  solchen  Edlen  nicht  gefehlt  hat. 


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Beiträge  zur  Bevölkerungsstatistik  Estlands. 


Die  E  h  e  s  c  h  1  i  e  s  s  u  n  g  e.  n. 

i e  Heiratsfrequenz.  Bei  einer  Arbeit,  welche  die 
Factoren  der  Bevölkerungsbewegung  —  also  die  Geburten 
und  Sterbefälle  —  umfasst,  wird  man  jedenfalls  auch  die  Ehe- 
schliessungen berücksichtigen  müssen,  obgleich  ja  gewichtige  Gründe 
vorhanden  sind,  die  uns  veranlassen,  die  Statistik  der  Heiraten 
nicht  zur  Statistik  der  Bevölkerungsbewegung  zu  rechnen.  Denn 
wahrend  die  Geburten  sowol  wie  die  Sterbefälle  eine  Veränderung 
in  dem  Stande  der  Bevölkerung  eines  Landes  hervorrufen,  bewirken 
die  Eheschliessungen  nur  Verschiebungen  im  inneren  Gefüge  der 
Gesellschaft,  sie  veranlassen  nur  Aenderungen  in  der  Gliederung  der 
Bevölkerung  nach  dem  Civilstande.  Ferner  ist  zu  beachten,  dass 
die  Heiraten  doch  stets  auf  eine  freie  Willenshandlung  zurückzu- 
führen sind,  während  bei  den  Geburten  und  Sterbefällen  der  persön- 
lichen Willensfreiheit  nur  sehr  enge  Grenzen  gezogen  sind.  Wenn 
ich  daher  die  Eheschliessungen  im  Zusammenhange  mit  der  Statistik 
der  Geburten  und  vor  Untersuchung  der  Sterblichkeitsverhältnisse 
behandele,  so  geschieht  es  der  engen  Verbindung  wegen,  in  welcher 
Heiraten  und  eheliche  Geburten  unter  einander  stehen. 

Hatten  wir  schon  in  dem  ersten  Abschnitt  unserer  Abhandlung, 
dem  die  Betrachtung  des  Werdens  der  Bevölkerung  zu  Grunde 
lag,  Gelegenheit,  hie  und  da  auf  den  Zusammenhang  zwischen 
statistischen  Erscheinungen  und  ökonomischen  Zuständen  in  unserer 

Baulich«  MonUMchrift.  Bd.  XXXIV.    H«ft  5.  96 


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:592 


Beiträge  zur  Bevölkerungsstatistik  Estlands. 


Provinz  hinzuweisen,  so  werden  wir  das  nicht  minder  hier  bei 
einer  statistischen  Untersuchung  der  Eheschliessungen  thun  können 
und  erkennen,  dass  dieselben  vortrefflich  geeignet  sind,  ein  charakte- 
ristisches Bild  der  jeweiligen  socialen  und  ökonomischen  Verhältnisse 
eines  Landes  zu  bieten.    Zu  diesem  Zwecke  müssen  wir  hier  wie 
bei  der  Statistik  der  Geburten  einen  Ausdruck  suchen,  der  uns  die 
Möglichkeit  gewährt,  jenen  erwähnten  Zusammenhang  scharf  und 
treffend  nachzuweisen.    Einen  solchen  Ausdruck  finden  wir  in  dem 
Begriffe  sowol  der  allgemeinen,  wie  auch  ganz  besonders  der 
speciellen  Heiratsfrequenz  oder  Verehelichungsziffer,  wobei  ich  unter 
der  ersteren  das  Verhältnis  der  in  einem  Jahr  geschlossenen  Ehen 
zur  Gesammtbevölkerung  verstehe,  während  die  specielle  Heirats- 
frequenz das  Verhältnis  der  ersteren  zur  heiratsfähigen  Bevölkerung 
ausdrückt.    Es  ist  selbstverständlich,  dass  die  letztere  Ziffer  einen 
weit  exacteren  Ausdruck  gewährt  als  die  erstere,  obgleich  ihrer 
genauen  Ermittelung  häufig  grosse  Schwierigkeiten  im  Wege  stehen. 
Haben  wir  aber  einmal  diese  Ziffer  ermittelt,  dann  besitzen  wir  in 
ihr  eine  der  wichtigsten  und  werthvollsten  statistischen  Zahlen; 
wir  haben  dann  eine  Ziffer  gefunden,  die,  um  mit  Hermann  zu 
reden,  die  Hoffnung  ausdrückt,  welche  zu  dieser  Zeit  in  Bezug  auf 
das  ökonomische  Gedeihen  einer  Familie  im  Lande  bestand  und 
zwar  desto  deutlicher,  je  grösser  die  Freiheit  des  Erwerbsbetriebes 
in  einem  Lande  ist.    Die  Heiratsfrequenz  veranlasst  uns  die  Motive 
zu  untersuchen,  die,  sei  es  hemmend,  sei  es  fördernd,  auf  das  Ein- 
gehen von  Ehen  in  einem  bestimmten  Zeitraum  gewirkt  haben. 
Wenn  nun  aber  auch  das  Eingehen  einer  Ehe  auf  einer  freien 
Willenshandlung  beruht,  so  darf  man  doch  nicht  etwa  annehmen, 
dass  nichts  leichter  sei  als  der  Entschluss  zweier  Menschen,  einen 
Bund  für  das  Leben  zu  schliessen ;  eine  Reihe  von  Ursachen  und 
Motiven  von  der  aufopferndsten,  hingehendsten  Liebe  bis  zum 
krassesten,  schmutzigsten  Egoismus  beeinflussen  diesen  Willen,  — 
Motive,  die  doch  nur  meist  erst  dann  die  Eheschliessung  gestatten, 
wenn  die  wirthschaftlichen  Zustände  die  Hoffnung  auf  ein  gedeih- 
liches Fortkommen  in  der  Ehe  gerechtfertigt  erscheinen  lassen. 

Bevor  ich  jedoch  die  Matrimonialität  einer  Betrachtung  unter- 
ziehe, möchte  ich  kurz  einige  hierher  gehörige  absolute  Zahlen  an- 
führen. Es  wurden  nämlich  in  den  25  Jahren  1860—84  überhaupt 
in  Estland  66081  Trauungen  vollzogen.  Auf  die  einzelnen  Kreise 
und  Städte  vertheilen  sich  diese  Ehen  in  folgender  Weise :  es  ent- 
fielen auf 


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Beiträge  zur  Bevölkerungsstatistik  Estlands. 


393 


Harrien 

15754 

Reval 

8329 

Wierland 

17788 

Haltischport 

109 

die  Wiek 

13601 

Wesenberg 

707 

Jerwen 

9076 

Hapsal 

385 

Weissenstein 

332. 

Von  den  getrauten  Paaren  gehörten  an  den 

Protestanten  .    .    .  63481 

Griechen  ....  1042 

Katholiken    ...  72 

Juden   150  .  ♦ 

Muhamedanern  .    .  2 
Die  übrigen  1334  Ehen  waren  Mischehen. 

Die  Ermittelung  der  Heiratsfrequenz,  sowol  der  allgemeinen, 
als  auch  der  speciellen,  wird  uns  selbstverständlich  nur  für  solche 
Jahre  möglich,  für  die  wir  eine  genaue  Kenntnis  der  Bevölkerungs- 
zahl besitzen,  in  Estland  also  für  das  auf  die  Volkszählung  folgende 
Jahr.  Wenn  sich  auch  die  Bevölkerungsgrösse  für  die  späteren 
Jahre  im  allgemeinen  berechnen  liesse,  so  beschränke  ich  mich 
doch  —  um  Ungenau igkeiten  zu  vermeiden  —  auf  die  Feststellung 
der  Heiratsziffer  für  das  Jahr  1882.  Es  entfielen  nun  in  dem  er- 
wähnten Jahre  Eheschliessungen  auf  1000  Individuen  der  Gesammt- 
bevölkerung  bei  den* 

Protestanten   Griechen   Katholiken   Juden  überhaupt 
in  Estland       7,0»  5,t,  4,n  5,„  6,,? 

«  den  Kreisen   6,.t  2,»«  —  —  6,,i 

«    «   Städten    7 ,,2  7,7,  5,,«  6,,i  7,T>. 

Die  kleinste  Verehelichungsziffer  besitzen  also  die  Katholiken, 
darauf  folgen  die  Griechen,  dann  die  Juden  und  endlich  die  Prote- 
stanten. Die  niedrige  Heiratsziffer  der  Juden  ist  auch  in  anderen 
Ländern  beobachtet  und  wird  von  E.  von  Bergmann»  auf  ihre 
grössere  wirtschaftliche  Vorsicht  zurückgeführt.  Während  aber 
sonst  überall  die  slavische  Leichtlebigkeit  und  Sorglosigkeit  eine 
hohe  Verehelichungsziffer  bewirken,  finden  wir  hier  eigentümlicher- 
weise eine  ungewöhnlich  niedrige  Ziffer.  Schon  die  Heiratsfrequenz 
Estlands  ist  im  Vergleich  zu  den  europäischen  Staaten  (nach  den 
Angaben  Stiedas1)  eine  niedrige,  immerhin  aber  doch  bedeutend 

1  Fr.  J.  Naumann  «Heitrage  zur  Geschieht«  der  Bevölkerung  in  Deutaeh 
land».  Th.  I  «Zur  Geschichte  der  Entwickelung  deutscher,  polnischer  und  jüdi- 
scher Bevölkerung  in  der  Provinz  Posen».    Von  Eugen  von  Bergmann.    S.  69. 

«  «T>.  Eheschliessungen  in  Elsass-Lothr.  i.  d.  J. 1872  -76.»  Straash.  1879.  S.4. 

26* 


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394 


Beiträge  zur  Bevölkerungsstatistik  Estlands. 


höher  als  die  unserer  Griechen.  Der  starke  Männerüberschuss.  der 
durch  das  active  Militär  bei  den  Russen  veranlasst  wird,  ist  jeden- 
falls kein  Grund  der  niedrigen  Heiratsziffer,  denn  wenn  wir  auch 
die  Militärbevölkerung  unberücksichtigt  lassen  und  die  Zahl  der 
Eheschliessungen  in  Relation  zur  Civilbevölkerung  setzen,  erhalten 
wir  doch  nur  eine  niedrige  Ziffer,  indem  die  Heiratsfrequenz  in 
Estland  in  diesem  Fall  bei  den  Protestanten  7,n,  bei  den  Griechen 
6,ti  beträgt.  Alles  dieses  berechtigt  uns  zu  der  Annahme,  dass 
die  wirtschaftlichen  Verhältnisse  der  Deutschen  und  Esten  in 
unserer  frovinz  bessere  sind  als  die  der  anderen  Nationalitäten. 

Dass  aber  die  Heiratsziffer  in  den  Städten  eine  grössere  ist 
als  auf  dem  Lande,  ist  noch  kein  Zeichen  grösseren  Wohlbefindens 
der  städtischen  Bevölkerung  gegenüber  der  ländlichen ;  es  ist  diese 
höhere  Ziffer  nur  eine  Folge  der  grösseren  Zahl  heiratsfähiger 
Personen  in  den  Städten.  Dass  eine  Abnahme  der  allgemeinen 
Matrimonialität  stattgefunden ,  können  wir  an  der  Bevölkerung 
Revals  erkennen.  Hier  entfielen  nämlich  Heiraten  auf  1000  Indivi- 
duen der  Gesammtbevölkerung  bei  den 


Bei  sämmtlichen  Nationalitäten  ist  also  die  Heiratshäufigkeit 
zurückgegangen ;  am  unbedeutendsten  ist  dieser  Rückgang  bei  den 
Protestanten.  Ob  auch  im  übrigen  Estland  eine  derartige  Er- 
scheinung zu  Tage  getreten,  lässt  sich  aus  einem  schon  früher  er- 
wähnten Grande  nicht  bestimmen ;  anzunehmen  ist  es,  da  auch 
Carlberg 1  in  unserer  Nachbarprovinz  ein  derartiges  Zurückgehen 
beobachtet,  wie  es  Haushofer»  überhaupt  für  die  meisten  europäischen 
Staaten  findet. 

Bei  Betrachtung  der  speciellen  Heiratsfrequenz  wird  es  zu- 
nächst unsere  Aufgabe  sein,  die  Grösse  der  heiratsfähigen  Be- 
völkerung festzustellen.  Die  untere  Grenze  des  Heiratsalters  ist 
nun  meist  durch  Gesetz  bestimmt,  und  zwar  dürfen  in  Estland 
von  den  Angehörigen  christlicher  Confessionen  Männer  nicht  vor 
dem  18.  und  Frauen  nicht  vor  dem  IG.  Jahre  in  die  Ehe  treten. 


1  a.  a.  O.    8.  186,  187.  -    ■  a.  a.  0.    S.  399. 


Katholiken 
Juden 


Protestanten 
Griechen 


überhaupt 


» 


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Beiträge  zur  Bevölkerungsstatistik  Estlands.  395 

Die  eigentliche  obere  Grenze  dürfte  mit  dem  Aufhören  der  Gebär- 
und  Zeugungsfähigkeit  erreicht  sein,  also  etwa  mit  dem  50.  Lebens- 
jahre, weil  ja  bei  einem  späteren  Heiraten  der  Hauptzweck  einer 
Ehe,  als  welchen  wir  in  nationalökonomischer  Beziehung  doch  die 
Zeugung  und  die  Erziehung  von  Kindern  ansehen  müssen,  aufhört. 
Thatsächlich  ist  diese  Grenze  jedoch  weiter  gezogen,  da  auch  nach 
dem  50.  Jahre  noch  Ehen  eingegangen  werden.  Wir  werden  daher 
nicht  fehlgreifen,  wenn  wir  die  im  Alter  von  16—60  Jahren  stehen- 
den ledigen,  verwittweten  und  geschiedenen  Personen  als  zur  heirats- 
fähigen Bevölkerung  gehörig  betrachten,  da  nach  dem  60  Jahre  doch 
nur  verschwindend  wenig  Ehen  geschlossen  werden.  1882  betrug  nun 

die  specielle     die  heiratsfähige  Be- 
Heiratsfrequenz     völkerung  in  pCt. 
Estland       26,,,  26,„ 
Land  27,T,  24,,, 

Stadt  21,8.  36,,  7. 

Wie  ersichtlich,  ist  die  Heiratshäufigkeit  auf  dem  Lande  eine 
viel  grössere  als  in  der  Stadt,  obgleich  in  dieser  der  Procentsatz 
der  heiratsfähigen  Bevölkerung  den  der  ländlichen  bedeutend  über- 
trifft. Die  wirthschaftliche  Lage  der  Bewohner  des  Landes  ist 
also  auch  hier  eine  derartige,  dass  sie  eher  an  die  Gründung  eines 
eigenen  Herdes  denken  können  als  die  Bewohner  der  Städte.  —  Auch 
bezüglich  der  speciellen  Verehelichungsziffer  lässt  sich  eine  Ab- 
nahme constatiren,  indem  dieselbe  in  Reval  von  31,,»  im  Jahre 
1872  auf  21.ji  im  Jahre  1882  gesunken  ist,  eine  Erscheinung,  die 
auf  ökonomische  Misstände  innerhalb  der  städtischen  Bevölkerungs- 
klassen hinweisen  dürfte. 

Wenn  wir  schon  bei  der  Betrachtung  der  allgemeinen  Heirats- 
frequenz besonders  auf  die  niedrige  Ziffer  der  Griechen  aufmerksam 
machten,  können  wir  das  bei  der  speciellen  Heiratsziffer  im  erhöhten 
Masse  thun.  Im  Jahre  1882  entfielen  nämlich  in  Reval  Ehe- 
schliessungen auf  1000  heiratsfähige  Individuell 

Protestanten    .    .    24,,  i 

Griechen     .    .    .  12,,, 

Katholiken  .    .    .  13,,i 

Juden     ....  31.«,. 
Die  ungünstigste  Stellung  nehmen  also  die  Griechen  ein,  was 
sich  zum  Theil  gewiss  daraus  erklärt,  dass  der  grösste  Theil  des 
activen  Militärs  wol  im  heiratsfähigen  Alter  steht,  ohne  indes  im 
wirthschaftlichen  Sinne  thatsächlich  heiratsfähig  zu  sein.  Sehen 


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396  Beiträge  zur  Bevölkerungsstatistik  Estlands. 

wir  daher  von  der  Militärbevölkerung  ab,  so  erhalten  wir  ein 
anderes  Bild ;  es  kamen  nämlich  auf  1000  heiratsfähige  Griechen 
der  Civilbevölkerung  37, i»  Eheschliessungen,  eine  höhere  Ziffer  als 
selbst  die  Juden  aufweisen. 

Die  hohe  Heiratsziffer  dieser  letzteren  Bevölkerungsgruppe 
erklärt  sich  wol  auch  aus  dem  frühen  Heiratsalter  derselben,  sowie 
aus  dem  damit  im  Zusammenhang  stehenden  hohen,  ja  höchsten 
Procentsatz  an  wiederholten  Ehen.  Ausserdem  ist  nicht  zu  ver- 
gessen, dass  der  Jude  bei  seiner  Bedürfnislosigkeit  und  bei  den 
geringes  Anforderungen,  die  er  an  das  Leben  stellt,  eher  im  Stande 
ist  zu  heiraten  als  Personen,  anderer  Nationalität,  die  etwa  in  den- 
selben Verhältnissen  wie  die  Juden  leben. 

Schon  bei  der  Statistik  der  Geburten  betonten  wir  den  engen 
Zusammenhang  der  Häufigkeiten  der  Geburten  mit  den  jeweiligen 
wirthschaftlichen  Verhältnissen.  Aus  der  folgenden  Tabelle  können 
wir  nun  erkennen,  wie  sehr  der  Entschluss  eine  Ehe  einzugehen 
abhängig  ist  von  der  Aussicht  auf  ein  gedeihliches  Fortkommen  des 
zu  gründenden  Hausstandes.  Auch  hier  muss  ich  als  Massstab 
zur  Beurtheilung  der  wirthschaftlichen  Lage  einer  Bevölkerung  die 
Höhe  der  Roggenpreise  ansehen,  wie  die  folgende  Nebeneinander- 
stellung zeigt: 

Jahr   TreiB  pr.  Tachetwert  Ruggeu    absolute  Zahl  der  Eheschltiiwuugen 


1860 

592 

3131 

1861 

703 

2830 

1862 

697 

2916 

1863 

628 

2750 

1864 

546 

2976 

1865 

671 

2585 

1866 

757 

2206 

1867 

857 

2129 

1868 

1200 

1732 

1869 

1063 

2304 

1870 

740 

3131 

1871 

786 

2939 

1872 

755 

2660 

1873 

700 

2748 

1874 

846 

2908 

1875 

700 

2874 

1876 

700 

2601 

1877 

750 

2341 

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Beiträge  zur  Bevölkerungsstatistik  Estlands.  397 
Jahr   Preis  pr.  Tschetwert  Koggen   absolute  Zahl  der  Eheschließungen 


1878  809  2518 

1879  867  2559 

1880  1049  2516 

1881  1100  2573 

1882  900  2624 

1883  900  2789 

1884  849  2741 


Mit  verhältnismässig  wenigen  Ausnahmen  erkennen  wir  einen 
Zusammenhang  der  Schwankungen  in  beiden  Spalten;  hohe  Koni- 
preise wirken  in  der  Regel  hemmend,  niedrige  Kornpreise  fördernd 
auf  die  Ehefrequenz  ein.  Die  einzelnen  Jahre  sind  in  wirthschaft- 
licher  Beziehung  schon  an  einer  anderen  Stelle  charakterisirt  worden 
und  kann  ich  daher  hier  um  so  eher  eine  Wiederholung  vermeiden, 
als  ein  Theil  der  hier  beobachteten  Periode  in  den  siebziger  Jahren 
durch  P.  Jordan  eine  Behandlung  in  der  t  Baltischen  Wochenschrift» 
erfahren  hat1;  hinzufügen  muss  ich,  dass  natürlich  neben  den  Getreide- 
preisen auch  andere  Factoren  die  grössere  oder  geringere  Heirats- 
frequenz beeinflusst  haben  mögen.  So  mag  die  Einführung  der 
allgemeinen  Wehrpflicht  sowol  eine  Erhöhung  des  mittleren  Heirats- 
alters, als  auch  eine  Verringerung  der  Eheschliessungen  bewirkt 
haben.  Der  Bauernbursch  wird  eben  jetzt  nur  selten  vor  absolvirter 
Dienstzeit  heiraten,  wie  auch  aus  einer  kürzlich  im  <  II  pami  re^L- 
CTBemiufl  BtcTiiHKT>>  publicirten  Uebersicht  hervorgeht,  nach  welcher 
im  Jahre  1886  von  den  in  Estland  ausgehobenen  1017  Rekruten 
nur  10,  d.  h.  0,»,  pCt.  schon  verehelicht  waren. 

Der  Einfluss  des  letzten  russisch-türkischen  Krieges  ist  durch 
das  Herabgehen  der  Heiraten  im  Jahre  1877  erkennbar.  Gesetz- 
liche Ellebeschränkungen,  wie  sie  in  einigen  Ländern  die  Eheziffer 
herabdrücken,  kommen  hier  nicht  in  Betracht.  Dass  sich  im  all- 
gemeinen ein  Rückgang  in  der  Häufigkeit  des  Eheschliessens  in 
Estland  —  wenigstens  auf  dem  Lande  —  bemerkbar  macht,  lässt 
sich  nicht  wegleugnen  und  ergiebt  sich  auch,  wenn  wir  die  Ehe- 
schliessungen nach  Pentaden  ordnen. 

Zahl  der  Eheschliessungen   Preis  pro  Tschetwert 
auf  dem  Lande   in  den  Städten  Roggen 
1860-64    12779  1824  633 

1865—69      9578  1378  910 

1  Jordan  «lieber  dir  Ehesehliessungeii  in  Estland  im  Verlaufe  von  24  Jahren 
(1854-77  ind.).» 


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398  Beiträge  zur  Bevölkerungsstatistik  Estlauds. 


Zahl  der  Eheschliessungen    Preis  pro  Tschetwert 


auf  dem  Lande  in  den  Städten  Roggen 

1870—74     12519              1867  765 

1875—79     10495              2398  765 

1880-84     10848              2395  960. 


Ganz  besonders  deutlich  spricht  sich  in  dieser  Tabelle  die 
Ungunst  der  Verhältnisse  in  den  Jahren  1865—69  aus.  Auch  aus 
den  hier  angeführten  Zahlen  ist,  mit  Ausnahme  des  letzten  Quin- 
quenniums,  der  Zusammenhang  zwischen  Getreidepreisen  und  Heirats- 
häufigkeit unverkennbar,  wobei  ich  bemerken  muss,  dass  die  Roggen- 
preise hier  nicht  wie  in  der  ersten  Tabelle  geometrische,  sondern 
nur  arithmetische  Durchschnitte  darstellen. 

Dass  diese  Abnahme  der  absoluten  Zahl  der  Heiratenden  bei 
allen  Nationalitäten  bemerkbar  wird,  lässt  sich  nicht  behaupten, 
wenigstens  zeigen  hier  die  Russen  und  Juden  in  den  letzten  Quin- 
quennien,  wie  aus  nachstehenden  Zahlen  ersichtlich,  eine  Zunahme 
der  Trauungen.  Es  betrug  nämlich  die  Zahl  der  eingegangenen 
Ehen  in  Estland  bei  den 

Protestanten   Griechen   Katholiken   Juden  Mischehen 


1860—64 

14116 

155 

11 

19 

290 

1865—69 

10552 

166 

10 

10 

218 

1870—74 

139U 

201 

16 

30 

228 

1875—79 

12833 

229 

20 

30 

279 

1880—84 

12569 

281 

13 

61 

319. 

Wenn 

man  bedenkt, 

dass 

der  grösste  Theil  der 

Mischeben 

zwischen  Personen  eingegangen  wird,  von  denen  entweder  die 
Braut  oder  der  Bräutigam  der  griechischen  Kirche  angehört,  dann 
dürfte  wol  eine  Steigerung  der  Heiratsfrequenz  bei  den  Russen  seit 
1860  anzunehmen  sein,  wenn  auch  zugleich  das  russische  und 
griechische  Element  durch  Einwanderung  resp.  Conversionen  in 
demselben  Zeitraum  in  unserer  Provinz  bedeutend  gewachsen  ist. 
Von  sämmtlichen  Mischehen  betrugen  nämlich  1866—84  in 


Procenten  ausgedrückt  solche  zwischen 

Lutheranern  und  Griechen  80,5i 

Lutheranern  und  Katholiken  15,81 

Griechen  und  Katholiken  3,CJ 
Protestanten  und  Hebräern  0,t». 


Die  Mehrzahl  der  Mischehen  wird  also  in  der  griechischen 
Kirche  vollzogen.  Interessant  dürfte  die  aus  der  obigen  Tabelle 
sich  ergebende  Erscheinung  sein,  dass  sich  weit  eher  eine  Neigung 


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< 


Beiträge  zur  Bevölkerungsstatistik  Estlands.  399 

zwischen  Gliedern  der  katholischen  und  lutherischen,  als  zwischen 
Angehörigen  der  katholischen  und  griechischen  Kirche  ausbildet, 
indem  die  zuerst  angeführte  Ehecombination  fast  fünfmal  so  häufig 
auftritt  als  die  letzte.  Mischehen  sind  in  Estland  eigentümlicher- 
weise viel  häufiger  als  Ehen  zwischen  griechischen,  katholischen 
oder  jüdischen  Paaren,  wie  folgende  Tabelle  ergiebt.  Es  beträgt 
nämlich  der  Procentsatz  sämmtlicher  in  den  Jahren  1860—84  in 
Estland  geschlossenen  Ehen  bei  den 


Protestanten 

96,o« 

Griechen  .    .  . 

1,M 

Katholiken  .  . 

.  o,,, 

Juden  .... 

.  0.» 

Mischehen    .  . 

2,ol 

Auf  dem  Lande  sind  die  Mischehen,  wie  leicht  erklärlich, 
weit  seltener  als  in  den  Städten,  indem  dieselben  hier  12,*«  pCt. 
(Reval  II*»  pCt.,  kleinere  Städte  18,it  pCt.),  dort  aber  nur  0,u  pCt. 
von  sämmtlichen  1860—84  eingegangenen  Eben  ausmachen.  Es 
ergiebt  sich  dieses  einmal  daraus,  dass  in  den  Städten  verschiedene 
Nationalitäten  und  Oonfessionen  in  grösserer  Zahl  neben  einander 
leben,  während  den  Hauptstock  der  ländlichen  Bevölkerung  die 
Protestanten  bilden.  Dann  ist  aber  auch  zu  beachten,  dass  es  auf 
dem  Lande  früher  fast  gar  keine  griechischen  Kirchen  gab  und 
dass  die  einzige  katholische  Kirche  sich  in  Reval  befindet ;  aus 
diesem  Grunde  mögen  vielfach  die  .Ehen  zwischen  Personen  ver- 
schiedenen Bekenntnisses  —  auch  wenn  sie  auf  dem  Lande  lebten 
—  von  der  städtischen  Geistlichkeit  vollzogen  worden  sein. 

Im  Anschluss  hieran  will  ich  erwähnen,  dass  die  Mischehen 
(gleich  den  Ehen  bei  den  Griechen)  seit  dem  Jahre  1860  zuge- 
nommen haben,  sie  betrugen  nämlich  von  sämmtlichen  Eheschliessun- 
gen in  unserer  Provinz  in  Procenten : 


1860—64  . 

1,98 

1865-69  . 

1,»B 

1870-74  . 

•  1,M 

1875-79  . 

.  2,16 

1880—84  . 

2,n. 

Auch  diese  Erscheinung  dürfte  auf  den  starken  Zuzug 
russischer  Elemente  aus  den  anderen  Gouvernements,  sowie  auf 
den  Uebertritt  von  Esten  zur  griechischen  Kirche  zurückzu- 
führen sein. 


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400  Beiträge  zur  Bevölkerungsstatistik  Estlands. 


Heiratsaussicht.  Dass  die  Aussieht  der  Frauen  einen 
Mann  zu  bekommen  im  allgemeinen  geringer  ist,  als  die  des  Mannes 
eine  Frau  zu  bekommen,  ist  eine  bekannte  Thatsache,  die  sich 
uberall  dort  beobachten  lassen  wird,  wo  innerhalb  einer  Bevölkerungs- 
gruppe ein  Frauenüberschuss  vorhanden  ist.  Estland  —  wenigstens 
das  flache  Land  —  hat  bei  der  letzten  Zählung,  wie  die  meisten 
Länder,  einen  Frauenüberschuss  aufzuweisen,  und  geht  daher  aus 
den  folgenden  Ziffern  hervor,  wie  zu  erwarten  stand,  dass  die  Aus- 
sicht der  Männer  auf  Verehelichung  eine  grössere  ist  als  4*e  ^er 
Frauen.    1882  heirateten  nämlich  von  1000 

Männern   Frauen  heiratsfähigen 
der  Gesammtbevölkerung     Männern  Frauen 


in  Estland 

14.,, 

13„, 

54,,, 

51 

auf  dem  Lande 

14... 

13,,, 

60,,, 

51 

in  den  Städten 

15,ci 

16.,0 

37.,, 

50 

Während  das  flache  Land  mit  Frauenüberschuss  mehr  Männern 
als  Frauen  Aussicht  auf  Verheiratung  gewährt,  zeigen  die  Städte 
das  entgegengesetzte  Bild,  weil  diese  einen  Männerüberschuss  be- 
sitzen, der  durch  das  active  Militär  veranlasst  wird.  Interessant 
dürfte  die  Berücksichtigung  der  heiratsfähigen  Personen  im  speciellen 
sein.  Hier  zeigt  sich,  dass  sowol  die  factische  Heiratsaussicht  der 
Frauen,  als  auch  die  Heiratstendenz  der  Männer  auf  dem  Lande 
eine  höhere  ist  als  in  den  Städten.  Es  dient  dieses  also  als  Be- 
weis dessen,  dass  die  sociale  Stellung,  die  ökonomische  Lage  der 
ländlichen  Bevölkerung  mit  ihren  grösseren  Ansprüchen  an  das 
Leben  das  Heiraten  der  städtischen  gegenüber  erleichtert.  Auch 
hier  erkennen  wir,  dass  die  Stadtbewohnerinnen  leichter  zur  Ehe 
gelangen  als  die  Städter,  was  jedoch  anders  wird,  wenn  wir  das 
active  Militär  von  der  heiratsfähigen  Bevölkerung  in  Abzug  bringen. 
In  diesem  letzteren  Fall  heirateten  von  1000  heiratsfähigen  Männern 
der  Civilbevölkerung  59,,,,  also  mehr  Männer  als  Frauen. 

Wenn  wir  auch  hier  wieder  die  einzelnen  Confessionen  be- 
trachten, ergiebt  sich  Folgendes.  Es  heirateten  1882  in  Reval 
von  1000  heiratsfähigen 


bei  den 

Männern 

Frauen 

Protestanten 

49,,, 

47,,. 

Griechen 

15„. 

80,., 

Katholiken 

20,., 

43„, 

Juden 

50,,, 

85,,, . 

Wie  ersichtlich,  zeigen  die  protestantischen  Männer  eine  grössere 


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Beiträge  zur  Bevölkerungsstatistik  Estlands.  401 

Tendenz  zum  Heiraten  als  die  Frauen,  nicht  so  aber  die  Griechen 
nach  Abzug  des  activen  Militärs,  indem  auf  1000  heiratsfähige 
Männer  der  griechischen  Civilbevölkerung  69,«,  Eheschliessungen 
kommen. 

Betrachten  wir  jetzt  die  einzelnen  Civilstandsklassen  bezüglich 
ihrer  Heiratsaussichten,  wobei  ich  bemerken  muss,  dass  sich  in  den 
officiellen  Listen  keine  Angaben  über  die  Geschiedenen  finden,  sei 
es,  dass  dieselben  bei  den  Trauungen  zu  den  Verwittweten  gezählt 
sind,  oder  sei  es,  dass  in  den  24  von  uns  beobachteten  Jahren  keine 
Wiederverheiratung  Geschiedener  stattgefunden  hat.  Im  Jahre  1882 
heirateten  von  1000  heiratsfähigen 

Jungges.  Jungfr.  Wittwern  Wittwen  Ledigen  Verwittw. 


Estland 

47,,. 

00,., 

245(ü, 

lö,,„ 

53,.« 

48... 

Land 

61« 

60,,« 

260,,  a 

15,.. 

56,,  i 

5i,,0 

Stadt 

34*, 

6l,„ 

17G„0 

16.», 

44,., 

37.,. 

Zunächst  ergeben  sich  aus  der  vorstehenden  Tabelle  die 
besseren  Aussichten  sowol  der  Protogamen,  als  auch  der  Palingamen 
auf  dem  Lande  den  Städten  gegenüber,  und  zwar  ist  die  Differenz 
zwischen  diesen  beiden  Gruppen  auf  dem  Lande  geringer  als  in 
den  Städten.  Das  Streben  der  Wittwer  zur  Ehe  ist  ein  bedeutend 
stärkeres  als  das  der  Jungesellen.  Es  ist  eben  zum  Theil  die 
Gewolinheit,  zum  Theil  der  schon  bestehende  Familienhaushalt  der 
Grund,  welcher  dem  Wittwer  das  Eingehen  einer  neuen  Ehe 
erleichtert. 

Aus  den  angefühlten  Tabellen  geheu  so  recht  deutlich  die 
besseren  Erwerbsverhältnisse  der  ländlichen  Bevölkerung  gegenüber 
der  städtischen  hervor.  Die  ledigen  sowol,  wie  auch  die  ver- 
wittweten Männer,  von  deren  günstiger  ökonomischer  Lage  meist 
die  Heirat  abhängig  ist,  vermögen  diese  auf  dem  Lande  leichter 
auszuführen  als  in  den  Städten,  während  die  weiblichen  Protogamen 
und  Palingamen,  auf  deren  wirtschaftliche  Verhältnisse  es  viel- 
leicht weniger  ankommen  dürfte,  mehr  Aussicht  haben  in  der  Stadt 
als  auf  dem  Lande  ihr  Glück  zu  machen.  Allerdings  ist  auch  die 
Möglichkeit  nicht  ausgeschlossen,  dass  die  materiellen  Verhältnisse 
der  Städterinnen  bessere  sind  als  die  der  Landbewohnerinnen,  und 
dass  auch  dadurch  die  Aussichten  der  ersteren  gehoben  werden. 
Wenn  ich  von  der  ungünstigeren  Lage  der  Stadtbewohner  sprach, 
so  will  ich  damit  keineswegs  gesagt  haben,  dass  dieselbe  für  die 
einzelnen  Junggesellen  im  allgemeinen  unvortheilhaft  ist ;  die  allein- 
stehende Person  mag  ja  sogar  in  der  Stadt  unter  besseren  Ver- 


402  Beiträge  zur  Bevölkerungsstatistik  Estlands. 

hältnissen  leben  als  auf  dem  Lande ;  ich  meine  aber  nur,  dass  der 
Unterschied  zwischen  dem  Aufwände  einer  Einzel-  und  Familien- 
haushaltung in  der  Stadt  weit  grösser  ist  als  auf  dem  Lande  und 
dass  daher  die  Gründung  eines  eigenen  Herdes  dort  viel  reiflicher 
überlegt  werden  will  als  hier. 

Berücksichtigen  wir  auch  hier  wieder  die  Civilbevölkerung 
allein,  so  wächst  die  Heiratstendenz  der  städtischen  Junggesellen 
auf  55,,,. 

Aus  dem  Folgenden  können  wir  die  Verteilung  der  Heirats- 
aussicht der  einzelnen  Civilstandsklassen  auf  die  verschiedenen 
Confessionen  ersehen.  Es  heirateten  nämlich  1882  in  R e  v a  1 
von  1000  heiratsfähigen 

Junggesellen   Jungfrauen   Wittwern  Wittwen 


Protestanten 

M6,„ 

57,„ 

149,., 

i7„. 

Griechen 

13,» 

lOU 

98,,, 

20,,, 

Katholiken 

17,„, 

45,., 

125.„ 

38,,, 

Juden 

33,Ja 

78„. 

375„io 

133,»!». 

Auffallend  ist  hier  die  grosse  Heiratsaussicht  der  griechischen 
und  jüdischen  Jungfrauen ,  sowie  der  jüdischen  Wittwen.  Im 
übrigen  bedarf  diese  Tabelle  kaum  eines  Commentars.  Zur  Be- 
leuchtung der  Heiratsaussicht  resp.  der  Heiratstendenz  der  einzelnen 
Altersklassen  möge  folgende  Tabelle  dienen.  Im  Jahre  1882 
heirateten  nämlich  vom  1000  der  betreffenden  Altersklassen 


auf  dem  Lande 

in  den  Städten 

Männer 

Weiber 

Männer 

Weiber 

unter  20  Jahren 

4„5 

31,M 

2,„ 

32„. 

21-25 

74,, 

112,,, 

45,,, 

94,,, 

26-30 

15U 

119,,, 

141,,, 

93,,o 

31—35 

152,,, 

68,» 

116,,, 

96,,7 

36-40 

103,,, 

34.37 

76,., 

36,,7 

41-45 

126,,, 

19,. 

56,8! 

23„, 

46-50 

99,t 

8,04 

43„ 

6,,, 

51  u.  mehr  c 

63,4» 

2.,, 

56,i, 

2,,i . 

Vorauszuschicken  wäre,  dass  auf  dem  Lande  die  Gesammt- 
bevölkerung,  in  den  Städten  dagegen  nur  die  Civilbevölkerung  be- 
rücksichtigt ist.  Betrachten  wir  zunächst  die  Heiratstendenz  der 
Männer,  so  ergiebt  sich,  dass  dieselbe  auf  dem  Lande  bis  zum 
35.  Jahre  steigt,  darauf  sinkt,  um  zwischen  dem  41.  und  45.  Jahre 
wieder  zu  steigen,  worauf  mit  dem  45.  Jahre  eine  Abnahme  zu 
Tage  tritt.    Am  stärksten  ist  die  Heiratstendenz  also  bei  Personen 


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Beiträge  zur  Bevölkerungsstatistik  Estlands.  403 


zwischen  dem  31.  und  35.  Lebensjahre.  In  den  Städten  tritt  diese 
stärkste  Tendeuz  um  fünf  Jahre  früher  ein,  sinkt  dann  bis  zum 
50.  Jahre,  um  hierauf  eine  ziemliche  Hebung  zu  zeigen.  Die 
grösste  Heiratsaussicht  der  Frauen  auf  dem  Lande  fällt  in  das 
26.— 30.  Jahr  und  tritt  bei  den  Frauen  in  den  Städten  um  fünf 
Jahre  früher  ein.  Sowol  auf  dem  Lande  als  auch  in  den  Städten 
nimmt  die  Aussicht  auf  Verehelichung  darauf  stetig  ab  und  zeigt 
sich  nur  bei  den  31—35  Jahre  alten  Frauen  in  der  Stadt  eine 
wenn  auch  kleine  Aufbesserung  ihrer  Aussichten. 

Zum  Schluss  seien  mir  noch  einige  Bemerkungen  über  die 
procentuale  Betheiligung  der  einzelnen  Civilstandsklassen  an  den 
Eheschliessungen  gestattet.  In  den  Jahren  1866—84  waren  unter 
100  Personen,  die  in  die  Ehe  traten, 

Estland  Land  Stadt  Protest.  Griechen  Kathol.  Juden 


Junggesellen 

41,«, 

41,.. 

42,,. 

41,« 

43,o. 

44,o5 

41,., 

Jungfrauen 

45,»j 

46,u 

44,,, 

45,,8 

46,,  7 

45,,. 

42,,. 

Wittwer 

8,71 

8,»8 

7,,7 

8,71 

6,o& 

5,.» 

8,»i 

Wittwen 

4,o7 

3,81 

5*1 

4,07 

3,«3 

4,7« 

7,7. 

Im  Laufe  der  erwähnten  24  .fahre  sind  bei  allen  Confessionen 
in  den  Städten,  wie  auf  dem  Lande  mehr  ledige  Frauen  als  ledige 
Männer  in  die  Ehe  getreten,  weil  die  Wahl  der  Wittwer  eher  auf 
ein  Mädchen  als  auf  eine  verwittwete  Frau  fällt.  Junggesellen 
und  Wittwen  haben  häufiger  in  den  Städten  als  auf  dem  Lande 
geheiratet,  während  das  Umgekehrte  von  den  Jungfrauen  und 
Wittwern  gilt.  Ledige  traten  am  häufigsten  unter  den  Griechen, 
Verwittwete  am  häufigsten  unter  den  Juden  in  die  Ehe. 

Protogame  und  palingame  Ehen.  Oass  die  ersten 
Ehen  in  jedem  Lande  weit  häufiger  sind  als  die  wiederholten,  ist 
eine  Thatsache,  die  keiner  weiteren  Erklärung  bedarf.  Das  Ver- 
hältnis zwischen  den  ersten  und  späteren  Ehen  ist  nun  in  den  ver- 
schiedenen Staaten  bedeutenden  Schwankungen  unterworfen,  und 
mag  gewiss  viel  zur  Oharakterisirung  der  wirtschaftlichen  Ver- 
hältnisse beitragen,  wenn  die  Voraussetzung  richtig  ist,  dass  gerade 
in  wirthscbaftlich  ungünstigen  Zeiten  die  Wiederverheiratung  Ver- 
wittweter  häufiger  ist  als  in  günstigen.  Stieda«  giebt  für  Elsass- 
Lothringen  den  Procentsatz  der  ersten  Ehen  mit  82,,,  Carlberg* 
für  die  livländischen  Städte  mit  79,,.,  für  das  flache  Land  mit  79,,, 


'  a.  a.  ().    S.  109.  -    •  a.  ft.  O.    S.  19t>. 


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404  Beiträge  zur  Bevölkerungsstatistik  Estlands. 

an.  Ist  nun,  wie  erwähnt,  der  grössere  Procentsatz  an  wieder- 
holten Ehen  ein  ungünstiges  Zeichen  für  das  wirtschaftliche  Leben 
einer  Bevölkerung,  dann  müssen  wir  allerdings  sagen,  dass  die 
Verhältnisse  in  unserer  Provinz  minder  gute  sind  als  die  Livlands. 
In  den  Jahren  1866—84  waren  nämlich  von  sämmtlichen  Ehen 

e/ste  Ehen  wiederholte  Ehen 


Estland 

Land 

Stadt 

Estland 

Land 

Stadl 

Protestanten 

77,,, 

77„, 

76... 

22,.o 

22,,. 

23,,, 

Griechen 

80,,  7 

82*. 

79,., 

19,,, 

17t0. 

20,o, 

Katholiken 

79„, 

79„, 

20,., 

20,.. 

Juden 

75„, 

75,.; 

24,o. 

24,o, 

sämmtl.  Confess. 

77,,, 

77,« 

77,,, 

22,., 

22,.. 

22,., 

Die  wiederholten  Ehen  sind  also  in  den  Städten  etwas  häufiger 
als  auf  dem  Lande  und  am  häufigsten  unter  der  jüdischen  Be- 
völkerung anzutreffen.  Am  seltensten  wurden  wiederholte  Ehen 
von  den  Griechen  geschlossen,  während  nach  Carlberg'  in  Livland 
die  Wiederverheiratung  verwittweter  Griechen  häutiger  ist  als  selbst 
die  verwittweter  Juden.  Dass  die  Zahl  der  ei-sten  Ehen  in  Estland 
stetig  zunimmt,  geht  aus  folgenden  Ziffern  deutlich  hervor.  Es 
betrug  die  Zahl  der  ersten  Ehen  m  Procenten 

auf  dem  Lande   in  den  Städten 


1866-69 

73,„. 

70,T, 

1870-74 

74,.. 

72„o 

1875-79 

80,oi 

80,,. 

1880-84 

80,,. 

80,,.. 

In  Livland  hat  eiue  Abnahme  der  wiederholten  Ehen  nur  in 
den  Städten  stattgefunden,  während  die  Ziffern  für  das  Land  keine 
Schwankungen  aufweisen. 

Wenn  wir  jetzt  im  Folgenden  eine  weitere  Gliederung  der 
wiederholten  Ehen  nach  dem  Familienstande  der  Getrauten  vor- 
nehmen, so  werden  sich  für  die  verschiedenen  Confessionen  einige  zum 
Theil.  recht  charakteristische  Unterschiede  ergeben.  Betrachten  wir 
zunächst  die  Civilstandsgruppirung  sämmtlicher  Getrauten,  so  finden 
wir  in  den  JJ.  1866-84  von  je  100  Ehen  solche  geschlossen  zwischen 
Junggesellen  und  Wittwern  und 

Jungfrauen    Wittwen         Jungfrauen  Wittwen 


Estland 

77„, 

5,ia 

14,.» 

2,.. 

Land 

77,,, 

4,„ 

14,.o 

3,u, 

Stadt 

77*, 

7„. 

12,M 

2,13. 

•  a.  ft.  O.    S.  193. 


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Beitrage  zur  Bevölkerungsstatistik  Estlands.  405 


Es  wird  sich  also  ein  Wittwer  viel  häufiger  mit  einer  .Jung- 
frau als  mit  einer  Wittwe  vermählen  und  hat  eine  Wittwe  weit 
mehr  Aussicht,  einen  Junggesellen  zum  Mann  zu  bekommen  als 
einen  Wittwer.  Ferner  ergiebt  sich,-dass  Wittwen  auf  dem  Lande 
häufiger  als  in  den  Städten  von  Wittwern  erwählt  werden,  während 
der  Junggeselle  in  der  Stadt  sich  eher  dazu  entschliesst,  eine 
Wittwe  heimzuführen  als  der  auf  dem  Lande.  Die  ländlichen 
Jungfrauen  dagegen  scheinen  bereitwilliger  einem  Wittwer  zu  folgen 
als  die  städtischen.  Der  Wittwer  heiratet  überhaupt  häufiger  auf 
dem  Lande,  vielleicht  weil  die  ländliche  Wirthschaft  weniger  als 
die  städtische  der  Stütze  einer  Hausfrau  entbehren  kann.  Die 
erwähnten  Unterschiede  zwischen  Stadt  und  Land  sind  in  Livland 
noch  schärfer  ausgeprägt  als  in  unserer  Provinz. 

Betrachten  wir  jetzt  die  verschiedenen  Combinationen,  wie 
sie  bei  den  einzelnen  Confessionen  zu  Tage  traten.  Von  je  100 
Ehen  wurden  in  den  Jahren  1866—84  in  Estland  geschlossen 
zwischen 


Junggesellen  und  Wittwern  und 

bei  den    Jungfrauen    Wittwen      Jungfrauen  Wittwen 


Protestanten 

77*. 

14,., 

2„o 

Griechen 

80,7, 

5,32 

11*1 

u 

Katholiken 

79,,t 

8,7» 

Ii*, 

0,7, 

Juden 

75„, 

6,#7 

8,»i 

8,»j. 

Am  wenigsten  Beifall  scheinen  demnach  die  griechischen 
Wittwen  zu  finden,  während  die  der  Protestanten  erst  in  zweiter 
Linie  folgen.  Gesuchter  sind  dagegen,  und  zwar  besonders  von  den 
Junggesellen,  katholische  Wittwen.  Die  günstigsten  Aussichten 
auf  Verehelichung  haben  jedenfalls,  wie  schon  erwähnt,  die  Wittwen 
der  Juden,  da  sowol  Junggesellen  als  auch  ganz  besonders  Wittwer 
diese  als  fgute  Partie»  zu  betrachten  scheinen.  Dass  die  protestan- 
tischen Jungfrauen  eher  bereit  sind,  einen  Wittwer  zu  beglücken 
als  die  griechischen,  katholischen  und  jüdischen,  wird  sich  zum 
Theil  aus  dem  Frauenüberschuss  der  ersteren  gegenüber  dem  Frauen- 
mangel der  letzteren  erklären,  denn  wo  ein  Frauenüberschuss  vor- 
handen ist,  wird  die  Jungfrau  sich  nicht  so  lange  bedenken,  einem 
Wittwer  die  Hand  zu  reichen  wie  dort,  wo  ein  Frauenmangel 
herrscht. 

Heiratsalter.  Die  Ermittelung  des  mittleren  Heirats- 
alters für  Estland  ist  bei  der  mangelhaften  Gliederung  des  Materials 


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406 


Beiträge  zur  Bevölkerungsstatistik  Estlands. 


leider  nicht  möglich,  und  wir  können  nur  immer  Altersklassen  von 
fünf  zusammengenommenen  Jahrgängen  betrachten.  Aus  ,  dem 
Folgenden  ergiebt  sich  die  procentuale  Betheifigung  der  einzelnen 
Altersklassen  für  eine  längere  Reihe  von  Jahren.  In  den  Jahren 
1866—84  heirateten  nämlich  von  100  Personen  im  Alter  von 


Estland 
M  W. 


Land 
M.  W. 


Stadt 
M.  W. 


unter  20  Jahren 

21—25 

26—30 

31—35 

36—40  « 

41—45  c 

46—50 

51  u.  mehr  < 


2,91 

29,«c 
30,00 
15,., 

8,31 

5, tu 
3,s» 
4, 


1 1 


18,,, 
43,t, 
19„, 
8,«o 
4„, 
2,«i 

l»4ü 
0,», 


3,jj 
81,«i 
29,,« 
14,,. 

7 

<  ,78 

3,ao 

4,99 


18,,7 

45,»9 

19, JJ 

7,»i 
418 

1,» 

0, 


SB 


u 

18,.. 
33,4t 
22,08 
11... 

5,97 
3,47 
3,9« 


15,„ 

33,94 

23„, 

13,30 

7,.. 

3,9  8 

1*1 
0,7,. 


In  dem  erwähnten  Zeitraum  haben  also  am  meisten  Männer 
auf  dem  Lande  zwischen  dem  21.  und  25.,  in  den  Städten  um  ein 
Quinquennium  später  geheiratet ;  die  meisten  Frauen  sind  sowol  in 
den  Städten,  als  auch  auf  dem  Lande  zwischen  dem  21.  und  25. 
Lebensjahre  in  die  Ehe  getreten.  Dass  das  mittlere  Heiratsalter 
auf  dem  Lande  ein  weit  niedrigeres  sein  dürfte  als  in  der  Stadt, 
ist  nach  den  angeführten  Ziffern  entschieden  anzunehmen,  also 
wieder  ein  Beweis  der  besseren  ökonomischen  Verhältnisse  des 
flachen  Landes  gegenüber  den  Städten. 

Bei  Betrachtung  der  einzelnen  Confessionen  erhalten  wir  für 
Estland  folgendes  Bild.  In  demselben  Zeitraum  heirateten  nämlich 
von  100  Personen  bei  den 


im  Alter 

Protestanten 

Griechen 

Katholiken 

Juden 

von 

M 

W. 

M. 

W. 

M. 

W. 

M. 

w. 

unter  20  J. 

2,93 

1 8,,  3 

2,48 

21,7, 

19,08 

6,20 

48,08 

21-25  « 

29,,, 

43,8o 

27,,. 

42,,4 

22,22 

38,10 

27„, 

38,7« 

26—30  « 

29,»a 

1  9,49 

34,3. 

19,,7 

31,7. 

19,08 

39,53 

6,98 

31—35  < 

15,,3 

8,42 

16,87 

8.33 

20,84 

10,32 

U..I 

3,,o 

36-40  c 

8,J8 

4.4 

7,93 

4,,7 

11,90 

7,,. 

6,20 

41—45  « 

5,48 

2,8  8 

4,7, 

2,., 

2,38 

3,,7 

3,89 

2,3, 

46-50  « 

3,«o 

1,39 

1,15 

2,97 

2,18 

1  |M 

0,77 

51  u.  m.  c 

4,-« 

0,8. 

3,81 

0,73 

7,,. 

0,78 

3j,o 

Dass 

das  mittlere 

Heiratsalter 

bei  den  Angehörigen 

der 

einzelnen  Confessionen  ein  sehr  verschiedenes  ist,  geht  deutlich  aus 
der  obigen  Tabelle  hervor.    Was  zunächst  die  Männer  betrifft,  so 


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Beiträge  zur  Bevölkerungsstatistik  Estlands.  407 

heiraten  diese  bei  den  Protestanten  etwas  früher  als  bei  den 
Griechen,  während  noch  nicht  20  Jahre  alte  Männer  bei  den  Katho- 
liken überhaupt  nicht  getraut  sind.  Am  grösssten  ist  der  Procent- 
satz der  unter  20  Jahren  heiratenden  Männer  bei  den  Juden,  die 
-  also  früher  wirtschaftlich  selbständig  werden  als  die  anderer 
Nationalitäten.  Nichts  desto  weniger  wird  ihr  mittleres  Heiratsalter 
ein  etwas  höheres  sein  als  das  der  Protestanten;  ebenso  werden 
diese  im  Durchschnitt  etwas  früher  heiraten  als  die  Griechen  und 
Katholiken,  wenn  auch  bei  allen  das  durchschnittliche  Heiratsalter 
zwischen  dem  26.  und  30.  Lebensjahr  zu  suchen  sein  dürfte.  Be- 
züglich der  Frauen  wäre  zu  bemerken,  dass  bei  den  Katholiken, 
Griechen  und  ganz  besonders  bei  den  Juden  mehr  Frauen  vor  dem 
20.  Lebensjahre  heiraten  als  bei  den  Protestanten.  Wir  sehen  aus 
den  angeführten  Ziffern,  dass  fast  die  Hälfte  aller  Jüdinnen  in 
dem  bedenklich  frühen  Älter  von  unter  20  Jahren  heiratet,  woraus 
E.  von  Bergmann«  wol  mit  Recht  den  Schluss  zieht,  dass  die  Zahl 
der  wiederholten  Ehen  bei  solchen  Bevölkerungsgruppen  eine  sehr 
grosse  sein  muss,  da  ja  bei  einem  so  niedrigen  Heiratsalter  auch 
relativ  mehr  Ehen  durch  einen  frühzeitigen  Tod  getrennt  werden 
und  die  Verwittweten  sich  daher  in  einem  jüngeren  Alter  befinden, 
welches  ihnen  mehr  Aussicht  auf  Wiederverheiratung  gewährt.  Dass 
.dieses  Verwittwungsalter  der  Jüdinnen  ein  niedrigeres  ist,  ergiebt 
sich  auch  aus  der  angeführten  Tabelle,  denn  obgleich  gerade  ganz 
besonders  viel  jüdische  Wittwen  in  die  Ehe  treten,  wie  wir  an  einer 
anderen  Stelle  sahen,  finden  wir,  dass  unter  ihnen  über  51jährige 
Frauen  überhaupt  nicht  und  über  45jährige  nur  sehr  wenige  ge- 
heiratet haben ;  die  Wittwen  müssen  demnach  jüngeren  Alters- 
klassen angehört  haben.  Dass  die  Höhe  des  mittleren  Heiratsalters 
in  nicht  geringem  Umfange  die  eheliche  Fruchtbarkeit  beeinflussen 
wird,  darauf  ist  in  dem  betreffenden  Abschnitte  schon  hingewiesen 
worden. 

Wenn  wir,  der  Hornschen'  Eintheilung  folgend,  die  Ehen  in 
vorzeitige  (unter  20  Jahren),  frühzeitige  (20—25),  rechtzeitige 
(25—35),  nachzeitige  (35—50)  und  verspätete  (50  und  mehr) 
trennen,  wobei  ich  bemerken  will,  dass  es  wol  richtiger  wäre,  die 
rechtzeitigen  Ehen  für  Frauen  schon  mit  dem  20.  Jahre  eintreten 
zu  lassen,  so  traten  in  den  Jahren  L8G6  -84  von  100  Personen  in 
die  Ehe: 

~>TI~0.  S.88. 

■  tBevulkeran^wissinsch.  Studien  am  Belgien».  Leipzig  18.r)7.  B  T,  8. 180ff. 

HaltiHche  MomWwbrift.  Bd.  XXXIV.    Urft  .V  27 


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408 


Beiträge  zur  Bevölkerungsstatistik  Estlands. 


Estland 

M.  W. 

2,91  18,33 

29,,0  43,7. 

45,m  28,3J 

17,3,  9, oi 

4,83  0,»» 


Land 


Stadt 


vorzeitig 

frühzeitig 

rechtzeitig 

nachzeitig 

verspätet 


W. 

18,,, 
45,», 
26,.* 

8,3* 

0,5« 


M.  W. 

l,sn  15,9« 

18,««  33,s5 

55,»,  36,3i 

20,»,  13,,, 

3,9»  0,7  I  . 


Wahrend  also  die  Männer  in  unserer  Provinz  im  Durchschnitt 
rechtzeitig  heiraten,  thun  die  Frauen  dieses  nur  in  der  Stadt ;  auf  dem 
Lande  dagegen  treten  sie  frühzeitiger  in  die  Ehe.  Vorzeitige  Ehen 
sind  auf  dem  Lande  sowol  bei  Männern,  als  auch  bei  Frauen  häufiger 
als  in  der  Stadt,  während  das  Umgekehrte  von  den  nachzeitigen 
Ehen  gilt,  die  häufiger  von  Männern  als  von  Frauen  geschlossen 
werden.  Verspätete  Ehen  gehen  Männer  seltener  in  der  Stadt  ein 
als  auf  dem  Lande ;  die  Städterinnen  treten  früher  verspätet  in  die 
Ehe  als  die  Bewohnerinnen  des  flachen  Landes. 

Ob  die  einzelnen  Confessionen  Verschiedenheiten  aufweisen, 
wird  sich  aus  der  nachstehenden  Tabelle  ergeben.    Es  traten  in 


Estland  1866—84 

von 

100  Personen  in 

die  Ehe 

Protestanten 

Griechen 

Katholiken 

Hebräer 

M. 

W. 

M.  W. 

M.  W. 

M. 

W 

vorzeitig       2,,  3 

18„3 

2,<j  2l,7| 

—  19,o» 

6,20 

48,o«  • 

frühzeitig  29,», 

43,bo 

27,, ,  42„, 

22,32  38,io 

27„, 

38,7« 

rechtzeitig   45,  Jt 

28,*, 

51,,»  27,3, 

52,,,  29,,, 

51,,« 

10,„. 

nachzeitig  17,,, 

9,08 

15,19  8,03 

18,2»  12,6, 

U,«, 

3,io 

verspätet  4,,«; 

0,»» 

3,81  0,73 

7,,«  0,7, 

3,,o 

Bei  den  Griechen  sowol  wie  auch  bei  den  Katholiken  und 
Hebräern  tritt  mehr  als  die  Hälfte  aller  heiratenden  Männer  recht- 
zeitig in  die  Ehe.  Was  das  Heiraten  der  Frauen  betrifft,  so  zeigen 
die  Jüdinnen  einen  bedenklich  kleinen  Procentantheil  an  recht- 
zeitigen Ehen,  was  seinen  Grund  zum  Theil  in  der  früher  ein- 
tretenden Geschlechtsreife  der  jüdischen  Mädchen  hat. 

Anders  erscheinen  jedoch  die  Verhältnisse,  wenn  wir  unserer 
Betrachtung  die  Hoffmannsche«  Eintheilung  der  Ehen  zu  Grunde 
legen.  Hoffmann  unterscheidet  nämlich  rechtzeitige  Ehen  (Männer 
unter  45,  Frauen  unter  30),  verspätete  (Männer  45—60  und  Frauen 
30—45)  und  zur  gegenseitigen  Unterstützung  geschlossene  Ehen 
(Männer  über  60,  Frauen  über  45).    Im  Folgenden  umfasst  die 

1  «liebe reicht  <1<t  Geburten,  neuen  Ehen  und  Todesfall«'  in  den  Jahren 

1818-41».    Berlin  1843.    8. 8. 


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Beiträge  zur  Bevölkerungsstatistik  Estlands.  409 

letzte  Gruppe  über  50  Jahr  alte  Männer  und  Frauen  über  45  Jahre. 
Es  heirateten  nun  1866—84  von  100  Personen 


- 

rechtzeitig 

verspätet 

zur  gegens.  Unterst. 

M. 

W. 

M. 

w. 

M. 

W. 

Estland 

91,», 

8l„. 

3,B» 

16,oj 

4,g3 

U 

Land 

9l,„ 

83,6» 

3,ao 

14„, 

4,„ 

u 

Stadt 

92,&9 

72,,, 

3, »7 

24,80 

3.« 

2„. 

Protestanten 

9U< 

81* 

3„. 

16,., 

l»i 

Griechen 

93,i  i 

83,oi 

3,o( 

14,.. 

3,»i 

2„. 

Katholiken 

88,1» 

76,m 

3,»i 

20,fjl 

7.« 

3,1  T 

Juden 

95,,» 

93,  <0 

u 

5,,i 

3.io 

0,17. 

Hiernach  sind  die  von  Männern  rechtzeitig  eingegangenen 
Ehen  in  den  Städten,  die  von  Frauen  eingegangenen  dagegen  auf 
dem  Lande  zahlreicher.  Gerade  das  Entgegengesetzte  gilt  sowol  von 
den  verspäteten,  als  auch  von  den  zur  gegenseitigen  Unterstützung 
geschlossenen  Ehen.  Ferner  ergiebt  sich  bei  dieser  Gruppirung, 
dass  weit  mehr  Frauen  als  Männer  verspätet  in  die  Ehe  treten. 
Am  meisten  rechtzeitige  Heiraten  kommen  bei  den  Juden  zu  Stande, 
am  wenigsten  bei  den  Katholiken.  Die  Protestanten  heiraten 
häufiger  verspätet  als  die  Griechen,  am  häufigsten  aber  die  Katho- 
liken und  am  seltensten  die  Juden.  Unterstützungsehen  sind  am 
zahlreichsten  bei  den  Katholiken,  am  seltensten  bei  den  Juden  ;  die 
protestantischen  Männer  heiraten  häufiger  als  die  griechischen  zur 
gegenseitigen  Unterstützung,  während  sich  das  Gegentheil  von  den 
Frauen  sagen  lässt. 

Leider  ist  die  Gliederung  des  Materials  nicht  weitgehend 
genug,  um  eine  Betrachtung  sowol  der  monströsen,  als  auch  der 
perversen  Ehen  vornehmen  zu  können ;  bei  diesen  letzteren  tritt 
ja  der  volkswirtschaftliche  Zweck  der  Ehe  völlig  in  den  Hinter- 
grund und  wäre  daher  die  Ermittelung  der  Häufigkeit  ihres  Auf- 
tretens von  nicht  geringer  Wichtigkeit  für  die  richtige  Beurtheilnng 
der  Heiratsverhältnisse  unserer  Provinz. 

Vertheilung  der  Trauungen  nach  Monaten. 
Die  ungleichmässige  Vertheilung  der  Trauungen  in  einem  Lande 
auf  die  einzelnen  Monate  des  Jahres  wird  sowol  durch  religiöse 
Satzungen  als  durch  ökonomische  Momente,  vielleicht  auch  durch 
klimatische  Einflüsse  —  wie  Oeningen1  meint  —  bedingt.  Dieser 

'  n.  a.  O.    S.  115. 

'J7* 


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410  Beiträge  zur  Bevölkerungsstatistik  Estlands. 

Einfluss  kirchlicher  Gebräuche  und  wirtschaftlicher  Factoren  lässt 
sich  auch  vollständig  durch  die  für  Estland  berechneten  Ziffern  er- 
klären, während  ein  Nachweis  für  die  Einwirkung  physischer 
Momente  in  unserem  Lande  nicht  geführt  werden  kann.  Es  ent- 
fielen nämlich  in  den  Jahren  1866—84  von  sämmtlichen  Ehe- 
schliessungen auf  deu 


Monat 

Estland 

Land 

Stadt 

Januar 

3459,,. 

2908,07 

551*i 

Februar 

6576,43 

5736,4s 

840,0„ 

März 

6622,2. 

6085,,, 

537,io 

April 

6120,oo 

5458,oo 

662,oo 

Mai 

4637,7, 

3950,„ 

687,,o 

Juni 

3871,oo 

327i,o. 

600,oo 

Juli 

I483ll5 

957,,  o 

526,.9 

August 

1233..T 

732,5, 

501,,, 

September 

1708„o 

1000,oo 

708,oo 

October 

2562,., 

1765,,, 

797,4, 

November 

3884,oo 

3l96,oo 

688,00 

December 

6297,,, 

5788,07 

509,0, 

Die  Monate  sind  alle,  wie  ich  vorausschicken  muss,  sowol 
hier  wie  auch  im  Folgenden  auf  30  Tage  reducirt.  Wenn  wir 
zunächst  das  flache  Land  berücksichtigen,  so  fällt  das  Maximum 
der  Eheschliessungen  auf  den  März,  was  sich  auf  wirthschattliche 
Verhältnisse  unserer  Landbevölkerung  zurückführen  lässt.  Da  der 
Landmann,  sobald  die  Feldarbeiten  einmal  begonnen  haben,  nur 
mit  grossem  Zeitaufwande,  also  mit  Verlust  für  seine  Wirthschaft, 
die  Hochzeitsfeier  —  die  doch  in  der  Regel  einige  Tage  in  An- 
spruch nimmt  —  ausführen  kann,  so  benutzt  er  eben  die  letzten 
Monate  vor  Beginn  der  Landarbeit  zur  Gründung  seines  neuen 
Hausstandes,  wozu  gewiss  auch  der  Wunsch  beitragen  mag,  für 
die  beginnenden  Arbeiten  mit  dem  Weibe  eine  neue  Arbeitskraft 
in  die  Wirthschaft  zu  bringen.  Vom  März  nimmt  die  Zahl  der 
Eheschliessungen  ab,  die  Saatarbeiten  haben  begonnen,  es  folgt  die 
Heuzeit  und  die  Erntezeit,  die  Anforderungen  an  die  Arbeitskraft 
erreichen  im  August  ihren  Höhepunkt,  die  ganze  Thätigkeit  des 
Landmannes  wird  in  Anspruch  genommen  und  sinkt  daher  die  Zahl 
der  Trauungen  auf  ihren  minimalsten  Stand.  Kaum  ist  die  schwerste 
Arbeitszeit  überstanden,  so  beginnt  auch  schon  mit  dem  September 
ein  Ansteigen  der  Eheschliessungen,  deren  Zahl  jetzt,  wo  die 
Ernten  eingebracht  und  der  Bauer  in  besseren  ökonomischen  Ver- 


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Beiträge  zur  Bevölkerungsstatistik  Estlands.  411 

hältnissen  lebt,  von  Monat  zu  Monat  zunimmt,  um  im  December 
das  zweite  Maximum  aufzuweisen.   Darauf  macht  sich  zum  Januar 
ein  plötzliches  und  sehr  starkes  Fallen  der  Trauungszahl  bemerk- 
bar, die  vielleicht  darauf  zurückzuführen  ist,  dass  der  Januarmonat 
mit  den  verschiedenen  Arbeiten,  die  noch  vor  Beginn  des  Frühjahrs 
ausgeführt  werden  müssen,  wie  Fuhren  &c,  dem  Laudmanne  nicht 
die  Zeit,  gewährt  zu  heiraten,  worauf  es  ihm  vielleicht  auch  gar 
nicht  ankommt,  da  er  für  die  Gehilfin  erst  im  Frühjahr  nutz- 
bringende Verwendung  findet.  Dass  die  Märkte,  worauf  Stieda«  Ge- 
wicht legt,  im  Januar  durch  Inanspruchnahme  der  geschäftlichen 
Thätigkeit  des  Bauern  dazu  beigetragen  hätten,  die  Zahl  der  Ehe- 
schliessungen zu  vermindern,  mag  wol  möglich  sein,  da  auf  diesen 
Monat  allerdings  mehrere  Märkte  fallen  (Rosenthal  Hapsal,  Lohde, 
Keblas  und  Wesenberg,  ferner  ein  livländischer  Markt,  der  vielfach 
von  unseren  Landleuten  besucht  wird,  nämlich  Pernau).    Auch  die 
vorhergehende  Festzeit  mit  den  grösseren  Ausgaben  wird  vielleicht 
hemmend  auf  das  Eingehen  von  Ehen  im  Januar  gewirkt  haben. 
Im  Februar  erreicht  die  Zahl  der  Eheschliessungen  schon  fast  die 
Höhe  des  Decembermaximums. 

Während  auf  dem  Lande  durchaus  den  wirtschaftlichen  Ver- 
hältnissen der  massgebende  Einfluss  zuzuschreiben  ist,  tritt  dieser 
in  den  Städten  völlig  zurück.  Wir  sehen  hier  zunächst  das  Maximum 
der  Eheschliessungen  auf  den  Februar  fallen,  im  März  ihre  Zahl 
durch  das  gänzliche  Fehlen  von  Heiraten  bei  den  Griechen  sinken. 
Das  Frühjahrsmaximum  wird  in  den  Städten  wol  auf  Sitte  und 
Herkommen,  auf  religiöse  Gebräuche  zurückzuführen  sein,  während 
die  Zunahme  der  Trauungen  in  den  folgenden  Monaten  möglicher- 
weise auf  physische  Factoren  zurückzuführen  ist.  Mit  dem  Juni 
beginnen  die  Heiraten  seltener  zu  werden  und  erreichen  im  August 
ihr  absolutes  Minimum.  Der  Hauptgrund  für  die  geringe  Zahl  der 
Eheschliessungen  im  Sommer  wird  wol  darin  zu  suchen  sein,  dass 
das  Familienleben  im  Sommer  überhaupt  ein  minder  reges  in  den 
Städten  ist ;  vielfach  wird  der  Sommer  zum  Aufenthalt  auf  dem 
Lande  ausgenutzt  und  die  Feier  der  Hochzeit  bis  zur  Rückkehr 
der  Familien  zur  Stadt,  also  auf  die  Herbstmonate  verschoben. 
Den  arbeitenden  Klassen  fehlt  durch  ihre  grössere  Beschäftigung, 
durch  lebhafteren  Handelsverkehr,  Bauten  oder  Uebernahme  von 
Landarbeiten  für  den  Sommer  die  Zeit  zum  Heiraten.    Im  Herbst, 


■  a.  a.  0.    S.  24. 


412  Beiträge  zur  Bevölkerungsstatistik  Estlands. 

wo  alle  diese  Hindernisse  fortfallen,  steigt  daher  die  Zahl  der  Ehe- 
schliessungen, fällt  darauf  wieder  zum  December,  wo  ein  zweites 
Minimum  bemerkbar  ist,  das  durch  die  Festzeit  und  den  damit  für 
den  einzelnen  Hausstand  verbundeneu  grösseren  Aufwand  veranlasst 
wird,  wobei  auch  hier  der  Sitte  eine  nicht  zu  unterschätzende  Ein- 
wirkung eingeräumt  werden  mag.  Dass  überhaupt  gesellschaftliche 
Eigentümlichkeiten  die  ökonomischen  Einflüsse  in  den  Städten  zu 
verdrängen  im  Stande  sind,  dürfte  sich  deutlich  aus  den  angeführten 
Zahlenreihen  ergeben. 

Bei  den  einzelnen  Confessionen  gilt  das  von  der  ländlichen 
Bevölkerung  Gesagte  im  vollen  Umfange  auch  von  den  Protestanten, 
die  ja  die  Hauptgruppe  der  Landbewohner  bilden  ;  sie  sind  also 
bezüglich  des  Moments  der  Eheschliessung  in  erster  Linie  wirth- 
schaftlichen  Einflüssen  unterworfen,  während  die  übrigen  Confessionen 
sich  hierbei  mehr  von  religiösen  Gesichtspunkten  leiten  lassen.  Es 
entfielen  nämlich  1806—84  von  sämmtlichen  Eheschliessungeu  iu 
Estland  bei  den 


den  Monat 

Protestanten 

Griechen 

Katholiken 

Juden 

Januar 

3038,, , 

400,6. 

12,.. 

ll„. 

Februar 

6271,,, 

28  U 

11,,» 

März 

6609>ea 

2,0. 

9,«» 

April 

5983,110 

127,ou 

7,00 

3,0« 

Mai 

4480,«. 

140,,, 

7.,. 

8,,i 

Juni 

Sit  3, DU 

71,„o 

13,00 

14,.0 

Juli 

1319,oS 

187,., 

14,63 

11,«, 

August 

1135,u 

74,., 

9,ö8 

14*, 

September 

1577,„o 

1  12,oo 

1  1,00 

8,ou 

October 

2394,30 

138,,. 

11,.. 

18,,. 

November 

3698,ü0 

160)Oo 

19,1,0 

7,00 

December 

6282,.. 

3,», 

10,... 

Bei  den  Griechen  tritt  das  Maximum  der  Eheschliessungen 
im  Januar  ein,  weil  vielfach  Trauungen,  die  im  December  der 
Adventsfasten  wegen  nicht  vollzogen  werden  konnten,  auf  den 
Jauuar  verschoben  wurden.  Diese  Anhäufung  der  Ehen  ist  ver- 
ständlich, wenn  man  bedenkt,  dass  die  Weihnachtsfasten  eben  be- 
endigt, von  Weihnachten  bis  zum  6.  Januar  keine  Trauungen  voll- 
zogen werden  dürfen  und  die  Quadragesimalfasten  im  Anzüge  sind. 
Im  März,  als  dem  eigentlichen  Fastenmonat,  sind  in  den  beob- 
achteten 24  Jahren  keine  Paare  getraut  worden.  Im  Juni  und 
August,  auf  welche  Monate  die  mehr  wöchentlichen  Apostel-  und 


Beiträge  zur  Bevölkerungsstatistik  Estlands. 


413 


Mariä-Hinimelsfahrtsfasten  fallen,  werden  nur  wenige  Ehen  ge- 
schlossen. Dass  im  December  wie  im  März  keine  Heiraten  statt- 
finden, ergiebt  sich  aus  den  erwähnten  Adventsfasten,  die  bis  zum 
Weihuachtsfest  reichen. 

Wie  von  der  griechischen,  so  ist  es  auch  von  der  katholischen 
Kirche  nicht  gestattet,  Ehen  während  der  Fastenzeit  vorzunehmen. 
Nichts  desto  weniger  setzt  sich  das  religiöse  Gefühl  des  Katholiken 
eher  über  diese  kirchliche  Satzung  hinweg  als  das  des  Griechen, 
denn  wenn  auch  nur  wenige,  so  sind  doch  eben  einige  katholische 
Paare  in  den  Fastenmonaten,  d.  h.  im  März  und  December,  den 
einzigen  längeren  Fasten  der  Katholiken,  getraut  worden.  Das 
Minimum  der  Trauungen  fällt  bei  ihnen  auf  den  März,  das  Maximum 
auf  den  Juli.  Die  Judeu  heiraten  am  häufigsten,  wie  ersichtlich, 
im  October,  am  seltensten  dagegen  im  April,  d.  h.  zur  Zeit  des 
Passahfestes. 

Bei  einer  Vertheilung  der  Eheschliessungen  nach  Jahreszeiten 
wäre  zunächst  die  Frage  zu  entscheiden,  ob  man  sich  der  von 
Wappäus  oder  der  von  Oettingen  befolgten  Eintheilungsmethode 
zu  bedienen  hätte ;  in  dem  ersten  Falle  müsste  man  den  December 
zum  Winter,  im  zweiten  dagegen  zum  Herbst  rechnen.  Mir  scheint 
die  von  Wappäus  befolgte  Methode  —  besonders  für  unsere  Pro- 
vinzen —  die  richtigere  zu  sein,  da  diese  auf  die  factischen  klima- 
tischen Verhältnisse  mehr  Rücksicht  nimmt,  denn  dass  der  December 
mit  grösserem  Recht  als  der  März  zum  Winter,  dass  der  Juni 
richtiger  zum  Sommer  zu  zählen  ist  als  der  September  &c,  unter- 
liegt wol  keinem  Zweifel.  Nichts  desto  weniger  will  ich  im  Folgen- 
den die  absolute  Zahl  der  Eheschliessungen  für  die  einzelnen 
Jahreszeiten  nach  beiden  Eintheilungen  anführen,  um  zu  zeigen, 
wie  ganz  anders  die  Verhältnisse  in  beiden  Fällen  sicli  gestalten. 
Es  entfielen  nämlich  von  sämmtlichen  Eheschliessungen  in  den 
Jahren  1866-84  auf  Land  Stadt 


Januar— März 
April— Juui 
Juli— September 
October  —  December 


14647 
12811 
2746 
11001 


1909 
1972 
1770 

2038. 


Oder : 


December— Februar 
März— Mai 
Juni— August 
September— Nov. 


14340 
15828 
5017 
6020 


1880 
1927 
1662 
2220. 


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414 


Beiträge  zur  Bevölkerungsstatistik  Estlands. 


In  dem  ersten  Fall  finden  wir  auf  dem  Lande  das  Heirats- 
maximum im  Winter,  im  anderen  im  Frühling.  Ferner  sind  nach 
der  zweiten  Tabelle  die  Differenzen  zwischen  Winter  und  Frühjahr 
einerseits  und  zwischen  Sommer  und  Herbst  andererseits  bedeutend 
geringer  als  nach  der  ersten.  In  den  Städten  fällt  in  beiden 
Tabellen  das  Maximum  auf  den  Herbst,  und  ist  es  bemerkenswert  h , 
dass  hier  die  Unterschiede  zwischen  Winter  und  Frühling  auf  der 
einen  und  Sommer  und  Herbst  auf  der  anderen  Seite  gerade  in 
der  zweiten  Tabelle  grösser  sind  als  in  der  ersten.  Ueberhaupt 
ist  aber,  wie  wir  sehen,  die  Vertheilung  der  Heiraten  auf  die 
einzelnen  Jahreszeiten  in  der  Stadt  eine  weit  gleichmässigere  als 
auf  dem  Lande,  und  scheint  es,  als  ob  die  socialen  Factoren  nicht 
so  starke  Schwankungen  hervorzubringen  im  Stande  wären,  wie 
die  rein  wirtschaftlichen». 


1  Im  enteil  Theil  dieser  Arbeit  ist  Heil  3,  p.  246,  247,  248,  251  statt 
Düring  D  ü  h  i  n  g  zu  lesen. 


J.  Nieländer. 


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Revals  Garnisonsfreiheit 
im  Conflicte  mit  der  schwedischen  Regierung. 

(1658—1660.) 


as  den  unerquicklichen  Mishelligkeiten,  welche  zwischen 
Bstland  und  Gustav  Adolf  in  den  letzten  Jahren  seiner 
Regierung  obgewaltet1,  hat  sich  schliesslich  doch  die  Klärung  einer 
Angelegenheit  ergeben,  die  für  Reval  als  ein  Gewinn  bezeichnet 
werden  konnte,  wenn  auch  nur  als  ein  Gewinn,  der  nicht  ohne  Opfer 
zu  erlangen  war.  Mittelst  königlicher  Declaration  vom  5.  Mai  1629 
wurde  nämlich  Reval  —  von  der  Erhaltung  der  Stadtwälle  und 
Mauern  und  von  der  Verteidigung  derselben  im  Kriegsfalle  abge- 
sehen —  von  allen  anderen  Kriegsauflagen  befreit,  musste  aber 
dafür  die  Beibehaltung  des  halben  Zolls  zu  Gunsten  der  Krone  in 
den  Kauf  nehmen.  Diese  Befreiung  sollte  nun  nicht  etwa  so  viel 
heissen,  dass  Reval  für  militärische  Zwecke  fortan  nichts  mehr  zu 
leisten  habe  —  denn,  wie  schon  bemerkt,  blieb  mit  der  Selbst- 
verwaltung auch  das  Recht  und  die  Pflicht  der  Selbstverteidigung 
bestehen;  nur  sollte  die  Krone  nicht  mehr  das  Recht  haben,  von 
der  Stadt  Leistungen  irgend  welcher  Art,  mochten  sie  nun  in  natura 
oder  in  Zahlungen  bestehen,  zu  beanspruchen,  die  der  Krone  un- 
mittelbar für  ihre  Kriegszwecke  zu  gute  kämen.  Zu  diesen  Leistungen 
gehörte  auch  die  Einquartierung  königlicher  Truppen ;  seit  1629 


1  W.  Greiffenhagen,  Heimische  Conflicte  mit  Gustav  Adolph,  Beiträge  zur 
Kunde  Ehst-,  Liv-  und  Kurlands.   Bd.  III,  S.  1.   Reval  1882. 


416 


Revals  Garnisonsfreiheit. 


stand  es  also  fest,  dass  Reval  zur  Aufnahme  solcher  nicht  ver- 
pflichtet sei.  Doch  sollte,  wie  wir  sehen  werden,  sein  Recht 
darauf  nicht  auf  allzu  lange  Zeit  unbestritten  bleiben  Kaum 
dreissig  Jahre  später  wurde  es  die  Veranlassung  zu  einem  heftigen 
Conflicte,  der,  wenn  auch  ohne  tiefer  gehende  Spuren  zu  hinterlassen, 
anziehende  Streiflichter  auf  die  ganze  innere  und  äussere  politische 
Lage  jener  Zeit  wirft. 

Eine  Vorbemerkung  über  das  Unhaltbare  des  durch  die  citirte 
königl.  Declaration  geschaffenen  Zustandes  selbst  wird  gestattet  sein. 

Krone  und  Stadt  theilten  sich  in  die  Verteidigungs  p  f  1  i  c  h  t , 
damit  also  auch  in  das  Verteidigungs  recht.  Mit  dem  Zuge- 
ständnisse, dass  die  Stadt  keine  Garnison  in  ihre  Mauern  mehr 
aufzunehmen  verpflichtet  sei,  verzichtete  die  Krone  auf  das  Recht, 
nöthigenfalls  die  Verteidigung  der  Stadt  selbst  in  die  Hand  zu 
nehmen.  Ein  solcher  Pact  widerstritt  schon  zu  Zeiten  Gustav 
Adolfs,  geschweige  denn  später,  der  gänzlich  veränderten  Krieg- 
führung Was  zu  Zeiten  der  grossen  Belagerungen  Revals  im 
16.  Jahrhundert  möglich  war,  den  Angriff  eines  weit  überlegenen 
Feindes  mit  den  Verteidigungsmitteln  des  Mittelalters  zurückzu- 
schlagen, das  konnte  fast  achtzig  Jahre  später  kaum  mehr  gelingen. 
In  dieser  veränderten  Lage  der  ganzen  Kriegführung  und  ihrer 
Mittel  haben  wir  den  Grund  dafür  zu  suchen,  dass  die  königlich 
gewährleistete  Befreiung  Revals  von  der  Garnisonspflicht  im  ent- 
scheidenden Augenblicke  nicht  aufrecht  erhalten  werden  konnte 
und,  da  man  städtischersei ts  auf  seinem  Rechte  bestand,  zu  einem 
Conflicte  führen  musste. 

In  den  gewaltigen  Kämpfen,  welche  Karl  Gustav  von  Schweden 
während  seiner  ganzen  Regierungszeit  gegen  Dänemark,  Polen  und 
Russland,  zu  Zeiten  gar  auch  gegen  Holland  und  England  zu  be- 
stehen hatte,  blieb  Estland  verhältnismässig  verschont.  Nur  an 
seinen  Grenzen,  und  zwar  im  Osten  diesseits  der  Narowa  und  des 
Peipus  und  im  Süden  über  Dorpat  hinaus,  fanden  verheerende  Ein- 
fälle der  Russen  statt,  die  sich  zwar  wiederholten,  aber  weder  die 
Folge  von  auf  estländischem  Gebiete  ausgefochtenen  Kämpfen,  noch 
überhaupt  von  längerer  Dauer  waren.  Im  Vergleich  zu  dem,  was 
Livland  und  namentlich  die  Städte  Riga  und  Dorpat  durch  einen 
mehrjährigen,  nur  selten  unterbrochenen  Krieg  an  der  Düna,  der 
Ewst,  dem  Embach  und  der  Pernau  zu  erdulden  gehabt,  waren 
jene  Einfälle  kaum  von  Belang.  Dennoch  trat  die  Forderung  der 
Kriegsbereitschaft  auch  an  Estland  und  besonders  an  Reval  von 


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Revals  Garnisonsfreiheit. 


417 


Zeit  zu  Zeit  recht  dringlich  heran.  Schwedens  tollkühnes  Beginnen, 
mit  den  mächtigsten  Nachbarstaaten  jener  Zeit,  Polen  und  Däne- 
mark, gleichzeitig  anzubinden  nnd  dabei  stets  der  Gefahr  ausge- 
setzt zu  sein,  in  Russland  einen  dritten  mächtigen  Gegner  zu 
finden,  zwang  die  schwedische  Kriegsleitung,  alle  vorhandenen 
Streitkräfte  meist  im  Westen  und  Süden  zur  Verwendung  zu 
bringen.  Die  Folge  davon  war,  dass  Estland  und  speciell  Reval 
von  Truppen  ganz  entblösst  wurden.  Und  als  nun  schon  im  Jahre 
1656  die  ersten  Einfälle  der  Russen  an  der  Narowa  stattfanden 
und  etwa  ein  Jahr  später  Dorpat  gefallen  war,  da  wurde  die  Ge- 
fahr für  Estland  eine  dringende.  Der  Adel  musste  mit  eigenen 
Kräften  ins  Feld  rücken  und  Reval  wurde  ernstlich  gemahnt,  auf 
seiner  Hut  zu  sein.  So  erging  im  Jahre  1656  ein  vom  16.  April 
aus  Riga  datirtes  Schreiben  des  Grafen  Magnus  de  la  Gardie  an 
die  Städte  Pernau  und  Reval,  in  welchem  sie  aufgefordert  wurden, 
ihre  Festungswerke  unter  Anleitung  und  Aufsicht  des  General- 
quartiermeisters Georg  v.  Borchardt  ungesäumt  in  guten  Stand  zu 
setzen.  Wie  Gadebusch  meldet,  befanden  sich  damals  die  Festungs- 
werke dieser  und  anderer  baltischer  Städte  in  schlechtem  Zustande 
und  mussten  damals  alle,  Bürger  und  Fremde,  Adelige  und  Un- 
adelige, Knechte  und  Mägde,  Menschen  und  Thiere  schanzen,  um 
plötzlichen  Anläufen  gegenüber  verteidiguugsfähig  dazustehen.  Das 
Jahr  1657  verlief  bekanntlich,  so  weit  es  sich  um  eine  Betheiliguug 
Russlands  am  Kriege  handelte,  einigermassen  ruhig.  Scheinbar 
wurde  am  Friedenswerke  gearbeitet,  in  der  That  aber  wurde 
russischerseits  der  Krieg  vorbereitet.  Gegen  Ende  des  Jahres 
traten  unverkennbare  Anzeichen  dessen  zu  Tage  und  daraus  er- 
wuchs für  Schweden  von  neuem  die  Sorge,  auch  Estland  zu  schützen. 
Magnus  de  la  Gardie,  der  unermüdliche  Mann,  wo  es  galt,  der 
drohenden  Gefahr,  sei  es  nun  im  Felde  mit  den  Waffen  in  der 
Hand  oder  fern  vou  ihm  mit  Mahnungen  und  Rathschlägen,  zu  be- 
gegnen, hat  zu  Beginn  des  Jahres  1658  in  Veranlassung  jener 
Anzeichen  ein  Schreiben  an  den  reval  sehen  Rath  gerichtet,  in 
welchem  er  unter  Beifügung  eines  besonderen  Memorials  für  das 
Fortifications wesen,  sowie  eines  Verzeichnisses  von  Specialpunkten 
über  alles  das,  was  er  im  Interesse  ausreichender  Verteidigungs- 
fähigkeit von  der  Stadt  begehrt,  dieselbe  aulfordert,  sich  schriftlich 
darauf  zu  erklären  und  Delegirte  für  eine  commissionelle  Erledigung 
dieser  Angelegenheit  zu  ernennen.  Aus  den  Specialpunkten  sei 
hier  hervorgehoben,  dass  von  der  Stadt  erwartet  wurde :  die  Auf- 


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Revals  Garnisonsfreiheit. 


nähme  einer  königlichen  Garnison,  die  Beschaffung  von  Ammunition 
und  Faschinen,  die  Lieferung  von  Stahl,  Eisen,  Hanf  und  Heede, 
Theer,  Aexten,  Beilen,  Piken,  Nägeln  und  anderen  benöthigten 
Sachen  gegen  Ausstellung  von  Schuldverschreibungen  der  Krone  und 
die  Beschaffung  von  Baannitteln  gegen  gleiche  Verschreibungeu. 
Rücksichtlich  des  ersten  der  genannten  Punkte  liegt  ein  besonderes 
Schreiben  des  Grafen  vom  selben  Tage  (14.  Januar)  vor,  in  welchem 
es  heisst,  die  Aufnahme  der  Garnison  werde  nur  für  den  Fall 
äusserster  Noth  begehrt  und  solle  den  Freiheiten  und  Privilegien 
der  Stadt,  d.  h.  also  der  Garnisonsfreiheit,  in  keiner  Weise  prä- 
judiciren.  Das  Begleitschreiben  zu  den  beiden  Memo  Halen  verdient 
besonders  um  der  politischen  Nachrichten  willen,  welche  ein  so 
einflussreicher  und  weitblickender  Mann  wie  Magnus  de  la  Gardie 
in  demselben  giebt,  die  vollständige  Mittheilung1. 

<Obzwar  der  muscovitische  Feind  die  Zeit  hero  einige  An- 
zeigungen zu  einem  Frieden  geben  lassen,  wie  denn  der  von  den 
königl.  Herren  Legaten  aus  der  Moschau  abgefertigte  Hofjuuker 
Conrad  von  Barner  dergleichen  berichtet ;  so  hat  man  doch  alsbald 
bei  dessen  Ankunft  all  Iiier  von  des  Zaren  starken  Präparatorien  ge- 
wisse Nachricht  erhalten,  als  es  auch  die  kgl.  Herren  Legaten  von 
dar  vermeldet  haben,  und  zwar  dergestalt,  dass  der  Zar  gegen  den 
6.  December  verlaufenen  1(357.  Jahres  in  seinem  Lande  einen 
starken  Aufbot  ergehen  und  eine  grosse  Force  zusammenziehen 
lassen.  Nun  ob  man  zwar  annoch  nicht  eigentlich  wissen  kann, 
wo  diese  seine  zusammengezogene  Macht  hin  gerichtet  sei,  da  es 
vielleicht  Polen  der  Ursachen  gelten  dürfte,  weil  der  Zar  sowol 
des  Hauses  Oesterreichs  als  derer  Polen  Dissimulationes  und  listige 
Praticquen  zur  Genüge  in  dem  verspüret  hat,  dass  er  wegen  ge- 
machter Hoffnung  zur  polnischen  Krone  ziemlich  illudiret  worden 
ist ;  weil  demnach  aber  in  Ingermanland  die  russische  Parteien 
nach  gegebener  Anzeigung  eines  friedliebenden  Gemüths  dennoch 
eingefallen  zu  unterschiedlichen  Malen,  alles  ausgehauen  und  ein- 
geäschert, der  Hr.  Generalgouverneur  daselbst,  Hr.  Christer  Horn, 
auch  berichtet,  dass  man  sich  eines  feindlichen  Ueberzugs  gewiss 
zu  befürchten  hätte  und  gemeiniglich  der  Russen  Actiones  dahin 

1  Bei  der  Wiedergabe  der  Text«  ist  das  von  den  Herausgebern  der  «Ur- 
kunden und  Actenstücke  zur  Geschichte  des  grossen  Kurfürsten  und  der  «Publi- 
cationen  aus  den  Preussischen  Staatsarchiven»  eingeschlagene  Verfahren  befolgt : 
die  grammatischen  und  etymologischen  Eigentümlichkeiten  sind  beibehalten, 
die  orthographischen  beseitigt  worden.    D.  Red. 


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Revals  Gamisonsfreiheit. 


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gehen,  dass,  wenn  sie  Friede  im  Munde  führen,  sie  nur  auf  Krieg 
und  Blutvergiessen  gedenken,  wozu  der  Zar  durch  Instigation  der 
Krön  Dänemark  möchte  animiret  sein,  um  I.  königl  Maj.  von 
dero  Progressen  gegen  solche  Krön  so  kräftig  ab  zu  divertiren ; 
als  wird  billig  das  Rathsamste  und  Nöthigste  sein,  dass  man  diesen 
Feind  nach  dessen  bisher  von  allen  Zeiten  gethanen  Actionen  judicire 
und  die  Muthmassung  daraus  mache,  dass  seine  zusammengezogene 
Macht  gegen  keinen  anderen  als  gegen  diese  Oerter  angesehen  sei 
und  also  bei  Zeiten,  ehe  die  höchste  Gefahr  und  Noth  eingebrochen, 
auf  eine  allgemeine  Gegenverfassung  und  unser  aller  Selbsterhaltung 
gedenke.  —  Es  kann  E.  E.  hochw.  Rath  nicht  unentsunken  sein, 
wie  die  Zeithero  I.  kgl.  Maj.,  unser  allerseits  gnädigster  König 
und  Herr,  von  Seiner  Armee  und  fast  von  dem  Herzen  ein  gut 
Theil  der  Militie  gerissen  und  zum  Secours  anhero  geschicket, 
dasselbe  aber  von  der  schweren  Seuche  aufgerieben  worden,  hat  es 
der  gerechte  Zorn  Gottes  und  die  Hand  des  Herrn  gethan  und 
unsere  Sünden  gar  wohl  verdienet.   Es  hat  aber  hiebei  E.  E.  hochw. 
Rath  ganz  nicht  zu  zweifeln,  dass  I.  kgl.  Maj.  ferner  dero  allgemeine 
landesväterliche  Vorsorge  für  sie  und  die  ganze  Stadt  ganz  gnädigst 
trage  und  mit  erwünschter  Hilfe  diesen  bedruckten  und  ganz  ge- 
horsamsten Orte  zu  Hilfe  zu  kommen  in  königl.  Regard  nimmt, 
wenn  sowol  itzo  einen  Secours  zu  schicken  es   die  ungelegene 
Winterzeit  nicht  verbietete,  als  auch  der  Zustand  der  Krön,  welche 
mit  so  vielen  Feinden  ringsum  engagiret  ist,  füglich  zulassen  wollte. 
I  kgl.  Maj.  sparen  keinen  Fleiss  in  dem  nicht,  dass  Sie  mit  einem 
oder  dem  anderen  sich  vergleichen  und  einen  erwünschten  Frieden 
abhandeln  mögen.    Wie  denn  zu  den  dänischen  Tractaten  allbereits 
einige  Reichsräthe,  als  der  Hr.  Reichstruchs,  Hr.  Schering  Rosen- 
han und  Hr.  Christer  Bonde,  deputirt  sind ;  auch  die  polnische 
Friedenscomposition  in  so  weit  incaminiret  ist,  dass  anitzo  zu 
Bromberg  und  Thorn  dieselbe  unter  der  Direction  des  Hrn.  Generalis- 
simi fürstl.  Durchl.  befördert  werden  soll.    Wie  wir  denn  auch 
hie  an  diesen  Orten,  so  bald  als  uns  nur  die  Hoffnung  zu  einem 
Stillestand  mit  den  Russen  augebracht  worden  ist,  nichts  in  dem, 
was  die  Ruhe  und  Frieden  allhier  auch  bei  der  Stadt  Reval  zu- 
wege bringen  möchte,  ermangeln  und  alsbald  um  ferneren  und 
eigentlichen  Vergleich  eines  gewissen  Stillestands  an  die  Woiwoden 
nach  Nougarden,  Pleskau  und  Dorpt  schreiben  lassen,  wie  es 
I.  kgl.  Maj.  allergnädigster  Wille  und  ernstlicher  Befehl  auch 
solches  zu  beobachten  und  zu  thnn  imponirt  hat.    Dass  aber  die 


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Revals  Garnisonsfreiheit. 


vielfaltige,  gegen  I.  kgl.  Maj.  und  die  hochlöbl.  Krön  aufgeworfenen 
Feinde  sich  noch  nicht  zu  einigen  Friedensgedanken  lenken  und 
dadurch  unseren  Zustand  schwerer  machen  wollen,  so  müssen  wir 
auf  unserer  Seite  desto  wach-  und  behutsamer  gehen  und  dergestalt 
die  Actiones  in  einer  allgemeinen  Verfassung  einrichten,  damit 
gleichwol  auf  allem  Fall  bei  einer  oder  der  anderen  feindlichen 
Attaque  der  Stadt  eine  männliche  und  tapfere  Gegenwehr  von 
E  E.  hochw.  Rath  und  der  gesammten  Bürgerschaft  als  I.  kgl.  Maj. 
getreuwen  Unterthanen  geschehen  möge.    Wie  ich  nun  von  der 
ersten  Zeit  an  des  muskowitischen  Kriegesstreichs  eine  dergleichen 
allgemeine  Verfassung  bei  diesem  Herzogthum  Estland  ersuchet 
und  schriftlich  die  Proposition  gethan,  als  habe  ich  solches  nicht 
allein,  als  ich  bei  Dörpt  mit  der  königl.  Armee  gestanden,  wiederum 
gereget,  sondern  auch  bei  meinem  Zurückmarsch  aus  der  Moschau 
wiederholen,  endlich  auch  durch  öffentliche  Patenta,  sowie  aus 
dem  Feldlager  bei  Hirwen,  als  von  Hapsal  sowol  zu  der  Stadt  als 
zu  des  ganzen  Herzogthums  Estland  Besten,  intimiren  und  also 
diese  Provinz  und  Stadt  nebenst  dero  Eingesessenen  Von  einem 
vermerkten  Untergang  durch  einhellige  Macht  retten  wollen.  Wie 
ich  denn  Selbsten  keine  Mühe,  Reisen,  noch  Gefahr  gesparet,  sondern 
mich  mit  den  noch  wenigen  Truppen  jederzeit  in  der  Campanie 
gehalten  und,  so  viel  möglich  gewesen,  sowol  von  einer  Seiten  auf  der 
Russen,  als  von  der  anderen  auf  der  Littawer  Dessinsr  Acht  geben, 
und  diese  letztere  auch  bei  der  Pernauschen  Belagerung  selbst 
durch  starke  Parteien  incommodiren  lassen.    Nunmehr,  da  der 
barbarische  Feind  vermuthlich  auch  seine  Tyrannei  gegen  diese 
Stadt  zu  verüben  im  Herzen  beschlossen  und  mit  ehestem  dies  sein 
blutdurstiges  Beginnen  zu  eftectuiren  suchen  mag,  als  wird  E.  E. 
hochw.  Rath  und  die  gesammte  Bürgerschaft  sich  der  alten  In- 
ländischen Treu  und  Tapferkeit,  und  was  sie  vordem  schon  einmal 
bei  dieses  moschowitischen  Feiudes  vorgenommenen  schweren  Attaque 
zu  derer  allerseits  währendem  Ruhm  prästiret  haben,  erinnern  und 
derer  Vorfahren  löblichen  Exempel  nach  einen  so  crudelen  und 
barbarischen  Feind  mit  unerschrockenem  Muth  und  vordem  schon 
bezeigter  tapferer  Resolution  zu  begegnen,  und  also  zu  Defension 
der  Vaterstadt  ihren  allgemeinen  Rath  und  Hilfe  mitzugeben  nicht 
unterlassen,  da  E.  E.  hochw.  Rath  und  die  gesammte  Bürgerschaft 
leicht  schliessen  kann,  wenn  diese  Hauptfestung  und  Mutter  des 
Landes  periclitiren  sollte,  das  doch  der  Höchste  gnädigst  verhüten 
wolle,  in  was  für  Noth  und  Elend  sowol  sie  allerseits  selbst  mit 


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Revals  Garnisonsfreiheit. 


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den  ihrigen,  als  denn  auch  das  ganze  Herzogthum  gestürzet  wurde. 
Wie  sonsteu  E.  E.  hochw.  Rath  sich  gewiss  versichern  kann,  dass 
I.  kgl.  Maj.,  mein  allergnädigster  König  und  Herr,  dieses,  was  zu 
derer  aller  gedeihlichen  Aufnahme  durch  die  uralte  erlangte  kgl. 
Indulten  und  Privilegien  gereichen  mag,  in  genaue  Consideration 
nehmen  und  aus  königl.  Hulde  und  Clemenz  für  deren  Städte  als 
ganzer  Communs  Wohlfahrt  grosse  Vorsorge  tragen  lassen,  das 
besonders  die  Zeitjiero  für  die  Stadt  Reval  geschehen,  da  gegen 
I  kgl.  Maj.  auch  E.  E.  hochw.  Rath  nebeust  der  gesammten  Bürger- 
schaft durch  dero  allergehorsamste  Treu  ganz  devot  sich  bewiesen  : 
als  wird  E.  E.  hochw.  Rath  vernünftig  schliessen,  dass  I.  kgl.  Maj. 
allgemeiner  Stadtsvorsorge  nicht  zuwider,  noch  der  Stadt  Privilegien 
einiger  Eindrang  geschehe,  wenn  bei  diesen  schweren  Zeiten  ein 
und  das  andere  Mittel  möchte  zu  aller  unser  Rettung  ergriffen 
werden,  dazu  uns  die  allgemeine  Notli  besonders  in  Manutenirung 
dieser  Hauptfestung  treiben  wollte.    Denn  gegen  einen  so  mächti- 
gen Feind  nunmehr  mit  denen  wenigen  Truppen  das  platte  Laud 
zu  manuteniren  will  es  die  eigentliche  Unmöglichkeit  sein,  ob  man 
gleich  das  Aeusserste  dabei  thun  wollte,  dass  also  nichts  mehr 
übrig  blieb,  als  dass  man  in  Manutenirung  dieses  Orts  die  Salva- 
tion  dieses  Fürstenthums  Völker,  dero  Land-  und  Stadtsglieder 
suche.    Dannenhero  erheischenden  Nothdurft  nach  unter  der  Dis- 
position des  königl.  Hrn.  Gouverneuren  ein  Memorial  einliegend 
abgeschicket  und  was  bei  dieser  Stadt  Reval  Defension  gegen 
einen  feindlichen  Anfall  annoch  desideriret  werden  möchte,  kürzlich 
deduciret  worden,  welches  denn  zu  E.  E.  hochw.  Rathes  Berat- 
schlagung hiemit  übergeben,  zugleich  aber  derselbe  um  eine  schrift- 
liche Resolution  darüber  auszufertigen  ganz  freundlich  ersuchet 
wird.  Wobei  E.  E.  hochw.  Rath  des  gewissen  Vertrauens  zu  meiner 
Person  leben  kann,  ob  von  I.  kgl.  Maj.  mir  zwar  nun  die  generalis 
Cura  concreditiret  ist  und  ich  weder  an  diesem  noch  an  einem 
anderen  Orte  verbunden  bin,  dass  ich  demnach  meiner  Vaterstadt 
bei  ihnen  allerseits  zu  I.  kgl.  Maj.  und  der  Krön  Schweden  treue 
Dienste,  alles  und  besonders  dasjenige,  was  mir  hierin  der  höchste 
Gott  gegeben  hat,  hie  wieder  aufsetzen  will,  da  ich  nur  hierbei 
von  E.  E.  hochw.  Rathe  dergestalt  und  in  der  That  versichert  bin, 
als  ich  daran  ganz  nicht  zweifele,  dass  sie  auch  das  Ihrige  hierbei 
thun,  und  in  der  treuesten  Devotion  gegen  I.  kgl.  Maj.  wider  diesen 
barbarischen  Feind  bis  auf  den  letzten  Blutstropfen  verharren 
wollen,  wozu  ich  im  Namen  I.  kgl  Maj.  selbe  hiemit  annoch  will 


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Revals  Garnisonsfreiheit. 


ermahnet,  im  übrigen  aber  auf  das  eingelegte  Memorial  eine  schrift- 
liche Resolution  zu  erwarten  habe. 

Magnus  Gabriel  Delagardie.» 
(Familiensiegel.) 

Schon  am  30.  Januar  erfolgte  die  Antwort  des  Raths  und 
der  Bürgerschaft.  Im  wesentlichen  erklaren  sie  sich,  so  weit  die 
Möglichkeit  der  Erfüllung  vorhanden,  mit  allem  einverstanden.  Nur 
wegen  Lieferung  der  verschiedenen  zur  Ausführung  der  Befestigung 
und  Verstärkung  der  Kriegsmittel  erforderlichen  Materialien  wird 
ein  directes  Contrahiren  der  Krone  mit  den  Lieferanten  empfohlen; 
auch  die  Aufbringung  von  Baarmitteln  habe  ihre  grosse  Schwierig- 
keit, da  sich  in  so  unsicherer  Zeit  kaum  jemand  zum  Besitze  von 
Capitalien  bekennen  würde.  Die  Garnisonsfrage  wird  nur  leicht 
gestreift :  für  einen  Theii  der  Truppen  sei  schon  gesorgt ;  für  den 
Rest  werde,  sobald  es  die  Noth  verlange,  in  den  Gildehäusern,  dem 
Gymnasium  und  den  übrigen  Schulen,  sowie  auf  den  grossen  Plätzen 
Raum  angewiesen  werden  können,  indessen  dies  alles  nur  in  der 
Voraussetzung,  dass  die  Gerechtsame  der  Stadt  dabei  nicht  in 
Frage  gestellt  würden  nnd  die  Stadt  von  der  Krone  eine  sog. 
Assecuration,  eine  schriftliche  Zusicherung  ihrer  Garnisonsfreiheit 
erhalte.  Die  Deputirten  zu  den  Commissionsverhandlungen  sollten 
so  bald  erforderlich  ernannt  werden. 

Die  einleitenden  Verhandlungen  über  die  von  der  Krone  be- 
anspruchten Hilfleistungen  seitens  der  Stadt,  unter  ihnen  auch  über 
die  Aufnahme  einer  Garnison,  gestalteten  sich  also  in  ganz  günsti- 
ger Weise.  Namentlich  ist  auch  der  Ton,  in  dem  die  Vertreter 
beider  Theile  schriftlich  mit  einander  verkehren,  ein  denkbarst 
friedlicher  und  zuvorkommender.  Das  änderte  sich  leider  bald 
in  Folge  von  Vorgängen,  die  theils  mit  den  wechselvollen  Ge- 
staltungen des  Krieges  in  Verbindung  standen,  theils  auf  die 
principiell  verschiedene  Auffassung  der  städtischen  Freiheiten  zurück- 
zuführen sind.  Aus  jenem  ersten  Stadium  besitzen  wir  ein  Schreiben 
de  la  Gardies  an  den  Rath,  in  welchem  er  sich,  nachdem  er  vom 
Könige  den  ehrenvollen  Auftrag  erhalten,  die  Friedensverhandlungen 
mit  Polen  au  der  Spitze  einer  schwedischen  Legatiou  in  die  Hand 
zu  nehmen,  vom  Rathe  verabschiedet.  Das  Schreiben  legt  ein  so 
rühmliches  Zeugnis  ab  sowol  für  die  trefflichen  Gesinnungen  des 
Vertreters  der  Krone,  als  für  den  Werth  und  die  Bedeutung,  welche 
er  zunächst  Reval,  dann  aber  auch  ganz  Livland  beimisst,  dass 
man  auch  jetzt,  nach  über  200  Jahren,  nur  mit  Genugthuung  und 


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Revals  Garnisonsfreiheit. 


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Wohlgefallen  der  Stimme  der  Gerechtigkeit  und  des  mathvollen 
Vertrauens  sein  Ohr  leiht.    Das  Schreiben  trägt  ausser  der  Jahres- 
zahl nur  das  Monatsdatum  Februar  und  befindet  sich  im  hiesigen 
Archive  nur  in  2  Abschriften. 
Dasselbe  lautet : 

«Wohledle,  Feste,  Hoch-  und  Wohlgelehrte,  wie  auch  Hoch-  und 
Wohlweise,  sonders  hochgeehrte  Herren  und  Freunde. 
Es  haben  I.  K.  M.,  mein  allergnädigster  König  und  Herr, 
mir  durch  neulich  erhaltene  Schreiben  allergnädigst  Befehl  ertheilet, 
weil  allbereit  die  polnische  Friedenstractaten  incamminiret  wären, 
dass  ich  mich  dabei  einfinden  und  nebenst  andern  denen  darzu 
Deputirten  dies  heilsame  Friedenswerk  als  Caput  legationis  mit  be- 
fördern sollte.    Wie  nun  I.  K.  M.  allergnädigsten  Befehl  unter- 
thänigst  zu  gehorsamen  ich  mich  mit  ehistem  von  hier  ab  nach 
Oesel  begeben  und  ferner  zusehen  lassen  werde,  ob  ich  über  Eis 
bei  diesem  harten  Winter  nach  Churland  und  Preussen  zu  gehen 
könne ,  um  in  diesen  I.  K.  M.  und  Dero  Krön  so  importirenden 
Negotio  nichts  abzusäumen  :  als  habe  diesen  an  mich  ergangenen 
allergnädigsten  Befehl  meinen  hochgeehrten  Herren  notificiren  und 
meine  Abreise  ihnen  kund  machen  wollen.  —  Wie  ich  mit  allen 
Kräften  und  so  viel  immer  möglich  gewesen  nun  ins  dritte  Jahr 
gesuchet  habe,  diese  Länder  bei  meinen  geführten  Gouverno  von 
dem  gedräuten  Untergange  zu  erretten,  wozu  denn  allein  die  All- 
macht des  Allerhöchsten  bei  der  Menge  der  starken  und  grossen 
Feinde,  die  sich  an  dies  kleine  Häuflein  machen  und  ganz  es  ver- 
tilgen wollen,  sein  Gedeiheu  gegeben,  dass  es  dennoch  mit  uns 
noch  nicht  ganz  ausgemacht  worden  ist :  als  verwünsche  ich  meinen 
hochgeehrten  Herren  allerseits  von  Herzen,  dass  dieselbe  der  treue 
Gott  ferner  unter  seinen  gnädigen  Schutz  nehmen  und  sie  ins 
künftig  aus  aller  Gefahr  väterlich  erretten  möge.    Und  wiewol 
ich  die  Zeit  hero  selbsten  wol  herzlich  ge wünschet  habe,  dass  der 
Zustand  unseres  geliebten  Vaterlandes  besser  hatte  mögen  in  Auf- 
kommen kommen  und  nicht  so  gar  zerrüttet  und  zerschüttelt  werden 
—  was  aber  hiebei  geschehen,  werden  es  meine  hochgeehrte  Herren 
den  trüb-  und  drangseligen  Zeiten  billig  zuzumessen  haben,  die 
ausser  unser  Macht  und  Gewalt  alleine  der  Zorn  Gottes  wegen  unser 
gehäufter  Schuld  über  uns  verhänget  hat.    So  aber  meine  geführte 
Actiones  bei  meinen  hochgeehrten  Herren  in  Consideration  kommen 
sollten,  hätte  ich  zu  wünscheu,  dass  sie  die  Beschwerde,  so  sie 
vermeinen  herrühren  aus  einiger  gethaner  Generaldisposition,  oder 

baltisch«  MonaU.chrifl.  lid.  1XX1V.    Heft  5.  29 


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Revals  Garnisonsfreiheit. 


so  man  hätte  reraediren  können,  noch  vor  meine  Abreise  mir  kund 
thun  wollten,  da  icli  denn  verhoffe  ihnen  demonstrireu  können,  dass 
es  niemalen  an  sorgfältige  Vorsorge  gemangelt,  sondern  dass  dazu 
andere  Ursachen  sich  finden,  welche  man  alsdann  recht  wird  bei 
einen  solchen  Scrutinio  kennen  lernen.  Dass  ich  es  mit  aller  ihrer 
Wohlfahrt  getreu  gemeint  und  mein  Aeusserstes  dabei  gethan, 
kann  ich  meinen  hochgeehrten  Herren  versichern  und  es  mit  Gott 
und  vielen  ehrlichen  Leuten  gewissen  bezeugen ;  gänzlich  aber 
zu  heben  eine  so  schwere  Last,  dazu  sind  meine  Kräfte  dis- 
proportioniret  gewesen ,  wünsche ,  dass  es  andern  besser  ge- 
lingen möge. 

Unterdessen  will  ich  verhoffen  und  meinen  hochgeehrten  Herren 
ermahnet  haben,  nach  löblichem  Exempel  ihrer  Vorfahren  und  bis 
hero  selbst  erwiesene  rühmliche  Treue  und  Resolution  sich  nicht 
von  den  schweren  Zeiten  überwältigen  zu  lassen  dermassen,  dass 
sie  den  Muth  und  die  Hoffnung  einer  schleunigeren  Besserung 
schwinden  lassen,  sondern  auf  die  väterliche  allergnädigste  Vor- 
sorge L  K.  M.,  so  Sie  bishero  sowol  ihnen  als  dem  ganzen  Reich 
so  sorgfältig  erwiesen,  getrost  und  gänzlich  sich  reposiren,  von 
Gott  und  L  K.  M.  siegreichen  Waffen  eine  erfreuliche  Besserung 
ihres  Zustandes  gewiss  verhoffen  und  mittlerweilen  alle  ungefärbte 
Treue  nochmalen,  wie  bishero,  t  K.  M.  und  Dero  Krön,  auch  zu 
ihrer  Selbsten  Rettung,  Maintien  und  Besten  was  möglich  prästiren, 
welches  ihnen  zu  stets  währenden  Nachruhm  verbleiben  wird  und 
zu  Ausbreitung  bei  der  ganzen  Welt  des  vorhin  rühmlichen  In- 
ländischen Namens.  Es  hat  Gott  herrlich  seine  Wunder  bei  ihnen 
erwiesen,  indeme  nicht  alleine  vor  einem  und  ein  halb  Jahr  die 
grosse  moscowitische  Macht,  so  dieses  Land  gleichsam  als  ver- 
schlingen hätte  können,  gleich wol  allhie  sich  hat  zerstossen  müssen 
und  gestuzet  hat  können  werden,  welcher  ganz  Littauen  und 
Polen  nicht  zu  widerstehen  mächtig  gewesen  ist,  so  solcher  Krön 
Ruin  und  Verlust  genugsam  bezeiget.  Wer  hätte  sich  die  Hoffnung 
machen  können,  dass  im  Lande  das  Geringe  sollte  überbleiben  bei 
solcher  Beschaffenheit,  da  zwei  so  mächtige  Armeen,  die  eine  vor 
Riga,  die  andere  vor  Dörpt  stunden  i  Gleichwol  ist  noch  (Jamalen 
das  Grösste  des  Landes  conserviret  worden,  so  gewiss  nicht  ge- 
schehen wäre,  da  Gott  selbsten  nicht  diese  grosse  Flut  gedämmet 
und  selbsten  durch  seine  Allmacht  gestuzet  hätte.  In  vorigem 
und  diesem  Jahr  hat  Gottes  Hand  ebenermassen  den  littauischen 
Feind  geschlagen,  dass  dero  Force  zerbrochen  worden,  sie  itzo  das 


» 


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Revals  Gamisonsfreiheit.  425 

Land  räumen  müssen,  da  sie  uns  gedachten  zu  fressen,  und  über 
ihr  so  grosse  Avantage  insonderheit  bei  Riga  emportiret  worden, 
dass  sie  uns  bishero  drei  Stücke  und  20  Fahnlein  haben  müssen' 
in  unterschiedlichen  Occasionen  zu  Theil  werden  lassen,  mit  vielen 
Gefangenen.  Haben  auch  unser  wenige  Oerter,  so  durch  die  Un- 
treu einiger  schreckhafte  Leute  und  unbeständige  Geraüther,  wie 
auch  die  schwere  Seuche,  so  alle  Mannschaft  und  darinnen  be- 
stehender Defension  consumiret,  ihnen  in  Händen  gerathen,  nichtes 
ausrichten  können  und  nunmehr  Selbsten  de  salute  sua  mehr  als 
(um)  Occupation  des  Livlandes  bekümmert  sein  müssen,  dass  hin- 
ftiro  dieses  Land  von  diesem  Feinde  leichtlich  gereiniget  kann 
werden.  —  Das  moscowitische  grausame  Wesen  will  auch  fast  eine 
andere  rerum  faciem  annehmen,  indeme  die  durch  den  kgl.  Hof- 
junker Monsieur  Barnern  geschehene  Relation  wegen  einiger  In- 
clination  I.  Zar.  Maj.  zu  Frieden  dadurch  bestätiget  werden  will, 
dass  meine  Briefe,  so  ich  nach  Naugarden  abgesandt,  wohl  ange- 
nommen sein  worden  mit  Vertröstung  schleuniger  Antwort ;  ist 
auch  der  grösste  Theil  des  Feindes  eben  in  deme  von  Jarno 
abgewichen  nach  ihren  Grenzen  zu.  —  Gott  wolle  sich  dieses 
Landes  ganz  väterlichen  noch  weiter  hinwiederum  annehmen  und 
nicht  so  scharf  in  seinem  Zorne,  als  wie  die  Zeit  hero  aus  ge- 
rechtem Eifer  geschehen,  gegen  diese  Provincien  verfahren,  sondern 
den  vielfältigen  Feinden  steuern  und  dadurch  den  trübseligen  Zu- 
stand lindern  und  mindern.  Wie  ich  es  denn  meinen  hochgeehrten 
Herren  von  Grund  meines  Herzens  ganz  treulich  wünsche,  da  mir 
keine  grössere  Freude  soll  zu  vernehmen  sein,  als  wenn  meine 
nachkommende  Herren  Successores  bessere,  Zeiten,  als  auch  bei 
diesem  meinem  Generalgouvernement,  bis  noch  betroffen  haben, 
allhie  antreffen  und  dabei  diese  gute  Provincien  in  voriger  Ruh 
und  Sicherheit  setzen  mögen,  mit  welchem  angehängten  Wunsch 
ich  hiebei  meinen  hochgeehrten  Herren  bis  weitere  I.  K.  M.  aller- 
guädigste  Disposition  valediciret,  mich  derer  aller  sämmtlichen 
Freundschaft  und  Affection,  die  sie  gar  rühmlichen  verspüren 
lassen,  ferner  anbefohlen,  dieselbe  alle  aber  zu  steten  Wohlergehen 
dem  grossen  Schutz  des  allgütigen  Gottes  ergeben  haben  will. 
Reval,  den  .  .  .  Februar  1658. 
Meiner  hochgeehrten  Herren 

bereitwilligster  Freund 
Magnus  Gabriel  De  La  Gardie.» 
Der  Rath  bedankt  sich  in  einem  t  Valedictionsschreiben»  vom 

2»* 


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420 


Revals  Garnisonsfreiheit. 


3.  März  für  die  vom  Generalgouverneur  ausgesprochenen  Gesinnungen 
und  empfiehlt  sich  seiner  einflussreichen  Vertretung  städtischer 
Interessen  beim  König.  Uebrigens  scheint  de  la  Gardie  die  ihm 
anvertraute  Friedensmission  erst  viel  später,  vielleicht  auch  gar 
nicht  angetreten  zu  haben,  da  die  andauernde  Anwesenheit  des 
Grafen  in  Reval  bis  in  den  April  hinein  urkundlich  belegt  ist.  So 
schreibt  er  am  4.  März  dem  Rathe,  er  möge  es  sich  angelegen  sein 
lassen,  zum  Zweck  der  Unterhaltung  der  königlichen  Miliz  bei  den 
Bürgern  Revals  eine  darlehnsweise  Summe  von  8—10000  Thlr.  auf- 
zubringen und  ergänzt  dieses  Begehren  in  einer  sog.  Proposition 
vom  30.  März  dahin,  es  möchte  die  Stadt  100  Last  Getreide  vor- 
schiessen.  Der  Schluss  des  letzteren  Schreibens  berührt  auch  die 
Garnisonsfrage.  Da  dieselbe  zur  Zeit  ohne  Effect  sei  —  wie  der 
Graf  sich  ausdrückt  —  d.  h.  wol  bei  geminderter  Gefahr  eines 
Ueberfalles  und  Angriffs  die  Garnison  wieder  zurückgezogen  sei, 
so  bäte  er  sich  die  von  ihm  zugefertigte  Assecu rationsschrift  zurück. 

Die  Antwort  des  Raths  auf  diese  Proposition  vom  6.  April 
lautet  ablehnend.  Die  Mittel  der  Stadt  seien  so  erschöpft,  dass 
sie  nicht  wisse,  wie  sie  sich  der  drückenden  Schuldenlast  erwehren, 
ja,  wie  sie  ihre  Officianten  und  Bedienten  besolden  solle.  Handel 
und  Wandel  stockten  gänzlich  ;  die  Gebäude,  Gärten  und  sonstigen 
liegenden  Gründe  der  Bürger  seien  ruinirt  und  trügen  nichts  ein  ; 
auch  habe  die  Einquartierung  der  königlichen,  sowie  die  Besoldung 
und  Unterhaltung  der  eigenen  Truppen  der  Stadt  und  ihren  Ein- 
wohnern viele  Kosten  verursacht.  Dazu  sei  endlich  noch  die  Pest 
gekommen,  welche  zahlreiche  Opfer  fordere  und  lähmend  auf  den 
Erwerb  einwirke.  Die  Assecurationsschrift  glaubt  der  Rath  nicht 
früher  ausliefern  zu  können,  als  bis  alle  Kriegsgefahr  beseitigt 
und  damit  der  Grund  für  eine  in  Reval  aufzunehmende  Garnison 
geschwundeu  sei. 

Während  dieses  Schriftwechsels  dauerte  das  zweifelhafte  Ver- 
hältnis zwischen  Schweden  und  Russland,  von  dem  schwer  zu  sagen 
war,  ob  es  mehr  Krieg  oder  Frieden  sei,  fort.  An  der  Narowa 
standen  die  Truppen  beider  Mächte  sich  gegenüber.  Chowenski 
belagerte  an  der  Spitze  von  5000  Mann  Jamburg,  bis  ihn  Bengt 
Horn  aus  Narva  herzueilend  von  dort  vertrieb.  Doch  musste 
letzterer,  als  grössere  Truppenmassen  der  Feinde  zu  Hilfe  kamen, 
wieder  weichen ,  um  seinerseits  in  Narva  belagert  zu  werden. 
Plötzlich  stellten  die  Russen  alle  Feindseligkeiten  ein  ;  am  16.  April 
wurde  ein  Waffenstillstand  vereinbart,  der  erst  am  17.  Nov.  zu 


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Revals  Garnisonsfreiheit. 


427 


Friedensunterhandluugen  in  dem  nahe  bei  Narva  belegenen  Dorfe 
Wallisaar  führte. 

Nicht  lange  nachdem  diese  Unterhandlungen  zum  Abschlüsse 
gelangt,  kam  es  hier  zu  einem  Zusammenstoss,  der  die  Frage  über 
die  Garnisonsfreiheit  Revals  zu  einer  brennenden  machte.  Einge- 
leitet und  vorbereitet  wurde  derselbe  durch  eine  arge  Verstimmung, 
welche  um  diese  Zeit  am  Stockholmer  Hofe  gegen  Reval  Platz  ge- 
griffen hatte.  Wie  aus  den  auf  diese  Verstimmung  bezüglichen 
Schriftstücken  sich  ergiebt,  ist  sie  auf  Verdächtigungen  zurückzu- 
führen, welche  ihren  Ursprung  in  der  Misgunst  hatten,  unter  der 
Graf  Magnus  de  la  Gardie  als  Schwager  des  Königs  bei  dem  Ein- 
flüsse anderer  hochstehender  Männer,  welche  der  schwedische  Ge- 
schichtsschreiber Carlson  zu  bezeichnen  nicht  unterlässt,  zu  leiden 
hatte.  Die  liebenswürdige  und  freundliche  Art,  mit  welcher  der 
Graf,  wie  wir  gesehen,  die  motivirte  Ablehnung  der  Stadt,  die 
ihr  zugemutheten  grossen  Opfer  und  Lasten  ohne  jegliche  Cautel 
zu  übernehmen,  aufgenommen,  mag,  seitdem  er  den  hiesigen  Schau- 
platz verlassen,  seinen  Gegnern  dazu  gedient  haben,  ihn  wegen 
seines  entgegenkommenden  Verhaltens  gegen  Reval  beim  Könige 
zu  discreditiren.  Ein  Mittel  hierzu  konnte  es  ihnen  sein,  die  be- 
dingte Ablehnung  der  Stadt  zu  einer  unbedingten  aufzubauschen 
und  namentlich  ihre  Berufung  auf  die  privilegienmässige  Garnisons- 
freiheit zu  einer  halsstarrigen  Widergesetzlichkeit  zu  stempeln. 
Auch  muss  es  dem  dienstfertigen  Delatorenthum  gelungen  sein, 
beim  Könige  den  Verdacht  zu  erregen,  dass  die  Stadt  oder  wenig- 
stens einige  Vertreter  derselben  in  verrätherischem  Connexe  mit 
dem  Feinde  ständen.  Sei  dem,  wie  ihm  wolle :  jedenfalls  macht 
sich  der  Unwille  des  Königs  über  Reval  schon  im  Sommer  1658 
in  ungestümster  Weise  Luft.  Ein  von  Gothenburg  vom  5.  Juni 
datirtes,  vom  Könige  eigenhändig  unterschriebenes  und  mit  dem 
königlichen  Siegel  versehenes  Schreiben  (in  schwedischer  Sprache) 
hält  dem  Rathe  in  herben  Worten  vor,  wie  sträflich  das  Verhalten 
der  Stadt  sei,  wenn  sie  sich  unter  dem  Vorwande  von  Privilegien 
der  Aufnahme  einer  Garnison  widersetze.  Er  habe  seinen  Geh. 
Rath  und  Feldmarschall  Graf  Robert  Duglas  und  den  Hofrath 
Silverstierna  beauftragt,  die  Sache  zu  untersuchen  und  ihm  Bericht 
zu  erstatten,  gleichzeitig  aber  die  Direction  der  Stadtverteidigung 
zu  übernehmen.  Diese  Zornesaufwallung  des  Königs  hat,  wie 
es  scheint  —  wenigstens  was  die  beregte  Untersuchung  betrifft  — 
keine  Folgen  gehabt,  bis  einige  Monate  später  der  König  zu  einer 


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Revals  Garnisonsfreiheit. 


weiteren  ungnädigen  Kundgebung  veranlasst  worden  ist.  Bs  liegt 
nämlich  ein  vom  29.  October  von  der  Festung  Kronenborg  datirtes, 
aber  erst  am  1.  December  hier  angelangtes  Schreiben  vor,  welches 
den  früher  geäusserten  Verdacht  verrätherischen  Einverständnisses 
mit  dem  Feinde  gegen  gewisse  Personen  richtet.  Wir  haben  es 
wol  dem  Umstände  beizumessen,  dass  Karl  X.  unter  dem  ver- 
stimmenden Einflüsse  seines  zweiten  gegen  Dänemark  eröffneten, 
so  wenig  Glück  verheissenden  Feldzuges  und  von  einer  dänischen 
Festung  aus,  die  ihm  täglich  klarer  machen  musste,  wie  wenig 
Hoffnung  er  habe,  Kopenhagen  einzunehmen,  dazu  kommt,  luftige 
Verdachtsfäden  weiter  auszuspinnen  und  damit  Dinge  in  Verbindung 
zu  bringen,  die  mehr  üble  Laune  als  die  Notwendigkeit  für  den 
Staat,  wichtige  und  unaufschiebbare  Geschäfte  schuell  und  praktisch 
zu  erledigen,  zum  Ursprünge  gehabt  haben  müssen.  Wol  habe  er 
•  —  schreibt  der  König  im  Eingange  —  sich  dessen  gefreut,  aus 

den  Zuschriften  des  Raths  die  Gesinnungen  alter  Treue  und  Hin- 
gebung entnehmen  zu  können;  allein  um  so  unlieber  sei  es  ihm 
gewesen,  zu  erfahren,  dass  der  Syndikus  Revals,  Heinrich  Tunder- 
feldt,  ohne  sein  Wissen  und  Willen,  auch  ohne  des  Königs  Antwort 
und  Resolution  auf  die  von  der  Stadt  ihm  committirten  Geschäfte, 
welche  er,  der  König,  im  Senate  bereits  vorgenommen,  zu  debattiren, 
abzuwarten,  sich  entzogen  und  heimlich  von  Stockholm  auf  den 
Weg  zur  Rückreise  sich  begeben.  <  Dieses  ermeldeten,  eures  ab- 
geschickten Syndici  ungewöhnliches  plötzliches  Abreisen  und  Ent- 
weichung» —  fahrt  der  König  fort  -r  that  Uns  Anleitung  gegeben, 
zurück  zu  gedenken  an  das,  was  Unsere  Ministri  bei  euch  Uns 
vor  diesem  advertirt  haben,  angehend  die  Opiniatrete\  welche  Wir 
bei  der  Stadt  gefunden  haben,  ohne  Zweifel  durch  derer  Schuld 
und  Getriebe,  welche  das  Werk  geführt  und  dirigirt  haben.»  Es 
folgen  nun  die  früheren,  darin  gipfelnden  Recriminationen,  die 
Stadt  habe  sich  in  die  Verteidigungsmassregeln  der  Krone  mischen 
und  sie  durch  verweigerte  Aufnahme  der  Garnison  erschweren 
wollen.  Als  Urheber  dieser  « schädlichen  Pratiquen»  müsse  er  — 
der  König  —  den  Bürgermeister  Rosenbach  und  seine  Adhärenten 
bezeichnen  und  habe  er  in  Uebereinstimmung  mit  seinen  geliebten 
Reichsräthen  für  noth wendig  befunden,  sich  des  Bürgermeisters 
Rosenbach  Person  versichern  zu  lassen,  bis  dass  derselbe  vor  des 
Königs  Hofgerichte  in  Stockholm  sich  purgire  und  seine  Sache, 
wie  er  am  besten  könne  und  vermöge,  justificire. 

Damit  tritt  eine  Persönlichkeit  in  den  Vordergrund  der  Be- 


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Revals  Garnisonsfreiheit. 


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gebenheiten,  welche  im  weiteren  Verlaufe  derselben  in  so  fern  die 
Hauptrolle  spielt,  als  die  Frage  über  die  Gerechtsame  und  Be- 
fugnisse der  Stadt  in  Sachen  der  militärischen  Verteidigung  und 
speciell  der  Verpflichtung,  eine  königliche  Garnison  aufzunehmen, 
nun  als  Einschlag  in  ein  Gewebe  dient,  welches  uns  fortan  in  Ge- 
stalt einer  peinlichen  Untersuchung  wider  Rosenbach  und  Consorten 
zu  beschäftigen  haben  wird. 

Bevor  wir  diese  und  den  schon  angekündigten  Vorgang  kennen 
lernen,  welcher  die  bisherige  Verstimmung  des  Königs  in  die  Bahnen 
eines  politischen  Processes  drängte,  wird  es  Zeit  und  Ort  sein, 
uns  mit  der  Person  des  Hauptangeklagten  in  diesem  Processe  be- 
kannt zu  machen. 

Bernhard  von  Rosenbach1  ist  ein  Findling,  der  an  dem 
Bache,  von  dem  die  bei  Reval  belegene  Besitzung  Schwarzenbeck  ihren 
Namen  hat,  ausgesetzt  war.  Er  wurde  —  in  Folge  welcher  Um- 
stände, ist  unbekannt  —  nachdem  er  den  Familiennamen  zur  Beche 
erhalten,  aus  Stadtmitteln  erzogen  und  auf  die  Universität  geschickt. 
1624  trat  er  in  städtische  Dienste  als  Substitut  im  Secretariate, 
wurde  bald  darauf  Rathssecretär  und  als  solcher  in  Stadtangelegen- 
heiten nach  Stockholm  deputirt ;  1642  zum  Syndikus  gewählt, 
wurde  er  im  Jahre  darauf,  also  zur  Zeit  Christinens,  in  den  Adel- 
stand erhoben,  wobei  er  den  Namen  v.  Rosenbach  erhielt ;  1653 
wurde  er  Bürgermeister.  Er  ist  der  Stammvater  des  bekannten 
adeligen  Geschlechts  dieses  Namens,  also  der  directe  Ahnherr  des 
jetzigen  Generalgouverneurs  von  Turkestan.  Ueber  seine  Begabung 
und  seinen  Charakter,  in  Sonderheit  auch  über  seine  politische  Ge- 
sinnung erfahren  wir  manches  aus  den  später  zur  Sprache  kommen- 
den Process  Verhandlungen. 

Der  mehrfach  erwähnte  Vorgang  aber,  der  den  bisher  latenten 
Conflict  zu  einem  acuten  machte  und  in  dessen  Folge  der  Process 
in  Scene  gesetzt  wurde,  war  in  kurzem  folgender. 

Nachdem  im  Laufe  des  Jahres  1658  und  vielleicht  schon 
früher  —  die  mir  zu  Gebote  stehenden  Archivstücke  geben  darüber 
keine  genügende  Auskunft  —  bei  herannahender  Kriegsgefahr  zeit- 
weilig schwedische  Kriegsvölker  in  die  Stadt  aufgenommen  worden 
waren,  und  zwar  namentlich  das  Gartensche  Regiment,  beanspruchte 
der  Gouverneur  Bengt  Horn  um  die  Weihnachtszeit  noch  die  Auf- 
nahme einer   kleinen  Partie    rückständiger  Truppen  desselben 

■  Unser  Gewährsmann  für  diese  Angaben  ist  Bunge  (Revaler  Raths 
linie;,  der,  wie  es  scheint,  aus  Harpes  Repertorium  geschöpft  hat. 


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Revals  Garnisonsfreiheit. 


Regiments.  Städtischerseits  machte  man  Schwierigkeiten ,  weil 
diese  Truppe  aus  einer  pestverseuchten  Gegend  kam  und  man 
weiteres  Umsichgreifen  der  Epidemie  in  der  Stadt  befürchtete.  Es 
fanden  darüber  Verhandlungen  statt,  welche  einen  Aufschub  des 
Einmarsches  zum  Gegenstande  hatten.  Bevor  jedoch  ein  Einver- 
ständnis erzielt  war,  erschienen  die  Truppen  am  dritten  Weihnachts- 
tage mit  klingendem  Spiele,  um  durch  die  Lehmpforte  ihren  Einzug 
zu  halten.  Dazu  kam  es  aber  nicht.  Denn  so  wie  sich  die  Truppe 
der  Pforte  näherte,  wurde  diese  auf  Befehl  des  Bürgermeisters 
v.  Rosenbach  resp.  des  seiner  Weisung  folgenden  Befehlshabers  der 
städtischen  Miliz,  Obristlieutenant  Kon  ra  d  Ni  eroth,  geschlossen, 
so  dass  die  Soldaten  Kehrt  machen  mussten. 

Dieses  Vorgehen  der  städtischen  Behörden  erregte  begreiflicher- 
weise in  hohem  Grade  den  Unmuth  des  Gouverneurs  und  der  ihm 
zur  Seite  stehenden  Militärbefehlshaber,  welche  es  nicht  unterliessen, 
dem  Könige  darüber  zu  berichten.  Dass  bei  der  ungnädigen  Stimmung, 
welche,  wie  wir  gesehen,  hier  schon  obwaltete,  die  Ruhe  der  Ueber- 
legung  dem  Ungestüme  sofortiger  Massnahmen  weichen  musste, 
kann  uns  bei  dem  bekannten  leidenschaftlichen  Charakter  Karls  X. 
nicht  Wunder  nehmen.  Die  Idee,  der  Bürgermeister  Rosenbach 
sei  ein  geheimer  Feind  und  Verräther  des  Landes  und  der  Krone, 
faud  in  dem  Schliessen  der  Thore  vor  einer  im  Einrücken  be- 
griffenen königl.  Truppe  einen  so  günstigen  Nährboden,  dass  eine 
Specialcommission,  bestehend  aus  dem  finnländischen  Gouverneur 
Baron  Gustav  Horn  und  dem  Hofrath  Silverstierna,  vom  König 
den  Auftrag  erhielt,  ungesäumt  wider  Rosenbach  und  alle  diejenigen, 
welche  ihm  in  seinem  sträflichen  Gebahren  zur  Seite  gestanden, 
untersuchend  vorzugehen,  demnächst  aber  das  Ergebnis  dieser  Unter- 
suchung dem  Stockholmer  Hofgerichte  zur  Aburtheilung  zu  übergeben. 

Ueber  die  Thätigkeit  dieser  Commission  liegen  uns  verschiedene 
sich  ergänzende  Aufzeichnungen  vor,  nämlich  einmal  die  zwischen 
der  Commission  in  der  Rolle  der  klägerischen  Partei  und  dem 
Rathe  als  Vertreter  des  angeschuldigten  Theils  nach  Analogie 
eines  Civilprocesses  gewechselten  Satzschriften  und  dann  ein  Schrift- 
stück, das  sich  selbst  Auszug  aus  dem  Coramissionsprotokolle  be- 
nennt, in  Wahrheit  aber  als  ein  Memorandum  zu  bezeichnen  ist, 
in  dem  sich  alle  auf  die  Rosenbachsche  Affäre  stattgehabten  Ver- 
handlungen, mochten  sie  nun  im  Schosse  des  Raths  und  der  Gemeinde 
oder  vor  der  Uutersucliungscommission  stattgefunden  haben,  ver- 
zeichnet fiuden.    Bei  der  Commission  gehen  nämlich  eine  mündliche 


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Revals  Garnisonsfreiheit. 


4SI 


und  eine  schriftliche  Verhandlung  neben  einander  und  ist  daher, 
um  vollen  Einblick  in  die  Sache  zu  gewinnen,  auf  beide  Rücksicht 
zu  nehmen,  wenn  auch  auf  letztere,  als  das  eigentliche  Vehikel 
der  Conflictspunkte.  das  Hauptgewicht  zu  legen  ist. 

Die  betr.  Verhandlungen  beginnen  am  13.  Febr.  1659  damit, 
dass  vor  versammeltem  Rathe  den  Vertretern  der  Gilden  eröffnet 
wird,  wie  die  königlichen  Commissarien  an  sie  eine  Einladung  zum 
Erscheinen  vor  ihnen  und  zur  Entgegennahme  dessen,  was  ihnen 
laut  königlicher  Instruction  zu  eröffnen  sei,  gerichtet  hätten. 

Tags  darauf  begiebt  sich  die  städtische  Vertretung,  bestehend 
aus  dem  Bürgermeister  Elias  Hiiner,  den  Rathsherren  Coort  Meusler, 
Christian  Strahlborn ,  Hinrich  Bade ,  Christian  Buchow  nebst 
Secretären  Hinrich  Fonn  und  je  vier  Vertretern  der  drei  Gilden, 
zu  den  Commissaren.  Anrede  und  Erwiderung  fliessen  über  von 
den  Versicherungen  der  Ergebenheit  und  Treue  einer-  und  landes- 
väterlicher Fürsorge  und  gnädiger  Gesinnungen  andererseits;  der 
König,  versichert  Horn,  hege  schon  lange  den  Wunsch,  «dies  Liv- 
land  und  absonderlich  dies  gute  Reval»  in  Person  zu  besuchen,  der 
Krieg  und  wichtige  Staatsgeschäfte  hätten  ihn  aber  bisher  daran 
gehindert.  Plötzlich  und  unvermittelt  schlägt  aber  der  Ton  des 
Wohlwollens  in  den  des  Unwillens  um.  «Es  hätten  aber  I.  Maj.  — 
fährt  Horn  fort  —  mit  höchster  Befremdung  vernehmen  müssen, 
wie  die  Stadt  Reval  nunmehr  so  gar  halsstarrigerweise  nicht  allein 
ihrer  königl.  Maj.  heilsamen  und  gnädigst  abgefassten  Meinungen 
contraminiret,  sich  widersetzet  und  trotziglich  widersprochen,  sondern 
auch  dem  königl.  Gouverneur  Hrn.  Bengt  Horn,  als  welcher  jussu 
regis  zu  mehrerer  Versicherung  die  Thore  und  Wälle  der  fast  aus- 
gestorbenen Stadt  mit  seinen  bei  sich  habenden  königl.  Soldaten 
versehen  wollen,  den  Schlagbaum  vor  der  Nase  zuschliessen  lassen, 
ja  wohl  mit  des  Königs  Feinden  und  absonderlich  mit  dem  barbari- 
schen und  treuwbrüchigeu  Muscoviter  colludirten.»  Der  König 
habe  daher  eine  Untersuchung  des  Verhaltens  der  Stadt  durch  be- 
sondere Commissare  angeordnet  und  müsse  er,  Horn,  in  Erfüllung 
dieses  Auftrages  zunächst  um  Aushändigung  des  von  dem  Grafen 
de  la  Gardie  der  Stadt  zugefertigten  Versieherungsschreibens  bitten. 
Der  Bürgermeister  Hiiner  verwahrte  sich  namens  der  Stadt  aufs 
entschiedenste  wider  die  eben  verlautbarten  Anschuldigungen  der 
Untreue  und  Verrätherei  und  trat  insbesondere ,  so  weit  diese 
Anschuldigungen  gegen  den  Bürgermeister  Rosenbach  und  den 
Obristlieutenant  Nieroth  gerichtet  seien,  mit  grosser  Wärme  für 


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Revals  Garnisonsfreiheit. 


diese  Personen  ein,  weil  das,  was  sie  angeordnet  hätten,  nur  auf 
Beschluss  des  Raths  und  mit  Zustimmung  der  ganzen  Gemeinde 
geschehen  sei.  —  In  dem  Zeiträume  vom  15.  Februar  bis  zum 
19.  März  finden  nun  fast  taglich  Sitzungen  im  Rathe  und  Oonferenzen 
mit  den  Vertretern  der  Gilden  statt,  an  die  sich,  wenigstens  bis 
zum  Schluss  des  Februar,  fast  eben  so  oft  Deputationen  an  die 
Oommissare  und  den  Gouverneur  anschlössen.  An  einer  dieser 
Deputationen  nahm  auf  Zureden  des  Raths  Rosenbach  selbst  Theil, 
wurde  aber,  nachdem  er  sich  in  beredter  Weise  gegen  die  wider 
ihn  erhobene  Anklage  mündlich  verteidigt,  von  den  Commissaren 
zurückgewiesen,  weil  es  ihm  in  seiner  Stellung  als  Angeklagter 
und  von  seinem  Amte  Suspendirter  nicht  zustände,  in  der  Ver- 
tretung der  Stadt  zu  erscheinen.  Die  Commissare  mochten  übrigens 
die  bisher  mündlich  geführte  Verhandlung  für  den  nicht  geeigneten 
Modus  halten  ;  denn  als  Gustav  Horn  inzwischen  einmal  verreist 
war,  eröffnete  sein  College  Silverstierna  den  Deputirten,  dass  fortan 
der  schriftliche  Weg  einzutreten  habe.  Ein  Zwischenfall  verlängerte 
aber  dennoch  die  mündlichen  Verhandlungen.  Nachdem  nämlich 
der  Bürgermeister  Rosenbach  bereits  früher,  wol  schon  im  Herbste 
1658,  auf  Befehl  des  Königs  und  seines  örtlichen  Vertreters  Grafen 
Duglas  verhaftet,  aber  gegen  Caution  wieder  auf  freien  Fuss  ge- 
setzt worden  war,  wiederholte  sich  dieser  Haftbefehl,  als  Rosen- 
bach am  25.  Februar  aufs  Schloss  gehen  musste.  Einige  Tage 
später  wurde  der  Arrest  auch  auf  den  Obristlieuteuant  Konrad 
Nieroth  ausgedehnt.  Rath  und  Bürgerschaft  wurden  durch  diese 
Massregel  aufs  höchste  erregt  und  Hessen  es  an  unausgesetzten 
Bemühungen  nicht  fehlen,  gegen  Cautionsleistung  zuerst  des  ganzen 
Raths,  dann  aber  der  Stadt  die  Entlassung  der  beiden  Männer 
aus  der  Haft  oder  wenigstens  Verwandlung  der  gefänglichen 
Haft  auf  dem  Schlosse  in  Hausarrest  herbeizuführen  Alle  des- 
halb gethanen  Schritte  blieben  aber  fürs  erste  wenigstens  völlig 
erfolglos.  Weder  der  Gouverneur  noch  die  Commissare  Hessen  sich 
darauf  ein  und  auch  dann  nicht,  als  sogar  der  Superintendent  und 
die  gesammte  Stadtgeistlichkeit  dafür  intercedirten.  Die  Weigerung 
der  um  Freigabe  Angegangenen  stützte  sich  immer  wieder  auf  den 
ausdrücklichen  Befehl  des  Königs.  Das  Einzige,  was  endlich  von 
Rath  und  Bürgerschaft  erlangt  wurde,  war,  dass  den  beiden  Ver- 
hafteten bessere  Haftlorale  im  Schlosse  angewiesen  wurden. 

Aus  dem  bisher  Mitgetheilten  ist  zwar  der  status  causae  et 
controversiae  in  Sachen  Rosenbach  und  Consorten  der  Hauptsache 


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Revals  Garnisonsfreiheit  433 

• 

nach  bekannt;  einige  Momente  desselben,  namentlich  die  Fragen, 
ob  die  8tadt  selbst  um  eine  Garnison  gebeten  und  hinterdrein  sie 
zurückgewiesen  habe  und  ob  der  Einmarsch  des  Restes  des  Garten- 
schen  Regiments  am  dritten  Weihnachtstage  den  kurz  vorher- 
gegangenen Verhandlungen  und  Abmachungen  zwischen  Gouverneur 
und  Stadt  zuwidergelaufen,  bedürfen  aber  doch  noch  einer  weiteren 
Aufklärung.  Und  diese  können  uns  nur  die  bei  den  Commissaren 
gewechselten  Schriftstücke  bieten. 

Von  letzteren  fehlt  die  Anklageschrift  vom  17.  Februar  1659. 
Doch  ist  ihr  Verlust  kein  erheblicher  ;  denn  sowol  aus  der  Beant- 
wortung derselben,  als  aus  den  mündlichen  Verhandlungen  vor  den 
Commissaren  und  aus  früheren  Schriftstücken  ergiebt  sich  der  Inhalt 
der  Anklageschrift  zur  Genüge.  Schon  eine  Woche  spater  wurde 
die  Beantwortung  derselben  den  Commissaren  übergeben.  Es  er- 
scheint rathsam,  diese  möglichst  vollständig  kennen  zu  lernen. 
Nach  Fortlassung  des  Höflichkeitseinganges  begegnen  wir  folgenden 
Ausführungen : 

<  Erlauchter,  hochwohlgeborener  Herr  Baron,  Reichsrath  und  General, 
auch  wohlgeb.  Herr  Hofrath,  hochansehliche  kgl.  Herrn  Commissarii. 

cEs  ist  anfänglich  unleugbar  wahr,  dass  wir  nunmehr  in  die 
98  Jahren  unter  der  hochlöblichen  Krone  Schweden  Botmässigkeit, 
auch  gnädigstem  Schutze  und  Schirme  gewesen  und  uns  in  den 
beiden  schweren  reussischen  Belagerungen  wider  den  Moscowiter, 
wie  auch  hernachher  in  polnischen  und  dänischen  Kriegen  dermassen 
getreuw  und  redlich  bezeiget,  dass  auch  unsere  Misgünstige  uns 
den  Titel  einer  getreuen  Stadt  gönnen  müssen.  Waunenhero  uns 
die  durchlauchtigste,  grossmächtigste  Könige  und  die  hochlöbliche 
Krone  zu  Schweden  niemalen  mit  einer  Garnison  beleget,  besondern 
gern  gestattet,  dass  wir  diese  gute  Stadt  mit  unseren  eigenen  ge- 
worbenen Soldaten  und  «Artolerey»- Bedienten  wider  alle  feindliche 
Anfälle  bewachen  und  vorsehen  mögen,  dannenhero  auch  König 
Gustavus  der  Grosse,  glor würdigster  Gedächtnus,  in  anno  1626 
dieser  guten  Stadt  das  hiesige  Schloss  und  dessen  Garnison  auf  ge- 
wisse Masse  mit  untergeben  wollen.  Und  wird  über  dieses  aus 
keiner  Historien  beigebracht  werden  können,  dass  diese  Stadt  einiger 
Untreue  ihrer  hohen  Obrigkeit  jemalen  erwiesen.  Diesen  Ruhm 
unserer  geliebten  Vorfahren  wollten  wir  nicht  gerne  in  uns  er- 
löschen lassen,  besondern  auf  unsere  Posteritet  hinwider  verstammen. 
Haben  derowegen  so  bald  nur  die  Moscowiter  sich  gegen  die  hoch- 
löbliche Krone  Schweden  feindlich  bezeiget,  erstlich  bei  der  in 


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434  Revals  Garnisonsfreiheit 

Schweden  anwesenden  königl.  Regierung  durch  Hrn.  Jürgen  Müllern 
um  Hilf  und  Beistand,  wie  auch  bald  hemacher  bei  I.  kgl.  Maj. 
selbsten  durch  unseren  damaligen  abgefertigten  Hrn.  Simon  Lanting 
in  Preusseu  um  eine  gnädigste  Assistence  an  Ammunition  und  Volk 
allerunterthanigst  anhalten  lassen,  haben  über  dieses  in  Preussen 
und  zu  Lübeck  etliche  1000  Rtlr.  zu  Beibringung  allerhand  Am- 
munition employiren  lassen,  zu  geschweigen  der  vielen  1000  Rtlr.. 
die  wir  auf  Erbauung  der  Stadt  Wälle,  Thürme  und  Festungen, 
daran  auch  unsere  eigene  Bürgern  in  Person  eine  Zeit  lang  mitge- 
arbeitet, verwendet;  in  Summa,  wir  haben  nach  unsern  geringen 
Vermögen  nichts  unterlassen,  was  zu  nöthiger  Defension  dieser 
Stadt  thunlich  gewesen  ;  haben  zu  dem  Ende  auch  eine  Compagnie 
Soldaten  von  1 20  Mann  mit  denen  (Meieren  sammt  einem  Obersten 
Lieutenant  über  die  Bürgern  und  Soldaten  in  Bestallung  genommen 
und  dazu  taglich,  wenn  es  die  Nothdurft  erheischet,  vier  Com- 
pagnien  Bürger  auf  die  Wache  ziehen  lassen.  Ueberdera  so  haben 
wir  uns  sammt  und  sonders  als  getreue  Untersassen  gegen  alle 
und  jedwede  Feinde  vor  I.  kgl.  Maj.  und  diese  Stadt  bis  auf  den 
letzten  Blutstropfen  zu  fechten  höchst  verbunden.  Und  obwol  zu- 
weilen in  Ab  Wartung  der  Wache  einige  Fehler  vergangen,  so  kann 
man  doch  solche  von  Privatpersonen  begangenen  Irrungen  die  ganze 
Stadt  nicht  imputiren,  absonderlich  weilen  die  Verbrecher  zur  ge- 
bührlichen Straf  gezogen  worden.  Die  Gartensche  fünf  Compagnien 
haben  wir  gutwillig  (weilen  die  Noth  wegen  Belagerung  der  Städte 
Riga  und  Dörpt  da  war)  in  die  Stadt  genommen  und  die  Soldaten 
beinahe  ein  Jahr  mit  freier  Kost  und  nothdurftigem  Unterhalt  der- 
gestalt versehen,  dass  sie  uns  bei  ihrem  Abzüge  vor  die  gute  Be- 
wirthung  bedanket  und  rühmlich  hinter  sich  verlassen,  dass  sie 
niemalen  einige  bessere  Quartiere  gehabt.  So  haben  wir  auch  zu 
Bezeigung  unseres  guten  Willens  den  Gartenschen  Ober-  und 
Niederofficieren  auch  etliche  Monat  Lohnung  reichen  lassen ;  her- 
nacher  haben  wir  den  Bohtschen  und  letzlich  diesen  norwegischen 
Völkern  mit  Gelder  nach  unserm  Vermögen  assistiret,  wiewol 
wir  solche  Spesen  auf  unsere  eigene  geworbene  Völker  zu  ver- 
wenden sehr  nöthig  gehabt,  alles  zu  dem  Ende,  dass  wir  an  unserem 
geringen  Orte  an  unserer  Hilfe  nichts  erwinden  lassen  wollen. 
Und  obwol  König  Gustav  der  Grosse  uns  in  anno  1629  gegen  die 
Einwilligung  in  die  Licenten  von  allen  Kriegsbeschwerden  befreiet, 
so  haben  wir  dennoch  necessitate  ita  flagitante  ein  solch  herrliches 
Privilegium  gutwillig  aus  den  Augen  gesetzet  und  bei  uns  erwogen, 


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Revals  Garnisonsfreiheit. 


435 


dass  in  Zeit  der  Noth  alle  Privilegien  cessiren  müssen.  Wie  wir 
denn  in  solcher  Consideration  der  Krone  innerhalb  wenig  Jahren 
eine  ansehnliche  Summe  theils  vorgestrecket,  theils  aus  unter- 
tänigsten getreuen  Herzen  contribuiret ;  und  wollten  noch  gern 
unsere  untertänigste  Treue  in  diesem  Passu  blicken  lassen,  ob  wir 
gleich  nun  ins  dritte  Jahr  hero  ganz  nahrlos  gesessen,  wenn  wir 
das  Unsere,  welches  im  Lande  ausstehet,  in  Händen  hätten. 

<Dass  wir  uns  I.  kgl.  Maj.  allergnädigster  Disposition  oder 
Dessein  jemalen  freventlich  widersetzet  haben  sollen,  hoffen  wir  nicht, 
dass  uns  ein  solches  Uberbracht  werden  solle :  zumalen  uns  nie- 
malen einige  königl.  Disposition  vorgezeiget  worden.  In  vorigen 
Zeiten  haben  die  kgl.  Maj.  der  Stadt  selbsten  in  Schriften  ihren 
gnädigsten  Befehlich  immediate  überschicket  oder  auch  durch  die 
Herrn  Gouverneure  mit  Vorzeigung  der  königl.  Mandaten  zu  wissen 
gemachet,  welches  nur  eine  Zeit  hero  unterlassen.  Und  wie  durch 
dieses  Mittel  viele  Irrungen  gehoben  werden  könnten,  wäre  zu 
wünschen,  dass  es  nach  solchen  löblichem  Alten  annoch  gehalten 
werden  möchte. 

«Was  nun  die  Beschuldigung  an  reichet,  dass  wir  die  königl. 
Soldaten  in  die  Stadt  nicht  admittiren,  besondern  das  Thor  vor 
selbige  schliessen  lassen,  so  verhalten  Ew.  hochwohlg.  Excellenz 
und  wohlgeb.  Herrn  wir  zum  Gegenberichte  hiermit  nicht,  dass 
der  Hr.  kgl.  Gouverneur  in  den  Wochen  vor  Weihnachten  begehret, 
dass  wir  die  annoch  übrigen  Gartensche  Soldaten,  deren  noch  60 
in  70  Mann  ungefähr  nach  der  Pest  übrig  waren,  einnehmen  und 
die  Thore  und  Wälle  bewachen  lassen  sollten.  Weilen  aber  die 
anwesende  Personen  des  Rathes  vor  sich  darin  nicht  willigen 
können,  besondem  das  Gewerb  mit  der  Gemeine  zu  bereden  ange- 
nommen, hat  man  solches  folgenden  Tages  der  anwesenden  Gemeine 
proponiret,  welche  gebeten,  man  wollte  vor  dieses  Mal,  wo  möglich, 
die  Inquartierung  und  Wacht  der  Soldaten  differiren,  weilen  sich 
die  Pest  in  etlichen  Häusern  in  der  Stadt  sowol  als  bei  denen 
Soldaten  annoch  vermerken  Hesse.  Denn  wenn  die  Soldaten  bei 
denen  gesunden  Bürgern,  die  neulich  vom  Lande  wieder  zur  Stadt 
kommen,  verleget  werden  sollten,  würde  die  Stadt  de  novo  inficiret 
werden,  welches  ja  als  ein  Gewissenswerk  unverantwortlich  und 
darum  billig  zu  verhüten  wäre,  voraus  bei  der  Zeit,  da  sich  kein 
Feind,  von  dem  man  sich  einiger  Attaque  zu  befahren  hätte,  im 
Lande  vermerken  lassen.  Im  Falle  aber  solches  nicht  abzuschaffen 
wäre,  so  baten  sie  Dilation,  bis  ihre  andere  Mitbürger  zur  Stadt 


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436 


Revals  Garnisonsfreiheit, 


kamen,  denn  sie  ohne  deren  Gegenwart  nichts  schliessen  könnten. 
Und  wenn  sie  dann  die  Soldaten  einnehmen  müssten,  wäre  ja  billig, 
dass  man  solches  mit  gewissen  Conditionen  thÄte,  zumalen  man 
taglich  vor  Augen  sähe,  wie  Übel  die  Soldaten  im  Lande,  ja  ärger 
als  der  Feind  hauseten,  die  Wege  nach  der  Stadt  unsicher  macheten, 
die  Gärten  und  Vorstadt  ohn  einige  Noth  ruinirten,  plünderten 
und  abrissen,  wodurch  der  Stadt  über  50000  Thlr.  Schaden  ohn 
einige  Noth  zugetllget.  Müssten  sich  auch  besorgen,  dass  man 
täglich  mit  militärischen  Executionen  wider  den  einen  oder  andern 
verführe,  wie  man  leider  den  Anfang  bereits  gemacht.  So  wüsste 
man  auch  nicht,  ob  I.  kgl.  Maj.  solches  anbefohlen,  zumalen  man 
des  halber  keine  kgl  Order  gesehen.  Weilen  nun  dieses  alles 
notorium,  müssten  die  anwesende  Personen  des  Rathes  der  Gemeine 
hierin  zustimmen,  citirten  durch  einen  öffentlichen  Anschlag  alle 
ausgewichene  Bürger  gegen  das  Weihnachten  fest  zur  Stadt,  in 
Meinungen,  einen  einhelligen  Schluss  zu  fassen  und  den  Hrn.  kgl. 
Gouverneuren  denselben  anzutragen.  Ob  wir  nun  wol  dieses  alles 
Sr.  hochwohlgeb.  Excellenz  anfügen  und  zugleich  um  Dilation  bis 
den  ersten  heiligen  Weihnachtentag  bitten  lassen,  haben  dieselben 
dannoch  am  Weihnachten  Abend  die  Einführung  der  Soldaten  werk- 
stellig  machen  wollen,  da  wir  denn  unserro  damaligen  Stadtmajoreu 
an  Seine  Excellenz  abgeschicket  und  abermaleu  um  Dilation  bis 
den  ersten  heiligen  Tag  bitten  lassen.  Ob  Sie  nun  wol  anfänglich 
etwan  difficultiret,  hätten  Sie  doch  endlich  Ihm  zum  Bescheide  er- 
theilet :  Es  sollte  die  Einführunge  der  Soldaten  bis  den  ersten 
heiligen  Tag  verbleiben,  doch  dass  alsdann  die  Antwort  gewiss 
einkäme.  Wie  nun  Ihr.  Excellenz  nach  diesem  Abschiede  von  der 
Lehmpforten  weggeritten,  sind  eine  Weile  hernach  40  oder  50 
Soldaten  mit  vollem  Trommenschlag  anmarschiret,  und  haben  das 
Thor  einnehmen  wollen.  Weilen  aber  solches  dem  Abscheide  des 
Hrn.  Gouverneuren  directe  zuwider  war,  ist  ja  nicht  unbillig  das 
Thor  vor  selbige,  als  welche  wider  des  Hrn.  Gouverneuren  Ab- 
scheid und  der  Stadt  Freiheit  gehandelt,  geschlossen  worden.  Und 
hätten  wir  uns  vielmehr  der  Gewälde  halber,  so  unser  Stadt  ob- 
gedachte  Soldaten  zufügen  wollen,  bei  I.  kgl.  Maj.  Ursach  zu  be- 
schweren gehabt,  da  es  die  Zeiten  zugeben  wollen. 

cEs  sei  aber,  wie  ihm  wolle,  so  können  wir  bei  dem  wahren 
lebendigen  Gott  bezeugen,  dass  wir  in  diesem  Passu  nichts  ge- 
suchet, als  die  von  der  Pest  überbliebene  ehrliebende  Bürgerschaft 
zu  conserviren,  wissen  also  von  keinem  Urheber,  der  uns  zum 


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Revals  Garnisonsfreiheit. 


437 


Bösen  wider  T.  kgl.  Maj.  Disposition  angesehener  Consilien  gereizet 
haben  sollte.  Unserer  Stadt  Wohlfahrt,  die  hohe  Noth,  annoch 
glimmende  Pest  und  die  feindselige  Proceduren  unserer  eigenen  im 
Lande  und  hiesigen  Vorstädten  grassirenden  Soldaten  haben  uns 
veranlasset,  bei  dem  Hrn.  kgl.  Gouverneurn  die  Inquartierung  gar 
abstellig  zu  machen  oder  zum  wenigsten  zu  differiren,  bis  wir  gute 
Conditiones  dabei  erhalten.  Und  was  sollte  wol  die  itzige  kgl. 
Maj.  von  uns  judiciren,  wenn  wir  uns  von  etlichen  wenigen  Soldaten 
wider  des  Hrn.  Gouverneurs  Ordre,  die  Stadtthore,  die  uns  von 
der  hohen  Obrigkeit  anbetrawet  und  wir  nunmehr  in  die  500 
Jahren  wider  alle  feindliche  Anfälle  getreu  und  ehrlich  defendiret, 
hätten  benehmen  lassen?  Denn  damalen  war  es  ausser  Noth, 
weilen  kein  Feind,  den  wir  sonderlich  zu  fürchten  hatten,  im  Lande 
vorhanden,  und  hierüber  die  von  uns  gebetene  Dilation  gar  kurz 
war.  Wir  lassen  Ew.  hochwohlgeb.  Excellenz  und  wohlg.  Herrl. 
nebenst  der  ganzen  ehrbaren  Welt  urtheilen,  ob  wir  aus  diesem 
Acte  einiger  Untreue  oder  Widerspenstigkeit  wider  I.  kgl.  Maj. 
convinciret  werden  mögen.  Wir  haben  uns  jeder  Zeit  erkläret,  die 
königl.  Soldatesque  einzunehmen,  wann  es  die  Noth  erheischet,  und 
weilen  diese  unsere  Erklärung  in  Disput  gezogen  werden  wollen, 
hat  endlich  des  Hr.  Graf  Magni  hochgräfliche  Excellenz  der  Sache 
in  ihrer  uns  abgegebenen  Versicherunge,  welcher  wir  vor  etlichen 
Tagen  commissionaliter  überreichen  lassen,  einen  Ausschlag  gegeben, 
wodurch  aller  voriger  Streit  gehoben  worden.  Wie  aber  I.  kgl. 
Maj.  mit  expresser  Reservation  unserer  Privilegien  uns  hernacher 
die  Soldaten  einzunehmen  anbefohlen,  haben  I.  kgl.  Maj.  gnädigstem 
Mandat  wir  unserer  eidespflichtigen  Schuldigkeit  nach  billige  Pari 
tion  geleistet,  in  ungezweifelter  Hoffnung,  I.  fcgl.  Maj.  uns  solcher 
Einquartierung  cessanie  necessitate  allergnädigst  wieder  enthoben 
werden.  Inmittelst  beklagen  wir  von  Herzen,  dass  wir  über  unseren 
zur  Stadtdefension  angewandten  Fleiss  und  erwiesener  Treue  dennoch 
mit  solcher  schweren  Beschuldigung  durch  Angaben  unserer  Mis- 
günstigen  beleget  worden  ;  hoffen  aber,  dass  der  all  waltende  Gott 
aus  diesen  und  anderen  Drangsalen  uns  väterlich  erretten  und 
unsere  Unschuld  an  das  Tageslicht  bringen  wird.  Wann  I.  kgl. 
Maj.,  unser  allergnädigster  König  und  Herr,  diese  unsere  Schutz- 
schrift  allergnädigst  bei  sich  in  Consideration  nehmen  werden, 
zweifeln  wir  nicht,  Sie  werden  nach  der  höchst  angeborenen  Clemenz 
und  Gütigkeit  diese  gute  Stadt  von  sothanen  erwähnten  schweren 
Beschuldigungen  allergnädigst  absolviren  und  in  hohen  königlichen 


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Revals  Garnisonsfreiheit. 


Gnaden  wiederum  ansehen.  Womit  wir  schliesslich  Ew.  hochwohlg. 
Excellenz  und  wohlgeb.  Herrlichk.  dem  Schutz  des  Allerhöchsten, 
uns  aber  Dero  gnädiger  Affection  bestermasseu  recommendiren. 

Reval,  24.  Febr. 

anno  1659.        Bürgermeister  und  Rath  sammt  Aelter- 

leuten,  Aeltesten  und  ganzen  Gemeine 
der  Stadt  Reval.» 

Auch  die  Commissare  sind  mit  ihrer  Replik  schnell  bei  der 
Hand ;  vom  5.  März  datirt,  wird  sie  schon  folgenden  Tages  den 
Vertretern  der  Stadt  insinuirt  und  alsbald  darauf  im  Rathe  vorge- 
tragen und  ihre  scbliessliche  Beantwortung  beschlossen.  Aus  dieser 
Replik  dürfte  Folgendes  hervorzuheben  sein.  Nicht  ohne  einen 
leisen  Anflug  von  Ironie  bekennen  sich  die  Verfasser  derselben  zu 
den  gegentheiligen  Versicherungen  stets  bewiesener  Treue  und  steter 
Bereitschaft,  die  Stadt  selbst  zu  verteidigen.  Zum  Oonflictsfall 
hinüberleitend  —  «wegen  dessen  I.  k.  M.  bewogen  gewesen,  diese 
Commission  anzuordnen,  weil  man  vorgiebt,  dass  die  Stadt  Reval 
für  dero  prästirte  Treue  von  den  vorigen  Königen  und  der  Krone 
Schweden  niemals  mit  einer  Garnison  belegt,  sondern  von  deren 
eigenen  Bürgern  und  Leuten  defendiret  worden,  so  befinden  wir 

—  meinen  die  Commissare  —  die  Sache  von  solcher  Beschaffenheit, 
dass  sie  müsse  mit  klaren  Documenten  bewiesen  und  dargethan 
werden».  Es  sei  dabei  die  Aufmerksamkeit  darauf  zu  richten,  dass 
vor  Zeiten  Garnisonen  nach  Reval  verlegt  worden,  nicht  etwa 
weil  man  an  der  Treue  dieser  Stadt  gezweifelt,  sondern  weil  man 
sie  vor  feindlichen  Angriffen  und  Ueberfällen  habe  schützen  wollen. 
Was  anders  habe  die  Unterwerfung  Revals  unter  Schweden  auch 
bezweckt  ?  Hätte  man  sich  vor  98  Jahren  selbst  verteidigen  können, 
so  hätte  man  schwerlich  eine  schwedische  Besatzung  in  die  Stadt 
genommen.  Und  nun  in  dem  letzten  polnisch-dänisch-russischen 
Kriege  —  wie  sei  da  die  Stadt  den  König  mit  ihren  Anliegen  an- 
gegangen, sie  gegen  den  Feind  zu  schützen  ;  nur  schwer  sei  es 
ihm  geworden,  von  seinen  Truppen  in  Schweden  und  Preussen 
einige  zu  missen  und  hierher  zu  schicken ;  zum  Essen  und  Trinken 

—  fügt  die  Replik  nicht  ohne  Sarkasraus  hinzu  —  seien  sie  nicht 
nach  Reval  beordert  worden,  sondern  weil  die  Stadt  nicht  im  Stande 
gewesen,  sich  selbst  zu  verteidigen.  «Es  hat  sich  aber  in  der  That 
erwiesen  -  fahren  die  Commissare  fort  —  wie  I.  M.  heilsame 
Intention  ist  eludiret  worden,  auch  was  für  unachtsame  Oppositionen 
dawider  geschehen  seien,  indem  man  das  Volk  zur  Wehr  weder 


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Revals  Garnisonsfreiheit. 


439 


bei  den  Pforten,  noch  auf  den  Wällen  zugelassen,  ungeachtet  der 
grossen  Desordre  und  groben  Excessen,  so  zur  selben  Zeit  bei  der 
Bürgerwacht  vorgekommen.    Nachher,  als  die  Seuche  in  der  Stadt 
nachgelassen  habe  und  die  ßothschen  Völker  von  Narva  angekommen 
seien,  da  habe  man,  obschon  zweeu  Feinde,  als  der  Moskowiter  und 
der  Pol,  allhier  im  Lande  streufeten,  so  dass  man  keine  Nacht  fast 
vor  Entreprisen  hat  können  sicher  sein,  und  da  alle  noch  so  wohl 
fundirten,  zu  dieser  Sachen  Billigkeit  und  Fug  gerichteten  Re- 
monstrationes  nicht  hätten  gelten  können,  sich  mit  Zuschliessung 
der  Lehmpforten  vor  I.  k.  M.  Soldaten  ausgelassen  und  nachher 
während    der  ganzen    verflossenen  Zeit   bis  nächstverwichenen 
Decembris-Monat  sich  zu  keiner  Kronen- Wacht  bestimmen  wollen. 
Die  Berufung  auf  Gustav  Adolfs  Privileg  treffe  nicht  zu  ;  denn  als 
dasselbe  gewährt  und  gleichzeitig  die  Licentsteuer  zu  Gunsten  der 
Krone  eingeführt  worden,  hätte  dieselbe  4  pCt.  betragen,  sei  aber 
später  zum  Besten  der  Stadt  auf  l'/i  P^t.  herabgemindert  worden: 
cessante  causa,  cessat  effedus ;  das  Privileg  sei  hinfällig  geworden, 
seitdem  das  dafür  bezogene  Aequivalent  so  sehr  verringert  worden. 
Zum  Schluss  erklären  die  Commissare,  dass  sie  sich  bei  der  Ant- 
wort des  Raths  und  der  Bürgerschaft  nicht  beruhigen  könnten ; 
sie  müssten  darauf  bestehen,  dass  entweder  die  für  die  Garnisons- 
freiheit angeführten  Privilegien  urkundlich  nachgewiesen,  oder  ohne 
alle  weiteren  Umschweife  diejenigen  Personen  genannt  würden, 
welche  es  veranlasst  hätten,  dass  den  heilsamen  Absichten  der 
höchsten  Obrigkeit  in  so  schimpflicher  Weise  widerstanden  worden 
wäre.    Iusonderheit  habe  man  auch  eine  genügende  Erklärung  dar- 
über abzugeben,  welche  Bewandtnis  es  damit  habe,  dass,  nachdem 
der  Befehlshaber  der  städtischen  Miliz  Major  Nieroth  die  Schlies- 
sung des  Thores  angeordnet,  derselbe  am  nächsten  Tage,  zur  Re 
compense  für  sein  Wohl  verhalten,  zum  Obristlieutenant  promovirt 
worden. 

Die  am  11.  März  überreichte  Duplik  des  Raths  und  der  Gilden 
wiederholt  im  wesentlichen  die  früheren  Ausführungen  und  Ver- 
sicherungen :  der  ganz  unvermuthet  beabsichtigte  Einmarsch  der 
Soldaten  habe  im  Widerspruch  nicht  nur  zu  der  de  la  Gardieschen 
Assecurationsschrift  resp.  der  verbrieften  Freiheit  der  Stadt  von 
Garnisonspflichten,  sondern  auch  zu  dem  zwischen  dem  Gouverneur 
und  dem  Major  Nieroth  vereinbarten  Aufschübe  des  Einmarsches 
gestanden.  Die  königliche  Ordre,  auf  welche  sich  die  Commission 
berufen,  sei  dem  Rathe  nie  zu  Gesichte  gekommen.    Von  einer 

Baltiach«  MonutMchrift,  Hand  XXXIV,  Heft  5.  09 


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Revals  Garnisonsfreiheit. 


besonderen  Gefahr,  in  der  sich  die  Stadt  befunden,  hätte  keine  Rede 
sein  können,  da  sich  keine  Feinde  in  der  Nähe  befunden,  und  wenn 
Gefahr  vorhanden  gewesen  wäre,  so  hätten  die  60  oder  70  Mann, 
deren  Aufnahme  man  begehrt,  auch  wenig  dazu  beitragen  können, 
sie  zu  mindern.  An  Urkunden,  welche  die  Garnisonsfreiheit  er- 
härten sollen,  sind  der  Duplik  neun  Abschriften  aus  dem  corpus 
privilegiorum  beigefügt  und  zwar  Abschriften  des  Subjectionsacts 
von  1501  nebst  zwei  weiteren  Zusicherungen  König  Erichs  XIV. 
und  sechs  Abschriften  von  königlichen  ßriefeu  seiner  Nachfolger. 
Auf  die  etwas  höhnisch  klingende  Frage,  ob  Reval  etwa,  als  es 
den  Schutz  der  Krone  Schweden  im  Unterwerfungsjahre  angerufen, 
sich  Manns  genug  gefühlt  habe,  mit  seiner  eigenen  Besatzung  dem 
Feinde  die  Stil n  zu  bieten,  antwortet  die  Duplik:  gewiss  nicht, 
die  Unterwerfung  resp.  die  Aufnahme  schwedischer  Truppen  sei 
aber  trotzdem  keine  bedingungslose  gewesen  ;  eine  damals  getroffene 
und  während  der  98  Jahre  nach  der  Unterwerfung  stets  respectirte 
Olausel  habe  der  Stadt  die  unbedingte  Verfügung  über  die  Schlüssel 
der  Pforten  belassen,  von  der  nur  die  Dompforte  zum  Auf-  und 
Abmärsche  der  königl.  Besatzung  auf  dem  Dom  eine  Ausnahme 
gemacht  habe.  —  Der  Hinweis  der  Commissare  auf  den  herabge- 
setzten Zoll  und  die  dadurch  verringerte  Einnahme  der  Krone  wird 
zwar  nicht  bestritten,  zugleich  aber  darauf  aufmerksam  gemacht, 
dass  diese  Massregel  nicht  von  der  Stadt,  sondern  vom  Staate  aus- 
gegangen sei  und  nur  im  Interesse  des  letzteren  bezweckt  habe, 
den  Handel  von  Archangel  zu  Gunsten  baltischer  Häfen  und  damit 
zugleich  zu  Gunsten  der  Reichseinkünfte  abzuziehen.  Dass  letztere 
dabei  eine  Einbusse  erlitten,  stehe  noch  sehr  in  Frage ;  sollte  es 
aber  der  Fall  sein,  so  treffe  eine  ähnliche  Einbusse  auch  die  Stadt.  — 
Was  schliesslich  die  Beförderung  des  Majors  Nieroth  zum  Obrist- 
lieutenant  betreffe,  so  sei  diese  keineswegs  am  Tage  nach  dem 
ärgerlichen  Vorfalle,  sondern  erst  einige  Tage  später  erfolgt,  und 
habe  keine  Demonstration,  sondern  eine  wohlverdiente  Belohnung 
dafür  bezweckt,  dass  cder  Mann  in  der  Pestzeit  für  diese  gute 
Stadt  nebst  der  wenigen  anwesenden  Bürgerschaft  so  treulich  vigi- 
lirt  und  gesorgt,  dass  er  aus  Liebe  gegen  diese  Stadt  und  Considera- 
tion  seiner  Pflicht  lieber  alle  seine  Kinder  verleihen  als  von  uns 
weichen  oder  diese  Stadt  verlassen  wollen  >. 

Damit  ist  der  Schriftenwechsel  noch  nicht  geschlossen :  die 
Commissare  haben  nicht  umhin  -  gekonut,  in  einer  Sehl  ussschrift 
auf  früher  schon  erörterte  Dinge  nochmals  zurückzukommen  und 


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Revals  Garnisonsfreiheit.  441 

besonder  ihre  Kritik  an  den  vorgestellten  Urkunden  zu  üben. 
Sie  erklären  diese  nur  auszüglich  mitgetheilten  in  so  lange  für 
ganz  ungenügende  Beweisstücke,  als  die  Stadt  nicht  ein  verum  et 
totum  Corpus  privilegiorum  hujus  Civitatis,  bestehend  iu  rein  ge- 
schriebenen und  verificirten  Copien,  insinuirt  habe.  Der  Berufung 
des  Raths  auf  den  Umstand,  dass  im  letzten  .fahre  der  Stadt  keine 
Gefahr  gedroht  habe,  wird  mit  dem  Hinweise  darauf  begegnet,  dass 
man  sich  in  Kriegszeiten  nie  auf  die  augenblickliche  Stellung  des 
Feindes  und  auf  des  Glückes  Faveur  verlassen  könne,  c  Sonderlich 
sei  man  bei  dem  volanten  und  listigen  Feinde,  dem  Polen,  welcher 
nun  sowol  in  der  Nähe  hiesiger,  als  gegen  andere  I.  k.  M.  Provinzien 
und  Städte  seine  blutdürstigen  Waffen  mit  List  und  Geschwindig- 
keit führet  und  ausbreitet  gezwungen,  jeder  Zeit  auf  seiner  Hut 
zu  sein.  Auch  sei  vom  Rathe  aus  dem  so  hoch  gehaltenen  Rechte, 
über  die  Schlüssel  der  Thore  verfügen  zu  können,  unrechtfertiger 
Weise  das  Recht  der  Garnisonsfreiheit  hergeleitet  worden.  Nicht 
Reval  allein  stehe  dieses  Recht  zu,  sondern  auch  Riga,  Pernau  u.  a., 
und  doch  könnten  diese  Städte  nicht  die  in  Rede  stehende  Freiheit 
für  sich  in  Anspruch  nehmen.  Der  beste  Beweis,  dass  Reval  auch 
vor  der  schwedischen  Herrschaft  verpflichtet  gewesen,  fremde  Be- 
satzungen aufzunehmen,  liege  darin,  dass  noch  kurz  vor  dem  Ende 
der  herrmeisterlichen  Zeit  polnisches  Kriegsvolk ,  zu  der  Zeit 
jn-aesidia  polonica  genannt,  hier  einquartiert  gewesen.  Wenn  aber 
städtischerseits  immer  wieder  behauptet  werde,  es  sei  die  Stadt 
niemals  verpflichtet  gewesen,  ausserhalb  ihrer  Ringmauern  Kriegs- 
dienste zu  leisten,  so  werde  das  Gegentheil  davon  durch  folgende 
Facta  erwiesen.  Anno  1573,  wie  Hr.  Claes  Akeson  Tott  die  russische 
Kriegsmacht  bei  Lohde  in  der  Wiek  geschlagen,  ist  der  Haupt- 
mann oder  Anführer  der  revalschen  Knechte  Michael  Schlöyer 
selbiges  Mal  geblieben.  Ingleichen  Anno  1578  im  Monat  Octobris, 
als  Hr.  Jürgen  Boie  und  Andreas  Sapieha  den  Muscowiter  bei 
Wenden  im  Stifte  Riga  schlugen,  hat  die  Stadt  Reval  dabei  eine 
Compagnie  deutsche  Knechte  gehabt.  Gleichermassen  Anno  1581 
ist  ein  Fähnlein  revalscher  Knechte  bei  der  Belagerung  von  Witten- 
stein gewesen :  zu  welcher  Zeit  eiu  Fähnlein  zu  Fuss  in  die 
6—800  Mann  stark  gewesen.  cSchliesslichen»  —  erklären  die 
Commissare  —  «weil  wir  sehen,  beides,  E.  E.  Rath  und  die  löbliche 
Gemeinde  nebst  deren  Vorstehern,  gleich  als  ein  Corpus  aus  einem 
Munde  dero  Actione«  entweder  verfechten  oder  entgelten  wollen, 
so  werden  wir  unserer  Schuldigkeit  nach  auch  I.  k.  M.  gnädigem 

29* 


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442 


Revals  Garnisonsfreiheit. 


Befehle  zufolge  dieses,  auch  was  weiteres  bei  dieser  Commissiou 
ist  vorgelaufen,  unterthänigst  referiren.> 

Damit  hat  das  Untersuchungsverfahren  in  Reval,  wie  es 
scheint,  ein  Ende  genommen,  und  ist  die  ganze  Sache  an  das  Hof- 
gericht in  Stockholm  devolvirt  worden.  Auch  der  Bürgermeister 
Rosenbach  musste  als  Gefangener  den  Acten  dahin  folgen.  Wann 
das  geschehen  und  welchen  weiteren  Verlauf  die  Sache  dort  ge- 
nommen, ist  den  bez.  Archivstücken  oder  sonstigen  Aufzeichnungen 
nicht  zu  entnehmen.  Nur  das  Endergebnis  ist  bekannt :  Rosenbach 
ist  nicht  nur  seiner  Haft  entlassen  und  nach  Reval  zurückgekehrt, 
sondern  auch  in  sein  Bürgermeisteramt  wieder  eingesetzt  worden. 
Ob  dieser  Restitution  ein  förmliches  freisprechendes  Erkenntnis  zu 
Grunde  gelegen  hat,  bleibt  fraglich,  da  die  dafür  vorhandenen 
Quellen  nichts  darüber  enthalten.  Kelch  und  nach  ihm  Gadebusch 
—  aus  beiden  schöpfend  aber  Richter  —  geben  weder  Jahr  noch 
Monat  an,  sondern  sprechen  nur  von  einer  alsbaldigen  Befreiung. 
Auch  Bunge  in  seiner  Revaler  Rathslinie  weiss  darüber  nichts  Ge- 
naueres anzugeben.  Dagegen  besitzen  wir  im  Revaler  Privilegien- 
buche  eine  königliche  Resolution  vom  17.  März  1660,  laut  deren 
8.  Punkte  die  Sache  wider  Rosenbach  und  Consorten  niederge- 
schlagen worden  ist.  Der  darauf  bez.  Schluss  dieses  §  lautet  : 
tWas  die  beiden  arrestirten  Personen  BM.  R.  und  Synd.  Tunder- 
feldt  anlanget,  so  haben  I.  k.  M.  aus  selbigem  gnädigsten  Bedenken 
ermeldter  Stadt  unterthäniger  Intercession  hiemit  gnädigst  deferiren 
wollen,  dass  dieselbe  ihres  Arrestes  relaxiret,  wieder  auf  freie  Füsse 
gestellet  werden  mögen,  auch  zu  ihren  vorigen  Diensten  und  Aemtern 
treten.  Die  Caution  für  den  Stadts-Obrist  L.  C.  Nieroth  ist  auch 
nunmehr  aufgehoben.  >  Nicht  unwahrscheinlich  ist  es,  dass  der  im 
Jahre  1660  erfolgte  Tod  Karls  X.  den  ganzen  Conflict  zu  Grabe 
trug.  Wie  sehr  letzterer  als  Frucht  persönlichen  Unmuthes  des 
durch  unausgesetzte  Kriege  in  stetem  Athem  erhaltenen,  von  Natur 
schon  zum  Zorn  geneigten  Regenten  und  weniger  als  das  Ergebnis 
rulliger  Ueberlegung  und  objectiver  Beurtheilung  der  ganzen  Sach- 
lage anzusehen,  ergiebt  sich  wol  auch  daraus,  dass  seine  Gemahlin 
Hedwig  Eleonore  schon  so  bald  nach  seinem  Tode  in  derselben 
Privilegien bestätigung  die  Garnisonsfreiheit  der  Stadt,  wie  letztere 
es  beansprucht  hat,  auf  den  Fall  kriegerischer  Gefahr  beschränkt 
hat.  Bis  zum  nordischen  Kriege  erfreute  sich  die  Stadt  des  Ge- 
nusses-dieses  Rechts  ;  während  desselben  konnte  von  ihm  nicht  die 
Rede  sein,  bis  die  Gapitulation  vom  Jahre  1710  in  ihrem  14.  §  der 


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Revals  Garnisonsfreiheit. 


443 


Stadt  Garnisonsfreiheit  in  der  Weise  zugesteht,  dass  in  Friedens- 
zeiten das  Militär  in  Baraken  untergebracht  werden  solle,  welche 
die  Krone  auf  ihre  Rechnung  ausserhalb  der  Stadtmauern  aufführen 
werde.  Dass  es  auch  dabei  auf  die  Dauer  nicht  sein  Bewenden 
haben  konnte,  vielmehr  das,  was  in  der  Capitulation  zugesichert 
worden,  wenn  auch  unter  dem  mildernden  Umstände,  dass  der  Stadt 
zeitweilig  eine  Art  Ablösungs-  und  Entschädigungssumme  für  die 
eingebüsste  Freiheit  gezahlt  wurde,  sich  in  sein  Gegentheil  ver- 
kehrte, kann  uns  um  so  weniger  Wunder  nehmen,  als  —  worauf 
schon  oben  hingewiesen  worden  —  die  inzwischen  noch  weiter  fort- 
geschrittene Kriegskunst  die  Selbstverteidigung  der  Stadt  schlechter- 
dings zur  Unmöglichkeit  gemacht  hat,  mit  ihr  aber  im  Princip 
auch  die  Garnisonsfreiheit  fallen  musste. 

Welche  Bewandtnis  es  mit  dem  sowol  in  dem  Schreiben 
Karls  X.  vom  29.  October  1658,  als  in  der  Resolution  seiner  Nach- 
folgerin vom  17.  März  1660  erwähnten  Syndikus  Tuuderfeldt  — 
beiläufig  bemerkt,  einem  Schwager  des  Bürgermeisters  v.  Rosen- 
bach —  und  ob  und  welchen  Zusammenhang  seine  Inhaftnahme 
mit  dem  Garnisonsconflicte  gehabt,  hat  sich  aus  den  bisher  zu- 
gänglich gewesenen  Quellen  nicht  ergeben. 

W.  G. 


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Communale  Statistik. 


er  revaler  < Gotteskasten»,  das  Vermögen,  aus  welchem 
die  eTangelisck-lutherischen  Kirchen  Revals  seit  deren 
Bestehen  den  überwiegenden  Theil  ihrer  Unterhaltsmittel  bezogen 
haben,  ist  bekanntlich  durch  Senatsentscheidung  der  Stadtverwaltung 
unterworfen  worden.  Die  c Estländische  Gouvernements-Zeitung» 
giebt  ihrer  Freude  über  die  Veränderung  Ausdiuck,  weil  sie  hofft, 
dass  nunmehr  der  Stadt  die  angeblich  bisher  mangelnden  Mittel 
für  die  Zwecke  der  öffentlichen  Gesundheitspflege  nicht  mehr  fehlen 
werden,  und  legt  dabei  ihr  Bekenntnis  ab,  welches  dahin  lautet, 
dass  die  öffentliche  Gesundheitspflege  in  Reval  arg  darniederliege, 
dass  man  beispielsweise  die  Cholera  sehr  zu  fürchten  hätte,  falls 
nicht  Wandel  geschafft  werde. 

Sehr  mit  Recht  wendet  sich  die  <Revalsche  Zeitung»1  gegen 
diesen  Schreckensruf  und  forscht  nach  dessen  Begründung.  Sie 
findet  keinen  zwingenden  Beweis  für  die  Behauptung,  dass  die 
öffentliche  Gesundheit  Revals  sich  in  so  schlimmer  Lage  befinde, 
als  es  die  Ausführungen  der  *  Gouvernements-Zeitung»  glauben 
macheu  sollen.  Aber  die  cRevalsche  Zeitung»  vermag  der  Be- 
hauptung auch  ihrerseits  nur  eine  gute  Meinung  entgegenzusetzen. 
Man  kanu  nicht  sagen,  dass  es  der  Mühe  nicht  verlohnt  hätte, 
mehr  als  Worte  der  Beruhigung  herbeizutragen.  Wenn  auch  that- 
sächlich  für  Reval  nichts  ferner  liegen  mag,  als  eine  Cholerapanik, 
so  handelt  es  sich  doch  im  vorliegenden  Falle  nicht  um  die  Abwehr 
einer  solchen  allein. 

*  Nr.  88  vom  18.  ^30.)  April  1887. 


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Communale  Statistik. 


44ö 


Die  «Revalsche  Zeitung»  hat  es  an  gutem  Willen  nicht 
fehlen  lassen,  der  Wahrheit  zu  ihrem  Rechte  zu  verhelfen .  und 
man  kann  sagen,  dass  es  ihr  auch  gelungen  ist,  diejenigen,  die  ihr 
Glauben  schenken  wollen,  zu  überzeugen.  Aber  welche  Mittel 
stehen  ihr  zu  Gebote,  ihre  Behauptungen  zu  beweisen  V  Leider 
muss  man  eingestehen,  dass  ihr  so  gut  wie  keine  Mittel  zu  Gebote 
stehen,  um  das  zu  beweisen,  was  zwar  jedem  guten  Bürger  Revals 
als  keines  Beweises  zu  bedürfen  scheint,  was  aber  thatsächlich 
—  und  wer  will  sagen  s  ohne  Erfolg  —  doch  angezweifelt  wird. 
Um  ihre  Behauptung,  dass  die  öffentliche  Gesundheitspflege  Revals 
zu  aussergewöhnlichen Besorgnissen  keinen  Anlass  biete, zu  begründen, 
schickt  die  cRevalsche  Zeitung»  den  Zweifler  zu  denjenigen  Aerzten, 
welche  lange  genug  am  Orte  thätig  gewesen,  um  sich  darüber  ein 
berechtigtes  Urtheil  bilden  zu  können ;  sie  führt  einige  Zahlen  an 
über  frühere  Choleraepidemien  in  Reval,  welche,  wenn  für  jene 
Zeiten,  auf  die  sie  sich  beziehen,  auch  von  beschränktem  Werthe, 
für  das  Reval  von  heute,  das  seit  Eröffnung  der  Eisenbahn  eine 
neue  Physiognomie  erhalten  hat,  jedenfalls  ohne  alle  Bedeutung 
sind;  sie  spricht  endlich  von  der  cMorbilität»  und  «Mortalität» 
Revals,  aber  ohne  das  bedeutungsvolle  Wörtchen  c Ziffer»  demselben 
anfügen  zu  dürfen.  Und  das  ist  der  Punkt,  auf  den  es  mir  dies- 
mal ankommt. 

Es  sei  ferne  von  mir,  mit  meinen  Ausführungen  einen  Angriff 
gegen  die  Schlagfertigkeit  der  cRevalscheu  Zeitung»  einleiten  zu 
wollen.  Sie  hat  aus  dem  Rüsthause  die  vorhandenen  Waffen  sich 
redlich  geholt.  Dass  aber  das  Rüstzeug  nicht  ausreichend  versehen 
war,  das  ist  es,  was  mir  aus  diesem  Streite  hervorzugehen  scheint. 

Es  liegt  hier  ein  Mangel  zu  Tage,  der  nicht  Reval  allein 
eigentümlich  ist.  Ausser  Riga  entbehren  alle  unsere  baltischen 
Städte,  so  viel  mir  bekannt,  desjenigen  Organs,  dessen  alleinige 
Aufgabe  die  Pflege  exacter  Massenbeobachtung  ist,  des  statistischen 
Amtes.  Was  jener  Beweisführung  der  «Revalschen  Zeitung»  die 
Spitze  abbricht,  das  ist  der  Umstand,  dass  sie  die  «Mortalitäts- 
ziffern», die  «Morbilitätsziffern»  nicht  ins  Feld  zu  führen  vermag. 
In  solchem  Streite  ist  aber  eine  Ziffer  mehr  Werth  als  spalten- 
lange Ausführungen,  ja,  eine  Ziffer  kann  alles  entscheiden. 

Die  Mortalitätszifler  einer  Stadt  zu  finden,  ist  nicht  Sache 
einer  Zeitungsredaction ;  ohne  weiteres  kann  —  wenigstens  für 
unsere  baltischen  Verhältnisse  —  gesagt  werden,  sie  zu  fixiren  ist 
die  Pflicht  einer  jeden  Stadtverwaltung.    Die  Mortalitätszifler  ist 


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446 


Communale  Statistik. 


die  Verhältniszahl  der  innerhalb  eines  gewissen  Zeitraumes  an 
einem  gewissen  Orte  Gestorbenen  zu  den  Lebenden,  in  ähnlicher 
"Weise  ist  die  Morbihtätsziffer,  die  Krankheitsziffer,  zu  verstehen. 
Diese  Ziffern  und  nur  sie  allein  geben  beweisende  Antwort  auf  die 
Frage,  ob  es  in  einer  Stadt  mit  der  öffentlichen  Gesundheit  gut 
oder  schlimm  bestellt  sei. 

Wer  will  leuguen,  dass  die  Antwort  auf  eine  derartige  Frage 
nicht  nur  aus  Gründen  des  Streites  gegen  übelwollende  Gegner 
Werth  habe  ?  Wie  der  Arzt  nicht  früher  das  Messer  führt,  als 
bis  ihm  seine  eigenen  Sinne  mit  Hilfe  entsprechender  Instrumente 
klare  Einsicht  in  den  Zustand  des  Kranken  eröffnet  haben,  ebenso 
kann  auch  nur  diejenige  Stadtverwaltung  ihre  Aufgaben  richtig 
erfassen,  welche  klare  Einsicht  in  den  Zustand  ihrer  Verwaltungs- 
gegenstände zu  gewinnen  vermag.  Diese  Einsicht  ermittelt  aber 
für  gewisse  Zustände  nur  die  Statistik.  So  wenig  die  grösste  Ver- 
trautheit mit  den  örtlichen  Verhältnissen  selbst  den  scharfsinnigsten 
Mann  befähigt,  die  Mortalitätsziffer  eines  Ortes  zu  nennen,  eben 
so  wenig  vermag  man  ohne  die  Hilfe  der  Statistik  auch  für  viele 
andere  wichtige  Verhältnisse  einer  Stadt  den  allein  ausreichenden 
exacten  Ausdruck  zu  finden. 

Auch  ist  die  Pflege  der  communalen  Statistik  nicht  so 
schwierig,  wie  man  es  sich  in  unseren  Städten  wol  vorstellen  mag. 
Allerdings  wäre  ein  statistisches  Amt  ohne  eine  wissenschaftlich 
geschulte  Leitung  ein  Unding.  Aber  dennoch  braucht  ein  solches 
Amt  sich  eines  Specialist  en  nicht  ungetheilt  zu  bemächtigen.  Zunächst 
kommen  in  dieser  Hiusicht  wol  nur  unsere  Mittelstädte  in  Betracht. 
In  den  drei  mittelgrossen  Seestädten  Reval,  Libau,  Pernau  findet 
die  Handelsstatistik  bereits  die  Pflege,  die  ihr  gebührt,  resp.  sollte 
sie  doch  finden,  und  weder  in  der  Gouvernementsstadt  Mitau,  noch 
in  der  Universitätsstadt  Dorpat  dürfte  es  unmöglich  sein,  sich  fach- 
männischen Rath  dauernd  zu  sichern.  In  beiden  Städten  sind 
Statistiker  von  Fach  bereits  amtlich  thätig.  Was  speciell  Dorpat 
anlangt,  so  könnte  es  der  Pflege  der  Statistik  an  der  Universität, 
welche  —  bekanntlich  eine  Seltenheit  —  einen  eigenen  Lehrstuhl 
für  Statistik  hat,  nur  förderlich  sein,  wenn  diese  durch  Beziehungen 
zu  einem  örtlichen  statistischen  Amte  die  so  nothwendige  Fühlung 
mit  der  Praxis  der  amtlichen  Statistik  gewänne.  Die  Interessen 
stimmen  zu  sehr  überein,  um  die  Annahme  aufkommen  zu  lassen, 
dass  der  Berührungspunkt  nicht  gefunden  werden  sollte. 

Seitdem  die  baltische  Volkszählung  erfolgreich  durchgeführt 


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Comm  anale  Statistik. 


447 


und  die  Stadtgrenze  nothdtirftig  geregelt  worden  ist,  fehlt  der 
communalen  Statistik  unserer  baltischen  Städte  nicht  mehr  der 
feste  Ausgangspunkt.  Dass  es  ihr  an  Aufgaben  und,  wenn  be- 
friedigend gelöst,  auch  nicht  an  Anerkennung  fehlen  werde,  dafür 
werden  die  allgemeinen  Verhältnisse  schon  sorgen.  Hier  soll  auf 
die  Aufgaben  jetzt  nicht  näher  eingegangen  werden.  Handelt  es 
sich  doch  zunächst  nur  darum,  das  Verständnis  für  die  Sache  der 
communalen  Statistik  zu  wecken,  wozu  mir  der  Streit  zwischen 
jenen  beiden  revaler  Zeitungen  gerade  darum  geeignet  erscheint, 
weil  es  sich  um  anscheinend  evidente  Thatsachen  handelt,  die  dennoch, 
nicht  durch  das  Spectrum  des  Localpatriotismus  betrachtet,  anderen 
Augen  in  anderem  Lichte  erscheinen  konnten. 

Der  exponirte  Posten,  auf  welchen  unsere  Stadtverwaltungen 
gestellt  sind,  erheischt  und  rechtfertigt  das  Bedürfnis  nach  klarer 
Einsicht  in  die  eigenen  Angelegenheiten. 


Gustav  Stryk 


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Richard  Baron  Wolff  f. 


ie  Gruppe  der  Männer,  welche  zu  Ende  der  schweren  vier- 
ziger Jahre  als  Hoffnung  des  Landes  und  als  Bürgen 
einer  besseren  Zeit  angesehen  zu  werden  pflegten,  wird  nächstens 
ausgestorben  sein.  Minder  fest  gefügt  als  ihre  Väter,  sind  die 
jüngeren  Zeugen  der  Fölkersahmschen  Reformperiode  zumeist 
in  einem  Lebensalter  dahingegangen ,  das  von  der  äussersten 
Grenze  menschlicher  Existenz  durch  ein  reichliches  Decennium  ge- 
schieden war. 

Ihnen  hat  der  vor  einigen  Wochen  im  dreiundsechzigsten  Lebens- 
jahre verstorbene  livländische  Landrath  und  Consistorialpräsident 
Richard  Baron  Wolff  angehört.  Ein  Zeitgenosse  Schirrens  und 
Hoheisels,  P.  v.  Brunnows,  des  Akademikers  L.  v.  Schrenk,  des 
Landraths  Nikolai  v.  Oettingen  und  anderer  in  der  Landesgeschichte 
bekannt  gewordener  Männer,  stand  der  Heimgegangeue  bereits  als 
Student  im  Rufe,  jedes  Verhältnis  von  seiner  moralischen  Seite  an- 
zusehen, übernommene  Verpflichtungen  ernsthaft  zu  nehmen  und 
eben  so  gewissenhaft  wie  strebsam  und  vorurtheilsfrei  zu  sein.  Den 
Ruf  eines  thomme  sirieux>  (der  französische  Ausdruck  sagt  mehr 
als  der  deutsche)  hat  er  unter  den  verschiedensten  Umständen  und 
Bedingungen  bewährt  und  Zeit  seines  Lebens  zu  den  Glücklichen 
gehört,  denen  niemand  Ungünstiges  und  nahezu  jeder  Gutes 
nachsagt. 

In  weiteren  Kreisen  wurde  Baron  Richard  Wolff  zum  ersten 
Male  genannt,  als  er  —  kaum  fünfundzwanzigjährig  —  interimi- 


Richard  Baron  Wolff  f. 


449 


stisch  die  Vertretung  des  schwer  erkrankten  und  bald  darauf 
(1850)  zu  Rom  verstorbenen  Ritterschaftsnotare  Rudolf  v.  Engel- 
hardt übernahm.  Die  Aufgabe  erschien  weder  leicht  noch  dankbar. 
Da  es  die  Einführung  der  Agrar-  und  Bauerverordnung  von  1849 
galt,  standen  wichtige  Dinge  auf  dem  Spiel,  —  Engelhardt  aber 
war  einer  der  Urheber  des  neuen  Gesetzes  gewesen,  hatte  lür 
einen  der  besten  Köpfe  des  Landes  und  für  Fölkersahms  rechte 
Hand  gegolten  und  ein  Ansehen  erworben,  das  seinem  Nachfolger 
schweren  Stand  bereiten  musste.  —  Der  interimistische  junge 
Notar  wusste  seine  Sache  indessen  so  vortrefflich  zu  machen,  die 
auf  seinen  Fleiss  und  seine  Energie  gesetzten  Erwartungen  so 
entschieden  zu  rechtfertigen,  dass  die  besten  Männer  des  Landes 
ihn  zu  Engelhardts  Nachfolger  zu  machen  wünschten  und  dass 
das  Bedauern  allgemein  war,  als  diese  Absicht  scheiterte.  Dieser 
Miserfolg  diente  dem  bei  der  Wahl  unterlegenen  Candidaten  in- 
dessen zum  Ehrenzeugnis ,  weil  man  wusste,  dass  Fölkersahms 
Gegner  dem  damaligen  Landmarschall  keinen  Notar  hatten  bei- 
geben wollen,  der  seinen  Eifer  für  die  Sache  der  Agrarreform  so 
entschieden  bekannte  und  bethätigte,  wie  Richard  Baron  Wolff 
gethan  hatte. 

Für  die  erlittene  Enttäuschung  bot  dieses  Ehrenzeugnis 
freilich  keinen  Ersatz.  Dem  strebsamen  jungen  Patrioten  hätte 
die  Thätigkeit  in  der  Ritterschaftskanzlei  nicht  nur  eine  in  ihrer 
Weise  unschätzbare  Schule,  sondern  zugleich  die  Möglichkeit 
geboten,  früher  zu  höheren  und  wichtigeren  Landesämtern  auf- 
zurücken. 

Wenn  dem  Verstorbenen  solche  Aemter  dennoch  beschieden 
gewesen,  wenn  er  in  die  Lage  gekommen,  seinem  Vaterlande  als 
Mitglied  des  Landrathscollegiums ,  als  permanent  residirender 
Landrath  und  als  Consistorialpräsident  grosse  und  bleibende  Dienste 
zu  erweisen,  so  hat  er  das  lediglich  denselben  Eigenschaften  zu 
danken  gehabt,  die  bereits  dem  Jüngling  nachgerühmt  worden 
waren:  hohem  sittlichen  Ernst,  strenger  Gewissenhaftigkeit  und 
unermüdlicher  Treue  im  Kleinen.  Weil  er  sich  nirgend  an  der 
hergebrachten  und  äusserlichen  Seite  amtlicher  Verpflichtungen  ge- 
nügen Hess,  sondern  jede  Stellung  darauf  ansah,  was  aus  der- 
selben gemacht  werden  könne,  ist  der  Liebling  seiner 
Jugend-  und  Studiengefährten  als  Vertrauensmann  seiner  Lands- 
leute gestorben.    Dass  er  ausserdem  ein  edler,  wahrhaft  frei- 


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450 


Richard  Baron  Wolfff. 


sinniger  und  humaner  Mensch  war,  brauchte  in  einem  Lande 
nicht  erst  gesagt  zu  werden,  in  welchem  von  jeher  der  Satz  ge- 
golten, <dass  der  Mensch  mehr  werth  ist,  als  die  Summe  seiner 
Leistungen  >. 

Baron  Richard  Wolft'  war  das  Musterbild  eines  guten  Liv- 
länders  !   So  sollte  man  auch  sein. 


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Notizen. 


Li  vollieft,  vornehmlich  ans  «lern  13.  Jahrhundert,  im  Vaticaniaeheii  Archiv. 

Von  Hermann  H  i  1  tl  e  b  r  a  n  d.  Riga,  Denhner  1887.  S.  71. 
Lex.  8» 

ie  kleine  Thür  beim  Thurm  des  Galilei  im  Vatican,  welche 
zu  dem  grossartigsten  Archiv  der  Welt  führt,  ist  Jahr- 
hunderte hindurch  nur  wenigen  Begünstigten  geöffnet  gewesen,  bis 
endlich  der  jetzt  regierende  Papst  diesen  historischen  Quellenschatz 
allen,  selbst  ketzerischen  Historikern  zur  Erforschung  freigab. 

Alle  (Kulturländer  Europas  sendeten  alsbald  Fachmänner  in 
die  alte  Welthauptstadt,  um  aus  der  neu  erschlossenen,  fast  uner- 
schöpflichen Fundgrube  historischer  Erkenntnis  Material  für  die 
eigene  Geschichte  zu  gewinnen.  Unsere  Provinzen  blieben  nicht 
zurück.  Hat  doch  unsere  Heimat  ein  ganz  besonderes  Interesse 
an  der  neuen  liberalen  Archivordnung  Leos  XIII. 

Denn  wenn  auch  die  Gründung  des  deutschen  Staatswesens 
an  der  Düna  in  der  Hauptsache  eine  That  nationaler,  speciell 
sächsischer  Expansivkraft  war,  so  fragt  sich  doch,  ob  dieselbe  aus- 
reichend hätte  wirken  können  ohne  Unterstützung  von  Seiten  der 
universalen  Tendenzen  der  römischen  Kirche.  Jedenfalls  hat  das 
Papstthum  einen  wesentlichen  Vortheil  in  der  Ausbreitung  der 
lateinischen  Kirche  gerade  in  unseren  Grenzen  gesehen  und  darum 
die  Bestrebungen  der  livländischen  Colonisatoren  mit  besonderem 
Eifer  unterstützt.  Namentlich  in  der  Zeit  der  Begründung  und 
ersten  Entwickelung  unseres  Staatswesens  hat  die  römische  Curie 
den  grössten  Einfluss  auf  unsere  Geschichte  ausgeübt. 

Haben  nun  auch  schon  frühere  Forscher,  z.  B.  Turgenew  in 
seinen  Historica  Russiae  Monimenta  oder  Theiner  in  seinen  Vetera 
monumenta  Poloniae  et  Lithuaniae,  viele  Livonica  aus  dem  vaticani- 
schen  Archiv  veröffentlichen  können,  und  sind  auch  in  anderen 


452 


Notizen. 


Urkundensammlungen  für  Livland  wichtige  Stücke  bekannt  gemacht 
worden,  so  war  doch  damit  der  Reichthum  des  päpstlichen  Archivs 
für  die  livländische  Geschichte  noch  keineswegs  erschöpft.  Die 
Durchforschung  jener  Actenvorräthe  durch  Hermann  Hildebrand, 
den  Herausgeber  des  von  Bunge  begründeten  livländischen  Urkunden- 
buches,  hat  erwiesen,  dass  selbst  für  das  13.  Jahrh.  noch  neue  hoch- 
interessante Bullen  und  andere  Documente  ergraben  werden  konnten. 

H.  hatte  zunächst  die  Aufgabe,  die  Zeit  von  ca.  1435  bis 
ca.  1550  bei  seinen  Studien  für  die  noch  herauszugebenden  Bände 
des  Urkundenbuches  zu  erledigen.  Es  ist  ihm  aber  gelungen, 
ausserdem  die  Zeit  von  den  ersten  Anfängen  der  Colonisation  bis 
zum  Jahre  1304  vollständig  zu  bearbeiten  und  auch  für  die  über 
dieses  Jahr  hinausliegende  Zeit  manches  wichtige  Stück  zu  ver- 
zeichnen. Berücksichtigt  man,  edass,  abgesehen  von  den  grösseren 
Unterbrechungen  zu  Weihnachten,  zum  Carneval  und  zu  Ostern, 
das  Archiv  an  allen  katholischen  Kirchen  festen  und  einigen  speciell- 
vaticanischen  Feiertagen  geschlossen  bleibt,  dass  man  dort  nicht 
allein  an  den  Sonntagen,  sondern  auch  an  allen  Donnerstagen  von 
seinen  Werken  ausruht  und  die  tägliche  Arbeitszeit  nur  von  8H  bis 
12  Uhr  währt»,  so  wird  man  das  in  einem  halben  Jahre  Geleistete 
um  so  höher  anschlagen.  Um  dem  Laien  auch  nur  einen  ungefähren 
Begriff  von  der  Grösse  dieses  Bücheroceans  zu  machen,  führe  ich 
beispielsweise  au,  dass  die  eine  Abtheilung:  edas  päpstliche  Bullen- 
register» für  die  Zeit  von  1431  —  1559,  nach  Abzug  der  113  auf 
Alexander  VI.  entfallenden  Bände,  welche  trotz  aller  Liberalität 
noch  nicht  herausgegeben  werden,  im  ganzen  1383  meist  sehr 
starke  Foliobände  enthält.  An  dieser  Stelle  scheint  es  mir  nicht 
angezeigt,  genauer  auf  die  Beschreibung  der  einzelnen  Theile  des 
Riesenarchivs,  wie  sie  H.  den  Fachgenossen  auf  den  einleitenden 
Seiten  liefert,  einzugehen. 

Den  Inhalt  der  uns  vorliegenden  neuen  Publication  H.s  bildet 
an  erster  Stelle  ein  Verzeichnis  sämmtlicher  im  Registrum  von 
1198—1304  enthaltenen,  auf  Livland  bezüglichen  Bullen,  ferner 
(im  Anhang)  47  im  Verzeichnis  aufgeführte  Nummern,  die  theils 
bisher  unbekannt  waren,  theils  unvollständig  oder  endlich  an  sich 
leicht  der  Aufmerksamkeit  der  Forscher  entziehenden  Stellen  ab- 
gedruckt standen.  Daran  schliessen  sich  acht  bisher  uubekannte, 
aus  dem  14.  und  dem  Anfange  des  15.  Jahrhunderts  herstammende 
Nummern  an,  die  gelegentlich  gesammelt  wurden. 

Entsprechend  dem  Fortschreiten  des  livländischen  Urkunden- 


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Notizen.  453 


buches  soll  im  9.  und  in  den  folgenden  Bänden  desselben  die  Aus- 
beute von  1436  an  veröffentlicht  werden ;  die  aus  der  früheren 
Zeit,  welche  einen  Nachtrag  zu  den  bisher  erschienenen  Banden 
bildet,  glaubte  der  Herausgeber  schon  jetzt  den  Fachgenossen  vor- 
legen zu  müssen. 

Dieselben  werden  mit  ihrem  Dank  nicht  säumen.  Freilich 
der  beste  Dank,  die  richtige  Verwerthung  des  reichen  neuen 
Materials  für  die  Darstellung,  wird  doch  wol  noch  etwas  auf  sich 
warten  lassen.  Gerade  die  interessanteste  Urkunde  (Nr.  21)  bringt 
mit  der  wünschenswerthen  Auflösung  mancher  alten  auch  neue 
Räthsel.  Es  handelt  sich  da  um  die  Citation  des  Bischofs  Nicolaus 
von  Riga,  des  Ordens  und  der  Stadt  Riga  vor  den  Richterstuhl 
des  Papstes  Gregor  IX.  aus  dem  Jahre  1234.  Diese  Citation 
stützt  sich  auf  eine  Anklage,  die  der  Bischof  von  Semgallen, 
Balduin  von  Alna,  über  die  genannten  Stände  bei  der  römischen 
Curie  eingebracht.  Der  Mönch  Balduin  von  Alna  spielte  eine  sehr 
bedeutsame  Rolle  im  ältesten  livländischen  Staatswesen.  Er  wurde 
nämlich  vom  Papste  hierher  gesandt,  um  der  Entwickelung  der 
Gründung  des  Bischofs  Albert  zu  einem  deutschen  Territorium 
hemmend  entgegenzutreten  und,  die  universalen  Tendenzen  der 
Kirche  vertretend,  aus  Livland  eine  dem  heiligen  Petrus  direct 
untergebene  Provinz  zu  gestalten.  Schon  der  Bischof  Albert  hatte 
einen  ähnlichen  Kampf  zu  bestehen  gehabt,  jetzt,  nach  dem  Tode 
des  bedeutenden  Staatsmannes,  erneuerte  die  Curie  durch  ihren 
Abgesandten  Balduin  den  Angriff  auf  die  geschichtlich  gewordenen 
Verhältnisse  mit  der  ihr  eigenthümlichen  Schroffheit.  Die  römischen 
Ideen  aber  zogen  den  Kürzeren.  Die  Curie  hat  selbst  die  Anordnungen 
Balduins  wieder  aufgehoben  und  den  Legaten,  Bischof  Wilhelm 
von  Modena,  der  mit  liebevollem  Eingehen  ein  richtiges  Verständnis 
der  Bedingungen  livländischen  Staatslebens  während  seiner  ersten, 
noch  in  die  Regierungszeit  Alberts  fallenden  Reise  nach  Riga  er- 
worben hatte,  beauftragt,  die  von  den  livländischen  Ständen  als 
nothwendig  erkannten  Massnahmen  zur  Eroberung  und  zur  Be- 
festigung der  Organisation  des  Landes  zu  bestätigen. 

Die  der  erwähnten  Anklageschrift  Balduins  entnommenen 
neuen  Nachrichten  der  Citationsbulle  Gregors  IX.  verbreiten  nament- 
lich über  die  Eroberung  des  bis  dahin  dänischen  Estland  durch 
den  Schwertorden  werthvolle  Streiflichter.  Wir  erfahren  hier  ferner 
zum  ersten  Mal,  dass  nicht  allein  der  erste  Meister  des  livländi- 
schen Christritterordens  (vulgo  Schwertbrüder)  Vinno,  sondern  auch 


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4f>4 


Notizen. 


der  Meister  Volquin  heftige  Gegner  in  seiner  Genossenschaft  ge- 
habt hat.  Heinrich  von  Lettland  hat  offenbar  absichtlich  ver- 
schwiegen, dass  Volquin  von  seinen  Rittern  drei  Monate  gefangen 
gehalten  wurde,  weil  er  sieh  der  römischen  Sache  gegenüber  zu 
connivent  gezeigt  habe.  Noch  so  manches  Andere  erfahren  wir 
hier  zum  ersten  Mal.  Die  Schwierigkeit  der  Verwerthung  dieser 
neuen  Daten  liegt  einestheils  in  der  parteiischen  Färbung  des 
Mitgetheilten,  anderenteils  in  dem  Mangel  chronologischer  An- 
gaben in  der  Bulle.  So  weit  es  des  Herausgebers  Pflicht  war, 
hat  derselbe  diese  Schwierigkeiten  in  den  Anmerkungen  beseitigt1. 
Mir  scheint  es  indessen  für  denjenigen,  der  den  Uebergang  Nord- 
estlands aus  dänischem  in  deutschen  Besitz  in  der  zweiten  Hälfte 
der  zwanziger  Jahre  des  13.  Jahrhunderte  schildern  will,  eine  un- 
erlässliche  Pflicht,  die  Beziehungen  festzustellen,  in  denen  die  Ur- 
kunde Nr.  21  bei  H.  zu  dem  vielbesprochenen  Uber  cetisus  Daniae 
steht.  Denn  dass  die  Andeutungen  in  der  eben  erwähnten  rätsel- 
haften Aufzeichnung  über  die  gewaltsamen  Vorgänge  bei  der  Besitz- 
ergreifung Estlands  durch  den  Orden  zum  Theil  in  dieser  Nummer 
bei  H.  eine  Erklärung  finden  könnten,  dürfte  sich  bei  eingehenderem 
Studium  der  beiden  Urkunden  ergeben'. 

An  dieser  Stelle  erlaube  ich  mir  nur  noch  auf  zwei  weitere 
Urkunden  hinzuweisen,  die  auch  dem  Laien  Interesse  einflössen 
würden.  Das  eine  Document  (Nr.  48)  enthält  die  Rechnungs- 
ablegung  des  päpstlichen  Collectors  Jacobus  de  Rota  über  gewisse 
für  die  römische  Curie  in  Livland  gesammelte  Gelder  aus  dem 
Jahre  1319.  Hier  finden  sich  Angaben  über  Zahlungen,  die  von 
vacanten  geistlichen  Stellen  an  den  Papst  gemacht  werden  mussten. 
Die  Einkünfte  der  livländischen  Pfarren  müssen  darnach  schon  da- 
mals sehr  verschieden  gewesen  sein.  Von  der  Petrikirche  in  Riga 
waren  z.  ß.  10  Mark,  eine  für  jene  Zeit  ansehnliche  Summe,  von 


1  Hervorzuhelwu  wäre  u.  a.  die  Citation  des  Pfarrers  Heinrich  vou  Papen- 
dorf als  Zeugen.  Nach  einer  Vermuthung  von  Ö.  Berkholz  (Li vi.  Matth.  13, 
S.  39  ff.  i  wiire  der  in  einer  Urkunde  von  1259  vorkommende  Heinrims  plebanus 
de  Papendorpc  identisch  mit  dem  Chronisten  Heinrich  von  Lettland.  H.  weist 
darauf  hin,  dass  der  hier  erwähnte  Zeuge  wahrscheinlich  auch  der  bekannte  erste 
Schriftsteller  Livlands  sein  dürfte. 

'  Die  «remoti»,  texpulsh  und  «occisi»  des  Uber  c.  1).  eriuuern  besonders 
an  den  von  mir  vermnthungsweise  ausgesprochenen  Zusammenhang.  Uelegent 
lieh  bemerke  ich :  Paldessen  in  §  53  dürfte  vielleicht  ans  Poltsamn  (estnischer 
Name  für  Oberpahlen  entstanden  sein. 


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i 


Notizen.  455 

der  Pfarre  zu  Kubezala  6,  von  Loddiger  nur  2  Mark  zu  zahlen1. 
Wir  hatten  von  derartigen  Angaben  über  Einnahmen  oder  Zahlungen 
livländischer  geistlicher  Aemter  nur  einige  Notizen  aus  dem  15. 
Jahrhundert1.  Daher  bildet  die  Urkunde  48  einen  sehr  erwünschten 
Beitrag  zur  noch  ganz  in  den  Anfängen  liegenden  Finanzgeschichte 
Livlands. 

Endlich  lenke  ich  die  Aufmerksamkeit  auf  ein  culturhistorisch 
wichtiges  Inventar  aus  den  vierziger  Jahren  des  14.  Jahrhunderts. 
Dasselbe  bietet  ein  Verzeichnis  von  Büchern,  Kleidungsstücken, 
Kirchengewändern  und  Kleinodien,  die  ein  rigascher  Erzbischof, 
der  in  der  angegebenen  Zeit  gestorben  ist,  hinterlassen  hat.  Der 
Herausgeber  hat  die  Vermuthung  ausgesprochen,  dass  das  Inventar 
sich  auf  den  Nachlass  des  Erzbischofs  Friedrich  beziehen  werde. 
Denn  wir  wissen  aus  einer  Urkunde  von  1332  (UB.  6,  n.  2798), 
dass  dieser  Erzbischof  eine  ansehnliche  Bibliothek  besessen  hat, 
und  die  mehr  als  30  Codices,  die  im  Inventar  verzeichnet  stehen, 
sind  nach  mittelalterlichen  Begriffen  schon  ein  reicher  Bücherschatz; 
mir  ist  es  nur  bedenklich,  dass  die  meisten  verzeichneten  Werke 
einen  kircheurechtlichen  Inhalt  haben,  wahrend  man  in  ihnen  eine 
vorzugsweise  Berücksichtigung  der  Geschichte  des  Minoritenordeus 
voraussetzen  sollte.  Erzbischof  Friedrich  hat  diesem  Orden, 
dem  er  selbst  angehörte  und  dem  er  zum  Theil  seine  Bücher- 
sammlung verdankte,  ohne  Zweifel  grosse  Theilnahme  gewidmet. 
Man  weiss,  dass  er  ein  Leben  des  h.  Franciscus  verfasst  hat'. 

Es  ist  geradezu  erstaunlich,  welche  Massen  von  Gewändern 
and  Geräthen  ein  rigascher  Erzbischof  zur  Verfügung  hatte  ;  dabei 
sind  so  manche  Stücke  von  üppigster  Pracht*. 

Es  wäre  an  dieser  Stelle  kaum  möglich,  alle  einzelnen  Punkte 
aufzuzählen,  in  denen  die  Kenntnis  unserer  Geschichte  durch  die 
«Livonica>  H.s  gefördert  worden  ist.  Durch  Hervorhebung  des 
Wichtigeren  und  für  Laien  Interessanteren  habe  ich  nur  auf  die 
Bedeutung  derselben  hinweisen  wollen.  In  Fachkreisen  ist  H.s 
Herausgeberkunst  längst  anerkannt.   So  darf  ich  die  Darbringung 


1  Yskeshusen  halte  ich  für  eine  Verdrehung  von  Ykescule. 

»  Vgl.  H.  Diederichs  in  den  Sitz.-Bcr.  d.  Alt.Ges.  1873,  S.  28. 

»  G.  Berkholz  in  den  Sitz.  Ber.  der  Alt.Ges.  1881,  S.  168  nach  M.  Perl 
hach  im  *Xenen  Archiv  der  Ges.  für  alt.  dciit.  Geschichtskunde  (VI,  3).» 

4  Das  hei  Ducnnge  fehlende  *abba*  ist  wol  überhaupt  kein  Wort,  sondern 
vom  mittelalterlichen  Abschreiber  verderbt  ans  alba,  der  gewohnlichen  Bezeich- 
nung für  Messgewand. 

naltUche  Monatwchfift.  Bd.  XXXIV.  Heft  5.  30 


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450  Notizen. 

aus  dem  vaticanischen  Archiv  als  in  jeder  Beziehung  dankenswert» 
und  hoch  verdienstlich  bezeichnen. 

Joseph  Girgen  söhn. 


Russisches  N  o  v  e  1 1  e  n  b  u  c  h.    Eine  Sammlung  rnssischer  Erzählungen. 

ITebenetSt  vi»n  Constantin  J  ü r g e tt a.  Erster  Hand.  M i i.iu 
Verlag  von  Victor  Fclsko.    ins»;.    S.  27«.  h» 

Es  lag  im  Reformwerk  Peters  des  Grossen  tiefbegründet, 
dass  sich  die  Fehler  seiner  Tugenden  ganz  vorzugsweise  beim 
weiblichen  Theile  derjenigen  Gesellschaftsklassen  Russlands  geltend 
machten,  die  von  dem  Schaffen  des  grossen  Zaren  unmittelbar  be- 
rührt wurden.  Ein  Attentat  auf  die  überkommene  Sitte  rächt  sich, 
wie  selbige  auch  beschaffen  sein  mag,  am  schwersten  an  denen, 
deren  ganze  Existenz  unbewusst  im  Banne  dieser  Sitte  stand.  Der 
halborientalischen  Clausur  gewaltsam  entrissen,  trat  die  russische 
Frauenwelt  der  höheren  Klassen  an  der  Wende  des  17.  und  18. 
Jahrhunderts  auf  das  schlüpfrige  Parquet  der  aus  Frankreich  her- 
rührenden Convenienz,  ohne  gleichwol  in  ihrer  historischen  Ent- 
wicklung die  Phasen  durchgemacht  zu  haben,  welche  die  Gestal- 
tung des  ritterlich  höfischen  Tones  im  Lande  der  Troubadours  und 
Chevaliers  vom  mittelalterlichen  Turnier  bis  zum  Hoffeste  eines 
Ludwig  XIV.  der  Geschichte  der  Frau  dieses  und  der  ihm  cnltur- 
verwandten  Länder  vorgezeichnet.  Vom  souveränen  Willen  octroyirt, 
stand  das  äussere  Leben  zur  Zeit  Peters  gebieterisch  zwingend  der 
russischen  Frau  gegenüber,  ins  Innerste  des  Hauses  dringend,  überall 
beschränkend,  überall  erweiternd,  von  dem  Alten  etwa  nur  das  ge- 
heimnisvoll in  die  Vergangenheit  hinüberweisende  Lämpchen  übrig- 
lassend, welches  in  der  Ecke  des  Frauengemachs  das  altehrwürdige 
Heiligenbild  beleuchtete.  Spuren  der  Veräusserlichung  in  der  Sinnes- 
weise der  russischen  Frau  bezeichnen  unzweifelhaft  die  Geschichte 
von  Russlands  achtzehntem  Jahrhundert.  Eine  Bewegung  grund- 
verschiedener Art  und  nicht  minder  tief  in  die  Geschicke  der  rus- 
sischen Frauenwelt  eingreifend  ist  diejenige,  welche  durch  die 
grossen  Reformen  Kaiser  Alexanders  II.  bedingt  wurde.  Hatte 
Peter  der  Grosse  bei  seiner  Umbildung  Russlands  sich  den  stän- 
disch- bureauk ratischen  Staat  des  Westens ,  etwa  Preussen  zum 
Muster  genommen,  so  sollte  das  Reich  jetzt  auf  staatsbürgerlich- 


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Notizen. 


457 


selbstverwaltlicher  Basis  reorganisirt  werden.   Mit  der  Aufhebung 
der  Leibeigenschaft  brachen  die  Schranken,  die  Stand  von  Stand 
trennten,  zusammen,  die  höheren  Klassen  wurden  mitten  in  den 
Daseinskampf  hineingestellt,  die  traditionelle  Standessitte  machte 
Anschauungen  und  Ideen  Platz,  die  sich  auf  der  Suche  nach  dem 
allgemein  Menschlichen,  so  weit  ein  solches  unter  Voraussetzung 
nationaler  Eigenart  denkbar,  auf  der  Suche  nach  einem  praktischen 
Lebensideal  befanden,  welches  der  sich  neu  gestaltenden  Welt  des 
Staatsbürgerthums  entsprechen  sollte.    Durch  rege  Berührung  mit 
dem  Westen,  durch  Milderung  der  Censur  mächtig  gefördert,  stellte 
sich  das  freie  Bildungswesen  neben  das  staatliche,  Autodidaxis  und 
Leetüre  nehmen  einen  früher  nie  bekannten  Aufschwung,  und  es 
war  vorzüglich  das  weibliche  Geschlecht,  das  ehemals  in  seiner  Er- 
ziehung die  Spuren  des  durch  das  Leibeigenschaftsrecht  bedingten 
häuslichen  Absolutismus  am  beträchtlichsten  empfunden,  welches 
die  Einflüsse  der  Alexandrinischen  Epoche  am  energischsten  durch- 
leben, seine  Eigenart  durch  dieselbe  in  den  mannigfachsten  Typeu 
zu  sprechendstem  Ausdrucke  bringen  musste.    Es  ist  vorzugsweise 
das  trotzige  Festhalten  an  der  eigenen  Individualität,  am  Selbst- 
bestimmungsrechte  der  Persönlichkeit,  das  uns  in  den  weiblichen 
Typen  jener  Zeit  entgegentritt.    Verschieden  sind  die  Wege,  die 
dieses  Selbstbestimmungsrecht  nach  den  sittlichen  Voraussetzungen 
nimmt,  wie  Naturanlage  und  Erziehung  sie  vorgesehrieben ;  die  Be- 
reitschaft, sicli  selbst  zum  Opfer  zu  bringen  für  den  Mann,  der  dem  in- 
dividuellen sittlichen  Ideal  zu  entsprechen  scheint,  tritt  hart  neben 
die  Bereitschaft,  die  Welt  der  Sitte  selbst  niederzutreten,  wo  diese  den 
Ansprüchen  des  <Ich>  zu  widerstreben  scheint.    All  die  Extreme 
des  Empfiudungslebens,  deren  die  weibliche  Natur  fähig,  der  russi- 
sche Publicist-Poet  hat  sie  mit  der  ihm  eigenen  Feinfühligkeit  für 
den  Pulsschlag  seiner  Gegenwart  dauerndem  Gedächtnis  bewahrt, 
und  wir  finden  in  dem  russischen  Novellenbuche  von  C.  Jürgens 
eine  Reihe  weiblicher  Typen,  die  alle  mehr  oder  weniger  ihr  Hei- 
matsrecht aus  der  Zeit  der  grossen  Reform ära  her  datiren. 

Die  erste  Novelle:  «Des  Wurdalak  Familie»  von  Graf  Alexei 
Tolstoi,  hat  anscheinend  mit  dem  russischen  Leben  nichts  zu  thun 
und  kommt  uns  auf  den  ersten  Blick  wie  eine  Art  unberechtigter 
Eindringling  in  das  Gebiet  russischen  Geisteslebens  vor.  Wer 
jedoch  die  Gogolschen  Dichtungen  kennt,  und  Gogol  war  wie  sein 
Landsmann  Tolstoi  ein  Kleinrusse,  der  wird  in  des  Wurdalak  Fa- 
milie unschwer  kleinrussische  Motive  in  Fabel  und  Färbung  Wieder- 
au* 


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458 


Notizen. 


finden.  Die  Geschichte  hat  eine  gewisse  ent feinte  Aehnlichkeit  mit 
Prosper  Merimäes  bekannter  Novelle  cColombat,  mit  dem  Unter- 
schiede, dass  die  französische  Erzählung  fest  an  dem  Boden  der 
Realität  haftet,  die  russische  ganz  in  Gespenster-  und  Zauberwerk 
aufgeht.  Hier  wie  dort  das  Hineintragen  der  Welt  der  Cultur  in 
die  der  Barbarei,  hier  wie  dort  der  Blutdurst  kampfgewohnter 
Clane,  wie  er  sich  in  Corsica,  dem  Schauplatze  der  «Oolomba»,  in 
dem  Institute  der  Blutrache,  iu  Bosuien,  wo  die  Erzählung  Tolstois 
spielt,  in  dem  unheimlichen  Glauben  äussert,  der  den  nach  Krieg 
und  derbem  Lebensgenuss  durstenden 'Bosniaken  nach  seinem  Hin- 
scheiden sich  am  Blute  der  Lebendigen  berauschen  lässt.  Der  fran- 
zösische Seigneur  des  ancien  regime,  ein  Typus  in  der  Art  des 
prince  de  Ligne,  wie  ihn  das  18.  Jahrhundert  zu  zeitigen  pflegte, 
tischt  sein  Märchen  mit  dem  ganzen  zuversichtlichen  Aplomb  und 
all  den  sprachlichen  Schnörkeln  des  alten  Versailles  der  blasirten 
Gesellschaft  des  Wiener  (Kongresses  auf,  ein  Lichteffect  der  La- 
terna  magica  im  traulich  dunkeln  Salon,  die  unheimlichen  Gräuel 
barbarischer  Sagenwelt  grell  auf  die  finsteren  (iobelins  der  Wand 
werfend,  im  wilden  Gespensterspuk  hinhuschend  über  den  Fond 
verfeinertster  Cultur. 

In  <  Jefimow»  von  Dostojewski  finden  wir  all  die  Schrecken 
wieder,  die  der  Dichter  auf  seiner  Wanderung  durch  das  Inferno 
des  Daseins  gesehen  und  mit  Flammenschrift  in  die  Weltliteratur 
hineingezeichnet  hat.  Dostojewski  ist  hier  ausnahmsweise  nicht 
jener  versöhnungsfindige  Besucher  der  Bajadere,  der  da,  wo  die 
letzten  Häuser  stehen,  unter  tiefem  Verderben  noch  ein  mensch- 
liches Herz  zu  entdecken  weiss;  das  Bild  des  verkommenen  Musi- 
kanten Jefimow  ist  ohne  jeglichen  versöhnenden  Zug  gezeichnet. 
Jefimow,  ein  musikalisches  Genie  und  leibeigener  Hofclarinettist 
eines  liberal  denkenden  ländlichen  Grand-Seigneur,  wird  durch  Be- 
sitz einer  trefflichen  Cremoneser  Geige  zum  Violinvirtuosen;  ur- 
plötzlich nistet  sich  der  Hochmuth  mit  krankhafter  Ausschliesslich- 
keit in  ihm,  dem  moralisch  völlig  Haltlosen,  ein;  von  seinem  Herrn 
mit  der  Freiheit  beschenkt  und  in  die  weite  Welt  hinausgeschickt, 
taumelt  er  in  einem  durch  fortgesetzten  Trunk  gesteigerten  Traum- 
leben durchs  Dasein,  in  der  festen  Ueberzeugung,  dereinst  ein  welt- 
berühmter Violinist  zu  werden,  und  ohne  ein  Füukchen  jenes  Masses 
von  Ausdauer,  welches  allein  die  bedeutende  Leistung  ermöglicht. 
Nachdem  ein  Fachgenosse,  ein  Deutscher  ~-  der  Deutsche,  ich  er- 
innere an  den  mit  grosser  Liebe  gezeichneten  deutschen  Arzt  in 


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Notizen.  459 

den  «Gebrüdern  Karamasow»,  kommt  bei  Dostojewski  gemeiniglich 
besser  weg,  als  sonst  bei  russischen  Autoren  —  sich  vergeblich 
bemüht,  den  durch  Trunksucht  völlig  verkommenen  Jefimow  zu 
retten,  heiratet  ihn  eine  tüchtige,  lebensgeschulte  Frau,  Wittwe 
und  Mutter  eines  Töchterchens  Nettchen  Neswanow,  welche  Dosto- 
jewski die  Geschichte  ihres  Stiefvaters  als  Erinnerung  aus  ihrer 
Kindheit  erzählen  lässt.  In  dem  bizarren  Spürsinn  nach  dem  sein 
Unglück  verschuldenden  Causalitätsnexus,  einem  Spürsinn,  welcher 
dem  jedem  Eindruck  von  Aussen  widerstandslos  Folge  Gebenden 
eigen  zu  sein  pflegt,  hat  Jefimow.  der  von  seiner  Frau  zärtlich 
geliebt  wird,  es  sich  in  den  Kopf  gesetzt,  sie  sei  an  all  seinem 
Unglücke  schuld  und  ihr  Tod  allein  könne  ihn  seinem  wahren  Selbst 
wiedergeben,  ihn  zu  jener  Meisterschaft  in  der  Kunst  führen,  an 
der  er  als  an  ein  ihm  unentwendbares  Erbe  glaubt,  bis  das  Hin- 
scheiden der  Frau,  zusammenfallend  mit  dem  gebieterisch  bei  An- 
hören einer  ausgezeichneten  Geigenleistung  geweckten  Bewusstsein 
vom  völligen  Versiegtsein  der  eigenen  Kraft,  den  Unglücklichen  in 
Wahnsinn  und  Tod  treibt.  Was  dieser  tief  wahren  und  vortrefflich 
erzählten  Geschichte  ihren  eigentümlichen  Werth  giebt,  das  ist 
der  Versuch,  den  der  Verfasser  in  ihr  gemacht,  dem  inmitten  einer 
AVeit  von  Elend  aufkeimenden  kindlichen  Bewusstsein  seine  Ge- 
heimnisse abzulauschen.  Nettchen  Neswanows  Kindheitserinnernn- 
gen  beginnen  mit  ihrem  neunten  Jahre.  Was  sie  um  sich  sieht, 
als  ihr  Bewusstsein  erwacht,  das  ist  das  Bild,  welches  jedem  gross- 
städtischen Kinde  armer  Eltern,  die  ihre  Kleinen  der  Strasse  mög- 
lichst fern  halten  möchten,  als  schier  einzige  Erinnerung  aus  ihrer 
Jugend  stets  im  Gedächtnis  bleiben  wird:  die  nackten,  feuchteu 
Wände  hoch  oben  im  fünften  Stock.  Und  in  diese  vier  Wände 
tritt  nun  die  Phantasie  des  Kindes,  gesättigt  von  den  Eindrücken 
der  Strasse,  und  schmückt  sie  und  ihre  Insassen  in  ihrer  Weise  aus,  und 
des  schönsten  Schmuckes  wird  dasjenige  sicher  sein,  was  die  meisten 
Räthsel  in  sich  birgt,  was  ein  Geheimniss  ahnen  lässt,  was  sich 
am  meisten  der  durch  einen  Blick  in  die  Aussenwelt  zum  Bewusst- 
sein gekommenen  trüben  Alltäglichkeit  entrückt.  Wunderbar  — 
die  gute,  sorgsame,  die  leibliche  Mutter,  ihr  Bild  tritt  bei  Nettchen 
Neswanow  zurück  vor  dem  des  geistig  abgestumpften,  stets  halb- 
berauschten Stiefvaters,  er  ist  ein  Unglücklicher  und  er  ist  ein 
Künstler,  ein  Wesen  ganz  und  durchaus  eigener  Art,  und  die  An- 
ziehungskraft, die  das  Phantastische  auf  ein  Kindergemüth  übt, 
lässt  sie  den  Jefimow  lieben,  mit  einer  Art  mütterlicher  Zärtlich- 


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400 


Notizen. 


keit  lieben,  als  ein  bedürftiges,  des  Mitleids  würdiges  und  doch  zu 
so  Hohem,  Ausserordentlichem  bestimmtes  Wesen. 

Die  kleine  Studie  <Wera»  von  Frau  Krestowskaja  ist  ein 
Meisterwerk,  wie  es  nur  weiblicher  Scharfblick  für  das  Seelenleben 
des  eigenen  Geschlechts  zu  schaffen  im  Stande  war.  Wera  ent- 
stammt einer  Familie,  wie  es  deren  ehemals  vielleicht  mehr  als 
heute  gab,  in  denen  das  Gemüthsleben  des  Kindes  zu  einer  Kraft 
und  Innigkeit  gedeihen  konnte,  welche  das  spätere  Dasein  leicht 
zu  einer  Reihe  schmerzlicher  Illusionen  aufzulösen  vermag.  Bei 
aller  Liebebedürftigkeit  ledig  geblieben ,  nach  Bethätiguug  der 
kräftig  arbeitenden  Individualität  suchend,  findet  sie  ihre  Lebens- 
aufgabe schliesslich  in  der  Arbeit  und  Fürsorge  für  einen  bei 
weitem  jüngeren,  talentvollen  Künstler,  der  dem  Erblinden  nahe, 
wobei  die  ergreifende  Tragik,  die  auf  dem  Geschicke  derartiger 
liebender  und  sich  ihre  Liebe  nicht  eingestehen  wollender  weiblicher 
Existenzen  ruht,  auch  in  diesem  Falle  in  der  wohlberechtigteu  An- 
klage des  Künstlers,  die  Freundin  habe  ihm  durch  das  Uebermass 
der  Wohlthat  den  freien  Schwung  der  selbstbewussten  Kraft  ge- 
nommen, nicht  ausbleibt. 

Ebenso  der  Wirklichkeit  abgelauscht  und  in  ihren  kleinsten 
Zügen  motivirt  ist  das  Gegenstück  zu  Wera,  die  zweite  Novelle 
der  Frau  Krestowskaja :  «Ade!>  Zwetkow,  ein  junger  Gymnasial- 
lehrer, der  sich  die  Reinheit  und  Frische  seiner  Natur  in  der 
Prövinz  bewahrt  hat,  macht  eine  in  seinen  Augen  nicht  unbeträcht- 
liche Erbschaft  und  begiebt  sich  in  dem  guten  Glauben  in  die 
Residenz,  dass  es  ihm  nun  nicht  fehlen  könne,  das  Jawort  seiner 
ehemaligen  geliebten  Schülerin  Alexandra  Galewskaja  zu  erhalten, 
der  Tochter  eines  früher  wohlsituirten  höheren  Beamten,  welcher 
sich  Veruntreuungen  erlaubt  und  nach  seinem  Tode  seine  ganze 
Familie  in  bedrängten  Umständen  zurückgelassen  hat.  Die  Galewskis 
sind,  wie  das  unter  ähnlichen  Umständeu  zu  geschehen  pflegt,  völlig 
verlumpt ;  das  Prestige  von  Rang  und  Stellung  soll  gewahrt  werden, 
und  das  rohe  Mitleid  der  alten  Bekannten  dient  nur  dazu,  die 
Familie  sittlich  noch  tiefer  zu  entwürdigen.  Zwetkow  bringt  sein 
Anliegen,  tief  erschüttert  von  allem,  was  er  gehört  und  gesehen, 
vor  und  wird  schliesslich  abschlägig  beschieden,  da  Alexandra  laut 
nüchternster  Vereinbarung  sich  anheischig  gemacht,  die  Maitresse 
eines  wohlbetagten  und  verheirateten  Grafen  zu  werden,  der  über 
ein  grosses  Vermögen  verfügt  und  ihr  freie  Disposition  für  Wahl 
dieser  oder  jener  Villa  an  der  Riviera  zum  künftigen  Flitterheim 


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Notizen. 


4<J1 


der  Maitresseujahre  litsst.  Die  Heldin  philosophirt  wie  ein  Usur- 
pator, dem  es  um  eine  Handvoll  hausbackener  Moral  mehr  oder 
weniger  nicht  ankommt ;  an  die  Stelle  von  Religion  und  Pflicht  ist 
bei  ihr  der  Cultus  des  Schönen  getreten,  jenes  Schönen,  von  dem 
Heine  sagt:  c Stets  wird  das  Gute  hadern  mit  dem  Schönen»,  die 
Moral  hat  sie  mit  Anwendung  des  Causalitätsbegriffs  just  ebenso 
aus  der  Welt  hinausescamotirt,  wie  der  verlumpte  Jefimow  es  zu 
seiner  Selbstrechtfertigung  gethan. 

«Tatjana»,  von  Alexei  Potechin,  ist  eine  russische  Dorf- 
geschichte von  vierschrötiger  Wahrheit,  die  hie  und  da  etwas  ans 
Brutale  streift.  Wahrend  in  den  übrigen  Geschichten  des  Novellen- 
buchs das  Sichloslösen  der  That  sich  aus  oft  widerstreitenden,  inneren 
Motiven  von  innen  heraus  vollzieht,  herrscht  hier  die  Sitte  that- 
bestimmend  wie  eine  Art  magischer  Macht,  ei*scheint  die  kirchliche 
Ceremonie  als  ein  Talisman,  der  dem  Willen  des  Menschen  Be- 
wegung und  Stillstand  gebietet,  seinen  Lebensgang  gleichsam  will- 
kürlich in  verschiedene  gesonderte  Stücke  brechend1.  Die  eigen- 
willige  Tatjana  verzichtet  ohne  weiteren  Widerspruch  auf  den 
Verkehr  mit  ihrem  ehemaligen  Geliebten,  sobald  einmal  alles  von 
der  Bewerbung  bis  zur  kirchlichen  Einsegnung,  wie  sichs  gebührt, 
hergegangen  ist,  und  beginnt  ohne  sonderliche  Anstrengung  ein 
neues  Leben  mit  ihrem  neuen,  ihr  im  Grunde  herzlich  unsympathi- 
schen Manne.  Die  Charaktere  der  einzelnen  Personen,  des  haupt- 
•  städtisch  verlumpten  Dorfgecken  Ilga,  der  ceremoniösen  und  dorf- 
klugen Matrjona  Polikarpowna,  des  verschmitzten  und  geschmeidigen 
Brautwerbers  Demjan  und  des  phlegmatischen  Praktikus  Dimitri 
Petrow  sind  in  wenigen  Strichen  musterhaft  gezeichnet  und  alle 
charakteristischen  Momente  russischen  Dorflebens  kommen  in  rascher 
Folge  zur  Geltung.  —  Die  Uebersetzung  der  fünf  Novellen  ist, 
wie  alles,  was  Jürgens  auf  diesem  Gebiete  geleistet,  vortrefflich, 
und  können  wir  diese  Anzeige  nur  mit  dem  Wunsche  schliessen, 
der  Herausgeber  möge  dem  ersten  Bande  seines  russischen  Novellen- 
buches recht  bald  einen  zweiten  folgen  lassen. 

  Th.  P. 


1  Der  Herr  Ree  gestatte  den  Einwand,  dasB  neben  der  Sitte  nls  sehr  be 
stimmende  Factoren  der  kräftig  entwickelte  Wahrheitssinn  und  da«  energische 
Pflichtgefühl  der  Heldin  ihr  Verhalten  beeinflussen  dürften.  D.  Red. 


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» 


Zu  berichtigen: 
Heft  4.    S.  338  Z.  »R  d  e  in  Scaliero  «t.  der  Scaliero. 

S.  350  Z.  28  «Inn  n  st.  denn  und  vor  st.  von. 
S.  3H8  Z.  2  Goufficr  M.  GnlifhYr. 


;V>3oojeuo  ueinypo».  —  Peoejb,  16-ro  Man  1887  r. 

OeJrurkt  bei  Ltadfoft'  Erbon  in  Ilm  al. 


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Eine  Nachlese  zur  deutschen  Mundart  in  Estland. 


fthrend  W.  v.  Gutzeits  Arbeit  in  Erforschung  der 
heimischen  deutschen  Mundart  stetig  und  sicher  fort- 
schreitet, hat  dessen  fLivländischer  Wörterschatz  >  nuu  sclion  seit 
einer  längeren  Reihe  von  Jahren  auf  eine  nennenswerthe  Unter- 
Stützung  aus  der  eigenen  engeren  Heimat  sowol,  wie  aus  den 
beiden  Schwesterprovinzen  verzichten  müssen.  In  mehr  als  einer 
Hinsicht  ist  dieses  Feiern  zu  beklagen.  Durch  die  staatlichen 
Verhältnisse  der  Neuzeit  nur  unvollkommen  erklärt,  sollte  die  zur 
Unzeit  geübte  leidige  Zurückhaltung  in  ihnen  gerade  eine  dringende 
Aufforderung  sehen,  in  die  reichen  Schätze,  welche  der  baltischen 
Dialektforschung  sich  darbieten,  mit  um  so  gespannterer  Aufmerk- 
samkeit und  um  so  regerem  Fleiss  sich  zu  vertiefen.  Denn  das 
ist  gewiss,  wer  ihr  nur  einmal  näher  getreten,  der  weiss  auch,  wie 
freigebig  sie  der  ihr  zugewandten  Liebe  und  Treue  lohnt,  wie  sie 
nach  Art  der  rückwärts  gewandten  Geschichtsbetrachtung  Math 
und  Zuversicht  für  die  kommenden  Tage  stärkt  und  doch  auch 
wieder  die  Freude  an  der  Gegenwart  kräftigt  und  aufrichtet,  indem 
sie  ja  ein  noch  nicht  Vergangenes,  trotz  alledem  und  alledem  in 
lebendigem,  kräftigem  Wachsthum  Stehendes  uns  vor  Augen  rückt. 
Und  ist,  wie  alles  Schöne,  auch  die  Schönheit  und  freie  Bewegung 
der  Mundart  der  Zerstörung  feindlicher  Mächte  ausgesetzt,  nun  so 
soll  uns  das  nicht  irren,  sondern  zu  um  so  eifrigerer  Pflege  und 
Sorgfalt  anspornen.  Was  von  all  den  anderen  geistigen  Gütern, 
die  wir  zu  bewahren  haben,  gilt,  das  bewähre  und  übe  sich 
auch  hieran  : 

Balti.cne  Monatsschrift,  »and  XXXIV,  Heft  0.  31 


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4G4       Eine  Nachlese  zur  deutschen  Mundart  in  Estland. 


Das  Schöne  stammet  her  vom  Schonen,  es  ist  zart 

Und  will  behandelt  sein  wie  Blumen  edler  Art. 

Wie  Blumen  vor  dem  Frost  und  rauher  Stürme  Drohen 

Will  es  geschonet  sein,  verschont  von  allem  Rohen. 

Die  bescheidene  Nachlese  auf  dem  Felde  heimischer  Mundart, 
deren  Ertrag  hier  geboten  wird,  folgt  der  Richtung,  welche  des 
Verfassers  «Neue  Beiträge  zur  deutschen  Mundart  in  Estland» 
(Reval,  1880)  einschlugen.  Was  seit  jener  Zeit,  im  Laufe  der 
letzten  Jahre,  aus  der  Sprechweise  seiner  Umgebung  als  bemerkens- 
werth  erkannt  und  aufgezeichnet  wurde,  ist  unter  den  Gesichts- 
punkten zusammengestellt,  die  in  der  genannten  Schrift  eingehalten 
wurden,  so  dass  es  als  eine  Ergänzung  derselben  gelten  darf. 
Nachdem,  der  diese  Aehren  sammelte,  die  in  Estland  gefundene 
neue  Heimat  mit  der  älteren  des  deutschen  Mutterlandes  wieder 
vertauscht  hat,  werden  es  die  letzten  sein,  die  seine  Hand  auflas. 
Abei-  die  Erwartung,  dass  andere  die  begonnene  Arbeit  fortsetzen 
werden,  um  die  reiche  Ernte,  die  noch  ungeborgen  auf  dem  Felde 
liegt,  einzuheimsen,  wird  hoffentlich  kein  frommer  Wunsch  bleiben. 

Dass  weitere  Entlehnungen  aus  dem  Estnischen,  als  sie  früher 
vermerkt  wurden,  nicht  zu  verzeichnen  sind,  erklärt  sich  aus  den 
Umständen.  War  von  vornherein  ihre  Zahl  eine  sehr  beschränkte, 
so  wird  sie  vermuthlith  in  der  Zukunft  sich  nicht  vermehren. 
Eher  steht  zu  erwarten,  dass  ein  oder  das  andere  Lehnwort  mit 
der  Zeit  wieder  abwelken  und  zu  Boden  fallen  wird.  Eben  so 
wenig  wird  in  absehbarer  Zeit  das  Schwedische  unsere  Sprache 
noch  weiter  beeinflussen.  Ob  das  Russische  in  Zukunft  mehr  als 
bisher  auf  die  deutsche  Sprechweise  einwirken  wird,  steht  dahin. 
Bis  jetzt  war  von  solchen  Einwirkungen  nichts  zu  bemerken,  es 
wäre  denn  die  in  der  amtlichen  Schulsprache  uns  begegnende  Aus- 
lassung, wenn  damit  wie  im  Russischen  nicht  blos  der  Act  der 
Entlassung,  sondern  auch  die  Gesammtheit  der  zur  Entlassung 
kommenden  Schüler  bezeichnet  wird.  Dagegen  will  sich  die  Reihe 
der  dem  Niederdeutschen  entstammenden  Ausdrücke,  die  sich  aus 
der  Zeit  erhalten  haben,  wo  in  Estland  die  niederdeutsche  Sprache 
die  herrschende  war,  noch  immer  nicht  schliessen.  Zu  den  früher 
angeführten  treten  jetzt  weiter  hinzu : 

ämpern1  an.  ambh,  nhd.  und  nd.  ampeln,  in  unserer  Form  über 
ganz  Norddeutschland  verbreitet,  mit  Händen  und  Füssen  sich 
schwimmend  abmühen. 

ausnadeln  von  Pferden,  losziehen,  nd.  utneihn. 


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Eine  Nachlese  zur  deutschen  Mundart  in  Estland 


405 


bleiben  in  der  Bedeutung  tsein,  weiden»  :  todt,  gesund  bleiben. 

buchtlahm  buglahm. 

Buschkage  wie  sonst  Buschlade. 

Flott-Equipage,  auf  nd.  SJcip  Schiff  zurückführend,  Schiffs- 
mannschaft der  Flotte,  auch  amtlich. 

Gcbrök,  estn.  padrih,  herrenloses,  d.  h.  keinem  ßauerland  zu- 
geteiltes, mit  Strauchwerk  bewachsenes  Feld,  feuchter  Busch- 
heuschlag. 

an  dm  Gräten  hängen  in  hoffnungsloser  Geldverlegenheit 
sich  befinden,  nd.  in  de  Graden  hangen. 

Kanditci-  Conditor,  wie  auch  im  Russischen. 

Kump,  hd.  Kumpf,  neben  üblicherem  Kumme. 

hurlos,  nd.  kurloonsk  unlustig,  rathlos,  nach  Fr.  Reuter  (Kein 
Hüsung,  p.  3):  bei  dem  keine  Cur  lohnt  oder  anschlägt. 

Linkpot  Linkshänder. 

Lucht  Fensterrahmen.  Dasselbe  Wort  wird  dann  auch  für 
einen  Wassermoor  mit  grüner  Oberschicht  gebraucht,  estn.  luhha. 

Paddweg  Fuss-  oder  Feldweg,  Streckweg,  nicht,  wie  früher 
angenommen  wurde,  von  nhd.  Pfad  abzuleiten,  sondern  von  nd. 
pedden  treten. 

flirren,  nicht  von  estn.  pirrima,  sondern  umgekehrt  auch 
dieses  aus  dem  Nd. 

PladderweUer  Regenwetter. 
Renne,  Rennstein  Rinne,  Rinnstein. 

RofMchc  Küche,  deren  Herdrauch  unmittelbar  in  den  darüber 
befindlichen  Schornstein  aufsteigt. 

schrofen  mit  zahlreichen  Zusammensetzungen,  geschroft,  unge- 
schroft,  nhd.  schroten. 

sielen,  nd.  sälen,  an  die  Schleien  oder  Sielen  schirren. 

Stüm,  stümen,  nd.  Stom  Staub,  stömen  stäuben. 

unterhbtig  unter  der  Haut  von  Eiter  zerfressen,  von  nd.  Jcüt  Eiter. 

Zu  Kalcs  möge  noch  bemerkt  sein,  dass  die  altschwed.  Be- 
deutung von  c  weidlicher,  grosser,  angesehener  Mann>,  auf  welche 
früher  allein  hingewiesen  wurde,  schon  im  Neuschwed.  und  darnach 
dann  auch  im  Niederdeutschen  in  die  eines  hohlen,  aufgeblasenen, 
eingebildeten  Menschen  übergegangen  ist. 

Zu  den  ungewöhnlich  zahlreichen  Bezeichnungen  für  G  e  - 
fährte,  die  uns  begegneten,  sind  noch  nachzutragen  der  Zwei- 
spänner-Schlitten, der  Kanadische  Schlitten  und  der  Landolet,  ein 
zweisitziger  Landauer.    Den  nicht  minder  zahlreichen  Brotsorten 

31* 


406      Eine  Nachlese  zur  deutschen  Mundart  in  Estland. 

aber  gesellen  sich  noch  hinzu  das  unsüssc  und  das  aus  geschroftem 
oder  ungeschroftem  Korn. 

Dem  stattlichen  Bestand  'der  durch  ihr  hohes  Alter  ehrwürdigen 
Ausdrücke,  welche  eine  besondere  Zierde  unserer  Mundart  sind, 
wenn  auch  einige  derselben  nur  hin  und  wieder  gehört  werden, 
treten  als  früher  noch  nicht  erwähnt  hinzu: 

Agelster,  die  mhd.  Bezeichnung  für  Elster,  ahd.  agalstra,  älter 
nhd.  Agalster,  nd.  Agestcr,  Exter,  Hester,  Heister. 

Altmeister  zuweilen  für  Anrichter,  Oldermann. 

Behebung  Beschluss  des  estl.  Landtags,  der  die  Interna  berührt 
und  als  solcher  keiner  Bestätigung  der  Staatsregierung  bedarf. 

Landrathsstuhl  Amt  eines  Landrathes,  wol  auch  das  Land- 
rathscollegium . 

Schlungs  Lump,  Liederjan,  nach  dem  älteren  Schlüngcl  für 
nhd.  Schlingel. 

Von  eigentümlichen  Redensarten  wollen  zwei  neue  verzeichnet 
sein  :  einem  einen  Küster,  d.  h.  Fusstritt  geben,  und  in  diö  Brcdouille 
kommen  in  Noth,  Verlegenheit  gerathen. 

Als  vor  Zeiten  gepflegte,  nun  allmählich  in  ihrem  Glanz  er- 
bleichende Sitte  möge  mit  ihrem  Ausdruck  auch  noch  der  Quartal- 
schmor erwähnt  werden,  eine  gemeinsame  Beamtenmahlzeit,  in  Reval 
früher  «Zum  lahmen  Frosch»,  in  den  letztvergangenen  Jahren  bald 
hier,  bald  dort  abgehalten. 

Als  hübsche  Neubildungen  oder  mit  einer  neuen,  eigentümlichen 
Bedeutung  versehene  Wörter  verdienen  weiter  vermerkt  zu  werden ; 

ädern  zur  Ader  lassen. 

sich  bahnen  wund  Werden. 

Discipcl  Apothekergehilfe,  Gehilfe  des  Wundarztes. 
Erdbeil  Strauchhacke. 

kclken  mit  einem  Rutschschlitten,  dem  sog.  Kdk,  fahren. 

mit  Kipp  und  Kapp  mit  Sack  und  Pack. 

Koller  das  zum  Ausrollen  gebrauchte  Ei  bei  dem  bekannten 
Jugendspiel  zu  Ostern,  im  Gegensatz  zum  TUkser,  dem  Ei,  das 
zum  Anstossen  genommen  wird. 

Krepierling  Todescandidat,  ebenso  glücklich  geformt,  wie  die 
zahlreichen  ähnlichen  Bildungen  auf  -ling  :  Aufwächsling,  Anfeögling, 
Frechling,  Füssling  (Bauer  mit  sog.  Fusstagen),  Häusling,  Jaglinge, 
Jährling,  Keckling,  Läufling  (Deserteur),  Miethling  (auf  Tagegelder 
widerruflich  angestellter  Beamter),  Schioindcrling,  Wächsling,  Ziehimg. 

Lehrarbeit  Arbeit  für  Lehrkinder ,  Coufirmaudeu  auf  dem 


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Eine  Nachlese  zur  deutseben  Mundart  in  Estland.  467 


Lande,  in  Haus,  Garten,  Hof  und  Feld.  Während  die  Kinder, 
welche  den  Confirmandenunterricht,  die  Lehre,  vollständig  besucht 
haben,  lehrfrei  werden,  sind  diejenigen,  welche  nach  einer  blossen 
Vorlehre  noch  die  Nachlehre  zu  besuchen  haben,  vorläufig  nur 
Halbgelehrte. 

schlicken  listigen  Vortheil  zieheu. 

speicheln  von  kleinen  Kindern,  den  Speichel  fliesseu  lassen, 
säbern. 

tohoien  Tohoi  rufen. 
trach—trach  Schlag  auf  Schlag. 

umhacken,  bildlich,  von  einem  Walde,  durch  Windbruch  ver- 
wüsten. 

,    UmJcosien  Unkosten. 

weichhaft  werden  entweichen,  desertiren. 

Wie  lebendig  sich  fort  und  fort  insbesondere  der  Trieb  zu 
Neubildungen  durch  präpositioneile  Zusammensetzung  zeigt,  die  in 
der  oben  angeführten  Schrift  bereits  die  Doppelspalten  von  34  Seiten 
fülleu,  bestätigt  uns  neuerdings  eine  ganze  Reihe  eigenartiger 
Formen : 

abthauen 

abtilksen 

anfuttern 

anlangen 

aufgestümt  (von  einem  durch  Stüm  erhöhten  Weg) 
aufmessen  (ein  Landstück,  =  vermessen) 
aufzeigen  (vorzeigen) 

ausklagen  (eine  Schuldsumme,  wie  sonst  einklagen) 
ausrollen  (Eier) 

aussprengen  (Bauern  aus  geschlossenem  Grundbesitz) 

begranden  (mit  Kies  bewerfen) 

bcwählen  (ein  Amt,  durch  Wahl  besetzen) 

sich  eindecken  (gegen  Coursverlust) 

einhaucn  (von  Pferden,  die  beim  Laufen  mit  den  Hinterfüssen 
an  die  Vorderbeine  schlagen) 

cinnivelliren  (durch  Nivelliren  in  eine  Karte  einzeichnen) 
einsingen  (eine  Leiche) 

verwurzelt  abgearbeitet,  au  den  Arbeitstisch  wie  festgebannt. 
Für  die  Vorliebe  zu  pleonastischen  Bildungen  linden  sich  als 
neue  Zeugen : 

angelangen  (anlangen),  annehmen  (einen  Fuhrmann,  nehmen), 


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468      Eine  Nachlese  zur  deutschen  Mundart  in  Estland.  . 

einängstigen  (in  Angst  versetzen,  ängstigen),  eingelangen  (zur  Stadt 
kommen,  eintreffen). 

Als  früher  noch  nicht  erwähnte  absolut  gehrauchte  Verben 
begegnen  uns  •  verantworten  (die  Verantwortung  tragen),  versäumen, 
verspäten  (von  ßahuzügen  :  der  Zug  versäumt,  verspätet  25  Minuten), 
verwurzln  (durch  Ueberanstrenguugam  Arbeitstisch  herunterkommen), 
vortheilen  (eineu  Vortheil  ziehen,  oder:  zum  Vortheil  seine  Lage 

■ 

verändern). 

Auch  mehrere  studentische  Ausdrücke  sind  aus  der  Kraft- 
sprache der  Hochschüler  nachzutragen :  Absch  .  .  (Abfuhrhieb), 
aufkrachen  touchireu,  klotzen  zahlen,  mopsen  ärgern,  reizen,  Pütze 
für  den  weiblichen  Busen,  reissen  contrahiren,  stürzen  (einem  einen 
dummen  Jungen,  aufbrummen). 

Zu  dem  Geschlecht  yon 'Komitee,  vor  welchem  wir  den  Artikel 
bald  masculinisch,  bald  femininisch,  bald  neutral  gebraucht  sehen» 
ist  die  früher  getheilte  Annahme,  als  komme  das  Wort  von  com- 
missio  her,  dahin  zurechtzustellen,  dass  die  Herkunft  vielmehr  von 
comitatus  nicht  mehr  zweifelhaft  sein  kann,  also  dem  entsprechend 
das  masc.,  oder  in  Anlehnung  au  französ.  indifferentes  comite  das 
neutr.  den  Vorzug  verdient,  während  das  fem.  keine  Berechtigung  hat. 

Dass  Substantiva  von  ursprünglich  anderem  Geschlecht  nach 
Gewinnung  eines  e  als  Endbuchstaben  Feminina  werden,  kommt 
auch  in  der  neuhochdeutschen, Schriftsprache  vielfach  vor.  Es  sei 
nur  erinnert  an  Molke  (mhd.  das  molclwn),  Sitte  (ahd.  der  situ,  mhd. 
der  site,  noch  im  16.  Jahrh.  häufig  der  Sitt),  Waffe  (mhd.  das  wafen), 
Wolke  (mhd.  das  wölken).  In  unserer  Mundart  ist  diesei  Umbildungs- 
process  für  fremdsprachige,  aber  auch  für  deutsche  Wörter  eiu 
ganz  gewöhnlicher.  Aus  der  grossen  Menge  der  betr.  Wörter  hier 
nur  einige  Belege.  Wir  sagen :  Ambare,  Bärme,  Brezc,  Burkane, 
Burke,  Dessätine,  Gleise,  üalge,  Hufe  (des  ft'erdes),  Klete,  Knute, 
Kruke,  Kuje,  Kupitze,  Latere,  Majake,  Moskobade,  Napj>c,  Palatc, 
Hesche,  Rossolje,  Sade,  Salogge,  Schichte,  Stadolle,  Tarakane,  alles 
Wörter,  die  wir  erst  mit  einem  e  als  Endung  versehen  habeu. 
Dazu  gesellen  sich  nun  auch  Schmore  (neben  mascul.  Schmor)  und 
Modde  Schlamm  (neben  mascul.  Modd  und  Modder),  vielleicht  auch 
Trosse  (eine  Art  Tau),  dessen  Geschlecht  und  Form  aus  der  Schrift- 
sprache schwer  zu  belegen  ist.  Dagegeu  hat  llökc,  wie  man  neben 
Höker  zu  hören  bekommt,  sein  männliches  Geschlecht  noch  beibe- 
halten. 

Den  Substantiveu  auf  -är,  -cur,  -or,  die,  abweichend  vom 


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Eine  Nachlese  zur  deutschen  Mundart  in  Estland.  469 


Schriftdeutschen,  bei  uns  im  Singular  der  schwachen  Declination 
zugewiesen  werden  (des  Secretären,  Gouverneuren,  Pastoren),  während, 
wieder  abweichend  vom  Schrittdeutschen,  im  Plural  auch  die  auf 
-or  mit  c  tlectiren,  also  der  starken  Declination  folgen  (die  Direc- 
tore,  Pastore),  sind  noch  die  auf  -ar  beizufügen.  Denn  mau  sagt: 
des  Commissareti,  des  Missionaren.  Im  Plural  dagegen  wird,  wie 
bei  denen  auf  -ür  und  -cur,  dem  Schriftdeutsch  gemäss  die  starke 
Form  mit  e  gewählt. 

Zur  Pluralbildung  der  Substantiva  verdient  vielleicht  auch 
noch  hervorgehoben  zu  werden,  dass  Strauch  in  der  Mehrzahl  zwei 
Formen  aufweist,  Sträuehe  und  Sträuchcr,  und  dass  Kuckel  häufig 
unverändert  bleibt,  daueben  jedoch  auch  Kucheln  bildet.  Wenn 
der  Weck  im  Plural  und  in  Zusammensetzungen  in  der  Hegel  die 
schwache  Endung  annimmt  (die  Wecken,  Wcckcngang),  so  darf  man 
wol  annehmen,  dass  die  Femininform  Wecke  oder  auch  die  masculi- 
nische  Nebenform  Wecken  darauf  eingewirkt  hat. 

Merkwürdig  bleibt  auch  der  Plural  Gäule,  nicht  seiner  Form 
wegen,  welche  die  gewöhnliche,  sondern  seiner  Aussprache  wegen. 
Die  angefühlte  Form  bildet  die  eiuzige  Ausnahme  zu  der  sonst 
undurchbrochenen,  festen  Regel,  wornach  das  g  vor  den  hellen 
Vocalen  (c,  i)  und  Ablauten  («,  ö,  ü)  dem  ähnlich,  d.  Ii.  weich 
gesprochen  wird.  Man  wird  nicht  fehlgeheu,  wenn  man  die  Ursache 
dieser  sonst  unerklärlichen  Abnormität  darin  sieht,  dass,  obgleich 
allerdings  schon  mhd.  giule,  seit  dem  10.  Jahrb.  Genie,  nhd.  wenig- 
stens in  der  Regel  Gr««/«  uns  begegnet,  besonders  mitteldeutsche 
und  norddeutsche  Schriftsteller,  der  Volksaussprache  nachgebend, 
die  Form  Gaule  vorziehen  und  dass  diese  Form,  die  uns  z.  B  auch 
in  Unlands  bekanntein  Balladencyklus  vom  Grafen  Eberhard  dem 
Greiner  geboten  wird  (fDie  Döffinger  Schlacht»  bringt:  cSie 
steigen  von  den  Gatdm,  die  Herrn  vom  Löwenbund >)  unwillkürlich 
die  Aussprache  beeinflusst  hat. 

Und  sind  wir  schon  einmal  bei  Abnormem,  so  möge  auch 
gleich  eine  auffallende  Construction  Erwähnung  finden :  das  Wort- 
paar theils  —  theils  verliert  häufig  seiue  adverbiale  Natur,  um  sub- 
stantivisch verwandt  zu  werden,  sogar  mit  folgendem  Genetiv,  so 
dass  es  nun  die  Stellung  eines  Satzsubjectes  einnimmt,  zu  welchem 
das  Prädicat  in  den  Plural  tritt :  Theils  der  Feinde  hielten  stand, 
theils  derselben  wichen  beim  ersten  Angriff. 

Den  Beschluss  dieser  Nachlese  endlich  mache  eine  Ergäuzung 
zu  dem  früher  über  unsere  Vornamen  Gesagten.    Auch  was  die 


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Eine  Nachlese  zur  deutschen  Mundart  in  Estland. 


letzten  .Jahre  an  solchen  geliefert  haben,  bewegt  sielt  durchaus  in 
dem  Kreise,  wie  er  früher  von  uns  umschrieben  wurde,  sowol  was 
die  Vollnamen  als  was  die  Art  der  Veränderung  bei  den  Kose- 
namen betrifft.  Bei  den  männlichen  Vornamen  ist  ein  in  immer 
weitere  Kreise  dringendes  erfreuliches  Zurückgreifen  zu  den  schönen, 
bedeutungsvollen  altdeutschen  Namen  zu  bemerken.  Neben  russi- 
schen wie  Askold  (übrigens  erst  aus  dem  altschwed.  Höskuldr  ent- 
standen), Boleslaw,  Leodimir,  Theobul,  Wladislato,  die  in  deutschen 
Familien  doch  nur  höchst  selten  und  selbst  dann  in  der  Regel 
neben  anderen ,  gut  germanischen  begegnen ,  und  solch  fremd- 
ländischen wie  Carlos,  Charles,  Charly,  Fernando^  Wallace,  die 
meist  auf  eine  besoudere  Veranlassung  zurückzuführen  sind,  ebenso 
wie  Amalie,  Wittgenstein  als  männliche  Vornamen  sich  eben  nur 
aus  ganz  bestimmten  persönlichen  Umständen  erklären,  oder  neben 
so  räthselhaften  wie  Ho,  sind  es  gewisse  biblische  Namen,  die  gern 
gewählt  werden,  Bartholomäus,  Eliescr,  Ephraim,  Matthias,  Michael, 
Nathanael,  Thomas,  einige  wenige  klassische  wie  Arkadius,  Aurel, 
Carolus,  Cyprian,  Eusebius,  Justus,  Jtistinus,  Marie,  Timoleoti,  die 
immerhin  selten  vorkommen.  Weitaus  die  meisten  männlichen  Vor- 
namen, welche  gegeben  wurden,  sind  echt  deutsche,  darunter  viele 
von  altem,  kräftigem,  volkstümlichem  Schlag.  Um  nicht  bereits 
Gesagtes  zu  wiederholen,  mögen  nur  einige  der  letzteren  als  früher 
unerwähnt  geblieben  genannt  sein  ;  man  freut  sich  ordentlich  an 
dem  guten,  vollen,  ehrenfesten  Klang  dieser  Barnim,  Christfrkd, 
Divdrieh,  Eckard,  Egbert,  Egon,  Ehrenfried,  Everth,  Frank,  Harold, 
Herbert,  Uildebert,  Hilbert,  Hilmar,  Horst,  Jürgcn{s),  KUtus,  Konradin, 
Kurt,  Meinhard,  Vaer,  Boder,  Büderich,  Boger,  Stillfried,  Tankred, 
Udo,  Wilfried,  Witold,  Wolfgang.  Wünschen  wir  ihnen  noch  viele, 
viele  Nachfolger  I 

Bei  der  Umwandlung  in  Kosenamen  wiegen  die  Endungen 
auf  *  und  o  vor ;  a  ist  selten  und  fehlt  unter  den  hier  zu  gebendeu 
völlig.  Es  fanden  sich  Eddo  (Edwin),  Emo  (Emil),  Karli  (Karl), 
Leo  (Timoleon),  Ossi  (Oskar),  Thommi  (Thomas),  Vico  (Victor), 
Walli  (Waldemar),  Willo  (Wilhelm).  Eine  Verkürzung  findet,  wie 
wir  sehen,  nicht  gerade  immer  statt,  wohl  aber  bei  mancheu  ehie 
Verdoppelung  des  inlautenden  Consonanteu.  Als  russisch  geformter 
Kosenamen  ist  neben  Thodja  für  Theodor  noch  Wolodja  für  Woldemar 
anzuführen. 

Den  mit  Vorliebe  gewählten  weiblichen  Vornamen  lässt  sich 
nicht,  wenigstens  nicht  dem  Durchschnitt  derselben,  das  gleich- 


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Eine  Nachlese  der  deutschen  Mundart  in  Estland.  471 

günstige  Zeugnis  ausstellen,  wie  den  mannlichen.    Nebeu  russischen 
wie  Anastasia(e),  Marina,  Nadjeshda,  einigen  biblischen  wie  Mirjam, 
zu  dem  aber  vermuthlich  einer  der  Ebereschen  Romane  Anlass  ge- 
geben hat,  finden  sich  ja  wol  einige  wohlklingende,  altgermanische, 
Adelgunde,  Aslauga,  Brigitte,  Frieda,  Ilmar,  Ines,  Irmgard,  Karin, 
Nora,  liita,  Segunde,  Sigrid,  Thyra,  Wita,  und  auch  sonst  manche 
ansprechende  Mädchennamen,  aber  auch  viel  Geziertes,  Geschmack- 
loses, ja  Unsinniges.    Sehen  wir  uns  einmal  die  nach  den  Geburts- 
registern des  letzten  Jahrzehnts  zusammengestellte  neue  Reihe 
darauf  an,  was  für  bemerkenswerthere  und  früher  noch  nicht  ge- 
nannte Namen  wir  darunter  finden.    Welch  bunte  Gesellschaft, 
diese  Agla'e,  Agneta,  Aimee,  Alma,  Angelica,  Aurora,  Barbara,  Beate, 
Beatrice,  Estretta,  Eveline,  Felke,  Felicia,  France,  Francoise,  Irene, 
Ivonne,  Leoeadic,  Leomla,  Lucy,  Medea,  Mcly,  Sibylle,  Theodosia, 
Theresia,  Victoria,  Viola.    Es  lasst  sich  doch  nicht  leugnen,  dass 
die  Fremdländerei  sich  hier  noch  ungebührlich  breit  macht,  und 
denken  wir  gar  an  die  Anina,  Ina,  Nina,  die  Anine,  Blandine,  Egine, 
Florinc,  die  Annette,  Juliettc,  Minettte,  oder  erst  an  so  abenteuerliche 
Namen,  wie  Elina,  so  wird  zuzugeben  sein,  dass  für  die  Pflege 
guten  Geschmacks  hier  noch  ein  weites  Feld  offen  steht. 

Für  die  hypokoristischen  Formen  wird  wie  bei  den  männlichen 
%  als  Endung  bevorzugt;  daneben  kommt  vielfach  das  dort  seltene 
a  vor,  während  nach  den  aus  früherer  Zeit  erwähnten  Ago,  lledo, 
Lotto,  Nonno  oder  Nttnno  die  Endung  auf  o  uns  nicht  weiter  begegnet. 
Man  vergleiche  Agsi  neben  Aga  (Agnes),  Ahm  (Alma),  Erwi 
(Erwine),  Hcddi  (Hedwig),  Jfelmi  (Wilhelmine),  Libi  (Elisabeth), 
Lisi  (Elise),  Mara  neben  Mag»  und  Marga  (Margarethe),  Mia 
(Marie),  Mini  (Mirjam),  Sonna  und  Sonnt  (Sophie),  Tori  ( Victorie). 
Auch  hier  wieder  ist  es  nicht  immer  eine  Verkürzung,  welche  ge- 
wonnen wird,  und  mehrmals  findet  sich,  wie  wir  das  auch  bei  den 
Knabennamen  sahen,  der  inlautende  Consonant  verdoppelt. 

Dr.  K.  Sali  m  a  u  u. 


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Am  Sarge  Ferdinand  Bergs, 

weil.  Director  der  Stailt-Kealsvhule  zu  Riga. 

GoKpruchen  am  18.  Februar  18S7. 


gern  Manne,  dessen  sterblicher  Hülle  wir  heute  die  letzte 
Ehre  erweisen,  lag  Zeit  seines  Lebens  nichts  ferner  als 
die  Neigung,  seine  Person  und  sein  Wirken  gefeiert  zu  sehen.  Bei 
aller  männlichen  Thatkraft  demüthigen  Sinnes  und  anspruchslosen 
Wesens,  kannte  er  in  Bezug  auf  seiu  Wellen,  geschweige  denn 
auf  sein  Vollbringen  kein  Selbstgenügen.  Ernst  und  schlicht 
trachtete  er  darnach,  in  allen  Stücken  den  guten  Kampf  zu  kämpfen, 
in  keinem  selbst  sich  schätzend,  dass  er  es  vollkommen  ergriffen 
habe.  Wahrlich,  die  ihm  nahe  standen,  die  wissen  es,  dass  au 
seinem  Sarge  kein  tönender  Pauegyrikus  laut  werden  darf,  dass 
hier  es  nur  darum  sich  handeln  kann,  in  der  einfach  treuen  Schil- 
derung seines  harmonisch-gleichmässigen  Erdenlaufes  den  Grund- 
ton vibrireu  zu  lassen,  welcher  seinem  Leben  die  Klangfarbe  ver- 
lieheu  hat.  So  sei  mir  denn  gestattet,  die  wichtigsten  biographi- 
schen Züge  der  Standrede  einzuordnen,  welche  die  Stadt-Realschule 
dem  Gedächtnis  ihres  Organisators  und  ersten  Directors  zu  widmen 
sich  dankbar  gedrungen  fühlt. 

Ferdinand  Berg  gehörte  einer  Familie  an,  welche  vor  nicht 
gar  langer  Zeit  in  den  baltischen  Landen  heimisch  gewordeu  ist. 
Sofern  wir  recht  berichtet  sind,  wanderte  um  die  Wende  des  Jahr- 
hunderts ein  jugendliches  Brüderpaar  aus  dem  jetzigen  Königreich, 
damaligen  Kurfürsteuthum  Sachsen  aus  und  nahm  L  i  v  1  a  n  d  zum 
Reiseziel :  ein  Candidat  des  evangelischen  Predigtamts,  welcher  die 


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Am  Sarge  Ferdinand  Berga. 


473 


ihm  bestimmte  geistliche  Herde,  und  eiu  Buchbindergeselle,  welcher 
den  goldenen  Boden  seines  Handwerkes  im  Norden  am  Ostsee- 
gestade suchte.  Beide  fanden  die  Stätte,  an  welcher  sie  kräftig 
und  gedeihlich  sich  einbürgern  durften,  der  eine  auf  verschiedenen 
estnischen  Pastoraten  des  nördlichen  Livland,  von  dort  als  liv- 
ländischer  Generalsuperintendent  nach  Riga  übersiedelnd,  wo  ihm 
ein  früher  Lebensabend  und  ein  Tod  mitten  aus  der  Vollkraft  ge- 
segneter amtlicher  Wirksamkeit  heraus  beschieden  war,  der  andere 
in  der  alten  livländischen  Herzstadt  Wolmar,  in  welcher  seine 
Arbeit  ihm  ein  Haus  und  eiue  geachtete  bürgerliche  Stellung  schuf. 
Die  männliche  Nachkommenschaft  beider  Brüder  ist  bis  auf  die 
Gegenwart  in  zahlreichen  gelehrten  Berufsarten  thätig  gewesen  ; 
die  Prediger  und  Schulmänner  aus  ihrer  Reihe  aber  sind  in  deu 
letzten  Decennien  vorzugsweise  der  wolmarscheu  Familienlinie  ent- 
stammt. 

Dort  in  Wolmar  nun  wurde  uuser  Ferdinand  Berg,  als  das 
jüngste  Kind  unter  mehreren  Geschwistern,  am  22.  April  1825  ge- 
boren, genoss  die  erste  Erziehung  und  Unterweisung  im  elterlichen 
Hause  und  verlor  im  sechsten  Lebensjahre  seinen  Vater.  Darauf 
empfing  er  weiteren  Unterricht  in  der  Kreisschule  zu  Wolmar  und 
sodann  zu  Wenden,  wo  ihm  die  Familie  seines  Oheims,  des  da- 
maligen Lehrers,  späteren  Inspectors  der  Kreisschule,  Moltrecht, 
liebevolle  Aufnahme  gewährte,  deren  er  sich  aucli  erfreute,  als  er 
nach  absolvirtem  Kreisschulcursus  auf  acht  Jahre  in  die  gymnasiale 
Lehranstalt  zu  Birkeuruh  überging,  povi  unter  der  mustergiltigen 
pädagogischen  Leitung  des  Lehrers  von  Gottes  Gnaden.  Dr.  Albert 
Hollander,  dem  auch  er  zeitlebens  ein  pietätvolles  Andenken  be- 
wahrte, gewann  Berg  in  nachhaltigster  Weise  segensvolle  Eindrücke 
für  Herz,  Gemüth  und  Charakterbildung.  Ausgestattet  mit  der 
trefflichen  Geistesreife,  den  gründlichen  Kenntnissen  und  der  schönen 
sittlichen  Gediegenheit,  welche  die  ehrenvoll  entlassenen  Zöglinge 
der  Erziehungsanstalt  zu  ßirkenruh  auszeichneten,  bezog  Berg  im 
Jahre  1845  die  Laudesuniversität  Dorpat  und  wurde  unter  dem 
fünften  Rectorate  Neues  immatriculirt.  Er  widmete  sich  dem 
Studium  der  Naturwissenschaften,  aus  welchen  er  zum  Specialfach 
die  Zoologie  erwählte.  Seine  akademischen  Jahre  fielen  in  eine 
äusserst  glückliche  Zeitepoche ;  denn  gerade  mit  der  zweiten  Hälfte 
des  vierten  Decenniums  der  Universität  begann  in  Dorpat  jener 
mächtige  Aufschwung  der  naturwissenschaftlichen  Disciplinen,  von 
welchem  die  Forschung  auf  diesem  Wissensgebiete  uoch  heute  au 


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Am  Sarge  Ferdinand  Bergs. 


der  baltischen  Hochschule  getragen  wird.  Der  junge  Student  durfte 
zu  einer  reichen,  mehrfach  glänzenden  Corona  akademischer  Lehrer 
aufblicken,  von  welchen  fast  jeder  zu  fesseln,  anzuregen  und  für 
den  Dienst  der  Wahrheit  zu  erwärmen  wusste.  Da  entfalteten 
ihre  hochbedeutsam  fördernde  Lehrwirksamkeit  der  Geist  und  Leben 
sprühende  Reichert,  der  meisterhafte  Beherrschung  des  Lehrinhaltes 
mit  klassischer  Formvollendung  des  Vortrages  verbindende  ßidder, 
der  mit  Leichtigkeit  die  schwierigsten  Aufgaben  der  Unterweisung 
lösende,  durch  rastlosen  Eifer  zur  wissenschaftlichen  Theilnahme 
unwiderstehlich  hinleitende  Karl  Schmidt,  der  namhafte  Meteorologe 
Kämtz,  der  tüchtige  Systematiker  Grube,  der  umfassend  gelehrte 
und  ausgeprägt  kritisch  veranlagte  Asmuss,  der  feinsinnige  Alexander 
Bunge,  dem  mühevolle  Forschungsreisen  den  weiten  Blick  in  das 
Ganze  der  naturwissenschaftlichen  Disciplinen,  iu  die  tieferen  Zu- 
sammenhänge des  organischen  Geschehens  und  seiner  physikalischen 
Bedingungen  eingetragen  hatten.  —  Aber  der  junge  Naturforscher 
liess  es  nicht  bei  den  nächstliegenden  Fachstudien  bewenden.  Kaum 
wol  aus  einer  Vorahnung  des  Berufsfeldes,  auf  welches  das  Leben 
ihn  einst  stellen  sollte,  sondern  mehr  aus  der  intuitiven  Erkenntnis 
heraus,  dass  der  Leitstern  der  universitas  literarum  ihm  nicht  ver- 
loren gehen  dürfe,  liess  er  sich  den  Besuch  mathematischer  Vor- 
lesungen angelegen  sein.  Auch  nach  dieser  Richtung  wurde  damals 
Treffliches  geboten  ;  so  durfte  Berg  von  der  eminent  klaren  und 
anschaulichen  Lehrgabe  Senffs,  von  dem  gründlichen  Unterrichte 
Mindings  und  von  den  tief  durchdachten,  lebhaft  anregenden  Vor- 
trägen Mädlers  vortheilen  und  hat  später  aus  diesen  Nebenstudien 
reichen  Gewinn  sowol  für  die  Fortschritte  in  seinem  Hauptfache, 
als  auch  für  seine  didaktische  Vorbildung  davongetragen. 

Unter  dem  Einflüsse  so  hervorragender  Lehrer  mit  ihren 
reichen  Gaben  und  Kräften  des  Wissens  und  Könnens  war  es  eine 
Freude  den  Studien  obzuliegen,  und  Ferdinand  Berg  hat  seine 
ganze  Universitätszeit  von  dieser  Freude  durchglühen  lassen.  Zum 
geselligen  Freundesverkehr  herzlich  geneigt,  hat  er  die  wichtigste 
Aufgabe  seiner  akademischen  Jahre  doch  immer  als  die  erste  und 
oberste  festgehalten  und  derselben  alles  untergeordnet.  Da  hat  es 
denn  für  ihn  ein  ernstes,  frisches,  eindringliches  und  nachhaltiges 
Arbeiten  und  Forschen  gegeben,  längere  Zeit  hindurch  in  enger 
Freundesgemeiuschaft  mit  dem  Fachgenossen  Flor,  dem  nachmaligen 
Professor  der  Zoologie  in  Dorpat.  Bei  guten  Gaben,  unermüdlichem 
Fleisse  und  grosser  Treue  in  der  Verfolgung  der  gesteckten  Ziele 


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Am  Sarge  Ferdinand  Bergs.  475 

gelang  es  Berg  nach  vollendetem  Quadriennium,  den  gelehrten 
Grad  eines  Candidaten  der  physiko-mathematischen  Facultät  zu  er- 
werben, nachdem  er  die  Prüfung  glänzend  bestanden  hatte  und 
seine  Inauguralabhandlung,  welche  die  wissenschaftliche  Bestimmung 
der  Brachyuren  des  Stillen  üceans  betraf,  mit  allseitigem  Beifall 
anerkannt  worden  war. 

So  war  die  Scheidestunde  von  der  alma  mater  herangenaht; 
mit  ungewöhnlich  umfassenden,  wohl  fundirten  Kenntnissen  ver- 
sehen, zu  ernster  Charakterreife  gediehen,  verliess  der  junge  Candidat 
im  Jahre  1850  Dorpat.  Die  wissenschaftlichen  Lehrjahre  im  engeren 
Sinne  lagen  hinter  ihm ;  was  konnte  dem  für  sein  Fach  begeisterten 
Jünger  der  Naturforschung  mehr  das  Herz  bewegen  als  der  Ge- 
danke an  den  sofortigen  Anschluss  von  Wanderjahren,  welche  die 
unmittelbar  persönliche  Kenntnisnahme  von  dem  organischen  Natur- 
leben in  verschiedenen  Breiten  und  Graden  des  Erdkreises  ihm  er- 
möglicht hätten  ?  In  der  That  regte  sich  die  Sehnsucht  nach  solchen 
Wanderjahren  lebhaft  in  Berg;  dieser  Gedanke  aber  durfte  für 
den  unbemittelten,  von  früher  Kindheit  an  vaterlosen  Jüngling  das 
Stadium  des  Wunsches  zunächst  nicht  überschreiten.  So  entschloss 
sich  denn  Berg  kraft  des  festen  Sinnes,  der  thfttig  auszuharren  ge- 
lernt hatte,  kurz  und  ohne  Schwanken,  erwarb  1851  das  Diplom 
eines  Privaterziehers  und  war  als  solcher  fast  vier  Jahre  lang 
thätig,  zunächst  auf  dem  Gute  Friedrichshof  im  Hause  des  Herrn 
Behaghel  von  Adlerskron,  sodann  zu  Wolmar  in  der  Familie  des 
Kreisarztes  Dr.  Petersen.  Während  dieser  Zeit  erfüllte  Berg  alle 
Obliegenheiten  seiner  Stellung  auf  das  gewissenhafteste,  ohne  die 
Pläne  einer  einstigen  Forschungsreise  aufzugeben,  welchen  er  viel- 
mehr  alle  seine  Mussestunden  zu  Dienst  stellte.  Mit  der  ihm 
eigenen  ernsten  Beharrlichkeit  betrieb  er  jetzt  zusammenhängende 
Studien  in  der  Geographie,  der  Ethnologie  uud  der  Meteorik  und 
vervollkommnete  sich  in  der  Beherrschung  der  englischen  Sprache, 
alles  dieses  in  der  Erwartung,  dass  eine  Verwirklichung  seines 
sehnlichsten  Wunsches  ihm  nicht  versagt  bleiben  werde.  Und 
wirklich  gelang  es  ihm,  wie  es  scheint,  durch  Vermittelung  des 
Professors  Bunge  und  des  Akademikers  von  Middendorff,  bezüglich 
der  Theilnahme  an  einer  wissenschaftlichen  Expedition  in  die  süd- 
östlichen Grenzländer  Russlands  erfolgreiche  Unterhandlungen  an- 
zuknüpfen. Dieselben  waren  dem  Abschlüsse  schon  greifbar  nahe, 
als  der  Krimkrieg  ausbrach  und  das  erwähnte  Unternehmen  im 
Keime  erstickte.    Berg,  um  eine  verheissungsvolle  Hoffnung  ärmer, 


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Am  Sarge  Ferdinand  Bergs. 


welcher  er  grosse  Opfer  an  Zeit  und  Arbeitsmühe  gewidmet  hatte, 
blieb  unentwegt  in  dem  bisherigen  Wirkungskreise  als  Jugend- 
erzieher. Als  solcher  trat  er  nunmehr  auf  sechs  Monate  in  das 
Haus  des  wolmarschen  Oberpastors  Dr.  Ferdinand  Walter  über 
und  brachte  sodanu  vierthalb  Jahre  in  gleicher  Thätigkeit  auf  dem 
Gute  Schloss  Tirsen  in  der  Familie  des  Barons  Ceumern  zu,  bis 
er  endlich,  nach  fast  achtjährigem  Hauslehrerthun),  im  Januar  1859 
in  eine  öffentliche  Lehr  Wirksamkeit  an  der  Kreisschule  zu  Wolmar 
einrückte,  zu  welchem  Zwecke  er  die  Prüfung  für  das  Amt  eines 
wissenschaftlichen  Kreislehrers  abgelegt  hatte.  Zuerst  stellver- 
tretend angestellt  und  nach  einem  halben  Jahre  bestätigt,  wurde 
er  im  August  1800  nach  dem  Tode  seines  Vorgängers  Hinrichsen 
zum  Inspector  und  ersten  wissenschaftlichen  Lehrer  an  der  Kreis- 
schule zu  Wolmar  ernannt,  welches  Amt  er  dreizehn  Jahre  lang, 
bis  zu  seiner  Ueberführung  nach  Riga,  zu  grossem  Segeu  seiner 
Schulbefohlenen  und  unter  wiederholt  bezeugter  ehrender  Aner- 
kennung seiner  Vorgesetzten  verwaltete. 

Bergs  Lebensbahn  hatte  sich  jetzt  nach  Inhalt  und  Ziel  ent- 
schieden ;  Gottes  Gedanken  und  Wege  mit  ihm  waren  vielfach 
andere  gewesen  als  die  ihm  selbst  vorseh  webenden.  Statt  der 
Vegetation,  den  organischen  Lebens-  und  Formgestaltungen  in 
Steppen  und  Thalklüften,  auf  Bergkämmen  und  Meeresflächen  nach- 
zugehen, sollte  er  die  liebevolle  Erforschung  und  Pflege  des  wunder- 
barsten und  köstlichsten  Mikrokosmus  üben ,  des  jugendlichen 
Menschenherzens,  dessen  Keimen,  Knospen  und  Blühen  bis  zur 
ersten  Fruchtzeitigung  zu  verfolgen  und  zu  behüten  ihm  fortan  oblag. 

Und  Berg  beschritt  den  ihm  gewiesenen  weiteren  Lebensweg 
mit  freudiger  Entschlossenheit  und  bekundete  und  bewährte  immer 
mehr  die  ihm  innewohnenden  Gaben  und  die  treulich  erworbenen 
Fähigkeiten  eines  trefflichen  Pädagogen.  Dazu  brachte  er  aus  der 
unseren  Tagen  und  Verhältnissen  gegenüber  befremdend  langen 
Epoche  seines  achtjährigen  Hauslehrerberufes  beim  Wechsel  der 
privaten  mit  der  öffentlichen  Lehrwirksamkeit  eine  werthvolle  Er- 
rungenschaft mit,  die  hochwichtige  pädagogische  Kunst,  bei  der 
Erziehung  und  dem  Unterrichte  zu  individualisiren.  Er  sollte  es 
in  der  Folgezeit  mit  einer  stetig  wachsenden  Schülerzahl  in  be- 
suchten, ja,  in  überfüllten  Klassen  zu  thun  haben.  Da  gilt  ja 
allerdings  das  Gebot  des  individualisirenden  Verfahrens  als  ein 
selbstverständliches  und  unverbrüchliches,  in  Wahrheit  aber  vermag 
demselben  ohne  ein  beträchtliches  Lehrgeld  an  Fehlgriffen  doch 


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Am  Sarge  Ferdinand  Bergs. 


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nur  ein  Lehrer  gerecht  zu  werden,  welcher  vorgangig  die  Gelegen- 
heit hatte  wahrnehmen  dürfen,  dem  einzelnen  kindlichen  Individuum, 
der,  so  zu  sagen,  in  jedem  Sinne  unpotenzirten  Kindesseele  eine  ein- 
gehende, ungestört  und  un verwirrt  sorgfältige  Aufmerksamkeit  und 
Berücksichtigung  angedeihen  zu  lassen. 

In  Wolmar,  als  Inspector  der  dortigen  Kreisschule,  hat  Berg, 
nach  seinem  eigenen,  oft  wiederholten  Ausspruche,  äusserst  glück- 
liche Jahre  in  befriedigendster  Thätigkeit  verbracht,  insbesondere 
nachdem  er  dort  durch  seine  Vermählung  mit  Fräulein  Antonie 
Schwanck  eine  treue  Lebensgefährtin  und  ein  sonniges  Eheglück 
gefunden  hatte.  Die  alten,  jetzt  allmählich  von  der  ßildfläche 
verschwindenden  baltischen  Kreisschulen  waren  vorzüglich  orgaui- 
sirte  Lehranstalten ,  von  welchen  aus  durch  lange  Decennien 
reiche  Segensströme  der  Volksbildung  zu  gute  gekommen  sind  ;  an 
ihnen  zu  arbeiten  und  zu  wirken,  war  ein  hochehrenvoller  Beruf, 
dessen  Charisma  Ferdinand  Berg  allzeit  thatbereit  zu  würdigen 
nicht  unterlassen  hat.  Aber  auch  das  Leben  an  sich  in  der  kleinen, 
isolirt  belegenen,  von  dem  Weltverkehr  bis  zur  Hoffnungslosigkeit 
immer  mehr  abgedrängten  Aastadt,  welcher  erst  in  den  jüngsten 
Tagen  freundlichere  Perspectiven  sich  eröffnet  haben,  das  Leben  in 
Wolmar  war  ein  frisches  und  gesundes  zu  Bergs  Zeiten  ;  es  herrschte 
dort,  dank  der  Angesessenheit  einiger  geistig  und  gemüthlieh  aus- 
gezeichneter Familien,  ein  Zug  edelster  idealer  und  humaner  Ver- 
bundenheit aller  Stände,  es  pulsirte  dort  ein  der  Hochhaltung  aller 
Bürgertugenden  in  hohem  Grade  aufgeschlossenes  und  günstig  be- 
schaffenes Gemeinwesen ,  dessen  intensive  Bedeutung  weit  über 
seine  extensive  hinausging.  Berg  hat  an  dem  Wohl  und  Wehe 
seiner  Vaterstadt  stets  den  treuesten,  opferwilligsten  Antheil  ge- 
nominen und  überall,  wo  es  Gutes  und  Erspriessliches  zu  schaffen, 
zu  erhalten,  zu  festigen  und  zu  kräftigen  galt,  in  erster  Reihe  ge- 
standen ;  wie  er  zu  den  besten  livländischen  Patrioten  zählte,  so 
gehörte  er  auch  zu  den  hervorragendsten,  thätigsten  Söhnen  und 
Bürgern  Wolmars. 

Habe  ich  bisher  kein  belangreiches  biographisches  Moment 
übergehen  wollen,  weil  es  der  Werdegang  theurer  Männer,  die  uns 
viel  geworden  sind,  ist,  der  vorzugsweise  unser  Interesse  also  er- 
regt, dass  uns  Aufschluss  über  denselben  erwünscht  wird,  so  kann 
ich  mich  kürzer  fassen  in  der  Behandlung  jenes  Lebensabschnittes 
des  verewigten  Freundes,  von  welchem,  die  hier  mit  ihm  gegangen, 
aus  eigener  Wahrnehmung  Kunde  zu  geben  und  Zeugnis  abzulegen 


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Am  Sarge  Ferdinand  Bergs. 


vermögen.  Ferdinand  Berg  ist  ihnen  kein  fremder  Mann  gewesen, 
denn  was  er  in  Wolmar  war,  das  ist  er  bei  seinem  grosseren  und 
somit  verantwortungsvolleren  Wirkungskreise  in  Riga  geblieben : 
ein  wackerer  Bürger  im  lautersten  Vollsinne  des  Wortes,  welcher, 
da  er  zugleich  ein  wackerer,  langbewährter  Pädagoge  war, 
ganz  besonders  geeignet  und  befähigt  sich  erwies,  Rigas  Bürger- 
schule ihrem  Programm  gemäss  in  ihr  Arbeitsleben  einzu- 
führen. 

Am  4.  Juli  1873  wurde  Ferdinand  Berg  seiner  früheren 
Stellung  enthöben  und  gemäss  der  auf  ihn  gefallenen  Wahl  des 
rigaschen  Schulcollegiums  zu  dem  Amte  eines  Inspectors  und  wissen- 
schaftlichen Lehrers  an  der  städtischen  Realbürgerschule  in  Riga 
übergeführt.  Er  eröffnete  diese  Anstalt  am  23.  August  desselben 
Jahres  mit  G  Lehrern  und  ö7  Schülern,  vollzog  seit  dem  August 
1880  die  Reorganisation  derselben  zur  Stadtrealschule  und  wurde 
zum  Director  umbenannt.  Erwägen  wir,  dass  Berg  die  allererste 
Begründung  und  die  fortlaufende  Completirung  der  Schulbibliotheken, 
der  wissenschaftlichen  Cabinette,  des  Zeichen-,  Turn-  uud  Musik- 
saales besorgte,  und  dass  während  seines  Directorates  der  Besuch 
der  Anstalt  auf  f>70  Schüler  mit  29  Lehrern  in  IG  Klassen  ge- 
wachsen ist,  so  gewinnen  wir  ein  Bild  der  gewaltigen  schaffenden, 
erhaltenden  und  weiterführenden  Arbeitsleistung,  welcher  er  während 
der  fast  vierzehn  Jahre  seiner  Thätigkeit  in  unserer  Mitte  gerecht 
geworden  ist.  Nehmen  wir  hinzu,  dass  Berg  an  zahlreichen *  ja  fast 
an  den  meisten  gemeinnützigen  und  an  mehreren  wissenschaftlichen 
Vereinen  unserer  Stadt  sich  lebhaft  betheiligt  hat,  —  wir  nennen 
nur  die  literärisch-praktische  Bürgerverbindung,  den  Naturforscher- 
verein, den  Gewerbverein,  den  kaufmännischen  Verein  und  die 
Taubstummenanstalt  —  so  erhellt,  dass  nur  eine  ungewöhnliche 
Arbeitskraft  bei  einer  äusserst  starken  Constitution  und  einer  bis 
auf  die  tödtliche  Erkrankung  fast  ungetrübten  Gesundheit  ihm  den 
geschilderten  Umfang  seiner  Leistung  ermöglichen  konnte.  Aber 
es  bleibt  dabei  wol  die  Frage  offen,  ob  die  zunächst  nicht  empfundene 
Ueberbürdung  mit  Pflichten ,  welchen  der  für  das  Gemeinwohl 
lebende  Mann  sich  nicht  entziehen  mochte,  die  kräftige  Natur 
nicht  so  weit  beeinflusst  hatte,  dass  sie  zur  Keimstätte  der  ver- 
derblichen Krankheit  wurde.  Es  war  ein  schmerzlicher  Anblick, 
den  einst  so  rüstigen  Freund  durch  Monate  der  langsamen,  aber 
unaufhaltsamen  Entkräftung  anheimfallen  zu  sehen,  zugleich  aber 
ein  erhebender  Trosteindruck  ihn  sterben  zu  wissen  als  eiuen 


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Am  Sarge  Ferdinand  Bergs. 


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in  Deniutli  starken,  uu verzagt  seines  Glaubens  lebenden  evan- 
gelischen Christen. 

Vergegenwärtigen  wir  uns  noch  einmal  das  Bild  unseres  nun 
ausruhenden  Freundes.  Die  Grundzüge  seines  Wesens  waren  die 
Treue  und  Wahrhaftigkeit  mit  dem  Gepräge  der  Schlichtheit ;  aus 
diesem  Doppelkerne  erwuchs  seine  unbeugsam  rastlose  Arbeits- 
bethätigung.  Und  was  den  Menschen  kennzeichnete,  nichts  anderes 
gab  ihm  die  Weihe  zum  rechten  Lehrer  der  Jugend.  Er  nahm  es 
ernst  mit  dem  hohen  Berufe,  über  junge  Seelen  zu  wachen  und 
deren  viele  zur  Gerechtigkeit  zu  weisen  ;  darum  war  er  ein  abge- 
sagter Gegner  jeglicher  pädagogischen  Richtung,  welche  darauf 
hinausläuft,  es  gehen  zu  lassen,  wie  es  eben  gehe,  weil  doch  das 
Leben  erst  die  eigentliche  Schule  für  die  heranwachsende  Generation 
abgebe.  Ihm  gehörten  Erziehung  und  Unterweisung  unlösbar  zu- 
sammen, also,  dass  die  naiözia  weiset  zum  Guten,  während  die 
öiöax'}  ziehet  und  leitet  zum  Wahren,  beide  aber  einheitlicher 
Arbeit  dienen.  Milder  Emst  und  väterliches  Wohlwollen  bildeten 
die  Signatur  seines  Verkehrs  mit  der  Jugend,  welche  seinen  Un- 
willen nur  da,  aber  da  auch  unausbleiblich  zu  gewärtigen  hatte, 
wo  die  Wahrhaftigkeit  verletzt  wurde. 

Aus  der  Seele  war  ihm  geschrieben  das  Wort  des  Tertullian : 
*Nihil  veritas  erubescit,  nisi  solummodo  abscondi»  (die  Wahrheit 
eriöthet  nur,  wenn  sie  verborgen  wird)  —  darum  lag  es  ihm 
so  ernst  am  Herzen,  dem  Gemüthe  der  seiner  Fühlung  anver- 
trauten «lugend  in  der  Schule  für  das  Leben  früh  und  spät  das 
Eine  unverlierbar  einzuprägen,  dass  allein  das  offene  Bekenntnis 
zur  freimachenden  Wahrheit  nichts  zu  scheuen  hat. 

Ein  freudig  dankbares  Gedächtnis  wird  ihm  in  seiner  Stadt- 
Realschule  fortleben,  so  lange  dieses  Schulhaus  den  ernsten  und 
erhabenen  ßildungszwecken  dient,  denen  zum  Frommen  es  erbaut 
wurde  von  den  Vätern  der  unserem  Vollendeten  zur  zweiten  und 
letzten  irdischen  Heimat  gewordenen  Stadt. 

Dr.  Gustav  Poe  1  c  h  a  n. 


Haitische«  MopüU.chria.  M,  XXXV,  lieft  c.  82 


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Deutsche  Schrift-  und  Umgangssprache. 


Jährend  bereits  vierzig  Jahre  lang  Philologen  ersten 
Ranges  mit  grösstem  Eifer  und  recht  lohnendem  Er- 
folge bemüht  sind,  uns  ein  möglichst  klares  Bild  von  dem  Wesen 
der  römischen  Umgangssprache  zu  verschaffen ;  wahrend  durch  die 
Forschungen  Ritschis,  Rönschs,  Lorenz',  Wölfflins,  Laudgrafs  und 
anderer  nachgewiesen  ist,  dass  die  sog.  klassische  Latinität  ausser- 
halb des  Entwickel ungsganges  der  Sprache  stehe,  welcher  vielmehr 
von  dem  archaischen  Latein  durch  den  sermo  vulgaris  der  klassi- 
schen Periode  und  die  nachklassische  Latinität  nach  den  romanischen 
Sprachen  hin  sich  erstreckt:  ist  der  deutschen  Umgangssprache, 
namentlich  der  der  gebildeten  Bevölkerungsschicht,  nur  geringe 
Aufmerksamkeit  zugewandt.  Denn  wenn  auch  über  die  einzelnen 
Volksdialekte  manches  veröffentlicht  ist,  so  fehlt  doch  noch  ganz 
eine  wissenschaftliche  Darstellung  des  deutschen  sermo  cutidianus1. 
In  den  vorliegenden  Zeilen  will  der  Verfasser  versuchen,  in  populärer 
Weise  das  Wesen  und  die  Eigenthümlichkeiten  der  deutschen  ge- 
bildeten Umgangssprache  im  Gegensatz  zur  Schriftsprache  dar- 
zulegen. 

Fragen  wir  uns  zunächst,  welches  das  Material  ist,  auf  das 
wir  unsere  Untersuchungen  gründen  können.  Da  ja  das  Deutsche 
nicht  wie  das  Lateinische  eine  todte  Sprache  ist,  sondern  vielmehr 
zu  den  lebenden  gehört,  so  werden  wir  uns  auch  nicht  auf  Spuren 
des  sermo  cotidianus,  die  in  Schriftwerken  erhalten  sind,  zu  be- 
schränken haben,  sondern  den  mündlichen  Gebrauch  mit  herein« 


1  (Jmgangtmprache  di  r  Gebildeten. 


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Deutsche  Schrift-  und  Umgangssprache.  481 

ziehen  dürfen.  Um  aher  dabei  der  subjectiven  Anschauung  nicht 
gar  zu  viel  Spielraum  zu  lassen,  wollen  wir  das  Hauptgewicht 
stets  auf  die  durch  die  Schrift  fixirte  Umgangssprache  legen,  indem 
wir  wiederum  hierbei  vor  allem  Goethe  ins  Auge  fassen. 

Doch  wie  ?  Ist  denn  nicht  der  durch  die  Schrift  erfolgte  Aus- 
druck der  Gedanken  unbedingt  als  Schriftsprache  aufzufassen? 
Nicht  immer.  Unter  letzterer  verstehen  wir  die  höhere,  gebildetere 
Rede  bei  Völkern,  die  schon  einen  bedeutenden  Grad  von  Cultur 
erreicht  haben  ;  diese  Ausdrucksweise  wird  durch  strenge,  zuweilen 
sogar  pedantische  Regeln  bestimmt,  während  die  Umgangssprache, 
sowol  die  der  Gebildeteren  wie  die  des  Volkes,  sich  zwanglos  nach 
den  im  Wesen  der  Sprache  liegenden  Gesetzen  entwickelt.  Somit 
haben  wir  einerseits  Producte  der  Schriftsprache,  die  blos  oder 
wenigstens  vornehmlich  für  den  mündlichen  Vortrag  bestimmt  sind, 
vor  allem  die  «Rede»  —  lat.  oratio  —  wie  auch  Erzeugnisse  der 
Umgangssprache,  die  durch  die  Schrift  fixirt  sind ;  hierher  gehören 
namentlich  die  Briefe  an  befreundete  Personen ;  ausserdem  auch 
alle  die  literarischen  Werke  oder  doch  Stellen  in  ihnen,  welche 
möglichst  naturwahr  das  Gespräch  einfacher  Leute  oder  auch  die 
ungezwungene  Unterhaltung  Gebildeter  wiedergeben  sollen. 

Wol  ziemlich  allgemein  ist  die  Anschauung  vertreten,  als  sei 
der  sermo  vulgaris  blos  eine  Vergröberung  der  höheren  Ausdrucks- 
weise, der  sogenannten  Schriftsprache,  oder  umgekehrt:  letztere 
wäre  <eine  Vervollkommnung  und  Verfeinerung»  des  ersteren. 
Vielmehr  lassen  sich  beide  gleichmässig  auf  die  Zeit  der  Sprache 
zurückverfolgen,  wo  eben  nur  eine  Ausdrucksweise  existirte,  die 
sowol  Umgangs-  wie  auch  Schriftsprache  war.  Die  anfangs  nur 
geringe  Kluft  erweiterte  sich  allmählich  immer  mehr  und  mehr 
und  wurde  für  das  Neuhochdeutsche  am  grössten  während  der 
Blütheperiode  unserer  Literatur  gegen  den  Schluss  des  vorigen 
Jahrhunderts.  Seit  einiger  Zeit  ist  das  Bestreben  merkbar,  diese 
Unterschiede  wenigstens  theilweise  auszugleichen.  Stets  aber  hat, 
wie  ja  natürlich  ist,  eine  gegenseitige  Beeinflussung  stattgefunden. 
Sehr  richtig  sagt  hierüber  Karl  Heyse  in  seinem  «System  der 
Sprachwissenschaft >» :  «Die  gebildete  Schriftsprache  hat  eigentlich 
nur  eine  ideale  Existenz,  ist  mehr  oder  weniger  ein  künstliches 
Culturproduct ;  es  muss  erlernt  werden.  Reisst  sich  aber  die 
Schriftsprache  von  der  Volkssprache  ganz  los,  so  läuft  sie  Gefahr 


1  Siebe  bei  Lna»    Der  «kiiffu-ln-  l'nterri.-lit    Kirim  1*72. 

32* 


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Deutsche  Schrift-  und  Umgangssprache. 


zu  erstarren  und  endlich  zur  todten  Sprache  zu  werden.  Anderer- 
seits muss,  damit  der  Volksdialekt  nicht  verwildert,  jeder  iu  ihm 
Aufgewachsene  die  Schriftsprache  der  Nation  erlernen,  um  an  dem 
geistigen  Leben  der  Nation  Antheil  zu  haben. >  Auch  Goethe 
sagt  im  sechsten  Buch  von  c  Wahrheit  und  Dichtung  >  :  «Der  Dialekt 
ist  doch  eigentlich  das  Element,  in  welchem  die  Seele  ihren  Athem 
schöpft.»  Und  was  hier  speciell  vom  Dialekt  des  einfachen  Volkes 
gesagt  ist,  lässt  sich  auch  ohne  weiteres  auf  die  gebildete  Umgangs- 
sprache anwenden.  Wol  nur  vereinzelte  Personen  sind  es,  die  im 
Verkehr  des  täglichen  Lebens  genau  all  die  Gesetze  der  Schrift- 
sprache beobachten ;  eine  solche  wird  uus  vorgeführt  in  Freytags 
«Die  verlorene  Handschrift»  im  Professor  Werner.  Von  ihm  sagt 
das  Landkind  Ilse:  «Es  hört  sich  so  gut  an,  denn  Sie  sprechen 
anders  als  wir.  Sonst,  wenn  man  von  einem  sagte:  er  spricht 
wie  gedruckt,  meinte  ich  immer,  es  sei  ein  Vorwurf,  aber  es  ist 
das  richtige  Wort;»  und  an  andererstelle:  «Wenn  er  sprach  und 
die  Worte  so  reich,  gewählt  und  vornehm  aus  seinem  Inneren 

quollen  »    Werner  bediente  sich  eben  der  Schriftsprache 

auch  in  der  Unterhaltung,  Ilse  der  gewöhnlichen  Umgangssprache. 

Nachdem  wir  uns  nun  klar  gemacht  haben,  welches  die 
Grenzen  jener  zwei  Strömungen  in  der  Sprache  sind  und  mit 
welchem  Material  wir  es  bei  unserer  Betrachtung  zu  thun  haben, 
wollen  wir  an  unser  Thema  näher  herantreten  und  die  Unterschiede 
zwischen  der  deutschen  Schrift-  und  Umgangssprache  näher  kennen 
zu  lernen  suchen.  Hierbei  wenden  wir  unser  Augenmerk  zunächst 
auf  den  Wortschatz  jener  zwei  Gebiete,  womit  die  Betrachtung 
einiger  Eigenthümliehkeiten  in  der  Wortbildung  eng  zusammen- 
hängt, sodann  auf  die  Flexion  und  schliesslich  auf  die  Syntax. 

I.    Der  Wortschatz. 

Die  Sprache  ist  ein  lebender  Organismus  und  als  solcher  be- 
ständiger Wandelung  unterworfen.  Gar  manches,  was  am  Anfang 
unseres  Jahrhunderts  als  Regel  galt1,  ist  jetzt  schon  ganz  unge- 
bräuchlich ;  und  auch  unsere  Ausdrucksweise  wird  nach  nicht  gar 
zu  lauger  Zeit  wenigstens  theilweise  als  veraltet  gelten.  Das  über- 
kommene Material   wird  verarbeitet,  manches  wird  aufgegeben, 


1  g.  13.  die  vollständig»  Declination  der  Personennamen :  Noni.  Hans. 
(Jen.  Hunnen?,  Dat.  Hansen,  Aee.  Hansen;  bei  Goethe:  Wielanden,  Starekens, 
Lotten  .*<•. 


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Deutsche  Schrift-  und  Umgangssprache.  483 


Neues  gebildet.  Während  aber  die  Schriftsprache  bei  solchen  Neu- 
bildungen vor  allem  die  logische  Genauigkeit  im  Auge  hat,  strebt 
die  Umgangssprache  namentlich  nach  anschaulichem,  concretem 
Ausdruck.  Daher  werden  in  letzterer  abstracte  Substantiva  ver- 
mieden, dagegen  recht  drastische,  sinnliche  Bezeichnungen  mit  Vor- 
liebe angewandt ;  hyperbolische  Ausdrücke  begegnen  in  grosser 
Menge  und  manche  ursprünglich  nur  von  Thieren  gebrauchte  Be- 
zeichnungen werden  auf  Menschliches  übertragen  ;  kurz,  die  Um- 
gangssprache wendet  sich  im  allgemeinen  mehr  aan  die  Phantasie 
des  Angeredeten  als  an  den  Verstand.  —  Bevor  wir  in  unserer 
Betrachtung  weiter  fortschreiten,  wollen  wir  zum  Belege  für  die 
eben  aufgestellten  Behauptungen  und  zu  ihrer  Erklärung  einige 
aus  Goethes  Briefen  geschöpfte  Beispiele  anführen. 

Dass  die  Umgangssprache  eine  Vorliebe  für  drastische,  con- 
creto Ausdrücke  hat,  die  aus  der  Anschauung  entnommen  sind, 
mögen  folgende  Wendungen  Goethes  belegen:  « Gewissen  und  Schande 
sollen  ihn  zu  Tode  fressen»  (Götz  IV,  3) ;  c meine  Gesundheit 
schwankt  durch  die  Welt»  (Brief  an  Salzmann,  Juni  1771); 
«hängenswerthe  Gedanken»  (B.  a.  Kestner,  10.  Nov.  1772);  «mir 
ist  wieder  eine  Sorge  vom  Halse»  (B.  a.  Kestner,  Mai  1774) ;  cdick 
wie  ein  Federsack»  (B.  a.  Riese  1765) ;  cer  flucht  mir  den  Hals 
voll»  (B.  a.  Käthchen  Schönkopf  1709) ;  «das  Schicksal,  mit  dem 
ich  mich  herumgebissen  habe»  (B.  a.  Elisabeth  Jakobi,  Febr.  1774). 

Einem  ähnlichen  Zwecke  wie  jene  Wendungen  dienen  die  in 
der  Umgangssprache,  auch  der  der  Gebildeten,  häufig  auftretenden 
hyperbolischen  Ausdrücke.  Als  Beispiele  hierfür  nennen  wir : 
«Euer  Brief  hat  mir  himmlische  Freude  gemacht»  (B.  a.  Kestner, 
Dec.  1772) ;  «herzinnigliche  Briefe  schreiben»  (B.  a.  Kestner,  25.  Dec. 
1772);  «der  selige  Inhalt  meines  Lebens»  (B.  a.  Johanna  Fahimer, 
5.  Juni  1775). 

Dass  manche  ursprünglich  nur  von  Thieren  gebrauchte  Be- 
zeichnungen auf  Menschliches  übertragen  werden,  dafür  lassen  sich 
Belege  in  ziemlicher  Anzahl  anführen :  Schnabel  oder  Maul  (statt 
Mund).  Fuchs  (in  der  Studentensprache),  schnattern  (statt  viel 
sprechen),  heulen  (statt  kläglich  weinen),  wiehern  (statt  laut  lachen) 
&c. ;  namentlich  aber  gehört  hierher  eine  grosse  Reihe  der  gebräuch- 
lichsten Schimpfwörter.  Auch  Goethe  liefert  hier  eiuiges  Material ; 
wir  führen  davon  an  :  «dass  Sie  statt  eines  Gelehrten  Ihre  Gesell- 
schaft mit  einem  Rindskopf  vermehrt  haben»  (B.  a.  L.  von  Buri, 
2.  Juni  1704)  ;  «sie  ist  mager  wie  ein  Häring»  (B.  a.  J.  Riese, 


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4.S4  Deutsche  Schrift-  und  Umgangssprache. 

21.  Oet  I7(iö);  cder  nlte  Bock.  seil.  Gottsched  B.  (a.  J.Kiese, 
30.  Oct.  1705);  «es  giebt  eine  Sau»  säl  Glück  (B.  a.  Käthchen 
Schönkopf,  30.  Dec.  17(38). 

Nachdem  wir  nun  über  die  wichtigsten  Eigentümlichkeiten 
in  der  Phraseologie  der  deutschen  Umgangssprache  berichtet  haben, 
ist  es  doch  unbedingt  noth wendig,  dass  wir  auch  auf  die  einzelnen 
Wörter  unsere  Aufmerksamkeit  lenken.  Natürlich  werden  wir  da 
das  Meiste  sowol  in  der  Schrift-  wie  auch  in  der  Umgangssprache 
tiuden ;  doch  ist  andererseits  die  Anzahl  der  Wörter,  welche  blos 
in  der  einen  oder  in  der  anderen  Ausdrucksweise  uns  entgegen- 
treten, nicht  gar  gering.  Wörter  wie:  Fittich,  Ross,  Frevel,  Hort, 
die  Hut,  sonder  (=  ohne),  linde,  harren,  Harm  &c.  werden  wol 
schwerlich  im  sernto  cotidianus  begegnen,  während  wir  andererseits 
in  Goethes  Briefen  eine  Anzahl  von  Ausdrücken  finden,  die  der 
Dichter  unzweifelhaft  um  keinen  Preis  in  seinen  Tasso  oder  seiue 
Iphigenie  aufgenommen  hätte ;  solche  sind :  mutzen,  Gewäsch  und 
Getratsch,  krabbeln,  hudeln,  sudeln,  Gekritz  und  Gekratze,  Rüpel  &c. 

Doch  auch  auf  Einzelheiten  müssen  wir  unseren  Blick  lenken. 

Zunächst  führen  wir  ein  paar  Wendungen  der  deutschen  Um- 
gangssprache an,  welche  mit  der  lateinischen  genau  übereinstimmen. 
Plautus  Aul.  1  V,  9.  IG.  pati  nequeo ;  Pomponius  Vertn.  non  possutn 
pati ;  —  deutsch  :  «ich  kann  es  nicht  aushalten»  (=  ich  kann  nicht 
leben).  Cic.  ad  AU.  XIIL  13.  id  restabat;  Arell.  Fusctts:  hoc  detrat  : 
—  deutsch:  «das  fehlte  noch,  das  hätte  noch  gefehlt!»1  Ferner 
gebrauchen  wir  in  der  Umgangssprache  häufig  statt  des  Ausdrucks 
«ein  solcher»  die  Wendung  «so  ein»  ;  ebenso  bei  Goethe :  wo  er 
die  Schriftsprache  anwendet,  steht  in  der  Regel  «solch»,  «ein 
solcher»  oder  «solch  ein»,  —  in  der  ungezwungenen  Ausdrucks  weise 
stets  «so  ein»:  «Wie  bedenklich  ist  ein  solches  Unternehmen!» 
(Wahlverwandtschaften);  «zur  Ausbildung  eines  solchen  Talentes» 
(Wahl?.);  «solche  Lobeserhebungen  aus  solch  einem  Munde>  (Olea- 
rius  im  Götz)  ;  —  andererseits  in  den  Briefen  ■  so  eine  gewisse 
Traurigkeit ;  so  eine  Sache ;  so  ein  wahrer  Trost ;  so  ein  schöner 
Name. 

Ebenso  verhält  es  sich  mit  den  beiden  Formen  «etwas»  und 
«was»  als  Pronomen  indefinitum  ■  «Kühn  genug,  etwas  aufzuopfern» 
(Wahlv.) ;  «etwas  Bedeutendes  und  Angenehmes»  (Wahlv.)  ;  aller- 

1  Rabling  ViTHiuh  einer  Charakteristik  der  römischen  riiignngfttsprarhcx 
Kiel  1873. 


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Deutsche  Schrift-  und  Umgangssprache. 


485 


diugs  daselbst  auch:  «was  Besseres»  u.  ä.  ;  in  den  Brieten  aber 
stets :  da  schicke  ich  Ihnen  was ;  wenn  ich  was  malen  will ;  ob 
daraus  was  wird. 

Schliesslich  sei  noch  in  aller  Kürze  hingewiesen  auf  den 
prägnanten  Gebrauch  sonst  in  allgemeinerer  Bedeutung  angewandter 
Wörter:  «ich  muss  ins  Colleg,  zu  Gaste»  (B.  a.  J.  Riese,  21.  Oct. 
1765);  «da  er  nach  Persien  ist»  (B.  a.  K.  Schönkopf,  1.  Nov.  1768). 
Ganz  entsprechende  Wendungen  im  lateinischen  sermo  cotidianus 
führt  Rebling  an :  cogitare  Romam,  velle  Romam. 

Was  nun  den  Anhang  zu  diesem  Capitel,  die  Wortbildung, 
anbelangt,  so  sei  da  blos  auf  zwei  besonders  charakteristische  Er- 
scheinungen hingewiesen.  —  Schon  seit  Jahrhunderten  ist  die  Zu- 
sammenziehung von:  «in  dem»  zu  «im»,  «von  dem»  zu  «vom», 
«zu  dem»  in  «zum»,  «bei  dem»  zu  «beim»  gebräuchlich.  Noch 
weiter  aber  geht  seit  der  Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts  die  Um- 
gangssprache :  nach  Analogie  der  angeführten  Contractionen  finden 
wir  in  Goethes  Briefen  auch  Formen  gebildet  wie:  fürn  Narren, 
übern  Kopf,  zun  Füssen,  mitm  Nachbar  &c.  —  Noch  charakteri- 
stischer für  die  Umgangssprache  ist  aber  eine  audere  Erscheinung 
auf  dem  Gebiete  der  Wortbildung  :  das  Streben  nach  anschaulichem, 
drastischem  Ausdruck  veranlasst  häufig,  dem  einfachen  Verb  ein 
Adverbium,  ein  Präfix  vorzusetzen,  wodurch  der  Begriff  mehr 
Leben  erhält,  specialisirt  wird1 :  «der  Begriff,  den  Sie  sich  von  mir 
zusammengemacht  haben»  (B.  a.  Hetzler  jun.,  24.  Aug.  1770); 
«wenn  er  meinen  Vetter  ausschalt»  (B.  a.  K.  von  Klettenberg, 
26.  Aug.  1770);  «herumspazieren»  (B.  a.  Herder,  Juli  1772)  ;  «sich 
herumbeissen»  (B.  a.  E.  Jakobi,  Febr.  1774). 

Hiermit  sei  denn  auch  dieses  Capitel  abgeschlossen.  Wir 
gehen  zum  folgenden  über. 

II.    D  ie  F 1  e  x  i  o  n. 

Jedem,  der,  sein  Augenmerk  auf  die  Flexion  richtend,  Goethes 
(Jorrespondenz  liest,  wird  sofort  die  besondere  Behandlung  der 
Personennamen  auffallen.  Wir  treffen  da  Wendungen  wie:  «Gott- 
scheden habe  ich  noch  nicht  gesehen» ;  «Starekens  Handbuch»  ;  «mit 
Justen» ;  «an  Gleimen».  Doch  hätten  wir  Unrecht,  wollten  wir 
diese  Formen  auf  Rechnung  der  Umgangssprache  setzen.  Greifen 

1  Ueber  eint-  ähnliche  Erscheinung  im  lat.  §.  vutyari*  siehe  Lorenz,  Einl. 
zum  Pseudolua-Comnientar,  Anni.  3t>. 


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486 


Deutsche  Schrift-  und  Umgangssprache. 


wir  irgend  ein  Stuck  nmstergiltiger  Prosa  aus  jener  Zeit  heraus, 
so  linden  wir  dieselbe  Erscheinung.  Wie  bereits  in  einer  An- 
merkung kurz  erwähnt,  haben  wir  es  also  hier  mit  einem  Fall  zu 
thun,  wo  sich  die  deutsche  Sprache  überhaupt  seit  der  letzten 
Blütheperiode  unserer  Literatur  verändert  hat ;  jene  Formen  gelten 
jetzt  als  veraltet. 

Indessen  unterscheidet  sich  auch  gar  wol  in  der  Flexion  die 
Umgangssprache  von  der  Schriftsprache.  -  Zunächst  finden  wir 
die  höchst  merkwürdige  Erscheinung,  dass  im  Vulgärdeutschen  die 
Neigung  herrscht,  den  Plural  auf  —  s  endigen  zu  lassen,  obgleich 
diese  Endung  eigentlich  nur  den  Familiennamen  und  Fremdwörtern 
zukommt.  So  finden  wir  bei  Goethe:  cden  Kerls>  (Götz  I,  1); 
*euern  Bräutigams»  (Götz  I,  4) ;  «unsere  Spectakeis»  (B.  a.  Kestner, 
6.  Oct.  1772)  ;  cdie  Kerls»  (B  a.  Kestner  V);  ja  sogar:  «Mädchens 
und  ßubens»  (B.  a.  Hans  Baff?) ;  «die  Jungens»  (B.  a.  Hans  Buff, 
Juni  1773). 

Ausserdem  scheint  die  Umgangssprache  das  Bestreben  zu 
haben,  die  schwache  Declination,  welche  in  der  Schriftsprache  zu 
Gunsten  der  starken  zurückgedrängt  wird,  festzuhalten;  so  finden 
sich  noch  in  jener  die  älteren  Formen :  des  Bauern,  Nachbarn, 
Märzen  (bei  Goethe  auch  :  Mftrzens) ;  im  Briefe  an  Jakob  Riese 
vom  21.  Oct.  1765  begegnet  uns  als  Nom.  Plr. :  »Truthähnen»  ;  in 
einem  anderen  :  «arme  Schelmen».  Kurz  erwähnt  sei  auch  der 
Plural  «die  Dinger»,  welcher  sich  in  der  Bedeutung  von  «die 
Kinder >  mehrfach  in  Goethes  Briefen  findet. 

Erwähnenswerth  sind  auch  einige  Unterschiede  auf  dem  Ge- 
biete der  Oonjugation.  Zunächst  treten  im  Vulgärdeutschen  die 
einfachen  Formen  des  Conjunctivs,  namentlich  die  des  Imperfects, 
immer  mehr  zurück  vor  den  umschriebenen :  ich  höbe,  er  läge,  wir 
führen  (von  fahren),  ihr  gäbet,  sie  sähen  n.  a.  gehören  fast  aus- 
schliesslich der  Schrittsprache  an  ;  in  der  gewöhnlichen  Ausdrucks- 
weise des  täglichen  Verkehrs  heisst  es  statt  dessen  meist :  ich 
würde  heben,  er  würde  liegen  &c.  Daneben  tritt  auch  das  Streben 
nach  Verkürzung  in  verschiedener  Weise  in  der  Umgangssprache 
auf;  so  finden  wir  bei  Goethe:  «der  Bursch  furcht  —  statt  fürchtet 
—  sich  vor  Hexen»  (Götz  1,3);  «den  haben  sie  geleit»  —  statt 
geleitet  (Götz  I.  1);  «ich  habe  zu  Nacht  gessen»  statt:  gegessen; 
«dass  Ihr  nicht  mitkommen  —  statt  :  mitgekommen  —  seid». 
Aehnlich  auch  in  Goethes  Correspondenz :  französch  (statt :  franzö- 
sisch) ;  Darrscher ;  Liebs,  Freuudlichs  und  Guts. 


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Deutsche  Schrift-  und  Umgangssprache. 


487 


Auf  dem  Gebiet  der  Oomparation  bietet  sieh  nur  wenig  der 
Erwähnung  Werthes.  In  manchen  Fällen,  wo  die  Schriftsprache 
im  Comparativ  und  Superlativ  den  Umlaut  fordert,  bleibt  in  der 
Umgangssprache  der  Grundvoeal  unverändert,  z.  B.  dummer,  arger 
(ähnliches  begegnet  auch  bei  der  Bildung  der  Diminutiva).  Ausser- 
dem zieht  die  Vulgärsprache,  die  ja  überhaupt  eine  Vorliebe  für 
recht  anschauliche  Ausdrücke  besitzt,  dem  verstärkenden  Adverbium 
csehri  die  hyperbolischen  :  furchtbar,  ungeheuer,  schrecklich  —  vor. 

Hiermit  wäre  das  Capitel  von  der  Flexion,  wenigstens  in  den 
wichtigsten  Punkten,  erledigt  und  wir  wenden  uns  nun  dem  letzten, 
noch  übrig  gebliebenen  zu.    Es  handelt  von  der 


Von  jeher  hat  die  Schriftsprache  eine  ganz  besondere  Sorgfalt 
auf  den  Bau  möglichst  architektonischer  Perioden  verwandt,  und 
dass  hierdurch  einerseits  die  Rede  Wohlklang  erhält,  andererseits 
das  logische  Verhältnis  der  einzelnen  Begriffe  und  Gedanken  zu 
einander  deutlich  hervorgehoben  wird,  lässt  sich  ja  nicht  leugnen. 
Aber  dieses  eben  sind  Punkte,  auf  welche  die  vulgäre  Redeweise 
nicht  sonderliches  Gewicht  legt ;  vielmehr  erstrebt  sie,  dem  Sprecher 
selbst  oft  unbewusst,  Einfachheit  der  Construction,  Kürze  und 
drastische  Bildlichkeit  des  Ausdrucks.  Während  es  nun  bei  der 
Periodenbildung  namentlich  auf  geschickte  Handhabung  der  ver- 
schiedenen Nebensätze,  vor  allem  derer,  welche  abstract  logische 
Verhältnisse  ausdrücken,  ankommt,  —  zeigt  die  Umgangssprache 
eine  Vorliebe  für  die  Hauptsätze,  und  was  die  Nebensätze  anbe- 
trifft, so  begegnen  in  der  Umgangssprache  stark  überwiegend  die- 
jenigen, welche  mehr  sinnliche  Verhältnisse  bezeichnen,  also  Sub 
stantiv-,  Adjectiv-,  Local-  und  Temporalsätze.  Zählungen,  welche 
ich  an  Goethes  c  Wahlverwandtschaften  >  und  seinem  Briefwechsel 
(bis  zum  Jahre  1783)  angestellt  habe,  gaben  folgendes  Resultat: 


Natürlich  können  die  hier  angegebenen  Zahlen  bei  einem  so 
wenig  umgrenzten  und  umgrenzbaren  Gebiete,  wie  es  die  Umgangs- 
sprache ist.  nicht  gar  zu  genau  genommen  werden.  Wie  sich 
übrigens  schon  erwarten  Hess,  ergiebt  auch  die  Zählung,  dass  das 


III.  Syntax. 


Wahlverwandtsch. 
vollst.  Haupts,    ca.  44  pCt. 
ellipt.       «         c     1  t 
vollst.  Nebens.     «  4G 
verkürzte    «  9  < 


Briefwechsel 
ca.  52  pCt. 
«     4  « 

.  32  « 
t    12  • 


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1 


488  Deutsche  Schrift-  und  Umgangssprache. 

Bestreben  zu  verkürzen  im  Vulgärdeutsch  ein  stärkeres  ist  als  in 
der  Schriftsprache. 

Da,  wie  wir  gesehen  haben,  in  der  Umgangssprache  die  logische 
Unterordnung  häufig  gelockert  erscheint,  so  darf  es  uns  auch  nicht 
wundern,  wenn  nicht  selten  dort,  wo  die  Schriftsprache  den  Con- 
juuctiv  verlangt,  in  der  vulgären  Ausdrucks  weise  der  Indicativ 
auftritt ;  hierdurch  wird  denn  oft  das  hypotaktische  Satzverhältnis 
in  ein  parataktisches  verwandelt.  Diese  Erscheinung  begegnet  uns 
übrigens  nicht  nur  im  Deutschen,  sondern  findet  sich  auch  im 
weitesten  Umfang  im  Lateinischen1  und  lässt  sich  wol  auf  das 
Streben  nach  Lebendigkeit,  Kraft  und  Anschaulichkeit  des  Aus- 
drucks, sowie  nach  Vereinfachung  "der  Grammatik  zurückführen. 
Zum  Belege  mögen  wiederum  Beispiele  folgen;  im  «Götz»  finden 
wir  die  Wendungen:  «Sag  ihm,  er  soll  munter  sein>  ;  «bitt  ihn, 
er  soll  lustig  sein»  ;  «denkt,  ihr  seid  wieder  einmal  beim  Götz»  ; 
in  Goethes  Briefen  :  «Sagt  ihm,  er  soll  mehr  ins  Detail  gehen»  &c. 

Obgleich  in  jeder  Form  des  Indicativs  und  Conjunctivs,  wenn 
auch  schwer  mehr  erkenntlich,  ein  pronominales  Element  steckt1, 
welches  Subject  des  einfachen  Satzes  ist,  so  fordert  doch  die  neu- 
hochdeutsche Schriftsprache,  welche  das  Gefühl  für  jene  Bildungen 
verloren  hat,  dass  das  Subject  durch  ein  besonderes  Wort  noch 
extra  ausgedrückt  werde.  Das  Vulgärdeutsch  hat  sich  hierin,  wie 
auch  in  gar  manchem  anderen,  alterthümlicher  erhalten  ;  solchem 
Gebrauche  folgend,  schreibt  z.B.  Goethe:  «Ende  (ergänze:  ich) 
jetzt»  ;  «war  gar  nichts  mit  ihm  zu  thun»  (ergänze:  es);  «werdet 
(ihr)  sehen»  ;  «wollte  (ich),  ich  sässe  noch». 

In  ähnlicher  Weise  lassen  wir  in  der  Umgangssprache  zu- 
weilen an  Stellen,  wo  es  die  strenge  Grammatik  nicht  gestattet, 
den  Artikel  fort,  der  ja,  im  Grunde  genommen,  gleichfalls  nichts 
anderes  als  ein  hinweisendes  Pronomen  ist.  Goethe  schreibt: 
«Euer  Brief  war  Trostschreiben»  ;  «geben  Sie  die  vier  fl.  für  Zeitung 
Bornen»  u.  ä. 

Auch  in  der  mustergiltigen  Prosa  finden  wir  zuweilen  den 
blossen  Accusativ  zur  Angabe  der  Zeitbestimmung  auf  die  Frage 


*  Näheres  hierüber  siehe  bei  Schmalz  in  der  Zeitschrift  f.  d.  (iymn.  Wesen 
N.  F.  XV.  pag.  87  ff. 

*  Ganz  besonders  deutlieh  hat  sich  dieses  in  der  altindischen  und  griechi- 
schen Conjugation  erhalten,  während  das  Deutsche  bereits  in  alter  Zeit  seine 
vollen  Kndnngen  eingebüast  hat.  Das  gricch.  SiÖüVfJt  Midn-mii  z.  B.  enthält  im 
zweiten  Theil  denselben  Stamm,  den  wir  in  *mh>  und  «mich»  noch  besitzen. 


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Deutsche  Schrift-  und  Umgangssprache.  489 

wann  V  angewandt,  namentlich  bei  der  Bezeichnung  der  Wochen- 
tage. Viel  weiter  geht  dieser  Gebrauch  im  sermo  cotidianus  ;  halten 
wir  uns  wieder  an  Goethe:  cGott  gebe  mir  das  neue  Jahr,  was 
mir  gut  ist»  (die  Grammatik  verlangt:  im  neuen  Jahr) ;  «wenn  ich 
Ostern  käme»  (zu  Ostern) ;  «ich  komme  den  Sommer»  (im  Sommer)  &c. 

Um  die  Aufmerksamkeit  des  Hörers  mit  möglichster  Inten- 
sivität  auf  den  dem  Redenden  vor  Augen  schwebenden  Gegenstand 
zu  richten,  liebt  es  sowol  die  lateinische  wie  auch  die  deutsche 
Umgangssprache,  das  bereits  genannte  Substantiv  durch  ein  Pro- 
nomen oder  Adverbium  wieder  aufzunehmen.  Rebling  führt  unter 
anderen  aus  dem  Plautus  die  Stellen  an :  pater  tuus  i  s  erat  patcr 
jxitruelis  meus  und  pone  aedem  Castoris  ibi  sunt  homines.  Gross 
ist  die  Zahl  derartiger  Wendungen  bei  Goethe ;  wir  nennen  blos : 
*  Groschen  die  sind  hier,  wie  Kreuzer  bei  euch»  ;  «meine  Kennt- 
nisse habe  ich  die  nicht  alle  durch  SieV» 

Schliesslich  erwähnen  wir  noch,  dass  sich  das  Vulgärdeutsch 
in  Bezug  auf  die  Construetionen  in  jeder  Hinsicht  die  grössten 
Freiheiten  gestattet,  da  es  ihm,  wie  schon  mehrfach  bemerkt,  be- 
deutend weniger  auf  die  logische  Genauigkeit  uud  das  Einhalten 
all  der  von  den  Grammatikern  aufgestellten  Regeln,  als  auf  Kürze 
und  Einfachheit  des  Ausdrucks  ankommt.  So  begegnen  uns  denn 
auch  in  den  Briefen  unseres  Altmeisters  in  grosser  Anzahl  Wen- 
dungen, wie  sie  jeder  Lehrer  bei  seinen  Quartanern  und  Tertianern 
ohne  Bedenken  durch  dicke  rothe  Striche  verziert.  Wir  wollen 
pietätvoll  blos  ein  paar  Fälle  angeben  :  « Euer  Weib,  die  (statt : 
das)  Gott  segne  uud  ihr  (statt :  dem  er)  solche  Freude  gebe»  ; 
«Blumen,  die  ich  aufprobirt  und  mich  vorm  Spiegel  ausgelacht 
habe» ;  «an  Euer  Schicksal  und  (ausgelassen  ist :  Euere)  Entfernung». 

Diese  rein  grammatische  Partie  mag  den  Leser,  wenn  er  sie 
nicht  ganz  überschlagen  hat,  gehörig  gelangweilt  haben  ;  trotzdem 
konnte  sie  ihm  nicht  erlassen  werden,  wenn  er  einen  klaren  Blick 
über  die  Hauptunterschiede  zwischen  unserer  Schrift-  und  unserer 
Umgangssprache  gewinnen  wollte.  Falls  aber  sich  jemand  die 
Mühe  gemacht  hat,  die  Beispiele  recht  zu  beachten,  so  wird  es 
ihm  aufgefallen  sein,  dass  gar  keine  Citate  aus  Briefen,  die  Goethe 
in  späteren  Jahren  (etwa  nach  1786)  geschrieben  hat,  angeführt 
sind.  Der  Grund  aber  hierfür  ist  folgender.  Nachdem  Goethe 
seine  Sturm-  und  Drangperiode  überwunden  hatte,  setzte  er  alles 
daran,  sich  von  jeglichen  Schlacken  zu  reinigen  und  seine  ganze 
Persönlichkeit  möglichst  harmonisch  und  künstlerisch  aus-  und  durch- 


Deutsche  Schrift-  und  Umgangssprache. 


zubilden.  Da  ihm  nun,  namentlich  seit  seiner  Rückkehr  aus  Italien, 
die  vulgäre  Ausdrucksweise  roh  vorkam,  so  streifte  er  sie  ab  und 
wandte  seitdem  auch  in  der  Correspondenz  fast  ausschliesslich  die 
strengere  und  ausgebildetere  Sprachform  an. 

Bisher  haben  wir  uns  damit  begnügt,  die  beiden  Haupt- 
strömungen in  der  Sprache  zu  untersuchen  und  zu  charakterisiren. 
Jetzt  zum  Schluss  sei  noch  ein  kurzer  Hinweis  darauf  gestattet, 
dass  jede  dieser  Hauptströmungen  nicht  ein  untheilbares,  in  sich 
vollständig  abgeschlossenes  Ganzes  darstellt,  sondern  sich  wiederum 
in  Unterarten  zerlegt.  Bei  der  Schriftsprache  ist  bekanntlich 
zwischen  Prosa  und  Poesie  zu  scheiden  ;  wir  haben  in  unserer  Ab- 
handlung fast  ausschliesslich  die  erstere  berücksichtigt ;  letztere 
hat  manche  von  jener  abweichende  Gesetze,  ja  in  einigem  stimmt 
sogar  die  Kunstpoesie  geradezu  mit  der  Umgangssprache  überein1. 
—  Auch  in  der  Umgangssprache  lassen  sich  verschiedene  Richtungen 
beobachten  ;  die  lateinischen  Forscher  auf  diesem  Gebiet  scheiden 
folgende  strmones  (Redeweisen):  cotidianus,  familiaris,  plebejus, 
rusticus  und  pcrcgrinus ;  die  beiden  ersteren  sind  nicht  wesentlich 
unterschieden  und  werden  von  der  gebildeten  Klasse  im  zwanglosen 
Gespräch  angewandt ;  der  plebejus  bezeichnet  die  Sprechweise  der 
einfachen  städtischen  Bevölkerung,  der  s.  rusticus  die  der  Land- 
bevölkerung ;  der  sermo  peregrinus  schliesslich  findet  sich  in  Grenz- 
landen und  sein  Charakteristicum  besteht  in  dem  Durchwobensein 
mit  fremdsprachlichen  Elementen.  Interessant  ist  es,  dass  wir  die 
meisten  dieser  Sprechweisen  in  Goethes  Götz  vertreten  finden. 
Olearius  hält  sich  streng  an  die  Schriftsprache,  durch  die  Reiter 
ist  die  plebejische  Rede  vertreten,  die  Bauern  sprechen  im  Land- 
dialekt {s.  rust.),  die  übrigen  bedienen  sich  ineist  des  sermo  cotidianus. 

Beide  jene,  wie  wir  gesehen  haben,  von  recht  verschiedenen 
Principien  ausgehenden  Hauptrichtungen,  sowol  die  Schrift-  wie 
auch  die  Umgangssprache,  haben  aber  ihre  volle,  durch  die  Ge- 
schichte der  menschlichen  Geistesentwickelung  nachgewiesene  Be- 
rechtigung. Erstere  ist  das  hervorragendste  geistige  Bindemittel 
zwischen  den  einzelneu  Vertretern  und  Stämmen  der  deutschen 
Nation  und  sichert  hierdurch  die  nationale  Einheit,  wie  sie  es  be- 
reits zur  Zeit  der  Erniedrigung  Deutschlands  bewiesen  hat.  Die 

1  (Jans  kurz  hingewiesen  Bei  ss.  B.  auf  «las  Streben  nach  Anschaulichkeit 
(abgesehen  von  <ler  logischen  Strenge) ;  auch  in  der  Fortlassung  des  pronominalen 
Suhjects  stimmen  beide  überein  ;  vergl.  etwa  den  Anfang  von  Goethes  Lied  au 
den  Mond:    Füllest  wieder  Busch  und  Thal  &e. 


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Deutsche  Schrift-  und  Umgangssprache.  491 

Umgangssprache  andererseits,  zu  welcher  ja*  auch  die  Volksdialekte 
(s.  rttst.)  gehören,  hat  ihren  hohen  Werth  darin,  dass  blos  sie  einen 
richtigen  Begriff  von  dem  allgemeinen  Wesen  der  Sprache  gewährt, 
indem  sie  ungekünstelt  und  unverfälscht  nur  den  in  der  Sprache 
selbst  begründeten  Gesetzen  der  Entwickelung  folgt,  durch  keine 
Dressur  zu  Willkürlichem,  wenn  solches  auch  kunstvoll  erscheinen 
und  wohlklingend  sein  mag,  gezwungen.  Und  daher  thut  man 
jedenfalls  wohl,  wenn  man  auch  auf  diesem  Gebiet  neben  der 
Zentralisation  und  Universalität  dem  Particularismus  und  der 
Originalität  ihr  Recht  lässt. 

Oberlehrer  R.  W  esterm  a  n  n. 


•  ilv.-»v'jr^'. 


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Zur  inneren  Colonisation  in  Preussen. 


3fi[jn  der  Geschichte  des  preussischen  Volkes  und  Staates  nimmt 
Igjjj  die  der  inneren  Colonisation  zugewendete  Thätigkeit  eine  be 
deutsame  und  wichtige  Stellung  ein.  Die  Namen  der  ausgezeich- 
netsten und  gewaltigsten  Herrscher,  welche  die  Hohenzollernsche 
Monarchie  aufzuweisen  hat,  die  Namen  des  grossen  Kurfürsten  und 
des  Philosophen  von  Sanssouci,  dem  die  Geschichte  den  Beinamen 
des  Grossen  mit  besserem  Rechte  gegeben  hat  als  irgend  einem 
Monarchen,  sind  in  untrennbarer  Weise  mit  dieser  gewaltigen  That 
verbunden.  Preussens  Herrscher  haben  sich  von  jeher  nicht  nur 
bemüht,  durch  Urbarmachen  von  Wüsteneien,  Einöden  und  Jagd- 
gründen das  Ackerland  des  Staates  zu  erweitern  und  zu  vermehren; 
sie  haben  sich  nicht  damit  begnügt,  durch  Austrocknung  von  Mooren 
und  Sümpfen,  durch  Trockenlegung  wasserreicher  Triften  und  Weiden 
das  der  Herrschaft  des  Pfluges  unterworfene  Land  zu  vergrössern  ; 
sie  haben  ihre  colonisatorische  Aufgabe  auch  nicht  damit  als  .gelöst 
und  erfüllt  betrachtet,  dass  sie  die  einer  überwundenen  Rechts-  und 
Wirthschaftsperiode  angehörigen  Schranken  und  Fesseln  der  Ent- 
faltung  individueller  Kraft  beseitigten,  sondern  ihre  Sorge  auch  dar- 
auf gerichtet,  an  Stelle  grosser  Latifundien  zahlreiche  kleinere  und 
ertragsfähige  Bauernstellen  zu  schaffen  und  hierdurch  einen  sess- 
haften,  besitzenden  Bauernstand  ins  Leben  zu  rufen,  welcher  die 
bessere  und  intensivere  Ausnutzung  des  Bodens  ermöglicht  und  zu- 
gleich die  gleichsam  ans  Granit  gehauene  Grundlage  des  Staates 
bildet.  Der  grosse  Kurfürst  war  der  erste  Herrscher,  welcher  in 
grösserem  Umfange  colonisirte,  und  dank  seiner  Oolonisatinnspolitik 


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Zur  inneren  Colonisation  in  Preussen. 


493 


gelang  es,  das  durch  die  Leiden  und  Lasten  des  d reissigjährigen 
Religionskrieges  in  schwerster  Weise  heinigesuchte  Land  wieder  zu 
heben,  zu  bevölkern  und  ihm  einen  angesehenen  Platz  in  der  Staaten- 
welt zu  erwerben.  Bereits  unter  Friedrich  Wilhelm  I.  nahm  die 
Colonisation  einen  bedeutenden  Aufschwung.  In  der  Provinz 
Preussen  wurden  während  der  Regierung  dieses  Fürsten,  der  seinen 
Schutz  und  seine  Hilfe  ganz  besonders  seinen  bedrängten  Glaubens- 
genossen angedeihen  Hess,  15508  Salzburger  Protestanten  ange- 
siedelt, von  welchen  kaum  der  dritte  Theil  wohlhabend  genug  war, 
um  die  Beihilfe  des  Königs  entbehren  zu  können.  Ausser  ihnen 
wurden  Mennoniten,  Schweizer,  Böhmen,  Pfälzer,  Schlesier,  Oester- 
reicher &c.  sesshaft  gemacht,  so  dass  am  Schlüsse  seiner  Regierung 
eine  Menge  lebens-  und  leistungsfähiger  Besitzstellen  gebildet  war. 
Den  Höhepunkt  erreichte  aber  die  innere  Oolonisationspolitik  unter 
Friedrich  dem  Grossen.  Hatte  dieselbe  unter  seinen  Vorgängern  nur 
populationistische  Zwecke  gehabt,  war  sie  im  grossen  und  ganzen 
nur  von  dem  Bestreben  geleitet  gewesen,  die  Bevölkerungszahl 
des  Staates  zu  heben  und  hierdurch  das  Misverhältnis  zu  beseitigen, 
welches  zwischen  dem  Flächenraum  der  Monarchie  und  der  Menschen- 
menge, die  sie  bewohnte,  bestand,  so  verfolgte  die  Politik  des 
grossen  Königs  neben  jenem  populationistischen  auch  einen  natio- 
nalen Zweck,  nämlich  den  der  Stärkung  des  deutschen  Elementes 
in  seinen  Landen.  Mit  der  vollen  Energie,  die  der  König  auf 
allen  Gebieteu  der  Staatsverwaltung  entfaltete,  hielt  er  auch  diesen 
Gesichtspunkt  fest.  Man  hat  berechnet,  dass  während  der  4G 
Regierungsjahre  dieses  gewaltigen  Fürsten  über  300,000  Colonisten 
sich  in  Preussen  ansiedelten,  von  welchen  beinahe  250,000  dem 
landwirtschaftlichen  Beruf  angehörten.  Angeregt  durch  das  Bei- 
spiel des  Königs,  ans  den  Latifundien  der  Krone  Colonistenstellen 
zu  schaffen,  sahen  sich  viele  der  Grossgrundbesitzer  veranlasst,  ein 
Gleiches  zu  thun  und  auf  ihren  Besitzungen  Häuslerstellen  zu 
gründen.  Der  König  begünstigte  dieses  Vorgehen  in  hohem  Grade, 
er  gewährte  den  Grossgrundbesitzern  reichliche  Unterstützung  aus 
Staatsmitteln  bei  der  Begründung  von  Colonistengütern  und  ver- 
wandte seinen  vollen  Einfluss  darauf,  um  auch  die  Geistlichkeit  zu 
bestimmen,  auf  den  der  Kirche  gehörigen  Besitzthümern  in  gleicher 
Weise  colonisatorisch  vorzugehen.  Nach  beiden  Seiten  war  die 
Mühe  des  Königs  von  bestem  Erfolge  gekrönt.  Seit  dem  Tode 
Friedrichs  d.  Gr.  wurde  der  Oolonisationspolitik  nur  noch  in  ge- 
ringem Masse  Aufmerksamkeit  geschenkt.   Zwar  hatte  Friedrich 


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494 


Zur  inneren  Colonisation  in  Preussen. 


Wilhelm  II.  den  Plan,  in  einigen  Provinzen  die  Domänen  zq  zer- 
schlagen und  deutsche  Colonisten  auf  den  einzelnen  Parcellen  an- 
zusiedeln ;  derselbe  scheiterte  aber  theils  in  Folge  des  Widerstandes, 
welchen  die  Minister  und  obersten  Beamten  ihm  entgegensetzten, 
theils  in  Folge  schlimmster  Fehler,  die  bei  der  Ausführung  gemacht 
wurden.  Unter  Friedrich  Wilhelm  III.  wurden  zwar  einige  neue 
Colonisten  angesiedelt,  die  in  anderen  Ländern  des  Glaubens  wegen 
bedrückt  waren,  indessen  sind  die  Colonisiruugen  unter  seiner 
Regierung  im  ganzen  nur  unbedeutend  gewesen.  Mit  der  Herrschaft 
dieses  Monarchen  schliesst  die  sogenannte  ältere  Colonisationsperiode 
in  Preussen  ab,  welche  sich  dadurch  charakterisirt,  dass  man 
Personen,  die  noch  nicht  dem  preussischen  Staats  verbände  ange- 
hörten, in  dessen  Grenzen  hereinzog  und  auf  Gebieten  ausiedelte, 
welche  zum  grössten  Theile  noch  uncultivirt  waren  und  der  Culti- 
vation  seitens  der  neuen  Eigenthümer  harrten. 

Wesentlich  anders  geartet  ist  die  jüngere  Colonisation,  welche, 
freilich  nur  in  sehr  unbedeutendem  Umfange,  nach  Beendigung  der 
Befreiungskriege  eingeleitet  wurde.  Diese  geht  dahin,  grössere 
Gtttercomplexe,  Domänen  im  socialpolitischen  Interesse  zu  parcelli- 
ren  und  auf  den  Parcellen  Bauern  als  Eigenthümer  oder  als  Pächter 
anzusiedeln.  Die  überaus  bedenklichen  Zustände,  welche  die  Ver- 
theilung  des  Grundbesitzes  in  vielen  Gegenden  zeigte,  das  fort- 
schreitende Verschwinden  eines  selbständigen  Bauernstandes  und 
die  fortschreitende  Bildung  eines  Latifundien wesens  veranlassten 
die  Regierung,  ihr  Augenmerk  auf  die  Kräftigung  und  Verstärkung 
des  kleinen  Bauernstandes  zu  richten.  Unter  der  Regierung  Fried- 
rieh  Wilhelms  IV.  wurden  in  den  vierziger  Jahren  auf  verschiedenen 
Domänen  in  den  Provinzen  Preussen,  Posen  und  Pommern  Bauern 
angesiedelt,  indessen  waren  die  Ergebnisse,  welche  man  mit  diesen 
Colonisationsversuchen  erzielte,  so  unbefriedigend,  dass  man  die 
Parcellirung  mit  dem  Jahre  1853  überhaupt  wieder  einstellte.  In 
den  folgenden  Jahren  ruhte  die  Colonisation  gänzlich,  erst  im  An- 
fange der  siebenziger  Jahre  entschloss  sich  die  Regierung,  veran- 
lasst durch  Anregungen  seitens  des  preussischen  Abgeordneten- 
hauses, vier  grössere  Domänen  zu  parcelliren ;  die  Resultate,  zu 
welchen  dies  fühlte,  Hessen  sich  zwar  nicht  als  besonders  günstige 
bezeichnen,  berechtigten  aber  andererseits  eben  so  wenig  zu  einer 
Entmuthiguug  oder  zu  einem  gänzlich  absprechenden  Urtheil  über 
die  Colonisation  überhaupt. 

In  eine  neue  Phase  ist  die  preussische  Colonisationspolitik 


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495 


durch  die  Massnahmen  getreten,  welche  der  Staat  in  einigen  der 
ehemals  unter  polnischer  Herrschaft  stehenden  Landestheilen  im 
Interesse  des  Schutzes  des  deutschen  Elementes  für  nothwendig 
erachtete.    Bereits  seit  einiger  Zeit  erregte  die  Zurückdrängung 
des  deutscheu  Elementes  in  den  Provinzen  Posen  und  Westpreussen 
durch  das  polnisch-slavische  in  Verbindung  mit  der  Steigerung  einer 
auf  Losreissung  dieser  Gebiete  gerichteten  Agitation  ernste  Be- 
denken bei  der  preussischen  Regierung,  welche  zunächst  zu  einer 
umfassenden  Ausweisung  der  slavischen  Ausländer  aus  den  östlichen 
Landestheilen  führten.   Allein  diese  Massregel  konnte  nicht  genügen, 
um  dem  Fortschritt  der  «Polonisirung>  der  erwähnten  Gegenden 
ein  Hindernis  in  den  Weg  zu  legen.    Zu  Beginn  der  Eröffnung 
der  Landtagssession  für  1886  kündigte  deshalb  die  Thronrede  Mass- 
nahmen der  Regierung  zur  Sicherstellung  des  Bestandes  und  der 
gedeihlichen  Fortentwickelung  der  deutschen  Bevölkerung  in  einigen 
Provinzen  an.    Sowol  das  Abgeordnetenhaus  wie  das  Herrenhaus 
erklärten  sich  in  Anlehnung  an  diese  Ankündigung  bereit,  die 
Regierung  auf  dem  von  ihr  bezeichneten  Wege  zu  unterstützen 
und  die  erforderlichen  Mittel  zur  Durchführung  der  als  nothwendig 
erachteten  Massregeln  bereitwilligst  zur  Verfügung  zu  stellen. 
Unter  dem  8.  Februar  188<J  wurde  demnächst  seitens  der  Staats- 
regierung der  Entwurf  eines  Gesetzes  betreffend  die  Beförderung 
deutscher  Ansiedelungen  in  den  Provinzeu  Westpreussen  und  Posen 
dem  Abgeordnetenhause  vorgelegt.     In  demselben  verlangte  die 
Regierung  die  Bewilligung  von  hundert  Millionen  Mark,  um  mit 
denselben  zur  Stärkung  des  deutschen  Elementes  gegen  polonisi- 
rende  Bestrebungen  durch  Ansiedelung  deutscher  Bauern  und  Arbeiter 
Grundstücke  zu  kauten,  die  etwa  nothweudigen  Kosten  der  ersten 
Einrichtung  und  der  ersten  Regulirung  der  Gemeinde-,  Kirchen-, 
Schulverhältnisse  neuer  Stellen  von  mittlerem  oder  kleinem  Um- 
fange oder  ganzen  Landgeraeinden  zu  bestreiten,  ohne  Unterschied, 
ob  diese  auf  besonders  dazu  angekauften  oder  sonstigen  dem  Staate 
gehörigen  Grundstücken  errichtet  werden  sollten.    Die  Ueberlassung 
an  die  Colonisten  sollte  zu  Eigenthum  oder  iu  Zeitpacht  und  zwar 
gegen  eine  angemessene  Entschädigung  des  Staates  erfolgen,  welche 
zu  dem  Hundertmillionenfonds  zu  fliessen  hätte.    Die  Ausführung 
des  ganzen  Gesetzes  übertrug  der  Entwurf  einer  besonderen  dem 
Staatsministerium  unterstellten  Commission,  deren  Zusammensetzung 
dem  Erlass  einer  königlichen  Verordnung  vorbehalten  blieb.  Der 
Entwurf  wurde  seitens  des  Abgeordnetenhauses  einer  Commission 

UaUUch«  M..n»t«ol.rift,  Rand  XXXV!.  Heft  ft.  33 


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Zur  inneren  Colonisation  in  Preussen. 


überwiesen,  welche  wichtige  Aenderungen  und  Ergänzungen  mit 
demselben  vornahm.  Die  Commission  war  der  Ansicht,  dass"  es 
erforderlich  erscheine,  neben  der  Ueberlassung  der  Parcellen  in 
Zeitpacht  oder  als  Eigeuthum  gegen  Capitalabfindung  noch  eine 
dritte  Ueberlassungsform  einzuführen.  Man  erwog  hierbei,  dass, 
wenn  der  Staat  grosse  Mittel  aufwende,  um  einen  Theil  des  Grund- 
besitzes in  den  polnischen  Provinzen  in  deutsche  Hände  zu  bringen, 
er  auch  im  höchsten  Grade  ein  Interesse  daran  habe,  das  Fort- 
bestehen der  einzelnen  Colonien  in  deutscher  Hand  zu  sichern. 
Nicht  nur  das  allgemeine  socialpolitische  Interesse,  dem  Latifundien- 
besitz entgegenzuwirken,  musste  ihn  veranlassen,  es  durch  alle  der 
Gesetzgebung  zu  Gebote  stehenden  Mittel  zu  verhüten,  dass  der 
Besitz  der  deutscheu  Colonisten  im  Laufe  der  Zeit  wieder  in  polnische 
Hände  übergehe,  sondern  auch  politische  Erwägungen  und  Motive 
mussten  ihn  zu  demselben  Gedanken  führen.-  Es  musste  der  Regie- 
rung die  Möglichkeit  geboten  werden,  in  durchaus  bestimmender 
Weise  einen  Einfluss  auf  die  Besitzveränderungeu  auszuüben,  um 
es  zu  verhindern,  dass  in  Folge  schlechter  Wirthschaft  der  Coloni- 
sten eine  Verschiebung  der  ßesitzverhältnisse  in  nicht  erwünschter 
Weise  eintrete  und  dadurch  sowol  der  politische  wie  der  social- 
politische Zweck  der  grossen  Unternehmung  vereitelt  werde.  Ein 
solcher  Einfluss  ist  natürlich  der  Regierung  bei  der  Ueberlassung 
einer  Colonistenstelle  gegen  Capitalleistuug  zu  vollem  Eigenthum 
von  vornherein  abgeschnitten  und  der  Entwurf  Hess  um  deswillen 
auch  alternativ  neben  der  Ueberlassung  zu  Eigenthum  die  Zeitpacht 
als  Ueberlassungsform  zu.  Allein  die  Zeitpacht  hat  das  grosse 
Bedenken  gegen  sich,  dass  sie  den  Pächter  niemals  zu  einer  inten- 
siven Bewirtschaftung  seines  Pachtgutes  veranlasst ;  das  Bewusst- 
sein,  dass  er  nur  während  einer  kurzen  Frist  sich  im  Besitze  des 
Gutes  befinde,  verhindert  ihn,  sich  die  Hebung  und  Förderung  des 
wirtschaftlichen  Betriebes  möglichst  angelegen  sein  zu  lassen ; 
das  mangelnde  Selbstinteresse  ist  die  Ursache,  dass  er  die  Wirth- 
schaft schlendrianmässig  betreibt,  stets  darauf  bedacht,  einen  seine 
Pachtsnmme  möglichst  übersteigenden  Ertrag  zu  erzielen  und  immer 
von  dem  Gedanken  beseelt,  jede  ausserordentliche  Thätigkeit  und 
Verwendung,  jede  Ausgabe  sorgfältig  zu  vermeiden,  deren  Früchte 
nicht  ihm,  sondern  seinem  Nachfolger  zu  gute  kämen.  Man  musste 
deswegen  darauf  ausgehen,  eine  Form  zu  finden,  welche  dieser 
Nachtheile  entbehrte  und  der  Regierung  für  lange  Zeit  hinaus  einen 
massgebenden  Einfluss  auf  den  Wechsel  des  Besitzers  bot.  Die 


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hierauf  gerichteten  Vorschläge  bewegten  sich  nach  zwei  Richtungen : 
von  der  einen  Seite  wurde  die  Wiederherstellung  des  altdeutschen 
Rechtsinstituts  der  Erbpacht  befürwortet,  von  der  anderen  die 
Schaffung  einer  ganz  neueu  Form  des  Grundeigenthums,  des  Renten- 
gutes, verlangt.  Die  Erbpacht  war  eine  im  früheren  deutschen 
Rechte  sehr  verbreitete  Rechtsform,  in  welche  die  Ueberlassung 
erblicher  Nutzungsrechte  an  bäuerlichen  Gütern  eingekleidet  wurde. 
Das  Wesen  derselben  bestand  vom  rechtlichen  Gesichtspunkte  aus 
darin,  dass  das  weitgehende,  aber  der  Natur  des  Grundstücks  ent- 
sprechende Nutzungsrecht  in  der  Familie  des  Bauern  sich  forterbte, 
dass  es  einen  dinglichen  Charakter  besass  und  dem  jeweiligen  Be- 
sitzer eine  wenn  auch  nur  beschränkte  Verfügungsbefugnis  über  die 
Substanz  des  Besitzes  gewährte ;  sie  gestattete  ihm  ein  sog.  Nutzungs- 
eigenthum, während  das  Obereigenthum,  auch  volles  Eigenthum 
genannt,  dem  Grundherrn  verblieb.  Der  generelle  Name,  unter 
welchem  die  Wissenschaft  das  Rechtsinstitut  kennt,  lautet  Üolonat, 
wahrend  man  in  den  einzelnen  Gegenden  von  einem  Meierrecht, 
Erbzinsrecht,  Voigteidings-,  Hubgüterrecht,  einer  Erbleihe  &c.  spricht. 
Dem  jeweiligen  Besitzer  stand  das  Recht  zu,  das  Gut  in  ausge- 
dehntestem Umfange  zu  benutzen,  so  weit  dies  ohne  Beeinträchtigung 
seines  Bestandes  möglich  war ;  wenn  er  auch  verpflichtet  war,  sich 
im  ganzen  an  die  herkömmliche  Bewirtschaftung  zu  halten,  so 
war  doch  auch  eine  Culturveränderung  aus  guten  Gründen  gestattet. 
Der  Colone  vertrat  das  Gut  nach  aussen  hin  in  jeder  Beziehung, 
er  trat  sowol  als  Kläger  wie  als  Beklagter  auf,  er  war  berechtigt, 
eine  Klage  auf  Wiedervereinigung  der  Parcellen  eines  Grundstücks 
anzustrengen,  welches  früher  ein  ungeteiltes  Ganzes  bildete,  er 
vererbte  das  Gut  nach  besonderen  Rechtssatzuugen  an  seine  Nach- 
kommen. Stand  in  so  weit  dem  Colonen  ein  Nutzungs-  und  Gebrauchs- 
recht zu,  welches  quantitativ  der  Befugnis  des  Eigentümers  sehr 
nahe  kam,  so  trat  doch  andererseits  der  innerliche  Zusammenhang 
des  ganzen  Rechtsinstituts  mit  der  Feudalzeit  und  dem  Feudal- 
staat, mit  der  Herrschaft  des  Gutsherrn  über  den  bäuerlichen  Stand 
deutlich  hervor.  Eine  Veräusserung  des  Gutes,  sei  es  des  ganzen 
oder  nur  eines  Theiles  desselben,  war  ohne  Einwilligung  des  Guts- 
herrn nichtig,  ohne  Unterschied,  ob  sie  unter  Lebenden  oder  von 
Todes  wegen  erfolgte ;  ebenso  war  eine  Autgabe  des  Bauerngutes 
ohne  gutsherrliche  Einwilligung  nicht  gestattet.  Tritt  in  diesen 
Bestimmungen  schon  die  Abhängigkeit  des  Colonen  von  dem  Guts- 
herrn zu  Tage,  so  zeigt  sich  dieselbe  noch  weit  intensiver  in  dem 

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Zur  inneren  Oolonisation  in  Preussen. 


Umstaude,  dass  für  die  Schulden  des  Colonen  nicht  das  Gut,  sondern 
nur  sein  sonstiges  Vermögen  haftete  und  er  verpflichtet  war,  dem 
Gutsherrn  grössere  oder  kleinere  Abgabeu  zu  leisten.  Insbesondere 
prägt  sich  der  Abhängigkeitscharakter  in  der  Thatsache  unver- 
kennbar aus,  dass  bei  jedem  Besitzwechsel  der  Gutsherr  die  sog. 
Lehnwaare,  das  Laudemium,  zu  beanspruchen  hat,  eine  Abgabe, 
welche  stets  als  das  Zeichen  der  Abhängigkeit,  ursprünglich  auch 
der  politischen,  später  nur  der  wirtschaftlichen,  erschaut.  Nicht 
minder  stark  wird  dieser  Charakter  durch  das  Recht  des  Gutsherrn 
zum  Ausdruck  gebracht,  den  Colonen  in  gewissen  Fällen,  insbe- 
sondere bei  schlechter  Wirtschaftsführung ,  bei  Rückstand  im 
Zahlen  der  Abgaben,  bei  Veräusserung  des  Gutes  ohne  die  guts- 
herrliche Einwilligung,  aus  dem  Gute  zu  vertreiben  ;  die  Rechts- 
sprache bezeichnet  diese  Befuguis  als  Abmeierungsrecht  oder  Ex- 
pulsatiousbefugnis,  und  die  Art  und  Weise,  wie  dasselbe  in  früherer 
Zeit  vielfach  angewendet  wurde,  bildete  mit  Recht  eine  der  schwer- 
sten Klagen,  welche  der  deutsche  Bauer  über  seine  gedrückte 
wirtschaftliche  Stellung  führte.  Diese  mit  dem  Feudalstaate  und 
seinen  Einrichtungen  zusammenhängende  Abhängigkeit  des  Erb- 
pächters von  dem  Gutsherrn  musste  notwendigerweise  mit  dem 
Augenblick  aus  dem  Rechtsleben  verschwinden,  in  welchem  der 
Staat  die  vollste  Freiheit  des  Eigenthums  anerkannte.  Die  preussi- 
sche  Agrargesetzgebung  der  fünfziger  Jahre,  welche  au  die  grossen 
Thaten  eines  Freiherrn  von  Stein,  eines  Schön,  eines  Hardenberg 
anknüpfte,  beseitigte  die  mit  dem  modernen  Rechtsbewusstsein  und 
der  modernen  National-  und  Agrar Wirtschaft  unvereinbaren  Be- 
stimmungen des  früheren  Rechts  über  die  Erbpacht.  In  Ausführung 
des  wichtigen,  durch  die  Verfassung  ausdrücklich  verbrieften  Grund- 
satzes, dass  bei  erblicher  Ueberlassung  eines  Grundstücks  nur  die 
Uebertragung  des  vollen  Eigentums  statthaft  sei,  bestimmte  sie, 
dass  die  Constituirung  des  sogenannten  geteilten  Eigenthums  bei 
der  Uebertragung  eiues  Grundstücks  mit  vererblichen  flechten  hin- 
fort  untersagt  sei.  Hiermit  erfüllte  die  preussische  Regierung  das  . 
von  ihr  in  einer  Vorlage  an  die  Nationalversammlung  unter  dem 
10.  Juni  1848  aufgestellte  Programm  j  es  sei  eine  der  dringendsten 
Anforderungen  der  Gegenwart,  das  durch  die  Gesetzgebung  von 
1810  unvollkommen  gebliebene  Werk  der  Befreiung  des  Grund- 
besitzes und  der  Personen  zu  vollenden  und  die  mit  dem  Geiste 
der  Zeit  nicht  weiter  vereinbaren  Bande  des  gutsherrlich-bäuer- 
lichen Verhältnisses  zu  lösen.    Die  Aufhebung  des  Obereigenthums 


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Zur  inneren  Oolonisation  in  Preussen 


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bei  den  Erbzins-  und  ErbpachtverhMtnissen  ohne  Entschädigung 
der  bisherigen  Obereigenthüraer,  wie  sie  durch  §  2  des  Gesetzes 
vom  2.  März  1850  erfolgte,  bedeutete  eine  Einlösung  des  in  den 
voi-stehend  angeführten  Worten  gegebenen  Versprechens  und  die 
endliche  Verwirklichung  einer  Reform,  welche  das  Edict  vom  8.  Oct. 
1807  und  vom  14.  Sept.  1811  bereits  angebahnt  hatte,  die  aber 
nach  1815  an  dem  mächtigen  Widerstande  des  Adels  gescheitert  war. 

Seitens  eines  Theiles  des  Abgeordnetenhauses  glaubte  man 
nun  anfangs  in  der  Einführung  der  natürlich  den  heutigen  Ver- 
hältnissen und  Anschauungen  entsprechend  modificirten  Erbpacht 
die  Ueberlassungsform  erblicken  zu  sollen,  welche  die  Erreichung 
der  von  dem  Gesetze  ins  Auge  gefassten  Zwecke  in  der  sicheisten 
Weise  verbürge.  Man  betonte  dabei  ausdrücklich,  dass  man  weit 
von  dem  Gedanken  entfernt  sei,  abgeschaffte  Rechtsinstitutionen 
der  Feudalzeit,  wieder  einführen  zu  wollen ;  man  verwahrte  sich 
mit  der  grössten  Bestimmtheit  gegen  die  Unterstellung,  als  ob  man 
beabsichtige,  an  der  Freiheit  des  bäuerlichen  Grundbesitzes  und  des 
Bauernstandes  auch  nur  irgend  wie  zu  rütteln  ;  man  wollte  nur  ver- 
hüten, dass  die  mit  grossen  Opfern  angekauften  Stellen  in  längerer 
oder  kürzerer  Zeit  wieder  in  die  Hände  polnischer  Besitzer  ge- 
riethen  und  hielt  zur  Erreichung  dieses  Zweckes  die  Erbpacht  um 
deswillen  für  besonders  geeignet,  weil  sie  für  die  gesetzliche  Aus- 
führung der  einfachste  und  sicherste  Weg  sei  und  für  beide  Con- 
trahenten  klare  und  bestimmte  Rechte  schaffe.  Indessen  stand  der 
Wiedereinführung  der  Erbpacht  sowol  die  Staatsregierung  als  auch 
die  Mehrheit  der  Parteien,  welche  das  Colonisationsunternehmen 
mit  Eifer  unterstützen  wollten,  entschieden  feindlich  gegenüber. 
Vor  allem  wurde  bemerkt,  dass  der  Bauernstand  mit  Recht  gegen 
alles  ausserordentlich  mistrauisch  sei.  was  auch  nur  entfernt  an 
die  Wiederbelebung  der  Einrichtungen  des  Feudalstaates  erinnere 
und  dass  man  sich  um  deswillen  seitens  desselben  gegen  die  Ein- 
führung eines  so  sehr  verhassten  Instituts  wie  die  Erbpacht  durch- 
aus ablehnend  und  antipathisch  verhalten  werde.  Sodann  sei  es 
aber  auch  eine  Täuschung,  wenn  man  glaube,  dass  die  Erbpacht 
überhaupt  die  von  der  Gesetzgebung  ins  Auge  gefassten  Ziele  zu 
erfüllen  vermöge ;  trotz  seiner  Beschränkung  geniesse  der  Erb- 
pächter in  mancher  Richtung,  so  insbesondere  bezüglich  des  Rechts 
der  Veräusserung  und  Verschuldung,  kraft  des  Gesetzes  so  weit- 
gehende Befugnisse,  wie  sie  im  Interesse  der  Erreichung  der  Ziele 
der  Colonisationsgesetzgebung  ihm  nicht  eingeräumt  werden  könnten. 


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Zur  inneren  Colonisation  in  Preussen. 


Die  Erbpacht  habe  ihre  innere  Berechtigung  in  den  wirtschaft- 
lichen Verhältnissen  der  früheren  Zeit  gehabt,  die  von  den  jetzigen 
völlig  verschieden  seien  ;  sie  hänge  im  früheren  Recht  mit  anderen 
Instituten,  insbesondere  dem  Erbzinsgut.  so  untrennbar  zusammen, 
dass  eine  einfache  Wiederinkraftsetzung  der  beseitigten  gesetzlichen 
Vorschriften  gänzlich  ausgeschlossen  erscheine,  vielmehr  eine  solche 
Modifikation  eintreten  müsse,  dass  das  Institut  nur  dem  Namen 
nach  die  alte  Erbpacht  darstelle,  während  es  in  Wahrheit  mit  dem 
alten  Rentengut  identisch  wäre,  dessen  gesetzliche  Einführung  als 
Verleihungsform  von  Grundeigenthum  neben  dem  Kauf  gegen  Capital 
schon  seit  längeren  Jahren  seitens  der  "verschiedensten  Parteien 
im  luteresse  der  inneren  Colonisaton  verlangt  wurde. 

Das  Rentengutsystem  charakterisirt  sich  dadurch,  dass.  ein 
Grundbesitz  einer  Person  zu  völlig  freiem  Eigenthum  gegen  Zahlung 
einer  Rente,  Natural-  oder  Geldrente,  überlassen  wird,  welche  nach 
den  Anschauungen  des  früheren  Rechts  auf  Seiten  des  Renten- 
Schuldners  im  allgemeinen  unkündbar  war.  Die  Rentenform  bildete 
im  früheren  Rechte  eine  sehr  beliebte  und  sehr  verbreitete  Rechts- 
form. Nicht  nur  in  Deutschland  war  die  Verleihung  gegen  eine 
unablösliche  Rentenleistung  sehr  verbreitet,  sondern  nicht  minder 
in  Frankreich  und  anderen  Ländern.  Die  Aehnlichkeit,  welche 
äusserlich  zwischen  dem  Rentengut  und  solchen  Rechtsinstituten 
bestand,  die  auf  einer  Erbunterthänigkeit  beruhten,  bewirkte,  dass 
mit  der  Beseitigung  dieser  auch  die  Unablöslichkeit  der  Rente  fiel. 
Es  schien  dem  Begriff  des  freien  Eigenthums  zu  widersprechen, 
dass  für  ewige  Zeiten  eine  Abgabe  von  demselben  zu  leisten  war. 
Der  Code  civil  bestimmte  im  Artikel  1011  :  La  rente  constituce  en 
perpctuel  est  csseiüicllcment  raehetable.  Lcs  partics  peuvmt  seulemcnt 
cotivenir,  que  le  rachat  nc  scra  pas  fait  avnnt  un  delai  qui  nv  pourra 
exceder  dix  ans,  ou  sans  avoir  averti  Je  ercancier  au  terme  d'arancc 
qucllcs  auront  dctcrminc1,  eine  Vorschrift,  welche  im  Interesse  der 
öffentlichen  Ordnung  und  Staats  wohl  fahrt  erlassen  wurde,  so  dass 
eine  vertragsmässige  Abänderung  ihres  Inhalts  rechtsungiltig  ist. 
In  demselben  Sinn  bestimmte  Artikel  5  der  preussischen  Verfassung: 
tBei  erblicher  Ueberlassung  eines  Grundstücks  ist  nur  die  Ueber- 

1  Die  beständige  Pente  ist  ihrem  Wesen  nach  ablösbar.  Die  Parteien 
können  mir  übereinkommen,  dass  die  Ablösung  nicht  vor  einer  bestimmten  Zeit, 
welche  jedoch  nicht  über  zehn  Jahre  hinan»  gesetzt  werden  darf,  wie  auch,  dass 
sie  nicht  anders,  als  nachdem  der  Gläubiger  eine  unter  ihnen  bestimmte  Zeit  vor- 
her benachrichtigt  worden,  geschehen  solle. 


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tragung  des  vollen  Eigenthums  zulässig,  jedoch  kann  auch  hierin 
ein  fester  ablösbarer  Zins  vorbehalten  werden»,  und  das  Gesetz 
vom  2.  März  1850  schrieb  in  §92  vor:  «Die  Kündigung  von 
Capitata,  welche  einem  Grundstück  oder  einer  Gerechtigkeit  auf- 
erlegt werden,  kann  künftig  nur  während  eines  bestimmten  Zeit- 
raums, welcher  30  Jahre  nicht  übersteigen  darf,  ausgeschlossen 
werden  ;  Capitalien,  welche  auf  einem  Grundstücke  oder  einer  Ge- 
rechtigkeit angelegt  sind  und  seitens  des  Schuldners  bisher  un- 
kündbar waren,  können  von  jetzt  ab,  sobald  30  Jahre  seit  der 
Verkündigung  dieses  Gesetzes  verflossen  sind,  mit  einer  sechs- 
monatlichen Frist  seitens  des  Schuldners  gekündigt  werden.»  Nach 
Massgabe  dieser  Bestimmungen  war  die  Oonstituirung  eines  Renten- 
gutes unter  Unablöslichkeit  der  Rente  unmöglich.  Die  Auferlegung 
.  von  Naturalienrenten  war  durch  das  Gesetz  schlechtweg  ausge- 
schlossen. 

Wie  erwähnt,  ist  nun  seit  geraumer  Zeit  die  Wiedereinführung 
des  Reutengutes  mit  einer  weitergehenden  Unablöslichkeit  der  Rente, 
als  sie  das  bestehende  Recht  gestattete,  Gegenstand  der  Erörterung 
hochangesehener  Körperschaften  Preussens  gewesen.  Schon  im  Jahre 
1878  faud  in  dem  Landesökonomiecollegium  Preussens»,  der  Central- 
stelle  für  landwirtschaftliche  Angelegenheiten,  welche  als  Mittel- 
und  Verbindungspunkt  zwischen  den  landwirtschaftlichen  Vereinen 
und  der  Regierung  dient,  eine  eingehende  Verhandlung  darüber 
statt,  ob  es  sich  nicht  empfehle,  behufs  energischer  Förderung  der 
Colonisation  und  Besiedelung  Rechtsformen  wiederherzustellen.Svelche 
es  ermöglichten,  Grundbesitz  unter  der  Garantie  zu  parcelliren, 
dass  die  Parcellen  zur  Errichtung  und  dauernden  Erhaltuug  kleiner 
Wirthschaften  seitens  einer  ländlichen  Bevölkerung  benutzt  würden. 
Wenn  man  auch  bei  der  Erwägung  der  Vortheile  der  Erbpacht 
und  des  Rentengutes  weder  zu  Gunsten  der  einen  noch  des  anderen 
sich  entschied,  sondern  nur  den  Beschluss  fasste,  der  Frage  ein 
gründliches  Studium  zu  Theil  werden  zu  lassen,  so  war  doch  er- 
sichtlich,  dass  die  Wiederbelebung  der  Erbpacht  nicht  auf  den  Bei- 
fall der  Mehrheit  zu  zählen  habe.  —  Noch  früher  als  das  Landes- 
ökonomiecollegium hatte  sich  die  preussische  Central-Moorcommission 
mit  der  Frage  befasst.    Schon  im  Jahre  1878  wurde  von  ihr  bei 

'  Nach  dem  Regulativ  vom  24.  April  187«  besteht  es  aus  nenn  von  dem 
landwirthschaftlichen  Minister  ernannten  und  aus  19  von  den  hmdwirthsehaf't 
liehen  Centraivereinen  auf  3  Jahre  gewühlten  Mitgliedern  und  tritt  in  der  Regel 
jahrlich  zu  einer  Sitzung  zusammen. 


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502 


Zur  inneren  Colouisation  in  Preusseu. 


Erörterung  der  zweckmässigsten  Vei-pachtungsbedingungen  für  Torf- 
und Moorländereien  die  Erbpacht  eingehend  erörtert.    Nachdem  in 
den  folgenden  Jahren  seitens  der  Commission  durch  Sammlung 
eines  reichen  Materials  die  Beschlussfassuug  über  die  Frage  vor- 
bereitet worden  war,  gelangte  die  Versammlung  im  Jahre  1882  zu 
dem  ßeschluss,  der  Regierung  anheimzugeben,  ob  es  zur  Beförde- 
rung der  Colonisation  in  den  Moorgegenden  Hannovers  angemessen 
erscheine,  die  bestehende  Gesetzgebung  in  der  Weise  zu  ändern, 
dass  bei  erblicher  Ueberlassung  von  Grundstücken  die  Unablösbar- 
keit  einer  vorbehaltenen,  festen  Geldrente  auf  längere  Zeit  und 
über  30  Jahre  hinaus  festgestellt,  für  die  Dauer  der  Rente  die 
Untheilbarkeit  des  Grundstücks  gesichert  und  schliesslich  eine  Er- 
höhung der  Ablösungssätze  über  das  gesetzliche  Mass  hinaus  ver- 
einbart werden  könne.    Auf  Grund  dieser  Beschlüsse  und  Vor- 
arbeiten unterbreitete  die  Regierung  dem  Landesökonomiecollegium 
eine  sehr  interessante  Denkschrift  über  die  Rentengüter  und  legte 
ihm  die  Fragen  vor,  welcher  Inhalt  dem  Institute  der  Rentengüter 
bei  seiner  Einführung  zu  geben  sein  würde,  um  es  lebensfähig  und 
den  gegenwärtigen  Rechtsanschauungen  entsprechend  zu  organisiren. 
und  welchen  Nutzen  man  sich  aus  ihm  für  die  Staats-  und  Volks- 
wirthschaft  in  Preussen  versprechen  dürfe.    Die  Denkschrift,  deren 
Inhalt  wir  mit  Rücksicht  auf  den  uns  zur  Verfügung  gestellten 
Raum  nur  ganz  kurz  angeben  können,  geht  davon  aus,  dass  kein 
beschränktes,  sondern  ein  volles  Eigenthum  übertragen 
werde  Vinter  Vorbehalt  gewisser  auf  demselben  ruhender  unablös- 
barer Rechte  des  Veräusserers.    Sie  gestattet  die  Auferlegung  von 
festen  Geldrenten,  sowie  die  vertragsmässige  Festsetzung  der  Un- 
ablöslichkeit  der  Rente ;  in  Ermangelung  einer  Vereinbarung  über 
die  Ablösbarkeit  gilt  die  Rente  als  unablösbar.    Die  Denkschritt 
will  ferner  die  Zerstückelung  des  Rentengutes  durch  geeignete  Be- 
stimmungen und  die  Naturaltheilung  desselben  bei  einem  Todesfall 
durch  Constituirung  eines  Anerbenrechts  verhindern    Das  Landes- 
ökonomiecollegium verhandelte  am  9.  und  10.  November  1885  über 
diese  Vorlagen.    Fast  alle  Redner  sprachen  sich  mit  grosser  Sym- 
pathie für  die  Schaffung  von  Rentengütern  und  die  Aenderung  der 
bestehenden  Gesetzgebung  in  der  von  der  Denkschrift  bezeichneten 
Richtung  aus,  nur  zwei  Mitglieder  erklärten  sich  dagegen.  Pro- 
fessor Schmoller  von  der  berliner  Universität  betonte  unter  warmer 
Befürwortung  der  Denkschrift,  dass  die  grossen  Reformatoren  der 
inneren  Verwaltung,  die  Stein  und  Hardenberg,  bei  Erlass  ihi*er 


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Zur  inneren  Colonisation  in  Preussen. 


503 


Agrargesetzgebung  nicht  nur  das  Ziel,  den  Bauemstand  von  den 
Reallasten  zu  befreien,  sondern  auch  die  Gefahr  im  Auge  gehabt 
hätten,  welche  daraus  entstehen  könne,  dass  einem  Latifundien wesen 
ein  besitzloser  Taglöhnerstand  gegenüberstehe  und  dass  sie  um  des- 
willen auch  von  dem  Bestreben  erfüllt  gewesen  seien,  einen  be- 
sitzenden Taglöhnerstand  zu  schaffen.  Das  Oollegium  erklärte 
demgemäss,  dass  die  Einführung  des  Rentengutes  behufs  Stärkung 
des  Standes  der  bäuerlichen  Grundbesitzer  und  Förderung  der 
inneren  Colonisation  auch  im  nationalen  Sinne  ein  Versuch  zur 
Erreichung  eines  Zieles  von  grosser  socialer,  politischer  und  wirt- 
schaftlicher Bedeutung  sei,  für  welchen  es  sich  ohne  Bedenken  aus- 
spreche, auch  wenn  der  Erfolg  zweifelhaft  sei.  Das  Collegium 
erklärte  weiter,  dass  die  gegenwärtige  Vertheilung  des  Grund- 
besitzes in  der  Monarchie,  namentlich  in  den  östlichen  Theilen  der- 
selben, wo  die  Latitundienbildung  vorherrsche,  sowie  die  immer 
mehr  zunehmende  Zerschlagung  bäuerlicher  Besitzungen  im  Westen 
des  Staates,  welche  theils  zu  einer  immer  bedenklicher  werdenden 
Bildung  von  Kleinbesitz  einer-  und  zur  immer  mehr  zunehmenden 
Bildung  grösserer  Besitzungen  andererseits  führe,  schon  jetzt  ge- 
nügenden Anlass  biete,  um  einen  Versuch  mit  der  Schaffung  von 
Rentengütern  zu  machen.  Diese  sympathische  Stellungnahme  der 
massgebenden  Vertretung  der  landwirtschaftlichen  Kreise  gegen- 
über dem  Rentengut  blieb  nicht  ohne  Wirkung,  und  es  ist  wol 
theilweise  ihrem  Einflüsse  zuzuschreiben,  dass  man  sich  seitens  der 
Regierung  und  der  Mehrheit  des  Abgeordnetenhauses  darüber  einigte, 
die  Colonisation  in  Westpreussen  und  Posen  mittelst  dieser  Rechts- 
form durchzuführen.  Zwar  wurde  gegen  das  Rentengut  geltend 
gemacht,  es  leide  in  rechtlicher  Hinsicht  an  Unklarheit,  es  enthalte 
eine  Rückbildung  der  Agrargesetzgebung ,  es  gebe  zu  grossen 
Schwierigkeiten  bei  der  Erbtheilung  im  Falle  des  Todes  des  Renten- 
schuldners Anlass,  und  der  übertriebene  Parteieifer  ging  so  weit, 
in  seiner  Einführung  eine  Wiederherstellung  der  Schollengebunden- 
heit  des  alten  Rechts,  der  glrbae  adscriptio,  einer  milderen  Form 
der  Leibeigenschaft  zu  erblicken.  Mit  Recht  wurde  seitens  der 
Regierung  dem  entgegengehalten,  dass  die  Klärung  der  rechtlichen 
Detailverhältnisse  sich  mit  der  Zeit  schon  einstellen  werde,  dass 
das  Rentengut  in  keiner  Weise  an  das  getheilte  Eigenthum  des 
Feudalstaates  erinnere,  dass  nur  bezüglich  der  facultativen  Verein- 
barung der  Unablösbarkeit  und  des  Ausschlusses  der  Parcellirung 
eine  Ausnahme  von  dem  geltenden  Rechte  stattfinde,  während  im 


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504 


Zur  iuneren  Colonisation  in  Preussen. 


übrigen  die  vorgeschlagene  Regelung  sich  vollständig  im  Rahmen 
der  preussischen  Traditionen  bewege  und  die  grossen  befreieuden 
Ergebnisse  der  preussischen  Agrargesetzgebung  auch  nicht  entfernt 
antaste.  Ein  Beweis,  dass  das  Rentengut  keine  reactionäre  Rechts- 
bildung darstelle,  liege,  abgesehen  von  anderem,  insbesondere  iu 
dem  Umstände,  dass  das  nur  für  eine  beschränkte  und  übersehbare 
Zahl  von  Ansiedelungen  ins  Auge  gefasste  Institut  in  verschiedenen 
Staaten  mit  streng  liberaler  ( Gesetzgebung  und  Verwaltung,  wie 
in  dem  Königreich  der  Niederlande  und  im  Grossherzogthum  Olden- 
burg, zu  Recht  bestehe  und  in  der  jüngsten  Zeit  noch  erheblich 
ausgedehnt  bezw.  erweitert  worden  sei.  Es  wurde  noch  hervorge- 
hoben, dass  man  lediglich  der  durch  die  geltende  Gesetzgebung 
sehr  eingeschränkten  Vertragsfreiheit  wieder  zu  ihrem  Recht  ver- 
helfe, wenn  man  die  vertragsmässige  Ausschliessung  der  Ablösbar- 
keit  gestatte,  und  dass  es  in  der  Hand  der  Regierung  liege,  die 
Rente  so  zu  vermindern,  dass  nur  noch  eine  nominelle  Belastung 
übrig  bleibe,  womit  eins  der  wesentlichsten  Bedenken,  welches  die 
Gegner  gegen  das  Rentengut  hatten,  die  Abschwächung  der  wirt- 
schaftlichen Spannkraft  und  der  Sparthätigkeit  des  Besitzers,  der 
seine  Ersparnisse  doch  nicht  zur  Verminderung  der  auf  ihm  ruhen- 
den Last  verwenden  könne ,  beseitigt  wurde.  Aus  all  diesen 
Gründen  wurde  das  Rentengut  seitens  der  Mehrheit  der  beiden 
Häuser  des  Landtages  als  Ueberlassungsform  für  die  durch  die 
Colonisation  geschaffenen  Stellen  gebilligt  und  ging  demgemäss  in 
die  endgiltige  Redaction  des  Gesetzes  über,  welches  unter  dem 
26.  April  1886  verkündet  wurde.  Die  Debatten,  welche  gelegent- 
lich der  Vereinbarung  des  Gesetzes  in  den  Plenarsitzungen  des 
Abgeordneten-  und  Herrenhauses  stattfanden,  gehören,  so  ausser- 
ordentlich interessant  und  wichtig  sie  sind  und  so  sehr  sie  sich 
zu  Staats-  und  Hauptactionen  ersten  Ranges  gestalteten,  in  erster 
Linie  dem  politischen  Gebiete  an  und  sind  darum  im  Rahmen  dieser 
Darstellung,  welche  die  socialpolitische  Bedeutung  der  grossen 
Reform  zum  Gegenstande  hat,  ausser  Betracht  zu  lassen.  Der  In- 
halt des  Gesetzes  ist  in  Kurzem  folgender : 

Zum  Zwecke  der  Stärkung  des  deutschen  Elementes  gegen 
die  polonisirenden  Bestrebungen  in  den  Provinzen  Westpreussen 
und  Posen  wird  der  Regierung  ein  Fonds  von  hundert  Millionen 
Mark  zur  Verfügung  gestellt.  Derselbe  kann  zum  Ankauf  von 
Grundstücken  sowie  zur  Bestreitung  derjenigen  Kosten  verwendet 
werden,  welche  durch  die  Schaffung  neuer  Stellen  von  kleinem  oder 


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Zur  inneren  Colonisat  km  in  Preussen.  »05 


mittlerem  Umfange,  sowie  ganzer  Landgemeinden  entstehen.  Der 
Ankauf  soll  nur  in  dem  Masse  erfolgen,  als  zur  Bestreitung  dieser 
Kosten  stets  die  erforderlichen  Mittel  vorhanden  sind.  Die  Ueber- 
lassung  der  begründeten  Stellen  erfolgt  gegen  eine  entsprechende 
Entschädigung  des  Staates;  sie  geschieht  zu  Eigenthum  gegen 
Capital-  und  Reutenleistung  oder  auch  in  Zeitpacht.  Bei  Ueber- 
lassung  gegen  Rente  kann  die  Ablösbarkeit  von  der  Zustimmung 
beider  Contrahenten  abhängig  gemacht  werden ;  das  Nähere  über 
die  Höhe  der  Ablösung  und  die  Kündigungsfrist  ist  der  vertrags- 
mäßigen Vereinbarung  überlassen,  jedoch  darf  der  Ablösungsbetrag 
das  Fünfundzwanzigfache  der  Rente  nicht  übersteigen,  wenn  die 
Ablösung  auf  Antrag  des  Rentenempfängers  erfolgt ;  die  sich  hier- 
auf beziehenden  Vereinbarungen  sind  in  das  Grundbuch  einzutragen, 
anderenfalls  Rechtsnachtheile  gegenüber  Dritten  eintreteu.  Die 
Theiluug  und  Zerstückelung  des  Gutes  kann  vertragsmässig  von 
der  Zustimmung  des  Rentenberechtigten  abhängig  gemacht  werden, 
welche  jedoch  durch  richterliche  Entscheidung  der  dafür  bestimmten 
Auseinandersetznngsbehörde  aus  wirtschaftlichen  Gründen  ergänzt 
werden  kann.  Dem  Erwerber  kann  bei  der  Verleihung  die  Pflicht 
auferlegt  werden,  die  Erhaltung  der  wirtschaftlichen  Selbständig- 
keit des  Gutes  durch  die  erforderlichen  baulichen  Aulagen,  durch 
Erhaltung  der  Vollständigkeit  des  notwendigen  landwirtschaft- 
lichen Inventars  oder  durch  sonstige  Leistungen  dauernd  zu  sichern ; 
eine  Befreiung  von  dieser  Pflicht  kann  durch  Entscheidung  der 
dazu  berufeneu  Auseinandersetzungsbehörde  erfolgen,  wenn  gemein- 
wirthschaftliche  Interessen  der  Aufrechthaltung  der  Selbständigkeit 
entgegenstehen.  In  letzterem  Falle,  sowie  bei  Ergänzung  der  Zu- 
stimmung des  Rentenberechtigten  zur  Theiluug  oder  Zerstückelung 
kann  letzterer  Ablösung  der  Rente  zum  fünfundzwanzigfachen  Be- 
trage fordern.  Die  Beträge  für  die  Ueberlassung  fliessen  zum 
Hundertmillionenfonds  und  sind  in  den  Staatshaushaltsetat  all- 
jährlich aufzunehmen  ;  vom  Jahre  1907  an  treten  sie  den  allge- 
meinen Staatseinnahmen  hinzu.  Das  Verfahreu  vor  der  Ausein- 
andersetzungsbehörde ist  Stempel-  und  kostenfrei ;  das  Gleiche  gilt 
bezüglich  aller  Acte  der  freiwilligen  Gerichtsbarkeit,  zu  welchen 
das  Gesetz  Anlass  giebt.  Dem  Landtage  muss  jährlich  über  die 
Ausführung  des  Gesetzes,  insbesondere  über  An-  und  Verkäufe, 
über  die  Ansiedelungen,  die  Verwaltung  der  angekauften  Güter 
Rechenschaft  gegeben,  ferner  muss  über  die  Einnahmen  und  Aus- 
gaben des  Fonds  nach  Massgabe  der  allgemein  giltigen  Grundsätze 


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.-1 


506  Zur  inneren  Colonisation  in  Preusseu. 

Rechnung  abgelegt  werden.  Die  ganze  Ausführung  des  Gesetzes 
liegt  in  den  Händen  einer  Commission,  welche  dem  Staatsministe- 
rium untersteht  und  deren  Zusammensetzung  im  Wege  königlicher 
Verordnung  erfolgt.  Diese  Verordnung  ist  unter  dem  21.  Juni 
1886  erlassen  worden  und  bestimmt,  dass  die  Commission  aus  den 
Oberpräsidenten  von  Posen  und  Westpreussen,  den  Commissarien 
des  Ministerpräsidenten,  der  Ministerien  der  Landwirtschaft,  des 
Inneren,  der  Finanzen  und  des  Unterrichts,  sowie  den  besonders 
von  dem  König  auf  die  Dauer  von  drei  Jahren  ernannten  Mit- 
gliedern1 besteht.  Die  Verordnung  regelt  die  Befugnisse  des  Vor- 
sitzenden und  die  Aufsicht  über  die  Commission  und  charakterisirt 
sich  insbesondere  durch  das  unverkennbare  Bestreben,  die  Aus- 
führung des  Gesetzes  nicht  in  bureaukratischem  Geiste  zu  ordnen, 
sondern  dem  individuellen  Ermessen  der  Commission  den  weitesten 
Spielraum  zu  lassen.  Die  Commission  ist  in  Wirksamkeit  getreten 
und  alsbald  mit  umfassenden  Gutsankäufen  vorgegangen.  Bis  zum 
l.  Jan.  1887  wurde  für  den  Gesammtpreis  von  6761745  Mark  Areal 
erworben.  —  Die  überaus  verschuldete  Lage  eines  Theiles  der 
polnischen  Grundbesitzer  ermöglicht  die  Ueberleitung  des  Grund- 
besitzes in  deutsche  Hände,  und  wenn  auch  seitens  des  polnischen 
Adels  Versuche  gemacht  werden,  durch  Gründung  von  Rettungs- 
banken dies  ganz  oder  wenigstens  zum  Theil  zu  verhüten,  so  sind 
dieselben  bisher  wenigstens  durchaus  erfolglos  geblieben  und  es 
hat  nicht  den  Anschein,  als  ob  sich  dies  in  Zukunft  ändern  sollte. 
Nur  durch  ganz  bedeutende  Geldmittel  könnte  von  deu  polnischen 
Grandseigneurs  das  Schicksal  des  Auskaufens  abgewehrt  werden 
und  solche  herbeizuschaffen  ist  ihnen  zur  Zeit  nicht  möglich.  Die 
Begeisterung  der  Polen  wallt  allerdings  rasch  und  feurig  auf,  und 
wenn  mit  Worten  und  schönen  Reden  das  deutsche  Colonisations- 
unternehmen  lahm  gelegt  werden  könnte,  wäre  es  längst  geschehen  ; 
allein  die  Begeisterung  hält  nicht  Stand,  sie  verflüchtigt  sich  rasch 
und  geht  vorüber,  ohne  bedeutsame  und  zweckdienliche  Thatsachen 
hervorzubringen. 

Die  Colonisation  in  Posen  und  Westpreussen  wurde  aus 
nationalen  und  politischen  Interessen  ersten  Ranges  begonnen  ;  der 
Gedanke,  durch  sie  auf  eine  gleichmässige  und  gesunde  Vertheilung 
des  Grund  und  Bodens  hinzuwirken,  kam  als  massgebend  dabei 

1  endlich  aus  den  GenerallandHchaftadireetoren,  d.  i.  den  Vorstanden  der 
laiulwirthachaftlicheu  Creditiustitnte  beider  Provinzen.    I).  Red. 


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Zur  inneren  Colonisation  in  Preussen. 


507 


nicht  in  Betracht.  Trotzdem  wird  der  Erfolg  der  Colonisation 
aber  gerade  nach  dieser  Richtung  von  der  grössten  Wichtigkeit 
uud  Bedeutung  sein,  und  um  deswillen  handelt  es  sich  vielleicht 
hier  um  den  ersten  Schritt  zur  Durchführung  eines  der  grössten 
und  gewaltigsten  Umwaudlungsprocesse,  welche  das  Leben  der 
Völker  überhaupt  und  des  deutschen  insbesondere  kennt.  Mit  Recht 
äusserte  sich  nach  dem  Erlass  des  Gesetzes  im  Juliheft  1886  der 
«Preussischen  Jahrbücher»  eine  sachverständige  Stimme  in  dieser 
Beziehung  folgendermassen  :  c  Gelingt,  wie  wir  hoffen  und  wünschen, 
der  schwierige  Versuch,  dann  wird  die  Ausdehnung  der  Wirksam- 
keit dieses  oder  eines  anderen  Fonds  und  dieses  oder  eines  ähn- 
lichen Gesetzes  auf  alle  die  grossen  nicht  aus  politischen,  sondern 
aus  wirtschaftlichen  Gründen  der  Besiedelung  mit  mittlerem  und 
kleinem  Besitz  dringend  bedürftigen  Gebiete  der  Monarchie  nur 
eine  Frage  der  Zeit  sein.  Die  Notwendigkeit  der  Erhaltung  und 
Vermehrung  unseres  Bauern-  und  Kleinbesitzerstandes,  der  Her- 
stellung einer  richtigen  Mischung  uud  Stufenleiter  vom  kleinsten 
bis  zum  grössten  Besitz,  der  Unterbringung  wenigstens  eines  Theiles 
unseres  sonst  zur  Auswanderung  oder  zum  Verkümmern  verdammten 
jährlich  wachsenden  Bevölkerungsüberschusses  im  Vaterlande  selbst 
wird  dem  Staate  diese  Aufgabe  aufzwingen,  sobald  er  an  diesem 
Versuch  gezeigt  hat,  dass  seine  Beamten  dieser  colonisatorischen 
Thätigkeit,  die  einst  den  Ruhm  der  preussischen  Verwaltung  ge- 
bildet, noch  gewachsen  sind.»  Mit  diesen  Worten  ist  sehr  gut 
gesagt,  dass,  wenn  die  zunächst  für  zwei  Provinzen  unternommene 
Colonisation  sich  bewährt,  der  preussische  Staat  auch  von  ihr  in 
solchen  Gebieten  Gebrauch  machen  wird  und  muss,  in  welchen  die 
Vertheilung  des  Grund  und  Bodeus  unter  die  einzelneu  Klassen 
eine  ungesunde  ist,  in  welchen,  um  den  Schwerpunkt  der  ganzen 
Frage  sofort  zu  bezeichnen,  der  Mittelbesitz  fehlt  und  ein  umfang- 
reicher Grossgrundbesitz,  ein  ausgedehntes  Lati fundien wesen  in 
gröS8tem  Masse  vorhanden  ist.  Das  alte  Wort  lati/undia  perdidere 
rempublicam  hat  heute  noch  ebenso  seine  uneingeschränkte  Geltung, 
ist  heute  noch  eben  so  wahr  und  richtig,  wie  vor  tausend  und  mehr 
Jahren,  und  der  Staatsmann  könnte  wahrlich  nicht  mit  Recht  ein 
weitsichtiger  genannt  werden,  welcher  der  fortschreitenden  Lati- 
fundienbildung gleichgiltig  und  mit  Passivität  gegenüberstände.  Die 
Verhältnisse  in  einzelnen  Theilen  des  preussischen  Staates  sind 
aber  derartige,  dass  die  Regierung  im  höchsten  Grade  Veranlassung 
hat,  sich  an  die  Richtigkeit  dieses  Satzes  zu  erinnern.    Nach  den 


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508  Zur  inneren  Colonis&tion  in  Preussen. 

Mittheilungen,  welche  Professor  Schmoller  auf  der  Generalversamm- 
lung des  Vereins  für  Socialpolitik  am  25.  September  1886  zu  Frank- 
furt a.  M.  machte,  die  sich  mit  der  eingehenden  Erörterung  der 
inneren  Colonisation  befasste,  muss  an  der  Ansicht  festgehalten 
werden,  dass  in  verschiedenen  Provinzen  Preussens  der  Gross- 
grundbesitz an  der  Vertheilung  des  Grund  und  Bodens  viel  zu 
stark  betheiligt  ist.  In  der  Provinz '  Sachsen  fallen  nach  einer  im 
Jahre  1882  vorgenommenen  Erhebung  auf  den  Grundbesitz  im  Be- 
trage von  mehr  als  300  Morgen  27  pCt.,  also  ein  Antheil, 
welcher  noch  ein  normaler  genannt  werden  kann.  In  einer  Reihe 
anderer  Provinzen  gestaltet  sich  dagegen  das  Verhältnis  bedeutend 
ungünstiger ;  so  beträgt  der  Antheil  in  Brandenburg  36  pCt.,  in 
Ost-  und  Westpreussen  52,  in  Posen  61  bis  62,  in  Pommern 
68,  in  Schlesien  55  pCt.  Die  Latifundien  mit  einem  Flächenraum 
von  mehr  als  400  Morgen  zählen  in  Pommern  57  bis  58  pCt., 
in  Posen  55,  in  Westpreussen  47,  in  Ostpreusseu  38,  in  Branden- 
burg 36  pCt.  Man  berechnet,  dass  der  jetzige  Grossgrundbesitz 
etwa  .30  Millionen  Morgen,  also  7  bis  8  Millionen  Hektare  umfasst, 
eine  ganz  ausserordentliche  Höhe,  welche  es  begreiflich  erscheinen 
lässt,  wenn  der  besitzlose  Taglöhner  des  Ostens,  der  von  einem 
Ort  zum  anderen  zieht,  dem  Staate  ohne  Interesse  gegenübersteht 
und  der  sozialdemokratischen  Agitation  das  aufmerksamste  Gehör 
entgegenbringt,  in  immer  erheblicherem  Umfange  d  i  e  Stelle  in  der 
Bevölkerung  einnimmt,  welche  vormals  der  besitzende,  spannfähige 
Bauer  ausfüllte.  Die  fortschreitende  Concentration  des  Grund- 
besitzes in  den  erwähnten  Landestheilen  der  preussischen  Monarchie 
ist  die  Ursache  der  Verdrängung  des  Mittel-  und  Kleinbesitzes,  ist 
wenigstens  mit  die  Ursache,  dass  in  ihnen  die  ländliche  Bevölke- 
rung in  Schaaren  zu  der  Fahne  der  Socialdemokratie  schwört.  In 
Gebieten,  in  welchen  nach  einer  ungefähren  Schätzung  1  >/»  bis  2 
Millionen  Arbeitern  nur  20  bis  30000  Grundbesitzer  gegenüber- 
stehen, in  den  Gebieten,  in  welchen  der  Mittelbesitz  völlig  fehlt, 
kann  sich  unmöglich  in  der  Masse  der  Bevölkerung  der  Geist  der 
Stabilität  bilden,  an  dessen  Existenz  der  Staat  doch  in  so  überaus 
hohem  Grade  interessirt  ist.  Es  ist  ein  sehr  richtiges  Wort, 
welches  Professor  Schmoller  auf  der  erwähnten  Versammlung  des 
Vereins  für  Socialpolitik  gesprochen  hat,  dass  die  sociale  Pyramide, 
in  deren  unterster  Schicht  eine  überwiegende  Majorität  von  Grund- 
eigentümern sitzt,  eine  ganz  andere  Festigkeit  in  sich  trägt  als 
die,  deren  Basis  aus  besitzlosen  Leuten  besteht.  *  Es  fehlt  darum 


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Zur  inneren  Oolonisation  in  Preussen.  509 


in  diesen  Gebieten  an  einem  Element,  welches  den  destructiven 
und  subversiven  Bestrebungen  unserer  Zeit  einen  unzerstörbaren 
Damm  in  der  Weise  entgegensetzt,  wie  ihn  der  französische  Bauern- 
stand, der  Parcellenbesitzer  gegenüber  allen  co in mun istischen  und 
collectivistischen  Bewegungen  bildet,  gebildet  hat  und  bilden  wird. 
Ist  es  ja  bekanntlich  vielleicht  das  grösste  Verdienst  der  französi- 
schen Revolution,  einen  sesshaften  besitzenden  Bauernstand  ge- 
schaffen zu  haben,  welcher  das  eigentliche  stabile  Element  inmitten 
der  brausenden  Wogen  des  erregten  politischen  Lebens,  inmitten 
des  fortwahrenden  Wechsels  der  Regierungen  und  Verfassungen  mit 
grösster  Zähigkeit  repräsentirt.    Die  absolut  ungenügende  Zahl 
der  spannfahigen  Bauern  in  den  oben  erwähnten  Provinzen  zu  ver- 
mehren, hierdurch  einen  entsprechend  grossen  Mittelbesitz  ins  Leben 
zu  rufen,  das  besitzlose  Taglöhnerthum  dieser  Gegenden  in  ein 
sesshaftes,  mit  Eigenthum  ausgestattetes  Häuslerthum  umzugestalten, 
alles  dies  durch  entsprechende  Verminderung  des  Grossgrundbesitzes, 
das  ist  die  Aufgabe,  welcher  sich  die  preussische  Regierung  gegen- 
übersieht und  welche  sie  lösen  muss,  will  sie  anders  es  verhüten, 
dass  der  Äccumulationsprocess  der  Latifundien  noch  weitere  Fort- 
schritte mache  und  so  die  Grundlage  der  Monarchie,  die  Grundlage 
des  ganzen  Staats-  und  Gesellschaftsbaues  lockere  und  erschüttere. 

In  diesem  Sinne  hat  der  Verein  für  Socialpolitik  in  seiner 
Sitzung  vom  25.  September  1886  auf  Vorschlag  des  Professors 
8chmoller  und  des  Abgeordneten  Sombart  folgende  Resolutionen 
gefasst:  «Die  durch  das  Gesetz  vom  26.  April  1886  für  die  staat- 
liche Colonisation  in  Posen  und  Westpreussen  facultativ  eingeführte 
Form  des  Rentengutes  ist  durch  ein  allgemeines  Gesetz  für  den 
ganzen  preussischen  Staat  zuzulassen ;  die  für  Posen  und  West- 
preussen beschlossene  Art  der  Schaffung  einer  grösseren  Zahl  mitt- 
lerer und  kleinerer  bäuerlicher  und  Häuslerstellen  hat  nicht  nur 
eine  nationale,  sondern  auch  eine  socialpolitische  Bedeutung;  sie 
muss  daher  nach  und  nach  auf  die  übrigen  Theile  des  deutschen 
Ostens  ausgedehnt  werden,  welche  an  einer  ähnlichen  Vertheilung 
des  Grundeigenthums  leiden.»  Diese  Meinungsäusserung  einer  hoch- 
angesehenen Vereinigung  von  Männern,  welche  sich  des  bedeutend- 
sten Ansehens  nicht  nur  im  deutschen  Reiche,  sondern  in  der  ge- 
sammten  wissenschaftlichen  Welt  erfreuen,  ist  bezeichnend  für  die 
Stellung,  die  man  zur  Zeit  in  Deutschland,  und  zwar  seitens  der 
Wissenschaft  wie  seitens  der  praktischen  Politik,  gegenüber  den 
socialen  Problemen  einnimmt.    Vor  einem  halben  Menschenalter 


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Zur  inneren  Colonisation  in  Preussen. 


noch  wäre  es  als  ein  schlechter  Scherz  bezeichnet  worden,  wenn 
jemand  die  Behauptung  aufgestellt  hatte,  nach  zwei  .Jahrzehnten 
werde  eine  Versammlung  hervorragendster  Gelehrten,  Staatsmänner 
und  praktischer  Politiker,  die  allen  extremen  Anschauungen  durch- 
aus abhold  sind,  die  Ausführung  von  Massregeln  seitens  des 
Staates  verlangen,  welche  einen  Eingriff  der  öffentlichen  Gewalt  in 
die  Gestaltung  der  Eigenthums-  und  Besitz  Verhältnisse  in  intensivem 
Masse  darstellen.  Nur  dem  ungeheuren  Umschwung,  welcher  auf 
dem  Gebiete  der  socialpolitischen  Anschauungen  seit  dieser  Zeit 
eingetreten  ist,  muss  es  zugeschrieben  werden,  dass  man  heute  Ziele 
verfolgt,  die  damals  unbedingt  mit  dem  Vorwurfe  des  Utopismus 
und  Gommunismus  gebrandmarkt  worden  wären.  Professor  Schmoller 
sagte  in  seinem  mehrfach  angeführten'  Frankfurter  Vortrage,  es 
gelte  den  Grossgrundbesitz  auf  mindestens  40  püt.  zu  reduciren, 
so  dass  für  den  Umfang  des  Mittel-  und  Kleinbesitzes  mindestens 
60  pCt.  übrig  bleiben.  So  massvoll  und  begrenzt  dieser  Vorschlag 
im  Vergleiche  mit  weiter  gehenden  Plänen,  welche  dem  Gross- 
grundbesitz höchstens  20  pCt.  lassen  wollen,  auch  ist,  so  muss 
dennoch  die  ihm  innewohnende  Tragweite  eine  geradezu  gewaltige 
genannt  werden.  Käme  er  zur  Ausführung,  so  würden  etwa 
vier  bis  sechs  Millionen  Morgen,  also  1  bis  l1/»  Millionen 
Hektare,  dem  Mittel-  und  Kleinbesitz  zugewiesen  werden  können. 
Derselbe  würde  hierdurch  auf  etwa  50  pCt.  erhöht,  während  die 
Verminderung  des  Grossgrundbesitaes  nur  ein  Achtel  bis  ein  Siebentel 
seines  derzeitigen  Gebietsum langes  betrüge.  Gleichwol  würde  dies 
hinreichen,  um  die  Zahl  der  spannfähigen  Bauerubesitzungeu  um 
60  bis  80000  zu  vermehren  und  von  der  nomadisirenden  Taglöhner- 
bevölkerung, welche  mit  jedem  Tage  dem  Staate  und  der  Gesell- 
schaft feindseliger  gegenübertritt,  2  bis  300000  zu  sesshaften  Eigen- 
thüraern  eines  Häuschens  mit  ein  paar  Morgen  Landes  umzuwandeln, 
genügend,  um  den  zur  Ernährung  einer  Familie  erforderlichen  Er- 
trag zu  liefern.  Ist  es  zu  viel  gesagt,  wenu  Schmoller  behauptete, 
dass  dann  der  flutenden  Masse  der  Besitzlosen  ein  fester  Halt  ein- 
gefügt und  dieser  ganzen  Gesellschaftsklasse  die  Aussichtslosigkeit 
genommen  sei?  Ist  es  übertrieben,  wenn  er  meinte,  dass  alsdann 
zwischen  Reichthum  und  Armuth  ein  Mittelglied  hergestellt  und 
für  das  Gesellschaftsleben  auf  dem  Lande,  für  das  Gemeindeleben 
wieder  eine  ganz  andere  Stufenleiter  geschaffen  sei,  als  sie  jetzt 
vorhanden  ist  V  Auch  der  nüchternste  socialpolitische  Denker,  sollte 
er  auch  der  Ideologie  eben  so  kalt  und  ohne  jedes  Verständnis 


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Zur  inneren  Colonisation  in  Prenssen. 


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gegenüberstehen  wie  der  erste  Napoleon,  wird  zugeben  müssen,  dass 
die  socialen  Wirkungen  dieser  Massregel  wol  noch  weit  über  diese 
Perspective  hinausgingen.    Freilich  erfordert  dieselbe  die  bedeutend- 
sten Anstrengungen  und. Opfer  seitens  des  Staates.    Man  denke 
nur  einmal  an  die  Geldmittel,  welche  diese  Staatsaction  in  grösstem 
Style  erforderlich  machte.    Mit  den  hundert  Millionen,  welche  durch 
das  Gesetz  vom  26.  April  1886  bewilligt  wurden,  glaubt  die  Re- 
gierung 100000  Hektare  in  Posen  und  Westpreussen  ankaufen  und 
colonisiren  zu  können.  Um  die  Colonisation  auf  eine  Million  Hektare 
auszudehnen,  bedürfte  es  also  einer  Summe  von  tausend  Millionen 
Mark.    Es  braucht  nun  nicht  erst  besonders  bemerkt  zu  werden, 
dass  Preussen  ein  solch  colossales  Capital  nicht  auf  einmal  für 
colonisatorische  Unternehmungen  aufwenden  kann,  und  es  ergiebt 
sich  hieraus  mit  Notwendigkeit  die  Folge,  dass  es  sich  nicht  darum 
handeln  kann,  von  heute  auf  morgen  die  Ausführung  der  inneren 
Colonisation  in  dem  bezeichneten  Umfange  zu  decretireu,  sondern 
dass  es  eine  Massregel  gilt,  die  nur  während  einer  Reihe  von 
Generationen  zu  volleuden  ist.   Dadurch  unterscheidet  sich  diese 
wahrhaft  staatsmännische,  der  socialen  Gerechtigkeit  in  vollstem 
Masse  Rechnung  tragende  Agrarpolitik  von  den  utopischen  Zielen 
des  Socialismns  und  Communismus;  sie  erstrebt  nicht  Erwerbs- 
formen, welche  mit  der  heutigen  Rechts-  und  Wirtschaftsordnung 
jedes  Zusammenhanges  absolut  entbehren,  sie  will  nicht  zurückkehren 
zu  Besitz-  und  Eigenthumsformen,  welche  den  überwundenen  Zeiten 
der  Barbarei  angehören  und  die  Entfaltung  der  Cultur  unmöglich 
machen,  sondern  sie  will  vom  Boden  der  bestehenden  Verhältnisse 
aus  die  bedenklichen  Erscheinungen  der  Gegenwart  beseitigen,  die 
ungesunden  Verhältnisse  verbessern  ;  sie  will  die  Reform,  aber 
nicht  die  Revolution.   Sie  knüpft  lest  und  einfach  an  die 
Formen  des  wirtschaftlichen  Lebens  an,  wie  sie  seit  Jahrhunderten 
und  Jahrtausenden  bestehen;  sie  will  alles  Berechtigte,  was  besteht, 
sorgfältig  erhalten,  sie  will  nur  so  weit,  als  es  notwendig  ist,  eine 
massvolle  Correctur  in  der  bestehenden  Verteilung  des  Grund- 
eigentums eintreten  lassen«.    Ob  der  preussische  Staat  sich  ent- 
schliessen  wird,  die  innere  Colonisation  in  diesem  Umfange  zu  be- 
ginnen und  durchzuführen,  ob  er  in  Anknüpfung  an  die  Traditionen 
der  Friedericianischen  Monarchie  die  Agrarreform  des  Freiherrn 

1  Vgl.  G.  Schmoller  in  Beinem  Referat  auf  der  Generalversammlung  des 
Vereins  für  Socialpolitik,  abgedruckt  in  den  Schriften  des  Vereins  für  Social 
Politik  Bd.  33.    Leipzig,  Duucker  &  Humblot  1887.    S.  90-101. 

BaltUrho  Monatwehrift,  Band  XXXVI,  Ihm  6.  34 


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Zur  inneren  Colonisation  in  Preussen. 


von  Stein  und  des  Fürsten  Hardenberg  fortsetzen  und  weiterbilden 
wird,  dafür  wird  der  Erfolg  der  Colonisation  in  Posen  und  West- 
preussen  von  massgebender  Bedeutung,  dafür  wird  bestimmend  sein, 
ob  der  preussische  Beamte  heute  noch  eben  so  gut  zu  colonisiren 
versteht  wie  vor  einem  Jahrhundert,  ob  die  Nachkommen  jener 
Manner,  welche  mit  Kelle  und  Pflug  nicht  minder  wie  mit  Schwert 
und  Spiess  am  Ostwall  des  Reiches  deutsche  Cultur  und  deutsches 
Wesen  verbreiteten,  die  gleiche  Fähigkeit  besitzen  wie  die  Vor- 
fahren, und  um  deswillen  rechtfertigt  es  sich  vollkommen,  wenn 
im  Eingang  dieser  Darstellung  gesagt  wurde,  das  Colonisationswerk 
in  den  beiden  Provinzen  habe  nicht  nur  eine  nationale,  sondern 
auch  eine  socialpolitische  Bedeutung  von  grosster  Tragweite 
«Ziemlich  die  Hälfte  des  Gebietes,  welches  in  Europa  die 
Deutschen  jetzt  inne  haben,  ist  nicht  blos  durch  das  Schwert, 
sondern  mehr  noch  mit  Axt  und  Pflug,  mit  Mauerkelle  und  Ellen- 
stab erworben.  Jede  Form  von  Colonisationsthätigkeit  war  dabei 
vertreten.  Deutsche  Fürsten  legten  Dörfer  und  Städte  an,  Ritter 
und  Gewerker  kamen  im  Hofgefolge  oder  jeder  auf  eigene  Hand. 
Bauern  familienweise  oder  in  ganzen  Zügen,  hier  betrieben  Unter- 
nehmer planmässig  die  Ansiedelung,  dort  baute  jeder  sich  einzeln 
den  Wohnsitz,  Kaufleute  gründeten  Factoreien  und  zogen  die  Er- 
oberung hinter  sich  her,  Mönchsorden  nahmen  sich  ganze  Land- 
striche zum  Ziele  für  Feld-,  wie  für  Schul-  und  Kircheubau,  Ritter- 
orden richteten  sich  im  Neuland  fürstliche  Herrschaft  ein,  Fürsten 
und  vornehme  Frauen  im  Slavenlande  wandelten  ihre  Städte  und 
Dörfer  zu  deutschen  um'.»  In  diesen  anschaulichen  Worten  hat 
ein  hervorragender  deutscher  Historiker  ein  zutreffendes  Bild  von 
dem  Umfang  und  der  Wirksamkeit  der  deutschen  Colonisation  im 
Osten  gegeben,  wie  sie  seit  den  Zeiten  Karls  des  Grossen  betrieben 
wurde.  Galt  es  damals  der  Cultur  und  Civilisation  neue,  ausge- 
dehnte Gebiete  zu  erwerben,  so  gilt  es  heute  die  culturwidrige 
Gestaltung  der  Grundeigenthumsverhältnisse  zu  ändern  und  durch 
eine  Vertbeilung  des  Grund  und  Bodens  zu  ersetzen,  welche  die 
Existenz  solcher  Zustände,  wie  sie  die  antike  Welt  zur  Zeit  Neros 
gekannt  hat  und  wie  sie  die  moderne  Welt  in  Irland  kennt,  un- 
möglich macht.  Es  wird  eine  der  gewaltigsten  Thaten  in  der  Ent- 
wirkelung  des  preuss'schen  Volkes  sein,  wenn  der  preussische  Staat 

*  F.  v.  UAu-r.  Beitrüge  zur  Gceehiriit*  und  Völkerkunde  II,  S.  1.  Frank 
um  u  m.  IHK*}. 


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Zur  inneren  Colonisation  in  Preussen. 


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sich  dieser  Aufgabe  unterzieht.  Die  Agrarreformgesetze  alter  und 
neuer  Zeit,  die  Beseitigung  der  Leibeigenschaft  und  die  Aufhebung 
der  Grundlasten  weiden  neben  ihr  an  Bedeutung  zurücktreten.  Was 
frühere  Generationen  an  dem  Bauerstand  gesündigt,  was  die  Feudal- 
zeit an  ihm  durch  das  Bauernlegen  verbrochen  hat,  wird  durch  die 
Colonisation  wenigstens  zum  Theile  wieder  gut  gemacht  und  ge- 
sühnt werden,  und  so  darf  man  mit  einem  der  Männer,  welche  be- 
geistert die  Fahne  der  inneren  Colonisation  hochgehalten,  mit  dem 
Pastor  von  Bodelschwingh,  dem  Vater  der  <  Arbeitercolonien»,  die 
Hoffnung  hegen,  dass  sie  ein  Mittel  bieten  wird,  «aus  hoffnungs- 
losen Menschen,  die  niemals  eine  Verbesserung  ihrer  Lage  hoffen 
können,  hoffnungsvolle  zu  machen,  die  taglich  sich  weiter  empor- 
arbeitend, einem  friedlichen  Lebensabend  entgegensehen  und  auch 
ihren  Kindern  ein  kleines  Erbtheil  überlassen  können«». 

Main  z.  Dr.  L  u  d  w  i  g  F  u  1  d. 


*  VerhftmHmitfeii  d«'s  Wivins  für  Sozialpolitik  n  *  <>  S  110. 


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Russlands  Volkswirtschaft. 


HapojRoe  xo3aficTDo  Poccih,  B3CJt*OBaH*ifl  B.  II.  Be3o6pa30Ba,  ji»RcTBBTe.ii.naro 
Hjciia  IlrnieparopcKofi  A  kucmih  Haysi.   MocKOicsai  npoMunuciiHaa 
o6^aCTb,  Theil  I,  1882,  Thcil  II  und  Beilage  1885.    St,  Petersburg. 
(Französische  Ausgabe  unter  dein  Titel:  E tu  des  sur  l'economie  na 
titmale  de  la  Iiuxsie.  1886.) 

as  vorliegende  Werk  des  auch  in  Westeuropa  wohlbekannten 
Nationalökonomen,  Akademikers  und  Senateurs  Geheim- 
rath  W.  ßesobrasow  ist  die  Frucht  mehrjähriger  Studienreisen,  die 
er  in  amtlichem  Auftrage  zur  Klarlegung  der  bedeutungsvollen 
Frage  ausführte,  wie  die  Volkswirtschaft  Russlands  und  insbe- 
sondere sein  gewerbliches  und  Handelsleben  in  den  zwei  ersten 
Decennien  nach  Abschaffung  der  Leibeigenschaft  und  dem  Insleben- 
treten  der  vielen,  die  ökonomischen  wie  die  gesammten  socialen  Be- 
dingungen umgestaltenden  Reformen  sich  gestaltet  hat.  Der  Ver- 
fasser war  für  die  Ausführung  dieser  durch  den  Maugel  an  den 
erforderlichen  Vorarbeiten  in  der  Literatur  besonders  erschwerten 
Aufgabe  ganz  vorzüglich  geeignet,  da  er  während  des  ganzen  in 
Rede  stehenden  Zeitabschnitts  sich  dem  Studium  der  einschlägigen 
Fragen,  an  die  sich  vielfache  Excursionen  in  die  verschiedenen 
Theile  des  Reiches  knüpften,  gewidmet  hatte.  Den  Ausgangspunkt 
hatte  hierbei  ein  Hauptcentrum  des  russischen  gewerblichen  Lebens, 
die  Messe  zu  Nishni-Nowgorod,  gebildet,  deren  geschichtliche  und 
gegenwärtige  Bedeutung  er  im  Jahre  1804  untersucht  hatte.  Die 
Frucht  dieser  Studien  war  die  den  Charakter  einer  Monographie 
überragende,  werthvolle  Schrift:  OicpKH  HiiseropoACKofl  apiiapicn, 


Russlands  Volkswirtschaft. 


515 


Moskau  1886.  Es  sei  noch  bemerkt,  dass  der  Verlasser  auch  mit 
der  Redaction  des  Berichts  über  die  moskauer  Ausstellung  vom 
Jahre  1882  betraut  ward,  der  unter  dem  Titel  Ot'ictt»  o  Bcepoccifl- 
CKofl  XYAoacecTBenuo-npoMLiiflJteuuofl  BucTaBKt  1882  ro^a  ot>  MockbIi 
in  sechs  grossen  Bänden  1883  und  1884,  St.  Petersburg,  er- 
schienen ist. 

Das  uns  an  dieser  Stelle  beschäftigende  Werk,  cDie  Volks- 
wirtschaft Russlands >,  nimmt  eine  eigen thümliche  Stellung  in  der 
russischen  volkswirtschaftlichen  Literatur  ein.  Wer  mit  national- 
ökonomischen und  statistischen  Fragen  Russlands  sich  zu  beschäfti- 
gen hat,  wird  zuerst  freudig  überrascht  sein  über  die  reiche  Fülle 
des  Materials,  das  in  den  letzten  Jahrzehuten  gesammelt  und  mehr 
oder  weniger  verarbeitet  ist.  Dringt  man  aber  näher  in  das 
Material  ein,  so  macht  sich  sogleich  eine  empfindliche  Lücke  fühl- 
bar. Es  ergiebt  sich  nämlich,  dass  die  eine  Gruppe  des  rohen, 
wie  auch  des  verarbeiteten  Materials  nur  Specielles,  Locales,  die 
andere  nur  Allgemeines  bietet.  In  der  ersteren  Gruppe  sieht  man 
den  Wald  vor  lauter  Bäumen,  in  der  anderen  die  Bäume  vor  lauter 
Wald  nicht.  Entweder  erhält  man  einen  allgemeinen,  abgeblassten 
Durchschnitt,  der  die  Gegensätze,  das  Unterscheidende,  das  Be- 
sondere, aus  welchem  sich  schliesslich  doch  das  Allgemeine  ver- 
söhnend, vermittelnd  und  verbindend  gestaltet,  verschwinden  lässt, 
oder  man  verirrt  sich  im  tiefsten  Detail  des  Localen,  Accidentellen 
und  verliert  die  Fäden  des  Zusammengehörigen  und  jeden  Mass- 
stab zur  Beurteilung  selbst  des  Einzelnen,  da  die  organische  Be- 
ziehung des  Einzelnen  zu  grösseren  Gruppen  und  schliesslich  zum 
Allgemeinen  fehlt.  Dieser  Misstand  zeigt  sich  selbst  in  den 
Specialfragen  gewidmeten  Schriften.  Aus  der  reichen  Fülle  greifen 
wir  zur  Illustrirung  dieser  Behauptung  ein  Gebiet,  das  dem  Re- 
ferenten näher  liegt,  heraus  —  die  Agrarfrage  im  weiteren  Sinne 
und  in  dieser  Frage  einige  Specialgebiete.  Das  grosse  Werk  des 
statistischen  Centralcomite"  über  die  Verteilung  des  Grundbesitzes 
in  Russland  ist  auf  Grund  von  Materialien  zusammengestellt,  die 
nach  einem  gemeinsamen  Programm,  nach  einer  Schablone  einver- 
langt sind.  Die  grosse  Bedeutung  dieses  Umstandes,  der  den 
Werth  dieser  grossen  Arbeit  erheblich  schmälert,  in  manchen  Be- 
ziehungen ihn  auf  den  Nullpunkt  bringt  und  den  Uneingeweihten 
geradezu  irreführt,  wird  dem  Leser  aus  dem  Hinweis  auf  ein  Bei- 
spiel klar  werden.  In  Betreff  des  bäuerlichen  Grundbesitzes  geht 
das  Programm  vom  Gemeindebesitz  aus,  und  nach  dieser  Schablone 


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Russlands  Volkswirtschaft. 


sind  die  Materialien  gesammelt,  zusammengestellt,  und  verarbeitet 
auch  in  Betreff  der  Gouvernements,  in  welchen  die  bäuerliche  Be- 
völkerung im  individuellen  Grundbesitzrecht  lebt.  Wenn  nun  auch 
neben  der  Zahl  der  Revisionsseelen  und  der  vorhandenen  (männ- 
lichen) Seelen,  sowie  dem  Lande  des  Gemeindebezirkes  die  Zahl 
der  bäuerlichen  Höfe  vermerkt  ist,  so  erhalten  wir  doch  kein  oder 
ein  falsches  Bild  der  thatsächlichen  Vertheilung  des  bäuerlichen 
Grundbesitzes,  zumal  der  Begriff  des  Hofes  sowol  beim  Gemeinde- 
besitze, als  auch  bei  parcellirtem  individuellen  Grundbesitz  kein 
fest  begrenzter  ist.  Der  Fehler  des  Schablonenhaften  tritt  um  so 
greller  hervor,  je  mehr  wir  auf  das  Detail  (Kreise,  Gruppen  der 
bäuerlichen  Bevölkerung,  Grösse  des  ßauerlandes  pro  Hof  &c.)  ein- 
gehen, und  zum  Schluss  erhalten  wir  eine  Caricatur  der  thatsäch- 
lichen Verhältnisse. 

Ein  Gegenstück  zu  dieser  alles  nivellirenden  Statistik  bietet 
uns  die  seit  dem  letzten  Decennium  aufblühende  landschaftliche 
Statistik,  insbesondere  so  weit  sie  die  wirthschaftlichen  Verhältnisse 
zum  Object  hat.  Hier  finden  sich  die  speciellsten  Detailunter- 
suchungen :  die  Gruppirung  erstreckt  sich,  wenn  auch  freilich  nur 
als  Ausnahme,  auf  die  Wolost.  sonst  auf  den  Kreis.  Nur  eine 
Landschaft  hat  es  bisher  zu  einer  Darlegung  und  zusammenfassenden 
Schilderung  eines  ganzen  Gouvernements  gebracht  (Moskau).  Er- 
innern wir  uns  jedoch  dessen,  dass  die  russischen  Gouvernements 
nicht,  wie  etwa  z.  B.  unsere  baltischen  Provinzen,  die  preussischen 
Provinzen,  die  bayerischen  Kreise  &c,  historisch  und  social-ökono- 
misch  ausgeprägte  Individualitäten  sind,  sondern  vielmehr  aus 
praktischen  Erwägungen  der  Verwaltung  hergestellte  Bezirke  dar- 
stellen ,  wie  etwa  die  französischen  Departements ,  so  ergiebt 
sich,  dass  auch  solch  eine  Gruppirung  uns  kein  Ganzes  bietet. 
Mau  hat  nun  freilich  andererseits  in  der  allgemeinen  Statistik 
Gruppirungen  von  Gouvernements  je  nach  ihrer  historischen  und 
wirthschaftlichen  organischen  Zusammengehörigkeit  aufgestellt,  aber 
wegen  der  anderen,  zum  Theil  oben  berührten  Mängel  dieser 
Statistik  tritt  das  Typische  der  Gruppen  nicht  plastisch  entgegen. 

Von  den  Versuchen,  diese  beiden  gegensätzlichen  Methoden 
der  Untersuchung  und  der  Schilderung  der  wirthschaftlichen  Ver- 
hältnisse organisch  zu  verbinden,  ist  der  gelungenste  und  in  wesent- 
lichen Beziehungen  der  erste  Versuch  das  Werk  Besobrasows.  Er 
hat  es  verstanden,  in  geradezu  künstlerischer  Gestalt  in  seinen 
Darstellungen  das  Allgemeine  aus  dem  Besonderen  und  das  Be- 


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Russlands  Volkswirtschaft. 


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sondere  aus  dem  Allgemeinen  hervortreten  und  entstehen  zu 
lassen.  Ein  besonderes  Verdienst  uud  dem  weiten  Gesichtspunkt 
des  Verfassers  entsprechend  ist  es,  dass  überall  das  wirtschaftliche 
Leben  und  seine  Gestaltung  in  dem  inneren  Causalnexus  mit  der 
geschichtlichen  Entwickelung,  mit  den  sittlichen  uud  socialen  Ver- 
hältnissen aufgefasst  und  geschildert  wird.  Wir  bezeichnen  dieses 
Verdienst  als  ein  besonderes,  weil  gerade  die  Loslösung  des  wirth- 
schaftlichen  von  dem  culturellen  Leben,  wie  sie  in  den  volkswirt- 
schaftlichen Schriften  üblich  ist,  die  volle  Ergründung  selbst  des 
wirtschaftlichen  Lebens  unmöglich  gemacht  hat. 

Es  würde  den  mir  zu  Gebote  gestellten  Raum  überragen, 
wollte  ich  auch  nur  in  allgemeinen  Umrissen  den  Inhalt  des  reich- 
haltigen Werkes  skizziren.  Ich  beschränke  mich  daher  auf  nach- 
folgende Bemerkungen,  um  dem  Leser  ein  Bild  seines  Charakters 
zu  bieten,  sowol  was  die  Methode  der  Untersuchung  als  auch  was 
die  Art  der  Behandlung  des  Stoffes  anbetrifft,  Das  erste  Capitel 
bietet  uns  das  Gruudthema  des  Werkes  :  das  moskausche  Industrie- 
gebiet. Nach  einer  kurzen  äusseren  Umgrenzung  dieses  Moskau 
zum  Hauptcentrum  habenden  Gebietes,  die  sich  in  ihrer  Speeialisi- 
rung,  in  der  Kennzeichnung  der  Nebencentren  &c.  vorteilhaft  von 
der  usuellen  schablonenhaften  Einreihung  der  Gouvernements  unter- 
scheidet, erhalten  wir  eine  plastische  Skizze  der  natürlichen  Be- 
dingungen dieses  grossen  Landstrichs,  dem  schon  durch  die  Natur 
ein  gesonderter,  in  gewisser  Beziehung  in  sich  abgeschlossener 
Charakter  gegeben  ist,  sodann  einen  geistvollen  historischen' Ueber- 
blick  der  Entstehung  und  durch  die  natürlichen  und  ökonomischeu 
Bedingungen  geförderten  Ausbildung  Moskaus  zum  moskauschen 
Staat,  des  aus  vielen  Stämmen  und  Völkern  sich  durch-  und  aus- 
arbeitenden Grossrussenthums  und  seiner  Bedeutung  für  das  wirt- 
schaftliche und  staatliche  Leben  Moskaus  und  Russlands.  Besonders 
wohltuend  in  der  heutigen  Zeit  der  nationalen  Schwindeleien  wirkt 
es  auf  den  Leser,  dass  der  Verfasser  bei  all  seiner  Liebe  für  sein 
Volksthum,  die  stets  sympathisch  wirkt,  sich  durchaus  von  jeder 
nationalen  Ueberhebung,  wie  sie  heute  so  beliebt  ist,  freihält ; 
nirgends  verdrängt  das  Nationale  das  Allgemeinmenschliche.  Auch 
müssen  wir  als  einen  besonderen  Vorzug  hervorheben,  dass  in  einer 
Zeit  des  herrschenden  Pessimismus,  wo  insbesondere  auf  ökonomi- 
schem Gebiet  nur  Grau  in  Grau  gemalt,  das  günstig  Auf  knospende 
nicht  beachtet  wird,  er  die  Ansätze  einer  gesunden  Entwickelung 
überall,  wo  sie  sich  zeigen,  nach  Gebühr  hervorhebt,  Licht  und 


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Russlands  Volkswirtschaft. 


Schatten  gerecht  vertheilt  und  sich  hierbei  nicht  durch  das  Schlag- 
wort «unberechtigter  Optimismus »  beirren  lässt.  Das  erste  Capitel 
stellt  sich  gleichsam  als  Leitmotiv  für  das  ganze  Werk  dar,  die 
folgenden  Capitel  führen  im  einzelnen  aus  und  begründen  somit 
das  im  ersten  Capitel  in  allgemeinen  Umrissen  Dargelegte.  Diese 
Capitel  behandeln:  «Die  Wolga  von  Twer  bis  Nishni-Nowgorod 
«Die  Messe  in  Nishni-Nowgorod  und  den  allgemeinen  Stand  unseres 
gewerblichen  Lebens»  (im  ersten  Band),  «Das  Gouvernement  Nishni- 
Nowgorod  und  die  Oka  von  Nishni-Nowgorod  bis  Räsan>,  «Das 
Gouvernement  Jaroslaw».  Jedes  Capitel  liest  sich  wie  eine  span- 
nende Erzählung,  da  es  dem  Verfasser  geglückt  ist,  den  schweren 
Apparat  des  statistischen  und  anderen  Materials,  des  speciellen 
Nachweises  für  das  Geschilderte  in  der  ersten,  an  den  Schluss  des 
ersten  Bandes  gebrachten  und  in  der  zweiten,  einen  besonderen 
Band  bildenden  Beilage  zu  deponiren  ;  einige  in  diesen  Beilagen 
gebotene  Artikel  tragen  den  Charakter  werthvoller  Monographien, 
die  um  ihrer  selbst  willen  Beachtung  verdienen,  indem  sie  wichtige 
Specialfragen  klarstellen.  —  Iu  den  geistvollen  Schilderungen  geht 
der  Verfasser  vielfach  auf  geringste  Einzelheiten  ein,  bietet  Detail- 
malereien aus  dem  Leben  des  kleinen  Handwerkers,  eines  durch 
eigene  Tüchtigkeit  heraufgekommenen  Bauers,  aus  dem  glücklichen 
und  tieftraurigen  Leben  des  Hausindustriellen  und  des  Fabrik- 
arbeiters, oder  er  schildert  Scenen,  wie  sie  sich  auf  der  Reise  boten 
(zufällige  Reisebekanntschaften  &c).  Der  aufmerksame  Leser  findet 
aber  schnell  heraus,  dass  der  Verfasser  nicht  einer  Liebhaberei 
ungebührlich  nachgiebt,  sondern  dass  das  Detail  wesentlich  zum 
Verständnis  des  Ganzen  erforderlich  ist :  es  sind  das  alles  typische 
Erscheinungen,  die  die  verschiedenen  Bevölkerungsgruppen,  Gewerbe 
und  die  social-ökonomischen  Verhältnisse  charakterisiren.  Das  Be- 
sondere wird  immer  unter  dem  Gesichtspunkt  des  Allgemeinen  und 
das  Allgemeine  unter  dem  des  Besonderen  betrachtet  und  beurtheilt, 
dabei  tiberall  mit  einem  Zurückgehen  auf  die  historische  Erklärung 
der  Erscheinungen  verbunden. 

Unter  diesen  Capiteln  möchte  ich  die  Palme  dem  letzten 
reichen  —  sowol  in  Betreff  der  Vielgestaltigkeit  der  behandelten 
Fragen,  als  auch  in  Betreff  der  geistvollen  und  anregenden  Be- 
handlung. Wir  befinden  uns  hier,  im  Gouv.  Jaroslaw,  auf  alt- 
slavischem  Culturboden  (Besiedelung  aus  Gross-Nowgorod ,  das 
Rostow-Ssusdaler  Land),  das  weniger  als  irgend  ein  anderer  Land- 
strich —  nach  Abschluss  der  Kämpfe  um  die  Vorherrschaft  mit 


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Russlands  Volks Wirtschaft. 


510 


Wladimir  uud  Moskau  —  von  den  späteren  Wirren  und  Stürmen 
der  Geschichte  Russlands  (nur  noch  vom  polnischen  Einfall  am 
Anfang  des  17.  Jahrhunderts  betroffen)  berührt  worden  ist.  So 
hat  denn  auch  dieses  Gebiet  mehr  als  ein  anderes  sich  die  alten 
Cnlturelemente  erhalten  können,  die,  beeinflusst  und  modificirt  durch 
die  moderne  Entwicklung,  ein  eigenartiges  Leben  sowol  in  allen 
gewerblichen  Zweigen  wie  in  der  socialen  Ausgestaltung  geschaffen 
haben,  das  viel  mehr  individuelle  Ausprägung  zeigt  als  sonst  irgend 
ein  inneres  Gouvernement.  Das  eigenartige  Gepräge  tritt  uns  ent- 
gegen sowol  in  der  bäuerlichen  Wirthschaft:  besondere  Gestaltung 
des  Gemeindebesitzes,  hohe  Eutwickelang  des  weit  berühmten  Garten- 
baues, der  Hausindustrie  in  allen  ihren  Formen,  als  auch  im  Fabrik- 
und  Handels wesen,  in  der  harmonischen  Vertheil ung  des  Grundbesitzes 
(in  seinen  Hauptarten)  und  eudlich  noch  im  geistig-sittlichen  und 
religiösen  Leben  (die  grösste  Verbreituug  der  Kenntnisse  des  Lesens 
und  Schreibens,  Sectenwesen,  Klöster  <fec.  &c).  Als  R&sultat  der 
gesonderten,  allmählichen,  weniger  unterbrochenen  culturellen  Ent- 
wickelung  begegnen  wir  hier  mehr  gefestigten  Formen  in  Handel 
und  Wandel,  im  Denken  und  Fühlen  —  gegenüber  dem  Unfertigen, 
Schwankenden,  Verschwommenen  in  den  anderen  Landstrichen.  Der 
eigentümliche  Charakter  dieses  Gebietes  ist  so  hervorstechend,  dass 
bei  Behandlung  irgend  welcher  Specialfrage  des  social-ökonomischen 
Lebens  dieses  Gouvernement  und  selbst  Theile  desselben  eine  ge- 
sonderte Darlegung  beanspruchen;  so  hat  auch  schon  Haxthausen 
in  seinem  berühmten  Werk  über  Russland  (in  den  vierziger  .fahren) 
mit  seinem  tiefen  Verständnis,  man  möchte  fast  sagen  instinctiven 
Feingefühl  für  alles  Organische  einer  volkstümlichen  Entwickelung 
diesem  Landstrich  die  eingehendste  Behandlung  zu  Theil  weiden 
lassen.  Wer  die  historischen  und  natürlichen  Erklärungsgründe 
jenes  Entwickelungsprocesses  kennen  zu  lernen  trachtet,  den  ver- 
weisen wir  auf  diesen  glänzend  geschriebenen  Aufsatz. 

Wir  können  es  nicht  unterlassen,  die  Aufmerksamkeit  des 
Lesers  auf  eine  Specialfrage,  die  der  Verfasser  an  mehreren  Stellen 
seines  Werkes  behandelt,  zu  lenken.  Wir  meinen  die  in  mehr- 
facher Beziehung  charakteristische  und  lehrreiche  Gestaltung  des 
wirthschaftlichen  und  communalen  Lebens  in  den  sogenannten  « Dorf- 
Stadten>.  Es  sind  das  Dörfer,  die,  durch  je  nach  der  Oertlichkeit 
verschiedene  Umstände  begünstigt,  ein  reich  entwickeltes  gewerb- 
liches Leben  zeigen,  das  Aussehen  und  den  Charakter  wirklicher 
Städte  haben,  doch  aber  officiell  als  Dörfer  gelten,  da  sie  nicht 


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520 


Russlauds  Volkswirtschaft. 


in  die  Rangklasse  der  Städte  einrubricirt  sind.  Sie  bilden  ein 
interessantes  Gegenstück  gegen  die  in  Russland  sich  so  zahlreich 
tindenden  officiellen  Städte,  die  sich  in  der  äusseren  Gestalt  und 
in  der  Beschäftigung  der  Bewohner  als  vollständige  Dörfer  er- 
weisen und  nichts  anderes  vom  Städtischen  haben,  als  dass  sie 
die  betreffenden  Kronsbehörden  beherbergen  und  mit  der  allgemeinen 
Städteordnnng  bedacht  sind  —  ein  Kleid,  das  für  die  einfachen 
ländlichen  Verhältnisse  viel  zu  weit  ist,  eine  Verfassung,  deren 
complicirter  Verwaltungsapparat  die  Entwicklung  des  Gemeinde- 
lebens nicht  fördert,  sondern  erstickt.  Das  entgegengesetzte  Bild 
zeigen  uns  nun  die  « Dorf-Städte >,  die  sich  vielfach  im  « Industrie- 
gebiet >  Russlauds,  vornehmlich  in  den  Gouv.  Jaroslaw,  Nishni- 
Nowgorod.  Wladimir  &c.  finden  ;  sie  haben  nichts  Dorfartiges  als 
den  Namen.  Der  letzte  thatsächliche  Nachklang  an  das  ursprüng- 
liche Dorf  leben  ist  das  Verhältnis  zum  Grundbesitz  und  das  ge- 
nossenschaftliche Recht  an  demselben.  Hier  ergiebt  sich  nun  die 
wissenschaftlich  sehr  bedeutungsvolle,  bisher  nur  aus  kümmerlichem 
Material  und  Combinationen  ermittelte,  eigentlich  nur  hypothetisch 
aufgestellte  (Keussler)  Erscheinung,  dass  in  Russland  ganz  wie  in 
der  germanischen  Welt  (Maurer,  Arnold  u.  a)  die  alten  Städte  sich 
aus  dem  markgenossenschaftlichen  Verbände  der  Dörfer  entwickelt 
haben.  Während  in  germanischen  Landen  der  Umwandlungsprocess 
vom  markgenossenschaftlichen  Grundbesitzrecht  zum  Corporations- 
gut  im  Sinne  des  römischen  Rechts  sich  fast  nur  uoch  aus  ver- 
gilbten Acten  ermitteln  lässt,  finden  wir  in  russischen  « Dorf- 
Städten  >  diesen  Process  im  Werden  begriffen.  Hier  sehen  wir  die 
volle  Stufenleiter  der  Umwandlung  noch  lebendig  vor  Augen  :  in 
der  einen  Gruppe  dieser  Dorf-Städte  wird  noch  ein  Theil  des  Landes 
nach  markgenossenschaftlichem  Recht  genutzt,  in  einer  audereu 
aber  schon  nur  von  einem  Theil  der  Genossen,  in  der  dritten  wird 
endlich  das  ganze  Gemeindeland  (mit  Bevorzugung  der  berechtigten 
Genossen)  verpachtet  und  der  Erlös  nach  Entrichtung  der  Ablösungs- 
zahlungen, so  weit  solche  vorliegen,  zur  Befriedigung  von  Gemeinde- 
bedürfnissen verwandt  ;  der  letzte  Rest  des  altmarkgenossenschaft- 
lichen  Besitzrechts  am  Gemeindelande  besteht  dann  noch  in  dem 
Recht  des  herangewachsenen  Genossen,  der  sich  ein  eigenes  Heim 
zu  gründen  wünscht,  auf  eine  Landparzelle  zu  einer  Hausstätte 
und  zu  einem  Gärtchen,  sowie  in  dem  Recht  der  gemeinsamen 
Viehweide.  Die  Genossen  beanspruchen  nämlich  nicht  mehr  Land, 
denu  sie  sind  nicht  mehr  Ackerbauer,  sondern  treiben  Gewerbe 


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Russlands  Volkswirtschaft. 


521 


und  Handel  aller  Art.  Je  längere  Zeit  aber  das  markgenossen- 
schaftliche  Recht  nicht  ausgeübt  wird,  um  so  mehr  verschwindet 
es  im  Rechtsbewusstsein  der  Genossen  und  das  ursprünglich  mark- 
genossenschaftliche Besitzthum  wird  zum  Corporationsgut  (im  Sinne 
des  römischen  Rechtes)  erst  der  Gemeindegenossen  und  dann  mit 
Einführung  der  neuen  Städteordnung  auf  einseitigen  Befehl  der 
Staatsregierung,  die  hierdurch  das  alte  Recht  bricht,  zum  allgemein 
städtischen  Corporationsgut,  d.  b.  aller  Stadtbewohner,  wie  bereits 
vielfach  geschehen.  Dieser  Eingriff  in  die  alten  Rechte  droht  auch 
den  noch  bestehenden  <  Dorf-Städten  Und  diese  begründete  Be- 
fürchtung mag  auch  ihrerseits  die  Gemeinde  davon  abhalten,  sich 
um  die  Erhebung  zur  Stadt,  die  den  Genossen  und  dem  Gemein- 
wesen viele  Vortheile  wirtschaftlicher  und  communaler  Natur 
bringen  würde,  zu  bewerben.  So  behelfen  sie  sich  also  noch  mit 
der  alten  Landgemeindeverfassung.  Es  ist  dieses  Kleid  viel  zu 
eng  für  Ortschaften  mit  entwickeltem  Gewerbe-  und  Handelswesen, 
wo,  wie  z.  B.  in  Lyskowo  an  der  Wolga  gegenüber  dem  officiell 
als  Stadt  geltenden  Makarjew,  das  schon  längst  in  Wirklichkeit 
wieder  zum  Dorf  geworden  ist,  täglich  Leute  aus  den  verschieden- 
sten Theilen  des  Reiches  heran-  und  wieder  hinausströmen,  wo  aus- 
ländische Comptoirs  beständige  Agenturen  (zum  Ankauf  von  Getreide) 
unterhalten,  wo  täglich  die  verschiedenartigsten  und  entgegen- 
gesetzten Ökonomischeu  und  öffentlichen  Interessen  an  einander 
stossen,  wo  Millionäre  ihren  Standort  für  die  ausgebreitetsten 
Handelsoperationen  und  reiche  Fabrikthätigkeit  ihren  Wohnsitz 
haben.  In  solchen  Ortschaften  ist  der  oberste  Administrator 
ein  einfacher  Gebietsältester,  in  dem  genaunten  Ort  ein  früherer 
Leibeigener,  der  seit  Aufhebung  der  Leibeigenschaft  mit  bewunde- 
rungswürdigem Geschick  und  zur  allgemeinen  Zufriedenheit  das 
Scepter  führt.    Aehnlich  in  auderen  «Dorf-Städten». 

Solche  Erscheinungen  haben  eiue  allgemeine  commuual-poli- 
tische  Bedeutung.  Sie  zeigen  auch  auf  russischem  Boden  —  in 
Westeuropa  ist  solches  schon  längst  anerkannt  —  die  Wahrheit 
des  Satzes,  dass  eine  tüchtige  Selbstverwaltung,  und  damit  jeglicher 
politische  Fortschritt  und  gesunde  Entwickelung,  sich  nur  organisch 
aus  den  gegebenen  Verhältnissen  und  aus  der  alten  Verwaltung 
heraus  ausbilden  und  erhalten  kann.  Während  die  allgemein  auf- 
tretenden Klagen  über  die  geringe  und  ungeeignete  Thätigkeit  der 
Verwaltung  auf  Grundlage  der  Städteordnung  ihreu  letzten  Grund 
in  dem  unvermittelten  Aufpfropfen  dieser  westeuropäischen,  mit 


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"  ■     •    I  — 

522  Russlands  Volkswirthscliaft.  ' 

bureaukratischer  Bevormundung  vermengten  Institution  auf  Gemein- 
wesen, die  unter  ganz  anderen  Vorbedingungen  als  die  west- 
europäischen Städte  sich  entwickelt  und  dazu  vorher  keine  Uebung 
und  Schulung  in  der  freien  Selbstverwaltung  gehabt  haben,  finden, 
zeigen  uns  viele  «Dorf-Städte>  die  Tüchtigkeit  altgewohnter  freier 
Selbstverwaltung.  Es  ist  charakteristisch,  dass  wir  solches  vor- 
nehmlich, wenn  auch  nicht  ausschliesslich,  in  früher  gutsherrlichen, 
also  leibeigenen  Dörfern  finden.  In  diesen  grossen  Dörfern  (mit 
sich  ausbildendem  Gewerbe-  und  Handelsleben)  begnügten  sich  die 
Gruudherren  mit  dem  Empfang  der  Pauschalsumme  des  Obrok  und 
überliessen  es  der  Gemeinde,  sich  nach  eigenem  Ermessen  zu  ver- 
walten. Thaten  sie  ein  Uebriges,  so  war  es  die  Beschützung  ihrer 
Leibeigenen  und  deren  Verwaltung  gegen  Eingriffe  der  alten  Be- 
hörden. Und  so  konnte  sich  eine  wahrhaft  nationale,  den  gegebenen 
Verhältnissen  innerer  und  äusserer  Natur  entsprechende,  ursprüng- 
liche, freie  Selbstverwaltung  erhalten  und  ausbilden.  Und  diese 
alte  Uebung  und  Schulung  in  der  Ordnuug  der  eigenen  communalen 
Angelegenheiten  verlieh  den  sonst  ungebildeten  Leuten  die  sittliche 
Kraft  und  die  Geschicklichkeit,  auch  grösseren  und  weit  verzweig- 
teren Aufgaben,  die  sich  aus  der  Entwickelung  des  Gewerbe-  und 
Handelslebens  naturgemäss  ergaben,  gerecht  zu  werden  und  zwar 
in  weit  höherem  Masse  als  in  den  Städten  mit  der  neuen  Städte- 
Ordnung,  ungeachtet  dessen,  dass  diese  in  formaler  Beziehung  un- 
streitig dem  städtischen  Leben  mehr  entspricht  als  jene  ländliche 
Verfassung.  Es  ist  hier  nicht  der  Ort,  diese  Gedanken,  zu  denen 
uns  die  lehrreichen  Schilderungen  Besobrasows  angeregt  haben, 
weiter  zu  verfolgen.  Sie  haben  Interesse  und  Bedeutung  auch  für 
andere,  scheinbar  fernliegende  Verhältnisse. 

Der  Leser  des  uns  beschäftigenden  Werkes  wird  auch  noch 
zu  anderen  Gedanken  angeregt  werden  und  manche  Belehrung 
und  tiefere  Erkenntnis  in  der  Ergründung  vieler  die  Welt  be- 
wegender socialer  Probleme  finden  bei  den  Schilderungen  und  Dar- 
legungen der  eigenartigen  Gestaltung  des  wirthschaftlichen  und 
socialen  Lebens  in  diesen  in  wesentlichen  Beziehungen  sich 
selbst  überlassenen  Ortschaften.  Mit  feinem  Verständnis  hat  es 
der  Verfasser  auch  hier  verstanden,  das  Typische  aus  den  wechsel- 
vollen und  bunten  Erscheinungen  herauszuschälen  :  hier  harmonische 
und  kräftige  Entfaltung  der  Hausindustrie,  dort,  mit  Anlehnung 
an  das  Fabrikwesen,  anderweitige  gesunde  Fabrikthätigkeit,  wo  die 
Arbeiter  ein  festes  Heim  und  in  ihrem  verhältnismässigen  Wohl- 


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Russlands  Volkswirtschaft.  523 

stand  einen  Stützpunkt  ihrer  socialen  Selbständigkeit  gegen  die 
üebergriffe  des  Grosscapitals  haben,  dann  aber  auch  volle,  rück- 
sichtslose Herrschaft  des  Capitals  mit  materiellem  und  moralischem 
Niedergang  der  Gedrückten  &c.  Die  wechselvollsten,  aber  immer 
lehrreichen  Bilder. 

Wir  schliessen,  indem  wir  der  Hoffnung  Ausdruck  geben, 
dass  es  dem  Verfasser  gelingen  wird,  bald  auch  die  folgenden 
Bande  zu  vollenden. 

J.  K 


Kunstgeschichtliches  aus  Narva. 


in  prächtiges  Städtebild,  wie  es  in  den  baltischen  Provinzen 
nur  noch  von  dem  malerisch  am  Meer  sich  dehnenden 
Reval  übertroffen  wird,  bietet  Narva,  einst  die  mächtige  Grenzfeste 
gegen  Russland.  Wie  ein  Bild  aus  Merians  c  Beschreibung  der 
vornehmsten  Stätte  und  Oerthor  &c.»  liegt  es  vor  den  Augen  des 
Beschauers,  der  von  der  Bahn  her  sich  der  Stadt  nähert.  Hohe 
trotzige  Wälle,  die  oft  genug  die  Gewalt  der  gegen  sie  geschleuder- 
ten Stein-  und  Eisenkugeln  auszuhalten  hatten,  umgürten  die  Alt- 
stadt und  zeugen  auch  heute  noch  von  der  einstigen  hohen  kriege- 
rischen Bedeutung  des  Ortes.  Wol  hat  die  Wuth  der  Geschosse 
tiefe  Wunden  in  diese  Steinkolosse  gerissen,  doch  ganz  sie  zu  zer- 
stören vermochten  sie  nicht.  Heute  deckt  die  Mauern  moosiges 
Grün  und  saftiges  Laubwerk  rankt  sich  an  ihnen  empor;  keine 
eisengepanzerten  Kriegstruppen  spähen  mehr  von  den  Wällen  auf 
den  nahenden  Feind,  an  ihre  Stelle  sind  fröhliche  Kinderscharen 
getreten,  die  sich  im  lustigen  Spiel  auf  den  zu  freundlichen  Park- 
anlagen umgestalteten  Bewehrungen  umhertummeln,  uud  nur  den 
Alten  mag  zuweilen  beim  Anblick  der  alten  Befestigungen  der  Ge- 
danke an  die  vergangene  Zeit  aufsteigen,  wo  Waffenlärm  und 
Palverrauch  die  Luft  erfüllten  und  der  Schlachtenruf  der  Kämpfen- 
den sich  mit  dem  Aechzen  und  Stöhnen  der  Gefallenen  mischte, 
die  mit  ihrem  Blute  den  Boden  düngten,  dem  heute  grünendes 
Laub  und  bunte  Blumen  entspriessen. 


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Kunstgeschichtliches  aus  Narva. 


525 


Weit  hinaus  über  die  altersgrauen  moosübersponnenen  Wälle 
ragen  die  steilen  Dächer  der  Häuser,  die  schlanken  Thürme  der 
Kirchen  und  des  Rathhauses  empor  und  als  ein  Zeichen  gewaltiger 
Kraft  strebt  wie  ein  Titan  des  Schlosses  riesenhafter  Thurm,  der 
lange  Hennann,  vom  Ufer  der  Narowa  ins  Blau  hinauf.  Dräuend 
lagert  sich  ihm  die  alte  vielthürmige  Feste  Iwangorod  gegenüber, 
die  einst  Iwan  Wassiljewitsch,  der  Fürst  von  Moskau,  als  Trutz- 
burg am  rechtsseitigen  Ufer  des  Stromes  errichtete,  doch  auch 
ihre  Mauern  sind  zerfallen 
und  der  Wind  streicht  durch  die  Hallen  ; 
Wolken  zieh'n  darüber  hin. 
Heute  schauen  diese  beiden  Giganten,  die  sich  einst  wie  feindliche 
Brüder  gegenüber  standen,  friedlich  auf  einander  hin  und  zugleich 
verwundert  auf  das  Treiben  zu  ihren  Füssen,  auf  die  rauchenden 
Essen  der  Fabriken  am  Ufer  der  Narowa,  auf  die  pfeilschnell 
dahinschiessenden  Dampfer  und  Böte  und  auf  das  Getümmel  der 
Menschheit,  die  in  Emsigkeit  und  Fleiss  ihrem  friedlichen  Gewerbe 
obliegt.    In  den  Mauern  der  alten  Schlösser  ist  es  dagegen  einsam 
und  still.    Kein  Horn  ruf  ertönt  mehr  vom  Bergfried,  der  das  Nahen 
reisigen  Kriegsvolks  verkündete,  nur  der  Schritt  des  die  alten 
Stätten  aufsuchenden  Wanderers  weckt  ein  dumpfes  Echo  von  den 
Wänden  oder  schreckt  ein  girrendes  Taubenpaar  vom  Nest,  das 
es  sich  unangefochten  in  den  zerbröckelnden  Schiessscharten  gebaut. 

Vorüber  am  Schloss  betreten  wir  die  Stadt,  die  sich  längst 
über  das  alte  Weichbild  hinaus  ausgebreitet  hat  und  weiter  auszu- 
breiten bestrebt  ist.  Wir  sehen  geschäftige  Arbeiter,  wie  sie  mit 
Mühe  einen  Theil  der  alten  Stadtmauer  niederlegen,  damit  sie 
neuen  friedlichen  Anlagen  das  Feld  räume  und  ihr  festes  Material 
zur  Aufrichtung  dieser  hergäbe.  Uneben  und  eng  ziehen  sich  die 
Strassen  innerhalb  der  alten  Mauerbegrenzung  durch  einander,  mit 
geringen  Abweichungen  noch  dem  Plane  von  1684  folgend,  der 
eine  recht  regelmässige  Anlage  erkennen  lässt  und  nach  dem  grossen 
Brande  vom  5.  Juni  1659  entstand,  an  welchem  Tage  die  ganze 
Stadt  sammt  allen  Kirchen  eingeäschert  wurde. 

Wann  die  Gründung  des  Schlosses  und  der  Stadt  Narva  er- 
folgte, ist  nicht  genau  nachweisbar.  Der  Aeltermann  Johann 
Heinrich  Hansen,  der  in  liebevoller  und  gewissenhafter  Weise  der 
Geschichte  seiner  Vaterstadt  nachgegangen  ist  und  diese  veröffent- 
licht hat,  berichtet  nach  der  Nowgoroder  Chronik,  dass  um  die 
Zeit  von  1268  -1294  am  estländischen  Ufer  eine  Burg  bestanden 


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526 


Kunstgeschichtliches  aus  Narva. 


habe,  die  im  letztgenannten  Jahre  auf  das  ingermannländische  Ufer 
übertragen  worden  sei ;  auch  citirt  er  die  Nachricht  bei  Russow, 
worin  es  heisst :  Desgelilcen  hehbcn  de  Deutschen  och  na  der  tydt 
(d.  i.  nach  der  Gründung  Revals)  de  Schlote  Wesenberg  unde  Narue 
gebutcet,  de  ummeliggcnden  lande  daruth  tho  dtcingende  unde  tho  be- 
schüttende. Erst  im  Anfang  des  14.  Jahrhunderts  wird  das  jetzt 
bestehende  Schloss  gegründet  worden  sein,  das  später  unter  der 
Regierung  des  Ordens  (seit  1347)  entsprechend  umgestaltet  und 
vergrössert  sein  mag.  Zu  seinen  Füssen  entstand  dann  die  Stadt, 
die  sich  im  Laufe  der  Jahrhunderte,  begünstigt  durch  ihre  vor- 
treffliche Lage  an  dem  breiten  ins  Meer  sich  ergiessenden  Strome, 
bald  zu  einer  nicht  unbedeutenden  deutschen  Handelsstadt  aufzu- 
schwingen vermochte.  Die  fast  unausgesetzten  Kämpfe  um  den 
Besitz  der  baltischen  Provinzen  mussten  Narva  am  schwersten 
treffen  und  ausserdem  vernichteten  wiederholte  grosse  Feuersbrtinste 
die  Stadt  oft  ganz.  Zu  den  schrecklichsten  Feuersbrünsten,  von 
denen  Narva  heimgesucht  wurde,  gehörte  diejenige  vom  12.  Mai 
1558,  die  in  dem  Hause  eines  Baders  Kort  Ulken  ihren  Ursprung 
genommen  haben  soll  und  bei  welcher  die  Russen,  indem  sie  die 
in  der  Stadt  herrschende  Verwirrung  benutzten,  einen  Ausfall  aus 
Iwangorod  machten  und  schonungslos  alles  niedermetzelten.  Nach 
,  den  Berichten  des  russischen  Geschichtschreibers  Karamsin,  wie 
auch  in  der  Pleskauer  Chronik,  die  J.  H.  Hansen*  citirt,  ist  diese 
Feuersbrunst  durch  einen  Esten  entstanden,  der  in  seinem  Hause 
Bier  braute  und  das  Bild  des  heil.  Nikolaus  des  Wunderthäters, 
wie  dasjenige  der  Mutter  Gottes  unter  seine  Braupfanne  schob, 
welcher  Frevel  dann  zur  Folge  gehabt,  dass  die  ganze  Stadt  in 
Flammen  aufgegangen  sei.  Als  aber  die  Russen  unter  der  Führung 
des  Wojewoden  Alexei  Basmanow  die  Stadt  mit  stürmender  Hand 
genommen,  habe  man  beide  Bilder  unversehrt  in  der  Asche  ge- 
funden. Eine  zweite  fast  vollkommene  Einäscherung  der  Stadt  er- 
folgte am  20.  August  1610,  während  eine  dritte  am  5.  Juni  1659 
stattfand,  welche  denn  die  obenerwähnte  Veränderung  der  Strassen- 
züge  zur  Folge  hatte.  Ein  Verbot  des  Holzbaues  im  engeren 
Stadtgebiet  war  schon  früher  erfolgt ;  laut  Decret  der  Königin 
Christine  vom  l.  Juli  1646  wird  auch  der  Fach  werkbau  untersagt 
und  nur  der  Steinbau  gestattet. 

Das  älteste  Gebäude  der  Stadt,  dessen  Kern  wenigstens  trotz 
aller  Kriegs-  und  Feuersnoth  unverändert  auf  die  heutige  Zeit  ge- 
kommen ,  ist  die  ehemalige  deutsche  Kirche  St.  Johannes  von 


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Kunstgeschichtliches  aus  Narva. 


527 


Jerusalem,  jetzt  russische  Kirche,  deren  Entstehung  in  den  Anfang 
des  15.  Jahrh.  gesetzt  werden  inuss.  Diese  Kirche  ist  um  so  be- 
merkenswerther,  als  sie  das  einzige  in  den  baltischen  Provinzen 
erhaltene  Beispiel  einer  Hallenkirche  ist  und  dazu  eine  Säulen- 
basilika. Die  Schilfe  haben  eiue  gleiche  Breite  von  21  Fuss  und 
eine  Jochlänge  von  28  Fuss  und  sind  mit  Kreuzgewölben  über- 
spannt, die  sich  auf  zierliche  Säulen  von  achteckigem  Querschnitt 
setzen.  Der  Durchmesser  der  Säulen  beträgt  26  Zoll.  Die 
Arcadenbogen  zeigen  einen  etwas  gedrückten  Spitzbogen  und 
sind  den  Gurtbogen  der  Gewölbe  gleich  mit  einem  auch  den 
meisten  revaler  Kirchen  eigentümlichen,  aus  zwei  birnenförmigen 
Wülsten  gebildeten  Querschnitt  gestaltet.  Die  Säulen  schliessen 
mit  einem  kräftigen,  aus  Rundstab,  Hohlkehle  und  Platte  zusammen- 
gesetzten Capitäl  ab,  während  die  Säulenbasen  eine  der  attischen 
Form  nahe  kommende  Gliederung  zeigen.  Der  Chor  ist  umgestaltet 
und  lässt  seine  frühere  Form  nur  schwer  erkennen.  Es  scheint, 
er  sei  geradlinig  geschlossen  gewesen.  Das  Aeussere  ist  prunklos 
und  einfach.  Die  schweren  Strebepfeiler  reichen  nur  bis  zu  drei- 
viertel der  Wandhöhe  und  sind  pultdachartig  abgedeckt ;  die  Fenster 
zwischen  ihnen  mit  glatten,  abgeschrägten  Laibungen  spitzbogig 
geschlossen.  Der  Thurm  ist  im  oberen  Theil  neu  und  gehört 
der  letzten  Umgestaltung  der  Kirche  für  den  griechischen  Gottes- 
dienst an.  In  derselben  Weise,  wie  an  der  Kirche  zum  heil.  (Jeist 
zu  Reval  der  Thurm  in  minaretartig  schlanker  Gestalt  entwickelt 
ist,  zeigt  sich  auch  derjenige  der  alten  narvaschen  Kirche,  jedoch 
mit  dem  Unterschiede,  dass  dieser  kreisrund,  jener  polygon  gebildet 
ist.  Die  Bedachung,  welche  übrigens  in  Folge  eines  Blitzschlages 
in  der  Nacht  vom  13.  auf  den  14.  Juni  1784  abbranute,  weicht 
dagegen  vollständig  von  dem  revaler  Thurme  ab.  Gehört  derselbe 
mit  seinen  geschwungenen  Kuppeln  und  luftigen  Säulengallerien 
noch  dem  Ausgange  der  Renaissancezeit  an,  so  scheint  dieser  nach 
dem  Muster  der  Petersburger  Peter-Pauls-Kathedrale  gebildet  zu 
sein  :  ein  Kuppeldach,  aus  dem  sich  eine  dünne  schlanke  Spitze 
hinausschiebt.  Die  Herstellung  dieser  Bedachung  geschah  im  .Jahre 
1842  auf  Kosten  des  narvaschen  Bürgers  Abrain  Lawrezow.  Ein 
von  geflügelten  Engelsköpfen  unterbrochenes  gefälliges  Ornament 
und  ein  mageres,  auf  Langconsolen  gestütztes  Hauptgesims  bilden 
den  Schmuck  des  runden  Mauerkörpers.  Absolut  hässlich  ist  die 
ebenfalls  1842  aufgeführte  Kuppel  vor  dem  Ohor.  Sie  ist  aus 
Holz  gebaut,  verputzt,  mit  einem  grün  gestrichenen  halbkugel- 

Raltische  MonuUaelirilt.  RaoJ  XXXIV.  lieft  0.  35 


528  Knnstgeschichtliches  aus  Narva. 


förmigen  Dach  und  aufgemalten  gothischen  Fenstern  versehen  und 
nur  als  rituelles  Bedürfnis  entschuldbar.  Nach  der  Einnahme 
Narvas  durch  Peter  den  Grossen  am  9.  August  1704  wurden  die 
beiden  steinernen  Kirchen,  die  deutsche  (in  Rede  stehende)  und  die 
schwedische  Domkirche,  eingezogen  und  letztere  vorläufig  zur  russi- 
schen Kirche  geweiht,  bis  im  Jahre  1708  am  29.  Juni  in  Gegen- 
wart Peters  und  der  kaiserlichen  Familie  die  ehemalige  deutsche 
Kirche  dem  griechischen  Gottesdienste  geweiht  wurde.  Sie  führt 
seit  jener  Zeit  den  Namen  Cnaco-IIpeo6paxeuia. 

Die  zweite  grössere  Kirche  Narvas  ist  die  schon  erwähnte 
ehemalige  schwedische  Domkirche  zu  St.  Johann,  eine  dreischiffige, 
gewölbte  Säulenbasilika  mit  geradem  in  das  Schiff  hineingebauten 
Chorschluss  und  hohem  achteckigen  Thurme.  Sie  wurde  zwischen 
1630  und  1G48  erbaut,  zeichnet  sich  aber  durch  nichts  besonders 
aus.  Die  Arcaden-  und  Gurtbogen  ruhen  auf  acht  kräftigen  tosca- 
nischen  Säulen  und  sind  im  Halbkreis  geschlossen.  Die  Länge 
der  Kirche  beträgt  189  Fuss,  ihre  Breite  77  und  ihre  Höhe  35  Fuss. 
Der  Thurm  hat  eine  Höhe  von  207  Fuss.  Die  deutsche  Gemeinde 
hatte,  während  ihre  frühere  Kirche  zerstört  dalag  und  die  schwedi- 
sche Domkirche  für  die  Abhaltung  des  russischen  Gottesdienstes 
benutzt  wurde,  zuerst  auf  dem  Rathbause,  dann  im  Börsensaale 
ihre  Andachtsübungen  abgehalten,  bis  die  Kirche  im  Jahre  1732 
auf  Befehl  der  Kaiserin  Anna  Iwanowna  den  Lutheranern  zurück- 
gegeben wurde ;  auch  schenkte  die  Kaiserin  zur  Wiederherstellung 
des  Gebäudes  tausend  Rubel.  J.  H.  Hansen  bringt  in  seiuer  Ge- 
schichte der  Stadt  Narva  den  Auszug  eines  Manuscripts  des  ehe- 
maligen Bürgermeisters  Gerhard  Heinrich  Arps,  der  mit  grosser 
Ausführlichkeit  die  zu  jener  Zeit  an  dem  Kirchengebäude  unter- 
nommenen Arbeiten  beschreibt.  Am  23.  April  1747  wurde  durch 
ein  in  der  Nähe  ausgebrochenes  Feuer  der  Thurm  der  Kirche  zer- 
stört und  erst  am  22.  September  1789  konnte  durch  den  Stadt- 
baumeister Heinrich  Wilhelm  Zappe  Kugel  und  Kreuz  aufgebracht 
werden.  Dieser  Thurm  zeigt  eine  eigenthümlich  geschwungene, 
aber  nicht  unschöne  Spitze,  die  ein  rühmliches  Zeichen  für  das 
Kunstverständnis  des  alten  narvaschen  Stadtbaumeisters  ablegt. 
Zappe  starb  im  Alter  von  90  Jahren  im  Jahre  1839,  wie  Hansen 
berichtet,  und  ihm  folgte  sein  Sohn  Johann  im  Amte. 

Das  jetzige  Rathhaus  wurde  an  Stelle  des  durch  den  Brand 
von  1(559  zerstörten  aufgeführt  und  lf>71  vollendet.  Zwar  ist  es 
styl  ist isch  nicht,  von  hohem  Werth,  doch  wirkt  die  gefällige  Ver- 


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Kunstgeschichtliches  aus  Narva.  529 

theilung  der  Massen  und  die  imposante  Freitreppe  mit  dem  schwung- 
voll gearbeiteten  Eisengeländer,  in  welchem  sich  die  Wappenzeichen 
des  Stadtwappens  (Fische  und  Schwerter)  abwechselnd  wiederholen, 
sehr  wohlthuend.  Ueber  der  Mitte  des  Daches  erhebt  sich  ein 
schlanker,  achteckig  gestalteter  Dachreiter  mit  geschwungenen 
Kuppeln,  deren  obere  in  einen  zierlichen  Spitzhelm  ausläuft  und 
von  einem  vergoldeten  Kranich,  als  Zeichen  der  Wachsamkeit,  ge- 
krönt wird.  Das  Oberlicht  des  rundbogig  gestalteten  Hauptein- 
ganges ziert  ebenfalls  ein  hübsches  Eisengitter,  indes  über  dem 
Eingange  das  in  Stein  gehauene  Wappen  der  Stadt  prangt,  welches 
König  Johann  III.  von  Schweden  der  Stadt  im  Jahre  1585  ver- 
liehen haben  soll.  In  der  Mitte  eines  blauen  ovalen  Schildes,  den 
ein  geflügelter  Engelskopf  überragt,  während  seine  Flanken  von 
schilfartigen  Blättern  begleitet  werden,  sieht  man  unter  einander 
zwei  nach  verschiedenen  Richtungen  schwimmende  Fische,  unter 
ihnen  einen  liegenden  krummen  Bojarensäbel  und  eine  schwarze 
Kanonenkugel ;  über  den  Fischen,  zwischen  zwei  ähnlichen  Kugeln 
ein  nach  links  aufwärts  gerichtetes  Ritterschwert.  —  Die  Frei- 
treppe emporschreitend,  tritt  man  durch  den  Haupteingang  in  einen 
geräumigen  Vorflur,  in  dessen  Hintergrunde  die  Treppe  zum  zweiten 
Stockwerk  emporführt.  Die  Decke  dieses  Flurs  lässt  die  sehr  eng 
gelegten,  kräftig  profilirten  Balken  sehen,  die,  wie  die  Vertiefungen 
zwischen  ihnen,  mit  einem  polychrom  gehaltenen  Ornament  bemalt 
sind.  Die  Treppe  emporsteigend,  gelangt  man  in  einen  grossen, 
etwas  niedrigen  Vorsaal,  dessen  Decke  ein  grosses  Oelgemälde  auf 
Leinwand  bedeckt.  Die  Mitte  dieses  Gemäldes  stellt  eine  thronende 
Königin  dar,  vielleicht  die  Königin  Christine  von  Schweden,  um- 
geben von  den  allegorischen  Gestalten  der  Wissenschaften  und 
Künste,  denen  sich  rechts  vom  Thron  die  allegorische  Figur  der 
Stadt  Narva,  eine  zarte  weibliche,  mit  der  Mauerkrone  geschmückte 
Gestalt,  die  in  den  Händen  das  Stadtwappen  hält,  anschliesst.  Zu 
Häupten  der  thronenden  Königin  mit  dem  goldenen  Scepter  in  der 
Rechten  schwebt  eine  weibliche  Gestalt,  die  der  Königin  die  Krone 
zu  reichen  im  Begriffe  ist.  Dieses  runde  Mittelbild  umgiebt  ein 
breiter  architektonisch  behandelter  Fries,  in  welchem  reich  decorirte 
Oartouchen  mit  lateinischen  Sinnsprüchen  angebracht  sind ,  die 
wieder  mit  den  grau  in  grau  gemalten  Gestalten  der  Cardinal- 
tugenden  abwechseln.  Die  Arbeit  ist  zwar  keiue  besonders  hoch- 
stehende, doch  zeigt  sie  viel  Gewandtheit  in  der  Anordnung  der 
Decoration  und  in  der  Behandlung  des  Colorits.    Das  Mittelbild 

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530 


Kunstgeschichtliches  aus  Narva. 


namentlich  erinnert  an  die  Plafondmalereien  eines  Pesne.    Ob  die 
Arbeit  ausländischen  oder  heimischen  Ursprungs  ist,  habe  ich  nicht 
in  Erfahrung  bringen  können.    Ausser  diesem  Plafondgemälde  sind 
hier  noch  einige  Tafelbilder  erhalten,  darunter  ein  Urtheil  Salomos 
und  ein  jüngstes  Gericht.    Die  Malereien  sind  sehr  nachgedunkelt 
und  an  einzelnen  Stellen  fast  unkenntlich  geworden.    Durch  ein 
schmales  Voizimmer  von  diesem  vestibülartigen  Räume  getrennt 
liegt  ein  kleinerer  Saal,  der  eine  bemalte  Holzdecke  besitzt.  Sie 
stellt  den  nördlichen  Sternhimmel  dar.    Die  einzelnen  vergoldeten 
Sterne  sind  plastisch,  in  verschiedener  Grösse  angebracht  und  die 
symbolischen  Gestalten  der  Sternbilder  darunter  gemalt.  Diese 
Arbeit  wird  wol  einem  narvaschen  Handwerksmeister  zuzuschreiben 
sein,  dem  die  Gesetze  der  plastischen  Anatomie  weniger  geläufig 
waren  wie  seinem  Collegen  im  Vorsaale.    Von  der  früheren  Aus- 
stattung der  übrigen  Räume  ist  nichts  erhalten  geblieben,  oder 
mochte  man  sich  auf  die  Schmückung  der  Haupträume  beschränkt 
haben?  Am  12.  Juli  167 L  wurden  die  Arbeiten  am  Rathhause  be- 
endet, wie  die  unter  dein  Kranich  in  dem  Knopfe  des  Dachreiters 
vorgefundene  Denkschrift  meldet.    Diese  ist  von  J.  H.  Hansen  in 
seiner  Geschichte  der  Stadt  Narva  pag.  123  u.  f.  abgedruckt  und 
in  ihrer  Art  ein  Curiosum,  besonders  was  die  vielfachen  hoch- 
trabenden und  weitschweifigen  Titulaturen  anbelangt.    Sie  lautet : 
*  Nachdem  Ein  Ehrb.  und  Hoch  weiser  Rath  hieselbst  die 
Gedanken  dahin  gewendet,  dass  in  dieser  guten  Stadt  Narva 
zum  Rathhaus  ein  bequemes  Gebäude  aufgerichtet  und  der 
Posterite  hinterlassen  werden  möchte,  also  ist  es  durch  Göttlichen 
Segen  und  Königlich-Hochpreisliche  Liberalität  damit  endlich  so 
weit  gekommen,  dass  auf  dessen  aufgeführte  Thurmspitze  dieser 
wachsame  Kranich  seinen  Fuss  zum  ersten  Male  gesetzet  im 
Jahre  nach  Christi  Geburt  MDCLXXI  den  12.  Juli,  als  diesen 
mitternächtigen  Ländern  unter  der  Aufsicht  Seiner  Königlichen 
Frau  Mutter  und  Hochgeborner  Regierungsräthe  vorgestanden 
der  Durchlauchtige  Grossmächtige  König  Carolus,  der  XI.  dieses 
Namens,  der  Schweden,  Gothen  und  Wenden  König  &c.  &c,  diese 
Stadt  aber  nebst  der  angränzenden  Provinz  Ingermannland  guber- 
nirte  der  Hoch  wohlgeborene  Herr  Herr  Simon  Gründel  Helmfeld. 
Königlicher  Feldmarschall  und  Kriegsrath  und  das  Consistorium 
bekleidet  gewesen  mit  den  respectiven  und  Hoch-  und  Wohl- 
erwürdigen,  Hoch-  und  Wohlgelahrten  Herrn  D.  Abrahamum 
Tavonio ,  Superintendente,   Mag.  Erico  Albogio,  Pracposilo  et 


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Kunstgeschichtliches  aus  Narva. 


531 


jiastore  Iwangorod,  Simone  Blankenhagen,  past.  eccles.  gcrm.,  M. 
Herberto  Ulrich,  past.  eccles.  gcrm.,  Jena  Alladino,  Diacono  ccclcs.  succ. 
Im  hiesigen  Rathstuhle  haben  gesessen  die  Wohledlen,  Vesten.G  ross- 
achtbaien,Hoch-  und  Wohlgelahrteu,  Hoch-  und  Wohl  weisen  Herren : 
Johann  von  Liliendahl,  Königlicher  Burggrav,  Laurens  von 
Nammens,  Bürgermeister,  Johann  Christoph  Schwartz,  Bürger- 
meister, Carsten  Barfft,  Levin  Nammens,  Gerd  von  Düren,  Caspar 
Poorten,  Ulrich  Herbers,  Jürgen  Tunder,  Allesammt  Raths- 
verwaudte. 

Gott  lasse  dieses  Haus  sein  eine  Stütze  der  Kirche  Gottes, 
eine  Wohnung  der  Gerechtigkeit,  ein  Oracul  der  Trostbedürftigen, 
ein  Asyluni  der  Unschuldigen  und  Bedrängten,  ein  Schrecken 
der  Verbrecher  und  bewahre  es  vor  allem  Unglück,  auf  dass  es 
mit  der  Erde,  die  es  trägt,  in  die  Weite  ausdauern  uud  seine 
Verwüstuug  eher  nicht ,  als  in  der  allgemeinen  Verwüstung 
finden  möge.    Fiat.  Magistro  Wolff  Teuffei.» 

Die  sog.  Börse.  1G98  von  dem  Baumeister  David  Küntler  auf 
Kosten  narvascher  und  ausländischer  Kaufleute  erbaut,  ist  ein 
zweigeschossiger  Bau  ohne  besonderen  künstlerischen  Werth.  Das 
Thürnichen  des  Gebäudes  ist  mit  einem  vergoldeten  Mercur  ver- 
sehen, der  im  Jahre  1741  am  25.  November  durch  einen  Sturm 
von  seiner  Höhe  herabgeschleudert  wurde  und  bei  seiner  Wieder- 
aufrichtung zu  einer  scherzhaften  Denkschrift  Anlass  gab,  die  iu 
die  Kugel  unter  dem  Mercur  hineingelegt  wurde  uud  bei  J.  H. 
Hansen  pag.  294  abgedruckt  ist.  Im  Jahre  1801  wurde  der  Mercur 
wiederum  reparirt,  da  er  abermals  auf  die  Strasse  zu  fliegen  drohte. 
Jetzt  befindet  sich  das  Theater  in  diesem  Gebäude.  Der  Bau- 
meister David  Küntler  ist  auch  der  Erbauer  der  ersten  Brücke 
über  die  Narowa,  die  Narva  mit  Iwangorod  verband. 

Das  sog.  Palais  Peters  des  Grossen  in  der  Nähe  der  Dunkel- 
pforte ist  in  seiner  Architektur  bedeutungslos.  Die  Zimmer  des 
grossen  Kaisers  sind  noch  erhalten. 

Die  Profangebäude  Narvas  gehören  in  der  Altstadt  fast  aus- 
nahmslos der  zweiten  Hälfte  des  17.  Jahrhunderts  an,  haben  sich 
aber  auch  fast  eben  so  ausnahmslos  die  Modernisirung  des  11).  Jahr- 
hunderts gefallen  lassen  müssen.  Nur  sehr  wenige  Gebäude  be- 
wahren noch  ihr  früheres  Aussehen,  aber  unter  diesen  wenigen 
sind  wiederum  einige  erhalten,  die  dank  der  vorsorglichen  Weise 
ihrer  Besitzer  noch  den  ganzen  Reiz  ihrer  früheren  Erscheinung 
tragen.    Eine  besondere  Eigenthümlichkeit  Narvas  scheint  darin 


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Kunstgeschiehtliches  aus  Narva. 


zu  bestellt*!),  dass  man  die  Häuser  nicht  mit  den  Giebelseiteu  zur 
Strasse  hin  errichtete,  wie  solches  in  früheren  Jahrhundeilen  überall 
gang  und  gäbe  war,  sondern  vorzugsweise  mit  den  Langseiteu, 
eine  Eigentümlichkeit,  die  sich  in  Deutschland  in  eben  so  ausge- 
breitetem Masse  meines  Wissens  nur  in  ßraunschweig  wieder- 
rindet. Daneben  scheint  man  in  Narva  die  Anlage  hübscher  Erker 
sehr  bevorzugt  zu  haben,  denn  es  haben  sich  ihrer  noch  mehrere 
erhalten.  Zum  Theil  sind  diese  auf  den  Hausecken  auf  weit  vor- 
springende, kelchartig  sich  entwickelnde  Consolen  gesetzt,  oder  sie 
lagern  in  thurmartiger  Anordnung  dem  Hause  vor.  Ein  ganz  vor- 
zügliches Beispiel  solcher  Erkeranlagen  bildet  das  inschriftlich 
aus  dem  Jahre  1066  stammende  Wohnhaus  Nr.  93  in  der  Oster- 
gasse. Es  hat  eine  vierfenstrige,  zweigeschossige  Fassade  und 
wird  von  zwei  zierlichen  Erkern  flankirt,  deren  prächtige  ge- 
schwungene Hauben  als  schlanke  Spitzen  aufsteigen  und  von 
eleganten  schmiedeeisernen  Verzierungen  mit  Wetterfahnen  gekrönt 
werden.  Die  Fenster  der  Erker  umsäumt  ein  reiches  Holzschnitz- 
werk, das  sich  mit  seinem  braunen  Ton  wohlthuend  von  dem  Grau  der 
Mauern  abhebt.  Den  mit  einem  Flachbogen  überdeckten  Eingang  um- 
schliesst  eine  hübsche  Holzschnitzerei.  Die  das  Hauptgesims  stützen- 
den beiden  Halbfiguren  wachsen  aus  zwei  gut  stylisirten  Masken 
hervor  und  stellen  den  Sommer  und  den  Winter  dar.  Der  Sommer 
wird  durch  ein  jugendliches  Weib  repräsentirt,  mit  einem  Aehren- 
kranze  im  Haar,  in  der  Rechten  eine  Sichel,  in  der  Linken  eine 
Korngarbe ;  der  Winter  zeigt  sich  dagegen  als  ein  bärtiger  Mann 
im  Pelzrock.  Sein  Haupt  bedeckt  eine  Fellmütze  und  die  Hände 
stecken  in  einem  Muff.  Ueber  die  Köpfe  der  beiden  Figuren  legt 
sich  eine  jonisirende  Volute.  Der  Schlussstein  des  Thorbogens  ist 
in  Gestalt  eines  geflügelten  Knaben  gebildet,  dessen  Leib  in  eine 
Volute  endet.  Ist  die  Arbeit  auch  künstlerisch  nicht  bedeutend, 
so  zeugt  sie  doch  von  einem  mehr  als  handwerklichen  Können. 
Die  beiden  auf  dem  Giebelgebälk  lagernden  Figuren  sind  werthlos 
und  wahrscheinlich  später  von  irgend  einem  Pfuscher  an  Stelle 
der  früheren,  vielleicht  zerstörten,  ersetzt.  Das  ganze  Gebäude 
ist  mit  einem  steilen  Mansardendache  abgedeckt  und  gewährt  trotz 
seiner  Einfachheit  einen  äusserst  malerischen  Anblick.  In  der 
Nähe  dieses  Hauses  befindet  sich  eine  zweite  Erkeranlage  in  thurm- 
artiger Entwicklung  von  weniger  glücklichen  Verhältnissen. 

Ausser  den  hübschen  Erkeranlagen  bewahrt  die  Stadt  eine 
Anzahl  gut  erhaltener  Portale,  meistens  jedoch  aus  dem  18.  Jahr- 


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Kunstgescliichtliches  aus  Narva. 


hundert,  darunter  aber  mehrere,  die  die  Steinmetzkunst  Narvas  auf 
einer  nicht  zu  unterschätzenden  Höhe  erscheinen  lassen.  Ebenso 
zeugen  sehr  viele  erhaltene  Kunstschmiedearbeiten  an  Windfahnen, 
Giebelbekrönungen,  Geländern  und  Gittern,  dass  auch  dieses  Ge- 
werbe in  Narva  tüchtige  Vertreter  fand  und  hinter  den  anderen 
Kunsthandwerken  nicht  nachstand.  Auch  scheint  die  Kunsttischlerei 
auf  nicht  geringer  Stufe  gestanden  zu  habeu,  wie  die  im  Rathhause 
noch  heute  im  Gebrauch  stehenden  Stühle  des  Raths  beweisen,  die, 
überreich  geschnitzt,  ihre  Entstehung  dem  Anfange  des  18.  Jahrb. 
zu  verdanken  haben. 

Da  hier  gerade  von  Kunsttischlerei  die  Rede  ist  und  dieser 
Kunstzweig  nicht  zu  den  wenigst  gepflegten  in  den  baltischen 
Landen  gehört,  wie  das  prächtige  Gestühl  der  Nikolaikirche  zu 
Reval  beweist,  welches  inschriftlich  dem  Jahre  1556  angehört,  und 
namentlich  die  geschnitzte  Wand  hinter  dem  Schwarzhäuptergestühl 
unter  der  Orgelempore  in  derselben  Kirche,  die  sich  durch  ein 
ebeu  so  anmuthvoll  stylisirtes  Ornament,  wie  durch  einen  in  hohem 
Grade  elegant  behandelten  bildnerischen  Schmuck  auszeichnet,  mag 
hier  in  kurzem  einer  Sammlung  alter  Möbel  Erwähnung  geschehen, 
die  zwar  nicht  auf  baltischem  Boden  gefertigt  wurden,  aber  doch 
in  den  baltischen  Provinzen  zu  finden  sind  und  nicht  nur  einen 
Beweis  für  die  feine  Kunstkennerschaft  ihres  Eigenthüraers,  sondern 
auch  für  die  Liebe  desselben  zur  Kunst  in  schöner  Weise  abgeben.  Es 
ist  eine  reiche  Anzahl  verschiedener  Schränke,  Tische,  Stühle  &c,  die 
sich  im  Besitze  des  Freiherrn  Rudolf  von  Ungern-Sternberg  auf  Leetz 
befinden  und  neuerdings  in  dessen  Wohnung  in  Reval  Aufstellung 
gefunden  haben.  Mir  wurde  freundlichst  eine  eingehende  Besichti- 
gung dieser  Kunstschätze  vermittelt  und  in  entgegenkommendster 
Weise  eine  öffentliche  Besprechung  derselben  gestaltet,  die  zwar 
nur  eine  allgemeine  und  oberflächliche  sein  kann,  da  sie  der  Ab- 
bildungen, die  allein  im  Stande  wären,  ein  anschauliches  Bild  dieser 
Kunstgegenstände  zu  gewähren,  entbehren  muss,  vielleicht  aber 
trotzdem  nicht  ganz  unwillkommen  sein  wird,  da  sie  die  Bekannt- 
schaft mit  einem  Schatze  zu  vermitteln  sucht,  der  in  unserer  Heimat 
vereinzelt  dastehen  dürfte. 

Als  älteste  Stücke  sind  zu  nennen  zwei  Truhen  aus  dem  15. 
Jahrhundert  mit  sehr  edel  gearbeiteten  Ornamenten.  Das  Speise- 
zimmer enthält  nächst  einem  köstlichen  grossen  Schenktisch  mit 
Aufsatz  einen  Esstisch,  der  italienischen  Frührenaissance  angehörend, 
der  allerdings  in  Folge  seiner  schou  eingetretenen  Schwäche  mit 


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534  Kunstgeschichtliches  aus  Narva. 


Holz  neu  ausgefüttert  werden  musste.  Die  Stühle  desselben  Zimmere 
gehören  der  venetianischen  Kunst  an  und  scheinen  aus  der  Be- 
hausung eines  Dogen  zu  stammen,  nach  der  die  Lehnen  krönenden 
bekannten  Dogenmütze  zu  schliessen  Es  sind  reich  sculptirte 
Brettstühle,  deren  Sitze  auf  Schildbrettern  an  Stelle  der  Füsse 
ruhen.  Die  Lehne  zeigt  eine  fein  geschnitzte  Maske.  Daneben 
ist  zu  erwähnen  eine  alte  Wanduhr  vom  Jahre  1630,  die  nur  in 
Nürnberg  noch  ihres  Gleichen  findet.  —  Im  grossen  Saal  sieht 
man  einen  kleinen  Schrank  auf  einem  Untersatz  mit  Schildkrott- 
fournirungen  und  Ebenholzeinfassungen  in  italienischer  Spätrenais- 
sance vom  Jahre  1620.  Der  Aufsatz,  in  Gestalt  eines  Porticus 
mit  Flügeln,  ruht  auf  Bronzelöwen,  während  in  einer  mittleren, 
von  zwei  gewundenen  Säulen  flankirten,  halbkreisförmig  geschlossenen 
Nische  die  Bronzestatuette  der  Themis  angeordnet  ist.  Femer 
haben  hier  zwei  Commoden  Aufstellung  gefunden  mit  vorzüglichen 
Intarsiaarbeiten  auf  dunklem  Grunde.  Das  Ornament,  theils  aus 
gelben  Holzarten,  theils  aus  Perlmutter  gefertigt,  ist  naturalistisch 
gebildet,  doch  voll  prächtigen  Schwunges.  Der  figürliche  Schmuck 
ist  ebenfalls  mit  grossem  Geschick  gefertigt:  liegende  Figuren, 
deren  Gesichter  und  Hände  aus  Elfenbeiu  gearbeitet  sind.  In 
demselben  Zimmer  befindet  sich  ein  neuer  Schrank  mit  alten  Re- 
naissanceeinlagen in  Eichenholzschnitzwerk,  unten  Capitäle  tragende 
Hermen  mit  über  der  Brust  gekreuzten  Armen,  darüber  herrliehe 
Friese  und  F'üllungen,  auf  denen  eine  reiche  Rankenornamentik 
mit  Figürlichem  abwechselt.  Ein  grosses  Doppelbett  von  überaus 
schöner  Arbeit  stammt  aus  Rom.  Während  hier  alles  italienische 
Arbeit  ist,  ist  der  grosse  Rococoschrank  im  Schlafzimmer  eiu 
Meisterstück  aus  Wimpfen  vom  Jahre  1730.  Das  Bedeutendste 
aber  ist  jedenfalls  eine  Anzahl  aus  Rimini  stammender  Ebenholz- 
möbel mit  Elfenbeiueinlagen.  Sie  gehörten  der  Stiftung  einer 
religiösen  Congregation  daselbst  an  und  sind  im  Jahre  1760  be- 
stellt oder  verfertigt,  erscheinen  aber  in  ihrer  Formgebung  und 
namentlich  in  der  Reinheit  und  Eleganz  ihrer  Zeichnung  als  einer 
früheren  Zeit  angehörig,  wodurch  die  Vermuthung  nahe  gelegt  und 
auch  von  Kennern  bestätigt  wird,  dass  Rimini  eine  Kunstnachblüthe 
erlebt  habe,  die  an  die  grossen  Meister  des  Cinquecento  erinnert. 
Das  Meublement  besteht  aus  dreizehn  Gegenständen,  darunter  ein 
hoher  Schrank,  mehrere  Tische,  ein  köstlicher  Schreibtisch  und 
sechs  Stühle.  Die  ganze  reiche  Ornamentik  ist  durch  Elfenbein- 
einlagen hergestellt,  die  durch  eingeritzte  schwarze  Zeichnung  noch 


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Kunstgeschichtliches  aus  Narva. 


535 


Ihm  ausgehoben  und  auf  das  wirkungsvollste  gestaltet  ist.  In  diese 
Omamentation  sind  in  reizendster  Weise  Putten  und  allerhand 
figürliche  Darstellungen  verwobeu.  So  zeigen  z.  B.  die  Tische  auf 
der  Mittelplatte  den  Raub  der  Proserpina,  die  Thüren  des  Schreib- 
tisches und  des  Schrankes  Allegorien  in  flotter  Federmanierzeichnung* 
ausserdem  trägt  der  Schreibtisch  die  Inschrift:  Bertini  fece.  Die 
Elfenbeinornamentiruug  erstreckt  sich  aber  nicht  nur  auf  die  Haupt- 
architekturtheile,  sondern  zieht  jede  Gliederung  und  jede  Fläche 
in  den  Bereich  ihrer  Kunst  und  trotzdem  erscheint  dieselbe  nirgend 
überladen,  sondern  so  fein  abgewogen,  so  lebhaft  und  doch  wieder 
so  bescheiden,  dass  man  in  Bertini  einen  Künstler  von  hoher  Be- 
deutung bewundern  muss,  der  seines  Gleichen  selten  finden  dürfte. 

Einmal  in  Reval,  möge  es  mir  vergönnt  sein,  noch  eines  Werkes 
der  Steinsculptur  eingehender  Erwähnung  zu  thun,  das  nicht  nur 
seiner  vortrefflichen  Ausführuug  wegen,  sondern  auch  als  Arbeit 
eines  heimischen  Meisters  von  grossem  Interesse  ist  und,  meiner 
Ansicht  nach,  viel  zu  wenig  Beachtung  gefunden  hat.  Es  ist  das 
Grabmai  des  schwedischen  Feldherrn  Pontus  de  la  Gardie  und 
seiner  Gemahlin  Sophie  Guidehelm  im  Chor  der  Domkirche  zu 
Reval  von  dem  Bildhauer  Arnold  Passer.  Der  untere  Theil  des 
Grabmals  stellt  einen  Sarkophag  dar,  auf  dessen  Oberfläche  die 
Gestalten  der  beiden  Gatten  ruhen.  Der  Feldherr  ist  in  voller, 
reich  ornamentirter  Rüstung  gebildet,  über  die  sich  die  Feldherrn- 
binde  legt.  Das  Haupt  mit  dem  feinen  Antlitz,  das  ein  spitz  zu- 
laufender Bart  umrahmt,  ruht  auf  einem  Kissen,  dessen  stylvolle 
Ornamentik  vergoldet  ist,  ebenso  wie  diejenige  der  Rüstung  und 
der  Korb  des  langen  Degens.  Um  den  Hals  legt  sich  eine  an  den 
Enden  vergoldete  Tellerkrause.  Zu  den  Füssen  des  Ritters  liegen 
die  Eisenhandschuhe  und  der  mit  Federn  geschmückte  Helm  mit 
geschlossenem  Visir,  ebenfalls  theilweise  vergoldet.  Nicht  minder 
schön  gearbeitet  ist  die  dem  Feldherrn  zur  Seite  ruhende  Frauen- 
gestalt. Das  Haupt  derselhen  bedeckt  eine  Schneppenhaube  und 
ein  kleines  spanisches  Hütchen  mit  einer  Straussfeder,  den  Hals 
umgiebt  ebenfalls  eine  feingefältelte  Tellerkrause  mit  vergoldeten 
Enden.  Den  Körper  umhüllt  ein  langer  Mantel  mit  stehendem, 
etwas  zurückgeschlagenem  Kragen.  Derselbe  ist  vorn  offen  und 
lässt  das  reich  gestickte  Kleid  und  den  Halsschmuck  sehen,  der 
wie  die  schön  gezeichnete  Stickerei  des  Kleides  und  die  Aermel 
des  Mantels  vergoldet  ist.  Die  Hände  der  beiden  Ruhenden  sind 
auf  der  Brust  zum  Gebet  zusammengelegt.    Die  Vorderseite  des 


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536 


Kunstgeschichtliches  aus  Narva. 


Sarkophags  wird  von  zwei  Eckpilastern  begrenzt,  welche  schon 
geformte  Urnen  tragen  und  deren  Füllungen  mit  kriegerischen 
Emblemen  geschmückt  sind.  Die  Mitte  zwischen  den  Pilastern 
nimmt  das  von  einem  Barockrahmen  umgebene  Bild  der  Stadt 
Narva,  der  Festung  Iwangorod  und  des  Narowaflusses  ein,  in  dessen 
Wellen  Pontus  de  la  Gardie  am  5.  November  1586  den  Tod  fand. 
Links  von  diesem  Bilde  hält  ein  Genius  mit  einer  gesenkten  Fahne 
in  der  Hand  das  .  sechsfach  getheilte  Wappen  des  Feldherrn,  rechts 
ein  ebenso  gestalteter  das  Wappen  von  dessen  Gemahlin,  einer 
natürlichen  Tochter  des  Königs  Johann  III.  von  Schweden.  Die 
Sculptur  der  Gliederungen  des  Sarkophags,  wie  die  vorspringenden 
Leisten  der  Umrahmung  des  Bildes  zeigen  wiederum  Vergoldung. 
Auf  den  Schmalseiten  des  Sarkophags,  welche  mit  einer  giebel- 
artigen Bekrönung  abschliessen.  deren  dem  Eisenbeschlage  nach- 
geahmte Verzierungen  Vergoldungen  zeigen,  ist  die  lateinische, 
etwas  phrasenhafte  Inschrift  angebracht.  In  der  Mitte  der  Be- 
krönungen  erblickt  man  ein  Relief:  eine  sich  auf  einen  Schädel 
stützende  liegende  Knabengestalt  mit  einer  Sanduhr;  daneben  die 
Inschrift  :  hodie  mihi  cras  tibi. 

Ueber  dem  Sarkophag  ist  ein  mit  reichem  Sculpturschmuck 
versehenes  Epitaph  augebracht.  Zwei  korinthische  Säulenpaare, 
mit  Schäften  von  rothem  Marmor,  auf  sculptirten,  von  Consolen 
getragenen  Postamenten  schliessen  zwei  schmale  und  eine  breite 
Nische  ein,  die  mit  reichen  Reliefs  geschmückt  sind.  Die  links 
vom  Beschauer  halbkreisförmig  gebildete  Nische  enthält  die  Gestalt 
des  Glaubens,  der  auf  der  rechten  Seite  die  Gestalt  der  Hoffnung 
entspricht.  Zwischen  den  mittleren  Säulen  erblickt  man  unter 
einem  gebrochenen  Bogen,  dessen  Schlussstein  die  Buchstaben  I.  H.  8. 
trägt,  eine  Darstellung  der  Auferstehung  Christi,  dessen  Gestalt 
in  einer  Glorie  von  Engelsköpfen  erscheint.  Im  Vordergrunde  hat 
der  Künstler  eine  symbolische  Darstellung  angebracht:  einen  Drachen, 
der  ein  Todtengerippe  verschlingt,  daneben  die  Erdkugel,  um  die 
sich  eine  Schlange  ringelt,  und  die  Gesetzestafeln.  Dieses  Relief 
hat  eine  Höhe  von  341/»  Zoll  und  eine  Breite  von  25  Zoll.  Auf 
den  Säulenpostamenten  sind  die  vier  Evangelisten  dargestellt,  und 
zwar  sieht  man  links  St.  Matthäus,  dem  ein  Engel  zur  Seite  kniet 
und  die  Schrifttafel  hält,  und  St.  Marcus  mit  dem  Löwen  ;  rechts 
St.  Lucas  mit  dem  Stier  und  St.  Johannes  mit  dem  Adler.  Die 
vier  Evangelisten  sind  schreibend  gebildet  und  über  jedem  ein 
fliegendes  Band  mit  dem  Namen  des  Betreffenden  angeordnet. 


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K u n st gescb ich tl icl i es  aus  Narva.  537 


Ueber  dem  mittleren  Relief  der  Auferstehung  erhebt  sich  eine  mit 
einem  feingegliederten  Gesims  abgeschlossene  Tafel,  die  nochmals 
die  beiden  Wappen  zeigt  und  am  Friese  des  Gesimses  die  Inschrift 
trägt :  ANNO  .  DOM  .  1595..  woraus  hervorgeht,  dass  das  Denkmal 
zwei  Jahre  nach  dem  Tode  der  Gemahlin  Pontus'  de  la  Gardie 
hier  aufgestellt  wurde.  Den  oberen  Abschluss  des  Ganzen  bildet 
eiue  von  einer  Aschenurne  überragte  kreisförmige  Verzierung,  die 
inmitten  einer  Sonne  den  Namen  Jehova  mit  hebräischen  Buch- 
staben trägt  und  darunter  die  Worte:  FORTITUDO  NOSTRA. 
Das  ganze  Werk  macht  einen  schönen,  in  allen  seinen  Theilen  mit 
feinem  Tactgefühl  abgewogenen  Eindruck  und  erhebt  sich  hoch 
über  die  mannigfachen,  oft  so  kraus  und  unentwirrbar  componirteu 
Epitaphien  derselben  Zeit. 

Kehren  wir  nach  dieser  Abschweifung  nach  dem  alten  Narva 
zurück,  so  verbleibt  uns  noch,  hier  einen  Blick  auf  die  alte  Burg 
und  das  gegenüberliegende  Iwangorod  zu  werfen,  um  dann  bei  den 
hervorragenderen  Kunstschöpfungen  der  Neuzeit  einen  Augenblick 
zu  verweilen.  Die  Burg  zu  Narva  gehört  zu  den  wenigen  erhaltenen 
in  den  baltischen  Provinzen,  die  heute  noch  den  ganzeu  Apparat 
der  früheren  Kriegs-  und  Vertheidigungskunst  in  ihrer  Anlage  und 
gleichzeitig  die  Lebensweise  ihrer  einstigen  Bewohner  erkennen 
lassen.  Die  Zerstörungen  durch  die  Kämpfe  und  Belagerungen 
sind  thunlichst  durch  liebevolle  Sorgfalt  verwischt,  und  man  ist  be- 
dacht gewesen,  die  nöthigen  Reparaturen  in  historisch  treuem  Sinne 
auszuführen.  Man  beschränkte  sich  dabei  auf  die  Bedachung  der 
Räume  und  Wiederaufführung  derjenigen  zerstörten  Baulichkeiten, 
die  ein  charakteristisches  Abbild  von  der  ehemaligen  Anlage,  wie 
diese  wenigstens  zur  Schwedenzeit  bestanden  haben  mochte,  zu 
liefern  im  Stande  sein  konnten.  Es  ist  dieses  im  vollsten  Masse 
gelungen.  Die  Burg  bildet  wie  die  meisten  ihresgleichen  ein  Recht- 
eck, an  dessen  einer  Ecke  sich  ein  Erkerthürmchen  erhebt,  während 
die  zur  Stadt  gewendete  Ecke  der  Luginsland,  der  sog.  lange 
Hermann,  flankirt,  ein  mächtiger,  von  dicken  Mauern  umschlossener, 
mit  mehreren  gewölbten  Räumen  versehener  viereckiger  Thurm. 
Er  beherrscht  weit  hinaus  die  Gegend  und  soll  durch  den  Herr- 
meister Hermann  von  Bruggeney  erbaut  worden  sein.  Der  Zugang 
zu  den  einzelnen  Geschossen  führt  zum  grössten  Theile  über  in 
der  Mauerdicke  gelegene  schmale  Stiegen,  die  durch  kleine  Scharten 
spärlich  beleuchtet  werden.  Das  Hauptgeschoss  hat  noch  seine 
Gewölbe  und  den  riesenhaften  Kamin.    Auch  die  übrigen  Räume 


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Kunstgeschichtliches  aus  Narva. 


der  Burg  sind  mit  wenigen  Ausnahmen  noch  alle  unversehrt,  so 
der  grosse  Remter,  der  mit  kräftigen  Kreuzgewölben  überspannt 
ist,  deren  Gurte  uud  Grate  sich  von  einfachen,  pyramidal  gestalteten 
Consolen  erheben.  Die  Fenster  sind  sehr  klein  und  haben  zu 
beiden  Seiten  ihrer  Laibungen  kleine  Sitzplätze,  zu  denen  man 
über  eine  oder  mehrere  Stufen  gelangen  kann.  Sehr  interessant 
ist  das  noch  erhaltene  Brunnenhaus  mit  dem  zum  Spiegel  der 
Narowa  hinabgesenkten,  an  100  Fuss  tiefen  Brunnen.  Das  hohe 
Gebäude  springt  aus  der  Fronte  des  Schlosses,  Iwangorod  gegen- 
über, in  den  Fluss  vor  und  trägt  sehr  zu  der  malerischen  Ge- 
staltung der  ganzen  Burganlage  bei.  Zur  Stadtseite  hin  liegt  das 
von  hohen  Mauern  umgürtete  Burggärtlein,  durch  welches  der  Weg 
in  den  inneren  Schlosshof  führt.  Die  weiterhin  sich  erstreckenden 
Festungsmauern  und  Wälle  mögen  in  der  Schwedenzeit  entstanden 
und  nach  der  Eroberung  Narvas  noch  erweitert  worden  sein.  Sie 
schliessen  einen  grossen  Hot'  mit  Gebäuden  ein,  die  zu  Militär- 
zwecken benutzt  werden. 

Einen  ganz  anderen  Charakter  hat  die  Burg  Iwangorod  am 
anderen  Ufer  der  Narowa.  Sie  bildet  ein  grosses  unregelmässiges 
Polygon,  an  dessen  Ecken  runde  Thürrae  vorgelegt  sind  und  ist  in 
eine  kleinere  und  eine  grössere  Burg  getrennt,  von  denen  erstere 
dem  Flussufer  zunächst  liegt.  Inmitten  des  grossen  Burghofes 
liegen  die  Ruinen  einer  ehemaligen  russischen  Kirche,  die  nach 
einem  bei  J.  H.  Hansen  wiedergegebenen  Bilde  von  Narva  vom 
Ende  des  16.  oder  Anfang  des  17.  Jahrhunderts  einen  hohen  Kuppel- 
thurm zeigt.  Neben  dieser  wurde  um  die  Mitte  des  18.  Jahrh. 
eine  neue  Kirche  errichtet.  Im  übrigen  bieten  die  Mauern  dieser 
alten  Festung  nichts  Rühmenswerthes. 

Unter  den  der  Neuzeit  angehörigen  Monumentalbauten  sind 
zu  nennen  die  finnische  und  die  estuische  Kirche.  Erstere  ist  ein 
Langbau  mit  vorgelegtem  Thurm  von  guten  Verhältnissen,  ohne 
dabei  über  das  Mass  des  Gewöhnlichen  hinaus  zu  gehen,  während 
die  letztere  in  Gestalt  eines  Rundbaues  angelegt  ist,  dem  sich  ein 
kräftiger,  oben  ins  Achteck  übersetzender  Thurm  vorlegt.  Die 
architektonischen  Verhältnisse  der  Kirche  sind  im  ganzen  sehr 
glückliche.  Die  einfachen  wirkungsvollen  Formen  des  romanischen 
Styls,  in  denen  das  Gebäude  aufgeführt  ist,  passen  zu  den  schweren 
Kalksteinquadern  sehr  gut  und  würden  von  noch  besserer  Wirkung 
sein,  wenn  sie  mit  mehr  Consequenz  durchgeführt  wären,  als  dieses 
leider  geschehen  ist.    Besonders  tritt  diese  Ungleichmässigkeit  an 


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Kunstgeschichtliches  aus  Narva. 


539 


dem  Polygon,  in  welchem  sich  die  Predigtkirche  befindet,  unange- 
nehm zu  Tage.  An  demselben  legen  sich  acht  Risalite  vor,  von 
denen  die  beiden  in  der  Hauptachse  belegenen  zum  Chor  resp. 
zum  Anschluss  an  den  Thurm  erweitert  sind,  während  die  übrigen 
sechs  mit  Giebeln  abschliessen  und  von  schönen  grossen,  rundbogig 
geschlossenen  Fenstern  durchbrochen  werden.  Die  Abschluss wände 
zwischen  diesen  Risaliten  haben  aber  eine  doppelte  Reihe  einfacher, 
scheitrecht  geschlossener  Fenster  und  eine  Thür,  die  in  keinem 
schönen  Verhältnisse  zu  den  mächtigen  Fenstern  in  den  Risaliten 
stehen  und  eine  mehr  künstlerische  Lösung  verdient  hätten.  Ueber 
dem  Rundbau  erhebt  sich  eine  Kuppel  mit  Zeltdach,  die  von  einer 
zierlichen  Laterne  überragt  wird.  Eine  entzückende  Aussicht  er- 
öffnet sich  auf  die  Kirche  von  dem  hohen  Walle  an  der  Narowa 
her,  links  begrenzt  von  dem  vielthtirmigen  Iwangorod,  rechts  von 
dem  Narvaschen  Schlosse,  den  alten  Häusern  der  Ostergasse  und 
der  .Tohanniskirche,  während  unterhalb  der  Strom  mit  der  prächtigen 
Bogenbrücke,  die  1829  dem  Verkehr  übergeben  wurde,  das  maleri- 
sche Bild  abschliesst. 

Die  neuen  Profanbauten  Narvas  folgen  mit  wenigen  Aus- 
nahmen der  Petersburger  akademischen  Hauptrichtung,  die  sich 
vergeblich  abmüht,  aus  einer  Vereinigung  von  Renaissance  und 
Byzantinismus  einen  nationalen  Styl  zu  destilliren. 

Eins  aber  steht  fest:  dass  der  letzte  Grenzpunkt  des  balti- 
schen Landes  immer  noch  zu  seinen  schönsten  Orten  gehört  und 
in  der  baltischen  Kunstgeschichte  eiue  nicht  unbedeutende  Stellung 
einnimmt. 

W.  Neu  m  a  n  n. 


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Notizen. 

Conan  larrecht,  von  Geheimrath  Dr.  A.  v.  B  n  1  m  e  r  i  n  c  q  ,  Professor 
den  Staats-  und  Völkerrechts  an  »hr  lliiivernitüt  Hehlclber«?.  Ham 
Imnr,  Verla«  von  J.  F.  Richter.    1887.  8. 

^pPie«es  neueste  Werk  unseres  Landsmannes  liegt  uns  als 
\s£&Mi  Separatausgabe  aus  dem  (Handbuch  des  Völker- 
r  e  c  h  1 8  ,  in  Einzelbeiträgen,  herausgegeben  von  Franz  v.  Hol  t  zen- 
dorff>  vor  und  legt  wiederum  Zeugnis  ab  von  dem  eminenten 
Fleisse  des  Verfassers.  Es  ist  diese  Arbeit  die  reife  Frucht  eines 
mühevollen  Quellenstudiums  und  muss  dieselbe  auch  ganz  besonders 
unser  Interesse  in  Anspruch  nehmen,  da  das  Consularreglement 
Russlands  gerade  gegenwärtig  in  der  Umarbeitung  begriffen  ist. 

Das  Werk  ist  in  4  Capitel  getheilt,  von  denen  das  erste  die 
geschichtliche  Entwicklung  des  Consularwesens  und  die  allgemeinen 
Bestimmungen  darstellt,  das  zweite  die  Rechte  der  Consuln  und 
das  dritte  die  Functionen  derselben  behandelt.  Das  4.  Capitel 
trägt  die  Ueberschrift  « Uebereinstimmung,  Unterschied  und  Reform 
des  geltenden  Consularrechts». 

In  knapper  Form  wird  ein  Ueberblick  über  den  erschöpfend 
behandelten  Stoff  geboten  und  zum  Schluss  für  ein  int  e  r  n  a  t  i  o  - 
n  ales  Consularreglement  plädirt,  für  welches  die  vergleichende 
Studie  Bulmerincqs  als  Vorarbeit  dienen  soll. 

Die  Schrift  ist  nicht  nur  für  die  Fachgelehrten  von  Interesse, 
auch  unserer  am  internationalen  Haudel  betheiligten  Kaufmann- 
schaft können  wir  dieselbe  nur  auf  das  wärmste  empfehlen. 

Bulmerincqs  «Hand buche  desVölkerrechts, t  Frei- 
burg 1884,  schliesst  sich  das  vorliegende  Werk  würdig  an.  Mit 


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Notizen.  54  t 

Spannung  sehen  wir  der  Monographie  Bulmerincqs  fStaats- 
Streitigkeiten  und  ihre  Entscheidung»  entgegen, 
deren  Erscheinen  in  nächster  Zeit  in  Aussicht  steht.  Für  die  Ent- 
wickelung  der  verhältnismässig  wenig  cultirten  Völkerrechtslehre 
sind  die  Bulmerincqschen  Studien  von  hervorragender  Bedeutung, 
zu  gleicher  Zeit  haben  sie  aber  aucli  einen  hohen  praktischen 
Werth,  da  sie  meist  brennende  internationale  Tagesfragen  zu  er- 
fassen und  zu  lösen  suchen. 

Riga,  d.  9.  Juni  1887.  S. 


Dr.  Axel  Harnack,  Leibniz'  Bedeutung  in  der  Geschichte  der  Mathematik. 

Rede  zur  Feier  des  Geburtstage«  Sr.  Majestät  des  Königs,  gehalten 
in  der  Aula  des  Polytechnikums  zu  Dresden.  Dresden,  v.  Zahn 
U.  Jaensch.  1887. 

Bei  der  Knappheit  des  Raumes  war  es  dem  Verfasser  eine 
keineswegs  leichte,  ihm  aber  wohlgelungene  Aufgabe,  dem  Leser 
in  fesselnder  Darstellung  ein  möglichst  vollständiges  Bild  von  der 
genial-schöpferischen,  auf  verschiedenen  Gebieten  mathematischer 
Forschung  bahnbrechenden  Thätigkeit  Leibniz'  zu  bieten.  Wir 
verfolgen  in  der  Rede,  wie  Leibniz  bei  streng-speculativer  mathe- 
matischer Denkweise,  mit  Leichtigkeit  und  Schärfe  der  Erfindung 
begabt,  die  Fähigkeit  verband,  die  abstractesten  Fragen  tiefen  und 
weiten  Blickes  zu  umfassen  und  doch  ein  unermüdlich  thätiges 
Interesse  für  das  gesammte  Leben,  das  religiöse,  nationale  und  ge- 
werbliche, sich  zu  bewahren. 

Durch  die  Erfindung  der  Infinitesimalrechnung  bereicherte 
Leibniz  nicht  nur  den  Schatz  geistigen  Vermögens  damaliger  Zeit, 
sondern  eröffnete  auch  der  mathematischen  Forschung,  die  auf  den 
Universitäten  Deutschlands  nicht  in  besonderer  Blüthe  stand,  neue 
Wege,  so  dass  der  Strom  geistigen  Lebens,  der  von  ihm  über 
Deutschland  sich  verbreitete,  auf  allen  Schulen,  den  mittleren  so- 
wol  wie  den  höheren,  sehr  bald  bemerklich  wurde.  Auf  den 
deutschen  Hochschulen  fand  die  Infinitesimalrechnung  alsbald  ihre 
Vertreter,  in  den  mittleren  vertiefte  und  erweiterte  sich  der  mathe- 
matische Unterricht,  zum  Theil  mit  viel  zu  weit  gehender  An- 
wendung auf  technische  Handfertigkeiten  und  Künste.  Damals 
entstanden  die  neuen  Realschulen,  welche  freilich  zuerst  bedenk- 
liche Vermischungen  des  Gymnasialunterrichtes  mit  gewerblichen 
Fachschulen  darboten.    Denn  es  erhob  sich  jene  wohlberechtigte 


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542  Notizen. 

Forderung  einer  zugleich  mathematisch  -  naturwissenschaftlichen 
Bildung,  die  gegenwärtig  noch  zu  einer  Trennung  unserer  Mittel- 
schulen geführt  hat.  —  An  diese  Thatsache  anknüpfend,  sieht  sich 
der  Verfasser  zu  einigen  sehr  beachtenswerthen  Andeutungen  und 
Winken  veranlasst,  die,  tsine  ira  et  cum  studio*  niedergelegt,  dar- 
auf abzielen,  den  zur  Zeit  noch  bestehenden  Zwiespalt  wenn  nicht 
zu  lösen,  so  doch  zu  mildern  und  dadurch  zur  Einigung  beizutragen. 
Diese  Bemerkungen  sind  es  vornehmlich,  die  uns  bestimmen,  diese 
nicht  nur  für  Fachmänner  allein  interessante  kleine  Broschüre 
unseres  geschätzten  Landsmannes  auch  unserem  Leserkreise  bestens 
zu  empfehlen  0.  F. 

W.  N  e  u  m  a  n  n  ,  (iiundrisa  einer  Geschichte  der  bildenden  Künste  und  des 
Kunstgewerbes  in  Liv  ,  Est-  und  Kurland  vom  Ende  des  12.  bis 
zum  Ausgang  des  1K.  Jahrhunderts.  Mit  H<>  Abbildungen  und  1 
Tafel  in  Lichtdruck.  Reval,  F.  Kluge.  1X87.  S.  X  und  184.  8. 
Preis  3  Rbl. 

Kaum  nach  irgend  einem  anderen  Buch  dürfte  in  allen  ge- 
bildeten Kreisen  unserer  Provinzen  mit  gleicher  Theilnahme  und 
Freude  gegriffen  werden,  wie  es  gegenwärtig  Neumanns  Grundriss 
der  baltischen  Kunstgeschichte  widerfährt.  Der  historische  Sinn 
unserer  Lande  hat  sich  in  den  letzten  Jahren  ganz  naturgemäss 
der  heimischen  Cultur-  und  besonders  der  Kunstgeschichte  zuge- 
wandt in  der  richtigen  Empfindung,  in  ihrer  Betrachtung  die 
Nahrung  und  Befriedigung,  die  Erhebung  zu  finden,  welche  das 
Vertiefen  in  die  politischen  Entwickelungsphasen  ihm  versagt  oder 
doch  zu  versagen  scheint.  Sehr  allmählich  ist  dieses  Interesse  ge- 
weckt, nach  und  nach  vorbereitet  worden.  Die  wachsende  Theil- 
nahme am  Kunststudium  und  der  kunstgeschichtlichen  Forschung 
in  Deutschland  öffnete  auch  hier  Einzelnen  die  Augen  für  die 
heimischen  Denkmäler  der  Kunst,  deren  Vorhandensein  oder  wenig- 
stens deren  Bedeutsamkeit  auch  von  hochgebildeten  Männern  vor 
etwa  zwanzig  Jahren  noch  in  Abrede  gestellt  werden  konnte.  So 
wenig  war  der  Sinn  zur  Wahrnähme  der  alltäglichen  Umgebung 
geschärft,  dass  1865  eine  der  geistig  hervorragendsten  Persönlich- 
keiten den  bei  der  Betrachtung  der  unter  dem  dicken  Kalkbewurf 
nur  mühsam  erkennbaren  Capitäle  und  Consolen  des  rigaer  Dom- 
kreuzganges verweilenden  Ref.  scherzend  fragte,  ob  er  sich  etwa 
auch  aus  den  Steinen  Material  zu  geschichtlichen  Studien  sammeln 
wolle,  und  die  zuversichtliche  Antwort,  dass  über  kurz  oder  lang 


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Notizen . 


543 


eine  topographische  baltische  Kunstgeschichte  vorliegen  werde,  mit 
geringschätzendem  Unglauben  aufnahm.    Die  Zeiten  haben  sich 
eben  geändert!  Dass  aber  die  Theilnahme  für  unsere  Kunstgeschichte 
und  die  Freude  an  ihren  Werken  sich  unter  uns  zu  einer  selb- 
ständigen Bestrebung  aus  dem  allgemeinen  culturhistorischen  Be- 
hageu  herausgestaltet  hat.  darf  wol  dem  Vorgehen  Reinhold  Gulekes 
zugeschrieben  werden.  Sein  Versuch  der  Reconstruction  des  dorpater 
Domes ;  die  Ausstellung  des  von  ihm  angefertigten  Modells  auf 
der  Gewerbeaussteilung  zu  Riga  1883  ;  der  glückliche  Umstand, 
dass  die  rigaer  Domkirche  im  Bürgermeister  Emil  v.  Bütticher  einen 
Administrator  erlaugt  hatte,  der  Begeisterung  und  Verständuis  für 
die  Kunst  mit  Thatkraft  und  der  Befähigung  in  den  gegebenen 
Augenblicken  selbstlos  dahinter  zu  treten  verbindet ;  der  Aufsatz 
Gulekes  über  den  rigaer  Dom  im  Jubiläumshefte  unserer  Monats- 
schritt,  die  ihm  unmittelbar  folgende  Begründung  des  rigaer  Dom- 
bauvereins  und  die  von  diesem  beeinflussten  Restaurationsarbeiten 
an  dem  ehrwürdigsten   Bau  unserer  Lande;  die  Vorbereitungen 
Gulekes  zur  Herausgabe  eines  kunsthistorischen  Atlas  der  balti- 
schen Provinzen  ;  die  Vereine  zur  Wiederherstellung  der  Hapsaler 
Domkirche  und  des  Schlosses  zu  Döhlen ,  endlich  auch  die  drei 
culturhistorischen  Ausstellungen  mit  ihren  Erzeugnissen  des  Kunst- 
gewerbes  das  wären  etwa  die  Momente,  die  den  Boden 

genugsam  vorbereitet  haben,  um  das  Bedürfnis  nach  einer  zusammen- 
hängenden Beschreibung  und  Besprechung  der  bei  uns  vorhandenen 
Denkmäler  der  Kunst  zu  erweckeu. 

Der  erste  Versuch  einer  solchen  liegt  nun  vor  und  zwar  in 
so  gefälliger  Form,  in  so  prächtiger  Ausstattung,  dass  man  seine 
•  herzliche  Freude  daran  hat,  wie  einmal  das  beredte  Wort  und  der 
anmuthige  Stift  des  Verfassers  sich  unterstützen,  und  wie  seine  Be- 
strebungen mit  Feingefühl  für  die  Bedeutung  der  Aufgabe  von  der 
altbewährten  Verlagshandlung  ergriffen  und  ihrerseits  mit  allen 
Mitteln  zur  Geltung  gebracht  sind. 

Stadtarchitekt  Willi.  Neumann  zu  Dünaburg,  einst  ein  Zög- 
ling des  rigaer  Polytechnikum,  auf  Reisen  in  Deutschland  und 
Italien  in  seiner  Kunstanschauung  gereift,  den  Lesern  der  t  Balti- 
schen Monatsschrift»  schon  durch  Aufsätze  bekannt,  in  welchen 
seine  Befähigung  zu  kritischem  Urtheil  wie  sein  Künstlerblick  und 
seine  Darstellungsgabe  im  Wort  zu  Tage  getreten,  hat  mit  seinem 
«Grundriss>  das  Gebiet  der  beschreibenden  Kunstgeschichte  durch 
Schilderung  der  baltischen  Kunstwerke  in  Text  und  Bild  in  sehr 

BaltUche  Monat s*.-hrift.  Band  XXXIV.  Heft  6.  3<i 


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544 


Notizen. 


bemerkenswerther  Weise  räumlich  erweitert  und  zur  Vertiefung  der 
Anschauung  über  den  Gang  landschaftlicher  Kunstentwickelung 
die  Hand  geboten.  Die  Wissenschaft  wird  es  ihm  Dank  wissen, 
dass  die  Grenzen  ihres  Forschuugsbereichs  östlich  nun  nicht  mehr 
wie  bisher  mit  dem  Frischen  Haff  abschliessen,  dass  ihr  wiederge- 
wonnen, was  kraft  des  gemeinsamen  geistigen  Mutterschosses  zu 
ihr  gehört.  Und  wir  werden  dem  Verfasser  erkenntlich  sein,  dass 
der  Culturwelt  in  Erinnerung  oder  auch  erst  zur  Kenntnis  gebracht 
wird,  wie  hinter  den  Namen  Jurjew,  Rugodew,  Kolywan  <fcc.  alte 
Keimstätten  abendländischer  Civilisation  sich  verbergen ;  nicht 
weniger  aber  auch,  dass  wir  selbst  in  breiteren  Massen  erst  jetzt 
recht  die  Fülle  des  Schönen,  das  unser  Heimatland  birgt,  kennen 
zu  lernen  vermögen. 

Hierbei  aber  wolle,  um  den  billigen  Massstab  an  das  Buch 
zu  legen,  der  Leser  eingedenk  bleiben,  dass  sein  Verfasser  es  nur 
einen  «Grundriss»  nennt.  Damit  bekennt  er,  den  Stoff  allerdings 
derart  übersehen  und  durcharbeitet  zu  haben,  dass  er  in  den 
Stand  gesetzt  war  die  Gliederuug  zu  treffen,  die  Grenzen  zu  be- 
stimmen, die  Kennzeichen  der  Perioden  nach  ihren  verschiedenen 
Richtungen  nachzuweisen,  wie  sie  sich  aus  der  kritischen  Be- 
trachtung der  Denkmäler  ergeben,  und  dieses  in  dem  Masse  zu 
thun,  dass  die  aufgestellten  Sätze  im  grossen  uud  ganzen  dauernde 
Geltung  zu  behaupten  beanspruchen  dürfen.  Er  lehnt  mit  dem 
gewählten  Titel  aber  jeden  Anspruch  auf  erschöpfende  Aufzählung 
und  Darstellung,  wol  auch  auf  erschöpfende  Erforschung  des  Auf- 
gezählten und  Dargestellten  ab.  Es  ist  eben  ein  Erstlingsversuch 
in  diesem  Zweige  unserer  Geschichte,  der  einmal  gemacht  werden 
musste.  Da  haben  wir  allen  Grund  dem  Verfasser  zu  danken, 
dass  er  das  Wagnis  unternommen  und  durch  muthige  Ueberwindung 
aller  entgegenstehenden  Bedenken  es  uns  erspart  hat  zu  klagen, 
dass  wieder  einmal  «das  Bessere  der  Feind  des  Guten»  sei.  Ret. 
hebt  dieses  hervor,  weil  es  ganz  natürlich  eintreten  wird,  dass  einer 
und  der  andere  manches  ihm  liebe  und  bekannte  Kunstwerk  gar 
nicht  erwähnt,  manches  andere  ganz  kurz  besprochen  findet ;  manche 
Irrthümer  in  den  Angaben  werden  sich  entdecken  lassen.  Dadurch 
soll  der  Genuss  am  Gebotenen  nicht  verkümmert  werden.  Es  ist 
reich  und  schön  genug  und  in  der  Sculptur,  Malerei  uud  Klein- 
kunst werden  in  ausgezeichneter  Wiedergabe  Schätze  erschlossen, 
von  denen  in  weiteren  Kreisen  einfach  keine  Ahnung  vorhanden  war. 
Jeder  Leser  findet  leicht  das  ihm  bisher  unbekannt  Gebliebene  heraus. 


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Notizen. 


545 


Eine  zweite  Auflage,  die  über  die  Absatzfähigkeit  des  Buches 
ihre  Erfahrung  gemacht  hat,  wird  unzweifelhaft  an  Vollständigkeit 
der  ersten  voraus  sein.  Einmal  wird  der  Verfasser  einen  kühneren 
Griff  in  seine,  dem  Vernehmen  nach,  noch  reichlich  gefüllte  Mappe 
thun  können,  wenn  die  Verlagshandlung  erfahren,  dass  das  Publicum 
bereit  ist  ihr  die  beträchtlichen  Auslagen  für  eine  so  vorzügliche 
Darstellung  zu  vergüten  ;  dann  werden  auch  mancherlei  Mitthellun- 
gen  über  hie  und  da  noch  Uebersehenes  dem  Verfasser  als  einer 
Centralstelle  zufliessen.  Gelegenheit  zu  Verbesserungen  und  Be- 
richtigungen wird  sich  im  Laufe  der  Zeit  bieten,  und  vielleicht 
werden  Gedanken  über  eine  andere  Methode  des  Aufbaues  inner- 
halb der  gezogenen  Grundlinien  Platz  gewinnen.  Zunächst  be- 
grüsseu  wir,  was  wir  so  zu  sagen  über  Nacht  erlangt  haben,  mit 
ungetrübter  Freude  und  in  der  Hoffnung,  dass  das  Buch,  wie  es 
ganz  dazu  angethan  ist,  wirklich  in  keinem  gebildeten  Hause  auf 
die  Länge  fehlen  werde. 

Unter  den  wenigen  begegnenden  Flüchtigkeiten  der  Schreib- 
weise wäre  zu  verzeichnen  im  Vorwort  die  Erwähnung  der  Arbeiten 
von  G.  Berkholz,  wo  es  Chr.  Aug.  Berkholz  heissen  muss,  und  der 
durchgängige  Ausdruck  St.  Johanneskirche  statt  Johanniskirche 
während  die  Correctur  sonst  gut  besorgt  ist.  F  r.  B. 


G.  Tb.  Hof fh eins,   Eine  Wanderung  durch  Kiinigsbirg  vor  280  Jahren. 
Königsberg,  Wilh.  Koch  und  Reimer.    1887.    S.  24.  8. 

Der  berechtigte  Wiederabdruck  eines  vor  19  Jahren  ver- 
öffentlichten  lebendigen  Vortrags  über  die  topographische  Gestaltung 
der  preussischen  Hauptstadt  etwa  um  das  Jahr  1600.      Fr.  B. 

B.Cordt,  Philipp  Cnuius  von  Knuenstiern.    Ein  rehabilitirter  baltischer 
Dichter.    Dorpat,  C.  Mattieseu.    1887.    S.  20.  8. 

Der  zu  Anfang  dieses  Jahres  bald  nach  dem  Rücktritt  von 
seinem  Amt  verstorbene  Pastor  A.  W.  Fechner  zu  Moskau,  der 
verdiente  Chronist  der  evangelischen  Gemeinden  der  alten  russischen 
Hauptstadt,  hatte  im  Jahrgang  1885  der  «Balt.  Monatsschrift» 
(Bd.  32,  p.  427)  in  dem  Aufsatz  cEin  neuentdeckter  livländischer 
Dichterling  >  den  Hofjunker  Christopher  Kraus  in  die  Reihe  der 
baltischen  Literatoren  zum  Jahr  1659  eingeführt.  Hierbei  hatte 
er  die  Vermuthung  aufgestellt,  dass  die  im  Recke-Napierskyschen 
Schriftsteller-Lexikon  nach  Gadebusch  dem  Philipp  Crusius  zuge- 

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54(5 


Notizen. 


schriebenen  Gedichte  nicht  von  diesem,  sondern  gleichfalls  von 
Kraus  verfasst  seien  und  nur  bei  der  Unbekanntheit  des  Kraus  die 
Autorschaft  an  falscher  Stelle  gesucht  worden.  —  Im  vorliegenden 
Schriftchen,  dem  Abdruck  eines  in  der  estnischen  gelehrten  Gesell- 
schaft zu  Dorpat  gehaltenen  Vortrags,  berichtet  der  Bibliothekar 
der  Gesellschaft  über  einen  von  ihm  gemachten  glücklichen  Fund, 
ein  Manuscript  von  der  Hand  des  1850  verstorbenen  Pastor  Ed. 
Ph.  Körber  zu  Wendau,  welches  abschriftlich  des  Philipp  Crusius 
Sttspiria  captivitatis  Moscouiticae  «ausgezogen  aus  desselben  noch 
vorhandenen  Lieder-Buch  im  Manuscript»  enthält,  dieses  Liederbuch 
von  256  Seiten  in  kl.  8«  beschreibt  und  eine  Copie  des  diesem 
Büchlein  beigefügt  gewesenen  Inhaltsverzeichnisses  bringt.  Die 
Fechnersche  Entdeckung  des  Christopher  Kraus  in  allen  Ehren, 
wird  durch  Cordt  die  Dichtereigenschaft  des  Philipp  Crusius  ausser 
jeden  Zweifel  gestellt.  Fr.  B. 


Dr.  O.  C  Ii  o  m  s  e  ,  Ein  Beitrag  zur  (Jasnistik  der  Lepra  in  den  Ostseeprovinzen 
KnsBlands,  speciell  Kurlands.    Mitau,  V.  Felsko.  1887.    S.  121.  8. 

Vorliegende  Arbeit  soll  ceine  klinische  Casuistik  der  Lepra» 
zur  Mittheilung  bringen  und  entzieht  sich  somit  eigentlich  einer 
Besprechung  in  dieser  Zeitschrift,  da  der  Autor  durch  obige  Er- 
klärung seine  Arbeit  ganz  unter  die  Kritik  der  faehwissensehatt- 
lichen  Presse  stellt. 

Allein  das  stetig  wachsende  Interesse,  welches  allseitig  von 
dem  gebildeten  Laienpublicum  der  Lepra  zugewandt  wird,  mag 
eiue  Besprechung  der  genannten  Arbeit  auch  in  dieser  Zeitschrift 
erklären,  um  so  mehr,  als  das  Interesse  unseres  baltischen  Publicums 
ein  intensiveres,  da  die  Lepra  für  dasselbe  aus  der  Perspective 
rein  theoretisch-wissenschaftlicher  Fragen  heraustritt  und  durch 
ihre  stete  Ausbreitung  innerhalb  der  baltischen  Provinzen  immer 
eindringlicher  die  Mahnung  laut  werden  lässt,  dem  Feinde  auf  der 
ganzen  Linie  den  Kampf  zu  erklären  und  durch  energisches,  ziel- 
bewusstes  Vorgehen  in  der  Entstehung  die  Seuche  zu  unterdrücken, 
welche  schon  vor  Jahrhunderten  in  unseren  Marken  so  bedeutende 
Verheerungen  angerichtet. 

Im  Brennpunkt  des  Interesses  steht  nächst  dem  Voischreiten 
der  Lepra  die  Frage :  ist  dieselbe  ansteckend  oder  nicht  ¥ 

Die  Chomsesche  Arbeit  bringt  zu  der  bisher  bekannten  Anzahl 
Lepröser  30  neue  Fälle  hinzu.    Von  diesen  ist  bei  zweien  der 


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Notizen. 


547 


Aussatz  während  der  Feldzüge  1876  und  1877/78  in  Serbien  und 
Bulgarien  zum  Ausbruch  gekommen.  Zwei  sind  in  Riga  erkrankt, 
woselbst  sie  seit  einer  langen  Reihe  von  Jahren  ansässig  waren 
(14  und  35  Jahre).  Die  übrigen  26  Erkrankungen  gehören  Kur- 
land au,  und  zwar  t  Fall  dem  Bauskesehen,  2  dem  Tuckumschen 
und  21  dem  Doblenschen  Kreise,  jenem  Theil  Kurlands,  der,  an 
den  Sehlockschen  Kreis  und  das  Rigasche  Patrimonialgebiet  stossend, 
mit  diesen  beiden  Gebieten  einen  Leprarayon  bildet.  —  Diese  Zahl 
ist  offenbar  nicht  erschöpfend,  da  Chomse  den  Kreis  nicht  durch- 
forscht, sondern  seine  Daten  vorwiegend  der  Hospitalpraxis  ent- 
nommen hat.  Sie  beweist  jedoch  von  neuem,  dass  Districte  unserer 
baltischen  Provinzen,  welche  bisher  für  leprafrei  gegolten,  durchaus 
nicht  vereinzelte  Lepraerkrankungen  aufzuweisen  haben,  so  dass 
vorauszusehen  ist,  eine  geographisch-statistische  Zusammenstellung 
sämmtlicher  Leprafälle  (und  einer  solchen  haben  wir  noch  im  Laufe 
dieses  Jahres  entgegenzusehen)  werde  Zahlen  ergeben,  welche  die 
bisher  gemuthmasste  Gesammtziffer  um  ein  Beträchtliches  über- 
steigen. 

Ein  rapideres  Ansteigen  der  Erkrankungsfälle  —  etwa  in  den 
letzten  Jahren  —  hat  Chomse  nicht  constatiren  können. 

Wol  aber  ist  ihm  das  Freibleiben  der  besser  situirten  Be- 
völkerungsschichten aufgefallen,  und  mit  Vorsicht  sich  der  Lehre 
der  Contagiosität  der  Lepra  hinneigend,  muthmasst  er  eine  grössere 
Disposition  zur  Erkrankung  bei  denjenigen  Bevölkerungsschichten, 
welche  ungünstigen  topographischen  Verhältnissen  zusammen  mit 
unpassendem  hygieiuischen  Verhalten  ausgesetzt  sind.  Ausdrücklich 
betont  jedoch  der  Autor,  dass  er  die  hygieinischen  Uebelstände, 
sowie  die  topographische  Lage  an  sich  nicht  für  die  Verbreitung 
der  Lepra  verantwortlich  mache. 

Die  Vererbuug,  welche  bisher  als  wichtigster  Factor  für  die 
Ausbreitung  der  Lepra  gegolten,  schliesst  der  Autor  in  allen  seinen 
Fällen  aus.  Wol  ergreift  in  einem  Drittel  der  Fälle  die  Er- 
krankung Personen,  welche  in  engster  verwandtschaftlicher  Be- 
ziehung stehen,  immer  aber  war  der  Vater  entweder  lange  nach 
Geburt  der  Kinder  erkrankt,  oder  zuerst  wurde  der  Sohn  von  der 
Seuche  befallen  und  nach  Jahren  folgte  ihm  der  Vater.  Von  einer 
Familie,  die  aus  7  Gliedern  bestand  (Fall  II),  sind  nach  einander  4 
(Vater,  2  Söhne,  l  Tochter)  der  Lepra  erlegen.  Als  der  Vater 
erkrankte,  zählte  er  80  Jahre,  somit  ist  von  erblicher  Uebertragung 
nicht  die  Rede.     Wie  ist  denn  die  Erkrankung  zu  Stande  ge- 


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548 


Notizen. 


kommen  ?  Wir  bedauern,  dass  der  Autor  nicht  strict  die  Antwort 
gegeben :  nur  durch  das  Contagium,  durch  die  Ansteckuug.  Dass  das 
Krankenexamen  in  zwei  Dritteln  seiner  Fälle  negatives  Resultat  er- 
geben, ist  kein  Argument  dagegen.  Die  Indolenz  unserer  einfachen 
Bevölkerung,  theiis  auch  die  Absicht,  zu  verheimlichen,  die  lange 
Zeit,  welche  zwischen  Ansteckung  und  Ausbruch  der  Krankheit 
liegt,  erklären  die  grosse  Zahl  negativ  ausgefallener  anamnestischer 
Daten  vollkommen. 

Wichtig  ist  das  Drittel  der  positiven  Fälle,  welches  die  Aus- 
breit ung  der  Erkrankung  zwischen  Personen  beweist,  welche  nach 
der  Natur  ihres  Verhältnisses  zu  einander  in  engster,  fortwährender 
Berührung  stehen. 

Wir  hätten  uus  gefreut,  wenn  der  Autor  seine  Arbeit  mit 
einem  energischen  ceterum  censeo  an  die  Bewohner  Kurlauds,  speciell 
des  Doblenschen  Kreises  geschlossen,  mit  der  Aufforderung,  durch 
Errichtung  eines  Lepraheims  die  Kranken  von  den  Gesunden  zu 
trennen,  um  durch  diese  Massregel  die  Möglichkeit  weiterer  Lepra- 
verbreitung zu  vernichten. 


Dr.  A.  B. 


AosBOjeiio  ucosypo».  —  Penejb,  28- ro  AurycTa  1887. 

C^rucLt  bot  Limlfor»'  ErWn  in  RevtL 


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Bischof  Dr.  Johannes  Rudbeckius  und  die  erste  estländische 

Provinzialsynode. 

I. 

as  man  hier  zu  Lande  über  die  erste  estländische 
Provinzialsynode  weiss,  ist  entweder  sehr  lückenhaft 
oder  voll  von  Irrthümern.  Selbst  das  jüngste  Werk  unserer  heimat- 
lichen Kirchengeschichte,  Daltons  <  Verfassungsgescliichte  der  evange- 
lisch-lutherischen Kirche  Russlands»  1887',  wiederholt  blos  die  alten 
Irrthümer  Richters,  Carlbloms  und  Pauckers  ohne  einen  berichti- 
genden Zusatz.  Der  einzige,  welcher  etwas  ausführlicher  auf  sie 
eingeht,  ist  A.  F.  J.  Knüpffer  in  seinem:  t Beitrag  zur  Geschichte 
des  Ehstländischen  Prediger-Synodus»,  einem  auf  der  Synode  des 
Jahres  1827  gehaltenen  Vortrage.  Knüpffer  benutzte  zu  demselben 
für  die  Synode  von  1627  als  Quellen:  1)  die  (revaler)  Stadt- 
Ministerialprotokolle,  2)  das  Visitationsprotokoll  von  1627  und 
3)  eine  Sammlung  von  pastoralen  Amtsberichten  aus  dem  Jahre 
1627,  genannt :  «Status  Ecclesiarum  Esthonicarum > .  Ob  diese  Quellen 
noch  in  Reval  existiren  oder  seit  der  Benutzung  durch  Knüpffer 
verloren  gegangen  sind,  hat  der  Verfasser  dieser  Studie  nicht  in 
Erfahrung  bringen  können.  Zwar  verdankt  er  der  Gefälligkeit  des 
früheren  revaler  Stadtarchivars,  Dr.  Th.  Schiemann,  die  Mittheilung, 
dass  die  gegenwärtig  noch  vorhandenen  Stadt-Ministerialprotokolle 
sämmtlich  nicht  über  das  Jahr  1638  zurückgehen  und  dass  sich 
im  Stadtarchiv  nichts  über  Rudbeckius  findet ;  ob  sich  aber  die 


1  Das  Buch  hat  in  der    B.  AL>  nocli  keine  Anzeige  erfahren  können, 
ila  weder  Verfasser  noch  Verleger  es  eingesandt,  haben.  I>.  Rod, 

Baltische  lIonaLschrift,  Band  XXXIV,  Heft  7.  37 


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550  Bischof  Rudbeck. 

beiden  anderen  Quellen  nicht  doch  im  Archiv  des  estländischen 
Oberlandgerichts  versteckt  haben,  wo  Paucker  sie  zum  Theil  be- 
nutzt zu  haben  scheint,  hat  der  Verfasser  nicht  in  Erfahrung 
bringen  können. 

Durch  einen  Zufall  gelangte  der  Verfasser  dazu,  die  beiden 
Hauptquellen  zur  Geschichte  der  Visitationsarbeit  Rudbecks  in 
Estland  zu  bearbeiten,  als  er  1885  in  den  Stockholmer  Archiven 
nach  Quellen  zur  Geschichte  der  livländischen  Gegenreformation 
suchte.  Die  in  Winkelmanns  Bibliotheca  Livoniar  sub  Nr.  2404 
verzeichneten  :  *Aeta  visitatiotiis  generalis  in  Esthonia,  Livonia  et 
Inyria  per  Dr.  Joh.  Rudbechium  ao.  1027  saseeptae*  schienen  ihrem 
Titel  nach  für  die  Geschichte  des  Ausgangs  livländischer  Gegen- 
reformation vielversprechend  zu  sein.  Allein  es  stellte  sich  gar 
bald  heraus,  dass  Rudbeck  weder  in  Liv-,  noch  Ingermanland  ge- 
wesen, seine  Thätigkeit  nur  auf  Estland  beschränkt  geblieben  war. 

Durch  die  Güte  des  Cand.  Agathon  Hammarskjöld  wurde  nun 
der  Verfasser  mit  dem  Vortrage  W.  Greiffenhagens :  c  Heimische 
Oonflicte  mit  Gustav  Adolt»,  bekannt,  der  ihm  einen  Impuls  zur 
erneuten  Beschäftigung  mit  den  je  länger  desto  mehr  fesselnden 
Visitationsacten  Rudbecks  gab.  Doch  hätte  er  gar  bald,  bei  seiner 
damaligen  Unkenntnis  der  schwedischen  und  noch  dazu  alt-schwedi- 
schen Sprache,  von  seiner  Beschäftigung  abstehen  müssen,  wenn 
ihm  nicht  von  Seiten  der  schwedischen  Geschichtskenuer  und  zahl- 
reichen Verehrer  Rudbecks  das  regste  Interesse  für  seine  Arbeiten 
und  die  denkbar  grösste  Opferwilligkeit  zur  Ueberwiudung  der 
sprachlichen  Hindernisse  entgegen  getragen  worden  wären.  Nach- 
dem es  dem  Verfasser  erst  in  diesem  Sommer,  wo  sich  am  6.  Aug. 
260  Jahre  seit  der  Eröffnung  der  estländischen  ersten  Provinziai- 
synode  vollendeten,  möglich  gewesen  ist,  seine  Excerpte  auszu- 
arbeiten und  zu  componiren,  um  dem  bedeutungsvollen  Ereignis 
ein  Gedächtnisblatt  zu  widmen,  treibt  es  ihn,  allen  den  Herren 
seinen  inuigsten  Dank  zu  sagen,  welche  ihm  bei  der  Uebersetzung 
der  schwedischen  Documenta  und  durch  Uebersendung  erforderlicher 
Notizen  so  überaus  liebenswürdige  Hilfe  zu  Theil  werden  Hessen, 
insbesondere  dem  Herrn  Bibliothekar  Dr.  Harald  Wie  sei- 
gren und  seinem  lieben  Freunde  Cand.  Johann  Nord- 
lander, Oberlehrer  am  Gymnasium  auf  Norrmalm. 
Die  Hauptquellen  nachfolgender  Arbeit  sind  : 
l)  Acta  Visitatiotiis  EsUmiae1.  Es  ist  dies  ein  2  Finger 
1  Dir  Titel  in  Whikeliimntw  Bibl.  Liv.  ist  heute  nicht  mehr  vorhandeu. 


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Bisehof  Kudbeck. 


551 


dicker,  gut  gebundener  Quartband  der  kgl.  Bibliothek,  welcher 
ein  sauber  geschriebenes,  aber  nicht  immer  fehlerfreies  Copialbuch 
der  in  der  bischöflichen  Kanzlei  während  der  Visitationszeit  ein- 
gelaufenen und  von  ihr  ausgegangenen  Schreiben  darstellt,  Schreiben, 
die  au  und  von  Estlands  Geistlichkeit  in  Stadt  und  Land,  an  den 
revaler  Rath  und  von  ihm,  an  die  estländische  Ritterschaft  und 
von  ihr  und  an  andere  verschiedentliche  Amtspersonen  geschrieben 
sind.  Sie  enthalten  manches  für  die  Synodalgeschichte  in  engerem 
Sinne  nicht  unwesentliche  Material,  sind  meist  in  lateinischer,  aber 
auch  in  schwedischer  und  deutscher  Sprache  verfasst.  Den  grössten 
Raum  nehmen  jedoch  die  in  den  beiden  Conflicten  zwischen  Rud- 
beck  einerseits  und  dem  revaler  Stadtconsistorium  und  der  est- 
ländischen  Ritterschaft  andererseits  ausgetauschten  Schriftstücke 
ein  ;  wobei  es  auffällig  ist,  dass  die  erste  Antwort  der  Ritterschaft 
auf  Rudbecks  Proposition,  welche  freilich  im  <Liber  Aschanaeus» 
als  «mächtig  in  Continuo»  bezeichnet  wird,  darin  keine  Aufnahme 
gefunden  hat.  Alle  diese  Schreiben  waren,  wie  überhaupt  die 
Visitationsacteu,  für  eine  Durchsicht  des  Königs  Gustav  II.  Adolf 
bestimmt. 

2)  Die  zweite  Quelle,  ein  27a  Finger  dicker,  locker  gehefteter 
Quartband  im  Reichsarchiv,  führt  den  Titel :  e  Sum  Uber  Marthini 
Aschanaei  de  Visitatione  Esthoniae,  Livoniae  et  Ingriae,  Pi27  nien- 
sibus  Jutiii.  Julii,  Augusti,  Sepiembris,  Octobris  Revaliae  omni 
laude  dignata,  MA  (=  manu  proprio)»  ;  wir  nennen  sie  der  Kürze 
wegen  «Liber  Aschanaei». 

Aschanaeus,  Martin  Laurentii',  ist  auf  dem  Hof  Aske  in 
Uppland  geboren.  Am  russischen  Kriege  Gustav  Adolfs  nahm  er 
als  Feldprediger  Theil ;  hernach  war  er  Pfarrer  in  Uppland  und 
wurde  1627  dem  Bischof  Rudbeck  für  seine  Visitation  in  Estland 
als  Secretär  und  Notar  beigegeben.  1630  wurde  er  zum  Antiquarius 
(im  Reichsarchiv  V)  befördert  und  war  in  diesem  Amte  sehr  fleissig 
und  eifrig;  er  soll  1640  gestorben  sein. 

Unter  den  im  Liber  Aschanaei  enthaltenen  Documenten  sind 
folgende  von  besonderer  Bedeutung:  1.  Die  Vollmacht  und  Instruc- 
tion Rudbecks  von  Gustav  II.  Adolf  (eine  Copie).  2.  Rudbecks 
Reisepass.  3.  Ein  Brief  an  Aschanaeus,  worin  er  zum  Begleiter  des 
Bischofs  ernannt  wird,  weil  er  durch  seine  Kriegszüge  des  Landes 
kundig  sei.    4.  Beschlnss  des  estnischen  Prediger-Synortus  im  Juli 


1  Xaeh  dein  Hohwedisclieii  Schriftsteller-Lexikon. 

37» 


Digiti 


552  Bischof  Rudbeck. 

und  August  des  Jahres  1627.  5.  Ein  treuer  und  wohlgemeinter 
Rath  und  Vorschlag,  wie  dem  armen  .  .  .  Estland  .  .  .  geholfen 
.  .  .  werden  kann,  den  estnischen  Ständen  von  Rudbeck  am  1.  Oct. 
1027  zu  Reval  übergeben.  6.  Vorschlag  zu  einem  Schulstatut. 
7.  Intimatio  ad  disputationem  Revaliae  1(127.  8.  Propositiones  de 
praeeipuis  fidai  et  religiotiis  christianac  capitibus.     9.  Itinerarium. 

Da  der  Verfasser  für  die  Benutzung  der  beiden  genannten 
Quellensammlungen  nur  drei  Wochen  Zeit  hatte,  so  war  genug  zu 
thun,  um  mit  den  sog.  <Acia  Visitationis»,  die  er  ganz  durchge- 
arbeitet hat,  fertig  zu  werden.  Aus  dem  Lib.  Asch,  konnte  er 
jedoch  nur  das  Wichtigste  herausnehmen ;  nämlich  die  Nummern : 
l,  4,  5  und  9;  Nr.  4  noch  dazu  in  gekürzter  Form  in  einem 
anderen  Sammelbande  des  Aschanaeus,  worüber  in  nachfolgender 
Arbeit  selbst  Auskunft  gegeben  wird.  Der  hervorragendste  Bestand- 
teil des  Lib.  Asch,  ist  das  sog.  <  Itinerarium  >  (in  einer  dein  Ver- 
fasser gehörigen  Abschrift  24  Folioseiten  lang),  da  es  eine  de- 
taillirte,  meist  in  schwedischer  Sprache  geschriebene  Uebersicht 
über  alle  Ereignisse  der  Visitation  in  leider  nur  oft  genug  dürftiger 
und  trockener  Form  bietet.  Für  die  an  einigen  Stellen  ausser- 
ordentlich schwierige  Uebersetzung  konnte  sich  der  Verfasser  der 
Hilfe  des  Herrn  Archivars  Dr.  Victor  Granlun  bedienen,  wofür  er 
ihm  hier  Dank  sagt  Für  die  Authenticität  des  Berichts  bürgt 
einmal  die  Stellung  des  Aschanaeus  und  die  mehrfach  emendirte 
Durchsicht  des  Ganzen  von  feiner  anderen  Hand»,  wahrscheinlich 
vom  Bischof  selbst,  worauf  die  eingehenden  Correcturen  schliessen 
lassen.  Die  Aufzeichnung  der  Thatsachen  ist  mithin  als  eine 
«offieiöse»  zu  bezeichnen.  Die  Ereignisse  sind  nach  Art  eines 
Tagebuches  eingetragen.  Unsere  Darstellung  ist  mehrfach  genöthigt, 
ganze  Partien  des  Itiuerars  wörtlich  wiederzugeben,  daher  der 
Verfasser  zur  Charakteristik  desselben  auf  diese  Stellen  verweist. 
Von  der  Nüchternheit  und  Naivetät  des  Aschanaeus  legt  es  ein 
beredtes  Zeugnis  ab,  ebenso  aber  auch  von  seiner  Pedanterie  und 
Gewissenhaftigkeit.  Nach  mehreren  auf  die  Visitation  bezüglichen 
Notizen  folgen  oft  allerhand  Kriegsnachrichten  und  private  Annota- 
tionen, so  z.  B.  unter  irgend  einem  Datum:  «Eine  alte  Frau  auf 
dem  Dom  fiel  vom  Stuhl  auf  den  Boden  und  war  gleich  todt», 
oder  ein  anderes  Mal:  «Heute  hatte  Biscopus  Zahnschmerzen». 
Dagegen  lassen  die  Schilderungen  von  der  Eröffnung  der  Synode 
und  der  für  die  kirchlichen  Verhältnisse  bestimmten  Landtags- 
session an  Trockenheit  nichts  zu  wünschen  übrig.   Ist  schon  vieles  in 


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Bischof  Rudbeck. 


553 


dem  Itinerar  mit  selir  störenden  Abkürzungen  und  in  recht  schlechter 
Handschrift  niedergeschrieben,  so  ist  das  namentlich  der  Fall  mit 
Punkt  4,  wo  sich  die  Beschlüsse  der  Synode  in  breiter  Ausführung 
tin Jen.  Rine  eingehende  Durchsicht  dieser  Abtheilung  und  der  im 
ganzen  Bande  zerstreut  eingehefteten  Notizen  und  Protokollblättchen 
wird  zwar  sehr  zeitraubend  sein,  aber  gewiss  manches  Goldkörnchen 
aus  Tageslicht  fördern.  Der  Verfasser  hat  darauf  mit  Schmerz 
verzichten  müssen.  Wenn  er  somit  auch  nicht  eine  Geschichte  der 
Synode  und  Visitation  schreiben  konnte,  so  glaubt  er  doch  die 
Grundzüge  für  eine  solche  geschaffen  zu  haben. 


1.   Ueb  er  sieht  der  kirchlichen  Verhältnisse 
Estlands  von  t  5  b'  l  —  1  027. 

Die  zermalmende  Wirkung  der  Invasionen  Iwans  des  Schreck- 
lichen hatte  Estland  kaum  minder  hart  als  Livland  betroffen. 
Bis  in  die  Wiek  hinein  waren  die  entmenschten  Banden  des 
moskowitischen  Zaren  schon  in  den  letzten  Jahren  Inländischer 
Selbständigkeit  vorgedrungen.  Und  als  die  Estländer,  bei  dem 
stamm-  und  glaubensverwandten  Schweden  Schutz  suchend,  sich 
der  schwedischen  Krone  unterwarfen,  besass  diese  in  den  ersten 
Jahren  noch  nicht  die  Kraft,  das  Land  vor  Verheerungen  zu 
schützen.  Gerade  die  Jahre  1570  und  1577  überboten  alles  bisher 
Dagewesene  an  übernatürlicher  Grausamkeit. 

Bis  1583  dauerten  hier  die  Kämpfe  gegen  Russland  ununter- 
brochen fort,  um  1 590  aufs  neue  aufgenommen  zu  werden  und  nach- 
mals in  den  Polenkriegen  Karls  von  Södermauland  und  Gustav 
Adolfs  gegen  Sigismund  III.  von  Polen  eine  unliebsame  Fortsetzung 
des  Kriegsnothstandes  im  Lande  zu  erhalten.  Solche  Zeiten  all- 
seitiger Inanspruchnahme  der  materiellen  und  geistigen  Reichskräfte 
waren  nicht  dazu  angethan,  in  der  armen  estländischen  Provinz 
bessere  Zustände  anzubahnen.  Mochte  das  Land  auch  frei  geblieben 
sein  von  den  Livland  so  überaus  hart  treffenden  Peinigungen  der 
polnischen  Gegenreformation,  ganz  frei  von  der  Furcht  vor  einer 
Rekatholisirung  war  die  Provinz  doch  auch  nicht  geblieben  in  den 
Tagen  Johanns  III.,  des  schwedischen  Theologen  auf  dem  Königs- 
thron, und  seines  Sohnes  Sigismund.  Und  stand  Estland  auch 
nicht  halb  so  viel  Qualen  wie  Livland  aus  während  des  welthistori- 
schen Kampfes,  ob  das  Balticum  der  sarmatischen  oder  germani- 


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554  Bischof  Rudbeck. 

sehen  Oultur  dauernd  gewonnen  werden  solle,  an  schwerlastenden 
Kriegssteuern,  drückenden  Sorgen  vor  den  Einfällen  der  bösen 
Nachbarn  war  kein  Mangel,  behaglicher  Lebensgeuuss  längst  etwas 
Unbekanntes  geworden. 

In  Schweden  selbst  war  unter  solchen  Verhältnissen  wenig 
Zeit  für  Reorganisationen  auf  staatlichem  oder  kirchlichem  Gebiete, 
um  wie  viel  weniger  konnte  dergleichen  von  Estland  erwartet 
werden !  Und  doch  war  auf  kirchlichem  Gebiete  hier  manches  ge- 
than,  was  für  die  Zukunft  Hoffnung  einflössen  konnte. 

Erich  XIV.  ernaunte  den  Prediger  an  der  Domkirche  Johann 
von  Geldern  1561  zum  Superintendenten  der  Stadt  Reval  und  her- 
nach zum  Ordinarius  oder  Bischof  von  Estland  (f  1572),  welch 
letzteren  Titel  ihm  Johann  III.  neu  bestätigte«.  Was  er  als  solcher 
gethan,  hat  die  Geschichte  uns  nicht  überliefert,  wol  weil  er  nichts 
zu  thun  vermochte.  Von  seinem  Nachfolger  Christian  Agricola 
aus  Finnland  ist  uns  auch  nicht  viel  mehr  bekannt,  als  dass  er 
auf  dem  Lande  einige  Prediger  ordinirte  und  einige  Visitationen 
vornahm,  deren  Ausdehnung  begreiflicherweise  nur  gering  sein 
konnte.  Der  erste  Mann,  dem  eine  positive,  fruchtbringende  Thätig- 
keit  beschieden  war,  ist  der  revaler  Domprediger  David  Dubberch*. 
Ihm  ward  —  entweder  noch  zu  Agricolas  Zeiten  oder  etwas 
später  —  die  überaus  schwierige  Aufgabe  zu  Theil,  das  zerstörte 
Kirchenwesen  als  Visitator  der  Landkirchen  einigermassen  wieder 
in  Ordnung  zu  bringen.  <Dubberchs  Thätigkeit  verdanken  die 
Landkirchen  grösstenteils  die  Erhaltung  ihrer  Grundstücke,  die 
Wiederherstellung  oder  doch  wenigstens  die  officielle  Sammlung 
ihrer  Rechte,  wie  seine  bei  mehreren  Kirchen  noch  vorhandenen 
Kirchenvisitationsacten  und  deren  Extracte  im  Oonsistorialarchiv 
solches  bewahren,  und  auch  den  Anfang,  der  hie  und  da  mit  dem 
Wiederaufbau  der  Kirchen  und  Pastorate  gemacht  wurde».  >  Vou 
seinem  regen  Eifer  zeugt  auch  die  Kirchen  Visitationsordnung  von 
1595,  die  heute  im  Stockholmer  Reichsarchiv  aufbewahrt  wird*. 
Seine  Visitationsacten  aber  entrollen  ein  trauriges  Bild  von  der 
schrecklichen  Verwahrlosung  der  kirchlichen  Zustände  Estlands. 
Ungehört  war  ein  Mahnschreiben  Agricolas  vom  Jahr  1584  an  die 

*  cf.  A.  F.  J.  Knüpfler :  Beitrag  zur  Geschichte  des  Ehstlundischen  Prediger- 
Synodus-  Synodalvortrag  im  Juni  1827  gehalten;  und  Gustav  Carlblora:  «Ent- 
wurf zur  Kirchen  and  ReligionsGesehhhte  Estland«)  in  Banges  Archiv  Ii.  VI. 

*  auch  Duhherg  geschrieben.  —    "  cf.  Kniiwffer. 
4  cf.  Wiiikehnauns  Bibl.  Liv.  3845. 


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Ritter-  und  Landschaft  der  vier  Kreise  Estlands  («auf  Befehl  der 
himmlischen  Majestät  und  des  schwedischen  Königs  Johann»)  ver- 
hallt, worin  sie  ihre  Gotteshäuser  wieder  zu  erbauen  aulgefordert 
wurde;  Kirchen   und  Schulen  lagen  ganz  darnieder,  unwürdige 
Prediger  walteten  ihres  pastoralen  Amtes  in  unvollkommenster 
Weise  und  Adelige  und  Bauern  lebten  in  grösster  Unwissenheit 
dahin.    Von  ärgster  sittlicher  Verwilderung,  bösem  Aberglauben, 
Rohheit  und  heidnischem  Götzendienst  der  Bauern  —  stand  doch 
die  Verehrung  Thors  an  manchen  Orten  noch  in  Blüthe  oder 
lebte  wieder  auf«  —  weiss  Dubberch  zu  berichten.     Aber  Dub- 
berch   starb  schon  im  ersten  Jahrzehnt  des   17.  Jahrhunderts, 
und  seitdem  steigerten  sich  die  Gebrechen  der  Zeit  in  immer 
verderblicherer  Weise.     Der  von  Karl  von  Södermanland  zum 
Vicarius  Episcopi  und  Domsuperintendenten  ernauute  Nikolaus  Gaza 
(1604—1618')   erwies   sich    als    unfähig   und    träge    für  sein 
Amt.    Hätten  daher  das  revaler  Stadtconsistorium  und  der  städti- 
sche Superintendent  sich  nicht  des  platten  Landes  nach  Massgabe 
von  Zeit  und  Gelegenheit  angenommen,  man  würde  von  einer 
schrankenlosen  Anarchie  in  Estlands  Kirchengeschichte  zu  berichten 
haben.    Die  Stadt  Reval  jedoch,  welche  sich  auf  Grund  des  Privile- 
giums Erichs  XIV.  ein  eigenes  Stadtconsistorium  und  eine  eigene 
Superintendentur  geschaffen,  hatte  die  unter  Mitwirkung  des  be- 
rühmten Dr.  David  Chyträus  in  Rostock  verfasste  und  von  Herzog 
Gotthard  Kettler   1570  in  Kurland  eingeführte    und   1572  in 
Rostock  in    den  Druck  gegebene    sog.  «Kurländische  Kirchen- 
ordnung» angenommen,  besass  also  ein  auf  deutscher  Basis  er- 
bautes eigenes  Kirchenthum,  wohlgeeignet,  den  Stürmen  der  Zeit 
zu  trotzen. 

Schwedens  grösster  König,  über  dessen  administrative  Thätig- 
keit  in  Staat  und  Kirche  inmitten  seiner  grossgearteten  auswärtigen 
Politik  man  wahrhaft  erstaunen  muss,  fand  erst  gegen  Ende  seiner 
ereignisvollen  Regierung  Zeit,  sein  Augenmerk  auf  die  kirchlichen 
Zustände  Estlands  zu  richten.  —  Am  22.  Januar  1626  traf  Gustav 
Adolf,  von  Birsen  kommend,  nur  von  einem  Diener  begleitet,  ganz 
unerwartet  in  Reval  ein,  wo  er,  ohne  von  jemandem  bemerkt  zu 
werden,  am  Morgen  um  8  Uhr  in  den  Hof  des  revaler  Schlosses 

1  Ueijer  '  Oechk-hte  Schweden»)  B.  II,  p.  297,  berichtet  uns  als  Pendant 
hierzu,  «las«  in  Schweden  an  einigen  Orten  noch  die  Odinsverehrung  um  dieselbe 
Zeit  vorgekommen  ist. 

*  ef.  Knüpffer. 


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Bischof  Badbeck. 


hineingeritten,  in  welchem  die  ihn  vergötternde  Gemahlin  Marie 
Eleonore  seiner  seit  vielen  Monaten  vergeblich  harrte. 

Bald  nach  der  feierlichen  Begrüssung  von  Seiten  der  Stadt 
und  der  Landräthe  begannen  jene  Verhandlungen,  in  denen  Gustav 
Adolf  zum  ersten  Mal  seinen  grimmigen  Zorn  über  die  Estländer 
ausschüttete,  weil  sie  seinem  Dafürhalten  nach  in  der  Leistung 
von  Abgaben  und  Steuern  zum  Besten  des  Reichsganzeu  nicht  nur 
säumig,  sondern  widerspenstig  waren  und  ihren  Übeln  Willen  hinter 
dem  Vorwande  des  Unvermögens  verbargen.  In  der  diese  <  heimi- 
schen Conflicte  mit  Gustav  Adolf>  behandelnden,  hochinteressanten 
Monographie  von  W.  Grebenhagen 1  wird  darauf  hingewiesen,  dass 
sie  ihre  Ursprungsquelle  in  dem  von  Gustav  Adolf  repräsentirten 
«aufgeklärten  Despotismus»  haben.  Der  König  raisachtet  die  1613 
und  1617 J  von  ihm  beschworenen  Privilegien  des  Laudes,  indem  er 
die  durch  Personalunion  mit  Schweden  verkuüpfte  Provinz,  welcher 
das  Recht  der  Reichsstandschaft  nicht  zustand,  in  gleicher  Weise 
zur  Steuerpflichtigkeit  heranziehen  will  wie  seine  im  schwedischen 
Reichstage  vertretenen  schwedischen  Reichsstände.  Es  liegt  auf 
der  Hand ,  dass  die  estländischen  Provinzialstände  nicht  ohne 
weiteres  zu  Leistungen  angehalten  werden  durften,  für  die  Reichs- 
tagsbeschlüsse vorlagen,  an  denen  sie  nicht  mitgewirkt  hatten  ;  dass 
der  König  ihnen  gegenüber  ebenso  durch  die  Privilegien  gebunden 
war,  wie  in  Schweden  durch  die  Reichsconstitution ;  dass  gleiche 
Leistungen  der  Provinzialstände  allein  aus  einem  freier  Verein- 
barung entspringenden  Compromiss  abgeleitet  werden  konnten.  Wenn 
also  der  König  in  den  letzten  allegirten  Privilegienbestätigungen 
die  Clausel  anbrachte:  «nicht  aber  unseren  königlichen  Regalien 
und  Hoheiten  zuwider»,  so  stellte  er  sich  auf  den  Standpunkt  <des 
aufgeklärten  Despotismus»,  vor  dem  alle  Rechte  als  Wahnvor- 
stellungen des  beschränkten  Unterthanen Verstandes  ius  Mauseloch 
zu  kriechen  haben. 

An  dieser  Stelle  ist  der  scharfen  Gegensätze  zwischen  König 
und  Provinz  in  Anlass  der  Steuerbewilligungen  nur  aus  dem  Grunde 
gedacht,  weil  sie  in  Parallele  zu  den  kirchlichen  Massnahmen  der 
schwedischen  Regierung  stehen. 

Nachdem  sich  Gustav  Adolf  in  der  Begrüssungsaudienz  der 
Landräthe  am  23.  Jan.  1626  im  allgemeinen  höchst  betrübt  über 


1  In  «Beitrüge  zur  Kunde  Ehst-,  Liv-  und  Kurland*»,  Bd.  TU,  Heft  1. 
*  et'.  Kichters  Gesch.  d.  Usteeepr.  Theil  II,  I.  Bd.,  p.  23ö. 


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Bischof  Rudbeck 


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die  kirchlichen  Zustande  Estlands  und  die  Notwendigkeit  ihrer 
Aenderung  geäussert  hat,  richtet  er  an  das  Landrathscollegium 
sowol  die  Bitte,  mitzuhelfen  mit  Rath  und  That,  damit  ein  «Reme- 
dium»  gefunden  werde,  als  auch  zugleich  die  Frage,  wie  es  mit 
dem  Kirchenregiment  in  früherer  Zeit  bestellt  gewesen  und  annoch 
bestellt  sei ;  auch  macht  er  auf  das  dringende  Bedürfnis  der  Er- 
richtung «einer  guten  Schule  und  Universität»  aufmerksam,  zugleich 
anfragend,  was  man  für  ihren  Unterhalt  von  den  Klostereinkünften 
zu  verwenden  gesonnen  sei. 

Aus  dem  vom  3.  Februar  datirten  Antwortschreiben  —  für 
welches,  wie  überhaupt  für  diese  Vorverhandlungsfrageu  zur  nach- 
folgenden Kirchenvisitation,  der  Kürze  wegen  auf  die  beregte 
Schrift  Greiffenhagens  verwiesen  sei  —  sei  nur  das  hervorge- 
hoben, dass  Ritter-  und  Landschaft  von  der  Kirchen verfassuug 
in  vorschwedischer  Zeit  wegen  des  Verlustes  der  Kirchenbücher 
nichts  wissen  wollen,  dagegen  das  als  sicher  bekannt  anführen, 
dass  das  Amt  Fegfeuer  zum  Unterhalt  der  kirchlichen  Institutionen 
in  schwedischer  Zeit  bestimmt  worden  und  in  einem  Vertrage  des 
Bischofs  von  Reval  mit  dem  Orden  v.  J.  1542  der  Zehnte  für  ewige 
Zeiten  auch  durch  das  Amt  Fegfeuer  abgelöst  sei.  Die  in  Aus- 
sicht gestellte  Akademie  wird  mit  Dank  angenommen,  doch  wegen 
der  Unbedeutendheit  der  Klustereinkünfte  die  Gründung  derselben 
auf  die  Zeit  des  Friedenseintritts  verschoben. 

In  der  kgl.  Replik  vom  10.  Febr.  heisst  es  sub  p.  2  :  « Wenn  die 
Landräthe  es  auch  nicht  wissen  wollten  oder  desselben  sich  nicht 
erinnern  könnten,  wie  die  Geistlichkeit  zur  Zeit  des  Papstthums 
und  der  Reformation  unterhalten  worden,  so  sei  es  doch  nicht 
glaublich,  dass  sie  «das  Bettelbrot  gefressen,  wie  sie  es  jetzt  fressen 
müsste».  Jetzt  seien  sie  auf  Almosen  gewiesen,  während  jedes 
gute  Regiment  nur  auf  bestimmte  Einnahmen  fundirt  werden  könne. 
.  .  .  Wenn  *  fegenden*,  wie  sie  in  der  Urkunde  Erichs  V.  von 
Dänemark  1282  genannt  wurden,  wirklich  «Zehnten»  bedeute,  so 
sei  doch  unter  diesem  nur  der  Zehnte  der  Bischöfe  und  nicht  der 
der  Parochialgeistlichkeit  gemeint.  .  .  Der  Zehnte  müsse,  wenn 
nicht  anders,  wieder  eingeführt  werden.»  Auch  mit  dem  Aufschub 
der  Einrichtung  einer  Schule  erklärt  sich  der  König- keineswegs 
zufrieden. 

Acht  Tage  später  lief  die  Duplik  der  Landräthe  ein,  worin 
dieselben  der  Bitte  und  Hoffnung  Ausdruck  geben,  «der  König 
möchte  und  werde  sich  einen  genauen  Bericht  über  den  Stand  der 


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I 


558  Bischof  Rudbeck. 

Dinge  erstatten  lassen,  der  ihn  dann  nicht  darüber  im  Unklaren 
lassen  werde,  dass  die  Prediger,  von  ihren  Einkünften  aus  Aeckern 
und  Heuschlägen  ganz  abgesehen,  von  jedem  besetzten  Haken 
Landes  jährlich  5  Külimit  reines  Korn  bezögen.  Allerdings  fände 
der  frühere  Ueberfluss  jetzt  nicht  mehr  statt ;  allein  die  Prediger 
ständen  darin  nicht  besser  da  als  alle  übrigen  Bewohner  des  Landes, 
ja,  als  der  König  selbst,  der  von  den  wüst  gewordenen  Kron- 
gütern auch  keine  Einnahmen  bezöge.  Sie  gäben  sich  auch  der 
Hoffnung  hin,  dass  der  König  sie  mit  der  Einführung  des  Zehnten, 
der  ohne  Widerspruch  des  Papstes  im  Wege  der  Verhandlung  ab- 
geschafft sei,  in  Gnaden  verschonen  werde»  &c. 

Zwei  Tage  vor  seiner  am  24.  Febr.  erfolgten  Abreise  aus 
Reval  versammelte  der  König  noch  einmal  die  ritterschaftliche 
Vertretung  auf  dem  Schlosse  und  eröffnete  ihr  betreffs  der  kirch- 
lichen Fragen :  cdass  man  den  Zehnten  wieder  einführen  sollte, 
sei  nicht  seine  Absicht,  sondern  nur,  dass  die  Geistlichkeit  ihren 
gebührenden  Unterhalt  erhalte,  als  welchen  er  die  5  Külimit  Koni 
vom  besetzten  Haken  erachte,  da  dies  mehr  ausmache,  als  in 
Schweden  gegeben  werde.  Eine  gute  Schule  für  die  Jugend,  müsse 
er  wiederholen,  sei  hochnöthig.  und  zwar  je  eher  je  lieber  zu 
gründen.  Könne  man  sich  wegen  des  Klosters  mit  der  Stadt  nicht 
vereinigen,  so  werde  im  Reiche  die  Entscheidung  erfolgen.»  Endlich 
theilte  er  mit,  dass  er  behufs  Abschlusses  der  eingeleiteten  Ver- 
handlungen (in  weltlicher  u  n  d  kirchlicher  Hinsicht)  Commissare 
ernennen  werde. 

2.   Johannes  Rudbeckius  und  die  königliche 

Instruction. 

Die  schwedische  Reichskirche  befand  sich  in  der  gustav- 
adolfinisehen  Epoche  in  einem  gewaltigen  Aufschwünge ;  denn  die 
gefahrvollen  Zeiten  eines  Johann  III.  und  Sigismund  waren  über- 
wunden, durch  die  Kirchenordnung  des  Jahres  1571  und  die  auf 
der  so  wichtigen  Upsalaer  Synode  vom  Jahr  1593  allgemein  aecep- 
tirten  Beschlüsse  über  ein  einheitliches  lutherisches  Bekenntnis  der 
schwedischen  lutherischen  Kirche  ein  festes  Fundament  geschaffen 
worden,  auf  dem,  fanden  sich  nur  die  rechten  Männer,  ein  statt- 
liches Gebäude  aufgerichtet  werden  konnte.  Und  welches  Land 
vermochte  jener  Zeit  glücklichere  Umstände  für  eine  gedeihliche 
organische  Ausgestaltung  der  Kirche  aufzuweisen?  Eine  glaubeus- 


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Bischof  Rudbeck. 


559 


starke  und  streng  protestantische  Regierung  einerseits  und  an  der 
Mntterquelle  des  reformatorischen  Geistes,  in  Wittenberg,  und  an 
der  schnell  autblühenden  Universität  Upsala  gebildete,  hochbegabte 
Theologen  und  Kirchenfürsten  andererseits  reicliten  sich  die  Hand 
zum  geraeinsamen  Werke.  Das  gründliche,  in  edler  Sprache  und 
mit  warmer  Empfindung  geschriebene  Werk  Theodor  Norlius : 
c Schwedische  Kirchengeschichte  nach  der  Reformation» 1  verräth  an 
so  mancher  Stelle  den  berechtigten  Stolz  des  schwedischen  Ver- 
fassers auf  die  grosse  Vergangenheit  seiner  Kirche.  « Die  schwedi- 
sche Kirche,»  sagt  er,  «stand  während  der  vormundschaftlichen 
Regierung  Christinens  —  und  zur  Zeit  Gustav  Adolfs,  hätte  er 
vorher  sagen  können  —  auf  der  Höhe  ihrer  ßlüthe.  Selbständig 
und  in  hohem  Grade  unabhängig  von  der  weltlichen  Gewalt,  wurde 
sie  dieser  gegenüber  von  Männern  repräsentirt,  welche  ausgezeichnet 
waren  durch  die  höchste  Bildung,  die  die  Zeit  zu  geben  ver- 
mochte, achtunggebietend  durch  Frömmigkeit,  Redlichkeit  und  un- 
zerstörbare Arbeitsamkeit3.»  Der  Erzbischof  von  Upsala:  P. 
Kenicius,  der  Bischof  von  Westeräs :  Johannes  Rudbeckius,  der 
Bischof  von  Strengnäs;  Laar.  Paulinus,  der  edle  Bischof  Johannes 
Bothvidi  von  Linköping,  der  Superintendent  von  Calmar:  Nikolaus 
Eschilli,  der  Superintendent  von  Göteborg :  Andreas  Prytz,  der 
Bischof  von  Abo :  Isaak  Rothovius,  persönlicher  Freuud  Axel 
Oxenstjernas.  dessen  theologisch-humanistische  Bildung  er  in  Witten- 
berg geleitet,  —  das  sind  neben  vielen  anderen  die  klangvollsten 
Namen,  die  unserem  Ohre  verständlich  zu  machen  hier  nicht  der 
Ort  ist.  Einem  Manne  aber  -  und  er  war  der  bedeutendsten 
einer  —  müssen  wir  unsere  ganze  Aufmerksamkeit  widmen,  denn 
er  war  dazu  ausersehen,  der  Nordprovinz  unserer  Heimat  diejenige 
kirchliche  Neugestaltung  zu  geben,  der  sie  ihre  nachmalige  Ent- 
wicklung und  Blüthe  verdankt». 

eDer  schwedischen  Kirche  erster  Mann,»  sagt  Norlin,  «was 
Kraft,  Tüchtigkeit  und  Anseheu  anbetrifft,  war  Johannes  Rud- 
beckius, Bischof  in  Westeräs.»  Er  war  geboren  im  Jahre  158t 
im  Dorfe  Ormesta  bei  Örebro  (f  1646).    Nach  dem  Besuch  der 

1  Theodor  Norlin :  „Svenska  ki/rkans  Historia  efter  Reformationen".  Für  un- 
sere Verhältnisse  kommt  hier  nur  in  Betracht  desl.  Bundes  2.  Ahtheilunif.  Lund  1871. 
•  Norlin  ]>.  38. 

"  Nuch  Theodor  Norlin  p.  84  uud  85  und  dem  «Schwedischen  Schriftsteller- 
lexikon ,  aus  welchem  ich  einen  Auszug  durch  die  (tüte  des  Herrn  ('and.  Johann 
Nordländer  in  Stockholm  erhielt. 


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560 


Bischof  Rudbeck. 


Schulen  in  Örebro  und  Strengnäs  und  Studien  zu  Upsala  besuclite 
er  die  Universität  Wittenberg,  wurde  Magister  der  Philosophie  und 
hierauf  Professor  der  Mathematik  in  Upsala.  Er  entwickelte  in 
diesem  Amt  eine  grossartige  Wirksamkeit  und  wurde,  nachdem  er 
im  Jahre  1009  von  einer  neuen  Reise  nacli  Deutschland,  wo  er  in 
Wittenberg  Hebräisch  und  Griechisch  studirte,  zurückgekehrt  war, 
zur  Professur  in  der  hebräischen  Sprache  in  Upsala  befördert. 
Im  J.  1611  vertauschte  er  diesen  Lehrstuhl  mit  einem  theologischen 
und  schrieb  seine  erste  grössere  Schrift:  *  contra  Scholastarum  et 
Jesuitarum  deliria»1.  Meinungsverschiedenheiten,  vorzüglich  aber 
seine  grössere  Beliebtheit  bei  den  Studenten,  brachten  ihn  in  einen 
hitzigen  Streit  mit  seinem  Collegen,  dem  Professor  Messeuius,  wo- 
bei  nach  damaligem  Brauch  nicht  blos  in  Wort  und  Schrift,  sondern 
auch  mit  Faust,  Degen  und  Knüttel  gekämpft  wurde.  Der  er- 
bitterten literarisch-militärischen  Fehde  machte  Gustav  Adolf  da- 
durch ein  Ende,  dass  er  Messenius  zum  Assessor  des  Hofgerichts 
und  Rudbeck  zum  kgl.  Hofprediger  ernannte.  Als  solcher  be- 
gleitete er  Gustav  Adolf  in  den  Feldzügen  der  Jahre  1614,  1615 
und  1616  nach  Russland,  während  welcher  Zeit  gerade  das  Ver- 
hältnis des  Königs  zu  Margaretha  Kabeljau  seinen  Anfang  nahm, 
von  der  ihm  ein  Sohn  Gustav  Gustavi  de  Wasaborg  1616  geboren 
worden  sein  soll.  Wir  besitzen  noch  die  prächtige  Ermahnungsrede 
Rudbecks  an  den  König  vom  20.  Juni  1617,  welcher,  wie  überhaupt 
dem  Einflüsse  Rudbecks,  Norlin  die  gewaltige  Sinnesänderung 
Gustav  Adolfs  zuzuschreiben  geneigt  ist.  Sicher  ist  es,  dass  um 
diese  Zeit  die  Kabeljau  für  immer  entfernt  ward,  dem  Leichtsinn 
der  Sturm-  und  Drangperiode  jene  aufrichtige  Frömmigkeit  und 
tiefernste  Sittlichkeit  folgte,  die  einen  wesentlichen  Bestandteil  im 
Charakter  des  grossen  Königs  ausmacht.  Doch  darf  auch  nicht 
vergessen  werden,  dass  zur  selben  Zeit  neben  Rudbeck  auch  der 
edle  Johannes  Bothvidi  Hofprediger  im  Feldlager  des  Königs  war». 
Aus  jener  Feldpredigerzeit  stammt  eine  sehr  interessante  Schrift 
Rudbecks,  gerichtet  an  die  Priester  in  lwangorod,  worin  er  die 
Vorzüge  des  lutherischen  Glaubens  zu  erörtern  versucht.  Im  An- 
schluss  an  die  feierliche  Krönung  Gustav  Adolfs  1617  fanden  die 
ersten  Doctorpromotionen  in  Gegenwart  des  Königs  statt ;  die 

1  1616  begann  er  eine  Uebersetzung  der  Bibel,  die  jedoch  nicht  ganz  voll- 
endet  worden  ist.  Er  schrieb  auch  26  theologische  nnd  6  philosophische  Dis- 
putationsschriften. 

1  cf.  Norlin  p.  5  u.  ff. 


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Bischof  Rudbeck. 


561 


zwei  ersten,  denen  diese  Ehre  zn  Theil  ward,  sind  Bothvidi  und 
Rudbeck. 

Johannes  Rudbeckius  war  mithin  schon  eine  sehr  angesehene 
Person,  als  er  nach  Berufung  des  Stiftes  vom  Könige  zum  Bischof 
von  Westeras  ernannt  wurde.  Von  den  vielfältigen,  nach  allen 
Seiten  durch  Rudbeck  ausgeführten  Verbesserungen  kann  hier  nur 
das  Wesentlichste  Platz  finden.  Es  genügt  anzuführen,  dass  er 
die  gänzlich  in  Verfall  gerathene  Domkirche  restaurirte,  drei  Schul- 
häuser baute  und  das  Hospitalwesen  auf  eine  sehr  vollkommene 
Stufe  hob.  Er  liess  eine  ausführliche  Beschreibung  aller  Gemeinden 
in  seinem  Stift  verfassen  und  hielt  die  Prediger  an,  ihm  statistische 
Angaben  über  die  Bevölkerung,  die  Mortalität  und  andere  Ver- 
hältnisse einzusenden.  Man  kann  ihn  deshalb  als  den  Begründer 
der  schwedischen  Statistik  betrachten.  Eine  besondere  Kirchen- 
ordnung und  ein  Schulgesetz  wurden  auch  von  ihm  ausgearbeitet. 
Er  führte  Prediger-  und  Hausverhöre  ein.  Durch  häufige  Visita- 
tionen und  zweimal  jährlich  abgehaltene  Predigersynoden  führte  er 
in  seinem  Stift  eine  vortreffliche  Ordnung  ein  und  entfernte  er  mit 
kräftiger  Hand  die  mannigfachen  Misbräuche,  welche  in  den  früheren 
unruhigen  Zeiten  eingerissen  waren.  Ein  ganz  besonderes  Ver- 
dienst erwarb  er  sich  aber  durch  die  verständige  Reorganisation 
resp.  Neugründung  des  Gymnasiums  zu  Westeräs.  Durch  Ein- 
führung der  griechischen  Sprache  als  Unterrichtsgegenstand  ist  er 
nach  dieser  Seite  hin  für  ganz  Schweden  bahnbrechend  gewesen. 
Einen  gewissermassen  gemüthlichen  Zug  an  ihm  verräth  es,  wenn 
wir  erfahren,  er  sei  ein  Freund  sittsamer  Geselligkeit  gewesen  und 
habe  es  auch  nicht  verschmäht,  mit  fleissigen  und  strebsamen 
Schülern  ab  und  an  eine  kleine  Schmauserei  abzuhalten ;  während 
solche,  die  Bubenstreiche  begingen,  in  langem  Haar  und  mit  grossen 
Stöcken  in  der  Umgegend  umherstreiften,  ihren  Thatendrang  bei 
Wasser  und  Brot  im  Schulcarcer  von  Westeräs  zu  verbüssen  hatten. 
Verheiratete  Männer  aber  nahm  er  nicht  als  Schüler  an,  denn  sie 
könnten  <aliis  scandalum  praebere*.  Als  guter  Lutheraner  liebte 
er  auch  Musik  und  kam  diese  Kunst  durch  ihn  zu  grosser  Blüthe. 

Der  Vollständigkeit  wegen  sei  noch  erwähnt,  dass  er  in 
Westeräs  ein  Heim  für  arme  Predigerwitt  wen,  eine  Herberge  für 
arme  Reisende,  eine  Töchterschule  (Parthenagogium  genannt),  ferner 
eine  Handfertigkeitsschule  und  ein  Waisenhaus  anlegte.  Auch 
gründete  er  eine  Gymnasialbibliothek,  eine  Buchdruckerei,  einen 
Buchladen  und  einen  botanischen  Garten. 


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502 


Bischof  Rudbeck. 


Die  Wirksamkeit  des  Bischofs  Rudbeckius  beschränkte  sich 
jedoch  keineswegs  auf  sein  Stift  Westeräs,  er  nahm  an  allen  Vor- 
gängen des  kirchlichen  und  innerstaatlichen  Lebens  als  Mitglied 
des  geistlichen  Standes  und  Hauptführer  der  hierarchischen  Partei, 
deren  Streben  auf  möglichste  Trennung  von  Staat  und  Kirche  und 
Einschränkung  der  Privilegien  des  Adels  ausging,  den  lebhaftesten 
und  oft  genug  bestimmendsten  Antheil.  Keiner  von  den  zahlreichen, 
auf  die  Fortentwickelung  des  kirchlichen  Glaubens-  und  Verfassungs- 
lebens in  Schweden  bezüglichen  Reichstags-  oder  Synodalbeschlüsse 
ist  ohne  Beihilfe  oder  Antrieb  Rudbecks  zu  Stande  gekommen. 
Aber  andererseits  ist  auch  die  Begründung  einer  heilsamen  und 
nothwendigen  Institution :  des  schwedischen  Generalconsistoriuras, 
dem  der  König  die  Oberaufsicht  über  alle  rein  kirchlichen  oder 
gemischten  Verhältnisse  übertragen  wollte ,  hauptsächlich  durch 
seine  Schuld  —  wir  glauben  uns  darin  nicht  zu  irren,  wenn  auch 
Norlin  anderer  Meinung  zu  sein  scheint  —  nicht  zu  Stande  ge- 
kommen. Es  handelte  sich  bei  der  Organisation  dieses  General- 
consistoriums  um  die  Frage  nach  der  Zusammensetzung  desselben, 
ob  man  ein  Consistorium  mixtum  aut  purum  errichten  solle.  In 
Deutschland  entschied  man  sich  durchaus  für  ersteres,  in  Schweden 
wollte  man  (d.  h.  der  geistliche  Stand)  blos  von  letzterem  etwas 
wissen.  Namentlich  in  den  Jahreu  1624—26  ist  über  die  von 
Gustav  Adolf  dieserhalb  den  Ständen  und  insbesondere  dem  geist- 
lichen Stande  eingereichten  Propositionen  verhandelt  worden,  und 
dürfte  es  dem  über  das  Mislingen  seines  Planes  sehr  erzürnten 
Könige  nicht  fremd  geblieben  sein,  dass  Rudbeck  in  beregter  Sache 
eine  so  masslos  heftige  Entgegnungsschrift  abfasste,  dass  seine  Mit- 
brüder sie  deshalb  zurückweisen  mussten.  Was  sie  entgegneten, 
war  auch  schon  scharf  genug  und  schmeckt  mindestens  nach  des 
Rudbeckius  Tinten- 
Für  uns  ist  ein  Eingehen  auf  die  Details  der  Streitfrage 
durch  nichts  geboten,  und  sei  daher  nur  das  noch  erwähnt,  dass 
das  Project  eines  Generalconsistoriums  1630  nochmals  aufgenommen 
und  besondere  durch  Rudbecks  Widerstand  gegen  Axel  Oxenstjerna, 
den  Hauptvertreter  des  Staatskirchenthums,  zum  Scheitern  ge- 
bracht ward'. 


1  1).  Herrn.  Dalum:   <Vcrfa8fmngt<geHehichtc  der  evangelisch  -  lutherischen 

Kirch»'  in  KuksI  I  T,  ltfH7  \>.  10'J,  irrt  aehr  bedeutend,  wenn  er  Radbeck  mit 

A\.  <  Keustjerna  in  der  Frage  von  der  Errichtung  de«  (Teneralcoiirtistoriunis  an  einem 
Strange  ziehen  lüswt.    Rudbeck  war  gerade  OxeiHtjerna*  Hauptgegner.    Ob  er 


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Bischof  Rudbeck. 


503 


Dasselbe  .Jahr  1636  brachte  aber  auch  einige  Züge  im  Charakter 
Radbecks  zum  Vorschein,  die  für  seine  estländische  Wirksamkeit 
von  instructivster  Bedeutung  sind  ;  daher  wir  es  uns,  an  der  Hand 
Norlins  darauf  näher  einzugehen,  nicht  versagen  können». 

«Dem  mit  ausserordentlichem  Herrschertalent,  ja  gleichsam 
wie  mit  einem  Uebermass  von  Herrscherkraft  begabten  Bischof 
Rudbeckius  fiel  es  unter  anderem  schwer,  gegenüber  den  sicherlich 
unbedeutenden  Magistratspersonen  der  kleinen  Stadt  Westerts  die 
Stellung  einzunehmen,  welche  ihm  in  bürgerlichen  Dingen  gebührte. 
Er  gerieth  mit  ihnen  in  mehrere  heftige  Streitigkeiten.  Im  Jahre 
1636  verweigerte  er  es  einem  Gyrnnasiallector,  Gabriel  Holstenius, 
in  einem  Process  von  rein  bürgerlicher  Natur  Rede  und  Antwort 
vor  dem  Rathsgericht  zu  stehen ;  er  wollte  denselben  vielmehr  vor 
dem  Domcapitel  aufnehmen.  Auch  betreffs  des  magistratlichen 
Rechts,  die  Schüler  des  Gymnasii  zu  verhaften,  wurde  zwischen 
dem  Magistrat  und  Rudbeck  ein  erbitterter  Streit  geführt.  Doch 
nicht  genug  damit.  Die  vormundschaftliche  Regierung,  welche  der 
Leitung  des  in  Deutschland  weilenden  Axel  Oxenstjerna  entrieth, 
hatte  in  der  Verwaltung  der  Regierungsangelegenheiten  bisher 
keineswegs  die  Klarheit  und  Bestimmtheit  der  Ansichten  oder  die 
Kraft  und  den  Nachdruck  ihrer  Handlungsweise  an  den  Tag  ge- 
legt, welche  wünsclienswerth  waren.  In  der  Regierung  und  im 
Reichsrath  war  dazu  während  der  Abwesenheit  Axel  Oxenstjernas 
kein  einziger  Mann  zu  finden,  vor  welchem  Rudbeck  die  Hoch- 
achtung haben  konnte,  dass  er  sich  leicht  vor  ihm  gebeugt  hätte. 
Das  alles  bot  die  Veranlassung  dazu,  dass  Rudbeck  in  seinem  Ver- 
hältnis zur  Regierung  grosses  Selbstbewusstsein  an  den  Tag  legte 
und  sich  Massregeln  erlaubte,  die  nur  geraisbilligt  werden  konnten. 
Indem  er  den  allgemeinen  Unwillen  des  unfreien  Standes  gegen 
den  sehr  übermüthigen  Adel  theilte  und  sah.  dass  die  Regierung, 
welche  ausschliesslich  aus  Adeligen  bestand,  es  nicht  vermochte,  sich 
über  die  Standesvorurtheile  zu  erheben,  nahm  er  sich  vor,  die  Regie- 
rung in  einem  Schreiben  an  die  Pröpste  seines  Stifts  ziemlich  un- 
verhohlen abzukanzeln.  Er  klagte  darin  unter  anderem  über  die 
ungewöhnlichen  Steuern,  womit  das  Landvolk  geplagt  werde,  von 
denen  es  zu  Lebzeiten  nie  befreit  werden  könnte,  und  über  die 
grossen  Häuser  und  hohen  Thürine  Babylons,  welche  gegenwärtig 

daher  an  der  livlftndi&chen  ConRifttorisdarrinnng  mitgearbeitet  hat,  ist  mindestem 

zweifelhaft. 

•  cf.  Norlin  p.  107  -113. 


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Bischof  Rudbeck. 


von  manchen  hohen  Herren  gebaut  würden.  Diese  unpassende 
Schrift  hatte  Rudbeck  dem  Busstagsplacat  der  Regierung  vom  Jahre 
16ß6  nachfolgen  lassen,  und  dieselbe  war,  wenigstens  in  einigen 
Gemeinden,  von  der  Kauzel  verlesen  worden,  wenn  auch  gegen 
Rudbecks  Absicht.  > 

Schliesslich  brachte  er  die  ganze  Regierung  gegen  sich  in 
Harnisch  durch  die  1636  von  ihm  im  Druck  herausgegebene  Schrift: 
<Privileyia  quaedam  doctomm*  &c,  worin  er  eine  ganze  Reihe  von 
längst  ausser  Gebrauch  gesetzten,  ja  vielfach  dem  katholischen 
Mittelalter  entnommenen  Kirchenprivilegieu  publicirte  und  im  Vor- 
und  Nachwort  dazu  andeutete,  dass  sie  als  noch  zu  Recht  bestehend 
angesehen  werden  müssten.  Die  Regierung  und  der  Adel  des 
Reichs  geriethen  in  die  gross te  Aufregung,  und  es  war  Gefahr 
vorhanden,  dass  sie  den  Kopf  verloren,  wenn  nicht  der  allgewaltige 
Axel  Oxenstjerna,  der  mit  manchem  Vorgänger  und  Nachfolger  im 
Amte  eines  Reichskanzlers  die  herzerquickende  und  oft  so  wirkungs- 
volle Gabe  des  treffenden  Wortes  zu  rechter  Zeit  theilte,  durch 
sein  Eingreifen  Unheil  verhütet  haben  würde.  Er  sagte:  c Einem 
Schulfuchs,  der  so  was  Unit .  könnte  man  das  Fell  streicheln,  bei 
einem  Jüngling  würde  man  es  als  ad  ingenii  lusum  gethan  be- 
trachten —  und  toleriren,  aber  dass  ein  Mann  wie  Rudbeck  so 
etwas  thue,  sei  mindestens  wunderlich.»  Seinen  überlegenen  staats- 
männischen Blick  legte  Axel  Oxenstjerna  damit  an  den  Tag,  dass 
er  im  Gegensatz  zu  seinen  erschreckten  Amtsbrüdern  Rudbecks 
Schrift  für  nicht  gefährlich  erklärte.  Wol  fand  er,  dass  der  Ver- 
fasser fein  grosses  Stück  vom  Rocke  St.  Peters  an  habe» ;  aber 
tum  sein  Buch  zu  widerlegen,»  meinteer,  t bedürfe  es  nicht  grosser 
Kunst,  da  sein  Fundament  nichts  tauge  und  das,  was  er  darauf 
gebaut,  in  gleichem  Masse  unbrauchbar  sei.»  Gleichwol  rieth  er 
an,  mit  der  Sache  nicht  zu  spassen,  da  der  Bischof  ein  Mann  von 
Begabung,  energisch  und  tj/ertinax  sei.  einer,  der  sich  eher  ver- 
brennen lasse,  als  dass  er  von  seinem  Platze  weiche». 

Auf  dem  Westeräser  Reichstage  desselben  Jahres  wurde 
Rudbeck  zu  einer  entschuldigenden  Erklärung  gezwungen,  sein 
Buch  aber  ward  eingezogen,  und  seinem  ganzen  Verhalten  hatte 
er  es  zuzuschreiben,  wenn  die  Wahl  eines  neuen  Erzbisehofs  nicht 
auf  ihn,  sondern  auf  Laurentius  Paulinus,  bisherigen  Bischof  von 
Strengnäs,  gelenkt  wurde. 

Norlin  äussert  sich  in  seiner  Schlussbetrachtung  zu  dieser 
Sache  also  :  «Was  in  dem  ganzen  Streit  auf  den  Betrachter  einen 


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Bischof  Ruilbeck. 


565 


für  Rudbeck  besonders  unvorteilhaften  Eindruck  macht,  ist  der 
Mangel  an  Offenheit  und  Wahrheitsliebe,  welchen  er  in  den  Debatten 
vor  der  Regierung  an  den  Tag  gelegt  zu  haben  scheint.  Man  muss 
zwar  die  für  einen  Mann  von  Rudbecks  Herrschernatur  ausser- 
ordentliche Schwierigkeit  berücksichtigen,  sich  unter  seine  Gegner 
zu  beugeu  und  den  begangenen  Fehler  einzugestehen.  Aber  das 
entschuldigt  doch  nicht  den  Versuch,  auf  die  Weise  aus  der  Ver- 
legenheit zu  kommen,  dass  er  erklärte :  er  misbillige  die  Privile- 
gien, welche  Priester  und  Studenten  in  früheren  Zeiten  gehabt, 
und  habe  mit  seinem  Buch  im  allgemeinen  blos  die  Notwendigkeit 
von  Privilegien  für  die  Geistlichkeit  erweisen  wollen.»  «Eben  so 
unwahr,»  meint  Norlin,  «sei  die  Behauptung  Rudbecks:  mit  seinem 
Tadel  in  dem  Rundschreiben  an  die  Stiftspröpste  hätte  er  nicht 
Schweden,  sondern  das,  was  im  allgemeinen  in  der  Welt  geschehe, 
gemeint.»  Wenn  aber  Norlin  bemerkt,  in  Rudbecks  Angabe  •  «von 
seinem  citirten  Buche  seien  blos  70  Exemplare  gedruckt  worden 
(während  der  Buchdrucker  den  Druck  von  150  Exemplaren  eidlich 
erhärtete),»  habe  man  entweder  einen  Gedächtnisfehler  zu  erblicken, 
oder  die  Discrepanz  der  Angaben  lasse  sich  einfach  aus  dem  Um- 
stände erklären,  dass  der  Buchdrucker  eben  mehr  Exemplare  ge- 
druckt, als  der  Verfasser  verlangt  habe,  so  scheint  eine  solche 
Auffassung  mindestens  sehr  milde  zu  sein. 

Von  dem  in  Reval  ausgesprochenen  Entschlüsse  des  Königs, 
die  kirchlichen  und  weltlichen  Verhältnisse  Estlands  durch  eine 
Gommission  untersuchen  und  ordnen  zu  lassen,  wozu  die  Ritter- 
schaft in  einem  ihrer  Antwortschreiben,  wie  wir  sehen,  indirect 
aufgefordert  hatte,  bis  zum  Erlass  der  an  das  Haupt  der  geist- 
lichen Cominission,  den  Bischof  Rudbeckius,  gerichteten  königlichen 
Instruction  vom  27.  April  1627  ist  eine  Lücke  in  der  Ueberliefe- 
rung.  Wir  wissen  nicht,  in  welcher  Form  die  Aufforderung  an 
ihn  erging,  wann  und  unter  welchen  Bedingungen  er  seine  Bereit- 
willigkeit zur  Uebernahme  des  schwierigen  und  verantwortungs- 
vollen Amtes  aussprach.  Da  der  König  vom  Charakter  Rudbecks 
selbstverständlich  nicht  die  Kenntnis  haben  konnte,  wie  Ax.  Oxen- 
stjerna  im  Jahre  1636,  so  darf  man  sich  über  die  Wahl  Rudbecks 
nicht  wundern.  Wer  in  dem  arg  verfallenen  Westeräser  Stift  in 
kurzer  Frist  Ordnung  geschaffen  und  eine  fast  unglaublich  wirk- 
same Thätigkeit  entfaltet  hatte,  mochte  für  die  Neuordnung  einer 
seit  einem  halben  Jahrhundert  sich  selbst  überlassenen  Kirchen- 

Baltiicbo  MonaUi-cbrifl,  Band  XXXIV.  Heft  7.  38 

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506 


Bischof  Rudbeck 


provinz  als  der  geeignetste  Manu  erscheinen,  ohne  dass  man  in  der 
Wahl  den  Ausdruck  einer  kleinen  Bosheit  gegen  die  Estländer  zu 
suchen  braucht. 

Die  Bedeutsamkeit  der  königlichen  Instruction  erfordert  ihre 
fast  unverkürzte1  Wiedergabe  an  dieser  Stelle. 

Uebersicht  (designatio)  dessen,  was  nach  S.  K.  M.  gnädigstem 
Willen  der  edle  Herr  Philipp  Schedingk',  des  Königs  und  schwedi- 
schen Königreichs  Rath,  und  auch  der  verehrungswiirdige  Herr 
Bischof  von  Westeräs,  Dr.  Johann  Rudbeckius,  in  Hinsicht  des 
Kirchenregiments  in  Est-,  Liv-  und  Ingermanland  im  kommenden 
Sommer  verordnen  und  feststellen  sollen.  Geschehen  zu  Stockholm 
den  27.  April  1G27. 

1.  Wenn  es  das  Interesse  des  Staates  erfordert,  dass  in  ihm 
alles  wohl  geordnet  werde,  dann  ist  fürwahr  nichts  für  die  Sitten 
der  ünterthanen  heilsamer  und  dazu,  dass  die  Fessel  des  Gehor- 
sams gegenüber  dem  Reiche  selbst  gekräftigt  werde,  geeigneter,  als 
dass  Religion  und  Gottesdienst  in  rechter  Weise  geübt  werden. 

2.  Da  nun  dieses  Reiches  grosse  Provinzen  Est-,  Liv-  uud 
Ingermanland  einerseits  durch  das  dazwischenliegende  Meer  vom 
Reiche  S.  K.  M.  so  getrennt  sind,  dass  sie  nur  selten  inspicirt 
werden  können,  andererseits  infolge  der  Nachbarschaft  der  Barbaren 
so  verdorben  worden,  dass  sie  eine  eifrige  Pflege  erfordern,  hat 
S.  K.  M.  es  für  nöthig  befunden,  dass  der  Herr  Bischot  nicht  allein 
Art  und  Weise  der  wirtschaftlichen  Verwaltung  besser  einrichte, 
sondern  auch  all  das,  was  sich  auf  das  Kirchenregiment  bezieht, 
inspiciren  und  kennen  lernen,  also  die  Fehler  und  Mängel  nebst 
ihren  Ursachen  notiren,  über  die  Mittel  und  Wege  sowol  ihrer 
Beseitigung  als  auch  einer  allgemeinen  Wandlung  zum  Besseren  im 
Verein  mit  den  Superintendenten  und  Pastoren  jener  Lande  in 
ernstliche  Erwägung  treten  solle. 

3.  S.  K.  M.  will  nun,  dass  der  Herr  Bischof  sich  mit  unserem 
Gefolge»  zuerst  nach  Reval  begebe  und  dorthin,  oder  wo  es  ihm 
anders  passend  erscheint,  die  Diener  der  Kirchen  berufe  und  von 
ihnen  den  gesammten  Zustand  der  Kirchen  daselbst  (ejus  loci)  erforsche. 


1  Ausgelassen  i«t  allein  die  ganz  überflüssige,  weil  in  allen  nachfolgenden 
Artikeln  erweiterte  Einleitung,  die  sog.  konigl.  Vollmacht.  Die  Uebersetxung 
int  nach  der  im  Libcr  Aschanaens  enthaltenen  Copie  des  lat,  Originals  vom  Ver- 
fasser angefertigt. 

-*  Chef  der  weltliehen  Commissiou. 


*    netito  nostro  comitatti*,  d.  h.  hier  die  weltl.  Herren,  wie  i.  B.  Schedingk. 


Bischof  Rudbeck.  .567 

4.  Insbesondere,  wie  viel  Diöcesen  in  der  ganzen  Provinz  und 
wie  viel  in  jeder  Diöeese  Pfarren  sind  ;  welche  Kircheuordnung  von 
altersher  und  namentlich  seit  der  Reformation  dort  gewesen,  und 
welche  anhero  ist;  wer  die  Generalinspection  über  sämmtliche 
Kirchen  gehabt  hat,  was  für  Pröpste,  was  für  Pastoren  dort  sind 
oder  gewesen  sind  und  was  jedes  einzelnen  Unterhalt  (conditio)  dort 
ist  oder  gewesen  ist. 

5.  Welcher  Art  Examination  über  das  Leben,  die  Sitten  und 
die  Erziehung  der  Ordinanden  bisher  beobachtet  worden  ist ;  unter 
welchen  Verhältnissen  die  Synoden  zusammengetreten  sind  und 
welchen  Brauch  man  befolgt  und  befolgt  hat  in  der  Aburtheilung 
über  kirchliche  Fälle  (in  casibtis  ecclesiasticis). 

6.  Ob  sie  (d.  h.  die  Estländer)  eine  Art  von  geistlichem  Con- 
sistorium  haben,  wo  alle  derartigen  Fälle  untersucht  und  entschieden 
worden,  und  wer  über  alles  Obige  (in  omnia  superiora),  die  Kirchen 
und  die  Schulen  die  Iuspection  hat. 

7.  Wie  die  Unterweisung  der  Jugend  in  den  Schulen  ist,  wie 
viele  Schulen  da  schon  sind  und  wie  viele  den  unsrigen  ähnlich 
sind  (et  qttot  nostrac  videantur),  und  ob  für  die  Gründung  einer 
Akademie  oder  eines  Gymnasiums  zu  Reval  die  Möglichkeit  und 
das  Bedürfnis  ist,  wo  die  Jugend  jener  Oerter  in  allen  freien 
Wissenschaften  unterwiesen  werden  möchte,  da  sie  sonst  nur  mit 
grossen  Kosten  in  auswärtige  Schulen  gesandt  werden  könnte. 

8.  Ferner,  welche  Einkünfte  die  Kirchen  einst  gehabt  haben 
und  welche  sie  jetzt  haben ;  woher  die  Pastoren  ihren  Unterhalt 
beziehen,  die  Kirchen  die  erforderlichen  Reparaturen  erhalten,  die 
Schulen  und  die  für  sie  nöthigen  Personen  unterhalten  worden. 

9.  Aber  da  die  Zehnten  hierzu  von  altersher  bestimmt  sind 
—  mögen  sie  auch  hernach  aufgehoben  sein  —  wann  und  durch 
wen,  mit  welchem  Recht  oder  Unrecht  das  geschehen  ist. 

10.  Wenn  nun  der  Herr  Bischof  dieses  alles,  und  was  dem 
noch  mehr  ist,  fleissig  im  einzelneu  untersucht  und  erforscht  und 
den  ganzen  früheren  und  gegenwärtigen  Zustand  erkannt  hat,  dann 
erst  soll  er  in  Erwägung  ziehen,  was  im  ganzen  und  im  einzelnen 
anerkannt  zu  werden  verdient  und  was  hinwiederum  noch  zu  er- 
streben ist. 

11.  Und  wenn  er  alle  Mängel  erkannt  und  zugleich  ihre  Ur- 
sachen eingesehen  hat,  dann  erst  soll  er  damit  beginnen,  insbesondere 
die  Ursachen  nach  Vermögen  zu  entfernen. 

12.  Und  alldieweil  es  wahrscheinlich  ist,  dass  es  dort  wenige 

38' 


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5«>8  Bischof  Rudbeck. 

Pastoren  an  den  einzelnen  Kirchen  giebt,  die  in  den  Wissenschaften 
tüchtig  sind,  und  dieses  wegen  des  Mangels  an  Schulen  so  ist,  die 
Schulen  aber  ohne  Aufwand  nicht  in  bessere  Ordnung  kommen, 
wie  auch  nicht  die  Pastoren  ohne  Zehnten  unterhalten  werden 
können  —  während  der  Grund  aller  Uebelstände  mit  der  Abwesen- 
heit der  nöthigen  Einnahmen  verhüllt  wird  —  so  soll  der  Herr 
Bischof  mit  geistlichen  und  weltlichen  Personen  Uebereinkunft 
treffen  über  die  Festsetzung  bestimmter  Einnahmen  sowol  für  die 
einzelnen  Kirchen  als  auch  die  öffentlichen  Schulen,  und  soll  er 
emsig  darauf  bedacht  sein,  dass  genügende  (Quellen)  dafür  be- 
schafft werden. 

13.  Und  weil  die  Adeligen  behaupten,  dass  sie  das  Recht,  den 
Zehnten  zu  zahlen,  schon  längst  und  noch  in  päpstlichen  Zeiten 
für  eine  bestimmte  Summe  Geldes  von  den  Geistlichen  abgelöst 
haben  und  deshalb,  bereits  von  aller  Zahlung  des  Zehnten  frei 
und  eximirt,  dagegen  Protest  erheben,  so  soll  der  Herr  Bischof 
ihre  frivolen  Argumente  zu  widerlegen  versuchen,  die  Besseren 
hiervon  zu  überzeugen  und  dahin  zu  bewegen  bestrebt  sein,  dass 
sie  zur  Zahlung  des  Zehnten  für  den  Unterhalt  von  Kirchen  und 
Schulen  sich  bereit  erklären. 

14.  Und  damit  man  um  so  besser  wisse,  was  und  wie  viel  Auf- 
wand für  ihren  Unterhalt  nöthig  sei,  so  hat  der  Herr  Bischof  das 
zu  bestimmen,  was  und  wie  viel  unterhalten  werden  soll. 

15.  Und  damit  es  um  so  richtiger  geschehen  möge,  soll  er 
wissen,  dass  S.  K.  M.  insbesondere  im  Sinne  hat,  es  möchte  jede 
Pfarre  im  einzelnen  wohl  geordnet  werden,  es  sollten  die  Kirchen 
mit  den  nöthigen  Requisiten,  wie  es  sich  gebührt,  versehen  und  die 
Pastoren  oder  Pfarrer  mit  einem  anständigen  Salar,  auf  dass  sie 
nicht  gleich  Bettlern  zu  leben  brauchten1,  sondern  ihres  eigenen 
Amtes  um  so  beflissener  walten  könnten,  ausgerüstet  werden. 

16.  Da  nun  öffentliche  Schulen  für  nöthig  befunden  werden, 
auf  dass  man  gute  und  gelehrte  Diener  {seil,  des  Wortes  Gottes) 
erhalten  könne,  so  soll  der  Herr  Bischof  bestimmen,  wie  viel  Schulen 
für  die  ganze  Provinz  erforderlich  sind,  wie  viel  Lehrer  und  Schüler 
im  einzelnen  auf  öffentliche  Kosten  {ex  publico)  zu  ernähren  sind ; 
und  wenn  eine  Akademie  oder  Gymnasium  zu  Reval  errichtet 
werden  soll,  was  zur  Errichtung  und  Erhaltung  derselben  er- 
heischt wird. 


1  Diese  Stelle  stammt  offenbar  <lireet  vom  Könige. 


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Bischof  Rtulbeck. 


569 


17.  Da  man  aber  gemeiniglich  eine  bestimmte  Wohnung  ein- 
richtet, worin  ex  publico  die  studiosi  und  scholares  leben  können, 
und  S.  K.  M.  zu  diesem  Zweck  die  Errichtung  einer  sog.  «Oommu- 
nitas»  (d.  h.  Convict)  für  nützlich  hält,  deswegen  soll  der  Herr 
Bischof  auch  über  die  cCommunitas»  Bestimmung  treffen  und  wie 
viel  zu  ihrem  Unterhalt  gebraucht  werden  sollte. 

18.  Einer  gewissen  Anzahl  Kirchen  pflegt  man  auch  eine  ge- 
wisse Zahl  Pröpste  überzuordnen  ;  und  allen  Pröpsten  wird  irgend  ein 
Bischof  oder  Superintendent  vorgesetzt,  welchem  über  alle  Kirchen 
und  jede  insbesondere,  über  die  Schnlen  und  deren  Glieder,  Lehrer 
und  Schüler,  deren  lieben,  Wandel  und  in  Summa  die  Religion  die 
höchste  Inspection  anvertraut  ist.  Was  nun  für  den  Unterhalt  des 
Bischofs  oder  Superintendenten  und  der  Pröpste  allda  gebraucht 
wird,  das  soll  er  gleichermassen  nicht  nur  wahrnehmen,  sondern 
darüber  auch  mit  Hilfe  unserer  Commission  und  der  Landräthe 
(provincialium  consiliarium)  und  aller  übrigen  Unterstützung,  denen 
daran  gelegen,  bestimmte  Verfügung  treffen. 

19.  Da  endlich  auch  viele  kirchliche  Streitfragen,  vorzüglich 
in  Kirchen,  die  mehr  beunruhigt  worden  sind,  auszubrechen  pflegen, 
welche  zur  Zeit  ein  Bischof  ohne  Collegen  und  qurtsi  Assessores 
und  gewisse  Rathgeber  im  einzelnen  passend  heilen  kann,  hält  es 
Erlauchte  K.  M.  für  nothwendig,  dass  ein  kirchliches  Consistorium 
zu  Reval  errichtet  werde.  Mit  welchen  Kosten  es  unterhalten  uud 
aus  welchen  Personen  es  zusammengesetzt  werden  möge,  darüber 
soll  er  ebenfalls  bestimmen  und  entscheiden. 

20.  Wenn  er  dieses  alles  geprüft  und  die  Ausgaben  auf  einen 
festen  Grund  gestellt  hat,  dann  erst  soll  der  Herr  Bischof  nach 
dem  Willen  S.  K.  M.  mit  Unterstützung  der  gelehrten  Männer  da- 
selbst (ejus  loci)  eine  bestimmte  Ordnung,  Form  und  Norm  schrift- 
lich abfassen,  insbesondere  wie  ein  Kirchenconsistorium,  eine  Aka- 
demie, Schulen  und  die  « Communitas »  eingerichtet  und  nach  welchen 
Gesetzen  und  Regeln  sie  gelenkt  werden  müssen;  ferner  soll  er 
auch  einen  genaueren  Entwurf  anfertigen  über  Rang  und  Obliegen- 
heiten (qualitiis  et  nfficiu)  eines  Bischofs  oder  Superintendenten,  der 
Pröpste  und  Pastoren  sowie  der  Professoren,  Rectoren  und  Lectoren 
im  einzelnen  und  zugleich  über  die  Lectionen.  Und  endlich  soll 
er  eine  allgemeine  und  eine  kurze  sog.  «Kirchenordinanz>  für  diese 
Provinz,  welche  aus  der  unsrigen  entlehnt  uud  den  dortigen  Ver- 
hältnissen angepasst  ist  —  welcher  nachzuleben  alle  gehalten  sind 
—  abfassen  und  ausführen. 


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570  Bischof  Rudbeek. 


21.  Dieses  alles  hat  der  Herr  Bischof  S.  K.  M.  nach  der  Rück- 
kehr zu  unterbreiten,  und  hat  S.  K.  M.  allergnädigst  beschlossen, 
es  zu  revidiren  und  zu  emendiren,  durch  Aufhebung  oder  Ergänzung 
zu  vervollkommnen  und  endlich  zu  vei  öffentlichen  zur  Ehre  Gottes 
und  der  Kirche  und  des  Staates  Christi  Erbauung. 

22.  Bevor  aber  der  Herr  Bischof  von  dort  abreist,  möge  er 
Lebenswandel  und  Sitten  der  Geistlichen  untersuchen;  und  wenn 
er  einige  weniger  taugliche  Pastoren  gefunden  haben  sollte,  so  soll 
er  sie  entfernen  und  bessere  an  ihre  Stelle  setzen. 

23.  Und  wenn  auch  zugleich  welche  kirchlichen  Streitigkeiten 
dort  ausgebrochen  sein  sollten,  soll  er  sie  unter  Beirath  der  übrigen1 
untersuchen  und  entscheiden. 

24.  Und  hat  er  auch  das  mit  Erfolg  wahrgenommen,  so  soll 
er  eine  bestimmte  Form  einer  Ordinanz  und  eines  Kirchenconsistorii 
ihnen  hinterlassen,  dergemäss  in  der  Zwischenzeit»  die  Diöcese  ver- 
waltet und  die  Fälle  (casus)  entschieden  werden  können. 

25.  Hat  er  dies  alles  in  Reval  und  Estland  zur  Ausführung 
gebracht,  so  soll  er  sich  nach  Riga  begeben  und  mit  Hilfe  und 
Unterstützung  des  Superintendenten  Samson  dasselbe  auch  in  Liv- 
laud,  mutatis  mutandis,  vollführen.  Im  Falle  er  aber  die  Rückkehr 
nach  Schweden  über  Ingermanland  für  passender  ansehen  sollte, 
kann  er  sogleich  von  Reval  nach  Narva  reisen  und  das  alles,  was 
im  übrigen  gesagt  worden,  auch  in  Ingermanland  fördern  und  ver- 
ordnen, jedoch  unter  Beobachtung  der  örtlichen  und  persönlichen 
Umstände». 

Prüfen  wir  obige  königliche  Instruction  etwas  näher  1  Da  ist 
zunächst  die  stylistische  Breite  in  Wortlaut  und  Inhalt,  mancher 
innere  Widerspruch  und  eine  gewisse  Unbestimmtheit  in  der  Ab- 
grenzung der  bischöflichen  Competenzen  auffällig.  Ein  und  das- 
selbe wird  in  einer  ganzen  Reihe  von  Artikeln  hin  und  her  ge- 
wälzt, nicht  ohne  dass  man  einen  anderen  Grund,  als  den  der  dem 
Zeitalter  eigentümlichen  Weitläufigkeit  dafür  fände.  Art.  20 
wiederholt  beispielsweise  das,  was  schon  in  früheren  Artikeln  aus- 
führlichst auseinandergesetzt  worden  war  ;  und  Art.  23  und  24  sind 
nach  dem  Art.  19  theils  überflüssig,  theils  im  Widerspruch  zu  ihm. 

1  Wer  die  -übrigen*  sind,  ob  die  anderen  Mitglieder  der  geistl.  Couiuiis- 
siou  oder  die  eutländisehen  Ii  ertlichen,  bleibt  uugewiss.  Auch  sonst  steht  Art.  23 
zu  Art.  19  im  Widerspruch. 

1  d.  h.  bis  ein  Superintendent  vom  König  ernannt  worden. 

*  Unterscbricbeu  ist  die  Instruction  :  Gwstavus  Adolphus. 


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Rischof  Rudbeck. 


571 


Am  meisten  beklagenswerth  ist  es  aber,  dass  sich  betreffs  der 
Corapetenzenfrage  empfindliche  Lücken  nachweisen  lasset).  Im  Art.  2 
wird  zwar  der  Theilnahme  der  Superintendenten  und  Pastoren  an 
allen  Arbeiten,  welche  über  die  factischen  Zustände  Aufklärung 
geben  sollen,  gedacht;  aber  das  ist  doch  nicht  mehr  als  selbst- 
verständlich. Dort  hingegen,  wo  es  sich  darum  handelt,  den  Landes- 
autoritäten eine  bestimmte  Form  der  Mitarbeit  zu  sichern,  wird 
ihrer  entweder  gar  nicht  Erwähnung  gethan  oder  ihnen  blos  eiu 
Votum  consultativum  zugestanden,  so  dass  im  Grunde  alles  der 
Willensmeinung  des  Bischofs  überlassen  bleibt.  Das  wäre  an  sich 
unverfänglich,  weun  die  kirchlichen  Zustände  allerorten  im  Lande 
trostlose,  gar  keine  Ansätze  zu  festen  Formen  oder  bewährte  In- 
stitutionen vorhanden  gewesen  wären.  Schon  das  der  estländischeu 
Ritterschaft  gegebene  Privilegium  Erichs  XIV.  macht  einen  Unter- 
schied zwischen  Stadt-  und  Landsuperintendenten,  die  Instruction 
nicht ;  auch  nimmt  sie  von  der  Existenz  eines  revaler  Stadt- 
consistoriums  einfach  keine  Notiz. 

Ausserdem  werden  in  der  Instruction  ein  paar  für  den  Visi- 
tator äusserst  wichtige  Punkte  theils  übergangen,  theils  in  für  die 
Landesprivilegien  kränkender  Weise  hervorgehoben.  Was  soll  man 
z.  B.  dazu  sagen,  dass  des  adeligen  Patronatsrechts  mit  keiner 
Sylbe  Erwähnung  geschieht,  vielmehr  bei  der  Erörterung  über  die 
Fundation  der  kirchlichen  Einnahmen  (Art.  12)  dem  Bischof  blos 
Heranziehung  der  Pfarrer  und  einiger  weltlichen  Personen,  nicht 
aber  des  doch  direct  interessirten  Adels1  anempfohlen  wird?  Dass 
der  König  die  Restitution  des  Zehnten  in  Art.  13  anbefiehlt,  wie- 
wol  er  im  Febr.  102(1  selbst  die  Erklärung  abgegeben  hatte,  er 
beabsichtige  nicht  dessen  Erneuerung?  Des  Königs  Groll  gegen- 
über den  Estländern  giebt  nicht  allein  die  Erklärung  für  genannte 
Auffälligkeiten  in  der  Instruction  ab.  Aus  der  schwedischen 
Kirchengeschichte  erfahren  wir  nämlich,  dass  die  hierarchische 
Partei  in  Schweden  —  und  sie  hatte  im  geistlichen  Stande  die 
Majorität  die  Führung  der  Opposition  der  nicht-adeligen  Stände 
gegen  die  grossen  Prärogative  des  schwedischen  Adels  übernahm  ; 
dass  die  Aufhebung  des  Patronatsrechts,  selbst  des  königlichen  auf 
den  sog.  Königspfarren,  von  ihr  mit  grosser  Dreistigkeit,  der  königl. 
Bestätigung  desselben  in  den  Jahren  1612  und  IG  17  ungeachtet, 

1  Ausgenommen  die  Einnahmen  für  den  Bischof  und  die  Propste.  (Die 
«weltlichen  Personen»  Hessen  sich  zur  Noth  als  Bezeichnung  des  Adels  auffassen. 

D.  Red.) 


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572 


Bischof  Rudbeck. 


* 

immer  und  immer  wieder,  wiewol  erfolglos,  urgirt  wurde;  dass 
aber  andererseits  von  der  Regierungspartei  die  übergrosse  Macht, 
mit  der  die  Bischöfe  in  ihren  Stiften  schalteten  und  walteten  — 
wovon  wir  ja  auch  in  Rudbecks  stiftischer  Administration  ein 
markantes  Bild  gewinnen  —  heftig  getadelt  und  der  Versuch  zur 
Minderung  ihrer  Selbständigkeit  gemacht  wurde. 

Diese  Thatsachen  sind  wohl  geeignet,  die  Annahme  wahr- 
scheinlich zu  machen,  dass  Rudbeck  selbst  auf  die  Abfassung  der 
Instruction  einigen  Einfluss  ausgeübt  hat,  um  seiner  Herrschsucht 
und  adelsfeindlichen  Gesinnung  in  Estlaud  eben  so  wie  in  Schweden 
freien  Lauf  lassen  zu  können.  Des  Königs  cäsaropapistische 
Tendenzen  standen  diesem  Wunsche  diesmal  nicht  entgegen,  weil 
er  1(526  aus  Estland  den  Eindruck  mitgenommen  hatte,  es  müsse 
die  Hartnäckigkeit  der  Provinzialstände  gebeugt  werden. 

Ohne  den  Ereignissen  vorzugreifen,  sei  daher  hier  ausdrück- 
lich constatirt :  dass  die  köuigl.  Instruction  vom  27.  April  an  sich 
eine  Misachtung  der  livländischen  und  estländischen  Landesprivile- 
gien darstellt  und  in  ihrer  Dehnbarkeit  den  Keim  zu  Gonflicten  in 
sich  birgt. 


3.  Erste  Thätigkeit  des  Visitators  und 
Couflictsanfänge. 

Nachdem  am  23.  Juni  dem  Bischof  Rudbeck  in  feierlicher 
Audienz  vom  < Reichs-  und  Kammerrath»  die  königliche  Vollmacht, 
Instruction  und  der  Reisepass  ausgestellt  und  confirmirt  worden 
waren,  trafen  allmählich  die  wahrscheinlich  von  ihm  auserwählten 
übrigen  Mitglieder  der  geistlichen  Commission  in  Stockholm  ein. 
Ausser  vier  höheren  Geistlichen :  Mag.  Andreas,  Mag.  Gabrieli, 
Martin  Laurentii  Aschanaeus  und  Christophorus  Schilling,  nennt 
der  Reisebericht  des  Ascbanaeus  auch  noch  drei  niedere  Geistliche : 
Johannes  Elai,  Sveno  und  Georg,  so  dass  die  gesammte  Commission 
mit  dem  Bischof  aus  acht  Personen  bestand. 

Erst  am  5.  Juli  erfolgte  die  Abfahrt  von  Stockholm  zum 
Blockhaus  und  anderen  Tags  von  dort  auf  die  Insel  Waxholm, 
woselbst  die  Geistlichen  von  dem  Haupte  der  weltlichen  Commission, 
Philipp  Schedingk1,  empfangen,  aber  um  Schedingks  willen  aus  un- 
,  bekannten  Gründen  mehrere  Tage  aufgehalten  wurden.    Am  9.  Juli 

1  Bei  Greiffenhagen  wird  er  irrfhümlicli  «Uouvernenr*  genanut  ;  das  ist 
er  erst  spater  geworden. 


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Bischof  Rudbeek. 


573 


reisten  sie  ohne  die  weltlichen  Commissare  ab,  wurden  von  diesen 
aber  bald  darauf  eingeholt.  Durch  die  romantischen  Skären  ging 
die  Seefahrt  bei  widrigem  Winde  nur  langsam  von  statten  ;  eudlich 
erreichte  man  Hangö  und  Sonntag,  den  15.  Juli,  um  9  Uhr  abends 
Reval.  Am  16.  Juli  stiegen  alle  ans  Land.  Der  Bischof  nahm 
auf  dem  Dom  beim  Superintendenten  Nikolaus  Gaza  Wohnung, 
Mag.  Gabrieli  beim  Gouverneur  Johann  de  la  Gardie.  Tags  dar- 
auf übersandten  Bürgermeister  und  Rath  der  Stadt  Reval  «dem 
Bischof  und  seinem  Gefolge  zur  Verehrung  ein  Ohm  spanischen 
Weines  unter  Begleitung  zweier  Rathsherreu.  Es  wurde  mit 
grossem  Gefallen  aufgenommen,»  berichtet  Aschanaeus. 

Schon  in  den  ersten  Tagen  entschloss  sich  Rudbeck,  von  einer 
Bereisung  des  verödeten  Landes  Abstand  zu  nehmen  und  sich  auf 
die  Einberufung  sämmtlicher  Pastoren  des  Landes  zu  einer  Pro- 
vinzialsynode  zu  beschränken.  Da  die  «königliche  Vollmacht» 
allein  den  Sommer  als  Visitationszeit  angab,  der  König  auch  münd- 
lich dem  Bischof  diesen  Termin  genannt  hatte1,  so  konnte  aller- 
dings an  eine  systematische  Visitationsreise  in  Anbetracht  der 
schlechten  Wege  jener  Zeit  nicht  gedacht  werden.  Hingegen  that 
der  Bischof  sogleich  Schritte  zur  Vorbereitung  der  Visitation 
Ingermanlands  und  Livlands.  In  einem  vom  17.  Juli  datirten 
Schreiben  an  den  Bischof  von  Wiborg,  Mag.  Glaus  Elimaeus,  theilt 
Rudbeck  mit,  «dass  er  seit  zwei  Tagen  in  Reval  weile,  um  hier 
mit  der  ihm  anvertrauten  Arbeit  zu  beginnen.  Wenn  er  auch 
hoffe,  sich  von  hier  nach  Riga  zu  begeben,  so  wolle  er  doch  noch 
kurz  vor  Michaeli  von  dort  nach  Narva  kommen.  Im  Falle  es 
jedoch  zur  Visitation  Ingermanlands  früher  als  zu  der  Livlands 
kommen  sollte,  werde  er  schon  nach  4—5  Wochen  in  Ingermanland 
eintreffen,  woselbst  er  ihn  in  Narva  oder  sonst  wo  rechtzeitig  zu 
erwarten  bitte. »  Eine  Woche  später,  am  24.  Juli,  schrieb  er  auch 
an  den  livländischen  Superintendenten,  Dr.  Hermaun  Samson,  tiber- 
sandte das  königliche  Vollmachtsschreiben  und  bat  ihn,  «seinen 
Pastoren  gelegentlich  mitzutheilen,  dass  er  nach  4-5  Wochen 
kommen  werde,  damit  man  auf  sie  vorkommendenfalls  nicht  zu 
warten  brauche». 

Aber  den  Plan,  Livland,  d.  h.  Riga,  und  Ingermanland,  d.  h. 
Narva,  zu  besuchen,  musste  der  Bischof  bald  fallen  lassen.  Die 
grosse  Arbeitslast,  welche  ihm  allein  Estland  aufbürdete,  wäre  an 


1  wie  ein  Hrief  Kudbeck*  an  den  est!  Gouverneur  vom  3.  Sept.  angiebt. 


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574 


Bischof  Rudbeck. 


und  für  sich  schon  eine  genügende  Erklärung  hierfür ;  doch  ist  die 
Möglichkeit  nicht  ausgeschlossen,  dass  der  von  Gustav  Adolf  1(521 
zum  livländischen  Superintendenten  ernannte,  überaus  thatige  und 
gleichfalls  wenig  nachgiebige  Herrn.  Samson  von  sich  aus  beim 
Könige  um  Exemtion  von  der  Visitation  des  Westeraser  Bischofs 
auhielt  und  Gehör  fand.  Was  Ingermanland  anbetrifft,  so  können 
wir  hier  im  voraus  bemerken,  dass  am  14.  Sept.  der  Superintendent 
Nicolaus  Gaza,  Mag.  Andreas  und  Christophorus  Schilling,  bischöf- 
licher Caplan,  im  Wagen  des  Bischofs  nach  cAllentacken,  Narva 
und  Ingerraanland  >  gesandt  wurden.  Von  dort  kehrten  sie  am 
6.  Oct.  nach  Reval  zurück  in  Begleitung  zweier  ingermanläudischer 
Pastoren,  des  nar vaschen  Propstes  Martinus  Beer  und  des  iwan- 
gorodschen  Predigers  Johann,  welche  beide  vor  dem  Bischof  über 
ihre  Amtsführung  Rechenschaft  ablegen  mussten.  Darauf  und  auf 
die  von  genannter  Specialcommission  etwa  getroffenen  Bestimmungen 
beschränkt  sich  die  Visitation  Ingermanlands ;  Livland  blieb  dies- 
mal gänzlich  verschont. 

Von  grosser  Bedeutung  musste  es  für  den  Bischof  sein,  Ein- 
sicht zu  nehmen  von  den  Visitationsacten  des  seligen  Dubberch, 
daher  Schreiben  an  den  hapsalschen  Pastor  Heinrich  Lindemann 
uud  die  verwittwete  Schwiegertochter  David  Dubberchs,  bei  denen 
solche  vorhanden  seiu  sollten,  ergingen.  Linderaanu  hat  diese  Acteu 
—  oder  wenigstens  einen  Theil  derselben  —  dem  Bischof  zu  dessen 
grosser  Freude  am  1.  August,  als  er  zur  Synode  in  Reval  eintraf, 
ausgeliefert«. 

Von  allgemeinerem  Interesse  ist  es,  den  Inhalt  des  bischöf- 
lichen Convocationsschreibens  zur  ersten  estländischen  Provinzial- 
synode  kennen  zu  lernen.  Nach  einer  weitläufigen  Introduction 
heisst  es:  «Im  Namen  und  kraft  eines  königlichen  Erlasses  fordern 
wir  euch  verehrungswürdige  und  hochgebildete  Männer,  die  ihr 
ein  öffentliches  Lehramt  bekleidet  oder  einer  Kirche  vorsteht,  hier- 
mit uuter  Androhung  des  allerhöchsten  Unwillens  uud  des  Ver- 
lustes eueres  Amtes  ernstlich  auf,  so  viel  euerer  in  der  Revaler 
Diöcese,  also  den  Kreisen:  Harrien,  Wiek,  Wirland  und  Jerwen, 
Pastoren  oder  Capläne,  Hofprediger  oder  Pädagogen  sind,  am 
30.  Juli  in  Reval  zu  erscheinen.  Dabei  habt  ihr  mitzubringen : 
von  den  Bischöfen»  beglaubigte  Zeugnisse  über  eueren  Lebenswandel, 

*  cf.  das  Itinerar  des  Aschanaeus. 

*  Darunter  sind  die  früheren,  von  der  Regierung  bestätigten  estländischen 
Superintendenten  oder  Bisehöfe  verstanden. 


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Bischof  Rudbeck. 


575 


euere  Vocation  oder  Ordination,  eine  sog.  Kirchenorduting  (ordi- 
nantia  ecclesiastica),  nach  welcher  ihr  in  (seil  kirchlichen)  Fällen 
und  Angelegenheiten  zu  untersuchen,  richten  uud  zu  entscheiden 
pflegt,  das  Kircheninventar  und,  im  Falle  des  Vorhandenseins, 
Documente  über  die  Pastoratsländereien  (Utterae  de  fundis  pastora- 
libus)  uud  ausserdem  euer  Manuale,  worin  die  Form,  wie  die  Sacra- 
mente  verwaltet  werden,  enthalten  ist.  Endlich  habt  ihr  noch  aus 
jedem  Kirchspiel  (ecelesia)  mindestens  je  vier  Bauern  bewährten 
Altere  und  Glaubens  mit  euch  zu  nehmen.  Wir  zweifeln  hierbei 
keineswegs  an  euerem  Gehorsam,  womit  ihr  ferner  alle  werdet  gern 
hören  wollen,  von  welcher  ernsten  und  wahrhaft  väterlichen  Sorge 
und  Bekümmernis,  Frömmigkeit  und  Güte,  von  welch  unerschütter- 
lichem Wohlwollen  gegen  Seine  ünterthaneu  S.  K.  M.  beseelt  ist. 
Gilt  es  doch  den  Ruhm  Gottes,  den  Nutzen  der  Kirche  uud  euer 
eigenes  Beste.  ...  P.  S.  Weil  unsere  Synode  jedoch  aus  ge- 
wissen Gründen  wider  Erwarten  lange  dauern  und  daher  mehr 
Aufwand  erfordern  könnte,  ermahnen  wir  die  Herren  Pastoren, 
sich  zu  den  notwendigen  Ausgaben  für  mindestens  drei  Wochen 
mit  dem  Notlügen  zu  versehen.» 

Mit  einiger  Verwunderung  müssen  wir  es  wahrnehmen,  dass 
der  Bischof,  infolge  der  mehrjährigen  schwedischen  Administration 
in  Nord-Livland,  Pernau  und  Fellin  zur  «Revaler  Diöcese»  rechnet; 
denn  erstens  ward  obiges  Convocationsschreiben  dem  pernauschen 
Pastor  übersandt  und  zweitens  liest  man  im  Itiuerar  des  Aschanaeus 
unter  dem  Datum  des  26.  Sept.  :  «Gerhard  Hartmann  wurde  nach 
Fellin  geschickt,  um  sich  dort  hören  zu  lassen,  zurückzukommen 
und  ordinirt  zu  werden  *  Dieser  geographische  Irrthum  wurde 
aber  durch  Samsons  oder  der  Livländer  Schuld  reparirt ;  denn 
Hartmaun  ward  nicht  nach  Fellin  vocirt1  und  der  pernausche  Rath 
schrieb  dem  Bischof,  dass  er  «dem  städtischen  Pastor  keineswegs 
nach  Reval  zu  kommen  erlaube»,  an  welchem  Bescheid  Philipp 
Schedingks  «sehr  scharfe  Antwort»  wol  keine  Aeuderung  hervor- 
gerufen haben  wird1.  —  Die  Thätigkeit  der  geistlichen  Commis- 
sion  beschränkte  sich  jedoch  nicht  auf  die  Conception  und  Ausgabe 
von  amtlichen  Erlassen.  Es  ist  erquickend,  zu  sehen,  mit  welchem 
Eifer  und  sittlichen  Ernst  man  sich  an  die  Ausführung  der  ge- 
stellten Aufgabe  machte.    Fast  alle  Tage  wurde  ein  Morgen-  und 


•  cf.  Paucker:  «Ehstlands  Geistlichkeit»,  1849. 
"  cf.  das  Itiuerar  des  Asch.  s.  d.  3.  Aug.  1627. 


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576 


Bischof  Rudbeck. 


Abendgottesdienst  in  der  Domkirche  abgehalten,  in  dem  eine  Predigt 
den  integrirenden  Theil  ausmachte.  Aufangs  predigten  alleiu  die 
Commissionsglieder,  bald  aber  traten  aus  allen  Theilen  Est-  und 
Iugermanlands  Pastoren  ein,  um  sich  durch  eine  Probepredigt  die 
bischöfliche  Bestätigung  im  Amte  zu  erwerben.  Der  biedere  Ascha- 
naeus  verzeichnet  gewissenhaft  jedes  Predigtthema  und  begleitet 
seine  Notizen  mit  Censuren,  welche  wol  dem  bischöflichen  Munde 
entflossen  sein  mögen;  «gut»,  t gelehrt»,  «bewunderaswerth»,  oder 
tschwach»,  «gedankenlos»  &c.  heisst  es  häufig  bei  ihm.  Der 
Bischof  Rudbeck  erhält  selbstverständlich  die  beste  Censur:  «sehr 
gelehrt»,  z.  B.  als  er  in  der  Synodalzeit  am  grossen  Busstage  des 
17.  Aug.  die  Altarrede  über  Jeremia  6,  8  gehalten  hatte.  Die 
Predigten  werden  bald  in  schwedischer  oder  finnischer,  bald  und 
am  meisten  in  deutscher  oder  estnischer  Sprache  gehalten.  In  der 
Synodalsessionszeit  verging  kein  Tag  ohne  längere  Predigt  am 
Morgen  und  am  Abend,  mit  dem  Schluss  der  Synode  am  26.  Aug. 
hörten  aber  die  Predigten  auf  ;  von  da  ab  ward  täglich  nur  eine 
Bibelstelle  verleseu.  Ausgehend  von  der  Ansicht,  dass  alle  der- 
zeitigen Pastoren  ihr  Amt  eigentlich  auf  illegale  Weise  erworben 
hätten,  zwang  der  Bischof  alle  ohne  Ausnahme,  vor  ihm  oder  den 
anderen  Commissionsgliedern  ihre  Probepredigt  zu  halten,  so  z.  B. 
die  Glieder  des  revaler  Stadtministeriums,  den  Reetor  der  Domschule, 
ja  selbst  den  alten  Nikolaus  Gaza,  —  gewiss  ein  beredtes  Zeugnis 
für  die  Energie,  aber  auch  das  grosse  Selbstgefühl  des  Revidenten. 
Und  er  war  rührig,  der  Herr  Bischof.  Nachdem  er  das  Domkirchen- 
Inventar  aufgenommen,  in  der  Kathedralschule  ein  öffentliches 
Examen  abgehalten  und  von  den  Dom kirchen Vorstehern  für  die 
letzten  13  Jahre  Rechenschaftsablegung  gefordert  und  erhalten 
hatte,  trieb  es  ihn  hinaus  aufs  platte  Land,  um  auch  hier,  z.  B. 
in  St.  Matthias,  Kreutz  und  Jegelecht,  zu  inventarisiren.  Schon 
früh  leitete  er  Conferenzen  zwischen  den  geistlichen  und  weltlichen 
Commissaren  ein,  die  entweder  in  seiner  oder  des  Gouverneurs 
Wohnung  abgehalten  wurden.  Ein  Resultat  derselben  war  die  als- 
baldige Einberufung  der  Ritter-  und  Landschaft  zu  einem  Landtage 
für  den  5.  Aug.,  auf  dem  sowol  über  kirchliche  als  weltliche  Fragen 
berathschlagt  werden  sollte,  und  die  Redaction  der  dem  Landtage 
vorzulegenden  bischöflichen  Propositionen. 

Mittlerweile  begannen  die  wurmstichigen  Früchte  der  könig- 
lichen Instruction  zu  reifen.  Diese  wollte,  wie  wir  sehen,  von 
einem  revaler  Stadtconsistorium  nichts  wissen,  da  des  Bischofs 


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Bischof  Rudbeck. 


577 


Massnahmen  durch  eine  ihm  coordinirte  Institution  nur  gehemmt 
werden  mussten.  Aber  das  städtische  Consistorium  bestand,  bestand 
seit  geraumer  Zeit  und  besass  in  der  königlichen  Oonfirmation  der 
Stadtprivilegien  seine  rechtliche  Basis*  Zudem  gehörten  dem  Stadt- 
ministerium und  -Consistorium  Männer  an,  die  sich  nicht  einfach 
an  die  Wand  drücken  Hessen.  Leute,  wie  der  Pastor  von  St.  Olai 
und  Superintendent  Dr.  Heinrich  Westring,  Mag.  Jobann  Knopius, 
Mag.  Erich  von  Beek,  Simon  Blankenhagen,  Mag.  Eberhard  von 
Renteln  und  Mag.  Ludwig  Dunte,  hatten  wol  alle  auf  deutschen 
Universitäten  studirt  und  wissenschaftliche  Schriften  verfasst,  be- 
herrschten die  lateinische  Sprache  und  waren  eifrig  und  wirksam 
in  ihrem  4mte-  Der  Präses  des  Consistoriums,  der  Bürgermeister 
Derenthal,  vollends  war,  wie  Aschanaeus  mehrfach  zu  verstehen 
giebt,  von  grosser  Energie  und  zäher  Hartnäckigkeit.  Wurden  solche 
Leute  ebenso  behandelt,  wie  die  c  sicherlich  unbedeutenden»  (?) 
Magistratspersonen  von  Westeräs,  dann  gabs  Kampf  und  Streit, 
dann  sprühten  Funken. 

Von  ihrem  Standpunkt  aus  verdiente  die  revaler  Geistlichkeit 
nur  Lob  und  Anerkennung  für  ihre  Leistungen  und  durfte  sie,  in 
Anbetracht  ihrer  öffentlich-rechtlichen  Stellung,  wol  erwarten,  dass 
der  Bischof  ihr  von'  seiner  ihm  übertragenen  Befugnis  Anzeige 
machte.  Das  mag  wol  die  Ursache  sein,  dass  sie  mehrere  Tage 
vergehen  und  ein  Schreiben  des  weltlichen  Commissars  Peter  Baner 
an  sich  herankommen  Hess,  worin  sie  «zur  Demuth  und  Reverenz 
gegen  S.  K.  M.  Commissare  und  Visitatoren  »  ermahnt  wurde,  ehe 
sie  sich  dazu  entschloss,  dem  Bischof  ihre  Aufwartung  zu  machen. 
« Es  präsentirten  sich  —  am  24.  Juli  --  Mag.  H.  Westring,  Mag. 
Jon.  Knopius,  Mag.  Erich  v.  Beek  und  der  Bürgermeister  Deren- 
thal mit  höchster  Reverenz»  vor  dem  Bischof.  Der  Bischof  scheint 
diese  verspätete  Begrüssung  übel  vermerkt  zu  haben,  denn  er  über- 
sendet den  revaler  Pastoren  das  Convocationsschreiben  zur  Provin- 
zialsynode  erst  am  —  30.  Juli.  «Mit  dem  Bector  scholae  sandte  Mag. 
H.  Westring  es  wieder  zurück  und  wollte  nichts  lesen.»  Für  die 
hiermit  zum  Ausdruck  kommende  grosse  Erbitterung  giebt  wahr, 
scheinlich  der  Umstand  eine  Erklärung,  dass  der  Bischof  sich  ge- 
weigert hatte,  mit  den  Revalensern  eine  Ausnahme  zu  machen  und 
ihnen  schon  jetzt  in  die  königliche  Instruction  Einsicht  zu  ge- 
währen ;  er  hatte  erklärt,  das  nur  vor  tptiblico  conventu*  thun  zu 
wollen  und  forderte  jetzt  einen  Beweis  für  ihr  fortwi  privilegiatum. 
Ausnahmsweise  berichtet  das  Itinerar  des  Aschanaeus  etwas  aus- 


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Bischof  Rudbeck. 


führlicher  über  diese  Vorgänge.  Ich  lasse  daher  die  Uebersetzung 
aus  dem  Schwedischen  nachfolgen: 

«d.  31.  Juli:  Jetzt  kamen  zwei  von  der  Stadt,  ein  Rath- 
mann Thomas  Schroben  und  der  Stadtsyndikus  Benhardus1,  mit  den 
städtischen  Privilegienbüchern ,  zwei  Stück :  ein  modernes  von 
Gustav  Adolf  und  ein  kleines  altes  vom  König  Erich  Daniae  et 
Episcopi  Lundensis,  datirt  1214  (sie),  daraus  sie  beweisen  wollen 
und  sich  verteidigen,  dass  sie  mit  ihrem  Stadtconsistorium,  welches 
besteht  (är  heslutitl)  aus  dem  Bürgermeister,  Rath  und  dem  Mini- 
sterio  allhier,  ihren  zwei  (?)  Superintendenten,  Pastoren  und  Com- 
ministern,  —  nichts  desto  weniger  (dock)  ihr  höchstes  Consistorium 
hätten.  «Auff  Ihren  Ehrbaren  Rath>,  wie  sie  ihn  nennen,  mit 
welchem  Privilegienbrief  sie  sich  stützen  auf  das  lübische  Kirchen- 
recht, dass  sie  ihr  Consistorium  unbeschwert  vor  Magistrat™  publica 
hätten.  Ebendaher  wollten  sie  nicht  unterworfen  werden  I.  K.  M. 
Vollmacht  und  Instruction  in  diesem  Stück,  dass  sie  nämlich  com- 
pariren  müssten  vor  den  Oommissaren,  wann  sie  wollen,  sondern 
sie  wären  frei  für  sich  und  ihre  Stadtpriester  vor  dem  Bischof. 
Jedoch  konnten  sie  nicht  durch  diesen  verlesenen  Brief  (Urkunde 
seil.)  ihre  «unkluge  Autorität»  (sie)  in  diesem  Fall  beweisen,  womit 

sie  also  dem  Herrn  Bischof  refutirten   Sie  versprachen 

Oopien  von  den  Urkunden  (und  erklärten),  «es  könnte  keineswegs 
irgend  ein  Speciale  ihr  Generalprivilegium  derogiren,  also  von  ihrem 

zweifelhaften  Consistorio1   (Hierauf)  wollten  Rath  und 

Ministerium  zu  Reval  Copien  haben  von  I.  K.  M  Vollmacht  und 
Instruction.  Das  wurde  ihnen  versagt;  sie  hätteu  nur  zu  hören, 
zu  glauben  und  darnach  zu  handelu.  Wenn  der  Bischof  mit  allen 
Ständen  in  Verhandlung  tr&te,  sollten  sie  weiter  zu  hören  be- 
kommen.» 

Man  muss  für  die  Beurtheilung  der  Rechtsfrage  dieses  eben 
begonnenen  Conflicts  eins  im  Auge  behalten :  noch  gab  es  einen 
«activen  Widerstand»,  noch  wehte  aus  den  pergamentenen  Privi- 
legien dem  Leser  nicht  der  Modergeruch  vergessener  oder  mis- 
achteter  Jahrhunderte  entgegen.    Es  war  daher  eine  Unvernunft 


1  Nach  Bunge's  «Revaler  Rathüliniev  Thomas  Sehrowen  und  der  Raths 
seereüir  Bernhard  zur  Becli,  der  erst  1642  Syndikus  ward.     1627  bekleidete 
Bürgermeister  Derenthal  das  Syndikat. 

1  Hier  tot  eine  schwer  zu  interpretirende  Stelle,  für  «lie  der  Verfasser  ans 
Schweden  keine  befriedigende  Uebersetzung  erholten  hat,  ausgelassen:  Rie  scheint 
aber  von  keinem  Belai.ge  zu  »ein. 


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Bischof  Radbeck.  579 

des  Visitators,  welche  seiner  Eitelkeit  entspross  und  mit  seinem 
sonst  so  hellen  Verstände  im  Widerspruch  steht,  eine  geschlossene 
corporative  und  bewährte  Institution  so  vor  den  Kopf  zu  stossen. 
Mit  einer  Ignorirung  ihres  Bestandes  kam  er  nicht  um  einen  Schritt 
weiter,  sondern  rief  einen  Conflict  hervor,  dessen  Ausgang  bei  der 
Zähigkeit  der  damaligen  Estländer  nicht  abzusehen  war.  Zugegeben 
auch,  dass  man  unsererseits  es  an  Selbstbewusstsein  nicht  fehlen 
Hess,  sich  durch  eine  gewisse  Vomehmthuerei  Blossen  gab,  das 
grössere  Unrecht  liegt  aber  doch  auf  Rudbecks  Seite.  Er  brauchte 
ja  der  Stimme  des  revaler  Consistoriums  nicht  zu  folgen,  aber  seine 
Existenz  a  priori  leugnen  und  ihm  keine  öffentlich-rechtliche  Stel- 
lung zuerkennen,  war  unklug  und  schädlich.  Wir  brechen  hiermit 
ab,  um  den  weiteren  und  traurigen  Verlauf  des  Conflicts  an  ge- 
eigneter Stelle  wieder  aufzunehmen.  Wenden  wir  uns  nun  dem 
Abschnitte  der  bischöflichen  Thätigkeit  .zu,  wo  dieselbe  uns  im 
hellsten  Lichte  erscheint  und,  wenn  auch  nicht  frei  von  Fehlem, 
von  der  Leistungsfähigkeit  des  Visitators  doch  ein  rühmliches 
Zeugnis  giebt. 

4.   DieProvinzialsynode  und  die  Synodal- 
beschlüsse. 

Für  den  30.  Juli  convocirt,  traten  die  Geistlichen  des  Landes 
doch  nicht  früher  als  am  6.  August  zur  Synodalarbeit  zusammen. 
Ob  ein  Widerruf  des  Convocationstermins  erfolgte  oder  man  die 
Säumigen  abwarten  wollte,  bleibt  unentschieden.  Dass  die  Pastoren 
der  billigeren  Reise  mit  ihren  Patronatsherren  wegen  auf  diese  bis 
zum  5.  Aug.,  für  welchen  Tag  der  Landtag  ausgeschrieben  war, 
warten  wollten,  ist  ausgeschlossen,  da  der  Landtag  —  aus  ebenfalls 
unbekannten  Gründen  —  erst  am  13.  Aug.  in  cder  Ritterstube  im 
Kloster>  zusammentrat1. 

Am  5.  Aug.,  dem  X.  Sonntag  nach  Trinitatis,  hielt  der  Bischof 
selbst  die  Sonntagspredigt,  wol  schon  in  Gegenwart  zahlreicher 
Synodalen.  Nach  dem  Gottesdienst  wurden  die  <Intimatio  synoäa- 
lis»  und  die  < Thesen»  ■  an  allen  Kirchenthüren  der  Stadt  ange- 
schlagen. 

Von  dem  Eröffnungstage  (Montag,  d.  6.  August)  der  Synode 
und  ihrem  allmählichen  Verlauf  besitzen  wir  leider  allein  den  dürren 

'  cf.  flreiffenhagen  p.  19. 

'  lieber  diese  hat  der  Verfasser  nichts  Xiiheres  in  Erfahrung  bringen 
können;  wahrscheinlich  enthalt  das  Liber  Asch,  doch  noch  etwas  darüber. 


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Bischof  Rudbeck. 


und  nüchternen  Bericht«  des  Aschanaeus,  dem,  wenn  auch  ungern, 
zu  folgen  unsere  Pflicht  ist. 

«I.  Es  waren  erschienen  (in  der  Domkirche  und  etwa  um 
9  oder  10  Uhr  morgens)  alle  Magistri,  Pastores,  Capläne,  Paeda- 
gogii  in  Livland  (d.  h.  Est-  und  Ingermanland),  auf  den  Befehl  des 
Bischofs  und  Visitators  und  Commissars,  im  *Sacrario  cathcdrali* 
(d.  h.  im  Altarraum).  2.  Es  redete  der  Herr  Bischof  mit  ihnen  von 
I.  K.  M.  Commission  und  seinem  Auftrag  zu  dem  allen.  3.  Es 
wurde  gesungen  :  eKomm,  heiliger  Geist,  Herre  Gott>.  Der  Bischof 
intonirte ;  pro  introitu  wurde  gesungen  ein  Stück  Discant,  auch  ge- 
spielt. 4.  Mag.  Andreas  hatte  die  Praefatio.  5.  Hinwiederum 
sprach  der  Bischof  zu  allen  von  der  Procession'  &c.  6.  Sodann 
hielt  der  Mag.  Andreas  die  Synodalpredigt8.  7.  Es  sprach  wieder 
der  Bischof  vom  Gehorsam  in  allen  Dingen.  8.  Mag.  Gabriel(i) 
verlas  die  kgl.  Vollmacht.  9.  Es  hielt  der  Herr  Bischof  eine 
scharfe  Ermahnung  an  sie  vom  Fleiss  und  dass  sie  alle  Tage 
«nüchtern>*  (sie)  sein  möchten, so  lange  die  Synode 
g  e  h  a  1 1  e  n  w  i  r  d.  10.  Es  wurde  ein  Stück  Discant  gesungen. 
NB.    tOrdinem  sedendi:  4  rechts  und  4  links»  setzte  er  fest.> 

Es  trat  nun  offenbar  eine  kleine  Pause  ein ;  denn  unmittelbar 
darauf  fährt  der  Bericht  mit  den  Worten  fort : 

«Nach  1  Uhr  Mittag  wurde  geläutet;  bald  ging  man  in  die 
Kirche  und  das  Sacrarium,  ein  jeder  an  seinen  bestimmten  Platz. 
Es  recitirte  der  Bischof  den  Cutalogus  parochiarum*,  pastorum, 
sacellanorum  (d.  i.  Capläne)  et  Annexarum  (d.  h.  der  Bischof  verlas 
den  Katalog  der  Pfarrstellen,  Pastore,  Capläne  und  dessen,  was 
noch  dazu  gehört)  &c.  NB.  Anwesende  und  Abwesende  notirte 
eine  jede  Provinz  für  sich  :  Harrien,  Wiek,  Wirland  und  Jerwen. 
Ein  jeder  Pastor  schrieb  nieder  seiner  Kirche  *descr\ptiones  et  In- 
ventarium*,  ein  jeder  auf  sein  eigenes  Papier,  mit  eigener  Hand, 
nach  der  neuen  gedruckten  Ordnung.  NB.  Ein  Exemplar  zur  Ab- 
gabe, das  andere  für  sich  selbst;  deutsch,  schwedisch  oder  latei- 

1  Schwedisch,  untermischt  mit  lateinischen  Floskeln. 
1  Darunter  ist  wahrscheinlich  eine  Angahe  tther  den  Verhandlungsmodus 
verstanden. 

•  worüber,  ist  nicht  angegeben. 

•  «vara  nöchter  pa  alle  dagar».  Es  kann  kein  Zweifel  sein,  dass  möchten 
hier  für  «-nyktcr*  steht. 

•  Da«  ist  wol  so  zu  versteheu,  dass  immer  je  vier  auf  einer  Bank  link* 
und  rechts  vom  Altar  zusammen  sassen. 

6  So  ist  wol  zu  lesen  und  nicht  tparesiarum»,  wie  im  Original  steht. 


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Bischof  Rudbeck.  581 

nisch,  wie  sie  es  selbst  wollten.  NB.  Der  Herr  Bischof  nahm 
alle  Punkte  der  Instruction  I.  K.  M.  durch,  um  zu  erforschen  : 
<Neces$arifi  ecclesiarum  et  ministrorum*  (d.  i.  die  Bedürfnisse  der 
Kirchen  und  Prediger). 

So  lautet  über  den  ersten  Synodaltag  der  Bericht,  der  Phan- 
tasie mehr  als  erwünschten  Spielraum  lassend.  In  ähnlicher  Weise 
referirt  der  Liber  Aschanaeus  auch  noch  über  die  Sitzungen  der 
Synode  am  7.,  8.  und  9.  August;  dann  wird  er  noch  kürzer  und 
dürftiger.  Die  einzelnen  Decrete  können  wir  an  dieser  Stelle  über- 
gehen, da  sie  in  den  übrigens  auch  durch  die  Sorgfalt  des  Ascha- 
naeus erhaltenen  sog.  «Synodalbeschlüssen»  in  erweiterter  und  con- 
creterer  Fassung  wiederkehren.  Fragen  wir  uns,  was  ausser  den 
auf  die  Reorganisation  der  kirchlichen  Verhaltnisse  Bezug  nehmen- 
den Beschlüssen  noch  auf  der  Synode  verhandelt  worden  ist,  so 
müssen  wir  uns  kurz  fassen. 

In  den  Tagen  vom  6.-26.  August,  während  deren  die  Synode 
dauerte,  wurde  fortgefahren  mit  der  Examination  und  Ordination 
der  bereits  fungirenden  Pastoren  oder  sich  um  Pfarr-  und  Lehrer- 
stellen neu  bewerbender  Candidaten.  Zudem  wurde  über  manche 
Vergehen  der  Pastoren  zu  Gericht  gesessen ;  unwürdige  wurden  — 
laut  Art.  22  der  Instruction  —  vom  Visitator  ab-  und  würdigere 
an  ihrer  Statt  eingesetzt.  So  z.  B.  verlor  der  Pastor  Jacob  Pavo» 
wegen  Ehebruchs  für  immer  die  venia  concionandi,  während  Matthias 
Finck  in  Rappel  die  Erlaubnis  erhielt,  sich  für  seine  Ausschreitungen 
mit  den  Geschädigten  gütlich  zu  begleichen,  und  Josua  Möllenbeck 
von  Jörden  seine  frivole  Verlobung  mit  zwei  Jungfrauen  zu  gleicher 
Zeit  mit  einer  Geldstrafe  zum  Besten  der  Annen  büssen  musste. 
Nachmals  ordinirt.  führte  Möllenbeck  eine  seiner  Bräute  glücklich 
heim  und  feierte  am  Tage  nach  seiner  Ordination  fröhliche  Hoch- 
zeit.  Gleichwie  Rudbeck  in  Westeräs  gegen  «Unsitten»  seiner 
Pfarrer  stramm  vorging,  so  auch  in  Estland.  Unter  dem  Datum 
des  10.  Aug.  erzahlt  Aschanaeus  in  seiner  naiven  Weise:  «Viertens 
wurde  auch  getadelt  Herr  Georg  Salomon  von  St.  Jürgens  (ad  Divum 
Oeorgium)  für  sein  kurz  geschnittenes  Haar.  Fünftens  wurde  ge- 
tadelt der  Pastor  in  Pänälä  (?)'  für  seine  langen  Haarlocken. 
Er  sagte,  dass  er  sich  gelobt  habe,  sie  wachsen  zu  lassen. 
Auch  Pänäläensis  musste  sich  strax  die  Locken  scheeren  lassen. 

1  Knüpffer  nennt  auf  Grand  »einer  Quellen  norli  zwei  andere,  die  Mich 
abgesetzt  wurden. 

■  Wol  Pönal.   D.  R  e  d. 

BaUi«ch«  MnnaUaclirift,  Rand  XXXIV.  Flofl  7.  31» 


- 


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■  "I 


582  •     Bischof  Rudbeck. 

Nota.  Abgeschafft  wurde  alle  derartige  Unordnung,  insbesondere 
Naseweisheit  —  hatte  doch  schon  der  8.  August  gezeigt,  dass  einige 
Landpastoren  naseweis  (nasuttdi)  waren  —  und  unleidliche  Kleider- 
tracht. Darauf  hatte  man  genaue  Aufsicht.  »  Auch  nachdem  von 
der  Kanzel  herab  am  26.  August,  dem  XITT.  Sonntag  nach  Trini- 
tatis, publicirten  Schluss  der  Synode  hörten  die  Examinationen  und 
Ordinationen  nicht  früher  auf,  als  bis  die  Visitatoren  abreisen 
mussten.  Desgleichen  wurde  noch  manche  Kirchenstrafe  über  un- 
gehorsame, liederliche  (Adelige,  doch  meist  Bauern)  und  verbreche- 
rische Gemeindeglieder  verhängt ;  die  criminellen  Falle  übergaben 
die  Commissare  jedoch  den  weltlichen  Gerichten. 

Wenden  wir  uns  nun  zu  den  Beschlüssen  der  Predigersynode, 
welche  die  königliche  Bibliothek  in  Stockholm  aufbewahrt  unter 
dem  Titel :  « ßeschluss  der  Estnischen  Predigersynode,  welche  im 
Juli  und  August  des  Jahres  1627  in  Reval  abgehalten  worden1.» 

I.  Betreffend  den  Gottesdienst. 

1.  Das  Land  ist  von  Pernau  bis  Narva  40  Meilen  lang  und 
20  Meilen  breit ;  doch  giebt  es  nur  40  Kirchen,  die  sehr  schlecht 
unterhalten  sind.  2.  Keine  Schule,  aus  der  man  Theologen  er- 
halten könnte,  wol  aber  kleine  Schulen  giebt  es :  z.  B.  auf  dem 
Dom,  in  Pernau,  in  Hapsal  &c,  worin  nur  einige  kleine  Knaben 
unterrichtet  werden;  jedoch  nur  im  «Lesen»,  nicht  in  den  <Iniiia 
gramtnaticac».  Die  Priester  sind  aus  Deutschland  und  Finland 
und  verstehen  nicht  die  Landessprache.  3.  Es  giebt  keine  Hospi- 
täler. 4.  Die  Priesterhöfe  (Pastorate,  prastbordcn)  sind  so  klein, 
dass  nicht  e  i  n  Priester  einmal  davon  leben  kann  5.  Die  Häuser 
daselbst  sind  sehr  schlecht  erhalten ;  manche  haben  keine  Back- 
stube, keinen  Keller,  kein  Vorrathshaus ;  und  die  anderen  Häuser 
sind  auch  sehr  schlecht,  so  dass  manche  (Pastoren)  ihre  Speise- 
vorräthe,  Pflüge  und  Wirthschaftsgeräthe,  (selbst)  das  Mobiliar 
oben  in  der  Kirche  halten  müssen,  two  es  etwas  besser  ist>.  Die 
Junker  von  Hapsal  sorgen  nicht  für  die  Kirche,  obwol  sie  dazu 

'  «Tieshtut  pa  thet  Esthiska  Prestamötet  som  är  hallit  i  Rdffle  wtW 
Julia  och  Atu/usto  A.  D.  1G27»  ;  enthalten  snb  Nr.  1  in  der  historischen  »chwedi 
sehen  Handschrift  der  Reichsbibliothek  F.  b,  3  :  tSum  Uber  unus  de  calleclianibiis 
Martini  Aschanaeis.  Da  die  Uebcrsctznng  dieses  sog.  "Besohlnsses»  dem  Verf. 
in  Stockholm  in  die  Feder  dirfirt  wurde,  möge  man  die  Slylhiirten,  die  Mischung 
von  l'cbersetznng  und  Referat  und  das  Fehlen  ihr  TTcherschriften  an  einigen 
Stellen  entschuldigen. 


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Bischof  Rudbeck. 


583 


verpflichtet  sind.  6.  Die  Pastoren  haben  sehr  geringe  Einkünfte  ; 
denn  nachdem  ihnen  der  Zehnte  genommen  ist,  haben  sie  nur  die 
Abgabe  für  den  Küster  behalten,  und  diese  besteht  in  einem 
kleinen  Halbspann  reinen  Kornes  und  in  einem  Kylmet  Pferde- 
futter (d.  h.  wol  Hafer)  von  einem  jeden  Bauern.  Accidentieu 
sind  sehr  wenig,  so  dass  sie  nicht  c Essen  und  Trinken»  für  Weib 
und  Kind  von  ihrem  Amte  haben.  Sie  könnten  nicht  leben,  wenn 
nicht  die  Kirchspiele  so  gross  (an  Menschen  zahl)  und  die  Pastoren 
nicht  zugleich  auch  Capläne  und  Küster  wären.  In  kleineren 
Kirchspielen  haben  sie  nicht  das  schwarze  Brot.  7.  Weil  es  keine 
Capläne  giebt,  so  kann  der  Unterricht  im  Katechismus  nur  sehr 
schwach  sein,  auch  kann  der  Pastor  nicht  alle  alten  Leute  und 
Kranken  besuchen.  8.  Ein  Bauer  verrichtet,  für  ein  Geringes,  die 
Küster-  und  Glockenläutedieuste.  Die  königlichen  Busstagsbriefe 
und  andere  Publicationen  können  nicht  immer  verlesen  werden. 
9.  Die  Kirchenvormünder  (Provisorcs)  kommen  oft  gar  nicht  in 
die  Kirche  und  nehmen  nie  das  Abendmahl  ;  sie  machen  auch  keine 
Verschlage  für  Debet  und  Credit  der  Kirche.  So  ist  es  jetzt  seit 
30  Jahren,  seit  David  Dubberchs  Zeit.  Die  Domkirche  hat  auch 
keine  bestimmten  Einkünfte. 

II.  Betreifend  die  Zuhörer,  folgende  Fehler: 
1.  u.  2.  (Die  Bauern)  treiben  noch  viel  Abgötterei  bei  Götzen- 
bildern in  Wäldern  und  Waldcapellen,  denen  sie  verschiedene  Opfer 
bringen,  z.  B.  ihre  Gesundheit,  ihre  Kinder,  Thiere  und  ihr  Besitz- 
thum. Sie  kommen  selten  zur  Kirche,  nie  zum  Abendmahl ;  einige 
sagen,  dass  sie  die  ganze  Woche  auf  den  Höfen  ihrer  Herren 
arbeiten  müssten,  auch  Sonnabend  bis  Sonnenuntergang.  Sie  müssen 
sich  deshalb  am  Sonntag  von  ihrer  grossen  Sklaverei  (träldom)  er- 
holen. Einige  sagen,  dass  ihre  Priester  Finnen  oder  Deutsche  sind, 
welche  die  estnische  Sprache  nicht  verstehen.  3.  Viele,  die  zur 
Kirche  kommen,  trinken  vor  und  nach  der  Kirche  und  spielen  (seil. 
Glücksspiele) ;  darauf  giebts  Streit,  Fluchen  und  Morden  und  andere 
grobe  Sünden.  Die  Krüger  benutzen  die  gute  Gelegenheit,  um 
Geschäfte  zu  machen.  4.  Grosse  Unsittlichkeit  herrscht  unter  dem 
gemeinen  Manne ;  viele  nehmen  sich  Weiber,  wann  und  welche  sie 
wollen  ;  sie  feiern  Collationen  und  leben  mit  ihnen,  so  lange  es 
ihnen  gefällt,  ohne  gesetzliche  Trauung.  Viele  haben  auch  mehrere 
Weiber  zur  Abwechselung.  Wenn  die  eine  ihm  nicht  mehr  gefällt 
oder  all.  wird  und  nicht  mehr  gut  arbeiten  kann,  wird  eine  neue 


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Bischof  Rudbeck. 


für  die  Haushaltung  genommen.  Hierfür  und  für  andere  Sünden 
giebt  es  wenig  Strafen.  5.  Viele  begraben  die  Todten  nicht  iu 
den  Kirchhöfen,  sondern  wie  es  kommt.  6.  Sie  zahlen  oft  auch 
nicht  die  Küsterabgabe. 

III.  Betreffend  die  Geistlichkeit. 
Hier  giebt  es  kein  ordentliches  Kirchenregiment,  keinen  ge- 
setzlich ernannten  und  von  der  hohen  Obrigkeit  bestätigten  Bischof 
(Superintendenten)  und  kein  Consistorium.  Was  den  würdigen  und 
wohlgeachteten  Herrn  Nils»  auf  dem  Dom  anbetrifft,  so  ist  er  eine 
lange  Zeit  nur  Pastor  gewesen  und  ist  ihm  zuerst  nach  Karls  IX. 
mündlichem  Befehl  die  Inspection  der  Kirchspiele  ertheilt  worden  ; 
er  hat  wol  ein  Docume.nt  über  seine  Anstellung  erhalten,  aber 
keine  Instruction.  Er  wird  zwar  im  Document  *  Superintendent» 
genannt  und  hätte  als  solcher  wirken  sollen.  Das  hat  er  aber 
nicht  gethan,  bis  der  König  im  J.  1622  hierher  kam.  Er  gefiel 
dem  König  aber  nicht.  Ehe  der  König  herkam,  hat  er  in  Er- 
mangelung einer  Vollmacht  nichts  thun  können  und  hernach  seines 
hohen  Alters  wegen  nicht  und  wegen  fehlender  collegialischer  Hilfe. 

IV.  Betreffend  die  Macht  des  Superintendenten  und  Oapitels  in 

Reval 

weiss  Rudbeck  nicht,  woher  sie  ihre  Macht  haben  und  ob  dieselbe 
sich  nur  auf  Reval  oder  auch  aufs  platte  Land  erstreckt.  cSie» 
haben  auch  auf  dem  Lande  Priester  ordinirt,  jedoch  per  usum  und 
nicht  durch  ein  Gesetz.  Es  fehlen  praepositi  (Pröpste),  die  dem 
Superintendenten  Hilfe  leisten  können.  Es  giebt  keine  autorisirte 
Kirchenordnung  (die  schwedische  Kirchenordnung  gilt  nur  auf  dem 
Dom),  dieselbe  (d.  h.  die  ihrige)  ist  vielen  anderen  entlehnt,  z.  B. 
der  in  Pommern  und  Kurland,  auch  der  Mecklenburgischen  und 
Nürnbergischen  —  oder  ist  eigenes  Elaborat.  Kurz,  tdas  Kirchen- 
regiment ist  ohne  bestimmte  Richter  und  ohne  noth wendige  Gesetze». 

Reiche  Leute  auf  dem  Lande  haben  sich  das  Recht  (jus)  ge- 
nommen <vocandi  et  dimittendi  pastores*.  War  der  (Pastor)  nicht 
ordinirt,  so  war  es  nicht  schwer,  einen  Ordinator  zu  finden.  Sie 
haben  die  Kirchenordnung  ausgeübt  in  consulio  magistratu  et  mini- 
sterio,  schlechte  (seil.  Pastoren)  oft  angestellt,  gute  vertrieben.  Die 
Pastoren  haben  sich  —  weil  ohne  Superintendenten  —  schlecht 

'  Rudbeck  war  übrigens  nahe  daran,  ihn  wepen  Heiner  laxen  Amtsführung 
abzusetzen,  cf.  das  Itinerar  Aseban. 


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Bischof  Rudbeck. 


585 


geführt,  sind  aber  ohne  Tadel  und  Strafe  geblieben.  Gute  sind  oft 
verfolgt  und  abgesetzt,  ja  sogar  ermordet  worden.  —  Keine  Synoden 
sind  gehalten  worden  und  daher  die  Priester  ohne  Hilfe  gewesen. 
Die  letzte  Visitation  war  vor  30  Jahren,  in  David  Dubberchs  Zeit, 
bis  in  diesem  Jahre  Herr  Nikolaus»  13  Kirchspiele  mit  wenig  Er- 
folg  besucht  hat.    Visitationen  aber  sollten  jährlich  geschehen. 

4  —6.  Es  giebt  wol  einige  gelehrte  und  geschickte  Prediger, 
aber  doch  ist  ein  nicht  sehr  geringer  Theil  sehr  ungebildet  und 
ungeschickt.  Einige  von  ihnen  haben  wenig,  andere  nichts  studirt, 
sondern  die  grösste  Zeit  in  anderen  Aemtern  verbracht  und  sind 
jetzt  erst  cmit  grauem  Haar»  ins  Priesteramt  getreten.  Ein  Theil 
kennt  die  estnische  Sprache  nicht.  Die  Prediger  haben  keine 
Kirchendisciplin,  sie  notiren  keine  *casus>  und  referiren  nichts  an 
den  Superintendenten,  weil  sie  dazu  nicht  angehalten  werden  und 
an  ihm  keine  Hilfe  finden. 

Da  der  König  auch  Rath  zu  geben  aufgetragen  hat,  so 
werden  folgende  Propositionen  gemacht: 

1)  Zum  Unterhalt  der  Kirchen,  Schulen  und  Hospitäler  soll 
der  Zehnte  wieder  gezahlt  werden.  Von  demselben  soll  ein  Theil 
den  Geistlichen  gegeben,  der  andere  für  Kirchen,  Schulen,  Gymna- 
sien, Capitularen  und  den  Superintendenten,  die  Hospitäler  und 
Armen  und  zum  Kirchenbau  verwandt  werden. 

2)  Es  giebt  Kirch-,  Pfarr-  und  Küsterhöfe. 

Der  Pfarrer  soll  wenigstens  einen  Haken  Landes  Acker  (10 
oder  12  Tonnen  Land)  jedes  Jahr  besäen  und  den  dazu  nöthigen 
Wiesen-  und  Waldbestand  haben  ;  der  ^Küster  soll  wenigstens  ein 
Viertel  Haken  (2  oder  3  Tonnen)  und  etwas  Heuschlag  haben, 
eben  so  schatzfrei  wie  der  Pfarrer.  Wo  kein  (Pfarr-)  Hof  oder  nur 
ein  sehr  kleiner  ist,  da  müssen  die  Kirchspielsangehörigen  so  viel 
dazu  legen,  dass  der  Pfarrer  und  Küster  davon  leben  können.  Die 
Kirchenvormünder  sollen  das  Debet  und  Credit  feststellen,  bis  die 
Revisoren  des  Königs  kommen.  Die  Pröpste  sollen  bei  den  Kirchen 
einen  Kirchenrath  *  einsetzen,  der  die  Vormünder  mit  Rath  und 
That  zu  unterstützen  hat.  Die  abgöttischen  Bräuche  sollen  durch 
Unterricht,  die  heiligen  Wälder  mit  Hilfe  der  Gouverneure,  Vögte 
und  Statthalter  zerstört  werden ;  eben  so  die  Laster  der  Hurerei, 
Völlerei  &c.    Wenn  man  die  Todten  ohne  Pastor  ausserhalb  der 

*  Darunter  ist  die  Inspektionsreise  X.  Gazas  nach  Ingermanland  geineint, 
wovon  wir  bereits  gehandelt. 

1  Wol  unser  Kirchenconvent, 


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58« 


Bisehof  Radbeck. 


Kirchhöfe  begräbt,  so  unterliegt  man  nach  Dubberchs  Urtbeil  einer 
Strafe  von  10  Mark  Schw.,  für  zweimaliges  Uebertreten  von  10 
Thalern  und  hernach  öffentlicher  Pönitenz  oder  Excommuuieation. 
Der  Adel  soll  den  Bauern  Zeit  zum  Besuch  der  Kirche  an  Sonn- 
und  Feiertagen  gewähren  und  seine  Leute  zum  Gehorsam  gegen 
die  Prediger  anhalten,  wenn  er  hier  auf  Erden  Gottes  Gnade 
haben  will. 

Zur  Herstellung  eines  Kirchenregiments  ist  ein  Bischof  oder 
-  Superintendent  mit  dienstlicher  Vollmacht  und  Instruction  einzu- 
setzen und  ihm  ein  Consistorium  ccclesiasticum  zur  Hilfe  zu  geben. 
Doch  das  ist  des  Köuigs  Sache,  wir  können  nur  folgendes  fest- 
stellen :  Es  darf  sich  niemand  gegenüber  den  Priestern  auf  dem 
Lande  zum  Superintendenten  aufspielen ;  nur  der,  welchen  die 
«christliche  Kirche >  (Gudsförsamling,  seil,  in  Schweden)  und  S. 
K.  M.  hier  auf  dem  Dom  als  Superintendenten  anerkennt,  anerkannt 
hat  oder  anerkenuen  wird. 

Die  Pröpste  sind  eingesetzt  für  alle  vier  Kreise  und  sie  sollen 
am  lösten  im  Winter  nach  Marine  jmrificatio  (2.  Febr.)  oder  im 
Sommer,  im  Juni,  ihre  Präposituren  visitiren,  wofür  sie  eine  Tonne 
Saatkorn  und  3  Thaler  Schw.  erhalten  ;  dasselbe  erhält  der  Super- 
intendent, welcher  in  5  -  G  Wochen  alle  Präpositureu  zu  visitiren  hat. 

Die  Pröpste  sollen  zweimal  jährlich  mit  dem  Superintendenten 
auf  dem  Dom  zusammenkommen  (am  14.  Febr.  und  14.  Juni),  mit 
ihm  die  Predigtamtscandidaten  examiniren  und  resp.  ordiniren  und 
die  Kirchenangelegenheiten  berathen.  Sie  sollen  für  diese  Muhe 
etwas  erhalten,  bis  das  Consistorium  darüber  genauer  bestimmt  hat. 

4)  soll  auch  einmal  jährlich,  vom  17.— 20.  Febr.  (incl.)  eine 
Synode  abgehalten  werden,  wo  alle  Landpfarrer  zu  erscheinen  und 
abwechselnd  {per  vices)  Predigten  und  lateinische  Orationes  über 
die  Glaubensartikel  am  Vormittag  zu  halten  haben ;  am  Nachmittag 
aber  sollen  sie  die  «Casus  angeben  »  (casus  angifva),  welche  sich 
mittlerweile  zugetragen  haben,  und  sich  hierbei  bei  den  Pröpsten 
und  dem  Superintendenten  Raths  erholen,  wie  in  anderen  Orten 
geschieht.  Und  zwar  soll  man  beginnen  mit  Wirlaud  und  dann 
zu  Jerwen,  Wiek  und  Harrien  übergehen. 

5)  soll  von  nun  ab  niemand  hier  zu  Lande  mehr  zum  Predigt- 
amt, verordnet  werden,  welcher  nicht  seine  *locos  Theologkos»  und 
andere  noth wendige  Sachen  «so  ziemlich»  (sie)  studirt  hat  und  in 
der  estnischen  Sprache  so  bewaudert  ist,  dass  er  vorher  in  der 
Domkirche  seine  Probepredigt  halten  kann. 


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Bischof  Rudbeck. 


587 


Zum  Schluss  wird  den  Predigern  anbefohlen,  dass  sie  von 
nun  ab  etwas  besser  auf  die  Disciplin  unter  ihren  Gemeindegliedern 
achten  und  genauer  die  Casus,  welche  sich  in  ihren  Gemeinden 
zugetragen,  aufschreiben  und  an  den  Propst  oder  Superintendenten, 
unter  welchen  sie  competiren,  einsenden  möchten.  «Darauf  sollen 
die  Superintendenten  und  die  Pröpste  genaue  Aufsicht  halten.» 
<  Auch  sollen  sie  ihre  Kirchendisciplin  moderiren  nach  der  schwedi- 
schen Kirchenordnung  und  deren  kurzem  Extract,  welcher  auf  der 
jetzigen  Synode  (i  välholna  Synodo)  verlesen  und,  so  weit  es  an- 
ging, angenommen  worden  ist.  Dies  {seil,  den  ganzen  Beschluss) 
sollen  sich  alle  ausschreiben  und  in  ihre  gewöhnliche  Sprache  über- 
tragen lassen.  Der,  welcher  sich  hiergegen  vergeht  und  zuwider- 
handelt, ehe  S.  K.  M.  selbst  hieran  etwas  verändert  hat,  soll  für 
einen  Verächter  alles  Guten  und  eiuen  Verbrecher  an  den  könig- 
lichen Gesetzen  gehalten  und  darnach  bestraft  werden.» 

Dieser  sog.  «Beschluss»  der  Predigersynode  war  ein  Resultat 
der  Berathungeu  zwischen  den  Commissaren  uud  Landpastoren. 
Eigentliche  Beschlüsse  haben  letztere  nur  selten  gefasst,  sondern 
die  meisten  darin  enthaltenen  Bestimmungen  entflossen  der  Willens- 
meinung des  Bischofs.  Wenn  er  ihnen  die  Bezeichnung  «Pro- 
positionen» gab,  so  dachte  er  an  den  Art.  21  seiner  Instruction, 
welcher  dem  Könige  das  Recht  der  Revision  und  Confirmation  vor- 
behielt. Aber  auch  davon  abgesehen,  verdienten  seine  Festsetzungen 
nur  den  Titel  von  «Propositionen»  auch  aus  einem  anderen  Grunde; 
denn  gleichviel,  ob  die  Instruction  es  ausdrücklich  betonte  oder 
nicht,  bei  der  Fuudation  der  Pfarreinkünfte  hatte  der  Adel  ein 
sehr  gewichtiges  Wort  mitzusprechen.  Ehe  wir  darauf  eingehen, 
habeu  wir  die  Thatsache  des  auffälligen  Fernbleibens  der  revaler 
Stadtgeistlichkeit  von  den  Synodal  Verhandlungen  zu  erklären,  und 
das  führt  uus  auf  den  Couflict  zwischen  Bischof  und  Stadt- 
consistorium  zurück. 

T.  Christiani. 


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Die  sibirisch-uralische  Ausstellung  in  Jekaterinburg. 


m  14.  Juni  d.  J.  fand  durch  den  Ehrenpräsidenten,  Se.  Kais. 
Hoheit  den  Grossfürsten  Michael  Nikolajewitsch,  die  feier- 
liche Eröffnung  der  sibirisch  -  uralischen  wissenschaftlichen  und 
industriellen  Ausstellung  statt,  die  von  grosser  Tragweite  für  die 
fernere  industrielle  Entwicklung  Ostrusslands  zu  werden  ver- 
spricht. Bekanntlich  haben  im  letzten  Jahrzehnt  fast  alle  industriel- 
len Unternehmungen  Ostrusslands  eine  recht  schwere  Krisis  zu 
bestehen  gehabt,  die  auch  augenblicklich  noch  nicht  ganz  beseitigt 
ist,  und  hauptsächlich  sind  es  die  Montanunternehmungen,  die  dar- 
unter leiden.  Da  tauchte  im  Schosse  der  Gesellschaft:  cYpajibCKoe 
oömecTBo  aioÖHTe-iefl  ecTecTBoanaHia»  schon  im  Jahre  1884  der 
Gedanke  auf,  eine  Ausstellung  zu  veranstalten.  Dieser  Verein 
hatte  bisher  wenig  von  sich  reden  gemacht,  dafür  aber  in  aller 
Stille  fleissig  gearbeitet,  den  Ural  nach  möglichst  vielen  Richtungen 
zu  erforschen  versucht  und  ein  kolossales  wissenschaftliches  Material 
angesammelt  ;  dieses  musste  untergebracht  und  geordnet  werden ; 
die  vorhandenen  Räumlichkeiten  und  Mittel  erwiesen  sich  aber 
als  unzureichend,  und  so  hielt  die  Gesellschaft  an  der  Idee  einer 
Ausstellung  zähe  fest,  da  sie  darin  die  einzige  Möglichkeit  sah, 
um  sich  die  nöthigen  Mittel  zu  verschaffen  und  andererseits  eine 
mächtige  Hebeikraft  zur  Beseitigung  der  montanen  Krisis.  Das 
lebhafteste  Interesse,  das  von  allen  Seiten  diesem  Plan  gegenüber 
sich  kund  that,  setzte  die  Gesellschaft  in  den  Stand,  ihr  anfänglich 


« 


Die  sibirisch-uralische  Ausstellung  in  Jekateriuburg.  589 


aufgestelltes  Programm  bedeutend  zu  erweitern ;  und  als  sich  auch 
die  Regierung  für  die  Ausstellung  zu  interessiren  begann  und  eine 
beträchtliche  Summe  zur  Unterstützung  bestimmt  hatte,  so  gewann 
die  Ausstellung  an  Bedeutung  für  das  ganze  Reich.  In  glänzender 
Weise  will  sie  dem  Publicum  darlegen,  dass  der  Ural  und  Sibirien, 
die  im  Westen  mehr  oder  weniger  als  terra  incognita  gelten,  auch 
Wissenschaft,  Kunst  und  Industrie  besitzen  und  durchaus  nicht 
aller  Cultur  baar  sind.  Wenn  die  industriellen  Unternehmungen 
sich  mit  denen  anderer  Länder  auch  nicht  in  jeder  Beziehung  messen 
können,  so  haben  sie  wenigstens  die  Aufmerksamkeit  derselben 
erregt,  und  zwar  sind  es  hauptsächlich  die  Montanwerke,  welche 
Engländer  und  Amerikaner  bewogen  haben,  Specialisten  und  Corre- 
spondenten  zu  dieser  Ausstellung  abzuschicken.  Und  wahrlich,  die 
Abtheilung  für  Hüttenkunde  und  Montanunternehmung  bildet  den 
Glanzpunkt  der  ganzen  Ausstellung,  hier  finden  sich  die  gross- 
artigsten Vitrinen,  und  hier  zeigt  sich  der  unermessliche  Reichthum, 
den  der  Ural  und  Sibirien  bergen  und  der  nur  zum  geringen 
Theil  bisher  ausgebeutet  wird  ;  nächstdem  ist  entschieden  die  Ab- 
Uieilung  für  Hausindustrie  von  Wichtigkeit,  die  in  einzelnen  Zweigen 
gerade  hier  im  Ural  sich  ganz  eigenartig  entwickelt  hat.  Doch 
gehen  wir  an  eine  systematische  Betrachtung  des  Ganzen. 

Der  frühere  alte  Münzhof  ist  in  eine  hübsche  Anlage  umge- 
wandelt, in  der  sich  mehrere  Pavillons  befinden,  und  die  Ver- 
waltung der  Tjumener  Eisenbahn  hat  ihre  Räumlichkeiten  dem  Aus- 
stellungscomite  zur  Verfügung  gestellt ;  ein  Entgegenkommen,  ohne 
welches  es  unmöglich  gewesen  wäre,  die  Ausstellung  in  dieser 
Ausdehnung  zu  veranstalten  und  mehr  als  4000  Exponenten  unter- 
zubringen. —  Die  Ausstellung  umfasst  11  Hauptabtheilungen,  von 
denen  jede  wieder  in  mehrere  Unterabtheilungen  und  Gruppen  zer- 
fällt. Die  Hauptabtheilungen  sind:  1)  die  naturhistorische,  2)  die 
geographische,  3)  die  anthropologisch-ethnographische  und  archäolo- 
gische Abtheilung,  4)  die  Abtheilung  für  Montanunternehmungen 
und  Hüttenkunde  des  Ural,  5)  die  Abtheilung  für  Gross-  und  Klein- 
gewerbe, 6)  die  Abtheiluug  für  Hausindustrie,  7)  die  Abtheilung 
für  Land-  und  Forstwirtschaft,  Gartenbau,  Jagd  und  Fischfang, 
8)  die  Abtheilung  für  importirte  Waaren,  9)  die  Kunstabtheilung, 
10)  die  speciell  sibirische  Abtheilung  und  11)  die  Abtheilung  fürs 
Lehrfach. 

Wir  beginnen  unsere  Betrachtung  mit  dem  Museum  der  hiesi- 
gen uralischen  Gesellschaft  von  Freunden  der  Naturwissenschaften, 


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590     Die  sibiriseh-uralische  Ausstellung  in  .Tekaterinburg. 


steigen  die  mit  gewaltigen  Stosszähnen  des  Mammutbs  eigenartig 
geschmückte  Treppe  hinan  und  begeben  uns  in  den  Saal  der  natur- 
historischen Abtheilung.  Hier  erblicken  wir  zuerst,  wie  es  sich 
auch  im  Ural  gar  nicht  anders  erwarten  lässt,  in  der  Unter- 
abtheilung für  Mineralogie  prachtvolle  Mineraliensammlungen,  von 
,  denen  die  eine  die  andere  bald  durch  die  Grösse  -  der  seltenen 
Mineralstufen,  bald  durch  die  Mannigfaltigkeit  der  Arten  zu  über- 
treffen sucht.  Auf  einem  Tische  finden  wir  z.  B.  gewaltige  Malachit- 
blöcke, von  denen  einer  auf  500  Rbl.  geschätzt  ist,  und  weiter- 
gehend wird  unsere  Aufmerksamkeit  von  einigen  Edelsteinen  seltener 
Grösse  gefesselt :  aus  Mursinsk  (ö7»  40'  N.  B.  u.  30°  37*  O  L.  von 
Pulkowa),  einem  Hauptfundorte  der  Edelsteine,  ist  z.  B.  ein  etwas 
grünlicher  Beryll  von  1 25  Millimeter  Länge  im  Gewicht  von  l  Pfd. 
4  Sol.  und  34  Doli  ausgestellt,  dessen  Werth  auf  2000  Rbl.  be- 
rechnet wird  ;  danebeu  liegen  riesige  Edeltopase,  auf  400  -500  Rbl. 
geschätzt  &c. ;  es  würde  hier  zu  weit  führen,  alle  Raritäten  zu  be- 
schreiben, da  sich  deren  etliche  in  jeder  Mineraliensammlung  finden, 
und  ausgestellt  sind  18  Mineraliensammlungen,  welche  theils  Museen, 
theils  Privaten,  theils  verschiedenen  Hüttenwerken  gehören.  Pro 
fessor  Muschketow  aus  dem  St.  Petersburger  Berginstitut  hat  eine 
sehr  interessante  Sammlung  von  Steinen,  welche  speciell  dem  Altai 
angehören  und  dort  zu  den  verschiedensten  Gegenständen  verarbeitet 
werden,  geliefert.  Erwähnt  sei  noch  eine  Reliefdarstellung  des 
mittleren  Ural,  welche  aus  den  am  Orte  gefundenen  Miueralieu 
derart  zusammengesetzt  war,  dass  die  charakteristischen  Arten  der- 
selben zur  Reliefarbeit  verwandt  waren  ;  dieses  Stück,  die  Arbeit 
des  hiesigen  Edelsteinhändlers  Kalugin.  zierte  die  Ausstellung  in 
den  ersten  Wochen  ;  von  der  Stadt  wurde  es  Sr.  Kais.  Hoheit  dem 
Grossfürsten  Michael  als  Geschenk  dargebracht  und  bei  der  Ab- 
reise Sr.  Hoheit  mit  nach  Petersburg  genommen. 

In  der  Unterabtheilung  für  Geologie  und  Paläontologie  zeichnen 
sich  die  Sammlungen  des  Museums  aus,  die  von  dem  Bergingenieur 
Gebauer  aus  Kamenski  ausgestellte  Sammlung  von  Pflanzen- 
abdrücken der  Steinkohlenformation  des  Ural  und  die  Sammlungen 
des  geologischen  Comit6  zu  St.  Petersburg.  Das  hiesige  Museum 
befindet  sich  hier  auch  gerade  an  der  Quelle  vorhistorischer  Funde: 
in  den  Seifenlagern  der  Goldwäschereien  finden  sich  nämlich  sehr 
häufig  mehr  oder  weniger  gut  erhaltene  Theile  vorhistorischer 
Thiere,  ausser  dem  Mammuth  (Eichas  primigenius)  noch  Rhinocc- 
ros  tichorhinus,  Cervus  megacerus  und  anderer;  das  Skelett  des 


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Die  sibiriseh-uralische  Ausstellung  in  Jekaterinburg.  591 


letzteren  ist  fast  unversehrt  und  wurde  im  vorigen  Jahre  iu  der 
Nähe  von  Kamyschlow  gefunden.  —  Die  Unterabtheilung  für 
Botanik  ist  am  schwächsten  besetzt  ■  ausser  einigen  Herbarien  — 
darunter  nur  ein  forstwissenschaftliches  —  uud  einigen  botauischen 
Werken  ist  hier  nichts  Interessantes,  es  sei  denn,  dass  man  einige 
in  den  Anlagen  angebrachte  Pflanzengruppen  aus  Sibirien,  der 
Mandschurei,  Daurien,  dem  Amurgebiete  &c.  hierher  rechnet,  die 
hier  in  die  ihnen  nicht  ganz  richtig  zukommende  Abtheilung  des 
Gartenbaues  hineingerathen  sind.  Dagegen  bietet  die  Unterabtheilung 
für  Zoologie  reiches  Material  dar ;  auch  hier  zeichnen  sich  wieder 
die  Sammlungen  des  hiesigen  Museums  aus :  die  Collection  der 
Säugethiere  Ostrusslands,  speciell  des  permschen  Gouvernements 
ist  sehr  vollständig,  desgleichen  auch  die  der  Vögel  Sämmtliche 
Präparate  sind  gut  und  naturgetreu  von  dem  Conservator  des  hie- 
sigen Museums,  Herrn  Hackel,  ausgeführt.  Auch  die  Zusammen- 
stellung einiger  Repräsentanten  der  Diluvialzeit  mit  den  Thieren 
der  Jetztzeit  ist  sehr  gelungen  und  der  Contrast  daher  ein  in  die 
Augen  springender.  Eine  hübsche  Zierde  der  zoologischen  Unter- 
abteilung bildet  auch  die  Sammlung  von  Geweihen,  mit  denen  die 
Wände  sehr  geschmackvoll  decorirt  sind.  Die  Eier-  und  Nester- 
sammlungen des  Museums  sind  nicht  so  vollständig,  doch  immer 
recht  gut ;  auch  diese  letzteren  sind  von  dem  Conservator  des 
Museums  angelegt.  Die  niedere  Thierwelt  hat  gleichfalls  ihre 
Vertreter.  Ausserdem  sind  noch  von  vielen  Privatpersonen  ausge- 
stopfte Exemplare  der  Thierwelt  ausgestellt  und  grösstentheils  dem 
Museum  geschenkt.  Als  in  diese  Abtheilung  gehörig  können  auch 
die  lebenden  jungen  Wölfe,  Füchse  und  Raubvögel  betrachtet 
werden,  die  draussen  in  den  Anlagen  untergebracht  sind  und  dort 
ihr  munteres  Wesen  treiben. 

Wir  verlassen  den  Saal  der  ersten  Hauptabtheilung  und  gehen, 
vorüber  an  einem  mächtigen  Exemplar  eines  im  Ural  geschossenen 
braunen  Bären  (Ursus  arctos.  L.),  der  uns  vergeblich  seine  Tatzen 
nachstreckt,  in  den  zweiten  Saal,  in  dem  die  beiden  folgenden 
Hauptabtheilungen,  nämlich  die  geographische  und  die  anthropolo- 
gisch-ethnographische und  archäologische,  untergebracht  sind.  In 
der  Geographie  ist  hauptsächlich  auf  den  Ural  und  Sibirien  Rück- 
sicht genommen,  und  wir  finden  hier  ganze  Bibliotheken  aufge- 
stapelt, die  alles  enthalten,  was  überhaupt  über  den  Ural  und 
Sibirien  jemals  veröffentlicht  worden  ist ;  ja,  manches  liegt  noch 
iu  den  Kisten  verpackt,  weil  es  wegen  Mangels  an  Raum  nicht 


592     Die  sibirisch-u nilische  Ausstellung  in  Jekateriuburg: 


bat  ausgestellt  werden  können.  Sehr  reichhaltig  ist  auch  die  karto- 
graphische Unterabtheilung,  nicht  so  sehr  die  statistische  ;  beide 
nehmen  gleichfalls  auf  den  Osten  Russlands  und  ganz  Sibirien 
Rücksicht.  Dasselbe  ist  auch  in  der  anthropologiseh-ethuographi- 
sehen  und  archäologischen  Abtheilung  der  Fall.  Wir  finden  hier 
Schädel  und  Skelette,  Zeichnungen  und  photographische  Aufnahmen 
der  verschiedensten  Völker  Ostrusslands  und  Sibiriens  in  Bezug 
auf  Wohnung,  Lebensweise,  Kleidung,  Nahrung  &c.  Die  Kais. 
Kasansche  Universität  hat  ihr  gesammtes  wissenschaftliches  Material 
auf  diesem  Gebiete  herübergesandt,  leider  liegt  aber  auch  hier 
vieles  wieder  wegen  Mangels  an  Raum  noch  in  den  Kisten  verpackt. 
Auffallend  erscheint  es,  dass  von  so  vielen  Privatpersonen  so  gute 
archäologische  Sammlungen  ausgestellt  sind,  was  dadurch  zu  er- 
klären ist,  dass  in  diesem  und  .den  angrenzenden  Gouvernements 
noch  fortwährend  reiche  archäologische  Funde  gemacht  werden ; 
manche  dieser  Sammlungen  enthalten  noch  sehr  viel  unveröffent- 
lichtes Material  und  wären  daher  einem  Archäologen  von  grossem 
Interesse.  Höchst  reichhaltig  und  interessant  ist  auch  die  Kostüm 
künde  der  uralischen  und  sibirischen  Völkerschaften.  Etwas  durch- 
einandergeworfen und  nicht  ganz  gut  geordnet  finden  wir  hier  die 
Werk-  und  Festtagskostüme  der  Baschkiren,  Kirgisen,  Wotjaken, 
Tscheremissen,  Permjaken,  Wogulen,  Samojeden,  Tungusen,  Jakuten, 
Burjaten,  Ostjaken,  Chinesen,  Japanesen  &c.  &c,  daneben  hängen 
oder  liegen  ihre  Waffen  und  die  verschiedensten  Geräthe,  so  dass 
man  sich  aus  diesem  gegebenen  Material  ein  sehr  gutes  Bild  jeder 
dieser  Völkerschaften  construiren  kann.  Wir  statten  unseren  Be- 
such auch  den  Vertretern  der  verschiedenen  Eingeborenen  ab,  die 
auf  directe  Aufforderung  hierher  auf  die  Ausstellung  übergesiedelt 
sind.  Angekommen  sind  bis  jetzt  von  den  erwarteten  Völker- 
schaften :  Kirgisen,  Baschkiren,  Ostjaken,  Samojeden,  Wogulen, 
Tscheremissen  und  Permjaken;  andere  treffen  vielleicht  noch  ein. 

In  einer  etwa  drei  Faden  im  Durchmesser  fassenden  runden 
Filzjurte  sitzt  der  Kirgise  Wali  Bajembajew  in  einem  grünseidenen 
Festtagschalat  auf  Teppichen  mit  untergeschlagenen  Beinen  vor 
einem  niedrigen  Tischchen,  dem  eintretenden  Publicum  seinen  Kumys 
anpreisend;  wir  lassen  uns  von  diesem  uns  etwas  fremdartig  munden- 
den säuerlichen  Getränk  eine  Schale  reichen,  bei  welcher  Gelegen- 
heit uns  Wali  auch  eine  nähere  Erläuterung  über  das  Innere  seiner 
Jurte  giebt  und  uns  die  an  den  Wänden  hängenden  Kleidungsstücke 
und  Gerätschaften  zeigt.    Wali  stammt  aus  dem  orenburgschen 


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Die  sibirisch-uralische  Ausstellung  in  Jekaterinburg.  593 

Gouvernement,  spricht  ganz  gut  russisch  und  ist.  wie  er  uns  er- 
zählt, noch  nicht  verheiratet ;  seinem  zukünftigen  Schwiegervater 
habe  er  schon  viele  Pferde  gestellt,  könne  aber  die  Tochter  noch 
immer  nicht  zur  Frau  erhalten,  da  man  mehr  von  ihm  verlangt ; 
er  werde  ihm  aber  keine  mehr  geben,  sondern  die  Tochter  einfach 
nach  Kirgisenart  entführen,  und  der  Schwiegervater  werde  sich 
bald  darein  finden.  —  Wir  treten  darauf  in  die  nebenan  stehende 
Baschkirenjurte,  in  der  es  bei  weitem  nicht  so  sauber  aussieht  ; 
Teppiche  decken  allerdings  auch  hier  den  Boden,  alles  hat  aber 
einen  ärmeren  Anstrich  und  die  Kleidung  ist  etwas  schmutzig ;  in 
der  Lebensweise  stimmen  die  Baschkiren  mit  den  Kirgisen  überein.— 
Die  Jurte  des  Ostjaken  ist  sehr  primitiv :  kegelförmig  zusammen- 
gestellte Stangen  sind  von  zusammengenähter  Birkenrinde  umgeben, 
der  Fussboden  nur  mit  einigen  Brettern  bedeckt,  auf  denen  Felle 
liegen,  die  zugleich  als  Nachtlager  dienen ;  in  solchem  Zelte  ver- 
bringt er  auch  den  Winter,  nur  wird  dasselbe  hoch  mit  Schnee 
bedeckt  und  oben  allein  bleibt  eine  kleine  Oeffnung ;  neben  dem 
Zelte  liegt  ein  kleines  Boot,  das  von  einigen  am  Boote  angeketteten 
Hunden  bewacht  wird.   Der  üstjake  ist  noch  Heide  und  trägt  als 
Abzeichen  dessen  einen  Ring  in  seinen  geflochtenen  Haaren;  in 
den  nächsten  Tagen  soll  übrigens  eine  feierliche  Taufe  stattfinden, 
da  er  sich  bereit  erklärt  hat,  die  Orthodoxie  anzunehmen.  —  Der 
Samojede  steht  auf  einer  etwas  höheren  Stufe  der  Cultur ;  sein  Zelt 
besteht  aus  Seehundsfellen,  ist  aber  sonst  ganz  wie  das  des  Ostjaken 
gebaut ;  auch  im  Inneren  sieht  es  etwas  ordentlicher  und  sauberer 
aus,  wenn  man  hier  überhaupt  von  Sauberkeit  sprechen  darf  ;  eine 
kleine  Renthierheerde  bildet  sein  Eigenthum ;  jeden  Sonnabend 
findet  auf  dem  Ausstellungsplatze  und  in  den  Anlagen  eine  sog. 
Promenade  (rvaaiibe)  statt,  dann  zieht  der  Samojede  seinen  Pelz 
an,  spannt  die  Renthiere  vor  einen  kleinen  leichten  Schlitten  und 
fährt  einmal  um  den  Ausstellungsplatz  herum,  so  dass  der  Staub 
emporwirbelt,  die  Thiere  nur  mit  einem  langen  Stabe  lenkend. 
Die  Unterhaltung  mit  diesen  beiden  Eingeborenen  ist  sehr  schwierig, 
da  sie  fast  gar  kein  Russisch  sprechen,  nur  mit  Hilfe  eines 
Dolmetschers  verständigt  man  sich  mit  ihnen.    Es  sind  hier  zwei 
Ostjaken,  und  das  Interessante  dabei  ist,  dass  sie  sich  auch  gegen- 
seitig nicht  verständigen  können  und  nur  durch  Pantomimen  alles 
andeuten.  —  Gegenüber  der  Samojedenjurte  befindet  sich  eine  aus 
Brettern  und  Birkenrinde  bestehende  kleine,  kaum  vier  Fuss  hohe 
Hütte :  es  ist  die  Sommerwohnung  einer  Wogulenfamilie,  wie  sie 


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594     Die  sibirisch-uralische  Ausstellung  in  Jekaterinburg. 


dieselben  an  den  Ufern  der  Flüsse  für  die  kurze  Sommerzeit  er- 
richten, um  zu  jagen  und  zu  fischen ;  daneben  sehen  wir  auch 
Netze  und  verschiedene  andere  Geräthe  zum  Fischfang  ausgestellt ; 
an  einem  Pfosten  hängt  ein  Feuersteingewehr  primitivster  Con- 
struction,  das  aber  so  manches  Stück  Wild  erlegt  und  die  Familie 
bis  hierzu  ernährt  und  gekleidet  hat.  Der  Wogule  spricht  ein 
wenig  russisch,  so  dass  man  sich  mit  ihm  besser  verständigen  kann ; 
er  erzählt  uns,  dass  er  aus  der  Gegend  von  Obdorsk  zu  Hause 
sei,  und  dass  dort  auch  mehrere  Russen  Goldwäschereien  besitzen ; 
die  Wogulen  selbst  aber  verstehen  nicht  das  Gold  aus  dem  Sande 
zu  waschen  ;  der  Krone  leisten  sie  jährlich  einen  Tribut,  der  haupt- 
sächlich in  Fellen  von  Zobeln  und  Eichhörnchen  besteht.  Für  den 
Winter  ziehen  sie  sich  in  die  Dörfer  zurück,  müssen  aber  den 
Sommer  über  so  viel  jagen  und  fischen,  dass  sie  im  Winter  keinen 
Mangel  leiden.  In  der  letzten  Zeit  sterben  sie  sehr  stark  aus. 
—  Die  Tscheremissen  und  Permjaken  sind  des  Russischen  ganz 
mächtig;  sie  stehen  auf  einer  bedeutend  höheren  Stufe  der  Cultur 
als  die  eben  genannten  Wogulen ;  der  Tscheremisse  hat  sogar  eine 
für  seine  Verhältnisse  sehr  gute  Schulbildung,  da  er  zu  lesen  und 
zu  schreiben  versteht. 

Wir  wenden  uns  jetzt  der  vierten  Hauptabtheilung,  der  für 
Montanunternehmungen  und  Hüttenindustrie  zu.  Dasselbe  Gefühl, 
das  einen  beim  Hinabsteigen  in  einen  tiefen,  finsteren  Schacht  be- 
schleicht, empfindet  man  auch  hier  beim  Betreten  dieser  etwas 
finsteren  Hallen  des  Gnomenreiches;  unheimlich  hohe  Säulen  aus 
Eisen  ragen  bis  zur  Decke  empor  und  tragen  entweder  ein  ge- 
waltiges Eisendach  oder  verzweigen  sich  oben  fächerförmig ;  man  ist 
einigermassen  in  Verlegenheit,  was  man  denn  eigentlich  in  dieser 
grandiosen  Abtheilung  zuerst  betrachten  soll ;  ein  räthselhaftes 
Dröhnen  und  Knirschen  vernimmt  man  im  Hintergrunde,  was  den 
ganzen  Eindruck  noch  erhöht.  Nachdem  wir  die  Hallen  zuerst 
einigemal  auf-  und  abgegangen  sind,  um  uns  einen,  wenn  auch  zu- 
nächst nur  flüchtigen  Ueberbiick  zu  verschaffen,  beginnen  wir 
eine  etwas  systematischere  Betrachtung.  —  Gold  ist  hier  ja  das 
gewöhnliche  Tagesgespräch,  daher  sind  wol  auch  in  dieser  Ab- 
theilung die  Goldwäschereien  an  die  Spitze  gestellt;  nicht  alle 
haben  die  Ausstellung  beschickt,  das  Vorhandene  genügt  aber  voll- 
kommen, um  einen  vollen  Einblick  in  die  Goldproduction  im  Ural 
zu  gewähren.  Durch  pompöse  Ausstattung  zeichnet  sich  die  Vitrine 
der  bekannten  Beresowskschen  Goldwäschereien  aus,  Astaschew 


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Die  sibirisch-uralische  Ausstellung  in  Jekaterinburg.  595 


&  Comp,  gehörig :  wir  finden  hier  ein  Modell  des  ganzen  Etablisse- 
ments und  eine  Reliefdarstellung  von  Beresowsk  und  der  nahe  an- 
grenzenden Goldwäscherei  von  Pyschminsk  ausgestellt,  ausserdem 
Exemplare  goldhaltigen  Quarzes  und  goldhaltigen  Sand.  Auf 
Quarzgold  wird  daselbst  das  ganze  Jahr  hindurch  gearbeitet,  und 
die  Ausbeute  betrug  im  letzten  Jahre  aus  697000  Pud  Quarz 
17 &  Pud  Gold;  aus  den  Seifenlagern  wurden  22  Pud  Gold  aus- 
gewaschen, und  zwar  wird  auf  Seifengold  nur  von  Mitte  Mai  bis 
zum  October  gearbeitet;  in  diesen  Monaten  beschäftigt  die  Fabrik 
im  ganzen  1790  Menschen.  —  An  der  etwas  weniger  reichhaltigen 
Vitrine  von  Wassilewski  aus  dem  orenburgschen  Gouv.,  in  der  wir 
auch  eine  Sammlung  von  in  Seifenlagern  gefundenen  Gegenständen 
aus  dem  Stein-  und  Bronzezeitalter  finden,  und  einigen  verbesserten 
und  neu  erfundenen  Apparaten  für  die  Goldwäschereien  vorüber 
wenden  wir  uns  den  in  vollem  Gange  befindlichen  Quarzraühlen 
normaler  Grösse  Ssimanows  und  der  Gebrüder  Podwinzew  zu, 
jenen  Urhebern  des  vorhin  erwähuten  räthselhaften  Geräusches. 
Die  Modelle  beider  orenburgschen  Etablissements  sind  fast  ganz 
übereinstimmend.  Wir  sehen  hier  zwei  mächtige  in  verticaler 
Richtung  im  Kreise  um  ihre  Achse  parallel  sich  drehende,  iu  einem 
grossen  eisernen  Gefässe  befindliche  Mühlsteine  (Ö-ferynu),  die  den 
am  Boden  des  Gefässes  befindlichen  goldhaltigen  Quarz  zu  feinem 
Sande  zermahlen  ;  auf  diesen  zermahlenen  Saud  ergiesst  sich  ein 
Wasserstrahl,  der  den  Sand  über  die  amalgamirten  Platten  des 
Waschherdes  leitet,  so  dass  die  im  Sande  befindlichen  Goldpartikel 
sich  auf  die  amalgamirte  Fläche  in  Folge  ihres  schwereren  specifi- 
schen  Gewichtes  niedersetzen  und  dort  vom  Quecksilber  aufgelöst 
werden  ;  einmal  wöchentlich  werden  die  amalgamirten  Platten  ge- 
wechselt und  das  Gold  wird  dann  aus  diesem  Amalgam  durch  Ver- 
dampfen des  Quecksilbers  gewonnen.  Um  einen  vollständigen  Ein- 
blick in  die  Goldproduction  zu  geben,  ist  von  Ssimanow,  der  jähr- 
lich 9'/i  Pud  Quarzgold  gewinnt,  auch  ein  Schacht  mit  einigen 
Stollengängen  aus  goldhaltigem  Quarz  erbaut,  in  den  wir  uns  hinab- 
begeben :  das  Innere  stellt  einen  regelrechten  Schacht  dar,  wie  er 
überall  sich  im  Ural  findet,  wo  Quarzgold  verarbeitet  wird ;  der 
aus  solchen  Schachten  zu  Tage  geförderte  Quarz  kommt  dann  in 
die  geschilderte  Quarzmühle.  Der  Unterschied  zwischen  einem 
natürlichen  Schacht  und  dem  hier  künstlich  erbauten  ist  nur  der, 
dass  man  hier  etwas  bequemer  hinabsteigen  kann  und  keine  Ströme 
Wassers  auf  den  Nacken  bekommt,  wie  es   in  den  wirklichen 


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596     Die  sibirisch-nralische  Ausstellung  in  .Tekaterinburg. 


Schachten  der  Fall  ist.  Eine  getreue  Nachbildung  der  ganzen  An- 
lage im  Kleinen,  welche  auch  in  Gang  gesetzt  werden  kann,  ist 
von  dem  Exponenten  dem  hiesigen  Museum  geschenkt.  —  Von 
Wichtigkeit  für  die  Goldproduction  ist  die  von  dem  Goldwäscher 
Selenkow  aus  dem  Orenburgschen  zur  Anschauung  gebrachte 
Methode;  dieselbe  hat  hier  alle  Goldwäscher  stutzig  gemacht  und 
kann  noch  von  grosser  Tragweite  für  die  Goldindustrie  des  Ural 
werden  •  Selenkow  ist  nämlich  der  erste  Goldwäscher,  der  im  Ural 
den  Versuch  gemacht  hat,  aus  Ohloritschiefer  auf  chemischem  Wege 
das  Gold  auszuscheiden.  Schon  früher  hatte  man  hin  und  wieder 
im  Ohloritschiefer  Spuren  von  Gold  gefunden,  aber  in  so  fein  ver- 
theiltem  Zustande,  dass  das  specifische  Gewicht  der  Goldpartikel- 
chen beim  Waschen  gar  nicht  mehr  in  Betracht  kam,  dieselben 
sich  nicht  setzten  und  in  Folge  dessen  auf  keine  Weise  mit  dem 
Quecksilber  in  Verbindung  gebracht  werden  konnten.  Daher  hatte 
man  den  Ohloritschiefer  ganz  bei  Seite  geworfen,  den  Goldgehalt 
nicht  weiter  beachtet  und  überall  nur  auf  Quarzgold  gearbeitet. 
Durch  die  von  Selenkow  angewandte  Methode  zeigt  es  sich  jetzt 
aber,  dass  man  da  ungeheure  Reichthümer  liegen  gelassen  hat,  da 
er  auf  diese  Weise  im  Laufe  kaum  eines  halben  Jahres  mit  80 
Arbeitern  mehr  als  3  Pud  Gold  aus  Ohloritschiefer  gewonnen  hat.  — 
Die  hier  genannten  Etablissements  befassen  sich  nur  mit  der  Gold- 
wascherei,  während  mehrere  Hüttenwerke  dieselbe  gleichsam  neben- 
bei betreiben.  Die  Goldindustrie  im  Ural  nimmt  von  allen  Zweigen 
der  Montanunternehmungen  immer  noch  die  erste  Stelle  ein  :  über 
42000  Menschen  finden  durch  sie  ihre  Beschäftigung,  und  die 
Gesammtproduction  beträgt  in  der  letzten  Zeit  gegen  578  Pud 
jährlich,  d.  i.  gegen  13  Millionen  Rbl.  Metall.  Ueber  600  Fund- 
stätten werden  augenblicklich  bearbeitet,  von  denen  auf  das  perm- 
sche  Gouvernement  etwas  über  300  kommen  ;  der  Rest  entfällt  auf 
das  orenburgsche  Gouvernement.  Zu  bemerken  ist,  dass  auf  jeder 
Fundstätte  immer  mehrere  Gruben  oder  Schachte  existiren. 

Den  zweiten  Hauptzweig  der  Montanindustrie  bildet  die  Eisen- 
production,  wenngleich  nur  die  wenigsten  Hüttenwerke  ausgestellt 
haben.  Diejenigen  aber,  welche  es  gethan,  haben  alle  von  ihnen 
gehegten  Erwartungen  übertroffen.  Durch  die  Mittheilung  einiger 
allgemeiner  Daten,  die  sich  auf  die  gesammte  Eisenindustrie  im 
Ural  beziehen,  wird  man  besser  im  Stande  sein,  das  hier  Exponirte 
zu  beurtheilen.  Im  Ural  existiren  augenblicklich  für  Eisen  59 
Hüttenwerke  mit  103  Hochöfen,  die  zusammen  ca.  21  Millionen 


Die  sibirisch-uralische  Ausstellung  iu  Jekaterinburg.  597 

Pud  Roheisen  produciren  ;  davon  entfallen  etwa  18  Millionen  Pud 
auf  private  und  3  Millionen  Pud  auf  Kronshüttenwerke.  Sehen 
wir  zuerst  von  den  letzteren  ab,  deren  Production  in  den  vorher- 
gehenden Jahren  zwischen  2  und  3  Millionen  Pud  schwankt  und 
letztere  Ziffer  erst  in  den  letzten  Jahren  überschritten  hat,  so  be- 
wegt sich  die  gesammte  Jahresproduction  im  Ural  auf  den  privaten 
Eisenhütten  zwischen  folgenden  Zahlen:  von  1875—77  von  15  bis 
14  Millionen  Pud  und  zwar  in  fallender  Reihe,  von  1878—80 
zwischen  15  bis  16  Millionen  Pud  in  steigender  Reihe,  von  1881 
bis  1886  zwischen  15  und  18  Mill.  Pud  wieder  iu  steigender  Reihe. 
So  ungeheuer  diese  Zahlen  auch  erscheinen  mögen,  so  stellen  sie  doch 
nur  einen  geringen  Theil  des  Reichthums  dar,  der  im  Ural  noch  lin- 
ausgebeutet daliegt.  Nur  einige  Beispiele  mögen  genügen,  da  es  zu 
weit  führen  würde,  sich  über  die  unausgebeuteten  Reichthümer  im 
Ural  zu  ergehen.  Bei  Nishue-Tagil  erhebt  sich  ein  hoher  Berg,  der 
Magnetberg  oder  «grosse  Berg>  genannt,  der  aus  reinem  Magnet- 
eisenerz besteht ;  seit  der  Zeit  Peters  I.  existiren  dort  schon  Eisen- 
hütten und  die  jetzigen  verbrauchen  jährlich  in  Ii  Hochöfen  gegen 
4  Millionen  Pud  von  diesem  Erz,  —  eine  Abnahme  desselben  ist 
nur  sehr  wenig  bemerkbar :  noch  steht  der  Berg  in  seiner  ganzen 
Grösse  da,  nur  am  Fusse  der  einen  Seite  sieht  man  eine  steile 
Wand,  an  der  die  Menschen  gleich  Ameisen  arbeiten  j  so  weit  man 
auch  Untersuchungen  in  die  Tiefe  angestellt  hat,  immer  ist  man 
auf  dieses  Erz  gestossen.  Aehnlich  ist  das  Verhältnis  bei  dem 
Berge  Blagodatnaja  in  der  Nähe  von  Kuschwa  und  bei  einem  anderen 
mehr  im  Süden  befindlichen  Magnetberge.  Auf  der  Ausstellung 
finden  wir  hier  Proben  eiues  in  neuerer  Zeit  im  Tscherdynskischen 
Kreise  entdeckten  Lagers  von  Eisenerz  —  des  denkbar  reichsten, 
denn  es  enthält  99  pCt.  reines  Eisen  —  ausgestellt,  das  fast  gar 
nicht  oder  doch  nur  in  sehr  geringem  Grade  ausgebeutet  wird  ; 
auf  der  Ausstellung  soll  eben  die  Aufmerksamkeit  auf  dieses  reiche 
Lager  gelenkt  werden;  und  so  liegen  noch  hundert  andere  Lager 
da,  die  der  Ausbeute  harren.  Bei  rationeller  Exploitation  kann 
Russland  mit  seinem  Eisen  Europa  förmlich  überschwemmen,  statt 
dessen  bezieht  es  noch  30—40  pCt.  seines  Bedarfes  aus  dem  Aus- 
lande. Da  taucht  unwillkürlich  die  Frage  auf,  warum  dieser  Reich- 
thum  nicht  exploitirt  wird  ?  Die  Antwort  ist  einfach  die :  es  fehlt 
erstens  an  sachkundigen,  unternehmenden  Capitalisten,  uirl  zweitens 
ist  die  Goldwäscherei  ergiebiger;  wozu  sich  so  sehr  anstrengen, 
da  man  das  Gold  ja  leichter  haben  kann  und  dabei  gar  nicht  so 

BaltiMbo  Monatsschrift,  IUnd  XXXIV.  Höft  7-  40 


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598     Die  sibirisch-uralische  Ausstellung  in  Jekaterinburg. 


vieler  Kenntnisse  bedarf?  Daher  werfen  sich  die«meisten  Capital  isten 
auf  die  Goldwäscherei ;  zumal  man  auf  diesem  Felde  auch  mit  ge- 
ringerem Capital  operiren  kann.  Als  öffentliches  Geheimnis  gilt 
es  hier  übrigens,  dass  kolossale  Massen  russischen  Eisens  ins  Aus- 
land gebracht  und  von  dort  unter  fremdem  Stempel  wieder  einge- 
führt werden. 

Betrachten  wir  nun  die  dem  Schosse  der  Erde  entnommenen 
eisernen  Schatze.  Wir  finden  zunächst  die  Producte  des  Schai- 
tanskischen  Hüttenwerkes  aus  dem  permschen  Gouvernement.  Die 
Vitrine  ist  recht  reichhaltig ;  wir  sehen  feuerfeste  Ziegelsteine  und 
verschiedene  Sorten  von  Thon,  dann  folgen  mannigfache  Eisenerze 
und  die  angewandten  Flussmittel,  Gusseisen,  verschiedene  Sorten 
von  Eisen  &c.  Dieses  Hüttenwerk  beschäftigt  gegen  1300  Mann 
und  producirt  mit  einem  Hochofen  jährlich  300000  Pud  Roheisen; 
nebenbei  wird,  wie  schon  oben  im  allgemeinen  erwähnt,  auch  etwas 
Gold  gewaschen,  doch  ist  der  Ertrag  ein  sehr  geringer,  ca.  20  Pfd. 
jährlich ;  viel  bedeutender  ist  der  Gewinn  an  Chroraeisenstein,  von 
dem  jährlich  etwa  350000  Pud  abgesetzt  werden.  Interessant  sind 
die  Producte  der  mechanischen  Abtheilung  dieser  Fabrik  und  sehr 
originell  z.  B.  ein  metallenes  Ameublement.  —  Neben  dieser  gerade 
nicht  sonderlich  auffallenden  Vitrine  erhebt  sich  die  bedeutend 
stattlichere  des  Rewdinskischen  Hüttenwerkes,  den  Eingang  in  einen 
alten  griechischen  Tempel  darstellend.  Dieses  Hüttenwerk  liegt 
gleichfalls  im  permschen  Gouvernement,  südlich  von  Jekaterinburg 
an  dem  Flüsschen  Rewda,  und  es  gehören  zu  demselben  noch 
mehrere  Eise^  und  mechanische  Fabriken ;  mit  zwei  Hochöfen 
producirt  es  400000  bis  450000  Pud  Roheisen,  ein  im  Verhältnis 
zu  anderen  Hüttenwerken  geringes  Quantum,  was  aber  dadurch 
erklärlich  wird,  dass  die  Eisengewinnung  nur  auf  Holzkohle  und 
die  Eisen-  und  mechanischen  Fabriken  auf  eine  sehr  geringe  Wasser- 
kraft zur  weiteren  Bearbeitung  des  Materials  angewiesen  sind. 
Etwas  Anderes  ist  es  aber,  wodurch  sich  diese  Vitrine  vor  allen 
anderen  auszeichnet:  sie  ist  die  einzige,  in  der  wir  Nickel  ausge- 
stellt finden,  angefangen  von  den  Erzen  dieses  Metalles  durch  die 
verschiedenen  Bearbeitungsstufen  desselben  hindurch  bis  zum  Nickel- 
regulus ;  ausserdem  verschiedene  aus  Neusilber  verfertigte  Gegen- 
stände, wie  Aschenbecher,  Schreibzeuge  &c.  Etwa  7  Werst  östlich 
von  dem  Rewdinskischen  Hüttenwerk  findet  sich  dieses  bis  hierzu 
im  Ural  einzig  bekannte  Nickellager,  das  nach  den  Untersuchungen 
des  französischen  Ingenieurs  E.  Boutan  das  reichhaltigste  und  vor- 


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Die  sibirisch-uralische  Ausstellung  in  Jekaterinburg.  509 

züglichste  in  ganz  Europa  ist,  da  das  Erz  dort  weder  Schwefel 
noch  Arsen  enthält,  «und  um  etwas  Aehnliches  zu  finden.»  fährt 
Boutan  in  seinen  Untersuchungen  und  Beschreibungen  fort,  <kann 
man  sich  bis  nach  Neucaledonien  begeben.»  Die  Nickelerze  dieses 
Lagers  haben  zu  verschiedenen  metallurgischen  Versuchen  Anlass 
gegeben,  leider  sind  dieselben  fast  alle  unbefriedigend  ausgefallen, 
da  sie  von  Personen  ausgeführt  wurden,  die  nicht  die  geringste 
Kenntnis  von  einer  rationellen  Exploitation  dieses  Erzes  besassen, 
so  dass  das  Nickelmetall  sehr  theuer  zu  stehen  kam  und  man  die 
Production  allmählich  ganz  einstellte.  Und  so  harrt  denn  dieses 
reiche  Lager  —  einzelne  Erze  enthalten  bis  zu  15  pCt.  reines 
Nickelmetall  —  bis  hierzu  immer  noch  eines  tüchtigen  Fachmannes 
zur  rationellen  Ausbeute.  Interessant  sind  unter  anderem  in  dieser 
Vitrine  noch  zwei  Stufen  Lasursteine  aus  dem  Tunkinschen  Thale, 
aus  dem  die  Lasursteine  auch  für  die  Isaaksche  Kathedrale  geliefert 
wurden,  und  ein  mächtiger  Nephritblock,  der  auf  dem  Rücken  des 
Sajanschen  Gebirgszuges  zwischen  Munko-Daban  und  Munko-Sartyk 
gefunden  worden  ist.  In  der  kaiserlichen  Schleiferei  zu  Jekaterin- 
burg ist  dieser  Block  durchgesägt  und  die  eine  Fläche  desselben 
polirt  worden. 

Aus  dem  wologdaschen  Gouvernement  sind  die  beiden  Hütten- 
werke von  Kaschim,  den  Erben  Benardakis  gehörig,  vertreten;  zu 
ihnen  gehören  noch  mehrere  Eisenfabriken  zur  weiteren  Bearbeitung 
des  Rohmaterials ;  das  ganze  Etablissement  beschäftigt  gegen  820 
Arbeiter  und  liefert  mit  zwei  Hochöfen  jährlieh  ca.  01300  Pud 
Roheisen.  —  Unter  allen  Vitrinen  zeichnet  sich  aber  durch  pompöse 
Ausstattung  und  mannigfaltigen  Inhalt  die  von  Nishne-Tagil  aus, 
welches  Etablissement  unstreitig  das  grossartigste  im  ganzen  Ural 
ist.  Einen  antiken  griechischen  Tempel  darstellend,  tragen  mächtige 
Säulen  aus  Eisenbahnschienen  ein  gewaltiges  eisernes  Dach  ;  unter 
demselben  befindet  sich  auf  einem  grossen  kupfernen  Tisch  ein 
mächtiger  Block  Magneteisenerz,  auf  welchem  sich  ein  sauber  aus- 
geführtes Modell  eines  Hochofens  befindet ;  ringsumher  lagern  ver- 
schiedene Eisen-  und  Kupfererze,  unter  denen  sich  etliche  Malachit- 
blöcke  auszeichnen ,  ferner  die  verschiedensten  Producte  dieses 
Etablissements,  und  letztere  sind  mannigfaltig  genug ;  ausser  Stahl 
und  Eisen  liefert  dasselbe  noch  Kupfer,  Piatina  und  Gold.  Malachit 
findet  sich  nur  in  Nishne-Tagil  von  so  vorzüglicher  Qualität,  und 
was  das  Piatina  betrifft,  so  ist  wiederum  Nishne-Tagil  fast  die 
einzige  Fundstätte  dieses  seltenen  Metalls  in  Russland,  die  jährlich 

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GOO     Die  sibirisch-uralische  Ausstellung  in  Jekaterinburg. 


etwa  74  Pud  liefert.  Das  ganze  Etablissement  beschäftigte  in 
letzter  Zeit  durchschnittlich  jährlich  15H  Tausend  Menschen  und 
verbrauchte  bei  11  Hochöfen  an  Eisenerzen  etwa  4  Millionen  Pud, 
an  Kupfererzen  Über  2  Millionen  Pud  und  producirte  an  Gusseisen 
2300000  Pud,  an  Kupfer  45700  Pud,  an  Blattkupfer  2800  Pud, 
an  assortirtem  Kupfer  400  Pud  und  an  Eisen  1710000  Pud; 
ausserdem  wurden  noch  15H  Pud  Gold  gewonnen.  —  Mit  den 
Etablissements  von  Nishne-Tagil  sind  auf  der  Ausstellung  auch  die 
von  der  Lunjewka  vereinigt,  so  benannt  nach  dem  Flusse  Lunjwa, 
an  dem  die  Eisenhüttenwerke  und  Steinkohlengruben  liegen.  Letztere 
besonders  sind  von  grosser  Wichtigkeit  für  die  Eisenindustrie  des 
Ural.  Als  die  Uraler  Bahn  noch  nicht  existirte,  waren  die  Eisen- 
hüttenwerke grösstenteils  auf  Holzkohle  angewiesen  und  daher 
war  die  Eisenproduction  mehr  oder  weniger  eine  beschränkte  ;  jetzt 
liegen  die  Verhältnisse  anders.  In  neuester  Zeit  hat  man  auch 
reiche  Kohlenlager  gefunden,  die  vorzügliche  Kohle  zum  Vercoaksen 
liefern,  so  dass  dadurch  einmal  die  Eisenproduction  sich  erweitern 
konnte,  dann  aber  dem  Niederbrennen  der  ohnehin  schon  stark  ge- 
lichteten Wälder  des  Ural  Einhalt  gethan  wird ;  wiewol  noch 
immerfort  verhältnismässig  viel  Holzkohle  gebraucht  wird.  Die 
Kohlengruben  an  der  Lunjewka  lieferten  im  letzten  Jahre  über 
1H  Millionen  Pud  Kohle.  Ein  anderes  Lager,  das  man  erst  im 
Herbste  1886  systematisch  auszubeuten  begonnen  hat,  liegt  in  dem 
Eisenhüttenwerk  Kamenski,  an  dem  Flusse  Isset ;  aus  diesem  Lager 
können  jährlich  über  3  Millionen  Pud  Kohle  gewonnen  werden  und 
dieselbe  ist  von  vorzüglicher  Qualität,  liefert  gute  Coaks  und  kostet 
pro  Pud  6  Kopeken.  Viele  andere  Kohlenlager  aber  liegen  theils 
noch  unberührt,  theils  sind  sie  nur  sehr  sparsam  angegriffen  worden 
und  harren  sehnsüchtig  der  Zukunft  entgegen. 

Kehren  wir  nach  dieser  Abschweifung  zu  den  Eisenhütten- 
werken zurück.  Die  Fürstin  Abamelek  exponirt  in  der  folgenden 
Vitrine  Producte  ihrer  vier  Eisen fabriken,  dreier  Kohlengruben  und 
ihrer  Salzsiedereien.  Sämmtliche  Etablissements  liegen  im  perm- 
schen  Gouvernement  und  beschäftigen  etwa  3000  Personen  ;  die 
vier  Eisenhüttenwerke  liefern  etwa  7ä0000  Pud  Gusseisen  gegen 
800000  Pud  Eisen  und  über  100000  Pud  Stangeneisen ;  die  Kohlen- 
gruben weiden  für  die  uralischen  Verhältnisse  ganz  gut  bearbeitet 
und  liefern  etwa  3»/3  Millionen  Pud  Kohlen  im  Jahr;  die  Salz- 
siedereien, die  zu  den  ältesten  des  Ural  gehören,  liefern  jährlich 
gegen  1',,  Millionen  Pud.  —  Zu  deu  ältesten  Etablissements  zählt 


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Die  sibirisch-uralische  Ausstellung  in  Jekaterinburg.  601 

auch  unstreitig  das  von  Newjansk,  gegründet  im  Jahre  1698,  auf 
welchem  nicht  nur  Eisen  —  mit  zwei  Hochöfen  jährlich  etwa 
250000  Pud  Gusseis,eu ;  ein  verhältnismässig  unbedeutender  Ertrag, 
da  ein  Theil  des  Magnetberges  zu  Newjansk  gehört  —  sondern 
auch  viel  Gold  gewonnen  wird.  Letzteres  beschäftigt  hier  ca.  1200 
Personen  und  der  Ertrag  im  letzten  Jahre  betrug  29  Pud  und 
35  Pfund.  Seit  1820  bis  1886  sind  hier  1265  Pud  Gold  erwaschen. 
In  der  Vitrine  ist  diese  Quantität  durch  eine  grosse  vergoldete 
Kugel  bildlich  dargestellt.  —  Die  Vitrine  der  sechs  Fabriken  von 
Kyschtym  ist  sehr  interessant  und  nächst  der  der  Fabriken  von 
Slatoust  am  besuchtesten,  da  das  Publicum  in  diesen  beiden  Vitrinen 
kleine  Einkäufe  zur  Erinnerung  an  die  Ausstellung  machen  kann. 
In  der  ersten  Vitrine  finden  wir  die  verschiedensten  Dinge  aus 
Gusseisen  ausgestellt,  von  den  kleinsten  Aschenbechern  und  Leuch- 
tern bis  zu  den  grössten  Candelabern,  Büsten.  Kaminen  &c,  alles 
zu  einem  verhältnismässig  billigen  Preise.  Die  sechs  Fabriken  von 
Kyschtym  beschäftigen  im  ganzen  über  5300  Arbeiter  und  produ- 
ciren  über  732000  Pud  Eisen ;  Gegenstände  aus  Gusseisen  werden 
im  Gewichte  von  92000  Pud  jährlich  angefertigt.  —  Die  nebenan 
stehende  Vitrine,  die  der  Fabriken  von  Slatoust,  bietet  einen  statt- 
lichen Anblick  dar:  an  den  vier  Ecken  sind  in  hübscher  Gruppi- 
rung  die  verschiedensten  Stoss-  und  Hiebwaffen  aufgestellt ;  die 
Kuppel  der  Vitrine  wird  von  einer  Sonne  gekrönt,  deren  Strahlen 
aus  blanken  Rappieren  bestehen.  In  der  Vitrine  finden  wir  die 
verschiedenartigsten  Gegenstände,  Watten,  wie  Dolche,  Jagd- 
messer &c,  chirurgische  Apparate  und  Bestecke,  vernickelte  und 
versilberte,  ferner  Gegenstände  aus  Gusseisen,  auch  Granaten, 
Bomben  &c. ;  es  würde  zu  weit  führen,  alles  namentlich  anzuführen. 
Slatoust,  das  russische  Sheffield,  geniesst  auch  ausserhalb  der  russi- 
schen Grenze  einen  bedeutenden  Ruf  und  hat  denselben  auf  mehreren 
internationalen  Weltausstellungen  begründet.  Die  sämmtlichen  sechs 
Fabriken  produciren  gegen  1'/»  Million  Pud  Gusseisen,  235000  Pud 
verschiedenes  Eisen,  Geräthe  und  Gegenstände  aus  Gusseisen  im 
Gewichte  von  80000  Pud,  Gegenstände  der  Mechanik  aus  Guss- 
eisen und  Stahl  im  Gewichte  von  10000  Pud,  Bomben  und  Granaten 
im  Gewichte  von  70000  Pud.  —  Aus  dem  wjatkaschen  Gouvernement 
sind  die  Eisenhüttenwerke  vou  Holunizscheu  und  die  Wotkiuschen 
,  Fabriken  vertreten.  Die  Zahl  der  ersteren  beträgt  vier,  und  es 
sind  dort  über  6000  Personen  beschäftigt,  und  über  2  Mill.  Pud 
Eisenerz  kommen  in  denselben  zur  Verarbeitung ;  auf  den  Wotkin- 


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002     Die  sibirisch-uralisehe  Ausstellung  in  Jekaterinburg. 

scheu  Fabriken  arbeiten  über  5000  Mann.  Aus  dem  permsclien 
Gouvernement  finden  wir  noch  die  grossartigen  Vitrinen  der  Hütten- 
werke Ssysery  und  Werchissetsk.  Erstere,  sechs  an  der  Zahl,  be- 
schäftigen  6400  Mann  und  verbrauchen  gegen  2  Millionen  Pud 
Eisenerz ;  letztere  arbeiten  in  elf  Anstalten  mit  über  9000  Mann 
und  verbrauchen  jährlich  über  27a  Millionen  Pud  Eisenerze.  Da- 
neben wird  auch  Gold  in  recht  beträchtlicher  Menge  gewonnen ; 
die  Ausbeute  des  letzten  Jahres  betrug  45  Pud ;  in  der  Vitrine 
ist  eine  gewaltige  Pyramide  von  vergoldeten  Platten  erbaut,  welche 
die  jährliche  quantitative  Masse  des  bisher  gefundenen  Goldes  bild- 
lich darstellen;  die  Gesammtausbeute  von  1813-87  beträgt  fast 
2635  Pud.  —  Aus  dem  ufaschen  Gouvernement  hat  das  Hüttenwerk 
von  Beloretzk  die  Ausstellung  beschickt ;  desgleichen  sind  mehrere 
Kronsfabriken  und  Kronshüttenwerke  vertreten,  z.  B.  die  gross- 
artige Kanonenfabrik  von  Motowilicha  bei  Perm  und  das  Krons- 
hüttenwerk von  Kamenski.  das  hauptsächlich  für  die  russische 
Krone  Bomben  und  Granaten  liefert. 

Neben  der  Eisenproduction  ist  noch  die  des  Kupfers  im  Ural 
von  grosser  Bedeutung:  im  ganzen  Ural  werden  durchschnittlich 
jährlich  gegen  5 Vi  Millionen  Pud  Kupfererze  verschmolzen  und 
etwa  234240  Pud  Kupfer  gewonnen  ;  das  grosste  Contingent  davon 
entfällt  auf  Nishne-Tagil ;  nächstdem  sind  die  auch  auf  der  Aus- 
stellung vertretenen  Etablissements  von  Bogojawlenski  und  VVercho- 
turje  von  Bedeutung,  welche  jährlich  gegen  11250  Pud  Kupfer 
produciren.  —  Nicht  zu  übersehen  ist  in  dieser  Abtheilung  die 
jüngste  Montanunternehmung  und  auch  zugleich  die  einzige  ihrer 
Art  in  Russland,  das  Etablissement  der  Gesellschaft  Auerbach  & 
Comp,  zur  Gewinnung  metallischen  Quecksilbers;  dasselbe  ist  erst 
im  Jahre  1886  im  jekaterinoslawscheu  Gouvernement  eröffnet  und 
wird  wol  in  Zukunft  für  die  Goldgewinnung  von  grosser  Wichtig- 
keit sein ;  es  beschäftigt  gegenwärtig  200  Personen. 

Wir  verlassen  mit  voller  Befriedigung  die  grossartige  Aus- 
stellung für  Montanweseu  und  wenden  uns  der  Abtheilung  für 
Gross-  und  Kleingewerbe  zu.  Diese  gewährt  uns  einen  sehr  guten 
Einblick  in  die  derzeitige  Industrie  des  Ural,  die,  nach  den  hier 
ausgestellten  Producten  zu  urtheileu,  den  Vergleich  mit  der  Industrie 
im  Westen  einigermassen  schon  aushalten  kann. 

Eine  eingehendere  Beschreibung  des  hier  Ausgestellten  würde 
zu  weit  führen,  zumal  hier  ja  nur  wenige  Producte  vorkommen,  die 
dem  Ural  specifisch  eigen  sind  und  nicht  auch  auf  jeder  anderen 


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Die  sibirisch-uralische  Ausstellung  in  Jekaterinburg.  G03 

Ausstellung  vertreten  wären ;  es  finden  sich  hauptsächlich  Producte 
der  Woll-  und  Baumwollfabrikation,  der  Papier-,  Glas-,  Fayence- 
und  Thonfabrikation,  Producte  der  Talg-,  Seifen-  und  Lederindustrie, 
letztere  in  besonders  grosser  Auswahl,  ferner  chemische  Producte, 
Gegenstände  und  Apparate  der  Elektrotechnik,  Producte  der  Möbel- 
fabrikation, der  Juwelierkunst,  der  Edelsteinschleiferei  &c.  Die 
Producte  der  letzteren  Gruppe  zeichnen  sich  vor  allem  aus  und 
verfehlen  nicht  einen  gewaltigen  Eindruck  auf  das  Publicum  zu 
machen ;  mehrere  Grosshändler  haben  hier  ihre  von  Edelsteinen 
funkelnden  Vitrinen  ausgestellt,  die  fast  immer  umlagert  sind;  die 
kaiserliche  Edelsteinschleiferei  in  Jekateriuburg  hat  eine  gewaltige 
Grotte  aus  allen  im  Ural  sich  findenden  und  zur  Verwendung 
kommenden  Steinen,  Halbedelsteinen  und  Edelsteinen  erbaut,  die 
den  Eingang  in  die  Montanabtheilung  ziert;  vor  dieser  Grotte 
stehen  zwei  gewaltige  aus  ßubellan  gefertigte  Vasen  und  ver- 
schiedene andere  kleinere,  sehr  kunstvoll  gearbeitete  Sachen  der 
kaiserlichen  Schleiferei. 

Die  folgende  Abtheilung,  die  der  Hausindustrie,  ist  wol  nächst 
der  Montauabtheilung  die  anziehendste.  Da  die  Producte  nach  den 
verschiedenen  Kreisen  der  Gouvernements  geordnet  sind  uud  gegen 
tausend  Aussteller  sich  au  der  Sammlung  betheiligt  haben,  so  bieten 
dieselben  ein  ganz  gutes  Material  für  das  Studium  der  Haus- 
industrie Ostrusslands  dar.  Wir  greifen  das  Interessanteste  und 
dem  Ural  specifisch  Eigene  heraus,  nämlich  die  Edeisteinschleiferei. 
Sämmtliche  verschliifene  Edelsteine  des  Ural,  die  in  die  weite 
Welt  hinauswandern,  auch  die,  \felche  sich  in  der  Vitrine  der  iu 
der  vorhergehenden  Abtheilung  genannten  Grosshändler  befindeu, 
sind  Producte  der  Hausindustrie ;  man  sollte  es  gar  nicht  glauben, 
mit  wie  einfachen,  primitiven  Mitteln  Korunde,  Saphire,  Smaragde, 
Berylle,  Topase,  Zirkone  &c.  ihre  Facetten  und  ihre  Politur  er- 
halten. Ein  Theil  der  Edelsteinschleifer  arbeitet  auch  hier  auf 
der  Ausstellung  vor  den  Augen  des  Publicums,  so  dass  sich  jeder 
in  diese  einfachen  Geheimnisse  einweihen  lassen  kann.  Mit  der 
rechten  Hand  setzt  der  Steinschleifer  eiu  kleiues  Schwungrad  in 
Bewegung,  das  seinerseits  wieder  eine  in  horizontaler  Ebene  rotirende 
Scheibe  treibt,  auf  der  mit  gemeinem  Korunde  die  iu  einem 
Quadranten  befestigten  Edelsteine  geschlitfen  und  mit  Trippel 
polirt  werden.  An  einzelnen  Tagen  sind  diese  Edelsteinschleifer 
förmlich  umlagert,  da  sie  die  verschliffenen  Steine  auch  gleich  ver- 
kaufen, und  obgleich  der  Preis  iu  diesem  Jahre  in  Folge  der  Aus- 


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604     Die  sibirisch-uralische  Ausstellung  in  Jekaterinburg. 


* 

Stellung  ein  bedeutend  höherer  ist,  so  machen  sie  doch  in  Edel- 
steinen ein  glänzendes  Geschält,  da  der  Preis  der  hier  verkauften 
Steine  immer  noch  ein  geringerer  ist  als  der  in  den  grossen 
Magazinen  anderer  Städte. 

Die  Abtheilung  für  Land-  und  Forstwirtschaft,  Gärtnerei, 
Jagd  und  Fischfang  bietet  einiges  Interessante  dar,  speciell  für 
einen  Landwirth,  der  die  hier  vom  Westen  abweichenden  land- 
wirtschaftlichen Verhältnisse  studiren  will ;  an  neuesten  landwirt- 
schaftlichen Maschinen  mit  Dampfbetrieb  ist  natürlich  sehr  wenig 
vorhanden,  das  Vorhandene  überhaupt  ziemlich  primitiv  und  natür- 
lich mehr  den  hiesigen  Verhältnissen  angepasst.  Von  einer  syste- 
matischen Forstwirtbschaft  kann  man  im  Ural  auch  gerade  nicht 
viel  reden,  da  die  Wälder  bisher  ziemlich  unbarmherzig  nieder- 
gehauen worden  sind  und  man  erst  in  letzter  Zeit  zur  Einsicht 
gekommen  ist,  dass  es  so  doch  nicht  fortgehen  kann.  Die  Unter- 
abtheilung  für  Jagd  und  Fischfang  ist  in  so  fern  interessant,  als 
hier  auch  die  Jagd-  und  Fangapparate  vieler  Eingeborenen  des 
Ural  und  Sibiriens  anzutreffen  sind.  —  Die  Abtheilung  für  im- 
portirte  Waaren  bietet  nichts  dar,  was  man  nicht  auch  in  jeder 
grösseren  Stadt  in  den  grossen  Magazinen  und  Niederlagen  finden 
kann :  verschiedene  Möbel  und  Maschinen,  Weine  und  Spirituosen, 
Apothekerwaaren,  Kleidungsstoffe  &c. 

Die  speciell  sibirische  Abtheilung  zählt  verhältnismässig  wenig 
Exponenten,  gewährt  aber  gleich wol  einen  Einblick  in  die  Industrie 
dieser  ultima  Thüle.  Wir  finden  hier  einiges  ethnographische 
Material  für  einige  nordische  sibirische  Völkerschaften,  dann  aber 
auch  Producte  verschiedener  Montauunternehmungen,  wie  Eisen, 
Kupfer,  Silber  und  deren  Erze,  goldführenden  Sand  und  gold- 
führenden Quarz,  ferner  verschiedene  speciell  mittelasiatische  Industrie- 
producte,  wie  z.  ß.  baumwollene,  wollene  und  seidene  Stoffe  &c. 

Vou  der  Kunstabtheilung  lässt  sich  auch  gerade  nicht  viel 
mehr  sagen,  als  dass  sie  nur  dem  Namen  nach  existirt,  denn  ausser 
mehreren  Bildern  von  Kasanzew  aus  Petersburg  hat  diese  Ab- 
theilung nichts  Besonderes  aufzuweisen,  es  sei  denn,  dass  ein  Ge- 
mäkle, die  Grablegung  Christi,  welche  von  den  Nonnen  des  hiesigen 
Klosters  gemalt  ist  und  deren  Figuren  von  der  Last  der  ange- 
brachten natürlichen  Edelsteine  umzufallen  drohen,  den  eigentüm- 
lichen Geschmack  in  der  religiösen  Malerei  documentirt.  —  Inter- 
essanter ist  schon  die  Abt  heil  ung  fürs  Lehrfach,  die  die  Arbeiten 
aus  den  Knaben-  und  Mädchenschulen  des  permschen  Gouvernements 


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Die  sibirisch-uralische  Ausstellung  in  Jekaterinburg.  605 


dem  Publicum  vorführt.  Unter  denen  der  Knaben  zeichnen  sich 
besondere  die  Zeichnungen  der  Realschüler  aus,  und  unter  denen 
der  Mädchen  natürlich  die  Handarbeiten.  Dann  erregen  ferner 
noch  die  mechanischen  Arbeiten  aus  den  technologischen  Schulen 
und  Instituten  allgemeines  Aufsehen.  —  Damit  hätten  wir  den 
Rundgang  durch  die  Jekaterinburger  Ausstellung  beendet,  die, 
wie  schon  anfangs  gesagt,  im  allgemeinen  wider  Erwarten  gut 
ausgefallen  ist  und  den  Besucher  vollkommen  befriedigt.  Hoffen 
wir,  dass  dieselbe  von  wohlthätigen  Folgen  für  den  Ural  und 
Sibirien  begleitet  sein  wird. 


Alexander  S  i  m  o  n  s  o  n. 


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Der  Adel  in  Russland. 

Historisch-ethuographische  Studie. 

(BhcTiiiiKL  Euponu  XXII  r.  Kitar.  3.  4.  5.) 


^(T^elegentli.  h  der  Reformen  in  der  Organisation  der  laud- 
tl*&£**  schaftlichen  Gouvernements-  und  Kreisverwaltung,  die  von 
der  russischen  Presse  vielfach  besprochen  wurden,  ist  es  wiederum 
der  «Westnik  Jewropy»,  unbestritteuermassen  das  bedeutendste, 
bestredigirte  Journal  Russlands,  welcher  eine  Reihe  von  Artikeln 
über  diese  Frage  brachte,  die  in  erschöpfender  Weise  den  Beweis 
dafür  zu  liefern  suchten,  dass  in  Russland  auf  ständischer  Basis 
keine  Administration  denkbar  sei.  Insbesondere  derjenige  Stand, 
welcher  in  erster  Linie  die  Leitung  der  Kreisverwaltung  über- 
nehmen sollte  —  der  russische  Adel,  wurde  in  seiner  historischen 
und  socialen  Bedeutung  auf  das  eingehendste  beleuchtet,  um  dann, 
auf  Grund  dieser  gründlichen  Ausführungen,  als  gänzlich  ungeeignet 
für  die  leitende  Rolle  in  der  reorganisirten  Administration  erklärt 
zu  werden. 

Die  nachstehenden  Zeilen  verfolgen  den  Zweck,  dem  deutschen 
Leser  die  Grundzüge  der  erwähnten  Artikel  zu  übermitteln  und 
in  verkürzter  Form  diese  Beiträge  zu  einer  Geschiebte  des  Adels 
in  Russlaud  zu  reproduciren.  Das  reiche  statistische  und  histori- 
sche Material,  welches  Herr  Sch  .  .  .  .  ,  der  Verfasser  dieser 
Aufsätze,  seinen  Lesern  im  «Westn.  Jewropy»  vorführen  durfte, 
kann  bei  dieser  Reproduction  jedoch  nur  in  seinen  Resultaten  be- 
rücksichtigt werden,  um  die  Geduld  des  deutschen  Publicums  nicht 
auf  eine  zu  harte  Probe  zu  stellen. 


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Der  Adel  iu  Russland. 


G07 


Vergleichen  wir  die  Aufänge  stäudischer  Institutionen  in  der 
Geschichte  Russlands  mit  gleichartigen  Erscheinungen  iu  den  west- 
europäischen Staaten,  so  muss  uns  die  gänzliche  Verschiedenheit 
in  der  Gestaltung  des  politischen  Lebens  hier  und  dort  auffallen. 
Im  Westen  war  es  der  ununterbrochene  Kampf  der  verschiedenen 
Gesellschaftsklassen,  welcher  dem  politischen  Leben  dieser  Staaten 
zu  Grunde  lag.  Im  Mittelalter  beherrschte  der  feudale  Adel  als 
Grossgrundbesitzer  gemeinsam  mit  der  höheren  Geistlichkeit  die 
anderen  Stände,  bis  die  gewerbliche  und  commerzielle  Thätigkeit 
der  Städte  das  Bürgerthum,  die  Bourgeoisie,  zu  einer  socialen 
Macht  gestaltete,  die  den  Kampf  gegen  die  feudalen  Privilegien 
aufnehmen  konnte  und  schliesslich  dem  dritten  Stande  zum  Siege 
verhalf.  In  der  neuesten  Zeit  endlich  scheint  die  Arbeiterbevölke- 
rung ihrerseits  bestrebt,  den  Schwerpunkt  des  politischen  Lebens 
in  die  Hand  der  besitzlosen  Masse  zu  verlegen  und  dem  vierten 
Stande  zu  der  massgebenden  Bedeutung  im  Staatsleben  zu  verhelfen. 

Iu  der  Geschichte  Russlands  finden  wir  nichts  diesem  socialen 
Ringen  um  die  Vorherrschaft  Entsprechendes ;  zwar  fehlt  es  auch 
hier  nicht  an  aufständischen  Bewegungen  und  an  iuueren  Wirren, 
diese  tragen  aber  keineswegs  den  Charakter  ständischer  Bestrebungen 
und  es  mangelt  ihnen  das  politische  oder  sociale  Programm ;  die 
Initiative  zu  diesen  Aufständen  ergriffen  gewöhnlich  die  Kosaken 
unter  der  Anführung  raublustiger  Usurpatoren  oder  Banditen,  wie 
Stenjka  Rasin  und  Pugatschew,  und  diese  Bewegungen  trugen  das 
Bauner  der  politischen  Pseudo-Autorität  zur  Schau.  Als  die  russi- 
sche Intelligenz  begann  ein  bestimmtes  Programm  ihren  Bestrebun- 
gen zu  Gruude  zu  legen,  fanden  diese  Ideen  beim  eigentlichen  Volk 
keinen  Anklang.  Bei  einer  Parallele  zwischen  dem  politischen 
und  socialen  Leben  Russlands  und  Westeuropas  begegnen  wir 
daher  ganz  entgegengesetzten  Erscheinungen :  das  sociale  Leben 
bildet  im  Westen  den  Schlüssel  zu  den  verschiedenen  Epochen  der 
politischen  und  historischen  Entwickelung ;  in  Russland  dagegen 
erhalten  die  socialen  Klassen  ihre  Gestaltung  und  Organisation 
erat  von  der  politischen  Macht,  der  Regierung.  Wir  brauchen 
nur  einen  Blick  auf  die  russische  Geschichte  zu  werfen,  um  uns 
von  der  Wahrheit  dieser  Behauptung  zu  überzeugen. 

In  der  ältesten  Periode  finden  wir  keine  Hiuweise  auf  ge- 
schlossene, erbliche,  gesellschaftliche  Gruppen  mit  politischen  und 
socialen  Privilegien.  Die  «Russkaja  Prawda>,  die  auf  Befehl 
Jaroslaws  I.  im  elften  Jahrhundert  zusammengestellte  Gesetz- 


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G08 


Der  Adel  in  Russlaud. 


Sammlung,  kennt  weder  nationale,  noch  sociale  Unterschiede :  die 
gleiche  Geldbusse  vou  40  Griwen  wird  für  die  Tödtung  eines 
Russiuen,  Kaufmanns,  t  Schwertträgers*  &c.  festgesetzt.  Die  Nach- 
folger dieses  Grossfürsten  machen  in  der  von  ihnen  zusammenge- 
stellten tPrawda»  bereits  Unterschiede,  denn  die  Strafzahlung  für 
den  Mord  eines  fürstlichen  Richters  (thbvui),  Stallmeisters,  endlich 
des  Herdbürgers  (ornumauHUb)  wird  auf  80  Griwen  fixirt.  Die 
letztere  Bezeichnung  deutet  wol  auf  Personen  hin,  die  sich  im  Be- 
sitz eines  eigenen  Herdes,  eines  Stück  Landes  und  einiger  Sclaven 
befanden  und  lässt  auf  die  Ansässigkeit  dieser  Klasse  schliesseu, 
während  der  etwas  später  auftretende  Name  «Bojarin»  (CojapHui, 
vermuthlich  von  6o.iifl,  Öojbuiifl  abgeleitet)  sich  auf  Männer  bezieht, 
die  im  persönlichen  Dienste  des  Fürsten  oder  auch  des  Landes 
eine  hervorragende  Stellung  einnahmen  —  ohne  dass  dieser  Titel 
oder  die  Zugehörigkeit  zu  der  fürstlichen  Drushina  erblich  über- 
tragen wurde.  Formuliren  wir  die  sociale  Gestaltung  der  Bewohner 
Russlands  in  dieser  ältesten  Periode  seiner  historischen  Existenz, 
so  lässt  sich  behaupten,  dass  hier  etwa  folgende  Berufsklassen  be- 
standen :  die  Drushinniki  (Glieder  des  fürstlichen  Gefolges),  Kauf- 
leute, Landbesitzer  und  Geistliche  —  es  fehlte  aber  jegliche  Ab- 
grenzung unter  diesen  Gruppen,  es  mangelte  an  Ständen  mit 
socialen  und  erblichen  Privilegien  —  dieser  Mangel  an  streng- 
gezogenen Grenzen  ist  bekanntlich  für  das  altslavische  Leben  stets 
charakteristisch  gewesen.  Von  Bestrebungen,  die  etwa  den  Zweck 
gehabt  hätten,  eine  ständische  Individualisirung  zu  erreichen,  ist 
auch  späterbin  nichts  zu  spüren ;  die  Errichtung  ständischer 
Schranken  war  in  Russland  die  Aufgabe  der  Staatsgewalt  und 
eiue  so  schwierige  Arbeit,  dass  ihre  Ausführung  fast  die  gauze 
moskowitische  Periode  in  Anspruch  nimmt :  die  Organisation  des 
Beamtenstandes,  die  Zutheilung  von  Ländereien  an  denselben,  die 
Vorschriften,  durch  welche  die  Bauern  mehr  und  mehr  an  die 
Scholle  gefesselt  und  von  der  Willkür  der  Gutsbesitzer  abhängig 
gemacht  wurden,  die  Einfügung  der  auf  Staatsländereien  in  Flecken 
und  Vorwerken  lebenden  Freien  in  das  Hörigkeitsverhältnis  —  alle 
diese  Massregeln  bezweckten  die  Errichtung  ständischer  Schranken 
und  gingen  einzig  und  alleiu  von  den  Zaren  aus.  Nur  dem  Druck 
der  politischen  Gewalt  ist  es  zuzuschreiben,  wenn  die  Unterschiede 
zwischen  den  Berufszweigen  und  der  Vermögenslage  der  ver- 
schiedenen Gruppen  schliesslich  in  juristisch  oder  politisch  be- 
stimmte Rahmen  gefügt  wurden ;  massgebend  blieb  dabei  in  jener 


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Der  Adel  in  Russland. 


G09 


Zeit  das  Bestreben,  die  Stäude  durch  ihre  Beziehungen  zum  Grund- 
besitz zu  charakterisiren,  das  sociale  Leben  trug  an  seiner  Stirn 
die  Worte  <Kp1uiocTL»,  cupHKptiueuie».  Als  die  Bauern  das  Recht 
einbüssten,  ihre  Wohnplätze  und  ihre  Herren  nach  freier  Wahl 
zu  wechseln,  wurden  sie  Leibeigene  (Kp-fenocTHue  j»ab)  und  die 
Nachkömmlinge  der  Theilfürsten,  welche  in  die  Dienste  des  mosko- 
witischen  Zaren  traten,  sagten  von  sich,  dass  sie  «b^ajih  KptnocTt». 

Die  Standesunterschiede  wurden  nicht  aus  socialen  oder  politi- 
schen Gründen  fixirt,  sondern  verdankten  ihre  Entstehung  einfach 
gewissen  militärisch-flskalischen  Anforderungen:  der  Staat  bedurfte 
eines  Heeres  und  materieller  Mittel,  um  sich  erhalten  zu  können; 
jeder  Bürger  musste  den  Staatszwecken  dienstbar  gemacht  werden 
entweder  durch  persönliche  Arbeit  in  Krieg  und  Frieden  oder  als 
Steuerzahler.  So  unterscheiden  sich  die  socialen  Gruppen  der 
moskowitischen  Periode  nur  in  ihren  Pflichten  gegen  den  Staat, 
während  sie  in  Westeuropa  bestrebt  waren  Vorrechte  und 
Privilegien  zu  erwerben ;  diese  bildeten  die  Basis  der  Standes- 
unterschiede -  während  im  moskowitischen  Zarthum  die  Pflichten 
massgebend  blieben.  Hier  zerfiel  die  Bevölkerung  in  zwei  Haupt- 
gruppen :  die  der  Wehrpflichtigen  und  die  der  Steuerzahler,  welche 
jedoch  erst  zu  Ende  des  17.  Jahrhunderts  allendlich  geschieden 
wurden.  Die  ständischen  Adelsprivilegien  bildeten  den  Schlussstein 
in  dieser  künstlichen  Errichtung  socialer  Schranken,  vor  zwei 
Jahren  konnte  erst  das  hundertjährige  Jubiläum  derselben  begangen 
werden;  ist  es  daher  wunderbar,  wenn  das  Standesbewusstsein  auf  dem 
Boden  dieser  Privilegien  keine  tiefen  Wurzeln  hat  schlagen  können  ? 

Als  Resultat  dieses  Rückblicks  auf  die  ältere  Geschichte 
Russlands  ergiebt  sich,  1)  dass  die  ständische  Gliederung  durchaus 
keine  althergebrachte  ist,  sondern  nicht  einmal  auf  dreihundert 
Jahre  sich  zurück  erstreckt,  selbst  wenn  man  die  Periode  der 
staatlichen  Grundsteinlegung  für  die  Eintheilung  in  Stände  mit 
hinzurechnet;  2)  dass  die  Stände  nicht  durch  die  eigene  Entwicke- 
lung  der  Bevulkerungsklassen.  sondern  durch  Regierungsmassregeln 
künstlich  ins  Leben  gerufen  weiden  mussten  ;  3)  dass  der  Mangel  * 
jedes  ständischen  Selbstbewusstseins  in  dieser  Entstehung  der 
socialen  Klassen  seine  Erklärung  findet;  4)  dass  die  Existenz 
privilegirter  Stände  dem  alt-moskowitischen,  vorpetrinischen  Russ- 
land ganz  fremd  ist  und  5)  dass  die  sociale  Entwicklung  West- 
europas in  keiner  Beziehung  mit  derjenigen  Russlands  verglichen 
oder  ihr  an  die  Seite  gestellt  werden  kann. 


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610 


Der  Adel  in  Rassland. 


Um  die  Macht  des  privilegirten  Standes,  des  ritterlichen  Adels, 
zu  brechen,  um  das  aristokratische  Princip  niederzuwerfen,  be- 
durfte Westeuropa  einer  ungeheuren  literarischen  Propaganda,  eines 
Zeitraumes  von  fast  hundert  Jahren,  einer  Reihe  von  blutigen, 
revolutionären  Bewegungen.  Bis  zu  der  Aufhebung  der  Leibeigen- 
schaft war  der  Adel  in  Russland  als  socialer  Factor  fast  mächtiger, 
bedeutender  als  die  Aristokratie  des  Westens  im  18.  Jahrhundert; 
der  Grundbesitz,  die  Bauern,  der  Staatsdienst  und  die  Bildung  — 
alles  lag  in  seinen  Händen.  Dennoch  erfolgte  der  Verlust  seiner 
ganzen  äusseren  Bedeutung  ungewöhnlich  schnell,  fast  unerwartet  — 
als  einfache  folgerichtige  Notwendigkeit. 

Wenden  wir  uns,  nach  diesem  kurzen  Ueberblick  über  die 
Bildung  der  Stände  in  Russland,  dem  Process  der  Entwicklung 
des  Adels  zu,  so  finden  wir,  dass  hier  die  grundbesitzende  Klasse  sich 
lange  Jahre  hindurch  nicht  zu  entwickeln  vermochte,  nachdem  sie 
jedoch  durch  die  Regierung  constituirt  worden  war,  den  Charakter 
eines  Beamtenthums  annahm,  welches  sich  den  Zaren  unbedingt 
unterordnete,  während  der  Adel  Westeuropas,  nach  einer  selb- 
ständigen politisch-socialen  Existenz  strebend,  sich  als  Peers  oder 
ReichsfUrsten  neben  die  monarchische  Gewalt  zu  stellen  bemüht 
war.  Der  Adel  hat  in  Russland  niemals  ein  selbständiges  Dasein 
geführt;  das  Mitglied  der  fürstlichen  Drushina  war  schoirin  der 
ältesten  Periode  ein  freier  Mann,  d.  h.  er  konnte  den  Fürsten  ver- 
lassen, wenn  er  mit  demselben  unzufrieden  war ;  als  jedoch  Russ- 
land ein  einiger  Staat  wurde  und  der  freie  Mann  nirgend  mehr 
einen  Herrscher  ausser  dem  Zaren  finden  konnte,  horte  dieses  Recht 
des  freien  Nomadisirens  innerhalb  der  Grenzen  des  Staates  auf  eine 
praktische  Bedeutung  zu  haben. 

In  der  Geschichte  des  russischen  adeligen  Standes  oder, 
richtiger  gesagt,  der  Klasse  der  Staatsdiener  lassen  sich  drei 
Perioden  unterscheiden:  die  der  freien  Drushinniki  in  der  Zeit  der 
Theilfürstenthümer ;  die  der  Staatsdiener,  organisirt  von  den  mosko- 
witischen  Zaren,  und  die  der  Gutsbesitzer  und  Edelleute,  welche  von 
dem  obligatorischen  Staatsdienst  befreit  waren  und  bedeutende 
Standesprivilegien  erhielten  in  der  «kaiserlichen»  Periode. 

Die  grossen  Staaten  Westeuropas  entstanden  während  und 
nach  der  Völkerwanderung  dadurch,  dass  die  Eroberer  den  Grund- 
besitz  unter  einander  vertheilten  und  ihre  Nachkommen  das  Gebäude 
ihrer  feudal-aristokratischen  Machtstellung,  gestützt  auf  die  ökono- 
mische Bedeutung  des  Landbesitzes,  späterhin  vollendeten.  Der 


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Der  Adel  in  Russland. 


611 


Beginn  der  russischen  Geschichte  weist  keine  ähnlichen  Erscheinun- 
gen auf  —  das  Häuflein  von  Warägern,  die,  ihren  Fürsten  be- 
gleitend, in  Nowgorod  erschienen,  hat  doch  so  gut  wie  gar  nichts 
zu  bedeuten,  verglichen  mit  der  zahlreichen  Bevölkerung  und  der 
ungeheuren  Ausdehnung  der  skythischen  Ebene.  Als  im  elften 
Jahrhundert  die  beständigen  Streitigkeiten  und  Fehden  der  Theil- 
ftirsten  eine  fortwährende  Verschiebung  der  Grenzen,  einen  endlosen 
Wechsel  des  Besitzstandes  hervorriefen  und  die  Ueberfälle  der 
wilden  Nomadenvölker  der  Petschenegen,  Polowzer  u.  a.  die  allge- 
meine Unsicherheit  bis  aufs  äusserste  steigerten  —  fehlten  that- 
sächlich  alle  Grundbedingungen  zur  Begründung  dauernder  Besitz- 
verhältnisse und  socialer  Gestaltung.  Um  fortbestehen  zu  können, 
musste  der  russische  Staat  seinen  Schwerpunkt  von  der  südwest- 
lichen Grenze  mehr  nach  Norden  verlegen,  um  in  den  Wäldern 
und  Sümpfen  der  centralen  Zone  vor  den  mongolischen  Verwüstun- 
gen Schutz  zu  suchen.  Es  ist  daher  verständlich,  wenn  die  kiewsehe 
Periode  der  russischen  Geschichte  die  Gründung  eines  feudalen, 
grundbesitzlichen  Adels  nicht  ermöglichte,  weil  1)  weder  die  Völker- 
wanderung noch  eine  Eroberung  des  Landes  die  Gründung  des 
Staates  hervorrief,  2)  weder  der  Grundbesitz  noch  die  Bebauung 
des  Landes  einigermassen  gesichert  war,  3)  die  Fürsten  mit  ihren 
Drushinen  beständig  aus  einem  Gebiet  in  das  andere  umherzogen 
und  4)  die  Drushinen  nach  eigener  Wahl  von  einem  Fürsten  zu 
dem  anderen  übergehen  konnten. 

So  spärlich  uns  auch  die  Berichte  der  Chroniken  jener  ältesten 
Periode  über  das  Leben  der  Städte  und  Dörfer  in  dem  kiewschen 
Grossfürstenthum  erhalten  sind,  in  einer  Beziehung  lauten  sie 
doch  deutlich  genug  und  motiviren  genügend,  warum  die  Drushin- 
niki keine  Veranlassung  hatten,  auf  die  Erwerbung  von  Grund- 
besitz bedacht  zu  sein.  Das  Faustrecht  und  die  beständigen  Ver- 
wüstungen der  Dorfschaften  Hessen  nicht  einmal  eine  feste  Be- 
stimmung der  besitzlichen  Grenzen  zu,  die  so  weit  reichten,  cals 
das  Beil,  die  Sense  und  der  Pflug  gingen».  Aus  dem  oben  Be- 
merkten ist  es  ferner  erklärlich,  wenn  fast  alle  Hinweise  auf  den 
Besitzstand  der  Bojaren  sich  auf  das  nördliche  Russland  beziehen 
und  auch  hier  nur  selten  und  von  solchen  Gütern  die  Rede  ist, 
welche  unweit  einer  Stadt  belegen  waren.  Die  Macht  der  Drushina 
bestand  also  weder  in  Grundbesitz  und  Reichthümern,  noch  in 
erblichen  Titeln  und  ständischen  Privilegien  —  sondern  einzig  und 
allein  in  den  nahen  Beziehungen  zu  der  Person  des  Fürsten  in 


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612  Der  Adel  in  Russland. 


der  Bedeutung,  welche  ihr  der  Wille  des  Monarchen  verlieh.  Dieses 
absolute  Fehlen  jeglicher  feststehender,  gesellschaftlicher  Klassen 
war  denn  auch  der  wichtigste  historische  Factor  für  die  Entstehung 
der  Selbstherrschaft  (cauoAepxaBic). 


Als  durch  diese  Uebersiedelung  der  grossfürstlichen  Residenz 
nach  Norden  die  politischen  und  persönlichen  Beziehungen  der 
Fürsten  an  Stabilität  gewannen,  den  Charakter  der  Sesshaftigkeit 
zeigten,  werden  die  niederen  Diener  des  fürstlichen  Hofes  «Aßopaue» 
genannt,  ohne  dass  diese  Bezeichnung  damals  dem  deutschen  Aus- 
druck «Edelmann»  entsprach.  Im  Jahre  1175  sagte  die  Wosskres- 
senskische  Chronik  bei  Gelegenheit  der  Schilderung  der  Ermordung 
des  Grossfürsten  Andrei  Bogoljubski :  «die  Bürger  und  Hofdiener 
(ABopsue)  plünderten  den  Palast»  ;  wir  begegnen  hier  zum  ersten- 
mal diesem  Ausdruck,  der  jetzt  zur  Bezeichnung  der  grundbesitzen- 
den Klasse  der  Staatsdiener  geworden  ist.  Seitdem  die  Fürsten- 
sitze ihre  beständigen  Residenzen  hatten,  begann  das  Bojarenthum 
allmählich  erblich  zu  werden,  der  Ausdruck  «Bojarensöhne»  (6oap- 
ckiji  aeth)  kommt  häufig  in  Anwendung  und  wechselt  mit  dem 
Wort  «ABopaiiHHi»,  Hofdiener  oder  Hofbeamter,  ab,  wenn  diese 
Bojarensöhne  in  der  Umgebung  des  Fürsten  Verwendung  fanden. 
Erbliche  Familiennamen  bestanden  bis  zum  14.  Jahrhundert  noch 
nicht,  die  Bojaren  führen  den  Vatersnamen,  wie  z.  B.  Feodor 
Andreje witsch,  Iwan  Feodorowitsch  &c.  Reichte  diese  Bezeichnung 
nicht  aus,  so  kamen  Beinamen  in  Anwendung,  die  fast  immer  einen 
gewissen  Spott  zum  Ausdruck  bringen.  So  erhielt  der  Sohn  des  be- 
kannten Bojaren  Iwan  Kaiita  den  Beinamen  «Katze»  (Koinsa),  einer 
seiner  Enkel  hiess  der  «Zahnlose»  (Be33y<5en,T>),  ferner  finden  sich 
primitive  Spitznamen  wie:  Hals  (Ulea),  Backe  (U^eKa),  Hinkfuss 
(XpoMofl),  der  nacktfüssige  Wolf  (Bocobojokobi)  u.  dgl.  m 

Die  weitere  Entwicklung  dieser  neu  organisirten  Beamten- 
klasse unter  Iwan  III.  und  Iwan  IV.  bestand  in  folgenden  Mass- 
regeln :  1)  die  freien  Männer  verloren  das  Recht  den  grossfürst- 
lichen Dienst  zu  verlassen;  2)  sie  erhielten  Landstücke  zu  ihrer 
persönlichen  Benutzung  gegen  die  Verpflichtung,  ihrem  Herrscher 
zu  dienen ;  3)  das  moskowitische  Hofbeamtenthum  i  b  pahctbo) 
wurde  organisirt  und  an  der  südlichen  Grenze  (yicpaflna)  eine 
Grenzwache  ins  Leben  gerufen ;  4)  es  wurde  festgesetzt,  wie  viel 
Männer  von  jedem  einzelnen  Grundstück  für  den  Kriegsdienst  zu 


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Der  Adel  in  Russland. 


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stellen  seien ;  5)  der  Uebergang  der  Bojarensöhne  und  der  Nach- 
kommen von  Staatsdienern  unter  die  Leibeigenen  wurde  verboten 
und  die  Bezeichnung  c^Bopainiuti  dadurch  verallgemeinert  und  zu 
einer  ehrenvollen  Bedeutung  erhoben. 

Die  beiden  oben  erwähnten  Monarchen  Hessen  es  sich  ange- 
legen sein,  durch  Zutheilung  von  Landbesitz  ihre  Diener  an  sich 
und  den  moskowitischen  Staat  zu  fesseln,  indem  sie  besonders  be- 
strebt waren,  dieselben  in  ihrer  Nähe,  in  der  Umgegend  von  Moskau 
festzuhalten.  Iwan  IV.  (der  Schreckliche)  befahl  im  Jahre  1550, 
dass  die  Bojaren  und  ihre  Söhne  nicht  weiter  als  60 — 70  Werst 
von  der  Residenz  ansässig  sein  dürften ;  die  Zaren  bedurften  ihrer 
für  den  Dienst  bei  Hofe,  in  den  Rathsversammlungen,  für  ver- 
schiedene Sendungen  und  Aufträge.  Diese  landbesitzenden  Beamten 
bildeten  den  Moskauer  Adel  und  geuossen  gewisser  ständischer 
Privilegien.  Die  Summe  der  Vertheilungen  von  Landbesitz  wird 
gegen  Ende  der  Regierung  Iwans  des  Schrecklichen  auf  mehr  als 
50  Millionen  Tschetwert  Land,  die  Zahl  der  belehnten  Staatsdiener 
auf  13— 15000  geschätzt. 

Eine  Folge  dieser  materiellen  Sicherstellung  der  durch  diesen 
Act  privilegirteu  Beamtenklasse  war  unter  anderem  auch  die  Ver- 
änderung, welcher  allmählich  die  Bedeutung  des  Ausdrucks  cjibo- 
paiiiMt»  unterworfen  wurde;  f^BopauHUL»  hiess  von  jetzt  ab  ein 
Staatsdiener,  welchem  ein  Grundbesitz,  ein  Hof  (wopt)  zugetheilt 
worden  war  und  der  sowol  in  eigener  Person,  als  auch  durch  ein- 
gelieferte Leibeigene  Wehrpflicht  abzuleisten  sich  verpflichtete. 
Der  Uebergang  von  Mitgliedern  dieser  socialen  Klasse  in  den 
Sclavenstand  erklärt  sich  durch  den  Umstand,  dass  bald  die  zu- 
geteilten Landparcellen  nicht  mehr  zum  Unterhalt  der  Familien 
ausreichten,  die  Dienstpflicht  drückend  empfunden  wurde  und  die 
heranwachsende  Schuldenmasse  schliesslich  so  gross  war,  dass  an 
einer  Bezahlung  derselben  verzweifelt  werden  musste.  Es  ist  ge- 
wiss eine  merkwürdige  Erscheinung,  dass  der  russische  Adel  so  zu 
sagen  von  seiner  Wiege  an  mit  Schulden  und  materieller  Noth  zu 
kämpfen  hat  und  bis  in  die  neueste  Zeit  diese  ihm  angeborene 
Krankheit  niemals  zu  überwinden  im  Stande  war. 

Die  Verbote,  Nachkommen  der  Beamten  unter  die  Leibeigenen 
aufzunehmen,  wurden  beständig  wiederholt  und  beweisen  genügend, 
dass  die  Zugehörigkeit  zum  grundbesitzlichen  Beamtenstande  als 
ein  sehr  zweifelhaftes  Glück  angesehen  wurde  und  durchaus  nicht 
als  Privilegium  galt,  welches  von  den  Gliedern  dieser  Klasse  ge- 

Ballischo  Monntm»chrifl,  IUn.1  XXXIV,  Jlofl  7.  41 


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G14 


Der  Adel  in  Russland. 


schätzt  wurde.  In  seinem  Testament  tiberlieferte  Iwan  der  Schreck- 
liche seinen  Nachfolgern  folgende  Worte,  die  als  Grundzüge  der 
moskowitischen  ständischen  Politik  angesehen  werden  können  und 
für  dieselbe  massgebend  blieben :  <man  muss  die  Menschen  fest- 
zuhalten suchen,  aber  sich  hüten,  sie  an  sich  zu  fesseln  in  allen 
Stücken  —  daran  solltet  auch  ihr  euch  gewöhnen!» 


Als  die  moskowitische  Regierung  zu  voller  Machtentfaltung 
gelangte,  erschienen  die  meisten  Theilfürsten  in  Moskau  und  traten 
in  die  Dienste  des  Grossfürsten,  sie  blieben  im  Besitz  ihrer  Stamm- 
güter und  ihres  Titels ;  andere  verkaufteu  ihre  Souveränitätsrechte 
oder  vermachten  ihre  kleinen  Fürstentümer  dem  Grossfürsten  von 
Moskau  mit  der  Bedingung,  die  Tilgung  der  auf  denselben  haften- 
den Schulden  zu  übernehmen.  Die  hierbei  in  Betracht  kommenden 
Ziffern  erscheinen  uns  fast  lächerlich  durch  ihre  bescheidene  Klein- 
heit, selbst  wenu  wir  annehmen,  dass  zu  jeuer  Zeit  der  Geldwerth 
den  gegenwärtigen  um  das  hundertfache  übertraf :  der  Fürst  Jurij 
Wassiljewitsch  Dmitrewski  hinterliess  z.  B.  Schulden  in  der  Ge- 
sammtsumme  von  752  Rubeln,  Fürst  Michail  Wereiski  von  nur 
267  Rubeln.  Allmählich  geriethen  also  die  Ländereien  und  deren 
Beherrscher  unter  die  Botmässigkeit  des  moskowitischen  Gross- 
fürsten ;  traten  sie  in  die  Dienste  desselben,  so  bewahrten  sie 
ihren  Fürstentitel.  Dieser  Titel  blieb  demnach  die  einzige  erb- 
liche Bezeichnung,  welche  von  Anbeginn  der  russischen 
Geschichte  an  vom  Vater  auf  den  Sohn  überging,  daher  können 
die  von  Rurik  herstammenden  russischen  Fürstengeschlechter  sich 
einer  weit  älteren  Genealogie  rühmen,  als  die  meisten  Familien  des 
hohen  Adels  in  Westeuropa,  denen  es  schwer  werden  dürfte,  ihren 
Ursprung  bis  auf  das  neunte  Jahrhundert  zurückzuführen. 

Diese  Ueberbleibsel  unabhängiger  Fürstengeschlechter  schienen 
nebst  den  Nachkommen  einiger  fremdländischen  Herrscherfamilien, 
wie  z.  B.  der  ausgewanderten  littauischen  und  verschiedener  tatari- 
scher und  asiatischer  Fürsten  —  ganz  dazu  geeignet,  den  Kern 
zu  einer  höheren  Landesaristokratie  mit  politischen  und  socialen  Vor- 
rechten zu  bilden ;  ihre  Herkunft,  die  Erblichkeit  ihres  Titels  und 
Besitzes  befähigten  sie  dazu,  als  Peers  des  Grossfürsten  zu  figuri- 
ren,  mit  dem  sie  gleichen  Ursprungs  waren.  Das  geschah  aber 
keineswegs :  die  russischen  Fürsten  verwandelten  sich  Äusserst 
schnell  und  ohne  alle  Schwierigkeiten  in  einfache  Diener  des  Zaren, 


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Der  Adel  in  Russlaiul. 


Gin 


ihm  gegenüber  nannten  sie  sich  eben  so  gut  « Knechte >  (xojionn) 
wie  alle  übrigen  Unterthanen  —  der  fürstliche  Titel  hatte  weder 
im  Dienste,  noch  in  der  socialen  Stellung  irgend  welchen  be- 
stimmten Werth.  Die  Nachkommen  der  ehemals  souveränen  Fürsten 
vertheilten  sich  auf  alle  Stufen  der  Diensthierarchie  und  die 
Zaren  räumten  dem  persönlichen  Dienst  überall  die  erste 
Stelle  ein. 

Der  Vortritt  bei  Hofe  (iifccTunqecTBo)  gab  bekanntlich  die 
Veranlassung  zu  endlosen  Streitigkeiten ,  Klagen  und  Fehden 
zwischen  den  Bojaren  des  altmoskowitischen  Staates,  aber  der 
Fürstentitel  hatte  für  dieselben  gar  keine  Bedeutung ;  massgebend 
für  den  Vortritt  war  nicht  die  Herkunft,  sondern  die  dienst- 
liche Stellung  der  Streitenden  und  ihrer  Vorfahren.  Die 
Schuld  an  diesem  Mangel  jeglichen  Prestiges  der  Fürstengeschlechter 
trug  wol  auch  der  Umstand,  dass  die  Nachkommen  Ruriks  sich 
kolossal  vermehrt  hatten,  so  dass  im  15.  Jahrb.  1G7  Geschlechter 
existirten,  in  denen  sämmtliche  Familienglieder  den  Fürstentitel 
führten.  Dieser  Ueberfluss  an  Fürsten  trug  natürlich  dazu  bei, 
dass  dieselben  im  Volke  eben  so  wenig  Achtung  und  Sympathie 
genossen,  wie  das  Institut  der  Theilfürstenthümer  selbst.  Die 
öffentliche  Meinung  schrieb  dieser  politischen  Gestaltung  die  Schuld 
an  den  meisten  unglücklichen  Ereignissen  zu,  welche  über  Russland 
gekommen  waren  ;  ohne  die  Unterstützung  des  Volkes  konnten  die 
Fürsten  nichts  anderes  werden  als  c Knechte >  des  Zaren,  weil  sie, 
stets  mit  einander  in  endlosem  Streite  liegend,  keiu  einigendes 
Princip  kannten  und  jeder  Solidarität  baar  blieben.  Die  Auf- 
lehnungen der  Fürsten  oder  auch  der  Bojaren  trugen  daher  immer 
den  Charakter  zufälliger  Feindseligkeiten,  von  corporativer  Oppo- 
sition konnte  niemals  die  Rede  sein.  Die  in  den  Staatsdienst 
tretenden  Fürsten  verschwanden,  nach  der  Auffassung  des  Volkes, 
unter  den  übrigen  Bojaren,  welche  gleichfalls  nichts  weniger  als 
populär  waren,  die  Regierung  räumte  ihnen  gern  eine  hervorragende 
Stellung  unter  den  übrigen  Hofbeamten  ein,  war  aber  bestrebt, 
den  Landbesitz  vollständig  dem  Einfluss  der  Regierung  zu  unter- 
werfen. So  wurde  das  Erbrecht  eingeschränkt,  den  ehemals 
souveränen  Fürsten  verboten,  ihre  Ländereien  zu  verkaufen,  gegen 
andere  zu  vertauschen,  den  Klöstern  testamentarisch  zu  vermachen, 
ja,  der  Zar  Alexei  Michailowitsch  verbot  sogar  dem  Fürsten 
Romodomowski,  den  Titel  seiner  Ahnen  (Fürst  von  Starodub-Rja- 

polski  an  der  Kljasma)  weiter  zu  führen  und  gestattete  es  ihm 

41« 


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G16 


Der  Adel  in  Russland. 


erst  nach  langem  demtitbigen  Bitten  seitens  des  tum  den  Verlust 
seiner  Ehre>  besorgten  Fürsten. 

Auch  unter  den  übrigen  Bojaren  spielten  die  Nachkommen 
R iiriks  nie  eine  Rolle  und  bildeten  niemals  eine  gesonderte  Gruppe; 
selbst  als  der  Thron  unbesetzt  war,  dachten  sie  nicht  daran,  einen 
der  ihrigen  für  denselben  auszuersehen,  und  der  neue  Zar  Boris 
Godunow  erhielt  die  Herrschaft  über  das  Reich  dank  seiner  Ver- 
wandtschaft mit  der  Gemahlin  des  letzten  Herrschers  aus  dem 
alten  Stamme  —  gehörte  aber  seiner  Herkunft  nach  nicht  einmal 
zu  den  vornehmeren  Bojaren.  Als  späterhin  der  polnische  Prinz 
Wladislaw  von  dem  Rath  der  Bojaren  als  Beherrscher  von  Russ- 
land anerkannt  wurde,  dachten  diese  wiederum  nicht  daran,  die 
günstige  Situation  zu  Gunsten  einer  feudal-aristokratischen  Privile- 
girung  ihres  Standes  auszubeuten  —  so  sehr  blieb  jede  aristokra- 
tische Organisation  des  Staates  Russland  fremd.  Auch  bei  der 
Wahl  des  ersten  Romanow  Michael  Feodorowitsch  zeigte  sich 
wieder  dieser  Mangel  einheitlichen  Standesgefühls  und  das  Vor- 
herrschen rein  subjectiver  Interessen  und  Absichten.  Wenn  der 
Fürst  Scheremetjew  z.  B.  schreiben  konnte:  <Mischa  Romanow  ist 
noch  jung,  sein  Verstand  unreif,  wir  werden  ihm  leicht  beikommen 
können,>  so  hatte  er  hierbei  nicht  etwa  die  Absicht,  von  dem  neuen 
Zaren  Privilegien  für  seinen  Stand  zu  erlangen,  sondern  es  handelte 
sich  einfach  um  die  Erreichung  egoistischer  Zwecke.  Als  Diener 
ihres  Fürsteu  und  des  Staates  waren  die  Bojaren  mitunter  in  der 
That  «weise  Männer  und  zuverlässige  Heerführer>,  traten  sie  aber 
selbständig  in  die  Arena  des  politischen  Lebens,  so  zeigten  sie 
sich  als  engherzige  Menschen,  welche  rein  persönliche,  kleinliche 
Ziele  verfolgten.  Am  meisten  wird  das  wol  durch  die  endlosen 
Streitigkeiten  um  den  Vortritt  bei  Hof  (MtonimecTBo)  bewiesen, 
auf  welche  näher  einzugehen  wir  uns  nach  dem  oben  Gesagten 
ersparen  können. 

Die  Klasse  der  Staatsdiener  erhielt  das  Privilegium  des  all- 
einigen Güterbesitzrechtes,  «damit  das  Land  nicht  seine  Dienste 
versage»,  d.  h.  um  die  Ableistung  der  Wehrpflicht,  den  regel- 
mässigen Eingang  der  Steuern  für  den  Staat  sicher  zu  stellen. 
Um  dieselbe  Zeit  fiel  ihnen  noch  ein  anderes  Vorrecht  zu,  das- 
jenige, Leibeigene  zu  besitzen  —  eigentlich  nur  eine  Folge  des 
zuerst  erwähnten  Privilegiums,  da  die  Bauern  gesetzlich  an  die 
Scholle  gefesselt  waren.  Im  Jahre  1G82  befahl  der  Zar  Feodor 
Alexejewitsch  die  Einführung  von  vier  Geschlechtsbüchern  ;  in  das 


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Der  Adel  in  Russland.  (517 

erste  derselben  sollten  die  fürstlichen  und  anderen  Familien  einge- 
tragen werdeu,  welche  die  Stellungen  von  Bojaren  und  Mitgliedern 
des  hohen  Ratlies  einnahmen  oder  seit  der  Regierung  Iwans  IV. 
als  Gesandte,  Statthalter  (uoeuo^x)  und  Heerführer  eine  Rolle  ge- 
spielt hatten.  Das  zweite  war  für  diejenigen  Geschlechter  be- 
stimmt, welche  der  Regierung  Michaels  Feodorowitsch  die  gleichen 
Dienste  geleistet  hatten  &c.  Die  Zugehörigkeit  zu  dem  einen 
oder  anderen  dieser  Adelsregister  verlieh  jedoch  keine  besonderen 
Rechte ;  diese  Massregel  verdankte  nur  dem  Umstände  seinen  Ur- 
sprung, dass  der  Zar  unter  polnischem  Eiufluss  herangewachsen 
und  darauf  bedacht  war,  tdass  die  Geschlechtsbücher  den  Zeit- 
genossen  und  der  Nachkommenschaft  die  Erinnerung  an  ihre  Her- 
kunft erhalten  sollten  >. 

Die  Klasse  der  Staatsbeamten,  welche  wir  von  jetzt  an  als 
Dienstadel  betrachten  können,  war  immer  zahlreicher  geworden, 
im  Jahre  1616  bestand  sie  aus  23049  Männern,  diese  Edelleute 
wurden  in  ihrer  Gesammtsumme  jedoch  nur  dann  zu  der  Ausübung 
ihrer  Kriegs-  und  Dienstpflicht  angehalten,  wenn  die  äusserste 
Noth  eine  solche  Anstrengung  erforderte. 

Beriefen  die  Zaren  eine  Landesversammlung  (3esicKifl  coöopi»), 
so  gehörten  zu  dieser  Leute  aller  Berufsklassen,  die  Adeligen  bildeten 
aber  die  ungeheure  Majorität  der  Theilnehmer,  da  die  Regierung 
die  auderen  Elemente  der  Bevölkerung  nur  selten  zu  diesen  Be- 
rathungen hinzuzog  —  waren  sie  doch,  abgesehen  von  den  Kauf- 
leuten, grösstenteils  zu  Leibeigenen  geworden.  Eine  Mittelklasse, 
ein  Bürgerstand  fehlte  aber  selbst  in  den  grösseren  Städten. 

Die  verschiedenen  Dienstklassen  des  altmoskowitischen  Adels 
entsprechen  übrigens  durchaus  nicht  der  später  von  Peter  dem 
Grossen  eingeführten  Rangtabelle,  die  Glieder  desselben  mussten 
zur  Erfüllung  ihrer  Obliegenheiten  abwechselnd  in  der  Residenz 
leben  und  lösten  einander  vier-  bis  fünfmal  im  Laufe  des  Jahres 
ab.  Trotz  aller  Verworrenheit  in  dieser  obligatorischen  Höflings- 
pflicht lassen  sich  etwa  folgende  Gruppen  unterscheiden :  1)  der 
Dienst  und  die  Theilnahme  an  den  Rathsversammlungen  der  höchsten 
Reichsbeamten ;  2)  das  Amt  der  Kämmerlinge  und  anderer  die 
Person  des  Zaren  bedienender  Hofbeamten  ;  3)  der  Kriegsdienst 
der  einfachen  Edelleute  und  «Bojarensöhne»  ;  4)  die  Civilchargen 
in  den  Behörden  (DpiiKa3uue  IDAR) ;  5)  verschiedene  Stellungen 
theils  civiler,  theils  militärischer  oder  höfischer  Art,  welche  die 
Inhaber  derselben  verpflichteten,  au  gewissen  Tagen  in  Sammet- 


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618 


Der  Adel  in  Russland. 


gewändern  oder  Kaftans  aus  Goldbrocat  bei  Hofe  zu  erscheinen. 
Ausser  diesen  Chargen,  welche  den  Edelmann  mit  dem  Hof  in 
Berührung  brachten  und  ihm  Aussicht  auf  eine  mehr  oder  weniger 
glänzende  Laufbahn  eröffneten,  gab  es  aber  noch  einen  anderen, 
obligatorischen  Dienst,  zu  dessen  Ausübung  der  Besitzer  eines 
Landgutes  verpflichtet  war  —  die  Wehrpflicht.  Der  Edelmann 
hatte  bewaffnet  und  beritten  zu  erscheinen  und  eine  bestimmte 
Anzahl  gleichfalls  bewaffneter  und  berittener  Leibeigener  dem 
Heere  zuzuführen.  Das  verursachte  bedeutende  Unkosten;  der 
Edelmann  musste  oft  genug  Schulden  machen,  um  dieser  militä- 
rischen Lehnspflicht  zu  genügen  ;  der  Ertrag  seines  Landbesitzes, 
welcher  allenfalls  diese  Ausgaben  hätte  decken  können,  verkleinerte 
sich  durch  die  Abwesenheit  des  Gutsherrn  und  so  vieler  kräftiger 
Männer,  und  es  ist  verständlich,  wenn  der  Adel  alle  denkbaren 
Mittel  anwandte,  um  der  Theilnahme  an  diesen  militärischen  Aus- 
zügen zu  entgehen.  Die  Regierung  führte  daher  einen  beständigen 
Kampf  gegen  den  moskauer  Adel,  um  ihn  zu  der  Erfüllung  seiner 
militärischen  Lehnspflicht  zu  zwingen  ;  das  gelang  aber  niemals 
ganz  und  die  Zahl  der  Dienstverweigerer  (ni>TiniKOBT>,  d.  i.  Nein- 
sager) blieb  eine  bedeutende.  Eine  grosse  Anzahl  von  Ukasen  be- 
droht den  c faulen,  ungetreuen»  Adel  mit  den  härtesten  Strafen. 
Iwan  der  Schreckliche  befahl,  die  nicht  erschienenen  lehuspflichtigen 
Edelleute  «ausfindig  zu  machen,  mit  der  Knute  zu  prügeln,  von 
ihnen  Caution  zu  nehmen  und  sie  in  den  Dienst  zu  schicken  >. 
Alles  dies  muss  jedoch  wenig  geholfen  haben,  denn  die  Ukase  aus 
dem  17.  Jahrhundert  drohen  den  ■  Neinsagern  >  sogar  mit  der  Todes- 
strafe und  versprechen  den  Denuncianten  die  confiscirten  Güter 
der  dienstverweigemden  Edelleute. 

Parallel  mit  diesen  Erscheinungen  trug  sich  die  Gesetzgebung 
des  moskowitischen  Zarthums  im  17.  Jahrhundert  mit  der  Absicht, 
die  Lehnsgüter  (uoM-fccTbe)  den  Erbgütern  (BOTinna)  gleichzustellen. 
Noch  vor  einem  Jahrhundert  hatte  die  Regierung  das  Erbrecht  und 
die  freie  Verfügung  über  die  Erb  gtiter  einzuschränken  versucht, 
jetzt  erlaubte  sie  es,  dass  die  L  e  h  n  s  güter  vertauscht  oder  ver- 
kauft wurden.  So  hatten  sich  die  Zeiten  verändert,  so  schnell  war 
jede  Besorgnis  geschwunden,  dass  die  Nachkommen  der  ehemals 
souveränen  Fürsten  politisch  gefährlich  werden  könnten,  so  bald 
war  es  klar  geworden,  dass  jegliche  Eintracht,  jedes  Standes- 
bewusstsein,  jeder  esprit  de  corps  dem  locker  zusammengewürfelten 
Adel  Russlands  gänzlich  fehlten. 


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Der  Adel  in  Russland. 


619 


Als  die  Zaren  allmählich  begannen  stehende  Heere  zu  halten 
und  es  nicht  mehr  galt,  mit  tatarischen  und  mongolischen  Horden, 
sondern  gegen  militärisch  organisirte  Armeen  zu  kämpfen,  verlor 
•  der  Kriegsdienst  und  die  militärische  Lehnspflicht  des  Adels  alle 
Bedeutung.  Der  wehrpflichtige  Lehnsträger  wurde  zum  Guts- 
besitzer, zum  Erbherrn.  Die  Regierung  verwandelte  schliesslich 
den  lebenslänglichen  Besitz  in  ein  erbliches,  beständiges  Eigenthum  ; 
die  dem  Adel  bedingungsweise  verliehenen  Güter  und  Leibeigeuen 
gingen,  nach  der  Befreiung  dieses  Standes  von  der  obligatorischen 
Dienstpflicht,  gänzlich  in  seineu  vollen,  bedingungslosen  Besitz 
über,  gestützt  auf  die  Formel  ■  beati  possidentcs ! 

Diese  bedeutungsvolle  Veränderung  in  der  Lage  des  adeligen 
Standes  geschah  während  der  t  kaiserlichen  Periode  *  der  russischen 
Geschichte,  wo  im  18.  und  19.  Jahrhundert  der  Einfluss  West- 
europas auf  die  Gestaltung  des  socialen  und  politischen  Lebens 
immer  stärker  wurde.  Die  Beziehungen  der  Zaren  zu  den  Edel- 
leuten  waren  stets  patriarchalisch-primitiver  Natur  gewesen.  Als 
Feodor  Alexejewitsch  die  Einführung  der  Geschlechtsbücher  anbe- 
fahl, wurden  die  Glieder  der  auf  diese  Weise  geehrten  Familien 
nicht  von  der  Körperstrafe  befreit,  ja,  die  mit  der  Knute  gezüchtigten 
Edelleute  blieben  sogar  nach  wie  vor  Glieder  des  Adels.  Wenn 
der  Kaiser  Peter  I.  befahl,  die  Bärte  zu  scheeren  und  c deutsche» 
Kleider  zu  tragen,  so  übertrat  er  durch  solche  Vorschriften  keines- 
wegs die  Grenzen  der  patriarchalen  Beziehungen  seiner  Ahnen  zu 
dem  Adel.  Peter  der  Grosse  war  es  auch,  der  den  letzten  Unter- 
schied zwischen  den  Erb-  und  Lehnsgütern  vernichtete  und  den 
Staatsbeamten  nicht  mehr  Ländereien,  sondern  bestimmte  Geld- 
summen als  Gehalt  aussetzte.  Von  jetzt  ab  kommt  es  zwar  auch 
noch  oft  genug  vor,  dass  Landbesitz  von  den  Monarchen  vertheilt 
wurde,  jedoch  nicht  mehr  mit  der  Absicht,  durch  diese  Schenkungen 
den  Staatsbeamten  gegen  gewisse  Verpflichtungen  dienstlicher  Art 
die  Mittel  zum  Unterhalt  zu  gewähren,  sondern  mit  dem  CMiarakter 
einfacher  Landschenkungen  als  materieller  Beweise  der  kaiserlichen 
Huld  und  Gnade.  Im  18.  Jahrhundert  breitete  sich  das  russische 
Reich  über  ungeheure  Territorien  aus  und  wurde  es  daher  den 
Monarchen,  besonders  aber  den  Herrscherinnen  leicht  möglich, 
ihren  Günstlingen  grosse  Landstrecken  zu  schenken,  die  das  Funda- 
ment zu  enormen  aristokratischen  Besitzungen  legten.  Kaiser 
Paul  verlieh  an  seinem  Krönungstage  Güter  mit  einer  Bevölkerung 
von  82000  Seelen  an  seine  Hofbeamten  und  im  Jahre  1800  er- 


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G20  Der  Adel  iu  Russland. 

hielten  verschiedene  Beamte  213000  Dessätinen  als  dienstliche  Be- 
lohnungen im  Gouvernement  Ssaratow  angewiesen.  Erst  Alexander  I. 
begann  diese  Schenkungen  angesiedelten  Landes  einzustellen  und 
bis  zu  der  Regierung  Alexanders  II.  wurde  nur  noch  unbebautes 
Land  verliehen. 

Peter  der  Grosse  war  es  ferner,  der,  nach  Vernichtung  der 
altraoskowitischen  ßeamtenhierarchie ,  den  Versuch  machte,  die 
Glieder  des  bedeutungslos  gewordenen  Standes  der  Staatsdiener  zu 
einem  Ganzen  zu  vereinigen.  Die  jetzt  erst  definitiv  formirte 
Adelscorporation  erhielt  den  unrussischen  Namen  «m.iaxeTCTBo»,  ver- 
mutlich weil  die  Bezeichnung  «ABopjincTno»  ihre  alte  Bedeutung 
einer  niederen  Beamtenklasse  noch  nicht  ganz  verloren  hatte ;  erst 
in  der  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  erlangte  das  Wort  <ARopaii- 
ctbo»  die  volle  Bedeutung  des  höchsten  privilegirten  Standes, 
des  Adels. 

Als  besondere  Privilegien  verlieh  Peter  I.  dem  neu  constituir- 
ten  Stande  das  Recht,  Wappenschilder  und  den  Titel  e Wohlgeboren» 
zu  führen,  legte  den  Grund  zu  den  localen  Adelsinstitutionen  in 
den  Gouvernements  und  befahl  die  Einführung  von  Landraths- 
collegien,  die  gemeinsam  mit  dem  Gouverneur  t allen  administra- 
tiven Geschäften  vorstehen  sollten».  Der  Einfluss  baltischer  Vor- 
bilder für  diese  Adelscorporationen  ist  schon  in  dieser  Verfügung 
sichtbar,  unter  der  Regierung  Katharinas  II.  sollte  derselbe  noch 
fühlbarer  werden,  als  sie  vor  Erlass  des  Gnadenbriefes  für  den 
russischen  Adel  (sa.ioBanuaH  rpaHOTa  ABopxncTßy)  mit  den  balti- 
schen Edelleuten  Ulrich  und  Sievers  über  die  Einführung  des 
Instituts  der  Adelsmarschälle  correspondirte  (siehe :  Bienemann, 
Die  Statthalterschaftszeit,  Seite  32  ff.,  258  und  260). 

Unter  den  Nachfolgern  Peters  des  Grossen  war  es  der  Gemahl 
Katharinas,  Peter  III.,  welcher  den  Adel  definitiv  von  der  Ver- 
pflichtung freisprach,  dem  Staat  im  Civil-  oder  Militärdienst  dienen 
zu  müssen.  Durch  das  Manifest  vom  18.  Februar  1762  wurde  dem 
Adel  diese  endliche  Aufhebung  der  Lehnspflicht  verkündet,  als  deren 
Ueberreste  nur  noch  bestehen  blieben :  l)  dass  die  Edelleute,  welche 
nirgendwo  dienten,  verachtet  und  vernichtet  sein  sollten»  (natürlich 
nur  im  figürlichen  Sinn)  und  dass  talle  treuen  Unterthanen  als 
echte  Söhne  des  Vaterlandes  die  Anwesenheit  solcher  Edelleute 
nicht  dulden  sollten,  weder  bei  Hofe,  noch  bei  öffentlichen  Ver- 
sammlungen und  Festen»,  2)  die  Massregel,  dass  der  Adel  eines 
jeden  Gouvernements  jährlich  30  Mann  aus  seiner  Mitte  für  den 


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Der  Adel  in  Russland. 


G21 


Dienst  im  Senat  und  20  für  den  Dienst  in  dein  Senatscomptoir 
abzusenden  habe ;  3)  dass  der  Monarch  berechtigt  sei,  die  Edel- 
leute  behufs  Ableistung  ihrer  Dienstpflicht  einzuberufen,  wenn  es 
die  Umstände  erforderten  ;  4)  dass  die  Edelleute  verpflichtet  seien, 
«ihre  Kinder  in  den  Wissenschaften  unterrichten  und  erziehen  zu 
lassen,  wie  es  eines  wohlgeborenen  Adels  würdig  ist» . 

Erst  mit  Erlass  dieses  Manifestes  kann  von  der  eigentlichen 
Existeuz  eines  Adels,  als  eines  wirklich  privilegirten  Standes,  die 
Rede  sein,  wenn  auch  die  Freiheiten  und  Vorzüge  des  russischen 
Adels  erst  in  dem  oben  erwähnten  Gnadenbrief  Katharinas  II.  end- 
giltigen  Ausdruck  fauden.  Dieser  tragt  das  Datum  des  2t.  April 
1785  und  verleiht  den  Edelleuten  Vorrechte  negativer  und  positiver 
Art.  Zu  den  ersteren  gehört  die  Befreiung  vom  persönlichen  Dienst 
und  allen  Abgaben,  welche  an  der  Person  haften  (Kopfsteuer),  Be- 
freiung von  jeglicher  Einquartierung  und  von  den  Körperstrafen  ; 
zu  den  letzteren  das  Privilegium,  Landgüter  und  Leibeigene  zu 
besitzen,  gewisse  Vorrechte  bei  der  Beförderung  von  einer  Rang- 
stufe zur  anderen  beanspruchen  zu  können  und  endlich  das  Prä- 
rogativ, eine  besondere  corporative  Organisation  zu  bilden.  Als 
jedoch  im  Jahre  1801  allen  russischen  Unterthanen  das  Güter- 
besitzrecht  zugesprochen  wurde,  behielt  der  Adel  nur  noch  das 
Privilegium  des  Besitzes  von  bewohnten  Landstücken,  d.  Ii.  die 
anderen  Stände  konnten  Leibeigene  weder  kaufen  noch  verkaufen. 
Endlich  muss  hier  noch  des  Rechtes  Erwähnung  geschehen,  welches 
dem  Edelmann  als  Gutsbesitzer  zustand,  nämlich  der  Ausübung 
der  polizeilichen  Gewalt  über  seine  Leibeigenen.  Wenn  schliess- 
lich der  Gnadenbrief  versprach,  dass  alle  diese  ständischen  Vor- 
rechte «unrüttelbar  und  unverletzlich»  sein  sollten  und  der  Edel- 
mann nur  durch  einen  Richterspruch  seiner  adeligen  Mitbrüder 
seiner  Privilegien  verlustig  erklärt  werden  könne,  so  ist  diese  an 
das  mittelalterliche  Gericht  der  Pairs  erinnernde  Verordnung  nie- 
mals zur  Ausführung  gelangt'.  Der  Adel  jedes  Gouvernements 
erhielt  von  jetzt  ab  eine  corporative  Organisation  und  seit  1785 
das  Recht,  Kreis-  und  Gouvernements-Adelsmarschälle  aus  seiner 

1  Wenn  sie  irrthümlich  als  Selbstbescbränkung  der  allerhöchsten  Gewalt 
aufgefasst  wird  -  allerdings  nicht.  Der  im  (inadenbrief  ausgesprochene  (Jntnd- 
satz  kar.n  aber  nur  den  Sinn  haben,  dass  der  Edelmann  zunächst  nur  vor  die 
durch  Wahl  des  Adels  besetzten  (ierichte  gestellt,  nur  von  seinen  Standesgenosseu 
gerichtet  werden  solle,  wie  das  mit  dem  bürgerlichen  Stande  ebenso  der  Fall 
war.    D.  Red. 


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622 


Der  Adel  in  Russland. 


Mitte  zu  wählen1,  welche  die  ständischen  Interessen  zu  wahren 
und  der  Eegierung  gegenüber  zu  vertreten  hatten.  Der  Adel 
durfte  Uniformen  tragen,  welche  anfangs  je  nach  den  Gebieten 
und  Gouvernements  von  mannigfaltigem  Schnitt  und  verschiedener 
Farbe  sein  mussten,  bis  der  Kaiser  Nikolai  im  Jahre  1832  für 
den  gesammten  Reichsadel  die  Uniform  des  Ministeriums  des  Innemi 
obligatorisch  machte. 

Durch  das  Gouvernementsinstitut  von  1775  war  der  Adel 
berechtigt,  eine  beträchtliche  Anzahl  von  Aemtern  im  Gerichts- 
wesen und  in  der  Polizeiverwaltung  durch  Wahlen  aus  seiner 
Mitte  zu  besetzen.    Es  scheint  uns  nicht  noth wendig,  hier  näher 
auf  die  Details  und  die  Competenz  dieser  vom  Adel  gewählten 
Beamten  einzugehen.    Es  bedarf  nicht  einmal  der  Hinweise  auf 
offizielle  Verurtheilungen  der  Thätigkeit  jener  adeligen  Isprawniks 
und  der  anderen  Adelsbeamten  in  Russland,  denn  wer  erinuert 
sich  nicht   dieser  typischen  Gestalten  im   «Revisor»   oder  den 
«todten  Seelen»  Gogols  und  der  späterhin  veröffentlichten  scharfen 
Verurtheilungen    durch   die   Anklageliteratur,   vor   allem  des 
Satirikers   Schtschedrin    (Ssaltykow)    in    seinen    «Skizzen  aus 
dem  Gouvernementsleben»  V   Als  1860  und  1865  dieses  Wahl- 
recht  des  Adels  aufgehoben  wurde,  fand  daher  die  öffentliche 
Meinung  in  Russland  keine  Veranlassung,  über  den  Verlust  dieser 
Prärogative  zu  trauern,  die  neuen  Gerichtsinstitutionen  wurden  im 
Gegentheil  mit  einer  Begeisterung  begrüsst,  die  erst  neuerdings 
einer  kritischen  Stimmung  Platz  macht.    Es  wäre  übrigens  un- 
billig ,  den  adeligen  Wählern  die  Schuld  an  dem  Mangel  an 
Pflichttreue  und  Redlichkeit  zuzumessen,  da  die  Beamtenwelt  jener 
Zeit  sich  überhaupt  durch  Corruption  auszeichnete;  mit  mehr  Recht 
Hesse  sich  aber  behaupten,  dass  die  ständische  Abgeschlossenheit 
der  Wahlen  noch  keine  Gewähr  für  die  moralische  Qualität  der 
Gewählten  in  sich  schliesse. 

Seit  Einführung  der  Landschaftsinstitutionen  ist  dem  Adel 
in  Russland  die  leitende  Rolle  in  den  Semstwos  zugefallen,  und  es 
lässt  sich  nicht  leugnen,  dass  er  hier  Tüchtiges  geleistet  hat  und 
die  bedeutungsvollen  Verbesserungen  auf  dem  Gebiete  des  Schul- 
wesens, des  communalen  Wegebaues  und  des  Medicinalwesens  der 


1  Das  Datum  ist  uurichtig  angegeben.  Vgl.  darüber  Bieneraann,  Statt- 
halterschaftszeit, p.  40—47  und  Sitzungsberichte  der  Gesellschaft  für  Gesch.  und 
Alterth.  der  Ostseepruvinzen  f.  1886,  p.  109—111.    D.  Red. 


Der  Adel  in  Russland. 


(323 


Initiative  des  Adels  in  den  Landschaftsversammlungen  zu  danken 
ist.  Es  lässt  sich  hieraus  der  Schluss  ziehen,  dass  der  Adel  in 
der  ständisch  gegliederten  Periode  der  rassischen  Staatsentwicke- 
lung weniger  für  die  sociale  Weiterentwickelung  und  das  allgemeine 
Wohl  gethan  hat,  als  in  der  neuesten  Zeit,  in  der  Periode  der 
Landschaftsinstitutionen. 

Zum  Schluss  ist  es  nicht  ohne  Interesse,  einen  Blick  darauf 
zu  werfen,  welche  der  genannten  Adelsprivilegien  noch  fortbestehen 
oder,  richtiger  gesagt,  ein  Prärogativ  dieses  Standes  bilden  ?  Wir 
haben  weiter  oben  schon  darauf  hingewiesen,  dass  die  meisten 
dieser  Vorrechte  negativer  Art  waren ;  die  Befreiung  vom  obliga- 
torischen Dienst  und  den  an  der  Person  haftenden  Abgaben  haben 
ihre  Bedeutung  verloren  nach  Einführung  der  allgemeinen  Wehr- 
pflicht und  Aufhebung  der  Kopfsteuer  für  alle  Stände.  Auch  die 
Befreiung  von  den  Körperstrafen  ist  auf  die  Mehrzahl  aller  russi- 
schen Unterthanen  ausgedehnt  worden.  Von  seinen  positiven  Vor- 
rechten hat  der  Adel  seit  Aufhebung  der  Leibeigenschaft  dasjenige 
verloren,  Alleinbesitzer  von  Land  und  Bauern  zu  sein,  auch  im 
Staatsdienst  ist  nicht  mehr  die  Abstammung  massgebend ;  was 
bleibt  also  übrig  ?  Die  Befreiung  der  dem  Adel  gehörigen  Häuser 
von  Einquartierung,  der  Titel  »Hoch wohlgeboren >,  die  Wappen  und 
die  corporative  Organisation,  welche  neuerdings  mehr  eine  Last 
als  ein  Privilegium  genannt  zu  werden  verdient,  seitdem  die 
specifischen  Adelssteuern  mehr  und  mehr  steigen,  während  die 
Zahl  der  gruud besitzenden  Edelleute  abnimmt.  Auch  der  Titel 
kann  leicht  genug  erworben  werden,  seitdem  ebeu  alles  durch 
Bildung,  Dienstalter  und  Geldmittel  erreichbar  ist. 

Bevor  wir  auf  die  gegenwärtige  Lage  des  russischen  Adels 
und  auf  eine  statistische  Ueberschau  seiner  Vertheilung  über  die 
verschiedenen  Gebiete  des  weiten  Reiches  übergehen,  sei  noch  eiu 
Hinweis  darauf  gestattet,  dass  in  Russland  die  ständischen  Privile- 
gien zu  einer  Zeit  festgestellt  wurden  (zu  Ende  des  18.  Jahr- 
hunderts), wo  in  Westeuropa  die  Idee  der  Gleichheit  und  der 
Triumph  des  demokratischen  Bürgerthums  im  Anzüge  war.  Wie 
konnte  das  Interesse  für  eine  corporative  Organisation  unter  den 
jüngeren  Gliedern  des  Adels  angeregt  werden,  das  Standesbewusst- 
sein  Wurzel  schlagen  zu  einer  Zeit,  wo  die  «neuen  Ideen»,  die 
Begeisterung  für  die  französische  Revolution  alle  jungen  Köpfe 
erfüllte? 


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024 


Der  Adel  iu  Russlaud. 


» 

Fragen  wir  endlich,  welches  Facit  sich  aus  dieser  flüchtigen 
Skizze  der  historischen  Entwickelung  des  Adels  in  Russland  ziehen 
lässt,  so  lautet  die  Antwort,  dass  jede  Seite  der  ständischen  Ge- 
schichte Russlands  von  folgenden  Zügen  Kunde  giebt :  1)  Mangel 
an  Einigkeit  und  Verständnis  für  die  Rechte  und  Interessen  des 
Standes ;  2)  Mangel  an  Thatkraft  selbst  in  den  Beziehungen  unter 
den  einzelnen  Gliedern  einer  Corporation.  Es  giebt  eben  in  Russ- 
land  Edelleute,  Kaufleute  und  Bauern,  es  giebt  aber  keinen 
Adel,  keine  Kaufmannschaft,  keinen  Bauer- 
stand! Die  Rahmen  für  die  einzelnen  Stände  bestehen,  das 
Standesgefühl  aber  fehlt.  Die  Stände  siud  hier  Organismen  ohne 
Skelette. 

Sehr  falsch  wäre  es  zu  glauben,  dass  etwa  der  Druck  seitens 
der  Regierungsgewalt  die  ständische  Krystallisirung  iu  Russland 
verhindert  hätte ;  im  Gegentheil,  die  politische  Gewalt  hat  alles 
dazu  gethan,  um  den  Ständen,  insbesondere  dem  Adel,  eine  ständi- 
sche Organisation  zu  ermöglichen1,  es  ist  ihr  aber  nicht  gelungen, 
denn  die  russische  Nation  neigt  nicht  zu  der  Entwickelung  von 
leitenden  Persönlichkeiten  und  Ständen,  wol  aber  zu  der  Bildung 
primitiver  Vereinigungen  der  Familie,  der  Dorfgemeinde  oder  des 
Artel.  Bei  der  grossen  Macht  der  politischen  Gewalt,  der  Regie- 
rung in  Russland  konnten  es  die  Stände  niemals  zu  der  festen 
Organisation,  zu  der  socialen  Bedentung  bringen,  wie  in  West- 
europa, und  die  Verleihung  neuer,  administrativer  Privilegien  an 
den  russischen  Adel  würde  das  Hinschwinden  des  adeligen  Besitz- 
standes nicht  mehr  aufzuhalten  vermögen.  Als  Beweis  für  diese 
letztere  Behauptung  erlaube  ich  mir  hier  die  Wiederholung  einiger 
Zahlenangaben,  welche  ich  im  März  d.  J.  in  der  «Zeitung  für 
Stadt  und  Land»  aus  dem  «Westn.  Jewropy»  veröffentlichte.  Hier 
war  darauf  hingewiesen  worden,  dass  der  russische  Adel  in  drei 
wesentlich  verschiedene  Gruppen  zerfiele,  und  biess  es  weiter :  « Die 
wichtigste  derselben  sind  die  Grossgrundbesitzer,  welche 
vorherrschend  in  den  Residenzen  leben,  höhere  Titel  führen  und  den 
aristokratischen  Kern  des  Standes  ausmachen.  Die  meisten  seiner 
Vertreter  sind  darauf  bedacht,  im  höheren  Staatsdienst  oder  in 
der  grossen  Welt  Carriere  zn  machen,  die  übrigen  werden  einfach 

'  Wie  ansserlich  die  Massnahmen  der  Regierung  waren,  wie  Katharina 
die  corporative  Gestaltung  durch  Vertagung  des  Selbstbestenernngsrechts  mit 
Erfolg  zu  hindern  Buchte,  ist  auf  den  Seiten  44  -47  des  vorstehend  citirten 
Werkes  dargelegt.    Die  K  e  d. 


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Der  Adel  in  Russland. 


025 


Viveurs,  die  den  Rest  ihres  Wohlstandes  sorglos  verleben.  Für 
das  Laudieben,  die  Landwirtschaft  und  die  communalen  Interessen 
des  Kreises  haben  sie  keine  Neigung,  kein  Verständnis.  Die  Zahl 
solcher  Grossgrundbesitzer  ist  schliesslich  eine  sehr  beschränkte, 
in  den  49  Gouvernements  des  europäischen  Russland  giebt  es  iin 
Ganzen  122G  Landbesitzer,  welche  Güter  von  mehr  als  5000  Dess. 
besitzen. 

Auch  die  Gruppe  der  kleinen  Landbesitzer  ist  nicht 
dazu  geeignet,  die  Bildung  einer  localen,  gewählten  Administration 
zu  erleichtern.  Ihre  Lebenslage,  ihr  Horizont  ist  zu  eng,  zu  be- 
schränkt, als  dass  sie  in  der  Gesellschaft  oder  unter  den  übrigen 
Edelleuten  eine  Rolle  spielen  könnten.  So  bleibt  also  nur  die 
Gruppe  der  mittleren  Landbesitzer  mit  Gütern  von 
100  —  1000  Dessätinen.  Dieses  zahlreiche  Element  unter  dem  Adel 
lebt  auf  seinen  Gütern  und  wäre  dazu  geeignet,  seinem  Stande  das 
Ueberge wicht  in  den  Kreisverwaltungen  zu  sichern.  Hier  muss 
jedoch  in  Betracht  gezogen  werden,  dass  in  Folge  der  beständigen 
Erbtheilungen  russischer  Adelsgüter  sogar  ein  Besitz  von  500  Dess. 
als  auf  der  Greuzscheide  zu  dem  Kleingrundbesitze  befindlich  an- 
gesehen  werden  muss,  wie  denn  überhaupt  der  Grundbesitz  des 
russischen  Adels  einer  beständig  zunehmenden  Zersplitterung  ent- 
gegengeht. 

Leider  gebricht  es  uns  an  Raum,  um  auf  die  interessante 
Erörterung  über  die  Folgen  der  Eisenbahnbauten  einzugehen, 
welche  die  Lage  des  grundbesitzenden  Adels  eben  so  stark  beein- 
flussten,  wie  die  Bauerneinancipation ;  sie  lassen  sich  jedoch  kurz 
in  folgendem  Satze  zusammenfassen :  die  Landwirthschaft  im  nörd- 
lichen und  centralen  Rayon  Russlands  wurde  in  der  jüngsten  Ver- 
gangenheit durch  die  Concurrenz  mit  dem  Gebiet  der  Schwarzerde 
ebenso  niedergedrückt,  wie  gegenwärtig  die  Ertragsfähigkeit  des 
letzteren  unter  der  Concurrenz  mit  Amerika  und  Indien  leidet. 

Was  nun  den  Adel  selbst  anbetrifft,  so  ist  vor  allem  die  Er- 
scheinung beachtens werth,  dass  die  Anzahl  der  erblichen  Edelleute 
in  Russland  von  1858—1870  um  18  pCt.  abgenommen  hat;  statt 
609973  im  Jahre  1858,  gab  es  12  Jahre  später  nur  544188  Edel- 
leute im  russischen  Reich. 

Unter  diesen  waren  im  Jahre  1877—78,  also  vor  neun  Jahren, 
114716  Gutsbesitzer  ;  dabei  ist  aber  die  Vertheilung  derselben  über 
das  Territorium  des  Reiches  eine  so  ungleichmässige,  dass  es  grosse 
Gebiete  giebt,  in  welchen  der  grundbesitzende  Adel  vollständig 


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026 


Der  Adel  in  Russland. 


fehlt :  im  Gouvernement  Archangelsk  giebt  es  z.  B.  nur  vier  Edel- 
leute,  in  Wjatka  147,  in  Perm  61  &c.  Auf  einer  solchen  Basis 
lasst  sich  keine  örtliche,  adelige  Kreisverwaltung  begründen.  Steht 
es  so  in  den  östlichen  an  der  Wolga  belegenen  Gouvernements,  so 
finden  wir  ähnliche  Verhältnisse  auch  in  den  mehr  nach  Westen 
hin  belegenen  Gouvernements  Ssamara,  Ssaratow,  Woronesh,  wo 
der  bäuerliche  Gemeindebesitz  besonders  verbreitet  ist.  Der  wald- 
und  seereiche  Theil  Russlands,  die  Gouvernements  Petersburg, 
Nowgorod,  Pleskau,  Twer  &c,  zählen  in  neun  Gouvernements  8775 
adelige  Landbesitzer,  also  etwa  8  pCt.  aller  Edelleute  im  Reich. 

Wir  ersparen  dem  Leser  die  langen  Zahlenreihen  für  die 
übrigen  Gouvernements  und  erwähnen  nur  die  Ostseeprovinzen; 
die  Zahl  der  adeligen  Gutsbesitzer  beträgt  in  Kurland  344,  Liv- 
land  519,  Estland  349,  also  im  ganzen  1202,  d.  Ii.  etwas  mehr  als 
1  pCt.  sämmtlicher  Adeligen  des  Reiches'. 

Diese  statistischen  Mittheilungen  ergeben  das  Resultat,  dass 
43  pCt.,  also  fast  die  Hälfte  sämmtlicher  landbesitzenden  Adeligen 
in  folgenden  neun  Gouvernements  zu  finden  ist:  Charkow,  Kursk, 
Poltawa  (mit  der  grössten  Anzahl  von  10187  Edelleuten),  Tscher- 
nigow,  Mohilew,  Smolensk,  Minsk,  Kowno  und  Wilna ;  je  weiter 
von  diesem  Kern,  um  so  geriuger  wird  die  Ziffer  des  laudbesitzen- 
den  Adels.  Ferner  ergiebt  sich,  dass  1)  die  kleinen  Grundbesitzer 
(d.  h.  mit  weniger  als  500  Dessätinen)  mehr  als  die  Hälfte  aller 
Grundbesitzer  adeligen  Standes  ausmachten,  aber  nar  den  vierzehnten 
Theil  der  adeligen  Ländereien  besassen,  2)  dass  der  mittlere  Land- 
besitz von  500— 1000  Dessätinen  nur  den  fünften  Theil  sämmtlicher 
adeligen  Ländereien  betrug  und  dass  3)  der  Grossgrundbesitz  von 
1000—5000  Dessätinen  drei  Viertel  allen  Landes  beträgt,  welches 
der  russische  Adel  besitzt.  Diesen  Berechnungen  sind  folgende 
Ziffern  zu  Grunde  gelegt :  der  Grundbesitz  beträgt  im  europäischen 
Russland  391  Millionen  Dessätinen ;  19  pCt,  d.  h.  über  73  Mill. 
gehören  davon  dem  Adel,  in  dessen  Händen  auf  den 

kleinen  Grundbesitz  5269630 

mittleren  Landbesitz  13464483 

Grossgrundbesitz     .  54636492 

7337Ö6ü5_kommen. 
Erwähnen  wir  nun  noch  ganz  besonders,  dass  im  Besitze  von 
784  Grossgrundbesitzern  sich  die  kolossale  Ländereienmasse  von 
23509192  Dessätinen  befindet,  von  denen  jeder  über  10000  Dess. 
besitzt,  so  dürfte  die  Behauptung  gerechtfertigt  erscheinen,  dass 


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Der  Adel  in  Russland. 


027 


die  beständige  Abwesenheit  dieser  Grandseigneurs  von  ihren  Gütern 
die  vollständige  Bedeutungslosigkeit  dieser  Gruppe  des  Adels  für 
das  Leben  des  Kreises  involvirt.  Auch  die  Gruppe  der  mittleren 
Grundbesitzer  ist  nur  als  Uebergangsstadium  anzusehen,  da  sie 
gar  zu  sehr  Über  die  verschiedenen  Gouvernements  zerstreut  sind 
und  durch  beständige  Erbtheilungen  ihr  Besitzthum  verkleinern. 

Endlich  gewährt  der  russische  Adel  überhaupt  nicht  das  ein- 
heitliche Bild  eines  Standes,  denn  abgesehen  von  dem  land- 
besitzenden und  besitzlosen,  oder  dem  angestammten  oder  durch 
Rang  erworbenen  Adel,  müssen  noch  folgende  Gruppen  unterschieden 
werden :  der  grossrussische  moskauer  Adel,  der  kleinrussische 
Kosakenadel,  die  Ritterschaft  der  Ostseeprovinzen,  die  polnische 
und  littauische  Schljachta,  endlich  der  armenische,  grusinische  und 
ausländische  Adel. 

Sonderbar  ist  auch  die  Erscheinung,  dass  diejenigen  Gouverne- 
ments, wo  Adelscorporationen  gänzlich  fehlen ,  bei  einem  ver- 
gleichenden Ueberblick  über  den  adeligen  Grundbesitz  ähnliche 
Resultate  liefern  wie  diejenigen,  wo  die  Adelsprivilegieu  erhalten 
sind.  In  Wilna,  Kowno,  Minsk  &c.  ist  der  Procentsatz  des  privaten 
Grundbesitzes,  der  sich  in  den  Händen  des  Adels  befindet,  der- 
selbe wie  in  Estland,  wo  der  Adel  92,?  pCt.  inne  hat  und  in  Liv- 
land  95  pCt.,  in  Kurland  94,7  pCt. 

Es  scheint  daher,  dass  nicht  die  Privilegien  dem  adeligen 
Landbesitz  seine  Dauer  verleihen,  sondern  dass  andere  Ursachen 
den  agraren  Wohlstand  des  Adels  bedingen. 

Auffallend  ist  die  Lage  der  adeligen  Grundbesitzer  in  den 
westlichen  Gouvernements ;  hier  mussten  noch  lange  Zeit  nach  dem 
letzten  Aufstande  Contributionen  gezahlt  werden,  der  Boden  zeichnet 
sich  keineswegs  durch  Fruchtbarkeit  aus,  aber  die  Edelleute  sind 
hier  dem  Leben  der  grossen  Welt  und  dem  Staatsdienste  ganz  fern 
geblieben,  leben  auf  ihren  Gütern  und  beschäftigen  sich  mit  der 
Landwirtschaft. 

Im  eigentlichen  Russland  sind  die  directen  Folgen  der  Bauern- 
befreiung jetzt  tiberwunden,  aber  der  Adel  mit  mittlerem  Grund- 
besitz kann  niemals  eine  stabile,  erbliche  Klasse  bilden.  Denn  er 
befindet  sich  auf  einem  sich  mehr  und  mehr  senkenden  Piedestal 
und  ist  keine  beständige,  sondern  veränderliche  Grösse,  eine  Ueber- 
gangsstufe  zum  kleinen  Grundbesitz  —  dank  der  beständigen  Erb- 
theilungen. Es  ist  der  Gedanke  ausgesprochen  worden,  dass  die 
Errichtung  von  Majoraten  diesem  Niedergange  Einhalt  thnn  könnte. 


02  8 


Der  Adel  in  Russland. 


Bekanntlich  mislang  dieses  Experiment  unter  Peter  vollständig. 
Die  Zeitgenossen  des  grossen  Reformators  hatten  absolut  kein  Ver- 
ständnis für  die  Einführung  des  Majorats,  seine  Edicte  wurden  be- 
ständig umgangen  und  im  Jahre  1730  musste  der  Senat  bei  der 
Kaiserin  Anna  Iwanowna  die  Auf  hebung  dieser  Erlasse  befürworten. 

Kann  also  davon  die  Rede  sein,  derartige  Massregeln  jetzt 
wieder  einzuführen,  wo  so  viel  praktische  Gründe  dagegen  sprechen 
und  das  Rechtsbewusstsein  des  Volkes  sich  schon  einmal  dagegen 
geäussert  hat? 

Fassen  wir  noch  einmal  alle  Gründe  zusammen,  die  von  dem 
Niedergang  des  landbesitzenden  Adels  in  Russland  zeugen,  so  lässt 
sich  behaupten,  dass  nur  derjenige  Edelmann  auf  seinem  Gute  lebt, 
den  die  Noth  dazu  zwingt.  Die  Ursachen  dazu  sind  aber  i)  die 
Verbreitung  der  höheren  Bildung  unter  den  jüngeren  Edelleuten 
und  2)  das  Verschwinden  aller  Vorbedingungen  für  eine  comfor- 
table  Existenz  auf  dem  Lande.  Die  intellectuelle  Entwickelung 
löst  den  jungen  Mann  von  dem  reizlosen  Vegetiren  des  Kreises 
los,  wo  ein  gebildeter  Mensch  es  auf  die  Dauer  nicht  aushalten 
kann.  Seine  Pläne  richten  sich  auf  die  weitere  Perspective  des 
Staatsdienstes,  und  das  Wirken  in  einer  Semstwo  bleibt  immer  ein 
pis  aller!  Dabei  wird  das  Leben  des  Landadels  immer  gröber,  es 
fehlt  an  der  früheren  Dienerschaft,  die  auch  verschiedene  Handwerke 
verstand.  Zerbricht  eine  Fensterscheibe,  so  findet  sich  jetzt  im 
ganzen  Dorfe  niemand,  um  sie  einzusetzen  ;  es  muss  in  die  Stadt 
nach  einem  Glaser  geschickt  werden ! 

So  steht  es  in  den  Gebieten,  wo  die  grosse  Masse  des  Grund- 
besitzes in  den  Händen  des  Adels  ist.  Im  Norden  und  äusserten 
Osten  giebt  es  aber  so  gut  wie  gar  keinen  grundbesitzenden  Adel ; 
im  Westen  hat  der  Adel  noch  keine  Wahlrechte  erhalten,  im 
Centrum  von  Russland  ist  der  Grundbesitz  an  die  Kaufleute  über- 
gegangen, in  Kleinrussland  zerstückelt  und  zersplittert  als  kleiner 
Landbesitz  der  Kosaken,  im  Süden  endlich  herrscht  der  Gross- 
grundbesitz vor,  welcher  in  keiuer  directen  Beziehung  zu  seinen 
Gütern  steht  —  lässt  sich  auf  dieser  Basis  ein  dauerhaftes, 
administratives  Gebäude  errichten? 

Johannes  E  c  k  a  r  d  t. 


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Notizen. 


Wovon   die  Leute  leben.  Wahrheit  und  Dichtung.   Graf  Leo  N. 

Tolstoi.    Aus  dem  Russischen  übersetzt  von  Engenic  Wieland. 

Bern  und  Leipzig,  Rnd.  Jenni.  1887.    S.  35.  8.  40  Pf. 
Das  Märchen  von  Iwan  ihm  Narren.    Erzählt  von  Graf  Leo 

N.  Tolstoi.    Ans  dem  Russischen  übersetzt  von  Eugenie  Wie 

land.   Bern  und  Leipzig,  Rnd.  Jenni.    1887.    S.  42.  8.  40  Pf. 
W.  (1  a  r  s  c  h  i  n  ,  Pessimistische  Erzählungen.    -   P.  K  r  u  s  c  h  e  w  a  n  ,  Sie 

ging  nicht  zu  Grnnde.    Ans  dem  Russischen  übersetzt  von  W  i  1  ■ 

heim  He  n  ekel.   München,  Fr.  Bassermann.    1887.    S.  240.  8. 

2  Mk.  50  Pf. 

S  t  a  s   und  Jas.     Zwei  polnische  Erzählungen  von  Bolesla  w    P  r  n  s. 

Deutsch  von  Wilhelm  H  e  n  c  k  e  1.  München,  Fr.  Bassermann. 
1H87.    S.  203.    Kl.  8.  • 

(■jfl^pa  liegen  zehn  slavische  Erzählungen  vor,  alle  in  vortrett'. 
§81111  liebes  Deutsch  übertragen,  alle  von  ausserordentlichem 
Talente  zeugend,  in  verschiedener  Richtung  sich  bewegend.  So 
bringen  sie  aucli  verschiedene  Wirkung  hervor.  Und  zwar  ist 
diese  nicht  bedingt  durch  die  idealistische  oder  die  realistische 
Natur  der  einzelnen  Erzählungen,  sondern,  bis  auf  eine,  durch  die 
Volksthümlichkeit  der  Erzähler.  Von  Kruschewan  abgesehen, 
dessen  fSie  ging  nicht  zu  Gründet  die  einzige  bisher  von  ihm  be- 
kannte Novelle  sein  soll,  spiegeln  die  anderen  Autoren  den  Seelen- 
zustand,  wie  die  errungene  Culturstufe  ihrer  Nationen  wieder. 
Boleslaw  Prus  (Pseudonym  für  Alexander  Glowacki)  erscheint  als 
der  Vertreter  eines  Volkes,  das,  auf  altererbter  Bildung  fussend, 
in  Erfahrung  gereift,  von  der  Höhe  seines  gewonnenen  Standpunktes 
theilnahmvoll  auf  die  Wechselfälle  des  Lebens  und  die  Verschieden- 

Daltuche  MonatMrhrift,  nan.l  XXXIV,  Haft  7.  42 


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030  Notizen. 

heit  der  Verhältnisse  seiner  Genossen  blickt,  ohne  die  Ruhe  der 
Betrachtung  über  der  Wahrnehmung  zu  verlieren  und  Fehler  und 
Irrthum  anders  als  durch  Humor  zu  geissein.  In  der  allerliebsten, 
poetisch  angehauchten  und  durchweg  scherzhaft  gehaltenen  Er- 
zählung «Stas'  Abenteuer»  spricht  die  Zufriedenheit,  das  neidlose 
Selbstbewusstsein  der  kleinbürgerlichen  Kreise  eben  so  wohlthuend 
an,  wie  das  Schicksal  Jas',  des  armen  Waisenknaben,  mit  er- 
greifender Objectivität  geschildert,  das  Mitgefühl  herausfordert, 
aber  nie  die  Vorstellung  aufkommen  lässt,  der  Verfasser  mache 
die  gesellschaftlichen  Zustände  für  die  seinem  Helden  widerfahrene 
Unbill  verantwortlich. 

Wie  anders  Garschins  «  Pessimistische  Erzählungen  >  !  Eigent- 
lich alle  nur  Skizzen,  augenblickliche ,  vielleicht  etwas  länger 
dauernde  Situationen,  aus  denen  allen  aber  der  verhaltene  Hass 
gegen  die  bestehende  gesellschaftliche  oder  staatliche  Ordnung  oder 
die  Geringschätzung  derselben  athmet.  Ueberall  Zerfallenheit  — 
und  es  ist  kein  Zweifel,  der  Dichter  sympathisirt  mit  den  Zer- 
fallenen, auch  wo  er  ihnen  ein  Gegenbild  gegenüber  stellt,  wie  in 
den  Tagebuchausschnitten :  «Zwei  Künstler >.  In  drei  der  fünf 
Erzählungen  ist  die  Tagebuchmanier  angewandt :  sie  eignet  sich 
auch  dazu,  die  trostlosen  Erwägungen,  die  springenden,  jagenden 
Gedanken  am  unmittelbarsten  zum  Ausdruck  zu  bringen.  Und 
diese  Gedanken  sind  entsetzlich,  wie  sie  nur  in  Menschen  auf- 
tauchen, sich  festsetzen  können,  denen  es  an  Empfindungen  wol 
nicht  mangelt,  um  so  mehr  aber  an  jedem  inneren  und  äusseren 
Halt,  der  sie  zu  dämpfen,  zu  überwinden  vermöchte.  So  kommt 
auch  Rjabinin,  der  naturalistische  Maler  des  Elends,  der  die  Palette 
wegwirft,  um  Volksschullehrer  zu  werden,  «richtig  auf  keinen 
grünen  Z\veig>.  «Ein  Feigling»,  der  sich  in  die  Wehrpflicht  nicht 
finden  kann  und  doch  als  Reservist  ihr  verfällt,  bei  jeder  Kriegs- 
nachricht nur  die  Leichen  der  Gefallenen  vor  Augen  sieht,  wird 
beim  ersten  Zusammenstoss  das  Opfer  der  tödtlichen  Granate.  — 
Wie  tief  psychologisch  wahr  und  furchtbar  erschütternd  ist  «Eine 
Episode i  gezeichnet!  Er  erschiesst  sich  —  ob  das  Erlebnis  für 
sie  denn  doch  nur  eine  Episode  bleibt,  ist  unausgesprochen.  — 
«Die  rothe  Blume»,  wol  die  am  prachtvollsten  geschriebene  Er- 
zählung, führt  von  vornherein  ihren  Helden  als  Verrückten  vor. 
Tu  welchen  vergeblichen  Kämpfen  er  seinen  Verstand  verloren, 
lässt  sich  zwischen  den  Zeilen  lesen.  Andere  enden  durch  die 
eigene.  Kugel  oder  dnreh  des  Henkei-s  Strang.  —  Nur  Einer, 


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Notizen. 


(331 


Kudrjascliow  in  «Ein  Zusammentreffen»,  steht  heiteren  Selbstgefühls 
und  abgeschlossener  tleberzeugung  in  seiner  Welt  und  über  seiner 
Umgebung.  Vor  wenigen  Jahren  erst  einer  der  ärmsten  Studenten, 
jetzt  ein  reicher  Ingenieur  in  Odessa  —  durch  Betrug  im  Hafen- 
bau. Nach  seiner  Erfahrung  will  die  Welt  betrogen  werden,  und 
er  gehört  lieber  zu  den  Betrügern.  Vor  seinem  Raisonnemen t  ver- 
stummt der  entsetzte  Studiengenosse,  den  er  auf  dem  Boulevard 
getroffen,  als  dieser  mit  den  idealsten  Vorsätzen  zum  Antritt  seines 
Lehramts  iu  die  grosse  Seestadt  gekommen  ist.  Seine  Widerrede 
erlischt  und  er  verbleibt  beim  Champaguer  des  Freundes  -  viel- 
leicht nur  dies  einzige  Mal,  wir  wissen  es  nicht. 

Sollen  diese  Zeichnungen  ein  Bild  der  ganzen  Nation  geben  ? 
Gewiss  nicht.  Garschin  stellt  auch  andere  Personen  dar,  und  nicht 
nur  diesen  begeisterten  Pädagogen,  der  die  Schlechtigkeit  gar  nicht 
fassen  kann,  freilich  auch  nicht  den  Entschluss,  sofort  sich  von  ihr 
zu  trennen.  Der  Dichter  führt  den  in  sich  befriedeten,  natur-  und 
kunstfrohen  Jünger  der  Landschaftsmalerei  vor,  warmblütig  und 
heiter,  hilfsbereit  seinem  Nächsten,  aber  gelassen  gegenüber  den 
Leiden  der  Masse,  die  er  nicht  zu  lindern  vermag.  Er  schildert 
auch  den  strebsamen  Studenten,  der,  seiner  Wissenschaft  hiugegeben, 
die  Thatsachen  nimmt,  wie  sie  einmal  liegen ;  das  pflichttreue, 
opferstarke  Mädchen  gesunden  Gefühls  und  richtigen  Urtheils. 
Aber  die  dumpfe  Wahrheit  dieser  c  pessimistischen >  Erzählungen 
tritt  durch  die  vollkommene  Einflusslosigkeit  der  gesunden  und  ehr- 
lichen Persönlichkeiten  nur  um  so  siegreicher  und  hoffnungsloser 
zu  Tage. 

Der  Eindruck  solcher  zur  Unnatur,  zum  Wahnsinn  gesteigerter 
Nervosität  dieses  Volkes  wird  vertieft  bei  der  Wahrnehmung,  dass 
eiu  Manu,  wie  Graf  Leo  Tolstoi,  die  Bahn,  auf  der  er  mit  Tur- 
genjew um  den  Ruhm  des  ersteu  Dichters  Russlands  wetteifert, 
verlassen  und  religiöser  wie  socialistischer  Schwärmerei  nachgeht. 
Letztere  ist  offen  im  < Märchen  von  Iwan  dem  Narren >  gepredigt. 
Da  heisst  es  zum  Schluss  :  «Iwan  lebt  noch  bis  auf  den  heutigen 
Tag  und  es  kommen  immer  mehr  Leute  in  sein  Reich  ;  auch  seine 
Brüder  kamen  zu  ihm  und  auch  die  unterhält  er.  Einem  Jeden, 
der  da  kommt  und  sagt:  «Erhalte  mich!»  antwortet  er:  «Gut, 
bleib  nur  bei  uns  !  wir  haben  alles  reichlich!» 

«Es  ist  nur  ein  Gebrauch  in  seinem  Reiche  :  derjeuige,  welcher 
Schwielen  an  den  Händen  hat,  setzt  sich  an  den  Tisch  —  wer 
aber  keine  hat,  der  bekommt  die  Ueberbleibsel.» 


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Notizen. 


»Wovon  die  Leute  leben»  ist  eine  poetische,  phantasievolle, 
ja  hohem  Grade  ansprechende  Erzähluug,  eiue  christliche  Legende, 
könnte  man  sagen,  und  ohne  einen  Beigeschmack  und  Tadel.  Was 
soll  man  aber  von  den  Kenntnissen  der  schweizer  Presse  über 
Russland  sagen,  wenn  dies  Märchen  den  Berner  Bund  in  seiner 
Sonntagsbeilage  zum  Ausruf  bringt:  <üb  vielleicht  nicht  doch  noch 
einmal,  der  alten  Sage  gemäss,  das  Heil  der  Menschheit  von  Osten 
kommen  wird  ?  (NB  !  als  ob  es  nicht  schon  erschienen  sei !)  So  viel 
ist  sicher :  im  russischen  Volke  leben  noch  weltüberwindende  Kräfte 
im  Rohzustande,  wenn  man  so  sagen  darf,  welche  in  Cultureuropa 
abgenutzt,  ausgelebt,  verholzt  sind.»  Namentlich  auf  der  Folie 
der  Garschinschen  Erzählungen ! 

Ganz  russisch  nach  ihrem  Inhalt  wie  nach  der  realistischen  Dar- 
stellung desselben,  ganz  uurussisch,  auf  der  Hölie  wahrhaft  humaner 
Weltanschauung,  in  abgeklärter  Ruhe  nach  aller  tobenden  Leiden- 
schaft, von  Liebe,  Glaube  und  Hoffnung  getragen  ist  P.  Krusche- 
waus  Novelle  «Sie  ging  nicht  zu  Grunde»,  ein  Meisterstück  idealen 
Gehaltes.  Nur  darf  sie  weder  nach  den  dargestellten  Personen, 
noch  nach  der  dichterischen  Auffassung  als  typisch  gelten.  Solche 
Individualitäten  wie  Wjera  Danischewa,  wie  Borissewitsch,  wie 
den  Dichter  selbst  kann  Russland  erzeugen  —  die  Thatsache  lehrt 
es,  sie  bleiben  aber  Ausnahmen,  an  denen  man  sich  erfreuen  kann, 
wie  in  der  Publicistik  am  «Europäischen  Boten»  ;  nicht  um  Haares 
Breite  erschüttern  sie  den  Zweifel  an  der  Vervollkommnungs- 
fähigkeit der  Nation,  sie  erhärten  nur  den  alten  Satz  von  der  Be- 
stätigung der  Regel  durch  die  Ausnahmen. 

Die  Erzählung  führt  den  Leser  in  das  Petersburger  Studenten- 
leben zur  Zeit  der  zweiten  Periode  der  in  diesem  Jahre  aufge- 
hobenen medicinischen  Frauencurse.  Die  Excentricitäten  der  ersten 
Zeit  haben  sich  gegeben.  Wir  treten  in  eine  gebildete,  arbeitsame 
Gesellschaft  der  so  eigenthümlich  gemischten  männlichen  und  weib- 
lichen studirenden  Jugend.  Ein  wie  anderer  Ton  herrscht  in  ihr 
als  in  der,  welcher  Dostojewskis  Raskolnikow  angehört !  Hier  ent- 
wickelt sich  die  Liebe  zwischen  der  armen  charaktervollen  Däni- 
sche wa  und  dem  reichen,  mit  aller  Liebenswürdigkeit  ausgestatteten, 
aber  unbeständigen  Weligin.  Mit  Zartheit  und  hohem  Reiz  wird 
das  Verhältnis  geschildert,  das  nach  abgelegtem  Schlussexamen  die 
Ehe  krönen  soll.  Der  schwache  Verlobte  bricht  aber  sein  Ver- 
sprechen gegenüber  den  Lockungen  einer  reichen  Heirat.  Die  ihm 
völlig  ergebene  Geliebte,  im  ersten  Schmerz  zum  freiwilligen  Tode 


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Notizen. 


1333 


getrieben,  gewiunt  die  Herrschaft  über  sich  selbst  zurück  und  lebt 
ihrem  Kinde  und  ihrem  Beruf.  Als  Landschaftsärztin,  eine  der 
wenigen  weiblichen  Doctoren,  die  diesen  Beruf  erwählten  —  nach 
der  trefflichen  Ueberschau,  die  Dr.  Heyfelder  in  St.  Petersburg  so- 
eben über  die  Wirksamkeit  der  medicinischen  Frauencurse  in  <  Uusere 
Zeit»,  Augustheft,  gegeben  hat  —  kämpft  sie  heldenhaft  gegen 
die  Dummheit  und  Verkommenheit  der  Menschen,  die  Knauserig- 
keit und  Gleichgiltigkeit  der  Landschaft;  sie  rettet  Weib  und  Kind 
des  einst  Geliebten  und  trifft  in  der  Geburtsstunde  seines  Sohnes 
zum  ersten  Mal  wieder  mit  ihm  zusammen.  Die  Kraft  ihrer  Selbst- 
verleugnung erweckt  die  eingeschläferten  edleren  Regungen  im  un- 
glücklichen Manne,  der  fortan  die  Leere  seiner  Ehe  durch  Mit- 
arbeit an  den  Gemeindeinteressen  auszufüllen  sucht.  Dr.  Danischewa 
aber  reicht  einem  bewährten  Freunde,  der  sie  längst  entsagungs- 
voll geliebt,  die  Hand  zum  Bunde. 

Der  Hergang  ist  einfach,  wie  mau  sieht.  Aber  unter  den 
wüsten  Ueberraschungen  und  verfänglichen  Lagen,  in  die  man  bei 
den  modernen  russischen  Schriftstellern  zu  gerathen  pflegt,  beruhigt 
jene  Einfachheit,  und  mit  welchen  Mitteln  plastischer  Darstellung 
kommt  sie  zur  Geltung ! 

Die  vorzügliche  Uebersetzungskunst  Wilh.Henckels  in  München 
lässt  den  deutschen  Leser  ganz  vergessen,  dass  er  Werke  fremder 
Sprache  vor  sich  hat ;  auch  der  uns  zum  ersten  Male  begegnenden 
Uebeitragerin  der  Tolstoischen  Märchen  ist  die  Wiedergabe  der 
schlichten  Sprache  des  Dichters  wohl  gelungen.  Fr.  B. 


Zeitschrift  für  deutsche  Sprache,  herausgegeben  von  Prof.  Dr. 

Daniel  Sanders.  Hamburg,  J.  F.  Richter.  Jahrg.  1.  1887. 
12  Hefte.    19  Mark. 

Fast  überall  lässt  es  sich  beobachten,  dass  das  Fremde,  Ausser- 
heiinatliche  durch  das  vielversprechende  mystische  Dunkel,  in  welches 
es  gehüllt  ist,  grosse  Anziehungskraft  auf  das  menschliche  Gemüth 
ausübt.  Ganz  besonders  aber  sind  leider  bis  vor  nicht  langer  Zeit 
die  Deutschen  diesem  Zauber  unterworfen  gewesen.  Das  beweisen 
u.  a.  ihre  Literatur  und  ihre  wissenschaftlichen  Studien.  Während 
vom  Aufblühen  des  Humanismus  an  das  Gebiet  der  klassischen 
Philologie  Deutsche  mit  besonderer  Vorliebe  bebaut  haben,  sind 
all  die  reichen  Schätze,  welche  ihre  eigene  Sprache  dem  Forscher 
darbietet,  bis  zur  Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts  fast  unberührt 


634  /  Notizen. 

geblieben.  Doch  auch  jetzt  noch  lassen  sich  trotz  der  hervoi  ragenden 
Leistungen  der  Gebrüder  Grimm  u.  a.  die  germanistischen  Studien 
und  das  Interesse  für  dieselben  nicht  als  weit  genug  gediehen  be- 
zeichnen, als  dass  nicht  das  Hervortreten  eines  neuen  diesem  Ge- 
biete gewidmeten  Organs  Anerkennung  verdienen  und  Freude  be- 
reiten sollte,  —  namentlich  wenn  der  Leiter  kein  Neuling  mehr, 
sondern  im  Gegentheil  eine  alterprobte  Kraft  ist.  Uns  liegt  näm- 
lich das  erste  Heft  der  von  Prof.  Dr.  Daniel  Sanders  herausgegebenen 
Zeitschrift  für  deutsche  Sprache  vor.  Schon  seit  25  Jahren,  seit 
dem  Erscheinen  des  Wörterbuches  der  deutschen  Sprache,  welches 
für  alle  darin  behandelten  Erscheinungen  auch  zahlreiche,  inter- 
essante Belege  von  Luther  bis  auf  die  Gegenwart  bringt,  hat  der 
Name  des  Prof.  Sauders  in  weitesten  Kreisen  einen  guten  Klang. 
Ist  er  es  doch,  der  die  von  Gottsched,  jenem  auch  durch  Lessing 
nicht  stets  ganz  berechtigt  angegriffenen  leipziger  Dictator,  be- 
gründeten und  von  Adelung  fortgeführten  Studien  mit  viel  Erfolg 
aufgenommen  hat. 

Die  neue  Zeitschrift  ist  vor  allem  der  neuhochdeutschen 
Schrift  spräche  gewidmet ;  Mundartliches  und  zur  Zeit  Ver- 
altetes soll  nur  so  weit  behandelt  werden,  als  die  Einführung  oder 
Wiedererneuerung  zur  Bereicherung  des  heutigen  schriftdeutschen 
Sprachschatzes  dienen  kann.  Zur  Hauptaufgabe  aber  stellt  sich 
die  Zeitschrift,  (die  Zahl  der  sorgfältigen  und  aufmerksamen  Leser 
in  Deutschland,  die  bisher  nicht  allzu  dicht  gesäet  sind,  zu  ver- 
grössern.  Dadurch  werden  dann,  so  hofft  Sanders,  auch  die  moder- 
nen Schriftsteller  veranlasst  werden,  den  gesteigerten  Anforderungen 
der  Leser  entsprechend,  an  ihrem  Theile  sorgfältiger  auf  Form  und 
Inhalt  zu  achten,  was  natürlich  zum  Vortheil  unseres  Schriftthums 
ausschlagen  muss.  Zur  Lösung  dieser  umfangreichen  und  schwierigen 
Aufgabe  haben  sich  Prof.  Sanders  bereits  in  den  vorliegenden 
ersteu  vier  Heften  Mitarbeiter  gesellt,  wenngleich  der  Herausgeber 
vorzugsweise  seine  eigene  Kraft  an  das  Unternehmen  setzen  zu 
wollen  scheint,  auch  finden  sich  fast  nur  Sanderssche  Werke  citirt, 
von  diesen  aber  eine  sehr  grosse  Anzahl. 

Eröffnet  wird  das  erste  Heft  durch  ein  Vorwort,  in  dem  der 
Herausgeber  sein  Programm  aufstellt :  wie  wir  bereits  andeuteteu, 
soll  die  Zeitschrift  einreissendem  falschem  Gebrauche  entgegen- 
treten, falsche  Kegeln  und  Vorschriften  berichtigen,  sowie  bei  noch 
schwankendem  Gebrauch  das  Für  und  Wider  möglichst  eingehend 
abwägen.    Diese  Erörterungen  will  der  Herausgeber  meistens  au 

o 


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Notizen. 


635 


Masterstücke  aus  guten  Schriftstellern  anknüpfen,  und  zwar  sowol 
an  Prosa  wie  an  Poesie. 

Als  erste  Abhandlung  begegnet  uns  eine  sehr  eingehende  Be- 
sprechung eines  Theiles  des  ersten  Briefes  in  Goethes  «Der  Sammler 
und  die  Seinigen»  ;  hierin  sucht  Sanders  nachzuweisen,  dass  dieses 
so  wenig  bekannte  Product  unseres  Dichters,  dessen  Prosa  nicht 
immer  mnstergiltig  ist,  einen  an  sich  trockenen  Stoff  (die  Klassifi- 
cirung  von  Künstlern  und  Kunstliebhabern)  durch  die  Form  der 
Darstellung  mit  frischem  Leben  und  anmuthigem  Reiz  zu  umkleiden 
versteht.  —  Hieran  schliesst  sich  ein  schon  früher  erschienener 
Aufsatz  :  Spracheigentümlichkeiten  bei  Lessing.  Sanders  bespricht 
darin  den  merkwürdigen  Gebrauch  von:  t Schuldner»  statt  «Gläubi- 
ger» ;  von  «viele  zwanzig  Jahre»  in  der  Bedeutung  von:  «lange 
Zeit»,  und  «die  Gnade  haben»,  wofür  es  sonst  heisst:  «um  die 
Gnade  bitten».  —  Es  folgt  eine  kurze  Abhandlung  von  A.  Ledebur 
«Ueber  die  Beseitigung  der  Fremdwörter  in  der  gewerblichen 
Sprache».  Nachdem  als  Princip  aufgestellt  ist,  dass  nur  da  der 
Barbarismus  beibehalten  werden  dürfe,  wo  er  nicht  durch  ein 
deutsches  Wort  wiedergegeben  werden  kann,  verdeutscht  Ledebur 
eine  Anzahl  technischer,  bisher  durch  fremde  Ausdrücke  bezeichneter 
Begriffe.  —  Ferner  findet  sich  eine  Hindeutung  auf  den  überaus 
häufig  auch  im  Druck  auftretenden  Fehler:  «aus  aller  Herren 
Länder»  statt:  Ländern;  sowie  in  deutscher  Uebertragung  das  sehr 
abfällige,  in  der  Revue  de  V Enscigncment  des  Langues  Vivantes  aus- 
gesprochene Urtheil  über  die  neue  Rechtschreibung1.  —  Den  Schluss 
des  ersten  Heftes  der  Zeitschrift  für  deutsche  Sprache  bildet,  ab- 
gesehen von  kürzeren  Bemerkungen,  eine  Besprechung  der  zweiten, 
von  Gustav  Hauff  neu  bearbeiteten  Auflage  von  Kellers  deutschem 
Antibarbarus,  an  welche  sich  eine  Untersuchung  schliesst  über 
die  Frage,  ob  das  Pronomen  «es»  nach  einer  Präposition  gebraucht 
werden  dürfe.  Eine  Entgegnung  G.  Hauffs  bringt  das  vierte  Heft 
der  Zeitschrift,  wie  derselbe  auch  Rümelins  vielgenannte  Schrift 
über  «Die  Berechtigung  der  Fremdwörter»  gründlich  kritisirt. 

Dass  die  Zeitschrift  jedem  Gebildeten  —  denn  nicht  nur  an 
Fachgelehrte  wendet  sich  die  Zeitschrift  gar  manche  Anregung 
und  Aufklärung  zu  gewähren  vermag,  ist  nicht  zu  leugnen.  Ob 
aber  nicht  bei  des  Herausgebers  Standpunkt  Behandlung  und  Ur- 
theil leicht  einseitig  werden  könnten,  ist  doch  mindestens  fraglich. 


1  Bänder*  ist  ilentelben  Meinung  nml  hat  wiiic  eigen*  Orthographie. 


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6S6 


Notizen. 


Jedenfalls  als  Druckfehler  aufzufassen  ist  die  Endung  cen» 
in:  esonstige  für  allgemeinere  Kreise  bestimmten  (statt:  — te) 
Geisteserzeugnisse»  auf  S.  29  unten,  sowie:  «in  vielen  (statt: — ler) 
guten  Schriftsteller  Aufsätze»  auf  S.  34  oben.  —  Nicht  passend 
erscheint  mir  die  Anführung  der  Stelle: 

«Fühle  ,  was  dies  Herz  empfindet, 

Reiche  frei  mir  deine  Hand,> 
als  Beleg  für  die  Behauptung,  dass  «fühlen»  einen  stärkeren  Affect 
bezeichne  als  «empfinden»,  namentlich  da  Sanders  erklärt:  «Mein 
Herz  ist  für  dich  in  mächtiger  Liebe  erregt ;  möge  diese 
meine  Erregung  in  deinem  Herzen  einen  Wiederklang  finden >. 
—  Ist  denn  nicht  jene  «mächtige  Liebe»  selbst  etwas  Stärkeres 
als  ihr  «Wiederklang*? 

E.  Westermann. 


Aoanojeno  nenaypo».  —  Peocji.,  1-ro  OicTfl6j»a  1RH". 

C.:iucLt  Uoi  IJodbn'  Erben  in  Ker.l. 


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Bischof  Dr.  Johannes  Rudbeckius  und  die  erste  estlandische 

Provinzialsynode. 


II. 

5.    Der  weitere  Verlauf  d  e  s  0  o  n  f  1  i  e  t  s  zwischen 
R  u  d  b  e  c  k  und  dem  revaler  Stadtconsistorium. 

as  Stadtconsistorium  hatte  durch  den  Vorweis  von  Privilegien- 
Sammlungen  für  sich  ein  forum  privilegiatum  beansprucht, 
hierfür  aber  bei  dem  revidirenden  Bischof  gar  kein  Verständnis 
gefunden.  Als  nun  die  Synode  ihren  Anfang  nahm,  blieben  die 
Geistlichen  der  Stadt  Reval  den  Sitzungen  fern,  hielten  es  jedocli 
für  nöthig,  am  Tage  des  8.  Aug.  durch  zwei  Prediger  der  Stadt 
eine  Entschuldigung1  ihrer  Absenz  beim  Bischof  vorzubringen; 
«jedoch  erhielten  sie  die  Resolution  und  Antwort  danach' ;»  worauf 
sie  privatim  dem  Bischof  mittheilen  Hessen,  sie  würden  am  anderen 
Tage  zur  festgesetzten^ 'Stünde  erscheinen. 

Der  9.  August 3' der  vierte  Tag  der  Synodalsessionen,  begann, 
etwa  um  7  Uhr  morgens,  mit  einer  (Probe-)  Predigt  des  Herrn 
Joachim  Finck  zu  Rappel,  worauf  alle  um  8  Uhr  in  das  Sacrarium 
gingen.  1)  «hielt  der  Bischof  seine  Ermahnungspredigt;  2)  alle 
setzten  sich  nach  der  Ordnung  uieder«;  3)  hielt  Mag.  Heinr.  Stahl» 

1  €caloam  excusationem  siiontm  absentiae  et  inobcdientiae* ,  sagt  Aschan. 
1  Lib.  Asch.  ~p  s  cf.  ebenfalls  d.  Lib.  Asch. 

*  Es  sei  in  Erinnerung  gebracht,  das«  die  Landpastoren  Isings  den  Wänden 
zu  je  vier  auf  einer  i:£uk  sismii  ;  der  Bischof,  die  übrigen  Comnrissare  und  die 
Pröpste  sassen  an  einem  Tisch  in  Avr  Mitte  der  Landpastoren. 

BalUfdM  MonaUsclirift.  Ban.1  XXXIV.  lieft  S.  tl 


638  Bischof  Rudbeck. 

—  jener  damals  vielleicht  bedeutendste  Landpastor  und  um  die 
Ausbreitung  der  Kenntnis  des  Luther-  und  Christenthums  unter 
den  Esten  hochverdiente  Mann«  —  «seine  Oration  über  die  Visita- 
tion und  Reformation  der  Kirchen  Livlands>  (seil  Estlands).  Wahr- 
scheinlich referirte  er  über  die  am  vorhergehenden  Tage  zur  Ein- 
sicht übergebenen  Acten  Dubberchs ;  als  Correferent  wird  ein 
f  Pastor  aus  Cammeren>  (?)  genannt;  4)  «hielt  Mag.  Andreas 
seine  Ermahnungsrede ;  5)  ermahnte  der  Bischof  seinerseits  alle 
ad  honestatem  (zu  Tugend  und  Anstand)» ;  G)  begann  nun  die  für 
den  Tag  angesetzte  Disputation,  über  deren  Inhalt  wir  jedoch 
nichts  Näheres  anzugeben  vermögen.  Erwähnt  wird  von  Ascha- 
naeus,  dass  an  derselben,  wenigstens  bei  der  Fortsetzung  am  anderen 
Tage  (10.  Aug.),  auch  der  frühere  Rector  der  Domschule,  Paulus 
Lempelius,  und  der  gegenwärtige,  Dr.  Heinr.  Bartholom.  Aboicus 
und  Mag.  Samuel  Knopius1  theilnahmen,  die  beiden  Schweden ; 
Sveno  und  Johannes  Elai  sich  durch  ihre  Kenntnisse  im  Griechi- 
schen hervorthaten  und  Gabriel  Holstenius»  das  Präsidium  führte. 
«Mitten  während  der  Disputation  erschienen  nun  4  (5)  aus  dem 
Consistorium  und  Ministerium  von  Revaki 

Für  den  jetzt  folgenden  skandalösen  Vorgang  besitzen  wir 
ein  schwedisches  Protokoll5,  das,  dem  Liber  Aschan.  beigefügt,  eine 
offizielle  Schilderung  darstellt.  Es  heisst  darin:  «Zum  ersten  Mal 
erschienen  diese  Fünf  aus  der  revaler  Stadtgeistlichkeit  und  dem  Con- 
sistorium, nämlich  :  Mag.  Heinr.  Westring,  Mag.  Erich  von  Beek, 
Mag.  Eberhard  Räntell  (sie),  Mag.  Ludwig  Donte  (sie)  und  Mag. 
Herinoldus,  Conrector  der  Revaler  Schule.  Nota :  zwei  von  diesen 
eroberten  den  Tisch  (<allaborucrunt  mcnsam>):  Westring  und  Beek; 
die  anderen  Herren :  Räntell  und  Donte  jedoch  ohne  die  Erlaubnis 
und  Berufung  (sine  venia  et  vocatione)  des  Herrn  General visitators 
und  hoch  würdigen  Bischofs.  Die  Oberpastoren  (primarii  *prichi~ 
dis*  [?])  waren  an  den  Tisch  nach  deutschem  Brauche  heran- 
gekommen. Nota.  £)ie  Worte  des  Bischofs  nämlich :  sie  sollten  sich 
dessen  erinnern,  dass  sie  Capläne  wären  und  dass  an  keinen  der 

1  ff.  IWker:  «Ehstlands  LandgeistlichkeiU  1849. 

1  Dass  einer  aus  der  .Stadtgeistlichkeit  daran  thcilnahm,  ist.  interessant. 

*  Wahrscheinlich  ist  das  derselbe,  der  sonst  Mag.  (Tabriel(i)  genannt  wird. 

4  Asch,  nennt  nur  4,  das  nachfolgende  Protokoll  aber  5.  Asch,  rechnet, 
eben  «Uerinoldns»  nicht  zum  Consistorinm. 

'  Die  Kenntnis  davon  verdankt  der  Verf.  dem  Herrn  Archivar  Dr.  Victor 
(»ranlnn.    L.  u.  Schw. 


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Bischof  Rudbeck. 


G39 


Auftrag  oder  Ruf  ergangen  sei,  sich  strax  dort  hinzusetzen,  wo  die 
auserwählten  Herren  Pröpste  vom  Lande  sassen.  Da  standen  sie 
auf  an  der  einen  Seite  und  setzten  sich  strax  nieder  an  der  anderen 
Seite  desselben  Tisches.  Da  musste  der  Herr  Bischof  sie  das 
zweite  Mal  laut  abweisen,  wie  es  sich  gebührte,  und  mussten  sie 
sich  mit  Schande  unter  die  anderen  an  der  Wand  ganz  zu  unterst 
niedersetzen.» 

Das  Itinerar  des  Aschanaeus  schliesst  seinen  Bericht'  vom 
9.  Aug.  also:  cHier  endete  die  Disputation;  hernach  wurden  alle 
aufgefordert,  um  1  Uhr  wieder  zu  erscheinen.  NB.  Am  Nach- 
mittag wurde  die  zusammengestellte  (colligerade)  Kirchenordnung 
verlesen  und  vom  Herrn  Bischof  auf  lateinisch  interpretirt.  Nota. 
Nachher  (sedan),  d.  h.  zur  Nachmittagssitzung,  kam  keiner  von  dem 
revaler  Ministerium  wegen  der  Schmach.  Aber  die  Landgeistlich- 
keit kam,  hörte  sie  [seil  die  Kirchenordnuug)  bis  zu  Ende  an, 
gutwillig,  nahm  sie  an  und  genehmigte  sie  gleich»  &c. 

Zur  Erläuterung  der  Umstände,  die  zu  dieser  skandalösen 
Affäre  führten,  und  für  die  Darlegung  des  weiteren  Conflicts- 
verlaufes  verfügen  wir  über  ein  recht  umfangreiches  und  instruc- 
tives  Material,  bestehend  in  den  zwischen  dem  Bischof  und  der 
Stadtgeistlichkeit  ausgetauschten  Schriftstücken.  Letztere  in  wört- 
licher Uebersetzung  wiederzugeben,  ist  ihres  Umfanges  und  ihrer 
Anzahl  wegen  nicht  angebracht.  Wir  beschränken  uns  deshalb 
auf  eine  inhaltliche  Reproduction,  geben  aber  dem  Wortlaut  an 
der  Stelle  Raum,  wo  solches  zum  Verständnis  und  zur  Charakteri- 
stik der  Personen  dringend  nothwendig  erscheint. 

In  der  Zeit  zwischen  dem  9.  und  18.  August  scheint  der 
Conflict  geruht  zu  haben.  Unter  dem  Datum  des  18.  Aug.  lief 
aber  folgendes  bischöfliche  Schreiben*  an  die  revaler  Stadtgeistlich, 
keit  ein  :  «Ihr,  welche  zu  den  Angesehensten  gehört  —  und  wir 
zweifeln  nicht,  dass  ihr  es  verdient  —  hättet  als  erste  erscheinen 
sollen.  Zwar  sind  einige  von  euch  als  Freunde  in  unserem  Quar- 
tier (ut  antici  in  hospitio)  erschienen,  im  Consistorium»  jedoch  als 
Assessoren  keineswegs.  Die  Landpriester  (rurales)  haben  I.  K.  M. 
feierlich  den  Treueid  abgelegt,  ihr  habt  weder  den  Eid  abgelegt, 
noch  dafür,  dass  andere  es  thun,  euch  Mühe  gegeben.    Die  anderen 

•  «lern  wir  jedoch  das  nlleg.  Protokoll  vorzogen.    D.  Verf. 
1  L.    Die  Titulaturen  und  UebcrHchriften  werden  nowol  hier  als  an  anderen 
Stellen  nach  Möglichkeit  übergangen.    D.  Verf. 
■  bedeutet  hier:  Synode. 

43* 


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040 


Bisehot  Rudbeck. 


haben  die  nach  der  schwedischen  Kirchenordnung  zusammengestellte 
Ordinanz  so  zu  sagen  mit  beiden  Händen  angenommen,  ihr  habt  sie 
nicht  einmal  anhören  wollen.  Ausser  in  der  öffentlichen  Bekannt- 
machung" habe  ich  euch  noch  privatim  zu  erscheinen  geratheil,  aber 
nicht  zu  überreden  vermocht.  Wie  wollt  ihr  nun  den  Verdacht 
des  Ungehorsams  gegen  I.  K.  M.  von  euch  wälzen  ?  wie  euch  be- 
freien von  dem  Scheine,  dass  ihr  auf  die  Kirchen  Livlands  (seil. 
Estlands),  deren  Zustand  durch  eueren  Rath  zu  fördern  ihr  euch 
nicht  abgemüht,  nicht  die  schuldige  Mühe  verwandt  habt  ?  Exem- 
tionen und  Privilegien  schützt  ihr  vor.  Wir  wollen  denselben  keinen 
Abbruch  thun,  aber  noch  haben  wir  das  nicht  gesehen,  was  euch 
in  diesem  frommen  und  christlichen  Werke  von  dem  Gehorsam 
gegenüber  I.  K.  M.  ausnehmen  könnte.  Schon  die  christliche  Liebe 
forderte  es  von  euch,  dass  ihr  dem  verlassenen  Zion  in  Livland 
zu  Hilfe  kommt.  Dass  ihr  uns  darüber  und  über  euer  Recht  der 
Ordination,  Promotion,  Citation,  Examination  und  Jurisdiction  über 
die  Geistlichen,  insbesondere  der  Landkirchen,  schriftlich  (besser) 
unterrichten  möget,  als  wir  es  bis  jetzt  sind,  bitten  wir  euch 
brüderlich  und  freundschaftlich,  damit  I.  K.  M.  erkenne,  dass  wir 
unseres  Amtes  eingedenk  gewesen  sind.  Und  damit  nicht  über  die  Ein- 
setzung eines  Consistoriums,  Bischofs  und  Gymnasiums  zu  Reval  hin- 
künftig zwischen  I.  K.  M.  und  euch  und  euerem  Amtsbezirk  (et  vos 
vestramque  orbem)  eine  Discrepanz  (sie)  entstünde,  empfehlen  wir 
euch  alle  Gott,  der  da  ist  die  Zuflucht  der  bedrängten  Kirche  und 
ihrer  Anhänger  und  der  höchste,  weise,  gute  und  gerechte  Be- 
schützer derselben.» 

Wir  lassen  hier,  ohne  auf  des  Bischofs  so  wichtiges  Anklage- 
schreiben näher  einzugehen,  die  erste  Antwort  der  revaler  Stadt- 
geistlichkeit vom  25.  Aug.  in  stark  verkürztem  Auszüge'  unmittel- 
bar nachfolgen  : 

«Schon  Valerius  Maximus  und  Lactantius  sprächen  es  aus, 
dass  die  weltlichen  Dinge  um  so  schlimmer  würden,  je  mehr  man 
es  verabsäume,  der  Gottheit  richtig  zu  dienen  ;  dass  demjenigen, 
der  Gott  dient,  alles  glückt,  dem  Verächter  Gottes  aber  alles  mis- 
lingt.  Und  desselben  Glaubens  lebten  auch  sie  (seil,  die  revaler 
Stadtgeistlichkeit).  Doch  man  brauche  nicht  von  weitem  her  sich 
Beispiele  zu  holen,  nicht  ins  Alterthum  zurückzugreifen,  Livland 

1  Die  früher  erwähnte  «Intimatio  synorfalis». 

'  Im  resp.  Copinlhuche  ixt  tlaaselhe  30  Qimrtxeiten  lang.  L. 


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Bischof  Rudbeek.  641 

(seil.  Estland)  selbst  sei  seit  fast  70  Jahren  ein  sprechender 
Beweis,  wie  bitter  es  dem  ergehe,  der  Jehovah,  seinen  Gott  ver- 
lasse.» .  .  .  Und  nun  muss  Cyprian  herhalten  zum  Belege  dessen, 
wie  die  Welt  im  Argen  liegt,  alle  Frömmigkeit  geschwunden  ist 
und  Treu  und  Glauben  der  Lüge,  dem  Betrüge  und  der  Gewinn- 
sucht das  Feld  geräumt  haben  &c  Und  doch  !  alle  die 

schrecklichen  Greuel,  die  Joannes  Basilides  Über  sie  (seil  die  Est- 
länder) gebracht  —  es  folgt  nun  eine  erschreckliche  Schilderung  — 
selbst  nicht  der  furchtbarste  der  Kriege,  der  Bürgerkrieg,  habe  sie 
hier  zu  Lande  besser  gemacht.  Sie  (seil,  die  Geistlichkeit)  hätten 
nun  seit  lange  zu  Gott  um  Besserung  der  Zustände  gefleht  — 
(zum  Beweise  dessen  folgt  hier  eine  Lamentation  von  einer  Quart- 
seite) —  und  uun  seien  sie  erhört  und  sei  durch  den  König  der 
Erretter  gesandt  worden.  Mit  Freuden  hätten  sie  und  das  ganze 
Land  des  Bischofs  Ankunft  begrüsst;  —  aber  da  sei,  wie  ein 
Blitz  aus  heiterem  Himmel,  der  Vorwurf  auf  sie  gefallen,  als 
wenn  sie  der  göttlichen  uud  menschlichen  Majestät  Verächter 
wären.  .  .  .  Voll  Bewunderung  müssten  sie  die  Weisheit  des 
Königs  preisen,  der  ihnen  in  der  Noth  einen  so  weisen  Mann,  wie 
den  Herrn  Bischof,  der  zugleich  ein  Theologe  von  Profession  sei, 
gesandt  habe.  Um  so  weniger  begriffen  sie  daher,  wie  man  gegen 
sie,  denen  nichts  mehr  am  Herzen  liege,  als  die  Aufrichtung  der 

Kirche  in  Estland,  so  schwere  Anschuldigungen  erheben  könne  

Denn  was  für  eine  Gestalt  die  Kirche,  was  für  eine  Form  das 
Ministerium  haben  solle,  das  müsse  nach  Gott,  des  Allmächtigen, 
Güte  zum  grössteu  Theile  ihren  Sorgen,  ihren  Arbeiten  und  Mühen 
zuertheilt  werden,  wie  nicht  nur  die  Guten  alle,  sondern  auch  die 
Gottlosen  zugestehen  würden«.  .  .  .  cUnd  weder  behaupten  wir» 
das  aus  Ruhmsucht,  noch  schreiben  wir  das  unserer  Tugend  zu, 
sondern  allein  der  göttlichen  Gnade,  die  mit  uns  gewesen  ist. 
Daher  glauben  wir  das  freilich  hoffen  zu  dürfen,  dass,  wenn 
wir  auch  nicht  Lob  oder  Belohnung  verdienen,  wir  doch  wenig- 
stens keines  Tadels  schuldig  sind.  Da  wir  aber  nun  jetzt  wider 
alle  Meinung  und  Hoffnung  in  die  höchste  Gefahr  gebracht 
worden ,  werden  wir  von  schier  unglaublichem  Schmerze  er- 
griffen, dass  es  durch  die  Künste  des  Teufels  dahin  gekommen 
ist ,   dass   wir   nicht   nur  in  den   Verdacht   so  grosser  Ver- 

1  Es  wird  mithin  auch  das  Recht  betont,  mitzuwirken  an  der  Organisation 
der  Landeskirche. 

•  Auch  die  directe  Rede  ist  vielfach  gekürzt. 


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G42 


Bischof  Rudbeck. 


brechen  gerathen,  nicht  blos  durch  die  Reden  der  Gottlosen  öffent- 
lich dem  Spotte  preisgegeben,  sondern  auch  von  euch,  hochwürdiger 
Herr,  im  Namen  des  Königs  öffentlich  angeklagt  werden.  Ist  es 
schon  bitter,  mit  ungeäusserten  Gedanken  der  Guten  gepeinigt  zu 
werden,  noch  bitterer  ist  es,  in  den  Reden  derselben  getadelt  zu 
werden ;  aber  von  denen  angeklagt  zu  werden,  welche  mit  öffent- 
licher Autorität  bekleidet  sind,  das  ist  wahrhaftig  am  bittersten. 
Es  müssen  gewiss  die  zureichendsten  und  gewichtigsten  Gründe 
sein,  welche  Ew.  Hochwürden,  eines  Theologen  und  Bischofs  und 
Vaters  der  Gemeinde  (communis  parentis)  Sinn  dahin  gebracht 
haben,  uns  mit  einem  so  scharfen  Schreiben  zuzusetzen.  Wir 
mttssten  den  Muth  sinken  lassen  und  jeden  Versuch  der  Verteidigung 
aufgeben,  wenn  uns  nicht  stärkten  zum  Theil  die  Tugend,  Frömmig- 
keit und  Milde  Ew.  Hochwürden,  zum  anderen  Theil  jene  Reden, 
welche  ihr  an  einige  von  uns  gerichtet  habt  und  durch  welche 
ihr  kundgabt,  dass  ihr  mit  uns  in  der  Stadt  Lehrenden  keinen 
Streit  haben  und  nicht  etwas  von  unseren  Privilegien  uns  nehmen 
wolltet  —  was  ihr  auch  hernach  schriftlich  bekräftigt  habt 
wenn  uns  nicht  all  das  den  Anlass  guter  Hoffnung  böte,  ihr 
würdet  auch  den  Beweis  unserer  Unschuld  zulassen.  In  dieser 
guten  Hoffnung  machen  wir  uns  nun  an  euer  Schreiben  selbst.  > 
...  Es  folgt  nun  die  weitläufige  Autzählung  aller  Anklagen.  .  .  . 
Diese*  abzuwehren,  falle  nicht  schwer,  weil  vor  aller  Augen  die 
Rathschläge,  Sorgen,  Bemühungen  und  Arbeiten  ständen,  durch 
welche  sie,  so  weit  es  jedem  einzelnen  möglich  (pro  virili),  die  est- 
ländische  Kirche  gefördert  hätten  und  stets,  sei  es  auch  mit  Ver- 
giessung  ihres  Blutes,  zu  fördern  bereit  seien.  «Dafür  Gott,  der 
unsere  Seelen  und  Gewissen  sieht,  zum  Zeugen  anzurufen,  scheuen 
wir  uns  nicht.  Und  wenn  es  nur  an  uns  liegen  würde,  so  würde 
man  auf  dem  Erdkreise  kaum  eine  Kirche  finden,  welche  in  grösse- 
rem Glänze  stünde  als  die  livländische'.»  .  .  .  Und  wenn  das 
auch  von  den  Verleumdern  geleugnet  werde,  sie  wüssten  es  wohl, 
sich  auf  das  Gewissen  des  Bischofs  zu  berufen,  des  gewiss,  dass  es 
für  sie  sprechen  werde.  .  .  .  Nichts  sei  auch  leichter,  als  jemandem 
den  Vorwurf  des  Ungehorsams  zu  machen,  doch  sei  «der  Verdacht 
noch  nicht  die  Wahrheit».  .  .  .  «Niemals  haben  wir  dem  Könige 
den  Gehorsam  verweigert  und  werden  wir  ihn  verweigern.  Nie- 
mals haben  wir  uusere  Privilegien  entgegengestellt,  um  so  heiligem 


1  Zeugt  von  nicht  geringem  Selbetbewuaatsein. 


Bischof  Radbeck. 


643 


Bemühen  des  besten  Königs  nicht  zu  willfahren.  Solche  Privilegien 
wären  vielmehr  <Prrwilcgia>  als  <  Privilegien  zu  neunen  ;  und  ein 
solches  Recht  wäre  vielmehr  als  «ruchlose  Freiheit»  zu  verabscheuen, 
denn  als  Gerechtigkeit  zu  erachten.  Ja,  wollen  wir  es  mit  beredten, 
offenen  Worten  und  klarer  Stimme  gestehen :  wenn  es  solche  Privile- 
gien wären,  welche  dem  Könige  den  Gehorsam,  der  Kirche  das 
Heil  absprechen,  so  müssten  sie  von  der  Stimme  aller  Frommen 
verflucht  und  "von  allen  mit  Füssen  getreten  werden.  Weit  ent- 
fernt, dem  königlichen  Willen  und  dem  Nutzen  der  Kirche  das 
schreckliche  Gespenst  der  Privilegien  entgegenhalten  zu  wollen, 
können  wir  nicht  umhin,  Ew.  Hw.  daran  zu  erinnern,  dass  jene 
Art  des  Argumentirens  hoch  gefährlich  ist,  diejenigen  des  Unge- 
horsams zu  beschuldigen,  welche  das,  was  ihnen  im  Namen  des 
Königs  befohlen  wird,  nicht  gleich  erfüllen.  Es  ist  ebeu  auch  hierin 
ein  Mass,  es  sind  auch  hier  feste  Grenzen,  innerhalb  deren  sowol 
die  königlichen  Mandate  als  der  Gehorsam  der  Untergebenen  gleich- 
sam wie  mit  festen  Marken  versehen  werden,  so  dass  es  nicht 
gleich  ein  Verbrechen  ist,  nicht  gethan  zu  haben,  was  befohlen 

wird.»  —  —  —  Was  die  Beschuldigung  beträfe, 

dass  sie,  denen  es  am  ehesten  zugestanden  haben  würde,  mit  zu 
rathen  und  zu  thaten,  sich  davon  fern  gehalten  und  das  den  Land- 
pastoren überlassen  hätten,  so  wäre  es  nicht  schwer,  sich  hiervon 
zu  reinigen.  ...  Se.  Hw.  wnssten  sehr  wohl,  dass  sie  auf  der 
ersten  Zusammenkunft,  über  die  ihnen  zugedachte  Ehre,  am  Wohl 
der  Kirche  mitzuarbeiten,  hoch  erfreut,  ihre  Hilfe  als  «Assessoren 
im  Consistorio  (seil.  Synodalsession)  und  nicht  blos  als  Freunde  in 
seinem  Quartier»  zugesagt  und  zu  erscheinen  versprochen  hätten, 
wenn  man  sie  dazu  rufe.  Dazu  hätten  sie  sich  auf  der  Audienz 
bei  Sr.Hw.  und  hernach  nochmals  im  (Privat-)  Colloquium  verpflichtet. 
« Es  gebührte  sich,  dass  wir,  als  der  Tag  des  Consistoriums  bevor- 
stand, rechtzeitig  eingeladen  würden,  es  hat  uns  aber  niemand  ein- 
geladen». Als  wir  hernach  zum  Disputationsact  erschienen,  euerer 
Sitten  unkundig,  unkundig  auch  der  Gebräuche,  welche  beobachtet 
zu  werden  pflegen,  —  spazierten  wir  einige  Zeit  in  der  Kirche 
auf  uud  ab,  bis  wir  näher  zu  treten  aufgefordert  werden  möchten  ; 
—  aber  wir  warteten  vergebens.  Es  war  niemand  da,  der  uns 
herbeigerufen,  an  den  für  uns  ungewöhnlichen  Platz  geführt  und 
uns  einen  Sitz  angewiesen  hätte.    Es  war  aber  uothwendig,  dass, 

1  Convcnit,  ut  instante  consistorii  die  maturc  vocaremur,  voeavit  nemo. 


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044  Bischof  Rudbeek. 

wenn  nicht  gegen  euere  Sitten  und  das  Decorum  ein  Verstoss  von 
uns  gewünscht  wurde,  jemand  da  sein  musste,  der  jedem  den  Platz, 
der  ihm  zukam,  anwies.    Wie  die  jüngeren  unter  uns  empfangen 
und  hart  behandelt  und  in  eine  finstere  Ecke  verwiesen  sind,  ist 
Ew.  Hw.  nicht  unbekannt.    Ziemlich  hart  empfangen,  wurden  wil- 
dem Gelächter  derer  preisgegeben,  die  dies  schon  längst  von  ganzem 
Herzen  gewünscht  und  nach  Möglichkeit  nichts  unversucht  gelassen 
haben,  endlich  einmal  ihrem  Uebelwollen  gegen  uns  in  Gespött 
Ausdruck  zu  geben.    Denn  uns  sind  nicht  unbekannt  die  Reden 
gewisser  Leute,  welche  damit  prahlten,  dass  dies  geschehen  sei, 
um  an  uns  Vergeltung  oder  Strafe  dafür  zu  nehmen,  dass  wir  eine 
ungebührliche  Behandlung  der  Prediger  auf  dem  Lande  öffentlich 
zugelassen  hätten  ;  indem  sie  blos  das  beklagten,  dass  die  Geschosse 
dieser  Schmach  nicht  gerade  diejenigen  trafen,  für  welche  sie  be- 
stimmt waren'. >  .  .  .  Doch  solche  werde  für  ihr  schändliches  Unter- 
nehmen schon  die  Nemesis  treffen.  .  .  .   Und  wenn  ein  Fehler  be- 
gangen worden,  so  sei  derselbe  nicht  aus  Absicht,  sondern  aus 
Irrthum  geschehen.  .  .  .   Und  weiter  heisst  es:  < Daher  ist  es  ge- 
kommen, dass  wir  es  für  nöthig  gehalten  haben,  uns  von  eueren 
Zusammenkünften  fern  zu  halten,  theils  um  Ew.  Hw.  nicht  noch 
mehr  zu  erzürnen,  theils  um  nicht  in  noch  grössere  Schmach  zu 
verfallen^  .  .  .    Wenn  also  jemandem  das  Verbrechen  des  Unge- 
horsams beigelegt  werden  könne,  so  seien  das  nur  diejenigen,  welche 
Schuld  daran  trügen,  dass  sie  I.  K.  M.  -  Willen  zuwider  von  dem 
durch  Dieselbe  ihnen  zugetheilten  Platze,  als  Rathgeber,  vertrieben 
und  von  der  Theiluahme  an  den  Berathungen,  da  niemand  ihnen  über 
dieselben  Mittheilung  machte,  ausgeschlossen  worden  seien1  &c.  &c. 

Auch  den  zweiten  Vorwurf,  betreffs  des  Eides,  weisen  sie 
gänzhch  ab,  da  ihnen  niemand,  ihn  zu  leisten  und  andere  zur 
Leistung  zu  veranlassen,  den  Auftrag»  gegeben  ;  auch  hätten  sie 
keine  Formel  desselben  gesehen,  würden  dieselbe  auch  vor  das 

1  Es  geht  daraus  hervor,  dass  beim  Bischof  über  das  Stadtcuusistoriuw 
auch  Klage  geführt  worden  ist. 

'  Eine  indirecte  Anklage  gegen  den  Bischof. 

*  Es  handelt  sieh  um  den  Treueid,  der,  weil  mau  sieh  nicht  über  die 
Formel  einigen  konnte,  noch  immer  nicht  geleistet  worden  war.  Die  hierbei  bc 
wiesen«  Hartnäckigkeit  des  Adels  war  mit  eine  Ursache  des  künigl.  Zornes  üIht 
die  Katländer,  als  er  1  t>ii*>  in  Reval  weilte.  Die  Landgeistlichkeit  hatte,  wie  bc 
merkt,  auf  dem  Synodus  den  Treueid  geleistet,  die  Stadtgeistlichkeit  in  Folge  des 
ansgebrochenen  UonJUcts  noch  nicht,  Die  Ritterschaft  legte  ihn  auf  dem  August- 
Landtage  dieses  selben  Jahres  ab,  cf.  hierfür  die  Schritt  üreiffeuhageus. 


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Bischof  Rudbeck. 


045 


weltliche  Forum  verwiesen  haben  &c.  —  Was  drittens  das  Ritual- 
buch betreffe,  vulgo  «Kircheuordinanz»  genannt,  so  seien  sie  dessen 
gewiss  —  habe  sich  doch  auch  der  Hr.  Bischof  dahin  geäussert 
—  dass  eine  Conformität  der  Cerenionien  keineswegs  erforderlich 
wäre.  Der  heil.  Ambrosius  selbst  behaupte,  dass  nicht  einmal  eine 
c  Dissonanz  im  Glauben»  die  Einheit  desselben  aufhöbe.  Sie  könnten 
auch  nicht  einsehen,  warum  sie  statt  der  von  Luther  selbst  hier 
getroffenen  Ritualordnung,  die  ein  Jahrhundert  hindurch  in  Uebung 
gewesen,  eine  andere  setzen  sollten,  die  weder  reiu  schwedisch 
noch  wittenbergisch  sei.  Eine  Aufhebung  der  alten  Ceremonien 
sei  stets  gefährlich  ;  und  dem  schwedischen  Reiche  könne  es  nur 
zum  Lobe  gereichen,  dass  eine  von  der  schwedischen  nur  wenig 
abweichende,  vom  seligen  Luther  selbst  eingeführte  Ritualordnung 
allhier  nicht  widerwillig,  sondern  mit  Freuden  beobachtet  werde.  .  . 

Viertens,  über  die  Kirchen  Privilegien  hätten  nicht  sie,  sondern 
der  revaler  Rath  seinerzeit  Rede  und  Antwort  zu  stehen.  .  .  . 
Eine  sehr  weitläuflge,  die  protestantische  Ordinationspraxis,  ins- 
besondere aber  die  ihnen  durch  die  Zeitlage  aufgezwungenen  des- 
fallsigen  Pflichten  erörternde,  geschraubte  Deductiou  können  wir 
hier  übergehen.  Hervorgehoben  zu  werden  verdient  jedoch,  dass 
alle  von  der  revaler  Geistlichkeit  auf  dem  platten  Lande  ausgeübte 
geistliche  Jurisdiction,  wobei  sie  nie  anders  als  unter  Beobachtung 
des  adeligen  Patronatsrechts  verfahren  sei,  als  Consequenz  der 
Nothstände  und  sittlichen  Verpflichtung  aufgefasst  wird,  sie  sich 
auch  gern  für  bereit  erklärt,  auf  alle  diese  Rechte,  unbeschadet 
ihres  Ansehens,  zu  verzichten,  uud  sich  erbietet,  nach  Wunsch  des 
Bischofs,  zur  Organisation  eines  Consistoriums,  so  auch  für  die  Er- 
richtung eines  Gymnasiunis  nach  Vermögen  beizutragen.  .  .  .  Mit 
den  Ausdrücken  der  tiefsten  Ergebenheit  gegenüber  dem  königl. 
Mandatar  schliesst  das  zwar  weitläufige,  aber  geschickt  concipirte 
Antwortschreiben. 

Die  bischöfliche  Replik«  (vom  28.  Aug.)  dieser  ersteu  Ver- 
antwortungsschrift der  revaler  Stadtgeistlichkeit  ist  zwar  nicht  so 
umfangreich,  wie  letztere,  erheischt  jedoch  für  die  Klarlegung  des 
bischöflichen  Standpunktes  eine  eingehendere  Wiedergabe. 

Nach  der  üblichen  Anrede  wird  der  Empfang  der  dangen, 
beredten  uud  von  Affecten  erfüllten»  Antwort  angezeigt  und  die- 
selbe als  nicht  auf  die  Sache  eingehend  bezeichnet.  tEr  (der 
Bischof)  sei  nicht  nach  Estlaud  gekommen,  um  ihnen  (den  revaler 
"  ■  L. 


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646  Bischof  Rudbeck. 

Geistlichen)  Gelegenheit  zu  Disputationen  und  zur  Abfassung  von 
Commentaren  zu  geben,  sondern  allein,  um  den  Zustand  der  Kirche 
nach  Möglichkeit  zu  bessern.  .  .  .  Von  jeuer  asiatischen  (sie)  Schreib- 
weise glaube  er  Abstand  nehmen  zu  müssen.  .  .  .  Doch  wolle  er  auf 
ihr  Schreiben  in  einigen  Worten  eingehen,  damit  sie  wüssten,  was 
er  von  ihrer  Antwort  halte.  .  .  .  Was  sie  von  dem  traurigen  Zu- 
stande der  livländischen  Kirche  sagten,  darin  sei  er  mit  ihnen  ganz 
einer  Meinung,  doch  folge  daraus,  dass  sie  um  so  mehr  um  sie  be- 
sorgt sein  müssten.  Dass  es  ihnen  nicht  an  Eifer  fehle,  wolle  er 
schou  glauben,  weil  die-  Natur  nach  Erhaltung  ihrer  selbst  strebe. 
Als  es  aber  darauf  angekommen  sei,  mit  Hand  anzulegen,  daseien 
sie,  wie  *rarae  avcs>,  nicht  gesehen  worden  ;  daher  man  mit  Recht 
von  ihnen  dasselbe  sagen  könne,  was  im  Nehemia  (Cap.  2)  über 
diejenigen  stehe,  die  sich  nicht  an  der  Wiederherstellung  der  Mauern 
Jerusalems  betheiligt  hätten.  .  .  .  Als  Entschuldigung  führten  sie 
an,  dass  sie  nicht  gerufen  seien.  <Wir  sind  aber  nicht  mit  so 
vieleu  Dienern  hierhergekommen,  dass  wir  an  einen  jeden  von  euch 
einen  besonderen  Boten  senden  konnten.  Wir  hielten  es  für  ge- 
nügend, wenn,  nachdem  Ew.  Würden  privatim  ein  und  das  andere 
Mal  zu  unseren  Zusammenkünften  eingeladen  waren  und  die  kgl. 
Instruction  vernommen  hatten,  durch  öffentliche  Bekanntmachung, 
wie  üblich,  und  durch  unseren  Zettel,  der  von  euch  selbst  (wenn 
wir  uns  nicht  irren)  von  der  Kanzel  herab  verlesen  worden  ist, 
Zeit,  Ort  und  Berathungsgegenstand  (causa)  der  Zusammenkunft 
bekannt  gemacht  wurde.  Damit  haben  sich  alle  übrigen  zufrieden 
gegeben,  sind  erschienen  und  haben  dem  kgl.  Mandat  demüthigst 
Gehorsam  geleistete  .  .  .  fWas  ferner  das  anbetrifft,  dass  ihr, 
unserer  Sitten  und  Gebräuche  unkundig,  in  der  Kirche  hiq  und 
her  gewandert,  von  niemandem  aufgefordert  wäret  und  euch  kein 
bestimmter  Sitzplatz  angewiesen  worden  sei,  —  das  ist  (k)eiue« 
genügende  Entschuldigung.  Nachdem  die  Rede  beendet  war,  haben 
wir  über  die  festgesetzte  Zeit  hinaus  euere  Ankunft  noch  eine 
Weile  im  Chor  (wol  Schiff  der  Kirche)  erwartet,  aber  da  Ew.  W. 
weder  au  den  vorhergehenden  Tagen  erschienen  waren,  noch  auch 
jetzt,  wiewol  sie  am  Tage  zuvor  ihr  Kommen  versprochen,  durch 
jemanden  ihre  Verspätung  entschuldigten,  so  sind  wir,  damit  nicht 
weitere  Zeit  für  die  vorliegenden  Dinge  verstreiche,  in  das  Sacra- 
rium  gegangen  und  haben  uns  mit  Gottes  Hilfe  an  die  Arbeit 


1  Die  Negation  ist  vom  Abschreiber  ausgelassen. 


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Bischof  Rudbeck. 


H47 


gemacht.  Wenn  jemand  da  hätte  ahnen  können,  dass  Ew.  W. 
späterhin  gekommen  sind  und  vor  der  Thür  anwesend  seien,  so 
würden  wir  uns  überdies  nach  eueren  Sitten,  denen  wir  uns  an- 
passen mussten,  erkundigt  und,  nach  eigentümlichem  Brauche, 
einen  Anordner  euch  entgegengesandt  haben,  der  euch  an  den  für 
eucli  bestimmten  Platz  in  ehrenvoller  Weise  geführt  hätte,  damit 
euch  nicht  etwas,  was  euerem  Amte  zukam,  verweigert  worden 
wäre.  Aber  wenn  euch  entschuldigt  die  Unkenntnis  dessen,  was 
öffentlich  verhandelt  wird  und  allgemein  bekannt  ist,  so  entschuldigt 
uns  gleichermassen  die  Unkenntnis  dessen,  was  von  euch  privatim 
geschieht  oder  geschehen  ist.  Aber  wir  haben  geglaubt,  es  genüge, 
dass  wir  nicht  blos  am  vorhergehenden  Tage  dem  verehrungs- 
würdigen Herrn  Superintendenten  und  seinem  Begleiter,  Mag.  Erich, 
nicht  ein  Mal,  sondern  häufiger  mittheilten,  zu  welcher  Stunde 
man  sich  einzufinden  hätte,  und  eben  so,  welche  und  wie  viele  Plätze 
für  euch  bestimmt  seien,  zumal  wir  auch  euerem  Stadtsecretär  das- 
selbe kurz  vorher  mitgetheilt  hatten.  Wenn  Ew.  W.  den  jüngeren 
unter  euch  die  Mittheilung  unterlassen  haben  und  darauf  etwas 
wider  Erwarten  geschehen  ist,  so  glauben  wir,  dass  das  mit  euerer 
und  nicht  unserer  Schuld  geschehen  ist.  Sobald  wir  bemerkteu, 
dass  Ew.  W.  an  der  Thür1  waren,  da  hat  sich  ein  jeder,  um  euch 
zu  ehren,  erhoben  und  wir  haben  fürwahr  feierlich  den  verehrungsw. 
Herrn  Superintendenten  au  den  Tisch  und  seinen  Platz  zu  kommen 
aufgefordert.  Den  jüngeren  gegenüber  haben  wir  das  nicht  gethan 
und  waren  dazu,  so  viel  wir  wissen,  auch  nicht  durch  ein  Gesetz 
verpflichtet,  so  dass  ich  mich  desselben  Beweises  bedienen  kann,  wie 
ihr:  cwo  kein  Gesetz,  da  ist  auch  keine  Uebertretung1.»  .  .  . 

c  Nicht  blos  ist  die  Sitte  und  Gewohnheit  löblich  und  allen 
bekannt,  dass  auf  Versammlungen  die  jüngeren  Fremden,  zumal 
ehe  sie  dazu  aufgefordert  sind,  nicht  an  den  Tisch  der  Standes- 
personen (honoratorum)  herantreteu ,  um  wie  viel  weniger  von 
Aelteren  besetzte  Plätze  eiunehmen  dürfen,  sondern  das  ist  auch 
des  höchsten  Gesetzgebers  nirgendwo  anders,  als  hier,  verachtetes 
Gesetz.  Wenn  man  von  irgend  jemandem  eingeladen  wird  &c, 
geht  einer  dem  anderen  an  Ehre  voraus,  und  dieses  Gesetz  und 
diese  Gewohnheit  hatten  die  Landpriester  gelernt,  hätten  euere 

•  junua»  ;  es  kann  liier  nur  der  zwischen  den  Banken  im  Altarraum  frei 
gelassene  Eingang  gemeint  sein  ;  au  die  Sacristei  ist  nicht  zu  denken.    D.  Verf. 

1  «h&i  milla  lex  ibi  non  tramgressio»  stand  an  einer  Stelle  der  Ver- 
teidigungsschrift vom  25.  Aug. 


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64H 


Bisehot  Rudbeck. 


Jüngereu  gelernt  haben  sollen,  statt  dass  sie  mit  grober  Ignoranz 
gröblichst  nicht  wussten,  wie  immer  sie  sich  um  der  Bescheidenheit 
und  Erziehung  willen  von  den  ihrigen  auszeichnen  sollten  ;  hätten 
es  gleichmüthig  ertragen  sollen,  wenn  ich,  mich  des  Rechtes  eines 
Präsidenten  bedienend,  sie  durch  Wink  und  allerflüchtigsteu  Blick 
freundlich  aufforderte,  vom  Tische  wegzugehen  und  den  Aelteren 
ihre  Plätze  zurückzugeben.  Aber  wir  sind  über  das  Mass  hinaus- 
gegangen, und  es  ist  Gefahr,  dass  wir  uns  desselben  Fehlers,  wie 
ihr,  im  Schreiben  schuldig  machen.»  .  .  .  Dass  sie  (die  Stadt- 
geistlichkeit) nun  diese  ihren  Sacellanen  angethane  kleine  Beleidi- 
gung (injuriohi)  zum  Anlass  genommen,  überhaupt  nicht  auf  den 
Sitzungen  zu  erscheinen,  sei  ganz  unstatthaft.  Und  der  wirkliche 
Grund  —  der  aber  nicht  offen  ausgesprochen  werde  —  sei  auch 
ein  ganz  anderer".  Statt  sich  mit  dem  Gehorsam  ihrem  Magistrat 
gegenüber  zu  entschuldigen  und  leere  Versprechungen  zu  geben, 
hätten  sie  erscheinen  und  durch  ihre  Theiluahme  das  von  den  Laud- 
pastoren  Beschlossene  approbiren  oder,  wenn  man  sich  geirrt  habe, 
durch  ihren  Rath  den  Bischof  besser  informiren  sollen.  .  .  . 

AVenn,  er  nun  auf  alles  Uebrige  Puukt  für  Punkt  (sigillaiim) 
eingehen  wollte,  so  müsste  er  ihre  langen  Homilien  (sie)  mit  noch 
längeren  widerlegen  ;  er  übergehe  daher  vieles  und  constatire  blos, 
dass  sie  vieles  nicht  verstanden,  vieles  nach  Gerüchten  und  falschem 
Verdacht  beurtheilten  und  anderes,  was  ganz  überflüssig  sei,  an- 
führten. 

c  Euere  Abwesenheit  trägt  die  Schuld  (est  causa),  dass  wir 
nichts  mit  euch  gemeinschaftlich  berathen  konnten  ;  .  .  .  dass  wir 
aber  mit  euch  privatim  zusammenkommen,  das  erschien  mir  für 
königliche  Oommissare  bedenklich ;  auch  schien  es  nicht  passend, 
schriftlich  mit  denen  zu  verkehreu,  die  iu  ein  und  derselben  Stadt 
leben.  Zu  dem  Zweck  hätten  wir  in  Schweden  bleiben  können. 
Es  musste  öffentlich  verhandelt  werden,  und  nicht  konnten  wir, 
nachdem  wir  uns  mit  euch  privatim  vereinbart,  die  öffentlich  zu 
verhandelnden  Dinge  euch  im  einzelnen  in  conclavi  mittheilen.»  . . . 
Damit  hätte  er  ihnen,  über  die  Art  und  Weise  der  Verhandlungen 
zu  bestimmen,  Macht  gegebeu  .  .  .  &c.  «Aber  wir  begnügen  uns 
mit  euerem  Zugeständnis,  dass  ihr  keine  Privilegien  vorschützt. 
Indessen  ist  eiuer  aus  dem  Mittel  des  Raths  mit  dem  Secretär  bei 

1  Der  Bischof  meint  offenbar,  dass  sie  ihm  überhaupt  nicht  hätten  Bei- 
stand leisten,  sondern  die  kirchliche  Organisation  nach  ihrem  eigenen  Willen 
gestalteu  wollen. 


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t 


Bischof  Rudbeck.  649 

uns  gewesen  und  hat  uns  eine  Confirmation  der  Privilegien  zur 
Einsicht  gegeben,  durch  welche  sie  und  ihr  beweisen  wollt,  dass 
euch  und  der  Stadt  alle  kirchliche  Jurisdiction  zustehe,  so  dass 
wir  von  aller  Sorge  für  euere  Kirchen  los  und  ledig  sein  sollten. 
Aus  euerem  Zugeständnis  steht  aber  fest,  dass  euch  keine  Privile- 
gien vom  Gehorsam  gegenüber  dem  höchsten  Magistrat  iu  einem 
so  frommen  Werke  eximiren  können1.  Hätte  doch  auch  diese 
Meinung  bei  euch  festere  Wurzeln  geschlagen!»  &c.  .  .  .  «Eis 
genügt,  dass  ihr  eingesteht,  keines  Rechts  der  Ordination,  Citation 
und  Promotion  der  Pastoren,  insbesondere  derer  auf  dem  Lande, 
theilhaftig  zu  sein ;  aber  durch  die  Notwendigkeit  gezwungen, 
hättet  ihr  dieses  und  das  übrige  gethan.  Die  Noth wendigkeit  ent- 
behrt der  Gesetze.  Euch  würde  die  Notwendigkeit  entschuldigen, 
wenn  es  bewiesen  wäre  und  bewiesen  werden  könnte,  dass  es 
Noth  wendigkeit  war.  Ich  räume  ein :  Anlass  und  Gelegenheit 
trugen  die  Schuld,  die  Noth  wendigkeit  kann  ich  nicht  zugeben*. 
Genügend  ist  auch,  was  ihr  darauf  zugebt,  dass  ihr  I.  K.  M.,  wenn 
Diese  einen  Bischof,  ein  Consistorium  und  eine  Akademie  hier  ein- 
führen will,  nicht  hinderlich  sein  würdet.  Ob  ihr  auch  die  Juris- 
diction eines  Bischofs  und  Consistoriums  über  euch  und  euere 
Kirchen  zulassen  wollt,  ist  nicht  in  gleicher  Weise  gewiss.  Sollte 
es  sein,  so  nehmen  wir  das,  was  ihr  so  reichlich  und  gütig1  zuge- 
steht, eifrig  an,  wenn  ihr  nur  durch  Unterschrift  euerer  Namen  uns 
ein  Versprechen  geben  wolltet ;  und  nicht  ihr  allein,  sondern  auch 
euere  weltlichen  Assessoren,  bei  denen  vielleicht  grössere  Macht  in 
dieser  Sache  ist,  als  ihr  zugebt*,  und  welche  vielleicht  euer  so 

freigebiges  Geschenk  verweigern  könnten.»   Dass  der 

Rath  jetzt  über  die  Privilegien  der  revaler  Kirche  Rechenschaft 
ablege,  dazu  seien  Zeit  und  Ort  jetzt  da,  <da  wir  aus  eben  diesem 
Grunde  hergeschickt  sind,  um  über  das  Kirchenregiment  und  seine 
Fundamente,  Ort  und  Bedingungen,  gleichwie  über  die  gesammten 
Zustände  der  estnischen  Kirchen,  keine  ausgenommen,  aufs  genaueste 

1  Der  Hischof  giebt  »ich  den  Anschein,  als  oh  er  glaube,  das  städtische 
Consistorinm  habe  auch  auf  «eine  kirchliche  Jurisdiction  iu  der  Stadt  ver- 
zichtet. 

*  Und  da«  erklärt  Rudbeck,  obgleich  er  den  Mangel  einer  Instruction  für 
Nicolans  Gaza  und  dessen  Unfähigkeit  früher  eingestanden  hat. 

*  *large  et  benigne*  j  natürlich  ist  das  reiner  Hohn. 

*  Kndbeck  hat  entweder  die  Geistlichkeit  nicht  verstanden  oder  will  sie 
nicht  verstehen.  S  i  e  hat  in  der  Rechtsfrage  dem  Rathe  innner  das  grossere 
Gewicht  beigelegt. 


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650 


Bischof  Rudbeck. 


unterrichtet  zu  werden.  .  .  .  Und  da  Ew.  W.  dazu  ausser  Stande 
zu  sein  behaupten,  ja,  sich  auf  ihren  Rath  berufen,  halten  wir  es 
für  nöthig,  dieses  vom  Rathe  selbst  zu  fordern.»  

Ausser  einigen  beissenden  Bemerkungen  und  Wortspielen,  die 
wir  jedoch  übergehen,  ist  noch  ein  Passus  von  Bedeutung,  mit  dem  wir 
die  bischöfliche  Replik  abschliessen  lassen  wollen.  Es  heisst :  « Wenn 
über  all  das  (seil.  Obige)  uns  Mittheilung  gemacht  worden  ist  und  ihr 
für  euere  Abwesenheit  und  Weigerung  (tergiversatio)  Gründe  beige- 
bracht habt,  von  denen  ihr  bei  unserem  erlauchten  Könige  Billigung 
erhofft,  oder  auch  noch  jetzt  erscheinen  und,  was  wir  anfangs  wollten, 
eueren  Rath  mit  dem  unsrigen  vereinigen  möchtet,  so  könnt  ihr 
um  so  sicherer  davon  überzeugt  sein,  dass  wir  uns  auf  alle  mög- 
liche Weise  Mühe  geben  werden,  dass  ohne  eueres  Rechts  und 
euerer  Privilegien  Minderung  für  die  estländischen  Kirchen  Für- 
sorge  getroffen  werden  soll.» 

Seiner  Ankündigung  gemäss  übersandte  Rudbeck  am  30.  Aug. 
ein  Schreiben»  an  den  revaler  Rath,  worin  er  von  diesem  1)  den 
Nachweis  seiner  Ansprüche  auf  die  kirchliche  Jurisdiction  über  die 
Stadt  fordert,  da  er  bis  dato  die  resp.  Privilegien  noch  nicht  ge- 
sehen hahe ;  2)  anfragt,  ob  etwa  der  Rath  seinen  Predigern  die 
Betheiligung  an  der  Synode  verboten  habe  und  3)  um  Antwort 
darauf  bittet,  welche  Stellung  das  revaler  Ministerium  gegenüber 
dem  vom  Könige  auf  dem  Dom  zu  errichtenden  Oonsistorium  ein- 
zunehmen gedenke;  und  ob  das  Ministerium  sich  etwa  bereit  er- 
klaren würde,  stets  vor  diesem  zu  compariren. 

Die  undatirte  Antwort2  des  Rathes  spricht  die  Hoffnung  aus, 
dass  das  revaler  Ministerium  sich  wol  von  der  Anschuldigung  und 
dem  Verdachte  des  Herrn  Bischofs  »werde  diluiret»  haben;  der 
Rath  habe  nach  dem  Wunsche  des  Bischofs  das  Ministerium  zur 
Abdelegirung  einiger  Prediger  aufgefordert  und  dieses  sich  dazu 
»willfertig  erklärt».  «Was  aber,»  fährt  das  Schreiben  fort,  «bis 
dato  unsere  zu  beiden  Theilen  wohlgemeinte  Intention  behindert, 
dasselbe  müssen  wir  an  seinen  Ort  gestellet  sein  lassen.  Dass 
auch  daneben  das  Ministerium  ohn(e)  unser  Vorwissen  sich  zu 
keinem  Handeln,  so  künftiger  Zeit  dem  Rathe  einige  Präjudicium 
causiren  möchte,  verbunden,  besondern  sich  auf  unsere  Jurisdiction 
berufen  wollen,  ist  nicht  unbillig,  zumalen  das  Ministerium  sub 
senatu    tanguatn  patronis  certesiarum  civitatis9  ressortiret.»  .  .  . 

■  D(  rutsch).  -    »  D. 

*  il.  h.  unter  de«  Hath  als  den  Kirrhenpatroii  der  Stadt  cnmpetirt. 


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Bischof  Rudbeck. 


ßol 


Was  der  Herr  Bischof  von  den  Privilegien  rede,  scheine  gegen  die 
Evidenz  der  Thatsachen  zu  sprechen ;  denn  ihre  Privilegien  hätten 
sie  ihm  durcli  Thomas  Schrowen  und  den  Stadtsecretär  auf  sein 
eigenes  Ansuchen  am  1.  Aug.  vorgewiesen.  Auf  die  übrigen  Fragen 
wolle  der  Rath,  weil  sie  zu  wichtig  seien  und  grössere  Ueberlegung 
erforderten,  nicht  eher  Antwort  geben,  als  bis  der  Herr  Bischof 
es  eine  an  uns  habende  Co  mmission  gebührliche  r- 
m  a  s  s  e n  f  u  n  d  i  r  t  hat».  &c. 

Auf  die  Duplik  des  revaler  Ministeriums  in  dem  quasi  pro- 
cessualischen  Verkehr  zwischen  Bischof  und  Stadtgeistliehkeit  gehen 
wir  deshalb  nicht  ein,  weil  sie  inhaltlich-  nur  dasselbe  sagt,  wie 
die  erste  Verteidigungsschrift,  und  die  Feinheiten  der  Antwort,  die 
Wortspiele  und  Sticheleien  über  die  Redewendungen  des  Gegners 
in  der  Uebersetzung  doch  nicht  recht  wiedergegeben  werden  können. 
Bemerkenswerth  aber  ist  es,  dass  die  Revalenser  jede  beissende 
Bemerkung  des  Bischofs  und  jede  von  ihm  beabsichtigte  Kränkung 
mit  fast  moderner  Feinfühligkeit  herausspüren,  ein  Beweis  für  die 
ewige  Giltigkeit  der  literarischen  Kampfgesetze. 

Aus  den  bisherigen  Verhandlungen  zwischen  dem  Bischof  und 
dem  Stadtconsistoriura  ergiebt  sich,  dass  im  weiteren  Verlaufe  des 
Conflicts  das  Schuldmoment  sich  immer  mehr  zu  Ungunsten  des 
Stadtconsistoriums  verschoben  hat.  Nachdem  es  letzterem  nicht  ge- 
lungen war,  durch  seinen  Widerstand  eine  Sinnesänderung  des  Bischofs 
zu  veranlassen,  blieb  kein  anderer  Ausweg  übrig,  als  den  für  den 
schwächeren  Theil  angezeigten  Weg  der  Opportunitätspolitik  zu  be- 
schreiten und  an  den  Synodalverhandlungen  bis  zu  dem  Punkte 
activ  theilzunehmen,  wo  eine  ausdrückliche  Verletzung  der  kirchen- 
rechtlichen Autonomie  das  Rechtsmittel  des  Protestes  nicht  nur 
gestattete,  sondern  gebot.  Stadt  dessen  verschloss  man  Auge  und 
Ohr  für  die  bischöflichen  Anordnungen  und  Publicationen  und  Hess 
sich  erst  nach  einer  erbitterten  Mahnung  des  Bischofs  zur  Theil- 
nähme  an  der  Sitzung  des  9.  Aug.  bewegen.  Der  dem  Delegirten 
des  Consistoriums  an  diesem  Tage  angethane  Affront  ist  eine  Con- 
sequenz  der  Gereiztheit  des  Bischofs  über  die  unklugen  Etikette- 
forderungen der  Stadtgeistlichkeit.  Es  musste  dem  Bischof  über- 
lassen werden,  über  die  Form  zu  entscheiden,  in  welcher  die  recht- 
lich eximirte  Stellung  des  Consistoriums  in  den  Verhandlungen  zum 
concreten  Ausdruck  kommen  sollte.  Ein  eigensinniges  und  wenig 
tact  volles  Beharren  auf  der  formellen  Zusammengehörigkeit  aller 


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Bischof  Rudbeck. 


vier  Delegirten  brachte  dieselben  zu  jener  bemitleidenswerthen 
Situation  und  jener  Schmach,  die  in  dem  Masse  empfindlicher  war, 
als  die  Landgeistlichkeit  in  dem  Stadtconsistorium  bisher  ihr  geist- 
liches Oberhaupt  erblickt  hatte.  Dass  man  nun  die  zweien  Stadt- 
pastoren zuertheilte  öffentliche  Rüge  wieder  zum  Anlas's  nahm, 
ganz  dem  Synodalact  fernzubleiben,  ist  ja  sowol  rein  menschlich 
als  durch  die  Bedeutung,  welche  das  Jahrhundert  des  westfälischen 
Friedens  den  B'ragen  der  Etikette  beimass,  auch  historisch  er- 
klärlich, aber  nicht  minder  bedauerlich. 

Zwar  behielt  die  Vernunft  bei  der  Stadtgeistlichkeit  noch  in 
so  weit  die  Ueberhand,  dass  sie  am  5.  Sept.  (Mittwoch)  ihre  Bereit- 
willigkeit zur  Aufnahme  von  Privatunterhandlungen  mit  dem  Bischof 
aussprach  ;  denn  an  diesem  Tage  war  Erich  von  Beek  mit  einem 
Collegen  bei  Rudbeck  und  brachte  die  Mittheilung,  dass  sie  (d.  h. 
die  Stadtgeistlichkeit)  am  folgenden  Tage  nicht  kommen  könnten, 
jedoch  am  Tage  des  Mercur  (den  nächsten  Mittwoch)  erscheinen 
würden.  «Aber  sie  haben  sich  wiederum  entschuldigt,»  lautet  der 
Bericht'. 

Da  zeigt  nun  Rudbeckius  seine  grössere  politische  Ueber- 
legeuheit.  So  schwer  es  ihm  fallen  mochte,  entschliesst  er  sich 
dennoch  dazu,  seinen  ersten  Fehler,  so  weit  möglich,  wieder  gut  zu 
machen.  Das  Itinerar  des  Aschanaeus  berichtet  hierüber  also: 
(Am  24.  Sept.  waren  der  Bürgermeister  Derenthal  und  fünf  Rath- 
manuen  von  der  Stadt  mit  den  Ministris  Mag.  Henr.  'Westring  und 
Mag.  Joh.  Knopius  das  erste  Mal  auf  dem  Schloss',  vop  9—11 
Uhr  (?),  in  Gegenwart  Philipp  Schedingks.  Dort  hielt  der  Herr 
Bischof  eine  lateinische  Rede  an  sie  von  seiner  Commission  und 
Hess  Mag.  G  a  b  r  i  e  1  (i)  I.  K.  M.  Vollmacht  verlesen. 
Hierauf  antwortete  Mag.  H.  Westring  und  gab  die  Gründe  an  von 
ihrer  um  11  Wochen  verschobenen  Präsentation1.  .Nun  widersprach 
Derenthal  ihm  (seil,  dem  Bischof)  und  begann  zu  resistiren  und 
corrigiren  I.  K.  M.  Vollmacht.    Der  Herr  Bischof  remedirte  seine 

1  In  den  «Acta  visitatioms». 

*  Bisher  hatte  man  mit  dem  Bisehof  nur  privatim  und  in  dessen  Wohnung 
verhandelt.  Interessant  ist  es,  dass  der  Bischof  nach  dem  Wortlaut  seiner  In- 
struction eine  Convocation  des  gesammten  ( 'ousiatoriums  nicht  ohne  Schedingks 
Approbation  wagte,  weil  zu  demselhen  auch  weltliche  Personen  gehörten,  ef. 
den  Brief  Rudbecks  an  Schedingk  vom  11.  Sept.  in  den  «.Acta  vitital.». 

•  Es  geht  daraus  hervor,  dass  die  erste  Präsentation  nicht  für  officiell  an 
gesehen  wurde,  weil  der  Bischof  damals  die  Puhlieatioii  seiner  Vollmacht  nnd 
Instruction  verweigert  hatte. 


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Bischof  Rudbeek 


653 


Rede  mit  zutreffenden  Gründen  und  gab  ihnen  auf 

geschriebene  Propositiones  und  forderte  Antwort  darauf;  sie  ge- 
lobten sie  an.  thaten  aber  doch  nichts.» 

Noch  dreimal  berichtet  uns  das  Itinerar  des  Aschanaeus  von 
einem  scharfen  Zusammenstoss  der  gegenseitigen  Interessen.  1) 
unter  dem  Datum  des  4.  Oct. :  «Item  waren  Bürgermeister  und 
Rath  bei  Herrn  Philipp  Schedingk  und  den  anderen  Commissaren 
wegen  des  Eides ;  viermal  hinaus  und  hinein  zum  Berathen. 
Nota :  grosse  Bekümmernis ;  sie  erhielten  eine  recht  scharfe  lex« 
(Lection),  prueeipue  (vorzüglich)  Bürgermeister  Dereuthal.  2)  unter 
dem  5.  Oct. :  «Mag.  Gabriel  und  Joh.  Elai  giugen  zu  Dereuthal 
wegeu  der  Antwort  auf  die  Propositiouen,  welche  sie  vorher  er- 
halten. NB.  Tapferer  Discurs,  Confusion,  Dereuthal  mässig  (lagom). 
Und  3)  unter  dem  8.  October  (Montag) :  « Am  Sonntag  wurde  das 
Consistorium  llevaliensc  aufgefordert  zu  erscheinen  und  I.  K.  M. 
den  Eid  zu  leisten.  Nota.  Ich  (seil.  Aschanaeus)  brachte  die 
Eidesformel  zu  ihrem  Senior  Mag.  H.  Westring ;  er  versprach  es 
zu  vollziehen;  —  nichts  ist  vollzogen.» 

Da  der  Bischof  das  gethau  hatte,  was  er  von  seinem  Stand- 
punkt aus  thun  konnte,  so  gebührte  es  sich,  müsste  man  meinen, 
dass  auch  Geistlichkeit  und  Rath  Revals  den  seit  10  Jahren  auf- 
geschobenen Treueid  leisteten,  welchen  am  28.  Aug.  die  Ritter-  und 
Landschaft  und  noch  früher  die  Landgeistlichkeit  geleistet  hatten. 
Die  Unbekauntschaft  mit  den  Gründen  dieser  Weigerung  gestattet 
es  uns  nicht,  über  sie  ein  Urtheil  zu  fällen.  Eben  so  wenig  er- 
fahren wir  auch,  wann  und  unter  welcher  Form  der  Eid  endlich 
abgelegt  worden  ist  und  ob  ferner  die  Stadtgeistlichkeit  noch  weitere 
ßerathungen  mit  dem  Bischof  gehabt  hat«.  Die  Un Versöhnlichkeit 
der  Gegensätze,  die  tiefe,  in  den  Streitschriften  eben  so  wie  in  den 
Unterredungen  zum  Vorschein  kommende  beiderseitige  Erbitterung 
macht  aber  eins  gewiss :  dass  beide  Theile  sich  in  Zwietracht 
trennten. 

6.    Der  C o  n  f  1  i  c  t  mit  der  Ritterschaft  und  Ab- 
schlags der  Visitation. 

Schon  einmal  hoben  wir  es  hervor,  dass  der  sog.  «Beschlüsse 
der  Predigersynode  vom  August  1627,  mit  Ausnahme  der  Be- 

*  Das  Ttinerar  erwähnt  unter  dem  Datum  de*   15.  Oct.,  dfttt  der  Rath 

der  Stadt  Reval  und  die  Ritterschaft  noch  ihr-   letzten  Antworten  schriftlich 

eingereicht  hatten. 

RaltMdio  HvnstesehriA,  Bui  XXXtV.  Heft  8,  14 


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054  Bischof  Rudbeck. 

Stimmungen  über  die  Administration  der  Kirchenprovinz,  erst  dann 
Fleisch  und  Blut  erhielt,  wenn  die  Ritter-  und  Landschaft  dazu 
tJa  und  Amen»  sagte.  Es  können  daher  nur  formelle  Gründe 
den  Bischof  zu  seinem  Schreiben  vom  IL  Sept.  an  Philipp  Schedingk 
bewogen  haben,  worin  er  den  Gedanken  ausspricht,  gleich  jetzt 
heimzureisen  und  dem  König  über  die  Resultate  der  Visitation 
Bericht  zu  erstatten.  Dem  Inhalte  seiner  Instruction  gemäss, 
meint  er,  dürfe  er  die  Landräthe  nicht  ohne  Consilium  (Rath)  und 
Assistenz  der  weltlichen  Oommissare  und  des  Guberuators  con- 
vociren.  Schedingk  möge  ihm  rathen,  was  er  thun  solle,  und  ob 
es  passend  sei,  früher  abzureisen,  ehe  man  mit  der  Ritterschaft 
und  dem  Stadtconsistorium  übereingekommen.  Die  Antwort  Sche- 
dingks»  räth  unter  anderem  durchaus  an,  zu  warten,  aber  nicht 
die  Landräthe  allein,  sondern  die  gesammte  Ritterschaft  einzu- 
berufen, da  hierzu  noch  die  Möglichkeit  vorhanden  wäre. 

So  kommt  es  denn  am  18.  Sept.  zu  einer  vollständigen  Land- 
tagssitzung in  kirchlichen  Angelegenheiten,  worüber  uns  das  oft 
erwähnte  Itinerar  also  berichtet: 

«Den  18.  Sept.  war  der  Bischof  und  Visitator  mit  den  Coni- 
missaren»  im  Ritterhause  im  Kloster  zu  Reval.  Der  Landrath  und 
der  Adel  von  Estland  waren  versammelt.  1.  Herr  Philipp  Sche- 
dingk sass  mit  den  Commissaren  am  ersten  Platz  des  Tisches». 
2.  Der  Gouverneur  Hr.  Johann  de  la  Gardie.  3.  Hinrich  Flemming. 
4.  Peer  Sparre  und  Erick  Andersson  &c.  (Auf  der  anderen  Seite) 
des  Tisches  (sass)  an  der  Spitze :  der  Bischof,  (ihm  zur  Seite) 
Mag.  Gabriel,  ich  gleich  nebenan  und  dann  Herr  Paulus,  Job. 
Elai,  Sveno  &c.  NB.  Der  Landrath  und  alle  vom  Adel  standen 
auf  der  Diele. 

2.  Hierauf  hielt  der  Herr  Bischof  seine  schwedische 
Rede.  Mag.  Gabriel  verlas  die  Proposition  an  den  Adel  auf 
Schwedisch  und  verhiess  ihnen  ein  Exemplar,  um  darauf  zu 
antworten.  (3.)  NB.  Sie  begehrten  vom  Bischof  dasselbe  auf  Deutsch; 
er  bat  sie,  es  selbst  zu  transferiren;  sie  leugneten  Schwedisch  zu 
verstehen.    Der  Bischof  antwortete  in  Gutem  :  die  Herren  könnten 


'  cf.  für  beide  Schreiben  die  « Acta  Visitation^». 
*  seil,  den  weltlichen. 

»  Im  Itinerar  steht :  «taltc*  —  «sprach»  ;  ea  mnss  offenbar  «satte»  =  «sass- 
heisson  ;  eben  so  ist  später,  wo  es  heisst :  com  sede»,  statt  dessen  zn  setzen  :  «pa 
andra  sidan> .  Die  Situation  ist  die,  das«  am  einen  Ende  des  offenbar  länglichen 
Tischen  das  Hanpt  der  weltlichen  Commissinn,  am  anderen  Ende  der  Bischof  sass. 


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Bischof  Rudbeck. 


655 


wol  I.  K.  M.  Donationsbrief  verstehen,  ergo  auch  dieses,  auf 
Schwedisch.  4.  I.  K.  M.  lateinische  Vollmacht  ward  verlesen 
von  Mag.  Gabriel.  NB.  Evert  Bremen  war  ihr  Vorgesetzter1  und 
stand  vor  ihnen  allen. 

5.  Mag.  Gabriel  hatte  sich  auf  eine  deutsche  Rede  vorbereitet; 
es  ward  ihm  jedoch  keine  Zeit  gegeben,  es  auszuführen.  Deindc 
vaUdictio  rercrentcr  facta  (darauf  wurde  ehrerbietig  Abschied  ge- 
nommen). Nß.  Sie  betrugen  sich  raeist  reverenter,  gelobten  Ant- 
wort auf  die  Propositionen.  Domi  (zu  Hause)  war  Episcopus 
<lus(igh>.> 

Die  hochmüthige  Natur  des  Bischofs  tritt  hier  deutlich  zu 
Tage.  Es  ist  ihm  eben  nicht  allein  darum  zu  thun,  den  könig- 
lichen Willen  zum  Ausdruck  zu  bringen,  sondern  auch  zugleich 
den  Honig  einer  dictatorischen  Stellung  zu  kosten.  Die  verblüffende 
Wirkung,  welche  sein  Benehmen  auf  den  Landtag  ausübt,  bereitet 
ihm  ausnehmenden  Spass  ;  da  mochte  er  wol  zu  Hause  «lustigh»  sein. 

Die  erwähnten  c  Propositioneu»  des  Bischofs,  von  welchen 
dem  Adel  eine  schwedische  Copie  eingehändigt  wurde,  scheinen 
nicht  mehr  zu  existiren.  Um  so  mehr  ist  es  daher  zu  beklagen, 
dass  auch  die  am  l.  Oct.  dem  Bischof  überreichte  Antwort  der 
Ritterschaft  auf  dieselben  ebenfalls  verloren  gegangen  ist1 ;  denn 
diese  würde  durch  ihr  pnnktweises  Eingehen  auf  die  bischöflichen 
Vorschläge  den  Verlust  letzterer  ersetzen.  Wir  müssen  uns  daher, 
um  einen  ungefähren  Begriff  von  den  Streitobjecten  zu  gewinnen, 
mit  den  beiden  noch  vorhandenen  Streitschriften  begnügen,  welche 
am  4.  und  9.  Oct.  zwischen  dem  Adel  und  der  Ritterschaft  aus- 
getauscht wurden.  Die  Bedeutsamkeit  der  Sache  rechtfertigt  ihre 
nur  wenig  verkürzte  Reproduction.  Ihnen  voran  stellen  wir  aber, 
als  geringen  Ersatz  für  die  fehlenden  Propositionen,  ein  Excerpt 
aus  einer  bischöflichen  Denkschrift,  welches  heisst:  «Ein  treuer 
und  wohlgemeinter  Vorschlag,  wie  dem  armen,  mittel- 
losen, von  Gott  preisgegebenen  und  verheerten  Estland  und  Liv- 
land  wieder  geholfen  werden  und  es  wieder  aufgebaut  werden  möge, 
gegeben  den  estländischen  Ständen  in  Reval  am  1.  Oct.  1627».» 
Nach  vielen  biblischen  Citaten  folgt  eine  Ermahnung  zu  sittlichem 
Leben :  man  solle  den  Sabbath  recht  feiern,  dadurch,  dass  man  an 

1  seil.  Ritterschaftshauptmann. 

1  Da«  haben  vielfache  Nachfragen  und  Xachforsehungcifm  der  kgl.  Biblio- 
thek und  im  Reichsarchiv  zu  Stockholm  ergeben.    D.  Verf. 
3  Schwedisch. 

44* 


05Ü 


Bischof  Rudbeck. 


Sonn-  und  Festtagen  keine  schwere  Arbeit  verrichte,  auch  keine 
Fuhren  (Jcörslor)  abgehen  lasse,  die  Kirche  besuche  und  das  Gottes- 
wort lese.  Verfallene  Kirchen,  Schulen  und  Ordnungen  möge  man 
wiederaufrichten  und  <  von  dem  gesetzwidrigen  und  unmilden  Regi- 
mente  gegen  die  Bauern  und  Untergebenen  abstellen,  welche  sie 
(seil,  die  Adeligen)  gegen  derer  «Intent»(ion)  und  Absicht,  die  das 
Land  zuerst  zum  Ohristenthum  bekehrt  haben,  sich  angeeignet 
haben1;»  und  zwar  dadurch,  dass  1)  man  dem  Bauer  zur  rechten 
Zeit  seinen  Hof  (hemman)  «aufsagt»  und  es  ihm  dann,  wenn  die 
Zeit  vorüber  ist,  freisteht,  sich  nach  eiuem  anderen  Herrn  umzu- 
sehen1; 2)  es  keinem  (seil.  Bauer)  verweigert  werden  möge,  seine 
Kinder  in  die  Schule  zu  schicken,  wodurch  sie  zur  Tugend  und 
zum  Dienst  in  Kirche  und  Staat  erzogen  werden  können.  .  .  . 
«Wenn  ein  Bauer  sich  dir  verkauft,  so  soll  er  dir  sechs  Jahre 
hindurch  dienen,  im  siebenten  Jahre  aber  sollst  du  ihn  frei  geben. 
Und  wenn  du  ihn  frei  giebst,  sollst  du  ihn  nicht  mit  leeren  Händen 
gehen  lassen,  und  du  sollst  es  auch  nicht  ungern  sehen,  dass  er 
geht,  denn  er  hat  dir  sechs  Jahre  als  ein  doppelter  Knecht  gedient».  > 
Unter  anderem  wird  noch  am  Schluss  dieses  «wohlgemeinten  Rathes», 
der  offenbar  eine  Ergänzung  zu  den  «Propositionen»  bildete,  an- 
empfohlen :  «das  unmässige  Trinken  mit  darauffolgendem  Streit  und 
andersartiger  Beleidigung  Gottes  beim  Besuch  der  Kirchen  an  Sonn- 
und  Festtagen  abzulegen » ;  « Ehebruch  (Hurerei),  Buhlerei  und  andere 
Unsittlichkeiten»  aber  mit  etwas  grösserem  Ernst  zu  bestrafen. 

Auf  das  am  1.  October  beim  Bischof  «vom  Landsecretär»  ein- 
gereichte ritterschaftliche  Antwortschreiben  betreffs  der  sog.  «Pro- 
positionen», das  Aschana tus  als  «sehr  abweisend»  bezeichnet,  er- 
hielt die  Ritter-  und  Landschaft  unter  dem  Datum  des  4.  Oct.  eiue 
Antwort  unter  dem  Titel :  «Ein  Interim,  welches  dem 
Adel  gegeben  ist  nach  seiner  Eingabe  an  den 
Herrn  Bischof  über  den  Zehnten*.»  In  der  Einleitung 
wird  der  Empfang  des  «weitläufigen»  Antwortschreibens  auf  die 
übergebenen  Propositionen  angezeigt  und  die  Frage  aufgeworfen, 
ob  es  sich  überhaupt  verlohne,  darauf  früher,  als  der  König  davon 
Einsicht  genommen,  zu  antworten,  da  «E(w).  L(iebden)  sich  nicht 
zu  qualificiren  scheinen  zu  einem  guten  Handel  und  guten  Ab- 

1  Man  sieht,  es  spricht  der  nachmalige  Verfasser  von  •  Privilegin  qnae 
dam  *  b.c.  * 

1  Also  das  Princip  der  Freizügigkeit. 

•  Also  tlax  Princip  freier  Contracto.  —   1  Schwedisch. 


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Bischof  Rudbeck. 


or>7 


schied».  Damit  aber  docli  noch  etwas  Gutes  vielleicht  ausgerichtet 
werden  könne,  «besonders  E.  L.  diese  Visitation  vom  Könige 
selbst  begehrt  haben,  will  man  E.  L.  über  etliche  nöthige  Sachen 
freundschaftlich  zu-  und  bereden.  Weil  E.  L.  in  dero  Antwort 
meist  verneinen ,  extenuiren  oder  andere  beschuldigen  für  die 
Fehler  .  .  .,  welche  in  der  oft  besprochenen  Proposition  Ihren  Ge- 
meinden zugeschrieben  werden,  vermeinend,  dass  diese  Beschuldi- 
gungen aus  unsicheren  und  unmilden  Berichten  der  Pastoren  ent- 
nommen sind,  und  E.  L.  darum  nichts  antworten  auf  die  Haupt- 
proposition, nämlich  durch  welche  Mittel  diese  Fehler  geheilt  werden 
möchten,  begehre  ich  freundschaftlichst,  dass  E.  L.  wollten  ein  jeder 
seinen  Pfarrer  summt  4—6  Bauern,  in  einer  Entfernung  von  zwei 
oder  drei  Tagesreisen  von  Reval,  binnen  0—7  Tagen  einfordern, 
weil  nun  keine  Erntezeit  sie  daran  verhindert,  damit  sie  beweisen 
ihre  eingegebene  Relation,  und  wenn  von  E.  L.  in  derselben 
Zeit  ein  jeder  den  Zustand  seiner  Gemeinde  in  derselben  Ordnung, 
wie  die  Priester  mir  schriftlich  referirt  haben,  vorstellen  wollten, 
so  wird  man  wol  hernach  durch  Verhör  von  beiden  Parteien  und 
genaue  Untersuchung  erfahren  können,  wer  milder  oder  unmilder 
berichten  wird  (berättandes  varder).  Hieraus  kann  man,  wie  E.  L. 
sagen,  etwas  Gewisses  an  I.  K.  M.  referiren.>  Mittlerweile 
wolle  er  auf  dem  Schlosse  in  Gegenwart  aller  Commissare  und 
Landräthe  gern  die  Fehler  beweisen,  «die  in  der  Proposition  au- 
geführt sind>  ;  und  damit  der  Adel  sich  *ex  autopsia*  von  den 
beregten  allgemeinen  Mängeln  überzeuge,  möge  er  sich  doch  mit 
ihm  an  einer  Revision  von  der  Domkirche  bis  in  die  Stadt  hinab 
betheiligen,  etwa  am  ersten  Tage;  am  zweiten  könne  man  dann 
schon  mit  der  Vernehmung  der  allmählich  eintreffenden  Pastoren 
und  Bauern  beginnen  und  so  fort1. 

« Hierauf  begehre  ich  in  gleicher  Weise,  weil  E.  L.  meinen 
Process,  welcher  mir  in  der  kgl.  Instruction  vorgeschrieben  ist, 
verurtheilen  und  sich  auf  das  jus  patronatus  berufen,  dass  E.  L. 
binnen  dieser  Zeit  (ca.  7  Tage)  mich,  ein  jeder,  möchten  sehen 
lassen,  welche  Kirchen  er  oder  seine  Vorfahren  fundirt,  dotirt  und 
auf  ihren  Gütern  bis  heute  unterhalten  haben;  und  wenn  E.  L.  mir 
von  diesen  eingesehenen  Urkunden  und  Documenten  vidimirte  Copien 
für  I.  K.  M.  abliefern,  so  wird  E.  L.  in  dero  jus  patronatus  kein 
Eindrang  geschehen.    Es  wird  auch  freundlich  begehrt,  dass 


'  stark  gekürzt. 


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G58 


Bischof  Rudbeck. 


beglaubigte  Briefe  und  darnach  collationirte  Copien  möchten  ab- 
geliefert werden  von  denen,  so  etwa  ein  Kirchengut  beackern 
(brücket),  besonders  von  denen,  welche  Häuser  und  Grundstücke 
(Jompter)  hier  auf  dem  Dom  inne  haben  —  (woraus  zu  ersehen)  — 
wie  diese  Ihnen  von  der  Kirche  zu  Händen  gekommen,  damit  man 
die  ausscheiden  kann,  welche  bono  titulo  oder  nicht  possedirt  werden. 
Zum  dritten,  weil  E.  L.  auf  specielle  Privilegien,  insbesondere  be- 
treffs des  Zehnten,  sich  berufen,  den  sie  sich  eingetauscht  haben 
wollen  (hafva  sig  tiUbyl),  so  sollen  die  resp.  Privilegien  den  Com- 
raissaren  vorgezeigt  und  ihnen  vidimirte  Copien  abgeliefert  werden. 
4)  Da  E.  L.  keine  Mittel  vorschlagen,  was  doch  vornehmlich 
in  der  Proposition  begehrt  war,  wie  wenigstens  die 
anerkannten  Fehler  geheilt  werden  könnten,  sondern  selbst  die 
Mittel  zu  entkräften  suchen,  welche  von  uns  noch  nicht  vorgeschlagen 
worden  sind,  nämlich  die  Zahlung  des  Zehnten  (iyendegifte)  und 
des  armen  estnischen  Volkes  Manumissio  (Freilassung),  so  wollen 
wir  mehr  als  gern  E.  L.  unseren  einfältigen  und  wohlgemeinten 
Rath  und  Vorschlag  schriftlich  mittheilen,  wenn  wir  wüssten,  dass 
E.  L.  es  ohne  Eifer  und  Präjudiz  aufnehmen,  es  erwägen  und  dar- 
*  auf  Ihr  Bedenken  freundlich  zurückgeben  wollten.  Ich  erbiete  mich 
auch  alle  Tage,  wenn  es  E.  L.  gefällt,  in  Anwesenheit  der  Com- 
missare,  des  Gouverneurs  &c.  auf  das  freundlichste  mit  E.  L.  auf 
dem  Schlosse  conferiren  zu  wollen  ;  besonders  zu  untersuchen,  ob  man 
nicht  mit  guten  Gründen  sollte  beweisen  können,  dass  die  Mittel, 
welche  E.  L.  abschlagen,  nämlich  den  Zehnten  zu  geben  &c,  nicht 
doch  die  besten,  bequemsten,  nützlichsten  und  zuträglichsten  sind, 
damit  die  Herrschaft  den  zehnten  Theil  behielte,  Gott  den  neunten 
oder  elften  Theil  und  der  Ackermann  (sädesman)  die  acht  oder 
neun  Theile  zu  seinem  ßehufe.  Und  nenne  man  es  « Zehnt« >, 
« Priestergerechtigkeit >  oder  wie  man  will.  Aber  wenn  die  Herr- 
schaft den  Zehnten  behält  nicht  in  quota,  sondern  tft  totat  werden 
die  Theile  für  Gott  und  den  Ackerbauer  zu  klein.  Ferner  (ist  zu 
bemerken)  dass  das  estnische  Volk  nicht  ärger  von  Natur  ist,  als 
Latim,  Gracci,  die  Deutschen,  Schweden,  Polen  und  audere,  und 
darum  nicht  in  unerträglicher  Sclaverei  gehalten  zu  werden  brauchte, 
sondern  dass  die  Sclaverei  bei  ihnen,  wie  bei  allen  anderen  Völkern, 
Hauptursache  ihrer  Argheit  und  Bosheit  ist ;  denn  wie  gemässigte 
Freiheit  Ursache  ist  für  besseren  Sinn  und  Muth,  so  ist  auch 
schwere  Sclaverei  Ursache  für  viele  Widerspenstigkeit  und  böse 
Art  (trcäslihcct  och  vauart)  Wenn  E.  L.  auch  sehen 


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Bischof  Radbeck. 


059 


und  betrachten  wollten,  was  mit  der  Geistlichkeit  vereinbart  ist, 
so  bin  ich  erbötig,  dieses  E.  L.  vorlesen  zu  lassen  und  mit  Ihneu 
punktweise  zu  betrachten ;  und  wenn  etwas  darin  fehler- 
haft sein  sollte,  so  ist  es  ja  kein  biblischer  Text, 
es  könnte  eines  Tages  wol  gebessert  und  von 
allen  zum  grossen  Nutzen  des  Landes  unter- 
schrieben und  publicirt  werden.  Ich  will  auch  dar- 
über nicht  ungeduldig  werden  oder  mich  erregen,  wenn  mir  jemand 
hierin  mit  Ernst  die  Wahrheit  schärfen  (sie)  und  mich  corrigiren 
möchte,  sondern  will  vielmehr,  wenn  ich  mit  guten  Gründen  eines 
Besseren  belehrt  worden  bin,  und  sei  es  auch  vom  Geringsten, 
meine  Meinung  ändern  und  aeeeptireu,  was  besser  ist,  und  also 
noch  in  meinem  Alter  etwas  Gutes  lernen  und  erfahren  ;  es  mir 
nicht  zur  Schande  anrechnend,  dass  ich  noch  nicht  alles  weiss, 
sondern  täglich  viel  lernen  muss.  Wenn  E.  h.  hierüber  in  dem- 
selben Sinne  mit  mir  discurriren  wollten,  so  wäre  zu  hoffen,  dass 
wir  uns  über  ein  gutes  Mittel  endlich  einigen  möchten.  Dieses 
(d.  h.  obige  Gedanken)  hätte  ich  auf  sechs  oder  mehr  Bogen  mit 
ausstaffirter  (sie)  Rhetorik  von  E.  L.  höfisch  begehren  und  Ihnen 
zumuthen  (anmoda)  können,  um  damit  zu  hofireu,  wenn  ich  in  einer, 
zwei  oder  drei  Wochen  eine  Oration  oder  Predigt  würde  geschrieben 
haben,  oder  ich  hätte  auch  versuchen  können,  E.  L.  durch  viele 
Argumente  zu  überreden ;  —  aber  weil  ich  nicht  hierher  gekommen 
bin,  um  zu  streiten,  peroriren  und  weitläufig  zu  disputiren,  und 
weil  solches  zur  Ausrichtung  guter  und  wichtiger  Sachen  nicht 
dienlich  ist,  sondern  mehr  dazu,  die  Zeit  zu  verbringen,  andere 
mit  viel  Lesen  zu  beschweren  und  ihnen  Ursache  zum  Aufschub 
der  Antwort  zu  geben,  so  habe  ich  solches  nicht  thun  wollen, 
sondern  meine  Meinung  E.  L.  auf  das  kürzeste  und  freundlichste 
zur  Kunde  gegebeu,  eifrig  begehrend,  dass  E.  L.  dasselbe  thun 
wollten.  Ich  bekam  gestern  E.  L.  Antwort ;  könnte  ich  nun  morgen 
wieder  mit  wenigen  Worten  und  vielen  guten  Dingen  E.  L.  freund- 
liche Antwort  erhalten,  so  wäre  damit  der  Sache  sehr  viel  gedient 
und  wir  würden  um  so  schneller  ein  jeder  in  seine  Heimat  kommen. 
Wenn  E.  L  sich  diese  Sache  (ährenäett)  wollten  angelegen  sein 
lassen,  so  vermuthe  ich,  dass  ich  in  sechs,  acht  oder  zehn  Tagen 
alles  durch  Gottes  Gnade  ausrichten  und  damit  abschliessen  könnte, 
was  mir  zu  thun  befohlen  ist.  Ich  bin  E.  L.  und  Ihren  Gemeinden 
zur  dienstlichen  Auskunft  uud  Berichterstattung  (?)  auf  alle  Weise, 
nach  meinem  äussersten  Vermögen  und  Verstand,  bereit.  Hiermit 


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OÜU  Bischof  Rmlbeck. 

E.  Ii.  sämmtlichen  und  besonders  zur  dauernden  Wohl  fahrt  Gott 
befohlen  > 

Wir  lassen  hier,  ehe  wir  zum  Vergleich  der  Gründe  und 
Gegengründe  schreiten,  die  Duplik1  der  Ritterschaft  vom  9.  Oct. 
folgen  : 

«Was  E.  E(hrwürden)  auf  der  Herren  Landräthe  und  ge- 
meinen Ritterschaft  unlängst  übergebene  Resolution  zur  Wieder- 
antwort  den  5.  hujus  in  Schriften  einbringen  lassen,  solches  haben 
die  Herren  Landräthe  in  öffentlicher  Zusammenkunft  der  Ritter- 
und Landschaft  wohl  durchgelesen*  .  .  .  und  ist  den  Landräthen 
und  der  Ritterschaft  «nicht  ohne  grosse  Befremdung  vorkommen, 
dass  E.  E.  mit  derer  rechtmässigen  und  billigen  Resolution  sich 
nicht  contentiren  lassen,  besondern  Ihre  Intention  auf  den  vor- 
gesetzten scopum,  den  unbefugten  Zehenden  und  andere  präjudicir- 
liche  Mittel  beharrlich  dirigiren  und  setzen,  wodurch  Sie  ihuen  und 
ihro  Nachkommen  eine  beschwerliche  Nahrung  und  untiägliche 
Last,  derer  sie  all  bereit  mehr,  denn  sie  ertragen  können,  empfinden, 
ihren  wohlherbrachten  Privilegien  und'  Freiheiten  zuwider  unter 
mancherlei  Praetext  ein- und  Uber  den  Hals  zu  führen  vermeinen. > 
.  .  .  Obwol  sie  nun  in  ihrer  Antwort  ihre  Rechte  und  die  Un- 
möglichkeit der  Erfüllung  der  bischöflichen  Forderungen  dargethan 
hätten,  so  wollten  sie  doch  .  .  .  «solches  vorübergehen  und  allen 
dem,  so  in  übergebenem  Scripto  unnöthig  enthalten  und  zu  ihrer 
Verkleinerung  gesetzt,  per  generalia  contradiciret,  wie  auch  ihrer 
wohlherbrachten  Privilegia  und  Freiheiten  sich  nach  wie  vor  pro- 
testundo  bewahrt  haben. >  .  .  .  «Erachten  dennoch  nicht,  dass  ihres 
Mittels  einer  so  Übel  in  seinem  Christenthum  fundiret,  der  es  nicht 
für  billig  achte,  auch  nicht  herzlich  gern  sehen  und  wünschen 
sollte,  dass  das  zerfallene  Kirchenregiment  wieder  aufgerichtet 
werden  möge»  kc.  &c.  .  .  .  Ferner  behaupten  sie  (seil,  die  Ritter- 
und Landschaft),  dass  das  Kirchenwesen  «hiebevor  in  rühmlicher 
und  löblicher  Uebung  gehalten  (worden  sei)  ohne  besondere  Be- 
drückung des  Adels  und  der  Unterthanen » .  Durch  welche  Mittel 
das  geschehen,  das  wisse  der  Herr  Bischof  sehr  wohl,  cund  da 
diese  Mittel  an  andere  weiter  verwendet'»,  so  sei  es  sehr  unbillig, 
dass  man  sie  bei  ihren  wenigen  Gütern,  «deren  sie  weniger,  als 
man  ihnen  zutrauen  will»,  wegen  der  langwierigen  Kriege  übrig 
haben,  bedränge.    Sie  hofften,  der  Kijnig  werde  als  ein  geistlicher 

1  Deutach.  —    *  Ks  scheint  die  Wegnahme  Fegfeuers  gemeint  zu  Kein. 


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Bischof  Gladbeck. 


mul  löblicher  Potentat  d  a  s  von  ihnen  nicht  fordern,  und  möchten 
den  Bischof  bitten,  csie  mit  dieser  unmöglichen  Anmuthung  weiter 
nicht  zu  beschweren».  .  ...  «Was  die  geistlichen  Güter  auf  dem 
Thumb  (Dom)  betreffe»,  —  so  habe  darauf  nicht  die  Ritterschaft 
Antwort  zu  geben,  sondern  die  resp.  Possessores  c werden  ihr  Jus 
zu  rechter  Zeit  und  Stelle  zu  deduciren  wissen».  .  .  .  «So  (=  ferner) 
ist  ohne  Noth  das  jus  patronatus  weitläufig  zu  beweisen,  weilt)  E.  E. 
wissen,  dass  die  Kirchen  im  Land  mehrentheils  auf  des  Adel(s) 
Grund  und  Boden  stehen,  von  ihren  Voreltern  unfehlbar  erbauet 
und  bis  dato  von  der  Ritterschaft  allein  repariret  und  noch  erhalten 
werden ;  inmassen  sie  auch,  m  posscssione  und  Gebrauch  solcher 
Freiheit  von  undenklichen  Jahren  ruhesam  und  unturbirt  bis  dato 
conservirt  und  erhalten,  mit  dem  onerc  probandi  (Last  des  Be- 
weises) mit  Recht  nicht  belegt  werden  mögen.»  .  .  .  Dass  nun 
aber  wegen  des  jetzt  ausgebrochenen  Streites  die  Landprediger  und 
Bauerschaft  *aufs  neue1»  hierher  gerufen  werden  solle,  dagegen 
sind  sie  durchaus.  «Solches  scheint  in  dieser  späten  Jahreszeit,  da 
Sommer  und  Winter  sich  scheidet  und  man  täglich  einfallendes 
Frost(es)  sich  bewahren  muss,  ein  unmöglich  Ding  zu  sein,  ohne  das 
auch  die  Herren  Landräthe  und  Ritterschaft  mit  grossem  ihrem 
Schaden  und  Verderb  fast  bei  einviertheil  Jahr  sich  allbereit 
hier  aufgehalten,  in  dieser  unsicheren  Zeit  und  vorstehenden  ver- 
muthendeu  Gefahr  ihre  Wirthschaft  und  Wohlfahrt  versäumet,  das 
Ihrige  bei  den  Winnen  verzehren  und  sich  in  Schulden  setzen,  ja 
auch  der  Mehrentheil  wegen  Langwierigkeit  und  der  Zehrung 
Mangelunge  abziehen  und  gleichwol  wieder  anhero  kommen  und 
sich  einstellen  müssen»  &cs  .  .  .  <Und  wann  E.  E.  vor  diesem  bei 
Gegenwart  der  Priesterschaft  die  Herren  Landräthe  mit  zu  Rathe 
gezogen,  die  Kirchspielsjunkern  mit  den  Priestern  confrontirt  oder 
aber  bei  den  Kirchspielen  im  Beisein  der  zugehörigen  Junkern 
eine  Visitation,  wie  solches  von  vorigen  Visitatoribus  allhier  ge- 
schehen, gehalten  hätte,  (würde)  nicht  allein  dem  hiebevor  I.  K.  M. 
gegebenen  Vorschlag  nach  etwas  nützliches  durch  Gottes  Gnade 
verrichtet  werden  können,  besondern  es  hätten  E.  E.  auch  in  der 
Zahl  der  Priester,  welche  eines  schändlichen  und  ärgerlichen  Lebens 

*  Dies  ist  die  ernte  Stelle,  welche  zu  beweisen  scheint,  dass  die  Laad- 
Kantoren  wirklich  zur  Synode  die  gewünschten  je  vier  Bauern  mitgebracht  haben. 

*  Der  Landtag  begann,  wie  früher  bemerkt,  am  18.  Aug.  nnd  blieb  bis 
Knde  Sept.  oder  Anfang  (Jetober  versammelt,  cf.  Greiffenhagen  und  diese  Ant- 
wort auf  das  sog.  «Interim». 


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GÜ2 


Bischof  Rudbeck. 


halben  infamiret,  als  Ehebrecher  und  Hurer  öffentlichen  angeklaget 
und  überwunden,  aus  Unwissenheit  solcher  groben  Excessen,  mit 
grosser  Aergernis  und  Verkleinerung  des  Standes  allhier  einzusetzen 
wohl  Bedenken  getragen.  Und  kann  die  Sache  nicht  entschuldigen 
oder  in  etwas  releviren,  dass  damalen  der  Eid  von  der  Ritterschaft 
noch  nicht  praestiret,  weileu  der  Eid  ein  solches  nicht  gehindert 
oder  hindern  können.  Wie  denn  auch  die  sechs  Wochen  hernach ■ 
wol  nützlicher  hätten  angewandt  werden  können,  wann  E.  E.  die 
Herren  Landräthe  und  Ritterschaft  so  viel  g e  würdiget  und 
nicht  als  Unverständige  und  Tyrannen,  wie  sie  denn  mit  Unfug 
von  ihm  tituliret  worden,  gänzlichen  ausgeschlossen  hätten.  Und 
weilen  die  adelige  Ritterschaft  durch  solche  Diffamation  und  unbe- 
fugte Tituln  an  ihrem  adeligen  Leumund  nicht  wenig  verletzet 
wird,  welche  S.  Ehrw.  mit  Bestände  und  gutem  Fundament  nicht 
darthun  und  erweisen  werden,  viel  weniger  von  I.  K.  M.,  als  so 
einem  weitberühmten  und  löblichen  Potentaten,  unserem  allergnädig- 
sten  Könige  und  Herrn,  als  ungebührlichen  mit  der  Ritterschaft 
zu  procediren  und  unverschuldeter  Sachen  zu  calumniiren  befehliget 
sein,  als  (=  daher)  will  E.  E.  Ritter-  und  Landschaft  diese  injüriam 
an  Ort  und  Stelle,  da  sichs  gebührt,  zurückzuweisen  hiermit  vor- 
behalten haben.  ...  Es  seindt  aber  die  Herren  Landräthe  und 
gemeine  Ritterschaft  mit  nichten  gemeint,  Sr.  Ehrw.  habeude(n) 
königliche(n)  Commission  im  geringsten  etwas  zu  derogiren  oder 
hierdurch  zu  verkleinern,  welche  sie  denn  in  allem  billigen  Respect 
ehren  und  würden  jederzeit  gehalten  und  zu  halten  sich  schuldig 
erkennen,  gestalt  sie  auch  expresse  sich  dessen  hiermit  bewahret 
haben  wollen,  besondern  weiln  dieselbe  extra  limites  commission is 
(über  die  Grenzen  des  Auftrages)  geschritten  und  die  adelige  Ritter- 
schaft, die  dann,  ohne  Ruhm  zu  melden,  aller  Ehren  und  der  Ritter- 
mässigkeit  sich  beflissen  und  derohalben  vor  I.  K.  M.,  unserem 
gnädigsten  Könige  und  Herrn,  welches  sie  dann  in  aller  Unter- 
tänigkeit erkennen,  nicht  wenig  jederzeit  gewürdiget,  unbefugter 
und  unrechtmässiger  Weise  angegriffen,  seindt  zu  defendiren  und 
(zur)  Erhaltung  ihrer  Ehren  sich  dergestalt  zu  bewahren  höchst 
verursachet  worden.  Und  haben  die  Herren  Landräthe  und  gem. 
Ritterschaft  dieses  zur  endlichen  Resolution  uud  ßeschluss  der 
Sachen  nothwendig  zu  beantworten  E.  E.  nicht  verhalten  sollen  

1  Darunter  ist  offenbar  die  Zeit  nach  Sellin»»  der  Synode  am  26.  Aug. 
gemeint. 


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Bischof  Rudbeck. 


P.  S.  Demnach  man  mit  Schmerzen  vernimmt,  welcher  Gestalt 
der  Herr  Bischof  in  seinem  unordentlichen  und  unrechtmässigen 
Process,  ungeachtet  der  Ritter-  und  Laudschaft  mehrmalen  deswegen 
eingewandten  Protestation,  nach  wie  vor  procediren  und  bald  hier 
bald  dort  ungeschickte  Priester  ohne  vorhergehende  Nomination 
und  Präsentation  der  Kirchspielsjunkern  ihnen  zu  obtrudiren  und 
anzudringen  sich  unterstehen  solle:  als  werden1  die  Herren  Land- 
räthe  und  gemeine  Ritterschaft  wider  Recht  und  Billigkeit  und  so 
alte  besitzliche  Freiheit  dergestalt  nicht  graviren,  sondern  vielmehr 
mit  solchen  Attentaten  anhalten  in  Betrachtung,  dass  solche  patro- 
nata  bencßcia  sine  praescniatione  patronorum  nicht  conferirt  worden*.» 
...  Es  folgt  nun  noch  eine  kurze  juristische  Begründung  des 
Patronatsrechts  in  lateinischer  Sprache,  die  wir  als  unwesentlich 
weglassen.  Zum  Schluss  aber  heisst  es:  «Und  weilen  hiermit  auch 
erscheint,  dass  I.  K.  M.  Regalien  und  Hoheit  hiermit  im  geringsten 
nicht  präjudicirt  wird  und  auch  diese  Ritter-  und  Landschaft  bei 
solchem  Rechte  und  Freiheit  von  undenklichen  Jahren,  wie  Gesetz, 
unturbirt  erhalten:  als  wird  dieselbe  durch  solche  des  Herrn 
Bischofs  Molestation  und  unbefugten  Eingriff  sich  desselben  nicht 
begeben  und  ihren  abwesenden  Mitbrüdern  und  Posteritet  zum  Prae- 
judicio  nicht  begeben  künneu.» 

Das  sog.  «Interim»  des  Bischofs,  sein  «treuer  und  wohl- 
gemeinter Rath»  und  die  in  der  Duplik  der  Ritterschaft  enthaltenen 
Entgegnungen  lassen  es  deutlich  erkennen,  was  Rudbeck  im  wesent- 
lichen von  der  Ritterschaft  verlangt  hat.  Ausser  dem  Wiederaufbau 
der  Kirchen  und  Pastorate  sollte  sie  durch  Verzicht  auf  den  bäuer- 
lichen Zehnten  zu  Gunsten  der  Kirche  (und  der  ßauerschaft)  zu  der 
Hebung  des  Kirchenwesens  und  des  geistlichen  Standes  beitragen. 
Zugleich  sollte  sie  ihr  Patronatsrecht  in  jedem  einzelnen  Falle 
nachweisen  und  endlich  mit  einer  agrarischen  Reform  in  grossem 
Styl  den  Anfang  machen.  Es  sind  wahrlich  Forderungen  von  der 
einschneidendsten  Wirkung,  die  hier  gestellt  werden,  so  dass  man 
geradezu  erstaunen  muss  über  die  Kühnheit  des  Visitators.  Jedoch 
helfen  uns  zwei  Umstände  das  Räthsel  lösen.  Erstens  die  natur- 
rechtliche Staatstheorie  des  Hugo  Grotius  und  zweitens  die  beispiel- 
los rapide  und  glückliche  Entwicklung  des  schwedischen  Staates. 
Hugo  Grotius,  der  in  Gustav  Adolf  einen  glühenden  Verehrer 

*  Es  scheint,  dass  nach  «Uesen  Worteu  ausgelassen  sei :  der  Herr  Bischof. 

•  d.  h.  in  Rücksicht  dessen,  dass  solche  l'atronatsrcchte  uieniaudem  von 
den  wirklichen  Patronen  ühertragen  worden  sind. 


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664 


Bisehof  Radbeek. 


fand,  lehrte,  dass  die  privatrechtliche  Auflassung  des  Mittelalters 
vor  der  Anschauung  von  der  unbeschrankten  Gesetzgebungsgewalt 
des  Staates  zurückzuweichen  und  das  Staatsoberhaupt,  als  Träger 
der  Staatsgewalt,  das  positive  Recht,  sei  es  auch  auf  Kosten  der 
Unterthanen.  zu  schatten  habe.  Dies  macht  die  geringe  Achtung 
vor  den  Privilegien  erklärlich  und  inusste  hernach  zum  aufgeklärten 
Despotismus  führen,  zu  welchem  das  schwedische  Staatsleben  die 
Ansätze  bot.  Schweden  hatte  auf  Kosten  der  privilegirten  Stände 
Probleme  gelöst,  mit  denen  man  sich  auf  dem  Continent  noch 
Jahrhunderte  lang  abquälte.  Es  gab  in  Schweden  einen  persönlich 
freien  Bauerstand,  der  sich  täglich  mehr  und  mehr  zu  politischer 
Bedeutung  aufschwang ;  warum  sollte  sich  nicht  in  Est-  und  Liv- 
land  dasselbe  erreichen  lassen?  Und  dazu  war  Rudbeck  nicht  der 
erste,  der  damit  kam  ;  schon  Karl  von  Södermanland  hatte  die 
Livländer  zur  Aufhebung  der  Leibeigenschaft  überreden  wollen. 

Wir  können  der  Ansicht  in  der  < Livländischen  Rückschau'» , 
dass  Livland  (natürlich  in  weiterem  Sinne)  damals  auf  dem  <Wege 
war,  seine  Bevölkerung  zu  einem  Volke  werden  zu  sehen»,  und 
dass  es  «vielleicht  nur  die  unselige  Kugel  von  Lützen»  gewesen, 
«welche  dieses  unser  Heil  vernichtete*,  nicht  beipflichten,  weil  wir 
an  der  Möglichkeit  der  Aufhebung  der  Leibeigenschaft  im  da- 
maligen Livland,  in  Rücksicht  auf  seine  wirtschaftlichen  Ver- 
hältnisse, die  durch  die  schwedische  Reichspolitik  bedingte  be- 
ständige Kriegsgefahr  und  die  gelinge  sittliche  Reife  des  damaligen 
Landvolks,  begründeten  Zweifel  hegen.  Uns  scheinen  die  ins 
Blaue  hinein  gesprochenen  Worte  Rudbecks  nur  eine  Emanation 
gefühlsseliger  Humanität  zu  sein.  Aber  dieselben  Worte,  welche 
die  »Livländisehe  Rückschau»  von  der  livländischen  Ritterschaft 
aussagt,  lassen  sich  catteris  paribus  auch  auf  Estland  anwenden: 
Konnte  man  wirklich  verlangen  oder  nur  erwarten,  dass  eiue 
Ritterschaft,  die  ein  Menschenalter  hindurch  unter  den  demoralisi- 
rendsten  Einflüssen  gestanden,  die  sich  in  einem  verwüsteten  Lande, 
hart  am  Rande  des  Verderbens  befand,  mitten  im  Kriegsgetümmel 
habe  zustimmen  sollen  einer  Reform,  deren  Folgen  zur  Zeit  unbe- 
rechenbar schienen  und  die  in  den  glücklichsten,  reichsten  und  fried- 
lichsten Ländern  der  abendländischen  Culturwelt  erst  fast  zwei 
Jahrhunderte  später  und  dann  auch  nur  nach  schweren  Kämpfen 
durchgeführt  ward?!»    Wir  mögen  den  Mangel  an  so  hochherzigem 

•  «Livliüulische  Rückschau  von  Herrn,  üaron  Bruiuingk,  1879,  p.  124,  128. 


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Rischof  Rudbeck. 


GÖo 


Empfinden,  die  Beschränktheit  unserer  heimischen  Politiker  jener 
Zeit  vom  Standpunkte  der  Humanität  tief  beklagen,  die  Geschichte 
aber  darf  dort  nicht  kühne  Sprünge  fordern,  wo  die  Umstände 
dazu  nicht  gegeben  sind  und  die  einzige  Rettung  in  den  « stabi- 
lsten >  Privilegien,  des  Landes  « rocher  de  bronzen  zu  suchen  war. 

Fragen  wir  doch  :  welches  Recht  hatte  Rudbeck  zum  Vor- 
schlage einer  Agrarreform  ?  Die  Antwort  wird  von  der  Ritterschaft 
selbst  gegeben:  er  hatte  gar  keins';'  denn  er  war,  laut  seiner 
[nstruction,  nur  als  geistlicher  Visitator  nach  Estland  gesandt,  wo 
er  vernunftgemäss  nur  nach  dem  Erreichbaren  zu  streben,  und  in 
Eintracht  mit  dem  Adel  zu  conferiren  hatte. 

Sein  ganzes  Verhalten  verräth  aber  den  Doctrinär  und  unge- 
schickten Diplomaten,  so  scharfsinnig  in  den  Schlussfolgerungen 
seine  Deductionen  und  so  beflissen  seine  Höflichkeitsäusserungen 
auch  sein  mögen.  Mit  dem  Vorschlage  von  der  Aufhebung  der 
Leibeigenschaft  sclioss  er  weit  über  sein  Ziel  hinaus ;  und  wenn  er 
über  den  Zehnten  keine  Einigung  erzielen  konnte,  so  blieben  ja 
noch  andere  Einnahmequellen  übrig  uud  brauchte  er  sich  nicht  an 
den  Wortlaut  seiner  Instruction  zu  klammem.  Statt  sich  über  ein 
Surrogat  des  Zehnten  mit  der  Ritterschaft  in  Einvernehmen  zu 
setzeu,  blieb  er  auf  seinem  Buchstaben  stehen  und  beleidigte  sie 
Schritt  auf  Schritt.  Ganz  unnöthiger  Weise  verletzte  er  durch 
beständigen  Gebrauch  der  schwedischen  Sprache  in  Wort  und  Schrift 
das  Landesrecht  und  entblödete  sich  nicht,  als  der  « Landsecretär» 
im  Namen  der  Ritterschaft  am  5.  Oct.  von  ihm  nochmals  die  t  Pro- 
positionen» auf  Deutsch  erbat,  ciiein,  nein»  zu  sagen  und  ihn 
«schimpflich»  {snöpplige)1  abzuweisen.  In  seiner  Masslosigkeit  über- 
trug er  in  Schweden  selbst  noch  nicht  gelöste  Probleme  auf  est- 
ländischen  Boden ;  denn  die  Forderung,  dass  jeder  Einzelne  sein 
Patronatsrecht  schriftlich  beweisen  solle,  war  unausführbar  und 
kam  einer  Aufhebung  gleich,  schon  weil  in  den  Kriegszeiten  die 
Documente  vieler  verloren  gegangen  sein  mussten ;  während  die 
politische  Vergangenheit  des  Landes  an  dem  factischen  Patronats- 


1  In  Art  2  der  Instruction  heisst  es  freilich,  dass  der  Bischof  «nicht 
allein  Art  nnd  Wci*e  dor  wirtschaftlichen  Verwaltung  besser  einrichte,  sondern 
auch  &p. ;  aher  darunter  die  Aufhebung  der  Leibeigenschaft  an  verstehen, 
konnte  wenigstens  von  der  Ritterschaft  nie  verlangt  werden;  noch  weniger 
machte  der  Verfasser  ineinen,  dass  der  König  hinter  diesen  Worten  einen  solchen 
(»edanken  feige  verbergen  wollte. 

*  cf.  das  ftinerar  des  Asch. 


666 


Bischof  Rudbeok. 


recht  des  Adels  doch  keinen  Zweifel  aufkommen  lassen  konnte. 
Darin  und  in  so  manchem  anderen  zeigt  er  sich  als  Oppositions- 
manu  gegen  den  Adel  und  Führer  der  hierarchischen  Partei. 

Hingegen  vertrat  die  Ritterschaft  eine  ganz  schiefe  Auffassung, 
indem  sie  gegen  des  Bischofs  visitatorische  Anordnungen  Protest 
einlegte.  Für  eine  Visitation  in  ihrem  Sinn  waren  Zeit  und  Um- 
stände nicht  vorhanden ;  auch  war  die  Meinung  der  Ritterschaft, 
der  Bischof  hätte  sich  über  die  Einsetzung  jedes  einzelnen  Pfarramts- 
candidaten  mit  den  Kirchenpatronen  in  Relation  setzen  und  das 
Land  von  Kirche  zu  Kirche  visitiren  sollen,  nicht  durchführbar. 
Dass  die  Ritterschaft  durch  ihren  Protest  sich  das  Patronats- 
recht  sichern  wollte,  war  billig ;  desgleichen  ihr  ablehnendes 
Verhalten  gegenüber  der  bischöflichen  Requisition  bäuerlicher  Zeugen. 

Die  ländlichen  und  kirchlichen  Zustände  aber  waren  entsetzlich 
verwahrloste,  wie  die  Synodalberichte  klar  ergeben,  und  der  Adel 
selbst  war  —  erklärlich  genug  —  vielfach  arg  depravirt.  Das 
hätte  man,  wenigstens  stillschweigend,  eingestehen  sollen.  Eine 
wirkliche  Reform  erheischte  deshalb  einen  radicalen  Eingriff  in  die 
verrottete  pastorale  Wirksamkeit,  ohne  dass  damit  das  Patronats- 
recht  für  immer  aufgehoben  werden  konnte ;  es  wurde  eben  nur 
zeitweilig  ausser  Praxis  gesetzt.  Das  Itinerar  des  Aschanaeus 
und  die  sittliche  Natur  des  Visitators  geben  dafür  unleugbare 
Bürgschaft,  dass  er  es  mit  der  Anstellung  der  neuen  Pfarrer  ernst 
nahm  und  offenkundige  Vergehen  der  Pastoren  unnachsichtig  strafte. 
Er  konnte  natürlich  nicht  bessere  Menschen,  als  sie  das  Land  selbst 
bot,  aus  der  Erde  stampfen.  Gedacht  sei  hierbei  eines  charakteri- 
stischen Wortes  von  Ax.  Oxenstjerna,  das  er  1C43  in  einer  (Kon- 
ferenz mit  den  Adelsdeputirten  unter  anderem  äusserte :  «er  habe 
in  Estland  pastores  gekannt,  die  fast  zu  Stalljungen  nicht  tüchtig 
gewesen  ;  er  habe  selbst  gesehen,  dass  ein  Pastor  in  der  Kirche 
geschlachtet  und  Fleisch,  Speck,  Hühner  daselbst  herumhängen 
lassen1.» 

Betrachten  wir  zum  Schluss,  was  Rudbeckius  denn  eigentlich 
durch  seine  Visitation  erzielt  hat,  so  bleibt  weniger  übrig,  als  man 
von  ihm  zu  erwarten  berechtigt  sein  durfte.  Allem  voran  —  und 
das  ist  sein  grösstes  Verdienst  —  hatte  er  eine  gründliche  und 
heilsame  Reinigung  des  kirchlichen  Augiasstalles  durch  rücksichts- 
lose, aber  gerechte  und  verständige  Einsetzung  tauglicher  Pastoren, 


'  cf.  KiuipffVr  in  der  ftlleir.  Sehr.  p.  7. 


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Bischof  Rudbeck. 


667 


so  weit  sich  solche  auftreiben  liessen,  und  Absetzung  untauglicher 
erzielt ;  2)  hatte  er  die  schwedische  Kirchenordnung  interimistisch 
eingeführt ;  3)  eine  feste  Visitationsordnung  für  den  Superintendenten 
und  die  Pröpste,  eine  neue  Diöcesaneintheilung  in  sechs  Prä- 
posituren und  eine  Synodalordnung  hinterlassen.  Alles  Uebrige 
blieb  in  Folge  seiner  Conflicte  in  der  Schwebe.  Die  rechtliche 
Stellung  des  revaler  Stadtconsistoriums,  eines  altbewahrten  Instituts, 
war  in  Frage  gestellt,  und  für  die  Eiunahmen  der  Pastoren 
und  die  wirtschaftliche  Fundation  der  Pastorate,  für  die  Be- 
gründung einer  höheren  Schule  in  Reval  brachte  er  nur  Wünsche 
und  unerfüllte  Forderungen  heim,  kein  positives  Resultat.  Die 
grössere  Schuld  daran  trug  seine  inconciliante  Natur,  die  kleinere 
die  Hartnäckigkeit  der  Estländer. 

Es  ist  hier  nicht  unsere  Aufgabe,  die  weitere  Ausgestaltung 
der  estländischen  Kirche  während  der  fortgesetzten  Superintendentur 
Gazas  und  des  Jheringschen  Episcopats  (seit  1639)  zu  verfolgen. 
Erwähnt  sei  nur,  dass  1631  in  Reval  doch  ein  Gymnasium  in  dem 
von  der  Ritterschaft  auf  Regierungsbefehl  der  Stadt  überantworteten 
Michaeliskloster  eröffnet  und  die  rechtliche  Autonomie  des  Stadt- 
consistoriums hernach  von  der  schwedischen  Regierung  anerkannt 
ward.  Die  Propositionen  Rudbecks  betreffs  der  wirthschaftlichen 
Fundation  der  Landpfarren  fanden  jedoch  —  und  dazu  in  anderer 
Form  —  erst  ganz  allmählich  ihre  Verwirklichung. 

Doch  gedenken  wir  noch  der  Abreise  des  Bischofs.  Nachdem 
schon  am  12.  Oct.  das  Gepäck  und  Actenmaterial  aufs  bereit- 
gehaltene Schiff  geschafft  worden,  wurden  am  13.  Oct.  die  zurück- 
bleibenden Acten ,  ferner  eine  schwedische  Kirchenordnung,  die 
Registratur,  das  Kircheninventarium  und  Dubberchs  Visitations- 
protokolle «zur  ewigen  Richtschnur»  in  den  Schrank  der  Dom- 
kirche gethan.  Am  14.  Oct.  gab  dßr  Sohn  Philipp  Schedingks, 
Herr  Jakob  Schedingk,  den  geistlichen  Commissaren  in  seiner 
Wohnung  ein  Abschiedsmahl.  Am  15.  Oct.  überreichten  der  Adel 
und  der  städtische  Rath  dem  Bischof  ihre  definitiven,  jetzt  ver- 
muthlich  nicht  mehr  erhaltenen  Antwortschreiben,  die  Aschanaeus 
als  «schlecht  genug»  und  «untauglich»  bezeichnet ;  um  7  Uhr  abends 
gingen  alle  zu  Schiff  und  brachen  bald  darnach  über  Hangö  und 
Äbo  nach  Stockholm  auf. 

Finsteren  Blickes  und  voll  tiefer  Erbitterung  sahen  die  Est- 
länder dem  Bischof  nach,  als  er  in  See  stach,  um  heimzukehren. 
Sie  fürchteten  aus  guten  Gründen,  dass  die  schon  an  und  für  sich 


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Bischof  Rudbeek. 


übelwollende  Gesinnung  des  Königs  gegenüber  der  estländischen 
Provinz  durch  seinen  Bericht  nur  noch  gesteigert  werden  würde. 
Und  sie  täuschten  sich  nicht,  denn  noch  1G29  gab  der  König 
seiner  Ueberzengung,  dass  die  Estländer  allein  am  Miserfolge  des 
Visitationswerkes  schuld  seien,  in  heftigen,  an  mehrere  Adels- 
deputirte  gerichteten  Worten  unverblümten  Ausdruck,  trotzdem 
sich  Ax  Oxenstjerna  für  sie  verwandte1.  Und  wäre  der  König 
nicht  bald  darauf  nach  Deutschland  aufgebrochen,  wer  will  es 
wissen,  ob  er  sich  nicht  gar  im  Zornesdrange  zu  ungerechten  Mass- 
nahmen gegen  das  Land  oder  einzelne  Personen  desselben  würde 
haben  verleiten  lassen.  Uns  Epigonen  jener  Tage  liegen  die 
dunklen  Schatten  nach  der  entgegengesetzten  Seite,  wir  stehen  im 
Lichte  der  ehernen  Gestalten  des  herben  Rudbeek  und  seines 
grösseren  Königs  Gustav  Adolf,  des  Dichters  jenes  echt  protestanti- 
schen Liedes:  «Verzage  nicht,  du  Häuflein  klein1». 
A  r  e  u  s  b  u  r  g  ,  im  August. 


1  cf.  die  nllrg.  Schrift  ftrciffenhagcitft. 

1  In  Heft  7  int  nuf  p.  5;-»:»  Z.  15  v.  ...  zu  hwen:  IßOI    1G38  («tatt  1618). 


T.  Christian i. 


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c 


Polnische  Wirtschaft  in  Livland. 

f!595  nn.l  159«}. 


[ducnbis  filium  meum  in  spem  utriusque  regni*  —  so  rief, 
wie  uns  Geijer  berichtet,  König  Johann  von  Schweden 
mit  gezücktem  Schwerte  über  seinem  Haupte  dem  Erzieher  seines 
Sohnes  Sigismund  zu,  als  er  diesen  einmal  mit  ihm  aus  der  katholi- 
schen Messe  kommen  sah.  Dieses  Mahn-  und  Drohwort  konnte 
ihm  nicht  von  Herzen  kommen,  denn  Johann  gehörte  ja  mehr  dem 
Katholicismus  als  dem  Protestantismus  an,  und  daher  konnte  ihm 
nichts  ferner  liegen  als  Misfallen  an  der  Betheiligung  seines  Sohnes 
an  einer  katholischen  Messe.  Aber  zur  Zeit  war  sein  Kopf  noch 
mehr  als  sein  Herz  doch  von  anderen  Dingen  erfüllt  als  von  kirch- 
lichen Interessen.  Die  *si>es  utriusque  regni*,  der  Wunsch  und  die 
Hoffnung,  dereinst  die  Doppelkrone  von  Schweden  und  Polen  auf 
dem  Haupte  seines  Sohnes  vereinigt  zu  sehen  —  die  waren  es,  die 
ihn  so  unmuthig  machten.  Wäre  es  in  Krakau  oder  Warschau 
gewesen,  Johann  hätte  sicherlich  dazu  geschwiegen.  Aber  in 
Stockholm,  in  dem  protestantischen  Stockholm  konnte  es  nur  An- 
stoss  erregen,  wenn  der  Erzieher  des  schwedischen  Thronerben  ihn 
in  die  Messe  begleitete.  Der  Schein  also  sollte  gemieden  werden. 
Vielleicht  reichte  die  Einsicht  des  Königs  weiter;  vielleicht  musste 
er  sich  sagen,  die  gänzliche  Entfremdung  seines  Sohnes  von  der 
protestantischen  Kirche  werde  ihn  zu  der  Rolle,  die  er  dereinst 
als  Herrscher  der  beiden  Reiche  zu  spielen  haben  werde,  unfähig 

Baltincli«  Mon»Unrhrift,  Rh».!  XXXIV,  llofl  s.  45 


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r,70 


Polnische  Wirtschaft  in  Livland. 


machen.  Eine  Art  religiösen  Doppelwesens  in  der  Person  seines 
Sohnes  sollte  vielleicht  diesem  Ausgange  vorbengen. 

Doch  sei  dem,  wie  ihm  wolle,  in  dem  vernommenen  Droh- 
worte lag  jedenfalls  neben  richtigem  Vorausblicke  dessen,  was 
kommen  musste,  wenn  bei  der  Erziehung  des  künftigen  Beherrschers 
Schwedens  alle  Rücksicht  auf  die  Landeskirche  bei  Seite  gesetzt 
würde,  die  weit  grössere  Selbsttäuschung,  durch  Schein-  und  Doppel- 
wesen einen  Widerspruch  lösen  zu  können,  der  in  den  mächtigsten 
Dingen  der  Völker-  und  Staatengeschichte  seinen  tieferen  Grund 
hatte.  Zwischen  Schweden  und  Polen  lag  eine  so  weite  Kluft 
befestigt,  dass  der  Doppel  reif  zweier  Kronen,  auch  von  dem  er- 
leuchtetsten Haupte  eines  willensstarken  Regenten  getragen,  sie 
nimmermehr  überbrücken  konnte.  Und  Sigismund  —  das  wird 
sich  sein  Vater  wol  schon  damals  gesagt  haben  müssen  —  war 
weder  erleuchtet  noch  willensstark.  Dafür  hatten,  als  er  noch 
Knabe  war,  seine  Mutter  und  später  die  Jesuiten  gesorgt,  so  weit 
dabei  erzieherische  Einflüsse  bedingend  und  gestaltend  sind. 

Aber  ist  denn  wirklich  —  kann  man  immerhin  fragen  — 
der  von  uns  erhobene  Vorwurf  der  Selbsttäuschung  so  unbedingt 
zu  unterschreiben  ?  Lagen  die  Dinge  zu  Zeiten  Johanns  III.  nicht 
vielmehr  so,  dass  bei  geschickter  Ausnutzung  der  politischen  Ver- 
hältnisse wenn  auch  nicht  eine  einheitliche  Monarchie  von  festem 
und  auf  die  Dauer  berechnetem  Gefüge,  so  doch  eine  Personalunion 
erhofft  werden  konnte,  welche  tür  einige  Zeit  der  Macht  und  des 
Glanzes  nicht  entbehren  werde?  Denn  nicht  handelte  es  sich  ja  bei 
der  Verbindung  beider  Reiche  und  Kronen  lediglich  um  die  sowol 
räumlich  als  wesentlich  disperaten  Elemente  von  Schweden  und  Polen, 
sondem  um  diese  in  ihrer  Verbindung  mit  einem  dritten  Lande,  in 
ihrer  Verbindung  mit  —Livland.  Livland  rückte  die  Grenzen 
Polens  und  Littauens  bis  an  die  Ostsee  und  den  finnischen  Meer- 
busen und  durch  diese  in  nähere  Verbindung  mit  Schweden  und  Fin- 
land.  Und  war  denn  nicht  Livland  mit  seinen  noch  nicht  erloschenen 
katholischen  Ordensreminiscenzen,  mit  der  von  Nationalität  und 
Kirche  unabhängigen  Lehnstreue  seiner  Vasallen  und  mit  dem  Be- 
dürfnis aller  seiner  Bewohner,  durch  die  Vereinigung  zweier  mächti- 
ger Nachbarreiche  gegen  die  Anstürme  eines  dritten  Reiches  und 
Volkes,  damit  aber  gegen  Kriege  und  verwüstende  Einfälle  sicherer 
als  bisher  gestellt  zu  werden,  nicht  wirklich  ein  ausgleichendes 
und  vermittelndes  Element?  Konnte  Johann  TU.  im  Hinblick  auf 
dieses  Bindeglied  nicht  der  Hoffnung  leben,  Livland  werde  je 


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Polnische  Wirthschaft  in  Livland. 


Cul 


langer,  je  mehr  ein  Kitt  zwischen  Schweden  und  Polen  werden 
und  so  die  Wasas  zu  dem  mächtigsten  Herrscherhause  in  Ost- 
europa erheben? 

Auf  alle  diese  Fragen  muss  unbedingt  mit  Nein  geantwortet 
.  werden.  Sollte  Altlivland  die  Rolle  des  Bindegliedes  übernehmen, 
so  musste  es  einheitlicher  in  sich  dastehen,  als  es  zur  Zeit 
Johanns  III.  der  Fall  war.  Von  Kurland  ganz  abgesehen,  das 
mit  seiner  relativen  Selbständigkeit  und  seinen  Sonderinteressen 
mehr  zu  Polen  als  zu  Schweden  gravitirte,  waren  es  besonders 
das  neue  Livland  und  das  neue  Estland,  welchen  seit  Untergang 
des  livländischen  Ordensstaates  das  Gepräge  der  Einheitlichkeit  zu 
sehr  abhanden  gekommen  war,  um  ihrerseits  die  Rolle  der  Ver- 
mittlung zwischen  anderen  staatlichen  Gebilden  zu  übernehmen. 
Nicht  als  wenn  Livland  in  den  etwa  30  Jahren  seit  jenem  Unter- 
gange sein  germanisches  Wesen  eingebüsst  hätte  —  dazu  war 
dieses  zu  fest  begründet.  Aber  Polen  und  Littauen  hatten  das  Ihrige 
gethan,  um  dieses  Wesen  so  einzudämmen  und  zurückzudrängen, 
dass  eine  Bethätigung  desselben  nach  aussen  kaum  möglich  war. 
An  der  Spitze  ein  völlig  geschwächtes  Königthum,  daneben  ein 
umgestalteter  Landesstaat  im  Schlepptau  wüster  Reichsversamm- 
lungen, Willkür  und  Parteilichkeit  in  Verwaltung  und  Rechtspflege, 
grenzenlose  Ueberhebung  des  eingewanderten  Magnatenthums  und 
endlich  katholische  Propaganda  und  Jesuitenwirthschaft :  das  war 
die  Morgengabe,  welche  Neulivland  zu  Theil  geworden  war.  Und 
daneben  stand  Estland,  die  viel  umstrittene  und  schliesslich  doch  in 
der  Machtsphäre  Schwedens  verbliebene  Provinz,  mit  seinem  unge- 
schwächten Lutherthum,  mit  seiner  unveränderten  eigenartigen  Ver- 
fassung in  Stadt  und  Land,  und  nur  so  weit  schwedisch,  als 
schwedische  Heerführer  und  Regenten  von  hoher  staatsmännischer 
Begabung,  wie  die  Horn,  Banner  und  de  la  Gardie,  den  neu  er- 
worbenen Landestheil  zu  schützeu,  nicht  aber  in  seiner  Eigenart 
zu  vernichten  bemüht  waren.  Bei  einer  so  gegensätzlichen  Stellung 
der  beiden  Provinzen  zu  den  Kronländern,  deren  Theile  sie  zur 
Regierungszeit  Johanns  III.  waren,  gehörte  kein  geringer  Grad 
von  Verblendung  dazu,  um  für  die  Annäherung  zwischen  Polen 
und  Schweden  grosse  Stücke  auf  die  ehemaligen  Bestandteile  Alt- 
livlands  zu  geben. 

Ein  lehrreiches  Beispiel  dafür  giebt  der  Process  des  reval- 
schen  Rathsherrn  und  Gerichtsvogts  Johann  Strahl  bor  n  wider 
den  Oekonomen  des  dorpater  Stifts  und  polnischen  Statthalter  Georg 

45* 


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G72 


Polnische  Wirthschaft  in  Livland. 


Schenking  und  den  Rittmeister  Hermann  W  r  a  n  g  e  1 1. 
Er  ist  weit  davon  entfernt,  ein  Sensationsstück  zu  sein.  Einfach 
in  seiner  Veranlassung  und  in  seinem  Verlaufe,  eignet  er  sich 
doch  sehr  dazu,  einen  Beitrag  zu  dem  Bilde  livländischer  Zu- 
stände während  der  Polenherrschaft  zu  liefern ,  insbesondere 
aber  klarer  hervortreten  zu  lassen ,  was  alles  dazu  geführt 
hat,  dieser  Herrschaft  zu  Gunsten  Schwedens  so  rasch  ein  Ziel 
zu  setzen.  Und  wenn  unsere  provinzielle  Rechtsgeschichte  aus 
diesem  Bilde  auch  keine  wesentliche  Bereicherung  an  positiven 
Resultaten  auf  dem  Gebiete  der  Gerichtsverfassung  uud  des  Gerichts- 
verfahrens wird  schöpfen  können,  so  wird  es  ihr  doch  auch  nicht 
ganz  an  neuem  Material  zur  Beantwortung  der  noch  immer  offenen 
Frage  fehleu,  wie  es  gekommen,  dass  trotz  aller  Bemühungen 
Polens,  jenes  Gebiet  in  seinem  Interesse  umzugestalten,  die  alt- 
livländische  Rechtspflege  sich  so  bald  von  ihren  fremden  Bestand- 
teilen zu  befreien  vermocht  hat. 

Zunächst  haben  wir  uns  mit  den  processführenden  Parteien 
bekannt  zu  machen.  In  der  Klägerrolle  finden  wir  den  revalschen 
Rathsherrn  und  Gerichtsvogt  .Johann  Strahlborn.  Er  ge- 
hörte der  bekannten  Patricierfamilie  dieses  Namens  an.  Von  den 
neun  Strahlborns,  welche  im  revalschen  Rathsstuhle  gesessen  haben, 
war  unser  Johann  (ein  zweiter  dieses  Vornamens  kommt  viel  später 
vor)  der  erste,  der  zum  Rathsherrn  gewählt  wurde.  In  den  Jahren 
1595 — 1597  war  er  Gerichtsvogt,  d.  h.  Inhaber  der  niederen  Straf- 
gewalt in  der  Stadt,  von  1598—1600  war  er  ältester  Rathsherr 
und  als  solcher  Herrenvogt'. 

Von  seinen  Gegnern  und  Beklagten  im  Processe  ist  Georg 
Schenking  «als  der  intellectuelle  Urheber  dessen,  was  an  Strahl- 
born verbrochen  wurde  und  als  der  Mächtigere,  Her  m  a  n  n 
Wrangell  als  das  ausführende  Werkzeug,  zugleich  aber  auch 
als  der  minder  einflussreiche  Gesinnungsgenosse  seines  Herrn  zu 
bezeichnen.  Beide  sind  unbedenklich  der  sauberen  Gruppe  polonisirter 
livläudischer  Renegaten  zuzuzählen. 

Ueber  Schenking  besitzen  wir,  wenn  auch  in  schwer  zugäng- 
.  liehen  Quellen,  ausreichende  Personalien.    David  Hilchen  hat  ihm 
in  gebundener  und  ungebundener  Rede  verschiedene  Nachrufe  ge- 


1  Runge.  Die  Rev.  Rathaiini«',  S.  133,  134.  Tn  der  Schreibweise  dü 
Namens  folge  ich  Bunge  ;  in  den  Urkunden,  die  uns  vorliegen,  wird  der  Name 
ohne  h  geschrieben, 


Polnisch«  Wirtliscliaft  in  Livland. 


673 


widmet'  und  ein  Revalenser  Matthias  Saccus  ihn  in  schwungvollen 
lateinischen  Hexametern  gefeiert1.  Georg  Schenking,  ein  Bruder 
des  bekannten,  oder  besser:  berüchtigten  Bischofs  von  Wenden  Otto 
Scheuking  gehörte  einer  livländischen  Adelsfamilie  (Hilchen  sagt 
*nobilissimis  parentibus*)  an  und  ist  1560  in  Livland  (wo?)  geboren. 
Früh  der  Erziehung  eines  polnischen  Magnaten  übergeben,  begab 
er  sich  nach  dessen  Tode  an  den  Hof  holsteinischer  Grossen.  Als 
unter  Stephau  Bathory  der  polnisch-russische  Krieg  ausbrach,  trat 
er  als  20jähriger  Jüngling  unter  Fahrensbach  in  polnische  Dienste. 
Nach  beendigtem  Kriege  folgte  er  einer  Empfehlung  an  den  Hof 
des  Markgrafen  Georg  Friedrich  von  Brandenburg.  Von  da  liefen 
ihn  die  polnischen  Thronstreitigkeiten  nach  Polen,  wo  er  für  Sigis- 
mund Partei  ergriff.  Die  Ehe  mit  Felicia  Zamoisky,  einer  Anver- 
wandten des  Grosskanzlers  gleichen  Namens,  verhalf  ihm  zu  dem 
hohen  und  verantwortlichen  Posten  eines  Oekonomus  des  dorpater 
Stifts  und  polnischen  Statthalters  daselbst.  Später  wurde  er 
Castellan  des  wendenschen  Kreises,  bis  der  Krieg  wider  Karl 
von  Sodermanland  ihn  wieder  unter  die  Fahnen  rief.  Sehr  ver- 
mögend, rüstete  er  auf  eigene  Kosten  Reiterei  und  Fussvolk  aus» 
und  zog  mit  ihnen  ins  Feld.  Der  ungünstige  Ausgang  des  Krieges 
war  für  ihn  besonders  verhängnisvoll ;  er  wurde  in  Dorpat  gefangen 
und  trotz  angebotenen,  aber  nicht  entgegengenommenen  hohen 
Lösegeldes  nach  Schweden  in  harte  Gefangenschaft  gebracht,  welcher 
er  sich  nach  vierjähriger  Dauer  durch  die  Flucht  entzog.  Krank 
und  gebrochen  siedelte  er  nach  Thom  und  Krakau  über,  wo  er 
1605,  also  in  seinem  45.  Jahre  starb.  Er  liegt  in  Thorn  begrabeu. 
Aus  einer  auf  seine  Begräbnisstätte  bezüglichen  Bemerkung  Hilchens 


'  David  Hilchen  :   F.picedion  memoriac  et  honori  Magn.  Gen.  D.  Georgii 
Schenking,  Zamoscii  a.  D.MDCVI.  nebst  Fpitgmbion  und  Inner iptio  ecxilli  (Knien 
scher  Druck;  der  Kigaschcn  Stadt biblothek  gehörig). 

1  Matthias  Saccus  (Hevalia  Lico)  .  .  Dn.  Georgii  Schenking  .  .  .  has  .  .  . 
lacrgmas  aspersi.  Thorunii  Horum*.  Saccus  scheint  iu  einem  Abhängigkeit«- 
Verhältnisse  zu  Schenking  gestanden,  mit  ihm  ins  polnische  Lager  übergegangen 
und  dadurch  seine  Rückkehr  nach  dem  schwedisch  gewordenen  Livland  unmöglich 
gemacht  zu  haben.  Dafür  sprechen  die  Schlusszeilen  seines  Poems:  Ntt  mihi 
jam  tun  Mors,  verum  mea  vita  soknda  est  Vita  proeul  patriae,  Patriae  turhatae 
ruinis,  Vita  fugae.»    (Der  Rigascheu  Stadtbibliothek  gehörig.) 

1  Hilchen.  Epicedion:  .  .  .  «.cum  ex  liepubl.  thesauro  tarn  subito  non 
possent  in  milites  stipendia  obtineri,  multa  millia  florenornm  proprii  sui  peculii 
in  aliquot  militum  turmas  et  peditum  cohortes  esposuit.* 


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G74 


Polnische  Wirtschaft  in  Livland. 


ergiebt  sicli  —  was  sich  schon  ohne  sie  annehmen  Hess  —  dass 
er  zum  Katholicismus  übergetreten  ist'. 

Von  Hermann  Wrangell  wissen  wir  kaum  etwas  mehr,  als 
dass  auch  er  dem  livländischen  Adel  angehörte,  während  Schenkings 
dorpater  Regiments  ihm  iu  irgend  einer  untergeordneten  Stellung 
beigegeben  war  und  den  Rang  oder  Titel  eines  Rittmeisters  — 
die  polnischen  Gerichtsacten  nennen  ihn  in  ihrem  klassischeu  Latein 
c  Iiitlmagister  polonuvs*  —  führte.  Dass  er  es  verstanden  hat,  sich 
bei  den  polnischen  Machthabern  in  besondere  Gunst  zu  setzen,  geht 
schon  aus  dem  Umstände  hervor,  dass  er  einer  von  den  wenigen 
livländischen  Edelleuten  war,  welche  nach  Stephan  Bathorys  rück- 
sichtloser Reduction  der  ehemaligen  Stifts-  und  Ordensgüter  in 
ihrem  Besitze  restituirt  wurden». 

Jetzt  noch  ein  Wort  über  das  damalige  Dorpat  als  den  Ort, 
wo  sich  der  Gegenstand  des  Processes  abgespielt  hat.  Dorpat, 
das  ehemalige  Glied  der  Hansa  und  der  bedeutungsvolle  Knoten- 
und  Verbindungspunkt  auf  dem  Handelswege  zwischen  der  Ostsee 
und  Nowgorod,  war  zur  Zeit  Sigismunds  III.  im  Begriffe  sich  aus  dem 
Zustande  der  Verödung  und  des  Elends  emporzuarbeiten.  Dreissig 
Jahre  hatte  die  Stadt  unter  der  schweren  Hand  der  russischen  Er- 
oberer  darniedergelegen  ;  die  meisten  Deutschen  waren  iu  die  mosko- 
witische  Getaugenschaft  abgeführt.  Erst  unter  der  Herrschaft  Polens 
hörten  allmählich  die  tiefgehenden  Wirkungen  des  langjährigen 
Kriegszustandes  auf.  Seit  1583  hatte  Dorpat  wieder  eine  deutsche 
Stadtgemeinde  und  seit  1588  durch  zwei  Gnadeubriefe  Sigismunds 
eine  der  früheren  ähnliche  Verfassung.  Aber  gleichzeitig  fingen  auch 
die  durchGadebusch3uns  bekannten  Karthausenschen  Händel  zwischen 
Rath  und  Bürgerschaft  an.  Wurde  die  eben  sich  erholende  Stadt  da- 
durch noch  mehr  geschwächt,  als  sie  es  schon  war,  wo  sollte  sie  die 
Kraft  hernehmen,  um  mit  den  polnischen  Gewalthabern,  in  deren 
Händen  schliesslich  doch  das  Schicksal  der  wichtigsten  Angelegen- 
heiten lag,  fertig  zu  werden !  Daraus  erklärt  sich  auch  die  unsichere 
und  schwankende  Haltung,  welche,  wie  wir  sehen  werden,  der  sonst 
gut  livländische  dorpater  Rath  im  Strahlbornschen  Processe  zeigte. 

Doch  nun  zu  diesem  Processe  selbst  und  zwar  zunächst  zu 
den  ihn  veranlassenden  Begebenheiten. 

1  II ilchen.  ibid.:  Morti  ricinus  hoc  pctiit,  ut  in  civitate  Torunensi  corpus 
suum  humarelur  .  .  .  tum  quod  eandan,  quac  ibi  in  usu  est,  relig  i  o  n  c  m  coleret.» 
»  Xyeiistiidts  Chronik.    S.  81. 

■  UiuU'bnsoh.    LivliÜldiHchf  Jahrbücher.    "2.  Thl.  sj  50. 


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Polnische  Wirthschaft  in  Livland. 


075 


Im  Jahre  1594  waren  Bauern  des  polnischen  Domänengutes 
Antzen  (es  liegt  im  werroschen  Kreise)  als  Fuhrleute  mit  Flachs 
und  Hanf  aus  Dorpat  nach  Reval  gekommen.  Hier  erwies  sichs, 
dass  sie  sich  an  dem  ihnen  anvertrauten  Gute  vergriffen  hatten 
und  sie  wurden  dafür  zur  Verantwortung  und  Strafe  gezogen.  Der 
am  schwersten  Gravirte  unter  ihnen  hatte  es  verstanden,  sich  mit 
Hinterlassung  seines  Pferdes  dem  Arme  der  Gerechtigkeit  durch 
die  Flucht  zu  entziehen.  Sein  Pferd  wurde  öffentlich  verkauft  und 
der  Erwerber  desselben,  ein  revalscher  Bürger,  begab  sich  einige 
Zeit  darauf  nach  Dorpat.  Hier  fahndete  man  auf  ihn  und  nahm 
ihm  seine  beiden  Pferde,  darunter  auch  das  dem  autzenschen  Bauern 
gehörig  gewesene,  ab.  Der  Geschädigte  wandte  sich,  als  er  nach 
Reval  zurückkam,  mit  einer  Beschwerde  an  den  Rath,  der  seiner- 
seits Reclamationen  in  Dorpat  erhob.  Mehrfache  Schreiben  wurden 
deshalb  an  den  Oeconomus  gerichtet,  aber  so  erfolglos,  dass  sie 
nicht  einmal  einer  Antwort  gewürdigt  wurden. 

Nun  kam  Strahlborn  im  Januar  1595  auf  einer  Reise  nach 
Dorpat.  Er  war  schon  einige  Zeit  dort  gewesen,  als  er  seitens 
der  polnischen  Gewalthaber  Unbilden  der  schlimmsten  Art  erfahren 
musste.  Ueber  die  auf  sie  bezüglichen  Vorgänge  liegen  im  revaler 
Stadtarchiv  mehrere  Schriftstücke  vor.  Die  meisten  derselben 
stammen  von  Strahlborn  selbst  und  sind  Schreiben,  die  er  theils 
au  seinen  Bruder,  theils  an  seine  Freunde,  theils  endlich  an  den 
revaischen  Rath  und  die  schwedischen  Gesandten,  welche  sich  in 
Narva  der  Friedensverhandlungen  wegen  aufhielten,  gerichtet  hat. 
Um  des  lebhafteren  und  frischen  Eindrucks  des  Selbsterlebten 
willen  und  zur  Charakterisirung  dessen,  in  wie  weit  der  in-  seiner 
Ehre  Geschädigte  neben  seiner  Person  auch  die  Stadt  Reval  für 
verunglimpft  erachtete,  glaube  ich  einer  wörtlichen  Wiedergabe 
eines  dieser  Schreiben  und  zwar  des  an  die  schwedischen  Gesaudten 
in  Narva  nicht  entrathen  zu  können.  Es  ist  vom  14.  Februar  1595 
vom  Schlosse  Dorpat  datirt  und  lautet  mit  Hinweglassung  unwesent- 
licherer Theile,  wie  folgt : 

dch  kann  nicht  verhalten»  —schreibt  Strahlborn  cwes 
gestalt  ich  an  diesem  Orte  zu  Dörpte  mich  ungefähr  in  die  drei 
Wochen  meiner  Geschäfte  halber  aufgehalten  habe.  Und  hat  sichs, 
den  4.  d.  M.,  zugetragen,  dass  ganz  unvermuthlich  in  meine  Herberge 
zu  mir  gekommen  um  Zeigers  1  Hermann  Wrangell  und  des  Herrn 
Oeconomi  seiner  Diener  einer,  Liczinsky  genannt,  sammt  zweien 
anderen  ihrer  Diener  und  in  ihren  Händen  haben  sie  eiu  jeglicher 


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076 


Polnische  Wirthschaft  in  Livland. 


einen  Zolkan«  und  ihre  Zabeln  auf  der  Seite  gegürtet,  ohn  allein 
Hermann  Wrangell,  der  hat  einen  Zolkan  in  der  Faust  gehabt. 
Als  hat  der  Hermann  Wrangell  angefangen,  dass  der  Hr.  Oekouomus 
ihn  an  mich  geschickt  und  anmelden  Hesse,  nachdem  ich  als  Gerichts- 
vogt  der  Stadt  Revell  verschienen  Winter  des  Hrn.  Oekonomi  seine 
Pauern  zu  Revell  hätte  am  Pranger  streichen,  denselben  auch 
Ohren,  Nasen  und  Mäuler  abschneiden  lassen,  ihnen  auch  ein  Pferd, 
welches  ein  Pauer  aus  Furcht  verlaufen,  mit  Unrechte  benommen 
und  verkauft.  Ich  sollte  aber  billig  betrachtet  haben,  dass  der 
Hr.  Oekouomus  alhier  vor  keinen  weissen  Stock  gesetzet,  sondern 
die  königl.  Pauren  wären  ihm  befohlen.  Dieselbigen  sollte  man 
alhier  angeklaget  haben.  Weil  sie  aber  so  übel  wider  Recht  und 
Billigkeiten  traitiret,  als  Hesse  der  Hr.  Oekouomus  mir  anzeigen, 
dass  ich  nicht  sollte  von  hinnen  ziehen,  ich  hätte  denn  hiervor 
Rede  und  Antwort  gestanden.  —  Auf  diese  des  Hrn.  Oeconomi 
angebrachte  Gewerbe  habe  ich  geantwortet,  dass  er  mir  eine  solche 
Gewalt,  die  keiner  Privatperson  zustände,  beimessen  thäte.  Der 
Hr.  Oekonomus  sollte  wohl  thun  und  die  Briefe  E.  E.  Rathes,  deren 
drei  zu  unterschiedlichen  Zeiten  an  ihn  gelanget;  durchlesen.  Da 
würde  er  finden,  dass  ich  da  wohl  Gerichtsvogt  gewesen  ;  doch 
hätte  ich  die  Diebe  nicht  aus  meiner  Gewalt,  sondern  aus  ein- 
helliger Ver willigung  und  Beschluss  E.  E.  Rathes  strafen  lassen. 
Denn  wir  hätten  eine  Stadt  von  Recht  und  theilten  dasselbe 
jeder  männiglichen  und  könnten  auch  unsere  Gerichte  Niemandes 
halben  fallen  lassen.  Begehrte  aber  der  Hr.  Oekonomus  mit  mir 
zu  reden,  so  könnte  ichs  für  meine  Person  wohl  dulden,  dass 
solches-  lieber  heute  als  morgen  geschehe.  Dass  aber  der  Hr. 
Oekonomus  also  verkleinert  und  einem  weissen  Stocke  verglicheu, 
solches  geschehe  von  uns  nicht  und  sollte  uns  auch  Gott  darfür 
behüten.  Worauf  der  Wrangell  mit  ganz  spöttischen  Worten  gegen 
mir  ausgefahren  und  gesagt :  Ihr  möget  wohl  ein  alter  Mann  sein ; 
dies  ist  aber  eine  ganz  kindische  und  dulle  Rede.  Darauf  ich 
geantwortet :  Mein  lieber  Wrangell,  zu  meinem  Alter  und  Ver- 
stände gebet  ihr  mir  nichts  und  könnet  mir  auch  nichts  nehmen. 
Weiter  ist  der  Wrangell  ausgefahren  und  gesaget :  Sieh,  welch 
ein  gottloser  Mensch  und  rechter  Narr  und  närrische  Rede.  Worzu 
ich  geantwortet,  dass  ich  mich  dieses  Schimpfs  zum  höchsten  bei 
meiner  Obrigkeit  und  K.  M.  beklagen  wollte.    Auf  dieses  hat  er 

•  Zolkan  ist,  wie  aus  anderen  Schriftstücken  hervorgeht,  ein  Streithauinier. 


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Polnische  Wirthschaft  in  Livland. 


H77 


ganz  unbesonnener  Weise  mit  ganz  schimpflichen  Worten  mich 
angefahren  und  gesaget:  Du  Schinder,  du  Hudler,  du  loser  Kerl, 
und  alsobald  mit  dem  Zolkan  mich  gewaltsamer  Weise  in  meiner 
Herberge  überfallen,  auf  mich  eingeschlagen  und  mich  recht  vor 
das  Herz  getroffen,  also  dass  ich  beinahe  beduseld  wurde,  und 
wenn  Gott  der  Allmächtige  nicht  sonderlichen  die  Spitze  oder 
Schärfe  des  Zolkan«  gewendet,  so  hätte  es  mir  mein  Leben  ge- 
kostet, welches  ihm  leichtiglich  zu  thun  gewesen,  weil  ich  kein 
Messer,  viel  weniger  einige  Wehr  und  Waffen  in  der  Faust  oder 
bei  mir  gehabt.  —  Dem  Wrangeil  ist  dieses  aber  noch  nicht 
genugsam  gewesen,  dass  er  mich  in  meiner  Herbergen  mit  Schmähen, 
Schelten  und  ehrrührigen  Worten  überfallen  und  Gewalt  geübt, 
sondern  hat  überdies  seinen  Muthwillen  und  geübte  Gewalt  zu  be- 
schönigen und  zu  beschmücken  gesucht,  indem  er  dem  Hrn.  Üekonomus 
gesagt,  als  sollte  ich  ihn  geschmäht  und  an  seinem  guten  Namen 
angegriffen  haben.  Wodurch  der  Hr.  Oekonomus  in  solchem  Iver 
entzündet  worden,  dass  er  meine  Herberge  mit  20  oder  mehr 
Heiducken«  besetzt  und  denselbigen  befohlen  hat,  mich  gefänglich 
zum  Schlosse  zu  geleiten,  was  auch  zum  Spectakel  aller  geschehen 
wäre,  wenn  nicht  der  Bürgermeister  Elias  Mengershausen  solches 
durch  vielfältiges  Bitten  und  unter  dem  Bedinge  abgewandt  hätte, 
dass  ich  angeloben  müssen,  ohn  allen  Verzug  mich  zu  Schlosse 
einzustellen.  Wie  ich  nun  Zeigers  drei  zu  Schlosse  kommen,  da 
hat  man  mich  vorgestellet  und  mich  durch  parteiische  Leute,  so 
dem  Hrn.  Oekonomus  mit  Diensten  verhaftet  sind,  verhöret  und  hat 
der  Hr.  Potstarost  Antonius  Gersteuzweig  angefangen  und  gesagt, 
als  sollte  ich  schier  dem  Hrn.  Oekonomus  an  seinen  Ehren  und  gutem 
Namen  angegriffen  haben.  Haben  aber  nichts  erwiesen  und  sollen 
es  auch  nimmermehr  erweisen.  —  H.  Wrangell  und  des  Herrn 
Diener  Leczynsky,  seine  Kläger  und  Gezeugen,  bringen  ein,  als 
sollte  ich  gesagt  haben :  Mich  wundert,  dass  H.  Wrangell  sich  in 
solchem  leichtfertigen  Handel  gebrauchen  lässt.  Item  :  ich  wollte 
stärker  kommen,  als  der  Hr.  Oekonomus,  welches  mir  nie  in  den 
Sinn  gekommen,  viel  weniger,  dass  ich  es  geredet,  derowegen  ich 
auch  keinen  Widerruf  zu  thun,  wie  sie  es  begehren,  schuldig  bin. 
In  Verhörung  der  Sachen  hat  der  Wrangell  mich  abermals  für 
den  ganzen  ürabstande  gröblich  und  höchlich  injuriirt  und  geschmäht, 
als:  du  Hudler.  du  loser  Kerl,  du  Stückbnbe;  man  sollte  dich 


'  Heiducken  heisseu  anderswo  auch  die  Stadtsoldaten. 


678 


Polnische  Wirthsehaft  in  Livland. 


dahin  bringen,  da  die  Pauren  hingebracht  gewesen.  Ingleichen 
hat  sich  H.  Wrangeil  auch  desselbigen  Mal  vor  Jedermänniglichen 
auf  dem  Schlosse  seines  adeligen  Standes  gebrüstet  und  die  Schwedi- 
schen vom  Adel  verachtet  mit  diesen  Worten:  Du  magst  es  frei 
wissen,  dass  ich  besser  sei  wie  ein  schwedischer  Edelmann.  Worzu 
ich  geantwortet,  er  sollte  doch  nach  Revell  kommen  und  ihnen 
solches  sagen,  man  würde  ihm  dort  die  Antwort  nicht  schuldig 
bleiben.  Und  ist  der  Wrangeil  abermal  mit  Dreuen,  Schlagen  uud 
Ueberfall  wider  mich  ausgefahren,  welches  ihm  als  Kläger  nicht 
gebürete.  —  Nachdem  man  so  mit  mir  procediret,  hat  man  die 
Passion  gehabt,  mich  zu  Schlosse  in  Bestrickung  zu  nehmen  wider 
alles  Recht  und  alle  Billigkeit.  Zwar  habe  ich  mich  erboten,  Hand- 
Streckung  zu  thun,  Bürgen  zu  stellen  und  eine  namhafte  Geldstrafe 
auf  mich  zu  nehmen,  wofern  ich  weichhaftig  werden  sollte.  Alles 
das  hat  aber  nichts  helfen  mögen.  Nur  wenn  ich  alles,  was  mir 
widerfahren,  vor  Gleichspiel  hätte  aufheben  und  gut  sein  lassen 
wollen,  hätte  ich  wol  der  Bestrickung  entledigt  werden  können ; 
was  zu  thun  mir  aber  nun  und  nimmermehr  beifallen  konnte.» 
Auf  diese  Erzählung  des  von  ihm  Erlebten  lässt  Strahlborn  sein 
dringendes  Anliegen  folgen,  es  möchten  die  Gesandten,  nicht  etwa 
nur  seinet-  und  seines  guten  Namens  wegen,  sondern  vor  allem 
auch  um  des  Amtes  und  um  der  Stadt  Reval  willen,  die  in  seiner 
Person  so  schwer  beleidigt  worden,  Schritte  dafür  thun,  dass  ihm 
Genugtuung  widerfahre  und  dass  er  zunächst  auf  freien  Fuss 
gestellt  werde. 

Die  verschiedenen  Schreiben,  welche  Strahlborn  aus  seinem 
Gefängnisse  nach  Reval  und  Narva  richtete,  verfehlen  ihrer  nächstr 
liegenden  Wirkung  nicht.  War  es  doch  geradezu  ein  Attentat  mit 
politischem  und  nationalem  Hintergründe,  das  in  brutalster  Weise 
von  einem  Manne  in  so  hoher  Stellung,  wie  sie  ein  Statthalter 
einnahm,  gegen  den  Vertreter  der  Justizhoheit  einer  benachbarten 
und  seit  undenklicher  Zeit  befreundeten  Stadt  begangen  wurde,  ein 
Attentat,  das  an  sich  schon  sich  wie  eine  beissende  Ironie  auf  die 
von  König  Johann  erwünschte  Personalunion  ausnimmt. 

Schon  am  11.  Februar  erlasseu  die  Gesandten  ein  Schreiben 
nach  Dorpat,  das  trotz  aller  höflichen  Formen  und  Redewendungen 
eine  recht  deutliche  Sprache  führt.  «Es  wundert  uns  nicht  wenig» 
—  schreiben  sie  an  Schenking  —  «wie  man  sich  unterstehen  durfte, 
einen  der  königl.  Majestät  zu  Schweden  und  Polen,  unseres  aller- 
gnädigsten  Herrn,  Unterthaneu  dergestalt  zu  verletzen,  sintemal 


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Polnische  Wirthschaft  in  Livland.  679 

euch  bewusst,  dass  Gott  Lob  beide  Reiche,  Schweden  und  Polen, 
unter  einem  Könige  und  in  sonderlicher  Freundschaft  und  gutem 
nachbarlichen  Vertrauen  sind.  Damit  aber  gedachter  Strahlborn 
von  der  hohen  Obrigkeit  gebührlichen  Schutz  und  hülfliche  Hand- 
reichung empfinden  möge,  so  haben  wir  Sr.  königl.  Maj.  getreuen 
Diener  und  Secretarium,  den  ehrenfesten  Ambrosium  Palmbaum  mit 
Vollmacht  hindannen  abgefertigt  und  ihm  den  Befehl  gegeben,  mit 
euch  deshalben  zu  reden  und  sich  des  bestrickten  Strahlborns  Sache 
dermassen  anzunehmen,  dass  ihm  nicht  ferner  Gewalt  geschehe, 
sondern  er  der  Haft  auf  Bürgschaft  entledigt  und  länger  nicht 
aufgehalten  werde.  Was  aber  die  ihm  begegnete  Gewalt  betrifft, 
können  wir  nicht  unterlassen,  höchstgedachter  königl.  Maj.  diese 
Dinge  unterthäuigst  zu  erkennen  zu  geben  und  I.  M.  zu  ersuchen, 
hierzu  unparteiische  Richter  zu  ernennen,  welche  die  Sache  ver- 
hören und  der  Billigkeit  nach  entscheiden.  Solches  geschieht  billig 
zur  Beförderung  der  Jtisticien,  zweifeln  auch  nicht,  ihr  werdet  in 
diesem  alle  Gebühr  erzeigen.  > 

Trotz  dieser  nicht  miszuverstehenden  Androhung  einer  ganzen 
Versammlung  hochstehender  und  einflussreicher  Staatsmänner,  wie 
es  die  königlichen  Gesandten  zur  russischen  Friedensverhandlung 
waren,  beim  König  selbst  um  Aufhebung  der  Haft  und  Unter- 
suchung der  Sache  intercediren  zu  wollen,  machten  Schenkiug 
und  seine  Genossen  fürs  erste  noch  keine  Miene,  eine  Notiz  davon 
zu  nehmen.  Es  geschah  vielmehr  ihrerseits  alles  Mögliche,  um  die 
ins  Werk  gesetzte  Unbill  noch  zu  erhöhen.  Wir  ersehen  das  aus 
verschiedenen  schriftlichen  Kundgebungen,  namentlich  aus  einem 
Schreiben  des  Bürgermeisters  Mengershausen  vom  21.  März  an 
seinen  Schwager  in  Reval  und  einem  desgleichen  Strahlborns  an 
den  revaler  Rath  vom  20.  desselben  Monats. 

Mengershausen  theilt  seinem  Schwager  mit,  was  er  gethan 
habe,  um  die  Freilassung  Strahlborns  zu  erwirken.  Er  habe  sich 
zu  dem  Ende  an  Conrad  Taube  (wahrscheinlich  den  späteren  Ver- 
treter des  livländischen  Adels  auf  dem  wendenschen  Landtage),  der, 
wie  er  hinzufügt,  ein  grosser  und  vertrauter  Freund  Schenkings 
sei,  und  hätten  sich  beide  dann  gemeinsam  an  letzteren  mit  der 
Bitte  um  Strahlborns  Freilassung  gewandt.  Dieser  Schritt  sei 
jedoch  erfolglos  gewesen.  Darauf  hätten  sie  mit  Walther  Tiesen- 
hausen,  einer  gleichfalls  bei  Schenkiug  gut  angeschriebenen  Persön- 
lichkeit. Raths  gepflogen  und  seien  zu  dem  Resultate  gekommen, 
dass  nicht  nur  in  Sachen  der  Freilassung,  sondern  auch  des  ganzen 


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680  Poloische  Wirtschaft  in  Livlaiul. 

Prozesses  überhaupt  wenig  Gutes  zu  erwarten  sei,  weil  der  Gross- 
kanzler Zamoisky  auf  Seiten  des  Angeklagten  stehe  und  als  Haupt 
der  Kanzlei  den  Fortgang  des  Processen  in  seiner  Haud  habe. 
Besten  Falls  werde  dieser  wer  weiss  wie  lange  dauern  und  in 
jedem  Falle  sehr  kostspielig  sein.  Er,  Mengershausen,  könne  daher 
nur  rathen,  die  Sache  ungesäumt  an  die  höchste  Instanz,  d.  h.  an 
den  König  zu  bringen,  c  Wenn  I.  K.  M.»  —  fährt  der  Briefsteller 
in  theils  niederdeutscher  Mundart  fort  —  cdie  Sache  nicht  selvest 
an  sich  tehen  (ziehen)  würde,  wollte  Ick  lever  to  freden  rathen. 
Sollte  man  auch  den  kayserlichen  Gesandten»,  der  doch  wird  seinen 
Weg  hierher  nehmen,  wenn  et  nit  to  lange  wurde,  um  Bistand 
bitten.  Wennglik  Hr.  Joh.  Strahlborn  mit  Mandaten  oder  Citationen 
verfahren  wolde,  so  haben  doch  die  polnischen  Rechte  ihre  con- 
stitutioncs,  darauf  die  Edelleute  hoch  trotzen,  und  sonsten  ihre  excep- 
tioncs,  welche  dem  ehrlichen  Manne  grosse  Langweiligkeit  machen.» 

Strahlborns  Brief  an  den  revaler  Rath  vom  29.  März  hebt 
auch  mit  Klagen  über  die  Fortdauer  seiner  Haft  und  die  Erfolg- 
losigkeit der  bisher  gethanen  Schritte  an.  Wir  ersehen  aus  dem- 
selben, dass  die  Strenge  des  Verfahrens  inzwischen  noch  zuge- 
nommen hat.  «Man  hat»  —  schreibt  er  —  «in  vier  Wochen 
keinen  deutschen  Mann  zu  mir  gestattet  und  werde  so  gar  genau 
und  so  ganz  hart  bewachet,  als  wenn  ich  in  öffentlichem  Kriege 
gefangen  genommen  wäre  oder  einige  Uebelthat  verwirket  hätte. 
Auch  ist  in  dieser  Stadt  kein  einiger  Mensch,  der  sich  mit  einem 
Worte  darf  unterstehen,  dem  Herrn  etwas  zuwider  zu  reden.  Auch 
bin  ich  die  ganze  Zeit  meiner  Bestrickung  nicht  vor  dem  Herrn 
gewesen  oder  zu  Gehör  oder  Verantwortung  gestattet  worden  und 
will  glauben,  dass  sein  Lebelang  ein  solcher  Process  nicht  erhört 
worden  ist.  Ich  habe  viel  darum  gethan,  dass  ich  schriftlich 
möchte  bekommen  die  Ursach  dieser  Bestrickung;  ich  habe  aber 
diese  Stunde  es  nicht  bekommen.  Noch  viel  weniger  ist  in  dieser 
Stadt  irgend  ein  Mensch,  der  sich  unterstehen  wollte,  vor  raein 
Geld  und  billige  Bezahlung  mir  zu  dienen  in  dem,  dass  er  die 
Kundschaft  und  Gezeugnis  von  eleu  Leuten,  welche  bei  diesem 
Handel  gewesen,  gerichtlich  abfordere.  Meine  Briefe,  so  von 
Revell  kommen,  ingleichen  die  ich  von  mir  schreibe,  werden  mir 

1  Der  kaiserliche  Gesandte,  von  «lein  Mengershausen  spricht,  war  Ehreu 
t'ried  v.  Minkwitz,  der  im  Interesse  eine»  gemeinsamen  Vorgehens  gegen  die 
Türken  hei   den  Teutonischen  Friedensverhandlungen  Vergleichsvorschlage  zu 
machen  hatte,    (iadebusoh.  a.  a.  U.  Thl.  II,  S.  1  ">">. 


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Polnische  Wirtschaft  in  Livland. 


081 


genommen  und  gebrochen.  Wenn  man  mein  Essen  bringt  oder 
schickt,  das  wird  so  fleissig  besehen  und  behütet,  damit  ich  ja 
keine  Botschaft  oder  Antwort  schriftlich  erlangen  oder  eine  schicken 
möge1.  In  Summa:  man  handelt  also  mit  mir,  als  wenn  schier 
keine  Obrigkeit  da  wäre,  der  wir  unterworfen  sind,  welches  alles 
der  gerechte  und  getreue  Gott  nicht  wird  ungestraft  lassen,  wofern 
es  die  hohe  Obrigkeit  nicht  strafen  wird,  welches  ohne  Zweifel 
wohl  geschehen  wird,  wenu  es  der  Kön.  May.  wissend.» 

Der  Unterschlagung  der  an  Strahlborn  gerichteten  Briefe 
wird  es  wol  zuzuschreiben  gewesen  sein,  dass  Strahlborn  sich  im 
Eingange  darüber  beklagt,  er  erfahre  nichts  darüber,  was  man  in 
Reval  für  ihn  und  das  in  seiner  Person  so  schwer  geschädigte 
Ansehen  des  Raths  und  der  Stadt  gethan  habe.  Alles  der  Ein- 
sicht des  ersteren  anheimstellend,  vermag  er  doch  nicht  mit  einigen 
Vorschlägen  zurückzuhalten.  Vor  allen  Dingen  erscheine  es  ihm 
rathsam,  sich  an  den  Grosskanzler  zu  wenden  ;  denn  nicht  nur  sei 
er  der  höchste  Vertreter  der  Rechtspflege  im  dorpater  Stifte,  sondern 
auch  ein  so  hochgestellter  Staatsmann,  dass  er  sich  dem  nicht 
werde  verschliessen  können,  ein  wie  verderblicher  Zustand  in  die 
so  wichtigen  Handelsbeziehungen  zwischen  Reval  und  Dorpat  ein- 
reissen  müsse,  wenn  Sicherheit  von  Person  und  Eigenthum  derart 
gefährdet  würdeu,  wie  es  die  jüngsten  Erfahrungen  gezeigt.  Aber 
zugleich  —  und  das  ist  höchst  charakteristisch  —  hält  Strahlborn 
für  gerathen,  sich  an  die  schwedische  Nebenregierung,  d.  h.  an  den 
Herzog  Karl  von  Södermanland  zu  wenden:  «Ich  zweifle  auch 
nicht >  —  bemerkt  er  in  dieser  Beziehung  —  «E.  E.  W.  werden 
diesen  betrübten  Handel  an  Ihro  Fürstliche  Durchlauchtigkeit 
Herzogen  Carl  und  auch  an  die  Herren  Reichsräthe  wohl  haben 
unlängst  gelangen  lassen,  zu  dem  Ende,  obs  vielleicht  nicht  ge- 
lingen möchte,  dass  sie  hier  mit  meiner  Verhaftung  anlaufet!  thäten, 
wenn  mit  erster  Botschaft  sowol  Ihro  Fürstl.  Durchlaucht  als  die 
HH.  Reichsräthe  dem  Hrn.  Oekonomus  vorschrieben,  mich  freizulassen. 
Ingleichen  auch  möchten  E.  E.  W.  die  Vorsehung  thun,  dass  aus 
dem  Reiche  (d.  h.  Schweden)  Sr.  Kön.  May.  förderlichst  zu  wissen 

'  Aus  dem  später  zu  erwähnenden  Advocationsedicte  König  Sigismunds 
erhellt,  dun  das  Hnftlocal  Strahlborns  ein  schenssliches  Loch  gewesen  sein  muss. 
Denn  es  heisst  dort,  Strahlborn  und  der  revaler  Rath  hätten  sich  hei  ihm  dar- 
über beschwert,  Schenking  habe  ersteren  in  ein  (iefiingnis  geworfen  und  ihn 
auch  dort  so  lange  gehalten,  Iiis  er  zum  Tbeil  durch  Krankheit,  zum  Theil  «von 
wegen  des  ii  e  s  t  a  n  k    s  beinahe  erstickt  wäre». 


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082 


Polnische  Wirthscliaft  in  Livland. 


gethan  werde,  wie  man  allhier  mit  den  schwedischen  Unterthanen 
umspringt  und  Haus  halt.» 

Inzwischen  war  —  was  Strahlborn  offenbar  aus  den  ange- 
gebenen Gründen  nicht  bekannt  geworden  war  —  manches  ge- 
schehen, um  ihn  aus  seiner  schwierigen  Lage  zu  befreien.  Was 
der  von  den  narvaschen  Gesandten  abgeschickte  Secretarius  Palm- 
baum in  Dorpat  etwa  ausgerichtet,  ergiebt  sich  aus  den  Acten' 
nicht.  Der  revaler  Rath  schickte  sofort  den  Secretär  Caspar 
Dellingshausen  nach  Dorpat,  um  sich  über  den  Stand  der  Sache 
zu  informiren,  namentlich  aber  die  Befreiung  Strahlborns  zu  er- 
wirken In  Dorpat  selbst  fehlte  es  nicht  au  Kundgebungen  that- 
kräftigen  Interasses  für  Strahlborn.  Schon  Ende  Februar  hatten 
sich  mehrere  angesehene  Bürger  Dorpats  dazu  verstanden,  Bürgschaft 
für  ihn  zu  übernehmen.  Todt  oder  lebendig  —  so  verpflichten  sie 
sich  —  wollen  sie  Strahlborn  c  stracks  den  dritten  Tags  nach  Ihro 
Gnaden  Anforderung  vor  königl.  verordnete  Coramissionen,  auch 
in  diesem  königl.  Schlossgerichte  oder  sonsten  in  anderen  in  dieser 
Provinz  Liefland  der  Grone  Polen  unterworfenen  Schlossgerichten » 
stellen  und  widrigenfalls  sich  der  für  damalige  Zeiten  enormen 
Pön  von  10000  Thalern  unterwerfen.  Diese  Bürgschaftsurkunde 
ist  —  aus  mir  unbekannten  Gründen  —  entweder  gar  nicht  zur 
Perception  gekommen  oder  wirkungslos  geblieben,  da  eine  zweite 
vom  8.  März  vorliegt,  welche  bei  einer  Bürgschaftssumme  von 
5000  Thalern  sich  darauf  beruft,  es  sei  die  Freilassung  Strahlborns 
durch  ein  Schreiben  königl.  Commissare  an  Schenking  angeordnet 
worden.  Offenbar  ist  darunter  das  schon  erwähnte  Schreiben  der 
narvaschen  Gesandten  gemeint.  Auch  der  revaler  Rath  Hess  es 
nicht  an  schriftlichen  Intercessionen  fehlen.  Zunächst  erging  ein 
Schreiben  an  Schenking.  Die  Antwort  darauf  lautete  aber,  Strahl« 
born  habe  sich  so  ehrenrühriger  Worte  gegen  ihn  und  seine  Ab- 
gesandten schuldig  gemacht,  dass  er  ihn  deshalb  in  Haft  nehmen 
lassen  und  aus  ihr  nicht  früher  entlassen  könne,  als  bis  er  höheren 
Orts  dazu  autorisirt  sei. 

Ob  und  wann  die  von  Schenking  wahrheitswidriger  Weise 


1  Wenn  hier  und  später  von  «Acten»  die  Rede  ist,  so  sind  darunter  nicht 
solche  in  modernem  Sinne,  d.  h.  chronologisch  geordnete,  processnalisch  relevante 
Schriftstücke  «i  verstehen.    Das  mir  zw  Gebote  stehende  Material  besteht  viel 
mehr  ans  mehreren  Convolntcn  wirr  durch  einander  liegender  Papiere,  die  theils 
Concepte,  theils  Originale  sind,  manche  unter  ihnen  durch  Fiinlnis  und  Mause 
frass  deeimirt,  manche  sich  auf  den  Process  gar  nicht  beziehend. 


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Polnische  Wirtschaft  in  Livland. 


083 


erwartete  Äntorisation  eingetroffen  ist,  ergiebt  sich  aus  den  Acten 
nicht.  An  die  Stelle  einer  solchen  trat  wol  das-  böse  Gewissen 
und  die  Furcht  vor  dem  allgemeinen  Unwillen,  der  sich  selbst  in 
Dorpat  mehr  und  mehr  zu  zeigen  begann,  die  den  polnischen 
Gewalthaber  schliesslich  zur  Freilassung  nöth  igten.  Diese 
erfolgte  am  7.  April  —  also  fast  nach  neunwöchentlicher  Dauer 
der  Haft.  Uebrigens  ging  auch  das  nicht  so  einfach  und  glatt 
von  Statten.  Strahlborn  musste  sich  sofort  verpflichten,  zu  Jacobi 
wieder  in  Dorpat  vor  Gericht  zu  erscheinen  und  hinterdrein,  als 
dieser  Termin  verschoben  wurde,  Handstreckung  dafür  thun,  dass 
er  jeder  Citation,  wohin  es  auch  sei,  Folge  leisten  werde.  Ja,  dem 
revaler  Rathe  blieb  der  etwas  demüthigende  Schritt  nicht  erspart, 
noch  eine  Extracaution  von  5000  Thlr.  zu  stellen  und  dafür  von 
Schenking  die  heuchlerische  Versicherung  zu  erhalten,  uicht  die 
Iieibesschwachheit  Strahlborns  und  nicht  die  Pression,  die  man  auf 
ihn  auszuüben  versucht,  habe  Strahlborns  Freilassung  erwirkt, 
sondern  sein,  Schenkings,  Bestreben,  dem  Rathe  damit  seinen  «guten 
Willen  und  nachbarliche  Freundschaft»  an  den  Tag  zu  legen. 

Damit  war  denn  der  erste  Act  der  Gewaltthat  vorüber. 
Was  nun  folgte,  gehört  dem  Wirrsale  dessen  an,  was  man  polnisch- 
livländischen  Process  nennen  muss.  Auch  der  ist  ja,  wie  wir 
sehen  werden,  nicht  frei  von  der  Anwendung  nackter  Gewalt,  doch 
tritt  diese  weit  zurück  hinter  eine  Verdickung  von  Hinterlist  und 
offener  Verachtung  von  Gesetz  und  Ordnung  und  hinter  eine 
Nebelwand  von  Rechtsbestimmungen  und  Gewohnheiten,  die  der 
redlichsten  Bemühungen,  in  seinem  Verhalten  vor  Gericht  sichere 
Tritte  zu  thun,  schon  damals,  noch  mehr  aber  jetzt  des  Bestrebens 
spottet,  Licht  in  ein  Dunkel  zu  bringen,  welches  den  Namen 
poluisch-livländischer  Process  zu  führen  hat. 

W.  G  rei  ffen  nage  n. 


Taras  Grigorjewitsch  Schewtschenko. 

Biographisch  kritische  Skizze  eine«  klein  russischen  Diehterlehens. 


Die  Geschichte  der  russischen  Lite- 
ratur ist  ein  Verzeichnis  von  Märtyrern 
o<Ur  ein  Register  von  Sträflingen  * 

A  Herzen. 

I. 

eit  der  Herausgabe  der  <  Stimmen  der  Völker  in  Liedern  * 
von  Herder  1778  hat  in  Deutschland  der  Gedanke  einer 
Weltliteratur  immer  mehr  und  mehr  Boden  gewonnen.  Haupt- 
sächlich in  den  letzteu  Jahrzehnten  unseres  Jahrhunderts  hat  wol 
kein  anderes  Culturvolk  so  wie  die  Deutschen  seine  Mühe  und 
Zeit  dem  Studinm  fremder  Literaturen  gewidmet.  Die  Geistes- 
erzeugnisse fremder  Völker  sind  mit  genialem  Tacte  ins  Deutsche 
übertragen,  das  Leben  und  Wirken  ausländischer  Dichter  ist  bio- 
graphisch-kritisch bearbeitet  worden.  Auch  der  slavischen  Literatur 
wurde  in  dieser  Hinsicht  reichlich  Rechnung  getragen.  Die  Lite- 
ratur der  Grossrusseu,  Slovenen,  Serben,  Bulgaren,  Polen,  Tschechen 
und  Wenden  ist  mehr  oder  weniger  dem  gebildeten  Deutschen  be- 
kannt. Von  jener  Literatur  aber,  die  selbständig  zwischen  der 
grossrussischen  und  der  polnischen  dasteht,  von  der  kleinrussischen, 
melden  uns  die  Literaturgeschichten  so  gut  wie  gar  nichts.  — 
Wie?  Sollte  dieselbe  keiner  Beachtung  würdig  sein?  Nein,  sie 
hält  den  Vergleich  mit  der  Literatur  jedes  anderen  Slavenstammes 
nicht  nur  aus,  sondern  sie  übertrifft  die  meisten  derselben  an  Zart- 
gefühl, an  Tiefe  und  Reichthum  der  Empfindung.  Die  kleinrussische 
Literatur  athmet  inniges  Gottes  vertrauen,  tiefes  Verständnis  für 


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Taras  Grigorjewitsch  Schewtschenko. 


685 


das  Naturleben  ;  sie  basirt  auf  gesunder  Sinnlichkeit.  Tn  derselben 
stösst  man  auf  keinen  affectirten  Weltschmerz  ;  wenn  die  Dichter 
klagen,  so  geschieht  es  in  Veranlassung  wirklich  vorliegenden 
Leides,  in  Veranlassung  greifbarer  Schmerzen.  Persönlichkeiten 
wie  Panteleimon  Kulisch,  Gregor  Kwitka,  Iwan  Kotljarewski, 
Marko- Wowtschok  sind  durchaus  frische,  uroriginelle  Dichter ;  sie 
sind  durchweg  naiv,  sie  sind  durchaus  volksthümlich,  weil  sie  keine 
anderen  Vorbilder  hatten  als  die  tiefempfundenen  herrlichen  Lieder 
ihres  Volkes.  Und  erst  recht  der  grosse  Chorführer  der  Klein- 
russen Taras  Grigorjewitsch  Schewtschenko.  Dennoch  finde  ich 
z.  ß.  in  O.  v.  Leixners  »Geschichte  der  fremden  Litteraturen»  nicht 
einmal  seinen  Namen  verzeichnet.  Das  möchte  ich  ungerecht 
nennen,  eben  so  ungerecht  wie  das  ganze  historische  Schicksal  des 
Volkes,  dessen  Geistesrepräsentant  Schewtschenko  ist.  Ja,  noch 
mehr !  Meines  Wissens  existirt  selbst  in  russischer  Sprache  keine 
vollständige  zusammenhängende  Biographie  dieses  Dichters.  Und 
doch  ist  er  eiu  unsterblicher  Genius,  ein  Dichter  von  Gottes 
Gnaden,  in  welchem  die  Ukrainer  Volkspoesie  veredelt  und  vertieft 
ihren  Ausdruck  gefunden  hat. 

Iu  Veranlassung  dieser  Thatsachen  habe  ich  es  versucht,  aus 
dem  vorhandenen,  aber  sehr  zerstreuten  biographischen  Material 
ein  Bild  des  grossen  Ukrainedichters  Schewtschenko  zu  entwerfen, 
welches  ich  zum  Schlüsse  durch  eine  kurze  Kritik  seiner  vornehm- 
sten Werke  greller  zu  beleuchten  gedenke.  Da  mir  aber  erstens 
einiges  von  dem  hier  einschlagenden  Material  nicht  zu  Gebote 
stand,  da  zweitens  über  einige  Lebensperioden  dieses  Dichters  (z.  B. 
über  seine  zehnjährige  Verbannung)  hartnäckiges  Dunkel  lagert, 
so  musste  ich  auf  eine  erschöpfende  Darstellung  Verzicht  leisten. 

Die  Biographie  eines  so  bedeutenden  Mannes,  wie  Schew- 
tschenko, weckt  an  sich  unser  Interesse,  aber  noch  um  so  mehr, 
als  er  auch  rücksichtlicli  seines  Lebensschicksals  eine  typische 
Figur  ist.  Die  Erscheinung  Schewtschenkos  ist  keine  Zufälligkeit : 
mit  derselben  ist  das  Schicksal  ganzer  Millionen  aus  dem  Volke 
verbunden.  In  Schewtschenko  vereinigen  sich,  gleichwie  in  einem 
Brennpunkte,  die  Geisteskräfte  aller  Leibeigenen.  Er  ist  eine 
Pflanze,  die  heimatlicher  Erde  entsprossen  ist,  die  grossgenährt 
und  begossen  worden  mit  dem  Schweisse  und  mit  dem  Blute  des 
leibeigenen  Arbeiters. 

n:ilti*rl.P  Mon»t«chrifl.  I!.tn.l  XXXIV.  llofl  H.  4»; 


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♦J86 


Taras  Grigorje  witsch  Scliewtschenko. 


1.  Die  Kindheit  Schewtschenkos  (1  8  1  4  -  1  828). 

Taras  Grigorjewitsch  Scliewtschenko  erblickte  am  25.  Februar 
1814  im  Kirchdorfe  Morinzy«  im  Sswenigorodschen  Kreise  des  kiew- 
schen  Gouvernements  das  Licht  der  Welt.  Seine  Eltern  waren 
leibeigene  Bauern  der  russischen  Grundbesitzerfamilie  von  Engel- 
hardt. Die  ersten  Kinderjahre  des  Dichters  schwanden  ruhig  und 
friedvoll  dahin,  geschützt  vom  treuen  Fittig  seiner  ihn  zärtlich 
liebenden  Mutter.  Doch  mit  dem  Tode  derselben  im  Jahre  1822 
beginnt  für  ihn  jene  lange  Kette  von  Schicksalsschlägen,  die  erst 
mit  seinem  Ende  ihren  Abschluss  findet.  Denn  bald  nach  dem 
Hinscheiden  seiner  Frau  führte  der  Vater,  da  er  ausser  Taras 
noch  vier  Kinder  hatte  (Nikita,  Katharina,  Jarina  und  Ossip  — 
Taras  war  das  drittjüngste  Kind  — ),  die  Stiefmutter  ins  Haus ; 
das  Unglück  wurde  dadurch  noch  grösser,  dass  diese  auch  Kinder 
aus  erster  Ehe  mitbrachte.  Hauptsächlich  warf  die  Stiefmutter 
ihren  Hass  auf  Taras,  da  er  nicht  nachgiebiger  .Natur,  ja,  wenn 
er  sich  im  Recht  fühlte,  sogar  halsstarrig  war.  Iu  der  Umgegend 
der  benachbarten  Dörfer  Kirilowka  und  Tarasowka  musste  der 
Kleine  auf  ihre  Veranlassung  die  Kälber  und  Schweine  hüten,  für 
mehrere  Tage  nur  mit  trockenem  Brode  versehen.  Aber  die 
majestätische  Steppe  mit  ihreu  hohen  Grabhügeln  (Kurgane,),  mit 
ihrer  üppig  saftigen  Vegetation  verfehlte  nicht  ihres  gewaltigen 
Eindrucks  auf  das  empfängliche  Gemüth  des  Knaben.  Die  Steppe, 
die  unabsehbar  wie  das  Meer  dem  Auge  keine  Schranken  zieht, 
weckte  in  dem  phantasiereichen  Kinde  eine  unaussprechliche  Sehn- 
sucht, dahin  zu  wandern,  wo  nach  seiner  Vorstellung  sich  Himmel 
und  Erde  berührten.  Eines  Tages  beschloss  er  sein  Ziel  zu  er- 
reichen. Er  wanderte  mit  seinen  kleinen  Kinderfüssen  zwei  ganze 
Tage  lang,  bis  er  ermattet  und  enttäuscht  zu  Boden  sank :  der 
Himmel  blieb  immer  gleich  weit  von  der  Erde  entfernt.  Mild- 
herzige Leute  brachten  das  erschöpfte  Kind  nach  Hause.  —  Aber 
noch  etwas  Anderes  beschäftigte  die  Phautasie  des  kleinen  Taras 
in  der  Steppe,  wenn  er  einsam  und  verlassen  seinen  Träumereien 
nachhing,  nämlich  —  die  glorreiche  Vergangenheit  seiner  Heimat. 
Hatte  er  schon  zu  Hause  aus  den  Liedern  und  den  Erzählungen 
seines  Gross vaters  vieles  über  die  Heldenthaten  seiner  Vorfahren 


1  Schewtsehenko  Kt  lbst  Riebt  irrthüinlieherweise  das  nebenan  liegende  Dorf 
Kirilowka  als  seinen  Geburtsort  an,  wohin  seine  Eltern  allerdings  einige  Monate 
nach  seiner  (uburt  übersiedelten. 


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Taras  Grigorjewitsch  Schewtschenko. 


687 


vernommen,  so  erhielt  seine  Einbildungskraft  erst  recht  Nahrung 
in  Folge  einer  Wallfahrt,  die  er  um  diese  Zeit  mit  seiner  Schwester 
Jarina  nach  dem  Lebedynschen  Kloster  unternahm,  welches  im 
letzten  blutigen  Kosakenaufstande  1769  eine  hervorragende  Rolle 
gespielt.  Durch  die  Erzählungen  der  alten  Mönche  erhielt  er  — 
wie  er  selbst  erzählt  —  die  erste  Anregung  zu  seinem  berühmten 
Epos  cDie  Hajdamaken».  Seinem  damaligen  Aufenthalte  in  der 
malerischen,  wasserreichen  Umgebung  Tarasowkas,  seinem  Leben 
in  der  einförmigen  und  dabei  doch  grossartigen  Steppe  verdankt 
der  Dichter  jene  tiefpoetischen  plastischen  Naturschilderungen,  mit 
denen  er  später  so  erfolgreich  seine  Dichtungen  zu  schmücken 
verstand. 

Allein  die  Lage  des  armen  Knaben  daheim  wurde  immer  un- 
erträglicher, so  dass  sein  Vater  sich  gezwungen  sah,  ihn  aus  dem 
Hause  zu  geben,  um  wenigstens  diesen  seinen  Liebling  vor  den 
Mishandlungen  der  Stiefmutter  zu  schützen.  Doch  dem  armen  Taras 
erging  es  nur  noch  schlimmer.  Er  wurde  1824  dem  Bürger  Gubski 
zur  Ausbildung  übergeben.  Von  zarter  Jugend  auf  äusserte  sich 
bei  Taras  ein  ungewöhnlich  reges  Geistesleben.  Das  Lesen  und 
Schreiben  erlernte  er  spielend,  seine  Fortschritte  waren  geradezu 
überraschend,  im  übrigen  konnte  aber  Gubski  mit  dem  muth willigen 
Knaben  nicht  auskommen.  Wer  weiss,  ob  dieser  Dorfpädagog  es 
auch  verstanden  hat,  das  intelligente  Kind  richtig  anzufassen! 
Kurz,  Klage  auf  Klage  lief  beim  Vater  über  den  Taras  ein,  und 
dies  mag  wol  den  Vater  zur  Aeusserung  veranlasst  haben:  «Mein 
Sohn  Taras  braucht  nichts  aus  meinem  Nachlasse  zu  erhalten  ;  er 
wird  kein  gewöhnlicher  Mensch  werden  :  aus  ihm  wird  entweder 
etwas  sehr  Gutes  oder  etwas  äusserst  Schlechtes ;  mein  Erbe  wird 
für  ihn  entweder  nichts  bedeuten,  oder  es  wird  ihm  zu  nichts 
helfen.»  — 

Noch  in  demselben  Jahre  (1825)  starb  der  Vater,  und  der 
arme  Taras  verlor  somit  seine  letzte  Stütze,  er  stand  nun  allein, 
eine  Waise,  ohne  Obdach  in  der  Welt  da,  denn  die  Stiefmutter 
wollte  von  ihm  nichts  wissen.  Da  nahm  er  seine  Zuflucht  zum 
Kirchensänger  des  Sprengeis  ßugorski  und  erlernte  bei  diesem  im 
Verlaufe  zweier  Jahre  die  Gottesdienstordnung,  das  Ceremonial 
und  den  Psalter.  Bugorski  war  ein  grober,  tyrannischer  Mensch, 
ausserdem  dem  Trünke  ergeben.  Seine  Schüler  benutzte  er  zu  den 
erniedrigendsteu  Verrichtungen ;  widersetzten  sich  dieselben  ,  so 
Hess  er  die  unbarmherzigste  Strenge  und  Roheit  walten.  Häutig 


688 


Taras  Grigorjewitsch  Schewtschenko. 


entfloh  der  gemarterte  Knabe  und  wurde  sodann  von  seinen 
Schwestern  Katharina  und  Jariua  heimlich  —  aus  Furcht  vor  der 
Stiefmutter  —  mit  Nahrung  versorgt.  Wie  tief  Taras  diese 
schwesterlichen  Wohlthaten  empfunden  und  wie  er  dieselben  im 
späteren  Leben  vergolten  hat,  werden  wir  weiter  erfahren.  Allein 
der  Knabe  kehrte  immer  wieder  zu  seinem  Peiniger  zurück,  denn 
nur  da  hatte  er  Gelegenheit,  seine  Leidenschaft  zum  Zeichnen  zu 
befriedigen,  da  er  in  der  Schule  Papier  und  Bleifeder  zu  erhalten 
vermochte.  Dadurch  erhielt  diese  Neigung  neue  Nahrung.  Zum 
Schlüsse  des  zweiten  Lehrjahres  schickte  Bugorski  seiuen  Schüler 
Taras  an  seiner  Statt  Messen  für  das  Seelenheil  verstorbener  Leib- 
eigener zu  lesen,  um  desto  ungestörter  seinem  Laster  nachzugehen. 
Der  rohe  Säufer  mishandelte  den  Knaben  um  so  schlimmer,  je 
grössere  Fortschritte  dieser  machte,  weil  der  Unmensch  fürchtete, 
der  begabte,  strebsame  Schüler  könne  ihn  frühzeitig  um  sein  Brod 
bringen.  Taras  verachtete  und  hasste  seinen  barbarischen  Lehrer; 
ihm  gegenüber  ward  er  listig,  ja  rachsüchtig.  Schewtschenko  selbst 
äussert  sich 1  über  diesen  Bugorski :  « Dieser  erste  Despot,  dem  ich 
in  meinem  Leben  begeguete,  hat  mir  für  mein  ganzes  Leben  eine 
tiefe  Verachtung  und  einen  tiefen  Widerwillen  gegen  jede  Gewalt- 
tätigkeit des  Menschen  seinem  Mitmenschen  gegenüber  eingeimpft. 
Mein  Kinderherz  war  millionenmal  gekränkt  worden  von  diesem 
Jünger  despotischer  Seminaristenzucht,  und  ich  rechnete  mit  ihm 
so  ab,  wie  es  gewöhnlich  schutzlose,  aus  der  Fassung  gebrachte 
Leute  zu  thun  pflegen  —  ich  nahm  Rache  und  floh.  Als  ich  ihn 
einst  sinnlos  betrunken  vorfand,  gebrauchte  ich  seine  eigene  Waffe, 
die  Ruthe,  gegen  ihn  und  zahlte  ihm,  so  weit  es  meine  Kinder- 
kräfte gestatteten,  alle  Mishandlungen  heim.  Von  allen  seinen 
Habseligkeiten  schien  mir  ein  Büchlein  mit  gravirten  Bildern  — 
wahrscheinlich  wol  sehr  schlechter  Arbeit  —  das  Werthvollste  zu 
sein.  Sei  es  nun,  dass  ich  es  nicht  für  ein  Unrecht  hielt,  sei  es,  dass 
ich  der  Versuchung  nicht  widerstehen  konnte,  ich  raubte  diesen 
Schatz  und  entfloh  in  dunkler  Nacht  nach  dem  benachbarten  Orte 
Lisjanka.  Bald  jedoch  erkannte  ich,  dass  mein  neuer  Lehrer  in 
Lisjanka  seinen  Principien  und  Gewohnheiten  nach  ein  zweiter 
Bugorski  war;  ich  entfloh  deshalb  schon  am  vierten  Tage  nach 
Tarasowka,  auch  zu  einem  Kirchensänger,  dessen  Specialität  das 

'  Tu  seiner  nur  einige  Seiten  langen  Autobiographie,  die  er  ein  Jahr  vor 
»einem  Tode  in  Form  eines  Brieten  an  einen  der  Uedaotenre  der  Zeitschrift 
*Hap<ui!oe  'Heine  «naamlte. 


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Taras  Grigorjewitsch  Schewtschenko. 


f>8<> 


Malen  von  Heiligenbildern  war.  An  diesen  wandte  ich  mich,  fest 
entschlossen,  alles,  was  kommen  möge,  zu  ertragen,  um  nur  die 
Malerei  einigermassen  zu  erlernen.  Doch,  o  weh  !  Der  Dorf-Apelles 
betrachtete  meine  linke  Hand  und  schlug  mir  meine  Bitte  rund  ab. 
Er  theilte  mir  zu  meinem  grössten  Aerger  mit,  dass  ich  überhaupt 
zu  nichts,  nicht  einmal  zum  Schuster  oder  Böttcher  tauge.» 

Enttäuscht  in  seinen  Plänen,  verkaunt  von  aller  Welt,  zog 
der  vierzehnjährige  Knabe  bekümmerten  Herzens  in  seine  Heimat, 
nach  Kirilowka  zurück.  Er  hatte  sich  ein  bescheidenes  Loos  er- 
wählt :  Lämmerhirt  wollte  er  werden,  um  in  der  Stille  der  Steppe, 
fern  von  allen  Menschen,  das  geraubte  Buch  lesen  und  die  Bilder 
desselbeu  abzeichnen  zu  können.  Dies  hatte  er  sich  in  seiner  Ein- 
falt uud  Naivetät  so  zurecht  gelegt. 


2.   Die  Entwickelungs periode  Schewtsclien  kos 

(1  8  2  8—  1  83  8). 

Der  idyllische  Traum  des  Knaben  fiel  ins  Wasser,  denn 
gleich  bei  seiner  Ankunft  in  Tarasowka  wurde  er  vom  Verwalter 
der  Engelhardtschen  Güter  als  Leibeigener  in  dessen  Bedientenzahl 
aufgenommen.  Als  im  Jahre  1829  der  junge  Engelhardt  sein 
väterliches  Erbe  antrat,  hielt  er  es  für  augemessen,  seinen  Haus- 
stand zu  vergrössern  ;  in  Folge  dessen  wurde  auch  Taras  ins 
Dienstpersonal  seines  Grundherrn  übergeführt  uud  zwar  in  der 
Eigenschaft  der  sogenannten  Zimmerkosaken,  da  er  gewandt  uud 
bellend  war. 

cZwei  Verpflichtungen,»  schreibt  Schewtschenko  in  der  er- 
wähnten Autobiographie,  <  waren  mir  auferlegt  worden  :  schweigend 
und  unbeweglich  in  einer  Ecke  des  Vorzimmers  zu  sitzen  und  auf 
Befehl  meinem  Herrn  die  Pfeife  oder  ein  Glas  Wasser  zu  reichen. 
Bei  meiner  angeborenen  Frechheit  verletzte  ich  aber  häufig  diese  Vor- 
schriften, indem  ich  mit  leiser  Stimme  melancholische  Hajdamaken- 
lieder  sang,  indem  ich  heimlich  die  Bilder,  die  die  herrschaftlichen 
Gemächer  schmückten,  abzeichnete.  Ich  zeichnete  mit  einem  Blei- 
stifte, welchen  ich  —  ich  gestehe  es  ohne  Gewissensbisse  —  beim 
Gomptoirdiener  gestohlen  hatte.» 

Engelhardt  war  ein  thätiger  Mauu  ;  er  reiste  beständig  um- 
her, bald  nach  Kiew,  bald  nach  Wilua,  bald  nach  Petersburg. 
Mit  seinem  Gutsherrn  von  einem  Gasthof  zum  anderen  ziehend, 
benutzte  Schewtschenko  jede  Gelegenheit,  sei  es  im  Gasthofe  oder 


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Taras  Grigorjewitsch  Schewtschenko. 


im  Wirthshause,  irgend  ein  Bild  von  der  Wand  an  sieb  zu  bringen. 
Eine  unüberwindliche  Sehnsucht,  diese  Bilder  so  getreu  als  möglich 
abzuzeichnen,  nicht  etwa  der  Trieb  zum  Stehlen,  veranlasste  ihu 
dazu.  Auf  diese  Weise  kam  er  in  den  Besitz  einer  kleinen  Bilder- 
sammlung. *In  Wilna  wurde  ich  am  6.  December  1829,»  erzählt 
der  Dichter,  «von  meinem  Gutsherrn,  der  mit  seiner  Gnädigen  vom 
Balle  der  Adelsversammlung  früher,  als  ich  erwartete,  heimkehrte, 
beim  Zeichnen  in  der  Nacht  überrascht.  Voll  Erbitterung  ohr- 
feigte er  mich  und  riss  mich  an  den  Ohren,  nicht  für  meine  Kunst 
nein!  die  beachtete  er  gar  nicht,  aber  dafür,  dass  ich  ein  Licht 
angezündet  hatte  und  somit  nicht  nur  das  Haus,  sondern  auch  die 
Stadt  in  Brand  hätte  stecken  können.  Am  folgenden  Tage  befahl 
er  noch  seinem  Kutscher,  mich  ordentlich  zu  züchtigen,  was  letzterer 
auch  mit  gebührender  Ausdauer  vollzogt 

Da  der  Zimmerkosak  Taras  in  Bezug  auf  Gewandtheit  und 
Fertigkeit  den  Hoffnungen  seines  Gutsherrn  nicht  entsprach,  und 
weil  letzterer  von  einem  Leibeigenen,  der  Maler  sei,  in  Zukunft 
grösseren  Vortheil  zu  erzielen  hoffte,  wurde  Schewtschenko  im 
Jahre  1830  dem  bekannten  Portraitmaler  Lampi  in  Warschan  zur 
Ausbildung  übergeben.  Dieser  jedoch  nahm  ihn  nicht  als  Pensionär, 
sondern  nur  als  Tagschüler  an.  Taras  wurde  zum  ersten  Male 
anständig  gekleidet  und  widmete  sicli  mit  der  ganzen  Glut  seiner 
jungen  Seele  der  geliebten  Kunst,  so  dass  sein  Lehrer  über  seine 
Fortschritte  staunte.  —  In  diese  Zeit  fällt  die  erste  Liebe  unseres 
Dichters.  Er  lernte  eine  hübsche  Polin,  eine  Nähterin,  kennen, 
und  wie  es  scheint,  hat  er  nicht  unglücklich  geliebt,  denn  dieselbe 
sorgte  für  ihn  wie  eine  Mutter.  Nur  die  russische  Sprache  duldete 
sie  nicht;  in  Folge  dieses  Umstandes  erlernte  er  in  dieser  Zeit 
vollkommen  das  Polnische.  Eine  ganz  neue  Welt  ging  auf  einmal 
der  armen  Waise  auf.  Doch  das  grelle  Licht  seines  Glückes  warf 
um  so  tiefere  Schatten  auf  die  trostlose  Lage,  in  der  er  sich  be- 
fand. Zum  ersten  Male  ward  er  sich  seiner  Menschenwürde  be- 
wusst.  Der  Gedanke,  dass  er  nicht  frei,  dass  er  Leibeigener  sei 
und  gar  keine  Aussicht  habe  jemals  frei  zu  werden,  versetzte  ihn 
in  Tiefsinn,  so  dass  er  auf  Selbstmord  sann. 

Doch  er  sollte  nicht  untergehen  !  Der  Aufenthalt  in  Warschau 
war  von  kurzer  Dauer.  Sein  Gutsherr  hatte  seinen  Abschied  ge- 
nommen und  siedelte  nach  Petersburg  über ;  daher  wurde  Taras 
auch  nach  Petersburg  geschafft,  und  zwar  per  Etappe,  denn  so 
winden  damals  gewöhnlich  die  Leibeigenen  an  ihren  Bestimmungsort 


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Tara»  Grigorjewitseh  Schewtschenko. 


Ö91 


befördert.  Da  Herr  von  Engelhardt  ihn  doch  zum  Maler  ausbilden 
lassen  wollte,  dafür  aber  so  wenig  als  möglich  anzuwenden  ge- 
sonnen war,  übergab  er  ihn  1832  contractlich  auf  vier  Jahre  einem 
zünftigen  Malermeister,  Namens  Schirajew,  in  St.  Petersburg. 
Sehirajew  vereinigte  in  seiner  Person,  nach  Schewtschenkos  Aus- 
sage, alle  die  schlechten  Eigenschatten  seiner  frühereu  Dorflehr- 
meister.  Im  Dienste  dieses  tyrannischen  Menschen  musste  der 
arme  Taras,  nunmehr  ein  schmucker  Jüngling  von  achtzehn  Jahren, 
Thülen,  Fenster  und  Dielen  streichen,  er  musste  die  Decken  der 
Zimmer  weissen,  ja  häufig  auf  offener  Strasse  Zäune,  Gitter  und 
dergl.  anstreichen.  Aber  in  den  hellen  Frühlingsnächten  ging  er 
in  den  Sommergarten,  um  die  Statuen  nach  der  Natur  zu  zeichnen 
oder  seinem  Lieblingsgedanken,  seinem  Freiheitstraume,  nachzu- 
hängen. In  dieser  für  ihn  so  trostlosen  Zeit  machte  er  in  einer 
schönen  Frühlingsnacht  im  Sommergarten  zufällig  die  Bekanntschaft 
seines  Landsmannes  I.  M.  Soschenko,  der  damals  schon  die  Akademie 
der  Künste  besuchte.  Diese  zufällige  Bekanntschaft  sollte  für 
Taras  von  weittragender  Bedeutung  werden.  Soschenko  schildert 
uns  das  erste  Auftreten  Taras  Schewtschenkos  bei  ihm  mit  folgen- 
den Worten  :  <  Er  hatte  einen  befleckten  Rock  von  Zwillich  am 
Leibe,  sein  Hemd  und  seine  Beinkleider  aus  grobem  Lein  waren 
mit  Oelfarbe  beschmiert,  barfuss  ging  er  und  hatte  keine  Mütze. 
Er  verrieth  eine  glühende  Leidenschaft  zur  Malerei,  zugleich  war 
er  aber  verbissen  und  haderte  mit  seinem  Geschicke.  »  Tiefes  Mit- 
leid erregte  in  der  edlen  Seele  Soschenkos  das  bittere  Loos  seines 
Landsmannes  ;  aber  ihm  zu  helfen  war  er  vorläufig  nicht  im  Stande, 
da  er  sich  selbst  ohne  Mittel,  ohne  Protection,  so  gut  es  ging, 
durchschlug.  Er  rieft  Taras,  sich  in  der  Aquarellmalerei  nach 
der  Natur  zu  üben.  Der  Erfolg  blieb  nicht  aus ;  die  Portraits 
gelangen  sehr  gut  und  treffend.  Als  Modell  diente  Schewtschenko 
sein  liebenswürdiger  Landsmann  und  Freund,  der  Kosak  Nitschi- 
porenko,  auch  ein  Leibeigener  Engelhardts.  Einst  sah  Engelhardt 
Nitschiporenkos  Portrait ;  es  gefiel  ihm  so  sehr,  dass  er  Schew- 
tschenko von  nun  ab  häufig  zum  Porträtiren  seiner  bevorzugten 
Maitressen  benutzte,  wofür  er  ihn  bisweilen  mit  einem  ganzeu 
Silberrubel  belohnte. 

Bei  Soschenko  kam  Taras  mit  dem  damals  schon  bekannten 
kleinrussischen  Schriftsteller  Grebenko  zusammen,  der  ihm  ver- 
schiedene Lehrbücher  zukommen  Hess.  Taras  studirte  dieselben 
mit  seltener  Energie  uud  Ausdauer  durch,  denn  jetzt  endlich  hatte 


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092 


Taras  Grigorjewitsch  Schewtschenko. 


er  Gelegenheit,  seinen  Drang  nach  Wissen  und  Bildung  zu  stillen. 
Nach  vollendeter  Tagesarbeit  auf  Dächern,  Strassen  und  in  Zimmern 
suchte  dieses  strebsame  Talent  in  stiller  Nacht  oben  in  der  Dach- 
kammer seine  verwahrloste  Erziehung  und  Bildung  nachzuholen. 
Alle  Feiertage  brachte  er  in  der  kaiserlichen  Eremitage  zu.  Er 
kannte  nur  einen  glühenden  Wunsch ,  in  die  Akademie  der 
Künste  einzutreten  —  der  Eintritt  in  dieselbe  war  aber  Leib- 
eigenen untersagt. 

Im  Jahre  1837  stellte  Soschenko  Taras  dem  Conferenzsecretair 
der  Akademie  der  Künste  W.  I.  Grigoro  witsch  vor,  mit  der  Bitte, 
das  herbe  Los  seines  Landsmanns  zu  lindem.  Grigoro  witsch  theilte 
diese  Bitte  dem  Dichter  W.  A.  Shukowski  mit.  Obschon  sich  nun 
eiuflussreiche  Persönlichkeiten,  Shukowski  an  der  Spitze,  für  die 
Freilassung  Schewtschenkos  verwandten,  wollte  es  damit  doch 
nicht  so  recht  vorwärts  gehen.  Taras  befand  sich  in  einer  ganz 
schrecklichen  Gemüthsverfassung,  da  die  ihm  in  Aussicht  gestellte 
Freilassung  sich  nicht  verwirklichen  wollte,  c  Einst»  —  erzählt 
Soschenko  —  «kam  er  in  jener  Zeit  furchtbar  aufgeregt  zu  mir. 
Nachdem  er  sein  unseliges  bitteres  Eidenloos  verwünscht  hatte, 
drohte  er  furchtbare  Rache  an  seinem  Grundherrn  zu  nehmen,  falls 
dieser  Egoist  ihn  nicht  freilassen  wolle.  Ich  fürchtete  für  meinen 
Freund  und  witterte  schon  irgend  ein  Unheil.»  —  Doch  die  Sache 
gewann  ein  gutes  Ende.  Shukowski  unterhandelte  mit  Herrn 
v.  Engelhardt  in  Betreff  der  Loskaufssumme ;  der  gewinnsüchtige 
Mann  verlaugte  für  diese  €  Seele»  2500  Rbl.  Silber.  Shukowski 
wandte  sich  nun  an  den  berühmten  Maler  Prof.  Brülow  mit  der 
Bitte,  ihn  (Shukowski)  in  Oel  zu  porträtiren,  in  der  Absicht,  das 
Portrait  sodann  in  einer  Privatlotterie  auszuspielen.  Brülow  war 
sofort  einverstanden  und  bald  war  das  Portrait  fertig.  Shukowski 
veranstaltete  nun  mit  Hilfe  des  Grafen  M.  I.  Wielhorski  eine  Ver- 
loosuug  im  erforderlichen  Betrage.  Für  dieses  Geld  wurde  die 
Freiheit  Taras  Grigorjewitsch  Schewtschenkos  am  22.  April  1838 
erkauft. 

«Am  selben  Tage,»  erzählt  Soschenko,  tkam  Taras  iu  mein 
Parterrezimmer  zum  Fenster  hereiugesprungen,  warf  mein  Bild 
von  der  Staffelei  und  h'el  mir  ungestüm  um  den  Hals.  Ich  hielt 
ihn  anfangs  für  gestört,  deun  sprechen  konnte  er  nicht.  Endlich 
brachte  er  vor  Freude  schluchzend  nur  die  Worte :  «Freiheit! 
Freiheit  !»  hervor.  Die  Scene  endigte  damit,  dass  wir  beide  wie 
die  Kinder  weinten.»    Von  diesem  Tage  an  begann  Schewtschenko 


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Taras  Grigorje  witsch  Schewtschenko. 


603 


auch  die  Klassen  der  Akademie  der  Künste  zu  besuchen  und  wurde 
bald  einer  der  liebsten  Schüler  ßrülows. 

Allein  solch  eine  plötzliche  Veränderung  der  Lebenslage, 
völlige  Freiheit  nach  vorhergegangener  schwerer  Knechtschaft, 
konnte  nicht  ohue  Folgen  bleiben.  Die  Reaction  musste  gewaltsam 
erfolgen. 

3.  Die  Hauptschöpfungsperiode  und  das  freie 
Leben  T.  G.  S  c  h  e  w  t  s  c  h  e  n  k  o  s  (1  8  3  8  —  t  8  4  7). 

Wie  die  Dinge  nun  lagen,  hatte  es  den  Anschein,  als  wenn 
das  Glück,  welches  bis  dahin 'Schewtschenko  so  hartnäckig  gemiedeu 
hatte,  auch  ihm  von  jetzt  ab  freundlich  lächeln  würde.  Im  Herbste 
L838  zog  er  zu  seinem  Freunde  Soschen ko.  Letzterer  bewohnte 
ein  kleines  Quartier  bei  einer  deutschen  Frau  Marja  Iwanowna 
und  hatte  Taras  aufgefordert,  dasselbe  mit  ihm  zu  theilen.  Mit 
Schewtschenko  war  eine  grosse  Veränderung  vorgegangen.  Durch 
Prof.  Brülow  war  er  in  die  besten  Petersburger  Kreise  eingeführt; 
er  fuhr  in  Folge  dessen  häufig  zu  Abendgesellschaften,  kleidete 
sich  fein,  ja  sogar  geckenhaft,  kurz,  er  stürzte  sich  in  den  Strudel 
des  Residenzlebens.  Selten  sass  er  zu  Hause,  und  that  er  dies, 
so  ging  er  nicht  der  Kunst  nach,  sondern  sang  oder  dichtete. 
Denn  mitten  im  Rausche  der  Freiheit  gedachte  er  seiner  Kindheit 
und  seines  geknechteten  Volkes  Er  begann  zu  dichten  und  zwar 
nicht  blos  in  der  damals  verfehmten  kleinrussischen  Sprache,  sondern 
obendrein  Freiheitslieder  und  erschütternde  Schilderungen  des  Elends, 
mit  welchem  die  fremden  Herren  den  Ukrainer  Bauer  belasteten. 
«Anfangs»  —  schreibt  er  in  seiner  Selbstbiographie  —  «fremdete 
sich  die  keusche  Ukrainer  Muse  vor  meinem  Geschmacke,  der  durch 
mein  Leben  in  den  Dorfschulen,  in  dem  Vorhause  meines  Guts- 
herrn, in  den  Gasthöfen  und  Wirthshäusern  verdorben  war ;  aber 
der  Athem  der  Freiheit  gab  meinem  Gefühle  und  Geschmacke  die 
Reinheit  und  Keuschheit  der  Kinderjahre  zurück.  Selbst  in  der 
Fremde  umarmte  und  herzte  mich  die  Muse.»  Damals  schrieb  er 
gerade  seine  zarte,  tiefergreifende  Dichtung  *  Katharina  >,  die  er 
seinem  Befreier  Shukowski  widmete. 

- 

Soschenko,  der  ausschliesslich  seinem  Künstlerberufe  lebte, 
in  der  Ueberzeugung,  dass  die  Kunst  den  ganzen  Menschen  be- 
anspruche, war  mit  den  poetischen  Beschäftigungen  seines  Freundes 
gar  nicht  zufrieden  ;  noch  weniger  konnte  er  die  ausschweifende 


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094  Taras  Grigorjewitseh  Schewtsehenko. 

Lebensart  desselben  billigen.  «Es  ist  etwas  Merkwürdiges  um  den 
Beruf,  den  ein  Mensch  in  sich  fühlt,»  schreibt  Schewtschenko«. 
Ach  wusste  genau,  dass  die  Malerei  meine  Profession,  mein  zu- 
künftiges Brod  sei ;  aber  anstatt  ihre  tiefen  Geheiinuisse,  und  noch 
dazu  unter  solcher  Anleitung  wie  die  des  unsterblichen  Karl  Pawlo- 
witsch  Brülow,  zu  studiren,  bestand  meine  einzige  Freude  darin, 
kleinrussische  Verse  zu  schreibeu.  Konnte  ich  damals  ahnen,  dass 
dieselben  in  der  Folge  als  centnerschwere  Last  auf  meiner  armen 
Brust  liegen,  ja  mich  schliesslich  meiuer  Freiheit  berauben  wurden?» 

Nur  bis  zum  Januar  1839  wohnten  die  beiden  Freunde  und 
Landsleute  vereint.  Machte  schon  die  verschiedene  Lebensweise 
ein  ferneres  Zusammenleben  unmöglich,  so  förderte  noch  ein  Er- 
eignis besonderer  Art  die  Trennung.  Bei  ihrer  deutschen  Quartier- 
wirthin  wohnte  deren  Nichte,  eiue  Waise,  Marja  Jakowlewna,  die 
Tochter  des  weiland  Bürgermeisters  von  Wiborg,  ein  allerliebstes 
Mädchen.  Soschenko  war  sterblich  in  dieselbe  verliebt,  und  in 
dieser  Sache  spielte  ihm  sein  Freund  einen  sehr  schlimmen  Streich. 
Bei  seinem  geistreichen  und  lebhaften  Wesen  fiel  es  Schewtschenko 
nicht  schwer,  anfangs  das  Interesse,  dann  die  Liebe  des  Mädchens 
zu  gewinnen,  sie  mit  einem  Worte  seinem  Freunde  abspenstig  zu 
machen.  Lange  verbiss  Soschenko  aus  Zartgefühl  gegen  Taras 
seinen  Unwillen  —  bis  er  ihn  eines  Tages  zwang  das  Quartier  zu 
räumen.  Doch  damit  konnte  der  edle  Mann  dem  Unglücke  nicht 
mehr  steuern ;  das  Mädchen  zog  mit  Schewtschenko  in  dessen  neue 
Wohnung.  Bald  darauf  musste  Soschenko,  von  einem  schweren 
Brust-  und  Augenleiden  befallen,  Petersburg  verlassen  ;  er  ging  in 
seine  Heimat,  nach  Njeshin.  Als  Taras  dieses  erfuhr,  kam  er  zu 
ihm,  ihn  um  Verzeihung  zu  bitten  und  sich  von  ihm  zu  ver- 
abschieden. Der  grossherzige  Soschenko,  von  seinem  Freunde  im 
heiligsten  Gefühl  gekränkt  und  hintergangen,  verzieh  ihm.  Sie 
blieben  Freunde,  und  Schewtschenko  war  sein  ganzes  Leben  hin- 
durch bemüht,  dieses  begangene  schwere  Unrecht  wieder  gut  zu 
machen. 

Das  wilde  Leben  in  jener  Zeit  und  die  Zechgelage  der 
Künstler,  von  denen  sich  selbst  ein  Brülow  nicht  fernhalten  konnte, 
haben  Spuren  fürs  ganze  Leben  Schewtschenkos  hinterlassen  und 


1  In  seinem  Tagebuche,  welches  er  vom  12.  Juni  1857  bis  zum  13.  Juli 
1858,  also  nach  seiner  Befreiung  aus  rlrr  Verbannung  schrieb.  Abgedruckt  ist 
es  in  der  Zeitschrift  •  Ocuoimx  Jahrgang  lbtil-  18»>2. 


Tains  Grigorjewitsch  Schewtschenko. 


tH)5 


haften  als  dunkler  Fleck  auf  seinem  Angedenken.  Er  selbst 
äussert  sich1  darüber  in  seinen  letzten  Lebensjahren  also:  <Aus 
einem  schmutzigen  Dachstübchen  flog  ich  nichtsnutziger  Schmierlink 
in  die  prachtvolle  Werkstätte  des  grössten  Malere  meiner  Zeit 
hinüber.  Es  scheint  mir  jetzt  selbst  nicht  mehr  glaublich,  —  aber 
so  war  es.  Mir  mussten  beim  plötzlichen  Uebergange  die  Sinne 
schwinden.» 

Im  Jahre  1840  erschien  die  erste  Gedichtsammlung  Schew- 
tschenkos,  tKobsar>  benannt,  in  Petersburg*.  Die  grossrussische 
Presse  empfing  das  Büchlein  mit  Hohn.  Der  Gebrauch  der  ver- 
pönten kleinrussischen  Sprache  allein  schon  rief  in  der  St.  Peters- 
burger Kritik  und  Presse  einstimmig  Gespött  und  Sticheleieu 
hervor.  Die  Kleiurussen  nahmen  jedoch  das  Buch  mit  Begeisterung 
auf;  in  der  Ukraine  rüttelte  es  die  Leute  aus  ihrem  lethargischen 
Schlafe  auf  und  erweckte  neue  Liebe  zur  heimatlichen  Mundart. 
Im  Jahre  1843  war  tDer  Kobsar»  in  der  Ukraine  schon  recht 
verbreitet.  —  Die  Regierung  aber  begnügte  sich  beim  Erscheinen 
des  «Kobsar>  vorlaufig  damit,  den  Dichter  unter  polizeiliche  Auf- 
sicht zu  stellen  und  ihm  alle  Beneficien  zu  entziehen. 

Im  folgenden  Jahre  (1841)  giebt  Schewtschenko  daselbst  seine 
grösste  Dichtung  cDie  Hajdamaken»  heraus.  Von  da  ab  widmet 
sich  Schewtschenko  fast  ausschliesslich  seiner  Kunst,  der  Malerei. 
Im  Jahre  1844  beendigt  er  die  Akademie  der  Künste  mit  der 
Würde  eines  freien  Künstlers  und  zieht  bald  darauf  in  seine  Heimat, 
um  Stoff  für  Pinsel  und  Feder  zu  sammeln. 

Während  der  folgenden  drei  Jahre  bereist  Schewtschenko  die 
Ukraine,  das  polta wasche,  vornehmlich  aber  das  kiewsche  Gouver- 
nement, Die  historischen  Denkmäler  seiner  Heimat,  die  alteu 
Kirchen  und  Klöster  studirt  er  in  architektonischer  Hinsicht,  die 
malerischen  Gegenden  am  Dnjepr  skizzirt  er.  um  sie  alsdann  auf 
die  Leinwand  zu  bringen.  Er  forscht  emsig  in  der  kleinrussischeu 
Geschichte,  er  verkehrt  m»t  dem  einfachen  Volke,  um  die  Sageu 
und  Lieder  der  Ukraine  unverfälscht  aus  der  Quelle  zu  schöpfen. 
Auf  den  Reisen  in  Kleinrussland  wird  er  überall  mit  Liebe  und 
Achtung  aufgenommen,  denn  er  war  in  der  Heimat  schon  überall 

•  \n  seinem  oben  angeführten  Tngebnehe. 

1  'Kobsar'  wird  der  kleinrussischc  Yolkssangcr  genannt,  der,  von  Dort 
zu  Darf  ziehend,  zum  Klange  eines  achtsaitigcn  Instruments,  der  *•  Kobsa»  (einer 
Art  I'andora),  Lieder  singt,  denn  Inhalt  er  meist  alten  Volkssagen  entnimmt 
oder  «bannt sächlich  die  humoristischen  Lieder;  auch  selbst  frei  erdichtet. 


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69(> 


Turas  Grigorjewitsch  Schewtschenko. 


als  begabter  Dichter  bekannt.  Im  Jahre  1844  finden  wir  ihn  in  Mir- 
gorod,  1845  weilt  er  in  Kiew,  um  daselbst  die  schönsten  Ansichten 
dieser  uralten  Stadt,  sowie  das  Innere  der  Kirchen  und  Klöster 
und  die  historischeu  Umgebungen  aufzunehmen.  Daselbst  macht 
er  auch  die  Bekanntschaft  des  bekannten  Historikers  N.  I.  Kosto- 
marow.  Im  Januar  1846  erkrankte  er  schwer  am  Flecktyphus 
und  unternahm  darauf  mit  seinem  Landsmanne  A.  Tschushbinski1 
eine  Erholungsreise  nach  der  Stadt  Njeshin.  Daselbst  sah  er 
seinen  edlen  Freund  Soschenko  wieder,  der  ihn  förmlich  um  Ent- 
schuldigung bat,  dass  er  ihn  im  Interesse  der  Kunst  in  Petersburg 
von  seinen  dichterischen  Productionen  habe  abhalten  wollen.  Auch 
wurde  Schewtschenko  daselbst  mit  Gerbel  bekannt,  welcher  später 
Taras'  Werke  ins  Grossrussische  übersetzt  hat.  Von  Njeshin  begab 
sich  Schewtschenko  nach  Tschernigow,  wo  er  sich  längere  Zeit 
aufhielt,  da  diese  Stadt  äusserst  reich  an  alterthümlichen  Bauten 
ist,  die  Schewtschenko  sämmtlich  aufnahm.  Nach  einem  kurzen 
Aufenthalte  bei  einem  Freunde  L.  .  .  in  Serduew  tretfen  wir 
ihn  wieder  in  Kiew,  üeberall,  wo  er  hinkam,  wetteiferten  seine 
Landsleute  förmlich,  ihrem  grössten  Nationaldichter  die  gebührende 
Achtung  und  Liebe  zu  erzeigen. 

Ueber  die  nun  folgende  Lebensperiode  des  Dichters  lagert 
vielfach  tiefes  Duukel.  allein  wir  wollen  es  versuchen,  dasselbe 
möglichst  zu  lichten. 


4.  In  der  Verbannung  (1  847—185  7). 

Schewtschenko  hatte  zu  Anfang  des  Jahres  1847  ein  Gedicht, 
iDer  Kaukasus  >,  veröffentlicht,  in  welchem  er  das  Loos  seines 
unglücklichen  Freundes,  des  Grafen  Palm6n,  besingt,  der  seiner 
Freisinnigkeit  wegen  als  gemeiner  Soldat  in  die  kaukasische  Armee 
eingereiht  worden  war  und  bald  darauf  im  Kampfe  gegen  die 
Tscherkessen  seinen  Tod  fand.  Gerade  dieses  Gedicht,  das  harmloser 
als  manches  andere  seiner  Gedichte,  wurde  der  Anlass,  den  Sänger 
unschädlich  zu  machen.  —  Armer  Taras !  In  der  Blüthe  deiner 
Kraft  bannte  das  Geschick  dich,  der  du,  umstrahlt  vom  Glänze  und 
Lichte  deines  dichterischen  Ruhmes,  auf  dem  Gipfel  deines  Glückes 
standst,  iu  desto  tiefere  Fiusternis  ! 

1  A.  TWlmshbiinki  :  Erinnerungen  an  T.  Ii.  Sehewt.schenko>,  abgedruckt 
in  der  Zeitschrift  <Pyccicoe  Cjobo»  1H6J,  5. 


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Taras  Grigorjewitsch  Sehewtschenko 


697 


Im  Begriffe,  von  Moskau  nach  Kiew  zurückzukehren,  wurde 
er  auf  dem  Dnjepr  unweit  Kiews  am  30.  Mai  1847  plötzlich  ge- 
fangen genommen  und  sofort  nach  Petersburg  gebracht.  Daselbst 
wurde  er  festgesetzt,  darauf  seines  Künstlergrades  verlustig  erklärt 
und  als  Gemeiner  unter  die  Soldaten  gesteckt.  Im  Juni  desselben 
Jahres  wurde  er  per  Etappe  aus  St.  Petersburg  nach  der  Festung 
Orenburg  versetzt.  Aber  starrsinnig  von  Natur,  zumal  da  er  sich 
im  Recht  fühlte,  in  seiner  Ehre  gekränkt,  konnte  sich  Sehewtschenko 
in  seine  Lage  anfangs  gar  nicht  finden.  Der  Dienst  war  fürchter- 
lich streng,  der  kleinste  Disciplinarfehler  wurde  vom  Commandauten 
in  roher  Weise  mit  Körperstrafen  geahndet.  War  es  ja  doch  ein 
Sträflingsbataillon,  in  welches  der  Dichter  eingereiht  worden  war. 
Nach  einem  halben  Jahre  wurde  er  nach  der  Festung  Orsk  am 
Uralflusse  übergeführt.  Hier  konnte  aber  Sehewtschenko  seinen 
Dichtungstrieb  nicht  länger  unterdrücken  und  trotz  dem  strengsten 
Verbot  dichtete  er  hier  seine  kühnsten  und  schärfsten  Lieder.  Sie 
flogen  nach  der  Ukraine  und  von  dort  in  zahlreichen  Abschriften 
nach  Galizien,  woselbst  sie  unter  dem  Schutze  des  grossen  Freiheits- 
jahres 1848  gedruckt  wurden.  Er  veröffentlichte  sie  unter  dem 
Pseudonym  «Darmograi»  (d.  h.  der  vergeblich  Singende,  Dichtende); 
allein  bald  wurde  der  richtige  Autor  doch  erkannt.  Der  unglück- 
liche Dichter,  damals  schon  ein  berühmter  Manu,  wurde  körperlich 
gezüchtigt  und  darauf  mit  anderen  Sträflingen  zusammen  zu  Fuss 
durch  die  kirgisische  Steppe  zum  Aralsee  gebracht.  Den  Aralsee 
befuhr  damals  der  Admiral  A.  I.  Butakow  zu  wissenschaftlichen 
Zwecken.  Diesem  nun  wurde  Sehewtschenko  übergeben  mit  der 
Weisung,  strenge  Zucht  an  ihm  zu  üben.  Im  Jahre  1848  kehrte 
das  Schiff  nach  sechsmonatlichem  Befahren  des  Sees  zur  Mündung 
des  Syr-Darja  zurück,  um  im  Fort  auf  der  Insel  Kos-Aral  zu 
überwintern.  Im  nächsten  Frühjahre  fuhr  man  weiter  nach  Raim, 
der  Hauptbefestigung  am  Ufer  des  Syr-Darja.  Zwei  ganze  Jahre 
(1848  und  1849)  hat  Sehewtschenko  auf  diese  Weise  den  Aralsee 
der  Länge  und  Breite  nach  befahren,  jeder  Unbill  der  Natur,  als 
Frost,  Hitze,  Wind  und  Regen  nicht  nur,  sondern  auch  jeder  Un- 
bill menschlicher  Gewalt  ausgesetzt ,  stets  die  erniedrigendsten 
Dienste  verrichtend,  abgeschnitten  von  jeglicher  menschlichen  Civili- 
sation.  Von  der  Expedition  auf  dem  Aralsee  zurückkehrend,  wird 
Sehewtschenko  wiederum  nach  Orsk  geschafft,  jedoch  schon  nach 
kurzer  Zeit,  im  October  1850,  nach  der  Festung  Nowo-Petrowsk 
übergeführt. 


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G98 


Taras  Grigorje witsch  Schewtschenko. 


Die  Festung  Nowo-Petrowsk  liegt  hart  am  nordöstlichen  Ufer 
des  Kaspischen  Meeres  auf  der  Öden  Halbinsel  Mangischlak,  uni- 
geben von  der  kirgisischen  Steppe.  Auf  kahlen  Felsen  ist  dieselbe 
erbaut,  rings,  so  weit  das  Auge  reicht,  nur  Sand  und  Stein,  kein 
Gras,  kein  Bauin,  im  Winter  schneidige  Kälte,  im  Sommer  sengende 
Glut.  Ausser  dem  unangenehmen  Gekreische  der  Möven,  die  über 
der  unendlichen  Wasserfläche  auf-  und  niedersch weben,  unterbricht 
kein  Laut  die  dort  herrschende  Todtenstille.  An  diesem  Orte  hat 
Schewtschenko  volle  sieben  Jahre  zugebracht,  von  1850  bis  1857. 
Die  ersten  Jahre  hindurch  war  ihm  sogar  das  Schreiben  und 
Zeichnen  untersagt,  erst  in  der  Folge,  nachdem  sich  der  willens- 
starke Mann  allmählich  in  die  strenge  Zucht  gefunden  hatte,  ward 
es  ihm  gestattet  eine  Correspondenz  zu  führen,  doch  nur  unter 
Controle  seiner  Obrigkeit.  Tröstend  wirkte  auf  ihn  die  innige 
Theilnahme  und  Liebe,  die  ihm  seine  Landsleute  brieflich  bewiesen, 
sobald  es  ihnen  nur  gestattet  worden  war ;  allein  nicht  nur  mit 
Worten  trösteten  sie  ihren  Sänger ,  sondern  auch  Geldspenden 
liefen  reichlich  ein,  mit  deren  Hilfe  Schewtschenko  denn  doch  seine 
bittere  Lage  etwas  mildern  konnte.  Vor  allen  Dingen  hat  sich 
in  dieser  Beziehung  sein  Freund  Lasarewski  hervorgethan.  Diese 
Thatsache  und  hauptsächlich  der  Gedanke,  doch  noch  einmal  seine 
liebe  Ukraine  wiederzusehen ,  haben  ihm  dazu  verholfen,  diese 
schreckliche  Prüfungszeit  zu  durchleben. 

Denn  schrecklich  war  sie  jedenfalls !  Für  einen  gebildeten 
Menschen  eine  entsetzliche  Existenz  !  Die  Gesellschaft,  in  der  er 
leben  musste,  war  eine  äusserst  schlechte.  Die  Garnison  bestand 
aus  dem  Auswurf  der  Menschheit ;  nicht  nur  mit  politischen,  sondern 
auch  mit  gemeinen  Verbrechern,  mit  Mördern  und  Dieben  musste 
er  dienen.  Und  dieser  Dienst  war  —  wie  gesagt  —  furchtbar 
streng,  jedes  Vergehen  wurde  streng  gerügt.  Ausser  der  ver- 
worfenen Soldateska  gab  es  keinen  Verkehr,  kein  Buch,  keine 
Zeitung!  tlm  Verlaute  von  zehn  Jahren >  -  schreibt  Schewtschenko 
in  seinem  Tagebuche  —  «habe  ich  ausser  Steppen  und  Kasernen 
nichts  gesehen,  ausser  der  furchtsamen,  schüchternen  und  groben 
Rede  der  Soldaten  nichts  vernommen.»  —  Kein  Wunder  ist  es 
daher,  dass  der  Dichter  bisweilen  in  Trübsinn  verfiel,  ja,  dass  er 
seines  freudlosen  Daseins  überdrüssig  wurde,  t  Jeder  Mensch  hat 
ein  Ziel,  dem  er  nachstrebt,»  schreibt  er  am  1.  Juli  1852  seinem 
Landsmaune  S.  St.  Artemowski,  «ich  allein  schwimme,  wie  ein  ab- 
gehauener Holzspan,  ohne  Zweck  und  Ziel  auf  den  Wogen  des 


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Taras  Grigorjewitsch  Schewtschenko. 


699 


Lebens  einher.  Die  Kirgisensteppe  musste  ich  in  die  Kreuz  und 
Quer  durchwandern,  der  Länge  und  Breite  nach  musste  ich  den 
Aralsee  befahren  und  jetzt  sitze  ich  gefangen  in  der  Nowo-Petrowski- 
schen  Festung.  Geboren  und  aufgewachsen  bin  ich  in  der  Knecht- 
schaft und  in  solcher  werde  ich  wahrscheinlich  auch  sterben.  Du 
fragst,  wofür  man  mich  unter  die  Soldaten  gesteckt  hat.  Wisse, 
für  keine  schlechte  oder  gemeine  Sache,  für  einige  Verse,  die  ich 
jetzt  dreifach  verwünsche.»  ...  Im  Jahre  1856  schreibt  er:  «Die 
einzige  Freude,  die  ich  während  der  langen  Zeit  meiner  Verbannung 
gehabt  habe,  ist  folgende.  Als  ich  im  October  1850  aus  der 
Festung  Orsk  hierher  übergeführt  wurde,  fand  ich  im  Städtchen 
Gurjew  am  Ausflusse  des  Uralflusses  eine  frische  Weideni  uthe, 
welche  ich,  nachdem  ich  hier  angekommen  war,  im  Garnisons- 
gemiisegarten  in  die  Erde  steckte.  Im  Frühjahre  theilte  mir  der 
Gärtner  mit,  dass  meine  Ruthe  wachse.  Ich  begann  sie  emsig  zu 
begiessen,  und  jetzt  ist  sie  ein  Baum  von  sechs  Werschok  Dicke 
und  wenigstens  drei  Faden  Höhe.  Mit  Erlaubnis  des  Feldwebels 
ruhe  ich  jetzt  bisweilen  unter  ihm,  dem  einzigen  Baume  liier,  aus. 
Meine  ganze  Hoft'nung  setze  ich  jetzt  auf  die  Krönung  des  neuen 
Kaisers. » 

Der  Graf  Feodor  Petrowitsch  Tolstoi,  der  Dichter  des  «Don 
Juan»,  ein  Freund  und  Gönner  Schewtschenkos,  hatte  schon  wieder- 
holte  Versuche  gemacht,  die  Freilassung  des  Dichters  zu  erwirken. 
Am  20.  August  185G  erfolgte  die  Krönung  Kaiser  Alexandere  II., 
von  der  unser  Dichter  so  viel  hoffte;  es  wurden  viele  begnadigt, 
aber  Schewtscheuko  nicht.  Er  begann  bereits  jede  Hoffnung  auf- 
zugeben. Da  erfolgte  endlich  im  März  1857  seine  Begnadigung 
und  zwar  durch  die  persönliche  Fürsprache  der  Gräfin  Nastasija 
Iwanowna  Tolstoi,  der  Gemahlin  des  genannten  Grafen.  Diese 
Freudenpost  wurde  auch  sofort  dem  Dichter  durch  seinen  Freund 
Lasarewski  brieflich  übermittelt.  Allein  es  verstrich  der  April-, 
der  Mai-,  der  Junimonat  und  Schewtschenko  erhielt  immer  noch 
nicht  die  officielle  Mittheilung  seiner  Begnadigung  seitens  des 
Commandanten  der  Festung.  «Wie  schnell  und  eifrig»  —  schrieb 
er  am  18.  Juni  1857  in  sein  Tagebuch  —  «wird  der  Arretirnngs- 
befehl  ausgeführt,  wie  lässig  dagegen  und  kühl  die  Ordre  der 
Freilassung.  Im  Jahre  1847  hat  man  mich  im  Juni  im  Verlauf 
von  sieben  Tagen  aus  St.  Petersburg  nach  Orenburg  geschaßt ; 
jetzt  werde  ich  glücklich  sein,  wenn  sie  mich  binnen  sieben  Monaten 
freilassen.»    Aber  so  lange  sollte  der  Dichter  denn  doch  nicht 


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700 


Taras  Grigorjewitach  Schewtschenko. 


warten.  Am  21.  Juli  theilte  der  Commandant  Schewtschenko 
olficiell  mit,  dass  er  nunmehr  frei  sei,  dass  ihm  aber  die  directe 
Durchfahrt  nach  St.  Petersburg  nicht  gestattet  sei.  Am  2.  August 
1857  verliess  er  die  ihm  so  verhasste  Festung  und  langte  nach 
dreitägiger  Fahrt  auf  dem  Kaspischen  Meere  in  Astrachan  an. 

Wol  war  Schewtschenko  nun  wieder  ein  freier  Mann,  allein 
die  zehnjährige  Verbannungszeit  hatte  mit  ihren  schwarzen  Flügeln 
sein  Haupt  umrauscht,  hatte  um  seinen  klaren  Geist  einen  düsteren 
Schleier  gewoben.  Trefflich  lassen  sich  hier  Goethes  Worte  an- 
wenden  : 

«Wie  ein  Vogel,  der  den  Faden  bricht 
Und  zum  Walde  kehrt, 
Er  schleppt  des  Gefängnisses  Schmach, 
Noch  ein  Stückchen  des  Fadens  nach  ; 
Er  ist  der  alte  freigeborne  Vogel  nicht.» 


5.  Die  letzten  Jahre  (1  8  5  7  —  1  8  6  1). 
Die  Rückkehr  Schewtschenkos  aus  seiner  Verbannung  wurde 
nicht  nur  von  der  Ukraine,  sondern  auch  vom  übrigen  Russland 
mit  Enthusiasmus  begrüsst :  auf  der  ganzen  Strecke  von  Astrachan 
bis  St.  Petersburg  wurde  er  von  allen,  ohne  Unterschied  der 
Nationalität,  wie  ein  Freund  empfangen.  Alle  waren  bemüht  ihn 
fühlen  zu  lassen,  dass  die  Trennung  und  sein  beinahe  zehnjähriges 
Schweigen  weder  der  Achtung  zu  ihm  als  Menschen,  noch  der 
Liebe  und  der  Theilnahme  zu  ihm  als  Volkssänger  Abbruch  ge- 
than  habe. 

Am  22.  Aug.  1857  verliess  Schewtschenko  Astrachan,  wo  er 
wider  Willen  lange  aufgehalten  wurde,  und  fuhr  die  Wolga  hin- 
auf. Die  Liebe,  die  ihm  auf  dem  Schilfe  überall  erwiesen  wurde, 
kam  ihm  unnatürlich  vor  und  drückte  ihn  nieder.  Am  19.  Sept. 
langte  er  in  Nishni-Nowgorod  an,  woselbst  seine  Ankunft  sofort 
dem  Polizeimeister  gemeldet  und  ihm  mitgetheilt  wurde,  dass  er 
daselbst  fernere  Instructionen  abzuwarten  habe.  Am  23.  October 
wurde  ihm  endlich  eröffnet,  dass  ihm  der  Aufenthalt  in  den  beiden 
Hauptstädten  des  Reiches  untersagt  sei  und  dass  er  ausserdem 
unter  polizeilicher  Aufsicht  stehe.  Am  12.  November  schrieb 
Schewtschenko  an  seinen  Freund ,  den  berühmten  Schauspieler 
M.  S.  Schtschepkin  :  .  Tch  bin  jetzt  frei  in  Nishni-Nowgorod,  geniesse 


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702  Taras  Grigorjewitsch  Scliewtschenko. 

ein  Zimmer,  welches  er  sich  zum  Atelier  einrichtete  Hier  widmete 
er  sich  ganz  seinen  Lieblingsbeschäftigungen:  der  Malerei,  der 
Gravirkunst  und  der  Dichtkunst.  Zum  zweiten  Male  hatte  es 
den  Anschein,  als  wenn  das  Lebeu  des  armen  Taras  von  nun  ab 
friedlich  und  still  dahinfliessen  würde.  Doch  das  Geschick  gönnte 
es  ihm  nicht,  sich  lange  der  wiedererworbenen  Freiheit,  des  Glückes 
und  des  Ruhmes  zu  erfreuen. 

In  seinen  beiden  letzten  Lebensjahren  wollte  Scliewtschenko, 
von  den  vielen  Schicksalsschlägen  an  Leib  und  Seele  ermattet  und 
eine  Abnahme  seiner  Schöpfungskraft  fühlend,  sich  in  einen  stillen 
Hafen  flüchten,  um  fern  von  der  Welt  und  dem  geräuschvollen 
Reiidenzleben,  mitten  unter  seinem  Volke,  am  Ufer  des  alten 
Dnjepr,  der  wohlverdienten  Ruhe  zu  pflegen.  Denn  hauptsächlich 
die  Hoffnung,  doch  noch  einmal  unter  seinem  Volke  in  seiner 
Heimat  zu  leben,  hat  den  Dichter  während  seiuer  qualvollen  zehn- 
jährigen Verbannung  aufrechterhalten.  Er  wollte  sich  sein  eigenes 
Heim  in  der  Heimat  gründen,  und  diesen  Gedanken  betrieb  er  die 
beiden  letzten  Lebensjahre  hindurch  mit  fieberhafter  Energie.  Er 
hatte,  trotzdem  er  unter  den  verschiedensten  Verhältnissen  und  in 
der  verschiedensten  Gesellschaft  sein  Leben  durchlebt  hatte,  auch 
nicht  einen  Zug  seines  Volkstypus  eingebüsst.  Daraus  lässt  sich 
vielleicht  die  merkwürdige  Idee  erklären,  die  Scliewtschenko  seit 
1858  gefasst  hatte  und  zu  deren  Durchführung  er  seine  letzten 
Kräfte  anspannte,  nämlich :  durchaus  eine  einfache  Bäuerin  zu  ehe- 
lichen, t  Eine  Waise  muss  sie  sein,  eine  Magd  und  eine  Leibeigeue 
zugleich.»  Alle  seine  Bekannten  riethen  ihm  energisch  ab,  er 
aber  sprach:  «Ich  bin  meiner  Abstammung  und  meiner  Gesinnung 
nach  eiu  leiblicher  Bruder  unseres  armen  Volkes,  wie  sollte  ich 
dazu  kommen,  ein  herrschaftliches  Blut  zu  ehelichen.  Und  was 
würde  ein  vornehmes  Fräulein  in  meiner  Bauerhütte  zu  schaffen 
haben  ?> 

Im  Frühjahr  1859  konnte  Schewtscheuko  seine  Sehnsucht 
nicht  mehr  bewältigen  und  reiste  in  seine  Heimat.  Aeusserst 
rührend  war  vor  allen  Dingen  das  Wiedersehen  mit  seiner  Lieblings- 
schwester Jarina.  Alle  seine  Anverwandten  fand  er  mit  Arbeit 
überbürdet,  arm  und  in  Knechtschaft  vor.  Um  die  trübe  Gemüths- 
stimmung,  in  die  er  durch  diesen  Umstand  verfiel,  loszuwerden, 
begab  er  sich  zu  einem  weitläufigen  Verwandten  Bartholomäus 
Grigorjewitsch  Schewtschenko  nach  Korssun  im  Kiewschen ;  mit 
diesem  war  er  eng  befreundet  und  hatte  denselben  1847  zum  letzten 


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704  Tara»  Grigorjewitsch  Schewtschenko. 

Bereits  im  Herbste  1860  begann  Schewtschenko  zu  kränkeln, 
er  fühlte  sich  beständig  unwohl ;  im  November  klagte  er  häufig 
über  Brustschmerzen.  Am  22.  Januar  1861  schreibt  er  an  Bartho- 
lomäus Grigorjewitsch  Schewtschenko:  «Das  neue  Jahr  habe  ich 
sehr  schlecht  begonnen.  Zwei  Wochen  sitze  ich  schon  im  Zimmer, 
ich  huste  beständig.  Beeile  dich  doch  mit  dem  Abschliessen  des 
Kaufcontractes. »  ünd  am  29.  Januar  schreibt  er:  «Mir  ist  so 
schlecht  zu  Muth,  dass  ich  kaum  die  Feder  in  der  Hand  halte. 
Lebe  wohl !  Ich  bin  ganz  ermattet,  wie  wenn  ich  einen  Haufen 
Roggen  in  einem  Athemzuge  gedroschen  hätte.  Ich  küsse  deine 
Frau  und  deine  Kinder.»  Im  Anfange  des  Februar  erwies  es 
sich,  dass  er  an  der  Wassersacht  leide ;  er  kam  immer  mehr  und 
mehr  von  Kräften.  Am  25.  Februar  fand  ihn  Lasarewski  in 
furchtbaren  Qualen  vor;  der  hinzugekommene  Arzt  erklärte,  die 
Wassersucht  habe  sich  auf  die  Lungen  geworfen.  An  demselben 
Tage,  es  war  gerade  sein  siebenundvierzigster  Geburtstag,  erhielt 
er  von  seinen  Landsleuten  aus  Charkow  und  Poltawa  zwei  Glück- 
wunschtelegramme, die  in  ihm  von  neuem  die  Hoffnung  anfachten, 
seine  Heimat  wiederzusehen.  Aber  schon  am  nächsten  Tage,  am 
Sonntag,  den  26.  Februar  1861,  um  halb  6  ühr  morgens  drückte 
der  Tod  mit  eisiger  Hand  sein  Siegel  auf  die  kluge  breite  Stirn 
des  Dichters.  Der  beredte  Mund  Taras  Grigorjewitsch  Schew- 
tschenkos  war  für  ewig  geschlossen. 

Aus  dem  armseligen  Zimmer  des  Verstorbenen  verbreitete 
sich  die  Trauernachricht  wie  ein  Lauffeuer  zunächst  in  der  Akademie, 
sodann  in  der  ganzen  Stadt.  Der  Zudrang  der  Freunde  und  Be- 
kannten zur  Leiche  war  ein  ausserordentlich  grosser.  Am  Abend 
des  Todestages  versammelten  sich  seine  Landsleute  beim  Freunde 
des  Dahingeschiedenen,  bei  Lasarewski  und  beschlossen  einstimmig 
—  dem  poetischen  Vermächtnis  des  Dichters  gemäss  —  die  sterb- 
lichen Ueberreste  in  die  Ukraine  überzuführen  und  daselbst  beizu- 
setzen. Sie  wurden  aber  an  der  sofortigen  Ausführung  verhindert, 
da  die  Genehmigung  dazu  anfangs  verweigert  wurde,  und  mussten 
ihn  deshalb  vorläufig  in  St.  Petersburg  bestatten.  Als  der  Tele- 
graph die  Nachricht  vom  Hinscheiden  Schewtschenkos  nach  Klein- 
russland brachte,  wurden  in  Kiew,  Charkow,  Tschernigow  und 
Poltawa  für  ihn  Seelenmessen  gelesen.  Am  Morgen  des  28.  Februar 
fand  die  Einsargung  der  sterblichen  Hülle  statt.  Die  Reden,  in 
denen  russische,  kleinrussische,  ja  sogar  polnische  Schriftsteller 
von  ihrem  begabten  Bruder  Abschied  nahmen,  wollten  kein  Ende 


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706  Taras  Grigorje  witsch  Schewtschenko. 


mit  einer  rothen  Decke,  der  sog.  Kitaika.  dem  ehrenvollen  Ab- 
zeichen des  Kosakenthums,  bedeckt,  wobei  Kulisch  einige  rührende 
Abschiedsworte  dem  Todten  nachrief.  Darauf  bewegte  sich  der 
Trauerzug  vom  Gottesacker  über  Wassili-Ostrow,  den  Admiralitäts- 
platz, den  Newski  entlang  zum  Moskauer  Bahnhofe,  woselbst  der 
Sarg  in  einen  reichlich  geschmückten  Waggon  niedergesetzt  wurde. 
Eine  Ehrenwache  fuhr  mit.  In  Moskau  und  Kiew  wurden  dem 
todten  Dichter  grosse  Ehren  erwiesen.  In  der  Stadt  Kanew  am 
Dnjepr  wurden  im  Beisein  einer  unzähligen  Volksmenge  die  Fune- 
ralien  in  der  Kirche  noch  einmal  leierlichst  vollzogen.  Hierauf 
ward  die  irdische  Hülle  des  Dichters  auf  dem  Tschern etschen  Berge 
zwei  Werst  von  der  Stadt  Kanew,  auf  dem  Grundstucke,  welches 
sich  der  Dichter  zu  erwerben  gedachte,  endgiltig  zur  letzten  Ruhe- 
stätte gebettet.  Daselbst  wurde  ein  hoher  Grabhügel  (Kurgan) 
aufgeworfen,  auf  dass  selbst  die  späteren  Geschlechter  wüssten, 
dass  dort  die  Asche  eines  grossen  Mannes  Kleinrusslands,  eines 
heldenmüthigen  Streiters  und  grossen  Dichters  bestattet  liege.  .  .  . 
Und  herrlich  ist  der  Ort,  an  dem  die  Gebeine  des  unsterblichen 
Sängers  ruhen  :  am  rechten  Ufer  des  Dnjepr  auf  einem  hohen  Berge 
reizend  gelegen,  von  einem  Wäldchen  wilder  Apfel-  und  Birnbäume 
umgeben  ;  unten  windet  sich  der  geliebte,  von  ihm  so  viel  be 
sungene  Dnjepr  mit  seinen  Fischerhütten  und  Stromschnellen.  Der- 
Ort  bietet  durch  seine  Lage  eine  weite  Fernsicht  über  die  dem 
Dichter  so  theure  Heimat. 

Der  Ankauf  dieses  Grundstückes  war  jedoch  leider  no  ch  nicht 
endgiltig  abgeschlossen,  und  es  fanden  sich  wirklich  Leute,  welche 
es  Jahre  lang  noch  auf  verschiedenen  Schleichwegen  zu  verhindern 
wussten,  dass  die  Grabstätte  des  Dichters  als  Eigenthum  auf 
dessen  Verwandte  überging.  Mit  welch  richtigem  Vorgefühle  hatte 
Schewtschenko  1838  die  Verse  niedergeschrieben: 
t Traun,  die  Welt  ist  gross, 

Dennoch  hat  manch  Pilger  keinen 
Platz  in  ihrem  Schoss. 

Diesem  hat  das  Schicksal  reichlich 
Raum  allhier  beschert, 

Doch  dem  andern  gönnt  es  kaum  nur 
Für  den  Sarg  die  Erd' !  > 

Woldemai-  Fischer. 

-CaX^ä  vix*-  


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708 


Heimatsbrief  aus  der  Fremde. 


gewöhnlicher  Leistungsfähigkeit.  —  In  diesen  Kreisen  stand  man 
den  beiden  vorwaltenden  Ständen  —  Adel  und  rigaschem  Bürger- 
thum —  gleich  fern  und  gleich  nahe  und  war  darum  in  der  Lage, 
dieselben  mit  einer  gewissen  Unparteilichkeit  beurtheilen  zu  können. 
Die  Urtheile  gingen  natürlich  häufig  aus  einander,  trafen  indessen 
an  einzelnen  Punkten  zusammen.  Ueber  das  ausschliessliche  Güter- 
besitzrecht  des  Adels  und  über  die  diesem  Stande  vorbehaltene 
Wählbarkeit  zu  Richterämtern  dachten  die  Bürgerlichen  der  kleinen 
Städte  ungefähr  ebenso  wie  ihre  rigaschen  Standesgenossen.  Zu- 
gleich aber  waren  sie  geneigt,  den  in  ritterschaftlichen  Kreisen 
gangbaren  Kritiken  der  Ausschliesslichkeit  des  rigaschen  Patriciats 
und  der  Gleichgiltigkeit  desselben  gegen  die  Interessen  des  flachen 
Landes  zuzustimmen  und  es  bedauerlich  zu  finden,  dass  eine  Au- 
zahl  tüchtiger  Kräfte  lediglich  deshalb  brach  gelegt  sei,  weil  die- 
selben innerhalb  der  engen  Rahmen  der  drei  Stadtstände  keinen 
Platz  zu  finden  vermochten.  Man  dachte  dabei  ebenso  an  die 
adeligen  wie  an  die  gelehrten  Städtebewohner,  die  namentlich  iu 
Riga  und  einigen  anderen  grösseren  Städten  zahlreich  vorhanden 
waren,  politisch  indessen  nicht  mitzählten. 

Die  vorstehend  aufgezählten  Gründe  des  Misbehagens  der 
vorigen  Generation  sind  fast  sämmtlicji  in  Wegfall  gekommen.  Der 
vor  einem  Vierteljahrhundert  stattgehabte  Eintritt  der  sog.  Literaten 
in  die  Gilden,  der  Verzicht  der  Ritterschaften  auf  ihr  früheres 
ausschliessliches  Güterbesitzrecht,  die  Zulassung  bürgerlicher  Juristen 
zu  den  landischen  Richterämtern,  endlich  die  Einführung  der  neuen 
Stadtverfassung  von  1877  haben  durchaus  »veränderte  Verhältnisse 
geschaffen.  Die  an  diese  Veränderungen  geknüpften  Erwartungen 
und  Befürchtungen  haben  sich  indessen  nicht  erfüllt.  So  weit  sich 
aus  der  Entfernung  übersehen  lässt,  ist  der  sociale  Eiufluss  des 
baltischen  Adels  bisher  nicht  nur  nicht  erschüttert,  sondern  im 
Gegentheil  auf  Gebiete  ausgedehnt  worden,  die  ihm  früher  ver- 
schlossen gewesen  waren.  Nach  wie  vor  ist  die  grosse  Mehrheit 
der  Rittergüter  in  den  Händen  der  Geschlechter  geblieben,  welche 
von  jeher  die  Vertreter  des  Grossgrundbesitzes  gewesen  sind.  Auch 
innerhalb  der  landischen  Gerichte  hat  der  Adel  sich  behauptet. 
Diejenigen  seiner  Sohne,  die  den  erforderlichen  Befähigungsnachweis 
zu  führen  vermögen,  haben  uuter  der  Mitbewerbung  ihrer  bürger- 
lichen Landsleute  nicht  zu  leiden  gehabt  und  bilden  die  Mehrheit 
der  Hof-,  Kreis-,  Land-  und  Orduungsgerichtsmitglieder.  Wer  für 
Bedeutung  und  Recht  alter  Tradition  Verstäuduis  hat,  wird  das 


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710 


Heimatsbriet  aus  der  Fremde. 


Wandel  der  politischen  Verhaltnisse  entsprechenden  Umschwung 
erfahren  ? 

Sind  Zusammensetzung  und  Beschaffenheit  unseres  rigascheu 
und  ausserrigaschen  Bürgerthums  wesentlich  die.  früheren  geblieben? 

Zur  Begründung  dieser  Fragen  mag  das  Folgende  bemerkt 
werden. 

Wer  Jahre  hindurch  auf  briefliche  und  sonstige  schriftliche 
Mittheilungen  aus  einem  Kreise  angewiesen  ist,  dem  er  einmal  an- 
gehört hat,  verliert  nach  längerer  oder  kürzerer  Zeit  (sehr  häufig 
schon  nach  zwei  oder  drei  Jahren)  fast  regelmässig  die  Fähigkeit, 
mit  den  ihm  gewordenen  Mittheilungen  deutliche  Vorstellungen  zu 
verbinden.  Gegen  dieses  allgemeine  Rmigrantenloos  schützen  weder 
guter  Wille,  noch  einstige  genaue  Bekanntschaft  mit  den  in  Be- 
tracht kommenden  Zuständen,  noch  Vielfältigkeit  der  zu  denselben 
erhalten  gebliebeneu  Beziebuugen.  Geschriebene  oder  gedruckte 
Worte  vermögen  gesprochene  nicht  zu  ersetzen,  mögen  dieselben 
auch  noch  so  ausführlich  gefasst  sein.  Geschieht  es  nur  allzu 
häufig,  dass  mau  seine  nächsten  Freunde  und  Verwandten  nicht 
mehr  wiedererkennt,  wenn  dieselben  während  der  Treunungszeit  aus 
Kindern  zu  Erwachsenen  oder  aus  Männern  und  Frauen  zu  Greisen 
geworden  sind,  so  erscheint  vollends  unvermeidlich,  dass  man  die 
Fühlung  mit  allgemeinen  Zuständen  einbüsst,  sobald  ein  paar  mass- 
gebende Personen  ausgeschieden,  ein  paar  wichtige  Stellungen  durch 
Unbekannte  besetzt  worden  sind.  —  Damit  ist  im  voraus  einge- 
standen, dass  die  nachstehenden,  aus  gelegentlichen  Berührungen 
und  aus  Zeitungsmittheilungen  geschöpften  Eindrücke  völlig  irrthüm- 
liche  sein  mögen  und  dass  für  dieselben  kein  anderes  Verdienst  als 
dasjenige  der  Beziehung  auf  wirklich  bedeutsame  Fragen  des  liv- 
ländischen  Lebens  in  Anspruch  genommen  wird. 

Wo  immer  grosse  Veränderungen  sich  vollziehen,  neue  Machte 
an  die  Stelle  der  alten  treten,  Jahrhunderte  lang  anerkannte  Rechte 
von  ihrer  Geltung  verlieren,  ist  es  Regel,  dass  die  in  die  Ver- 
teidigungslinie gedrängten  Elemente  ihre  Ansprüche  schärfer  und 
nachdrücklicher  geltend  machen  als  zur  Zeit  ungestörten  Genusses 
ihrer  Herrlichkeit.  Frankreich  ist  das  klassische  Beispiel  dafür,  dass 
der  Adel  den  Verlust  seiner  politischen  Bevorrechtung  durch  Aus- 
schliesslichkeit auf  gesellschaftlichem  Gebiete  und  durch  gesteigerte 
Betonung  noch  vor  fünfzig  Jahren  ziemlich  gleicligiltig  genommener 
Aeusserlichkeiten  einzubringen  versucht.  Aehnliches  wird  in  anderen 
Ländern  wahrgenommen  und  dabei  bemerkt,  dass  insbesondere  die 


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712 


Heimatsbrief  aus  der  Fremde. 


auch  in  dieser  Hinsicht  der  in  der  Fremde  empfangene  Eindruck 
ein  trügerischer  gewesen  sein  ?  Damit  hängt  die  weitere  Frage 
zusammen,  ob  sich  am  Ende  auch  der  Typus  des  baltischen  Bürger- 
thums verändert  hat,  ob  der  alte,  etwas  steifbeinige,  aber  grund- 
tüchtige Localpatriotismus  des  Rigaerthums  im  Schwinden  begriffen 
ist  und  ob  die  Zeiten  vorüber  sind,  zu  denen  das  *plus  etre  que 
paraitre»  die  eigentliche,  wenn  auch  unausgesprochene  Devise  des 
kleinstädtischen  und  landischen  höheren  Bürgerthums  bildete  ?  Dass 
der  Untergrund  unserer  städtischen  Bevölkerungen  im  Laufe  der 
Jahre  ein  anderer  geworden  ist  und  dass  sich  insbesondere  die 
Zusammensetzung  des  Handwerkerstandes  gewandelt  hat,  wissen 
wir  aus  der  letzten  Volkszählung  mit  der  gehörigen  Genauigkeit. 
Wie  aber  steht  es  um  diejenigen  Verhältnisse,  deren  Beschaffenheit 
durch  Zahlen  und  Gewichte  nicht  zum  Ausdruck  gebracht  werden 
kann  ? 

Dürfte  weiter  gefragt  werden,  so  könnte  noch  ein  anderer 
Gegenstand  von  unbestreitbarer  Wichtigkeit  auf  die  Tagesordnung 
gebracht  werden.  Aus  den  Zeitungen  hat  man  erfahren,  dass  die 
Frequenz  der  Universität  Dorpat  sich  binnen  verhältnismässig 
kurzer  Frist  mehr  als  verdoppelt  hat.  Ist  denn  gar  nichts  dar- 
über zu  erfahren,  wie  dieses  ungeheure,  dem  Fernstehenden  kaum 
glaublich  erscheinende  Wachsthum  der  Zahl  der  Studirenden  auf 
das  innere  Leben  und  die  sittlich-wissenschaftliche  Beschaffenheit 
der  akademischen  Jugend  unserer  Landeshochschule  eingewirkt  hat? 
Dass  von  dieser  Jugend  mehr  als  früher  öffentlich  die  Rede  ist,  dass 
die  corporativen  Gestaltungen  innerhalb  der  dorpater  Studentenschaft 
mitunter  wie  öffentliche  Körperschaften  behandelt  und  dass  Dinge  ab- 
sichtlich zur  Schau  und  zur  Sprache  gebracht  werden,  die  man  vor  den 
Augeu  Profaner  sonst  zu  hüten  pflegte,  —  das  weiss  jeder  Zeituugs- 
leser  ■  selbst  die  vierten  Seiten  der  öffentlichen  Blätter  bringen 
zuweilen  Zeugnisse  dafür  bei,  dass  das  Zeitalter  der  «häuslichen 
Verständigung»  für  die  Jungen  ebeuso  vorüber  ist  wie  für  die 
Alten  und  dass  das  junge  Geschlecht  sich  selbst  und  seine  Herr- 
lichkeiten feierlicher  behandelt,  als  seine  Väter  thaten.  Mehr  als 
eine  gewisse,  in  der  gesammten  Welt  bemerkbar  gewordene  Neigung 
zur  Veräusserlichung  lässt  sich  den  hier  erwähnten  Thatsacuen 
indessen  nicht  entnehmen.  Hat  diese  Veräusserlichung  sich  auf 
Kosten  der  Innerlichkeit,  des  sittlichen  Enthusiasmus,  des  engen 
kameradschaftlichen  Zusammenhanges  der  jungen  Leute  vollzogen 
oder  hat  die  eine  Entwicklung  mit  der  anderen  Schritt  gehalten? 


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»ton  meinem  Aufsatz  «Zur  Prof.  Volckschen  Schriftauft'assung», 
H|  cBalt.  Monatsschrift»  Band  XXXIV,  Heft  2,  findet  sich  ein 
Passus,  der  Misverstand  und  Anstoss  erregt  hat,  ich  meine  den 
auf  p.  174:  « «Mittel,  durch  welches  die  Gnade  am  Menschen 
arbeitet»»,  «kann  auch  ein  Trunkenbold  sein,  der  durch  sein  ab- 
schreckendes Exempel  dem  Menschen  den  Fluch  der  Sünde  lehrt; 
jeder  Tisch  und  Stuhl  kann  dann  Gnadenmittel  sein,  die  Kanzel, 
auf  der  gepredigt,  der  Altar,  der  Kelch,  bevor  er  gereicht  wird.» 

Was  an  diesem  Passus  befremdet  hat,  will  ich  durch  die  nach- 
folgenden Zeilen  beseitigen. 

Den  in  weiteren  Kreisen  misfällig  aufgenommenen  Satz  Prof. 
Volcks,  die  Bibel  sei  kein  Gnadenmittel,  wollte  ich  durch  den  Hin- 
weis darauf  verständlich  machen,  dass  der  Begriff  «Gnadenmittel» 
einen  ganz  begrenzten  Sinn  hat  und  nicht  etwa  ohne  weiteres  mit 
«Mittel,  durch  welches  die  Gnade  an  mir  thätig  ist»  gleichbedeutend 
ist.  Und  warum  nicht?  Weil  letztere  Definition  noch  auf  vieles 
Andere  passt.  Gott  dem  Herrn  können  auch  Personen,  ja  Gegen- 
stände zum  Mittel  seiner  Gnadenthätigkeit  werden.  Hier  folgten 
die  Beispiele.  Diese  waren  in  so  fern  ganz  unglücklich  gewählt,  als 
ich  soeben  gesagt  hatte:  «Mittel,  durch  welche  die  Gnade  am 
Menschen  arbeitet».  Die  genannten  todten  Gegenstände  können 
ja  freilich  nicht  «am  Menschen»  wirken.  Im  Eifer  der  Polemik 
verwechselte  ich  Mittel,  durch  welche  Gott  wirkt,  die  also  selbst 
wirkungsfähig  sind,  mit  Gegenständen,  die  in  Gottes  Hand  zu  mit- 
wirkenden Ursachen  von  Ereignissen  werden  können,  die  für  den 


Notizen. 


Zurechtstellung. 


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71C 


Notizen. 


zur  Lebensmacht  der  Schrift  bekennen,  als  wenn  ich  auf  S.  176 
meines  Aufsatzes  sagte  :  cDie  Schrift  ist  Norm  und  kann  es  sein, 
weil  sie  Willen  und  Denken  kraft  ihrer  heil.  Geistesmacht  zu 
unterwerfen  im  Stande  ist.»  Ferner  Seite  177:  «Die  Erfahrung, 
dass  aus  der  heil.  Schrift  bei  der  Arbeit  der  Predigt  Himmels- 
kräfte strömen»  &c. 

Angesichts  dieser  Worte  bedarf  ich  nicht  weiter  der  Ver- 
teidigung. Um  aber  allem  Misverstand  und  Aergernis  die  Wurzel 
abzuschneiden,  bekenne  ich  noch  eigens  den  Glauben,  dass,  wenn 
ein  Christ  sich  glaubend  und  betend  in  die  Schrift  versenkt,  Gott 
selbst  durchs  gedruckte  Wort  zu  ihm  redet  und  an  seinem  Herzen 
wirkt,  sintemal  der  heil.  Geist  nicht  blos  sich  mit  dem  verkündigten, 
sondern  auch  mit  dem  geschriebenen  Wort  verbindet. 

Dieser  Glauben  ist  auch  der  Prof.  Volcks  und  der  theologi- 
schen Facultät  Dorpats. 

Mit  vorliegenden  Zeilen  will  ich  den  Streit  nicht  weiter 
ausspinnen,  sondern  nur  dem  Bedürfnis  folgen,  ein  Versehen  zu 
corrigiren.  J.  Lenz. 


Prof.  Gustav  Kiescritzky,  Die  Entstehung  de»  baltischen  Polytechni- 
kunis und  die  ersten  fünfundzwanzig  Jahre  seines  Bestehens.  Riga. 
1887.    137  S.    Gr.  S\ 


Die  Bedeutung  des  schönen  Festes,  das  am  1.  October  iu 
und  Riga  gefeiert  ist,  spiegelte  sich  in  der  überaus  zahlreichen 
warmen  Theilnabme,  die  der  hervorragenden,  so  glücklich  ge- 
diehenen Lehranstalt,  dem  Schoss-  und  oft  auch  dem  Schmerzens- 
kinde  der  drei  Provinzen  gewidmet  worden.  Ganz  naturgemäss 
und  vollberechtigt  sprach  sich  dabei  vorzugsweise  die  Dankbarkeit 
gegen  die  technische  Landeshochschule  aus  —  denn  wie  vielen  hat 
sie  die  gerade  ihnen  angemessene  Ausbildung  gewährt,  wie  vielen 
die  geeignete  Laufbahn  eröffnet,  welche  sie  sonst  nicht  hätten  ein- 
schlagen köunen ;  wie  befruchtend  hat  sie  auf  das  geistige  Leben, 
die  gewerblichen  Interessen  zunächst  Rigas,  dann  des  Landes  ge- 
wirkt !  Wie  vielen  ist  sie  die  Znsammenfassung  aller  Reize  und 
alles  Glückes  der  Jugendjahre  !  Was  das  baltische  Polytechnikum 
geleistet,  wie  es  die  bei  seiner  Gründung  von  ihm  gehegten  Er- 
wartungen nach  und  nach  in  immer  gesteigertem  Grade  erfüllt 
hat,  wie  seine  Wirksamkeit  allgemach  weit  über  den  erst  vorge- 
sehenen Wirkungskreis  sich  ausgedehnt  —  das  ist  . im  wesentlichen 


718 


Notizen. 


er  anwandte,  seiner  Entdeckung  als  Abendländer  vorzubeugen,  aufs 
anschaulichste  geschildert.  Es  war  das  abgeschlossenste,  wildeste 
Land,  in  dem  der  Europäer,  der  Christ,  als  solcher  dem  Tode  ver- 
fallen war. 

Und  heute  —  welche  Umwandeluug  nicht  nur  in  den  alten 
Cultursitzen  am  Fuss  und  Abhang  des  östlichen  Gebirges,  sondern 
auch  in  der  Wüste  und  Steppe !  So  viele  Nachrichten  über  die 
Veränderungen  auch  zu  uns  gekommen  sind  —  ausser  den  Meldungen 
der  Zeitungen,  den  mannigfachen  Beziehungen  der  dorthin  Aus- 
gewanderten zu  ihren  Angehörigen,  die  zahlreichen  Schriften  über 
diesen  neuesten  Zuwachs  des  russischen  Reichs,  unter  ihnen  das 
klassische  Werk  v.  Middendorffs  über  Ferghanä  —  der  kolossale 
Wechsel,  der  in  Centraiasien  eingetreten,  wird  schwerlich  im  Ver- 
gleich mit  Vamb6rys  Schilderungen  durch  ein  anderes  Buch  so  ins 
Bewusstsein  gebracht,  wie  durch  das  vorliegende  Dr.  Heyfelders. 
Als  Chefarzt  der  Skobelewschen  Expedition  gegen  die  Achal-Teke- 
Turkmeneu,  als  Freund  und  Waffenbruder  des  Generallieutenant 
Annenkow  hat  der  Verf.  Land  und  Leute  und  die  Veränderungen, 
die  sich  mit  denselben  binnen  sieben  Jahren  zugetragen,  gründlich 
keunen  gelernt.  Seine  früheren  Schriften  zusammenfassend  und 
mit  Berücksichtigung  der  erheblichen  neueren  Literatur  über  Trans, 
kaspien  bietet  er  nun  nächst  einer  Topographie  des  Landes,  unter- 
stützt von  zahlreichen  bildlichen  Darstellungen,  eine  Geschichte 
des  merkwürdigen  Bahnbaues,  der  nicht  sowol  durch  die  Ueber- 
windung  von  Terrainschwierigkeiten  —  solche  wurden  wesentlich 
nur  durch  die  grosse  Zahl  der  anzulegenden  Brücken,  3000  auf 
1000  Werst,  repräsentirt  —  als  durch  die  Wüstengegend,  in  der 
er  sich  vollzog,  ausgezeichnet  ist,  durch  die  Erfolge,  welche  sich 
bereits  au  ihn  geknüpft  haben,  und  die  Blicke  in  die  Zukunft, 
welche  sich  durch  ihn  eröffnen. 

In  gedrängter  Uebersicht  der  hierher  gehörigen  Ereignisse 
der  60er  und  70er  Jahre  wird  dem  Leser  ins  Gedächtnis  gerufen, 
wie  es  zur  Skobelewschen  Expedition  von  1880  kam,  wie  Gök-Tepe 
am  12.  Januar  1881  fiel,  am  18.  Aschabad  besetzt  ward,  dann 
aber  die  Diplomatie  sich  ins  Mittel  legte,  Skobelew  abberufen 
wurde  und  tder  von  vielen  gehoffte,  von  vielen  gefürchtete  Zug 
nach  Merw»,  dessen  Turkmenen  mit  den  Achal-Teke  sich  verbündet 
hatten,  unterblieb,  ja  sogar  demonstrativ  desavouirt  wurde.  Der 
Feldzug  hatte  mit  der  Eroberung  der  Achal-Oase  und  der  Voll- 
endung der  strategischen  Bahn  vom  Kaspisee  bis  zum  Westrande 


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720 


Notizen. 


1  in  M  o  r  g  e  n  s  o  n  n  e  n  8  c  h  e  i  n.  Erinnerungen  aus  frohen  Kindertagen.  Für 
Kinder  und  Kiuderfreuude  von  Tante  Alice.  Mit  35  Feder- 
zeichnungen von  Anna  v.  Wah  1.    Dorpat,  Karow.    1887.  8. 

Tante  Alice  ist,  meinen  wir,  sicher  in  so  gutem  Angedenken 
bei  Kindern  und  Kinderfreunden,  dass  sie  dessen  nicht  bedurfte, 
sich  erst  als  Verfasserin  von  t Kleine  Schelme>  auf  dem  Titel  zu 
kennzeichnen.  Auch  die  neuen  Erzählungen,  in  Mit  au  und  Kurland 
sich  zutragend,  sind  so  harmlos  und  allerliebst  aus  einem  fröhlichen 
Kinderleben  gegriffen,  dass  sie  bald  eine  gute  Stätte  finden  werden. 
Ref.  schlagt  sein  Exemplar  nach  diesem  Hinweis  sauber  in  Papier 
und  freut  sich  herzlich,  es  mit  den  ungezwungenen  hübschen  Bildern 
seinen  Kindern  auf  den,  wenn  auch  verspäteten  Weihnachtstisch 
zu  legen. 


Deutsche   Post.     Illusrrirte  Halbmonatsschrift    für  die  Deutschen  aller 
Länder.     Herausg.  von  R.  v.  Mosch  und  .1   E.  Frhr.  v.  Grott 
hu 88.    Erster  Jahrgang.    Vierteljahrlich  2  Mk. 

Dieses  neue  Familienblatt,  vom  deutsch-nationalen  Gedanken 
getragen  und  besonders  allen  Deutschen  in  der  Zerstreuung  ge- 
widmet, ist  in  unserer  Heimat  so  rasch  bekannt  geworden  und  so 
sehr  verbreitet,  dass  zu  dessen  Empfehlung  an  dieser  Stelle  wenig 
zu  sagen  wäre.  Nachdem  wir  seine  Entwickelung  drei  Viertel- 
jahre angeschaut,  gestehen  wir  der  thatkräftigeu  frischen  Redaction 
freudig  zu,  die  rechten  Schritte  zur  Verwirklichung  ihres  edlen 
Planes  ergriffen  zu  haben,  und  wünschen  ihr  überall,  und  besonders 
in  Deutschland  selbst,  festen  Boden  zu  gewinnen.  Fr.  B. 

 H-  «^g^-H  


Berichtigung  n  n  d  Ergänzung. 

In  Heft  7  mnss  es  auf  i>.  574  Z.  2  v.  o.  heissen  :  1622  it.- 1621. 

In  diesem  Heft«  ist  auf  S.  667  Z.  4  v.  o  zu  erganzen :  6  Präpositureu 
(diese  Ziffer  stammt  von  Paucker;  doch  ist  es  nicht  unmöglich,  dass 
Hudbeck  nur  4  Präposituren  schuf;  cf.  die  Synodalbeschlüsse). 


^03BOjeao  neB3ypoD.  —  Peoejb,  2-ro  Hoaöpa  1887. 

C;JrueLt  bei  Lindfora'  Erben  in  Roral. 

\ 


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722 


Polnische  Wirtschaft  in  Livland. 


der  Geschichte  des  Processes  einen  dunkeln  Uebergang  von  dem 
alten,  im  Laufe  derselben  fast  zu  Grunde  gegangenen  Rechte  zu 
der  neuen  Schöpfung  bilde,  welche  der  folgende  (schwedische)  Zeit- 
raum ins  Leben  gerufen  habe.  —  Dieses  abschliessende  Urtheil 
Bunges  möchte  doch  jetzt,  wo  bisher  unzugängliche  Archivstücke 
nach  und  nach  ans  Licht  gezogen  werden,  kaum  mehr  aufrecht 
zu  erhalten  sein.  Der  von  mir  behandelte  Process  giebt  schon 
einige  Anhaltspunkte  dafür.  Zwar  ist  das,  was  wir  aus  ihm  lernen, 
noch  weit  davon  entfernt,  auch  nur  die  wesentlichsten  Theile  des 
processualischen  Gliederbaues  zu  enthüllen.  Allein  nach  dieser 
und  jener  Richtung  hin  hebt  er  doch  so  weit  den  Schleier,  dass 
man  wol  begründete  Vermuthungen  darüber  hegen  kann,  von  welcher 
Seite  her  und  in  welchen  Stücken  sich  Einflüsse  geltend  gemacht 
haben,  denen  das  altlivländische  Gerichtsverfahren  unterlegen  ist. 
So  ist  es  —  um  gleich  auf  einiges  aufmerksam  zu  machen  —  das 
Rechtsmittel  der  Advocation,  besonders  aber  das  Citations-  und 
Insinuationsverfahren  und  neben  ihnen  das  Institut  des  freien  Ge- 
leites, welche  kaum  einen  Zweifel  darüber  zulassen,  dass  wir  es 
hier  mit  Bestandteilen  des  polnischen  Gerichtsverfahrens  zu  thun 
haben. 

Nach  diesen  einleitenden  Bemerkungen  kehren  wir  zu  unserem 
Processe  zurück. 

Strahlborn  war,  wie  wir  gesehen,  im  April  wieder  frei  und 
nach  Reval  zurückgekehrt.  Es  ist  anzunehmen,  dass  seine  münd- 
liche Berichterstattung  und  die  sich  daran  knüpfende  Berathung 
im  Schosse  des  Rathes  zu  entscheidenden  Massnahmen  geführt 
haben.  Was  Mengershausen  schon  früher  von  Dorpat  aus  angerathen 
hatte,  statt  sich  nämlich  vor  den  ordentlichen  Gerichten,  die  dort 
ihren  Sitz  hatten  und  ganz  unter  dem  Einflüsse  der  beklagten 
Partei  standen,  erfolglos  abzumühen,  die  Sache  lieber  sofort  an 
die  höchste  Instanz,  d.  h.  an  den  König  zu  bringen,  scheint  den 
Herren  in  Reval  bald  als  das  allein  Richtige  aufgegangen  zu  sein. 
Denn  kaum  nach  Verlauf  eines  Monats  —  Anfang  Juni  —  wird 
der  Beschluss  gefasst,  diesen  Weg  einzuschlagen  und  deshalb  mit 
einem  Immediatgesuche  beim  König  einzukommen.  Zugleich  werden 
Dellingshausen  und  Buuss  nach  Krakau  delegirt,  um  das  Terrain 
zu  sondiren  und  mit  einem  dortigen  Rechtsgelehrten  über  das 
eventuell  zu  beobachtende  Verfahren  Rücksprache  zu  nehmen.  Die 
Schreiben  an  den  König  sind  vom  2.  resp.  4.  Juni  datirt,  und  zwar 
letzteres  — -  wahrscheinlich  um  ad  oculos  et  aurcs  zu  demonstriren, 


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724 


Polnische  Wirtschaft  in  Livland. 


Zwar  ist  der  Beginn  dieses  Rechtsganges  auf  einen  recht  weit  ab- 
liegenden Termin,  den  10.  Februar  1596,  anberaumt;  dafür  ist 
aber  die  Sprache  dieses  Decrets  eine  ernste  und  strenge  und  die 
Pön  von  20000  rig.  Gulden  auch  nicht  dazu  angethan,  bei  den 
Citirten  Ungehorsamsgedankeu  aufkommen  zu  lassen.  Aber  weit 
gefehlt !  Was  eine  königl.  Ladung  in  dem  polonisirten  Livland  zu 
bedeuten  hatte,  werden  wir  gleich  sehen. 

Den  mit  den  Fallgruben  und  Schleichwegen  des  polnischen 
Gerichtsverfahrens  damaliger  Zeit  vertrauten  Pei*sonen  war  es  sehr 
wohl  bekannt,  was  alles,  auch  da,  wo  es  sich  um  eine  königliche 
Citation  handelte,  zu  beobachten  und  zu  thun  sei,  um  zum  Ziel 
zu  gelangen.  In  Reval  scheint  man  von  allen  diesen  Dingen  wenig 
gewusst  zu  haben,  und  daher  hat  es  wol  der  Rechtsbeistand  Bruns- 
wig, an  den  man  sich  von  hier  aus  nach  Krakau  gewandt  hatte, 
für  nothwendig  gehalten,  ein  sehr  detaillirtes  Gutachten  abzugeben. 
Dasselbe  berührt  die  eben  von  mir  als  neue  Bestandteile  des 
polnisch-livländischen  Gerichtsverfahrens  bezeichneten  Institute  der 
Citation  und  Insinuation,  sowie  des  sicheren  Geleites  (salvus  con- 
ducius)  so  eingehend,  dass  schon  im  rechtshistorischen  Interesse 
wenigstens  eine  theilweise  Wiedergabe  dieses  Gutachtens  nöthig 
ist.  Letzteres  hat  die  Form  eines  Schreibens  an  Caspar  Dellings- 
hausen und  trägt  das  Datum  Krakau,  30.  August  1595. 

Im  Eingange  desselben  spricht  sich  Brunswig  über  die  weh 
günstigere  Lage  des  Processes  aus,  nachdem  Se.  Maj.  «als  denen 
viel  daran  gelegen,  damit  nicht  durch  solche  gewaltsame  Attentaten 
und  Vorgreifungen  zwischen  I.  M.  beiden  Königreichen  ein  Miss- 
verstandt  eingeführet  werde,  quasi  ex  proprio  motu  die  ganze  Sache 
mit  allen  annexis  ei  dependentibus  zu  sich  abgefordert  und  ge- 
heischen haben,  wie  auch  in  des  Seligen  Herrn  Ficken  Sache  mit 
den  Rigaschen'  geschehen  ist  > ,  besagten  Process  auf  dem  Wege  der 
Advocation  an  sich  habe  gelangen  lassen.  Der  Process  werde  da- 
durch viel  kürzer  und  auch  weniger  kostspielig.  Strahlborn  müsse 
sich  unbedingt  persönlich  zum  Termin  beim  königl.  Hofe  einstellen. 
Für  einen  guten  procurator,  der  ihm  zur  Seite  stehe,  werde  er 
sorgen.  Ueber  den  höchst  complicirten  Modus  der  Insinuation 
spricht  sich  der  Briefsteller  folgendermassen  aus:  «Sobald  E.  L. 
werden  zu  Danzigk  kommen,  wollen  Sieden  Secretarium  Michaelem 

•  Wol  der  ans  dem  Rigaschen  KalcnderHtreit  bekannte  Rathsherr  Ficke, 
der,  vom  Rathe  seiner  Güter  beraubt,  dnrch  königl.  Itnmediatentseheidnng  in 
seinen  Besitz  restitnirt  wurde.    Richter  Thi.  II,  S.  123. 


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726 


Polnische  Wirthschaft  in  Livland. 


denegatac  insinuationis  der  Landbote  im  Beisein  der  beiden  vom 
Adel  den  sahum  conductum  auf  dem  Markte  ablesen  und  ausrufen. 
Und  von  allem,  was  also  verlaufen  und  zur  Antwort  gegebeu  wird, 
ist  in  der  nächsten  Stadt,  wie  oben  gesagt,  einzuzeugen  und  Beweis 
davon  aufzunehmen.  —  Mit  dem  Hrn.  Wrangell  muss  auch  similis 
Processus  gehalten  werden  und  ihm  auch  ein  Vidimus  des  sfilvi 
conducti  insinuirt  und  er,  wie  oben,  gefragt  werden.  —  Belangend 
die  Advocation,  die  muss  derselbe  Landbote  in  Gegenwärtigkeit 
der  Zwei  vom  Adel  im  Original  dem  Hrn.  Oekonomus  insinuireu 
und  dem  Hrn.  Wrangell  das  eine  Vidimus  übergeben  und  der  Herr 
Abgesandte  behalte  das  andere  Vidimus,  dasselbe  zu  zeigen  in  der 
nächsten  Stadt  und  allda  durch  den  Landboten  und  die  Zwei  vom 
Adel  einzuzeugen,  dass  sie  ein  gleichlautendes  Original  dem  Hrn. 
Oekonomus  auf  die  und  die  Zeit  und  dem  Hrn.  Wrangell  ein  gleich- 
lautendes Vidimus  insinuirt  haben.    Und  uuter  derselben  Stadt 
Eingesiegel  muss  der  Befehlshaber  des  Landboten  Relation  und  der 
zwei  Edelleute  Gezeugnisse  de  insinuata  advocatione  ausnehmen, 
darein  a  vcrbo  ad  vcrbum  die  Advocation  muss  inserirt  werden  und 
was  ein  jeder  darauf  geantwortet  hat.    Ist  keine  Stadt  so  nahe, 
so  geschehe  es  vor  irgend  einem  Hauptmanne  auf  dem  nächsten 
Schlosse  und  werde  die  Relation  unter  seinem  Sigill  aufgenommen. 
Besser  aber  wäre  es  vor  einem  Stadtgerichte,  weil  die  ad  causas 
judiciales  geschworen  seindt.  >  —  Weitere  Rathschläge  des  krakauer 
Juristen  gehen  dahin,  gleichzeitig  mit  den  bereits  genannten  Schrift- 
stücken der  beklagten  Partei  auch  eine  varratio  facti  violenti  und 
eine  Aufforderung  zur  Assistenz  bei  der  Zeugenvernehmung  zu 
insinuiren,  bei  verweigerter  Entgegennahme  auch  hier  wo  gehörig 
Protest  zu  erheben.    Der  vom  Könige  anberaumte  Termin  sei  ein 
peremtorischer  und  nicht  nach  dem  alten ,  sondern  nach  dem  neuen 
Kalender  zu  verstehen.     Die  von  Strahlborn  gemachte  Hand- 
streckung —  bemerkt  Brunswig  schliesslich  —  möge  ihn  nicht 
bekümmern,  denn  da  sie  per  vim  metu  carceris  abgezwungen  worden, 
sei  sie  nicht  bündig. 

Verweilen  wir  jetzt  einen  Augenblick  bei  den  Rathschlägen 
des  krakauer  Juristen,  um  an  der  Hand  der  in  ihnen  zu  Tage 
tretenden  Rechtsanschauungen  einerseits  dem  Gewinne  nachzugehen, 
der  sich  etwa  aus  ihnen  für  die  Kenntnis  des  polnisch-livländischen 
Processes  ergeben  könnte,  andererseits  den  revalschen  Delegirteu 
ein  Horoskop  für  ihr  weiteres  Vorgehen  in  Dorpat  zu  stellen. 

Was  zunächst  jenen  Gewinn  betrifft,  so  reducirt  er  sich  wol 


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728 


Polnische  Wirthschaft  in  Livland. 


Welie  dem  Armen,  der  mit  dem  salvus  conductus  in  der  Hand  ihn 
weder  bei  seinem  prozessualischen  Gegner,  noch  bei  irgend  einer 
Gerichtsbehörde  an  den  Mann  zu  bringen  vermocht  hat.  In  steter 
Gefahr,  ohne  stattgehabte  Uebergabe  des  Geleitsbriefes  allen  mög- 
lichen Hindernissen  und  Fährlichkeiten  am  fremden  Orte  ausgesetzt 
zu  sein,  mochte  er  es  versuchen,  von  Stadt  zu  Stadt  oder  von 
Schloss  zu  Schloss  zu  ziehen,  bis  es  ihm  gelang,  eine  gerichtliche 
Beurkundung  oder  eine  Veröffentlichung  mittelst  Ausrufens  auf 
dem  Markte  zu  Wege  zu  bringen.  Bis  dahin  haftete  ihm  so  ein 
Stück  von  Vogelfreiheit  an.  Alle  diese  Dinge,  welche  unbedenk- 
lich als  Entartungen  von  Instituten  und  Rechtsbehelfen  zu  charakte- 
risiren  sind,  welche  in  ihrer  ursprünglichen  Form  auch  anderen 
als  dem  polnischen  Rechtsgebiete  bekannt  waren,  möchten  wol  auf 
eine  gemeinsame  Quelle,  nämlich  auf  das  Bestreben  oder  richtiger 
die  Begehrlichkeit  zurückzuführen  sein,  die  zwingende  Macht  von 
Gesetz  und  Recht  demjenigen,  der  sie  an  sich  zu  erfahren  in  der 
Lage  war,  so  lange  wie  möglich  fern  zu  halten.  Man  könnte  ver- 
sucht sein,  den  schon  gehörten  Ausspruch  des  krakauer  Juristen  : 
cSagt  er  (der  Gegner)  Ja,  dann  ist  es  gut;  sagt  er  Nein,  so  ist 
zu  protestiren » ,  zur  Devise  des  damaligen  polnischen  Gerichts- 
verfahrens überhaupt  zu  erheben.  Ihr  wahrer  Sinn  ist :  die  recht- 
suchende Partei  ist  so  ziemlich  der  Willfahrigkeit  ihres  Gegners 
preisgegeben  ;  fehlt  diese,  so  mag  sie  zuseheu,  wie  weit  sie  mit 
einem  Proteste  kommt.  Wer  denkt  dabei  nicht  an  das  liberum  veto 
des  polnischen  Reichstags  und  an  die  falsche  Freiheit  des  Einzelnen 
gegenüber  der  zwingenden  Macht,  die  der  Staatsgewalt  gebührt! 

Standen  aber  die  Dinge  damals  so,  dass  die  beklagte  Partei 
sich  ganz  auf  legalem  Boden  befand,  wenn  sie  den  Versuch  machte, 
dem  Kläger  noch  vor  Beginn  des  Processes  das  Leben  so  sauer 
zu  machen,  dass  er  lieber  von  ihm  abstehen  möchte  —  was  Wunder, 
dass,  wenn  jene  Partei  zugleich  die  politische  Macht  in  Händen 
hatte,  der  Gang  der  rechtsuchenden  Partei  zu  einem  wahrhaft 
dornenvollen  wrerden  konnte  ! 

Und  das  war  in  unserem  Processe  der  Fall.  Schenking,  schon 
als  polnischer  Statthalter  des  dorpater  Stifts  und  als  Präses  des 
Schlossgerichtes  von  Rechts  wegen  ein  Mann  von  Macht  und  Ansehen, 
erfreute  sich  noch  durch  seine  nahen  Beziehungen  zum  Grosskanzler 
weitreichenden  Einflusses  in  den  höchsten  Sphären  polnischer  Macht- 
haber. Hermann  Wrangeil  war  sich  dessen  bewusst.  dass,  wenn 
er  auch  in  seiner  amtlichen  Stellung  wenig  zu  sagen  hatte,  er  von 


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4 

730 


Polnische  Wirthschaft  in  Livland. 


Anstatt  das  zu  thun.  begeben  sich  die  genannten  beiden  Vertreter 
des  dorpater  Raths  wiederum  zu  Schenking.  Auch  hier  wieder 
mehrmals  abgewiesen,  erhalten  sie  endlich  Zutritt  und  bei  dieser 
Gelegenheit  folgenden  Bescheid.  Es  nehme  ihn  Wunder  —  erklärt 
ihnen  Schenking  —  dass  der  Rath  der  Stadt  Dorpat  sich  dieser 
Sache  also  annehme.  Demnach  er  aber  eine  adelige  Person  sei, 
die  im  öffentlichen  Amte  sässe  und  es  wider  des  Reichs  Polen  Con- 
stitution wäre,  einen  vom  Adel  also  anschlagen  und  ausrufen  zu 
lassen,  und  geschehe  solches  nur  dann,  wenn  man  «  Vermahn»  er- 
halten und  der  König  die  c  vermahnte  >  Person  wieder  ehrlich  machen 
wollte.  —  «Als  protestire  er  dagegen,  falls  E.  E.  R.  der  Stadt  Dorpat 
den  salvus  conductus  publiciren  und  öffentlich  ausrufen  lassen  wolle. 
Denn  es  geschehe  ihn»  dadurch  Hohn,  Spott  und  Injurie.  Wollte 
auch  zugleich  dem  Hrn.  Grosskanzler  seine  Hoheit1  vorbehalten 
haben.  Auch  wftre  der  salvus  conductus  nur  ein  Stylus  cancellariae  (!) 
und  auf  einen  unrechten  Bericht  also  ausgebracht.»  —  cWie  wir 
nun  höhnisch  von  dannen  gekommen»  —  erzählen  die  Dorpater 
ihren  revaler  Collegen  —  «hat  ein  guter  Freund  fleissig  gewarnt, 
wir  sollten  bei  Leibe  nicht  mehr  persönlich  zum  Hrn.  Oekonomus 
gehen.  Denn  er  es  vor  gewiss  wüsste,  dass  uns  auf  den  Fall  ein 
Schimpf  widerfahren  würde,  wie  uns  denn  auch  sonsten  die  Secretare 
Unbereit  und  Ferinus  (letzterer  vom  Prasidiatgericbte)  abgeratheil, 
in  Betrachtung,  dass  wir  bei  solchem  Acte  nichts  schaffen  oder 
ausrichten  würden  oder  könnten. »  Dieser  Rath  scheiut  den  Revaleru 
eingeleuchtet  zu  haben  ;  denn  am  20.  November  gehen  sie  nicht 
selbst,  sondern  schicken  den  Woszny  mit  den  früher  genannten 
Geleitspersonen  und  ausser  ihnen  einen  Diener  Namens  Herniauu 
Junge.  Der  Ausgang  dieser  Mission  ist  der  frühere.  «Als  sie  in 
das  Haus  haben  eingehen  wollen»  —  heisst  es  im  Berichte  — 
«hat  man  sie  ausgestossen  und  die  Thür  vor  der  Nasen  zuge- 
schlossen.» Nun  rafft  sich  der  dorpater  Rath  noch  einmal  aut. 
Wieder  sind  es  Mengershausen  und  der  Rathssecretar,  welche  sich 
auf  den  Weg  raachen.  Ein  glücklicher  Zufall  ermöglicht  ihnen 
ein  Zusammentreffen  mit  Schenking.  Letzterer  beräth  sich,  nach- 
dem er  erfahren,  um  was  es  sich  handelte,  mit  seinen  Freunden 
uud  eröffnet  darauf  den  Erschienenen  :  obschon  Strahlborn,  da  er 

1  Darunter  ist  <lie  Justizhoheit  gemeint,  welche  dem  Grosskanzler  als 
höchster  jndieiaren  Autorität  im  dorpater  Stifte  innewohnte,  ein  hequemer  Schlupf- 
winkel für  Competenzfragen,  der  jedesmal  aufgesucht  wird,  wenn  Schenking  ge 
fasst  werden  noll. 


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732 


Polnische  Wirthschaft  in  Livlaml. 


an  den  Tisch,  an  dem  Schenking  sitzt,  und  sagt  auf  polnisch : 
er  habe  königliche  Briefe  abzugeben.  Schenking  lässt  ihn  nicht 
weiter  reden,  sondern  «verblüffte*  ihn  —  wie  es  im  Berichte  heisst 
—  mit  der  Frage,  wer  und  was  er  sei.  Es  wird  ihm  die  ge- 
bührende Antwort  gegeben,  worauf  Schenking  sich  an  seinen  Diener 
mit  dem  Bemerken  wendet,  was  für  Volk  sie  doch  hereingelassen 
hätten,  sie  sollten  doch  die  Thür  besser  zuhalten.  Dass  die  Urkunds- 
personen Adelige  seien,  findet  bei  Schenking  keinen  Glauben,  da 
seine  Umgebung  sie  nicht  zu  kennen  vorgiebt  Wo  sie  denn  besitz- 
lich seien,  ist  die  weitere  Anfrage  Schenkings  und,  als  darauf  keine 
sofortige  Antwort  erfolgt,  seinerseits  die  Erklärung,  nur  solche 
Adelige  eigneten  sich  zu  Urkundspersonen,  die  Land  und  Leute 
ihr  eigen  nennen  könuten.  Zum  Woszny  gewandt,  entblödet  sich 
Se.  Gnaden  nicht,  ihm  auf  seine  Antwort,  er  sei  von  Amts  wegen 
da,  um  den  königlichen  Brief  zu  übergeben,  ein  «du  lügst!»  an  den 
Kopf  zu  werfen.  Am  schlimmsten  erging  es  dem  armen  Hermann 
Junge.  Nicht  nur  muss  er  hören,  dass  er  ein  revalscher  Bauer  und 
höchstens  Stubenjunge  und  sein  Platz  auf  dem  Hofe,  wo  er  ge- 
wartet habe,  sei,  sondern  dass  er  für  die  Frechheit  seines  Er- 
scheinens in  den  Gemächern  eines  polnischen  Statthalters  Prügel 
verdiene.  So  ziehen  denn  alle  unverrichteter  Sache  wieder  ab ; 
nur  Junge  wird  in  den  Hof  gebracht,  dort  von  Heiducken  umstellt, 
die  ihn  erst  nach  mehrstündigem  Warten  wie  einen  Gefaugenen  zu 
seiner  Herberge  escortiren. 

Damit  war  denn  die  Mission  der  revaler  Delegirten  in  Dorpat 
beendet.  Was  nun  folgt,  sind  Proteste  und  notarielle  Beurkundungen. 
Die  Delegirten  protestiren  beim  dorpater  Rathe  und  beim  Schloss- 
gerichte, Schenking  und  Wrangeil  beim  Präsidiatgerichte,  beide 
Parteien  geben  noch  zum  Ueberflusse  Erklärungen  beim  Notar  ab. 
Die  darüber  theils  in  lateinischer,  theils  in  deutscher  Sprache 
extrahirten  Beurkundungen  bilden  keine  geringe  Zahl  des  umfang- 
reichen Actenmaterials1.    Inhaltlich  bringen  sie  nichts  Neues. 

Zu  erwähnen  ist  auch  noch,  dass  die  Weiterungen  und  Bruta- 
litäten, welche  die  Revaler  betroffen,  in  der  dorpater  Bürgerschaft 
einen  solchen  Uumuth  hervorriefen,  dass  sie  eine  Massendeputation 
an  den  Rath  abschickte,  welche  ihr  Misfallen  an  dem,  was  vor- 
gefallen war,  zu  erklären  hatte. 

1  Die  Xotariatsinstrumente  und  alle  lateinisch  und  anffallenderweisc  im 
\amen  der  romiseh  kaiserlichen  Majestät,  deren  ganzer  Titel  auf  keinem  derselben 
fehlt,  ohne  Erwähnung  des  Königs  von  Polen  ausgefertigt 


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734  Polnische  Wirtschaft  in  Livland. 

Dieser  Hinweis  veranlasste  den  revaler  Rath,  an  den  schwedi- 
schen Statthalter  Boje  die  Bitte  zu  richten,  seinerseits  dahin  zu 
wirken,  dass  wenigstens  bei  der  Zeugenvernehmung  die  polnischen 
Einflüsse  paralysirt  würden.  Das  geschieht  denn  auch.  Boje 
macht  zwei  Edel leute  willig,  mit  dem  vom  Rathe  dazu  ausersehenen 
Secretär  Hünerjäger,  welchem  zugleich  die  JS'otariatsqualität  atte- 
stirt  wird,  nach  Dorpat  zu  reisen,  um  die  vom  polnischen  Gerichts- 
verfahren auch  bei  der  Zeugenvernehmung  geforderte  Function  von 
Urkundspersouen  zu  übernehmen.  Eine  so  gewichtige  Intercession 
scheint  denn  doeli  auf  Se.  Gnaden  die  erhoffte  Wirkung  ausgeübt 
zu  haben,  da  wir  aus  den  Acten  ersehen,  dass  die  für  den  weiteren 
Fortgang  des  Processes  so  wichtige  Vernehmung  schliesslich 
ordnungsmässig  zu  Stande  gekommen  ist. 

Dieser  weitere  Fortgang  führt  uns  jetzt  nach  Warschau,  wo- 
hin sich  auch  Strahlborn  in  Begleitung  von  Dellingshausen  und 
Boismann  einer-  und  Schenking  andererseits  begeben.  Wie  es  ge- 
kommen, dass  letzterer  trotz  seiner  in  Dorpat  offen  an  den  Tag 
gelegten  Ungehorsamsgedanken  und  seiner  Machinationen  wider  das 
königliche  Edict  sich  dennoch  in  Warschau  rechtzeitig  gestellt  hat, 
findet  in  den  Acten  keine  Aufklärung.  Nicht  unwahrscheinlich 
ist  es  ja,  dass  er  in  elfter  Stunde  doch  nicht  das  Risico  hat  laufen 
wollen,  die  Verhöhnung  des  königlichen  Befehls  auf  die  Spitze  zu 
treiben.  Der  vom  Könige  auf  den  10.  Februar  1596  anberaumte 
peremtorische  Termin  scheint  übrigens  verlängert  worden  zu  sein, 
denn  nach  den  Protokollauszügen  hat  die  Verhandlung  erst  im 
April  begonnen.  Da  meines  Wissens  protokollarische  Aufnahmen 
von  Verhandlungen  vor  dem  höchsten  Gerichte  (sog.  Hof-  oder 
Assessoratsgerichte)  Polens  in  livländischen  Sachen  noch  nie  durch 
den  Druck  bekannt  geworden  sind,  ihre  Kenntnisnahme  aber  nicht 
ohne  rechtshistorischen  Werth  ist,  so  halte  ichs  für  unerlässlich, 
den  Wortlaut  des  Protokolls  in  Nachstehendem  wiederzugeben. 

Die  Ueberschrift  des  (in  lateinischer  Sprache  mit  deutscher 
Uebersetzung  vorliegenden)  Schriftstücks  lautet  nach  letzterem 
Texte:  <Das  Register  der  livländischen  Sachen.  Job.  Stralborn, 
Revalischer  Richter,  wider  Georg  Schenking,  Dorbtischen  Oekono- 
mus,  und  Hermann  Wrangell.»  Daran  schliesst  sich  artikelweise 
Folgendes  : 

1)  Anno  1596.  6.  April is,  styl.  nov.  16.  Georg  Schen- 
king, dorptischer  Oekonomus,  und  Herrn.  Wrangell  als  Citirte 
und  Geladene  wider  Johann  Stralborn,  Revalschen  Richter. 


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730 


Polnische  Wirtschaft  in  Livland. 


Der  Grossmächtige  Herr  Grosskanzler  ist  mit  der  Prote- 
station und  Bedingung  seines  Rechts  und  Gerichts  abgetreten. 
4)  Vorbehaltlich  und  unverfänglich  des  Grossmächtigen  Herrn 

Gross-Canzlers  als  des  örtlichen  Hauptmanns-Gerichts  und  Gerichts- 

zwangs». 

Demnach  der  Kläger  selbst  mit  etwan  früheren  Reden  Ur- 
sach zu  diesem  Hader  gegeben,  derenthalben  ist  der  Oekonomus 
nicht  zu  beschuldigen,  dass  er  Klägern  zu  sich  gefordert.  Dass 
er  ihn  aber  auf  des  Klägers  Angaben  etwas  langes  mit  Verhaftung 
aufgehalten  und  die  durch  Klägern  zugeschickte  Obligation  oder 
Verschreibung  nicht  annehmen  wollen,  dafür  soll  zuförderst  der 
Oekonomus  schwören,  dass  er  gemeiuet,  dass  dies  die  rechte  Form 
des  Rechtens  gewesen  und  dass  er  mit  gutem  Gewissen  zu  dem 
Process  geschritten.  Darnach  soll  auch  der  Oekonomus  zur  Er- 
stattung der  Schäden  und  expens  dem  Kläger  zahlen  600  Thaler. 
Der  Wrangell  aber,  so  Ursach  zu  dieser  langen  Bestrickung  ge- 
geben, soll  an  demselben  Ort,  so  Kläger  gesessen,  so  lange  Zeit 
wie  Kläger  in  gefänglicher  Haft  gehalten  werden.  Es  soll  auch 
hinfüro  in  beiden  Städten  die  Kaufmannschaft,  Handel  und  Wandel 
frei  und  vehlich  im  Schwange  gehen,  damit  daselbst  als  zwischen 
eines  Königes  Unterthanen  nachbarliche  Freundschaft,  Fried  und 
Einigkeit  erhalten  werden. 

Beide  Theile  appelliren. 

Der  König,  an  deu  die  Appellation  gegangen  ist,  hat  auf 
Grund  einer  Relation  des  sog.  Relatiousgerichts  mittelst  Decrets 
vom  1.  August  1596  das  Erkenntnis  des  Assessorats-Gerichts  im 
Wesentlichen  bestätigt,  jedoch  mit  den  Abänderungen,  dass  die 
von  Schenking  zu  erlegende  Ersatzsumme  von  700  auf  1000  Thlr. 
zu  erhöhen  sei,  dass  Wrangell  statt  in  demselben  Haftiocale,  in 
dem  Strahlborn  seine  Bestrickung  ausgehalten,  auf  dem  Pernau- 
schen  Schlosse  zu  sitzen  habe  und  dass  die  von  Strahlborn  aus- 
gestellte Handstreckung  oder  Obligation  zu  kassiren,  das  Haus 
des  Rathsherrn  Lindhorst  in  Dorpat  aber,  in  dem  Strahlborn  ge- 
wohnt, sofort  von  den  daselbst  einquartierten  Heiducken  zu  be- 
freien sei.  Aus  der  sehr  umfangreichen  Sentenz,  welche  nach  einer 
Geschichtserzählung  Inhalt  und  Erwägungen  des  angefochtenen 
Erkenntnisses  kurz  wiedergiebt,  möchte  nachstehender  sich  auf  die 
Reformirung  jenes  Erkenntnisses  bezügliche  Passus  hier  zu  re- 


1  Hieruuter  ist  «Irr  in  der  Note  pag.  730  erwähnte  «Schlupfwinkel*  gemeint. 


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738 


Polnische  Wirthsehaft  in  Livland. 


bezeichnet,  die  ganze  Sehuldfrage  vieiraehr  von  einem  Schwüre  ab- 
hängig gemacht  worden  ist,  den  der  Angeklagte  lediglich  von  dein 
ganz  subjectiven  Gesichtspunkte  aus  abzulegen  hatte,  ob  er  sein 
Verfahren  als  in  den  Rechten  und  Gerechtsamen  seines  Amtes  be- 
gründet und  als  den  Grundsätzen  des  polnischen  Gerichtsverfahrens 
conform  halte.  Zusammengehalten  mit  der  Wrangeil  zu  Theil  ge- 
wordenen Strafmilderung,  die  darin  bestand,  dass  er  seine  9  Wochen 
in  einer  «besonderen  Stube»,  also  wol  in  einem  ganz  comfortablen 
Gemache  des  pernauschen  Schlosses  statt  in  dem  gesundheitsschäd- 
lichen Verliesse,  in  das  man  Strahlborn  eingeschlossen,  abzusitzen 
hatte,  hinterlässt  die  ganze  Sentenz  doch  wol  nur  den  Bindruck, 
dass  das  livländische  Renegatenthum  jener  Tage  wol  allen  Grund 
gehabt  haben  muss,  mit  dem  Ausgange  des  Strahlbornschen  Pro- 
cesses  zufrieden  zu  sein.  Freilich  darf  man,  so  weit  es  sich  dabei 
um  ein  Urtheil  über  Sigismund  handelt,  nicht  vergessen,  dass  er 
eben  der  schwache  Trager  jenes  königlichen  Doppelreifs  gewesen, 
dessen  Bürde  seinem  kurzsichtigen  Vater  thörichterweise  als  eine 
*spcs  utriusque  regni»  vorgeschwebt  hatte.  Versetzt  man  sich  an 
seine  Stelle,  so  muss  man  sich  doch  zu  der  Anerkennung  verstehen  : 
er  und  seine  Umgebung  haben  durch  ihren  Urtheilsspruch  mehr 
Gerechtigkeitssinn  bethätigt,  als  man  von  ihnen  erwarten  konnte! 

Die  Geschichte  hat  ja  auch  des  Prophetenamts  ex  post  zu 
walten,  und  mag  es  mir  daher  zum  Schlüsse  noch  gestattet  sein, 
ein  Wort  darüber  zu  sagen,  welches  Schicksal  der  polnischen 
Politik,  wie  sie  uns  auch  in  diesem  Processe  in  so  grellen  Zügen 
entgegentritt,  zunächst  mit  Bezug  auf  Livland.  dann  aber  auch 
auf  Schweden  vorausgesagt  werden  musste.  Die  gewaltsame  und 
oft  in  so  gehässiger  Weise  unternommene  Polonisirung  Livlands 
hat  nicht  zum  Ziel  geführt  und  konnte  nicht  zum  Ziele  fahren 
Die  besonders  nach  Sigismund  August  sowol  auf  kirchlichem  als 
politischem  Gebiete  dahin  abzielenden  Versuche  haben  nur  dazu 
beigetragen,  Livland,  statt  es  zu  einem  Bindegliede  zwischen  Polen 
und  Schweden  zu  machen,  Schweden  in  die  Arme  zu  treiben.  Dabei 
hat  sichs  erwiesen,  dass  Kern  und  Wesen  der  alt-üvländischen 
Colonie  trotz  vielfacher  Umgestaltung,  welche  jene  verderbliche 
Politik  unter  Anwendung  von  List  und  Gewalt  während  eines 
Menschenalters  zuwege  gebracht,  sobald  ihre  Herrschaft  ein  Ende 
genommen,  unerschüttert,  ja  unberührt  in  ihrer  Eigenartigkeit 
wieder  zur  Geltung  gelangt  sind  und  sich  darin  erhalten  haben  bis 
in  die  jüngsten  Tage. 


[e 


Taras  Grigorjewitsch  Schewtschenko. 

Biographisch  kririBche  Skixse  eines  Heinrnniacheii  Dichterlebens. 

n. 

L  Individuelle  Charakteristik. 

us  dem  ganzen  Leben  Schewtschenkos  leuchtet  hervor,  dass 
er  ein  durchaus  starker,  selbständiger  Charakter  war. 
Trotz  des  Undanks  und  des  Hohnes,  den  er  erntete,  trotz  der  viel- 
fachen moralischen  wie  physischen  Züchtigungen  wandelte  er  un- 
erschrocken den  Weg  weiter,  den  er  einmal  aus  Ueberzeugung  ein- 
geschlagen hatte.  Reich  begabt  mit  Energie  und  geistigen  Kräften 
muss  schon  der  Knabe  gewesen  sein,  der  sich  herausgearbeitet  hat 
aus  Verhältnissen,  in  denen  er  Eindrücke  empfing,  die  geeignet 
waren,  bereits  in  zartem  Alter  seine  junge  Seele  für  immer  zu  er- 
tödten.  Alle  Lebensunfälle  kannte  er  nicht  vom  Hörensagen, 
sondern  hatte  sie  selbst  an  sich  erfahren.  Seine  Entwickelung  und 
seine  Bildung  haben  ihm  selbst  fast  nur  dazu  gedient,  das  Herb- 
traurige seiner  Existenz  ihn  desto  tiefer  fühlen  zu  lassen.  Er 
selbst  schreibt  ein  Jahr  vor  seinem  Tode :  <Wenn  ich  mein  ver- 
flossenes Leben  überblicke,  so  zuckt  mir  das  Herz  im  Leibe.  Wie 
viel  verlorene  .Jahre !  Wie  viel  verwelkte  Blumen !  Und  was  habe 
ich  vom  Schicksal  für  alle  meine  Anstrengungen  nicht  unterzugehen 
errungen?  Beinahe  nur  die  schreckliche  klare  Erkenntnis  meiner 
Vergangenheit  \> 

Die  in  freudloser  Knechtschaft  verflossene  Kindheit  und  Jugend 
des  Dichters,  seine  spatere  langjährige  Verbannung,  sie  vermochten 


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742 


Taras  Grigorjewitsch  Schewtschenko. 


ein  Mensch  in  der  Noth,  bedarf  er  unserer  Hilfe,  so  wird  er  unser 
nächster  Bruder,  ohne  Unterschied  der  Nation,  ohne  Unterschied 
der  Religion.  »> 

Der  Gedauke  an  die  damalige  gedrückte  Lebenslage  des  ein- 
lachen Volkes  quälte  ihn  beständig  und  vergiftete  ihm  bisweilen 
seine  schönsten  Stunden.  «Einst,»  erzählt  Tschushbinski,  «waren 
wir  zu  einem  Gutsbesitzer  in  der  Ukraine  eingeladen,  der  nicht 
hinter  seinen  Nachbarn  zurückbleiben  wollte  und  dem  berühmten 
Dichter  zu  Ehren  ein  Festessen  veranstaltet  hatte.  Als  wir  uus 
im  Vorhause  unserer  Mäutel  entledigen  wollten,  waren  wir  zufällig 
Zeugen,  wie  unser  Gastgeber  den  daselbst  eingeschlafenen  Diener 
in  äusserst  brutaler  Weise  weckte.  Taras  erröthete,  nahm  seine 
Mütze  und  fuhr  nach  Hause.  Vergeblich  waren  alle  Bitten,  ihn 
zur  Rückkehr  zu  bewegen.»  —  Seine  tiefe  Humanität  bewährte 
sich  in  jeder  Handlung ;  sogar  auf  Thiere  übertrug  er  eine  gewisse 
Zärtlichkeit;  so  verteidigte  er  häufig  junge  Katzen  und  Hunde 
gegen  den  Muthwillen  der  Strassenjugend ;  häufig  kaufte  er  Vögel 
mit  dem  Zwecke,  ihnen  die  Freiheit  wieder  zu  schenken. 

Das  Aeussere  des  Dichters  schildert  uns  derselbe  Freund,  der 
mit  ihm  1843  in  Poltawa  bekannt  wurde,  folgendermasseu  :  «Schew- 
tschenko war  von  mittlerem  kräftigen  Wüchse ;  auf  den  ersten 
Blick  erschien  sein  Gesicht  als  ein  ganz  gewöhnliches ;  die  Augen 
hatten  aber  einen  so  klugen  Ausdruck  und  einen  so  ungewöhnlichen 
Glanz,  dass  sie  unwillkürlich  die  Aufmerksamkeit  auf  sich  zogen. 
War  er  von  Natur  so  vorsichtig,  oder  war  er  es  in  Folge  seiner 
traurigen  Lebenserfahrung  geworden,  er  liebte  es  nicht,  bei  aller 
seiner  scheinbaren  Aufrichtigkeit,  sein  Herz  auszuschütten.  Als 
ich  ihn  18(30  in  St.  Petersburg  wiedersah,  hatte  er  sichtlich  ge- 
altert, seine  Miene  war  stets  ernst,  ja  traurig,  möchte  ich  sagen, 
nur  seine  Augen  hatten  jenen  Ausdruck  und  Glanz  beibehalten, 
in  dem  sich  seine  Gedankentiefe  und  sein  reges  Gemüth  wieder- 
sniegelten . » 

Er  liebte  sehr  weiblichen  Umgang,  erst  in  Damengesellschaft 
wurde  er  so  recht  munter ;  auch  mochte  er  sehr  Musik  hören,  oder 
er  sang  selbst  mit  seiner  sonoren  Stimme  die  klagereicheu  ukraiuer 
Lieder.  Eine  Hauptliebhaberei  Schewtschenkos  war  es  aber  immer, 
sich  mit  Kindern  abzugeben.  Er  setzte  sich  häufig  zu  ihnen 
und  erzählte  ihnen,  nachdem  er  ihre  Schüchternheit  überwunden 
und  ihr  Zutrauen  gewonnen  hatte,  Märchen,  oder  er  sang  ihnen 
Kiuderlieder  vor,  deren  er  einen  ganzen  Schatz  iu  sich  hatte.  Nie- 


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Taras  Grigorje  witsch  Schewtschenko. 


dem  der  Dichter  1845  in  Kiew  bekannt  wurde,  urtheilt  über  diesen 
Ton  tolgendermasseu  :  c  Einst  las  mir  Schewtschenko  seine  unge- 
druckten Gedichte  vor.  Schrecken  erfasste  mich:  der  Eindruck, 
den  dieselben  auf  mich  machten,  erinnerte  mich  lebhaft  an  die 
Schillersche  Dichtung  <  Das  verschleierte  Bild  von  Sais>.  Ich 
sah,  dass  die  Muse  Schewtschenkos  den  Schleier,  mit  welchem  das 
Leben  des  Volkes  umhüllt  war,  auseinauderriss.  Und  schrecklich 
und  süss,  schmerzlich  und  berauschend  war  das,  was  man  er- 
blickte !  !» 

Aus  diesem  Tone  klang  es  klar  hervor,  dass  der  Dichter 
nicht  in  seinem  Namen  sprach,  sondern  im  Namen  derer,  die  ihn 
gesandt  haben ;  dass  er  nicht  von  seinen  eigenen  Schmerzen  und 
Erwartungen  sang,  sondern  das  besang,  was  in  der  Seele  jener 
schweigenden  Masse  vor  sich  ging,  die  nach  ihrer  eigenen  Art 
denkt,  des  arbeitenden  einfacheu  Volkes,  welches  nur  durch  seine 
Arbeit  und  bisweilen  durch  ein  gramvolles  Lied  der  Welt  seine 
Existenz  in  Erinnerung  bringt.  Das  niedere  Volk  aber  ist  selten 
fröhlich,  denn  selten  ist  es  sorgenfrei.  Daraus  lässt  sich  auch 
das  schwermüthige ,  traurig-düstere  Colorit  der  ganzen  Poesie 
Schewtschenkos  erklären,  denn  er  fühlte  seine  geistige  Verwandt- 
schaft mit  dem  Volke,  weil  er  aus  ihm  hervorgegangen  war  und 
deshalb  besser  als  andere  das  sah,  was  andere  selbst  gauz  über- 
sahen, und  darüber  weinte,  was  die  anderen  nicht  betrübte.  In 
seinem  Vorworte  zur  Dichtung  « Die  Hajdamaken»  lacht  er  unver- 
hohlen über  die  Mehrzahl  der  zeitgenössischen  Schriftsteller,  die 
ihn  für  seine  Sympathie  mit  den  untersten  Volksschichten  höhnte 
und  rügte.  —  Man  hat  Schewtschenko  den  Vorwurf  der  Sentimen- 
talität gemacht,  und  dies  vielleicht  mit  Recht.  Jedoch  muss 
Schewtschenko  als  Volksdichter  beurtheilt  werden,  die  Sentimenta- 
lität aber  ist  seit  jeher  ein  charakteristischer  Zug  des  Ukrainer 
Volkes  gewesen.  Einer  seiner  Landsleute  nennt  ihn  den  «unsterb- 
lichen Kobsar»  ;  dies  ist  zugleich  die  beste  Charakteristik  Schew- 
tschenkos als  Dichter.  Er  ist  in  Stoff  und  Ton  ein  kleinrussischer 
Volkssänger,  nur  dass  bei  ihm  alles  vertieft  und  veredelt  zu  Tage 
tritt,  und  deshalb  ist  er  der  «Unsterbliche».  Wir  finden  bei  ihm 
alle  Elemente  des  kleinrüssischen  Volksliedes.  Nichts  Gekünsteltes 
findet  sich  in  seiner  Poesie:  nicht  affectiver  Weltschmerz,  nicht 
selbstquälerisches  fruchtloses  Grämen,  nicht  bittere  Verzweiflung. 
Nein !  ein  stiller,  aber  deshalb  nicht  minder  tiefer  und  herz- 
ergreifender Kummer  bildet  ein  stetes  Element  seiner  Gedichte.  Man 


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Taras  Grigorjewitsch  Schewtscheuko. 


ukrainischen  Poesie ;  deshalb  tauchte  sie  auch  gerade  zu  der  Zeit 
auf,  als  die  alten  Volkslieder  in  Vergessenheit  zu  gerathen  Gefahr 
liefen. 

Stoff  und  Inhalt  seiner  Dichtungen  hat  Schewtscheuko  fast 
ausschliesslich  seiner  Heimat  entlehnt.    Er  besingt  die  Natur  der- 
selben, seinen  Lieblingsbaum,  den  Massholder,  den  alteu  schäumen- 
den Dnjepr  in  seinen  Liedern ;  oder  er  besingt  die  einsame,  öde 
und  doch  so  räthselhaft  schöne  Steppe  mit  ihren  hohen  alten  Grab- 
hügeln.   Er  besingt  die  alten,  rührenden  Sitten  und  Gebräuche, 
sowie  die  Sagen  der  Ukraine,  den  naturwüchsigen  Menschenschlag 
der  Kosaken,  die  glorreiche  Zeit  der  Saporoger  Sjetscha,  ihre 
Helden,  deren  kühne  Raubzüge  und  Heldenthaten,  die  hinge- 
schwundene herrliche  Selbständigkeit  der  Ukraine  und  ihre  augen- 
blickliche machtlose  Stellung.    Schewtschenkos  tiefpoetische  Natur 
hat  alle  Gestalten  und  Ideen  der  verflossenen  Jahrhunderte  seines 
Volksstammes  lebendig  aufgenommen  und  wiedergegeben.  Einzelne 
Dichtungen  Schewtschenkos  ermangeln  freilich  der  leitenden  Grund- 
idee, dafür  athmet  aber  alles  eine  solche  Pracht,  solch  eine  natür- 
liche ungesuchte  Gefühlswärme,  dass  es  einen  tiefen  Eindruck  auf 
die  Seele  des  Lesers  ausübt. 

Die  poetischen  Erzeugnisse  Schewtschenkos  lassen  sich  am 
besten  dem  Inhalte  nach  eintheilen,  und  zwar  in  zwei  Kategorien: 
entweder  hat  der  Dichter  den  Stoff  und  Inhalt  seiner  Dichtungen 
dem  Leben  seines  Volkes,  mit  seinem  Leide,  mit  seiner  Freude, 
sowie  auch  den  alten  Volkssagen  entnommen,  oder  es  haben  ihn 
die  glorreichen  historischen  Erinnerungen  der  Ukraine  zum  dichte- 
rischen Schaffen  angeregt  uud  begeistert. 

Schewtschenko  besitzt  alle  Eigenschaften  eiues  vorzüglichen 
Lyrikers:  eine  durchaus  tiefe  Empfindung  und  in  hohem  Grade 
die  Fähigkeit,  all  dem,  was  für  andere  Menschen  todt  und  stumm 
daliegt,  die  in  demselben  verborgen  ruhende  Poesie,  die  in  dem- 
selben schlummernde  Musik  abzulauschen.  Durch  meisterhafte  An- 
eignung der  Eigenheiten  der  Volkspoesie  zeichnen  sich  besonders 
seine  Stimmungs-  oder  Gedankenbilder  (.nynij)  aus.  Schon  im  ersten 
dieser  Gedichte,  welches  gleichsam  den  Prolog  zu  seiner  Gedicht- 
sammlung «Kobsar»  bildet,  spiegelt  sich  der  ganze  Charakter  des 
Dichters  ab :  die  fröhlichen,  sprudelnden  Motive,  die  selten  in 
seinen  Gedichten  vorkommen,  vermögen  nicht  den  düsteren  Ein- 
druck zu  verwischen,  den  seine  Weltanschauung  wach  ruft.  Schew- 
tschenko besiugt  in  der  grossen  Anzahl  seiner  kleiueu  Lieder  das 


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748 


Taras  Grigorjewitsch  Schewtschenko. 


ein.  Schewtschenko  beurkundet  in  dieser  Dichtung  so  recht  seine 
ungewöhnliche  Tiefe  menschlichen  Mitleids.  Das  Schicksal  der 
Heldin  Katharina  ruft  in  uns  vom  ßeginu  der  Handlung  bis  ans 
Ende  ein  tiefes  Mitgefühl  wach.  Dabei  hat  es  der  Dichter  mit 
seltenem  Tacte  verstanden,  den  epischen  Gang  der  Handlung  durch 
tiefergreifende  poetische  Reflexionen  zu  unterbrechen.  Freilich  ver- 
rathen  dieselben  eine  pessimistische  Weltanschauung,  aber  diese 
düstere  Färbung  passt  durchaus  zum  grenzenlosen  Elend,  das  vor 
uuseren  Augen  vorüber  zieht.  Wir  gestatten  uns  einige  Strophen 
aus  diesem  Gedichte  in  unserer  Uebertragung  mitzutheilen. 

Die  Eingangsstrophe  lautet : 

Fröhnt  der  Liebe,  schöne  Mädchen, 

Doch  schenkt  euer  Herz 
Nie  dem  fremden  Krieger  Moskaus : 

Denu  der  treibt  nur  Scherz. 
Liebeln  wird  er  mit  dem  Mädchen, 

Täudelud  es  verlassen  : 
Er  wird  fort  nach  Moskau  ziehen, 

Sie  vor  Gram  erblassen.  .  . 
Weun  sie  noch  allein  hinstürbe ! 

Sei's  .  .  .  doch  oft  sogar 
Sinkt  mit  ihr  ins  Grab  die  Mutter, 

Jedes  Trostes  bar. 
lieber  ihren  Kummer  grübelnd 

Welkt  die  Seele  hin  ; 
Und  der  Menschen  Urtheil  zeigt  nicht 

Theilnahmsvollen  Sinn. 
Schwarzgelockte,  schöne  Mädchen, 

Schenket  euer  Herz 
Nur  nicht  fremden  Kriegern  Moskaus, 

Jene  treiben  Scherz. 

Die  Verstossung  wird  geschildert : 

An  dem  Tische  sitzt  der  Alte, 

Stützt  sich  auf  den  Arm, 
Schauet  nicht  auf  Gottes  Erde, 

Matt  von  Gram  und  Harm. 
Neben  ihm  da  sitzt  die  Mutter, 

Aufgelöst  in  Leid ; 


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Taras  Grigorjewitsch  Schewtschenko 


Doch  jetzt  gehe  !  Gott  beschütze, 

Kind,  dich  immerdar  I»  — 
Und  erschöpft  brach  sie  zusammen 

Aller  Sinne  bar. 
Und  es  sprach  der  Vater:  fGeh  doch. 

Du  armselig  Mädchen  !» 
Da  sank  laut  aufschluchzend,  flehend 

Ihm  zu  Füssen  Käthchen : 
*  Du  verzeihe  mir,  mein  Vater ! 

Deck'  den  Fehltritt  zu ! 
Du  verzeihe  mir,  mein  Herzblatt, 

Holder  Engel  du  1»  — 
«Möge  Gott  dir  einst  verzeihen  ! 

Kämpfe  aus  den  Schmerz. 
Bete  —  geh  dann  deiner  Wege : 

Leichter  wird  dein  Herz.»  — 

Und  aus  den  eingeflochtenen  Reflexionen  : 

Glück  giebt  es  auf  Erden  — 
Wem  gereicht's  zum  Heil  ? 
Freiheit  giebt's  auf  Erden  — 
Wem  ward  sie  zu  Theil  ? 
Auf  der  Welt  giebt  es  Menschen  — 
Sie  schimmern  in  Gold, 
Scheinbar  ist  das  Schicksal 
Masslos  ihnen  hold  — 
Kein  Glück!  Keine  Freiheit  I 
Es  drückt  ja  der  Gram 
Auch  diese,  doch  Thränen 
Verbietet  die  Scham. 
Das  Gold  mögt  ihr  nehmen, 
Gereichs  euch  zur  Lust, 
Doch  mich  lasst  durch  Thränen 
Erleichtern  die  Brust. 
Es  falle  mein  Unglück 
Den  Thränen  zum  Raub ! 
Will  treten  die  Knechtschaft 
Barfuss  in  den  Staub  I 

Nur  dann  bin  ich  reich, 

Zufrieden  vollauf  — 


752 


Taras  6 rigorje witsch  Schewtschenko. 


düsteren  Hintergrund  derselben.  Die  Sagen,  die  den  Stuft'  zu  diesen 
Balladen  geliefert  haben,  werden  vom  Dichter  mit  so  ungekünsteltem 
(7efühle,  in  so  poetisch  gedankenreicher  Form  dem  Leser  ans  Herz 
gelegt,  dass  wir  dieselben  eher  für  freie  Producte  seines  dichterischen 
Genies,  als  für  Verarbeitungen  fremder  Stoffe  zu  halteu  gewillt  sind. 

Als  Prolog  zu  denjenigen  Dichtungen,  deren  Stoff  der  klein- 
russischen Geschichte  entnommen  ist,  dient  die  poetische  Epistel 
Schewtschenkos  an  seinen  Laudsmann  und  Dichter  Kwitka  (irT,o 
OcnoBfeHHeHKa   betitelt),  in  welcher  er  denselben  als  schon  be- 
kannten Dichter  bittet,  die  glorreiche  historische  Vergangenheit 
des  Ukrainer  Volkes  zu  besingen.    Im  Gedichte  «Iwan  Pidkowa> 
(Name  eines  hervorragenden  Kosaken führers)  tritt  Schewtschenko 
schon  selbst  als  Sänger  der  alten  ruhmvollen  Zeiten  seiner  Heimat 
auf.    Die  schwungvolle  historische  Ballade  «Tarasowa  Nitsch» 
(Tarasowsche  Nacht)  schildert  uns  das  furchtbare  Blutbad,  welches 
der  Hetmann  Taras  Trjasilo  unter  den  Polen  1630  an  der  Alta 
anrichtete.    In  diesem  Gedichte  hat  der  Dichter  die  Parallele 
zwischen  dem  markigen  Geschlechte  der  Vergangenheit  und  dem 
verweichlichten  der  Gegenwart  äusserst  kunstvoll  durchgeführt. 
Die  dritte  historische  Ballade  <Gamalija>  hat  die  kühne  Seefahrt 
des  Ataman  Gamalija  nach  Byzauz  zum  Thema.    Der  Kosaken- 
ataman  unternimmt  diese  Fahrt,  um  seine  in  der  türkischen  Ge- 
fangenschaft schmachtenden  Kosaken  zu  befreien.    Es  wird  somit 
die  Treue  der  Kosaken,  sowie  ihre  Kühnheit  und  Entschlossenheit 
zur  See  besungen.    Alle  drei  Balladen  entstanden  im  Anfange  der 
vierziger  Jahre.    Im  Jahre  184  L  war  aber  schon  das  grosse  histo- 
rische Poem  Schewtschenkos  »Die  Hajdamaken>  erschienen. 

cDie  Hajdamaken»  ist  die  umfassendste  und  werthvollste 
Dichtung  Schewtschenkos.  In  derselben  offenbart  er  seine  Begabung 
als  epischer  Dichter  am  gewaltigsten.  Was  die  künstlerische  Form 
anbetrifft,  so  wird  vielleicht  diese  Dichtung  von  auderen,  wie  haupt- 
sächlich « Katharina >,  übertroffen,  aber  sie  steht  erhaben  da  über 
alle  anderen  ihrem  Inhalte  nach.  Das  Epos  behandelt  den 
Kosakenaufstand  unter  Gonta  1768  und  1769,  bald  nach  der  be- 
kannten (Konföderation  von  Bar,  das  letzte  blut-  und  flammenrothe 
Aufflackern  des  kleinrussischen  Volksgeistes  gegen  die  Unterdrücker 
der  Ukraine,  die  Polen  und  Juden.  Die  Kleinrussen  hatten  stumm 
geduldet,  bis  die  gewaltsame  Katholisirung  sie  schliesslich  zur  Ver- 
zweiflung trieb.  Die  griechisch-orthodoxen  Priester  waren  ver- 
trieben worden,  ihre  Kirchen  geschlossen  und  die  Schüssel  zu  den- 


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754  Taras  Grigorjewitsch  Schewtschenko. 


und  Schwert  gegen  Polen  und  Juden  geschildert.  An  der  Spitze  steht 
der  Kosakenhauptmann  Gonta  und  der  Ataman  Shalisnjak.  Die 
Kraft  des  Polenhasses  der  Kosakeu  bekundet  der  Dichter  in  der 
Person  des  Kosaken  Jarema,  der  bei  der  Nachricht,  dass  seine 
Braut  Oksana  von  den  Polen  entführt  worden  sei,  ausruft :  c  Warum 
konnte  ich  nicht  gestern  sterben  !  Ich  hätte  Ruhe !  Doch  sterbe 
ich  auch  heute,  so  werde  ich  aus  dem  Grabe  auferstehen,  um  die 
Polen  zu  quälen  !>  Der  achte  Gesang  hat  das  blutige  Banket  zu 
Lissjanka  (im  Kiewschen)  zum  Inhalt,  die  Zerstörung  dieser  Festung 
und  die  Befreiung  Oksanas  durch  Jarema.  Der  folgende  Gesang 
versetzt  uns  ins  friedliche  Kloster  Lebedyn  und  schliesst  mit  der 
Vermählung  Jaremas  mit  Oksana.  Der  zehnte  und  letzte  Gesang 
besehreibt  uns  die  schrecklichen  Rachescenen  der  Hajdamaken  in 
der  reichen  polnischen  Stadt  Uman.  Der  Dichter  schrickt  nicht 
vor  der  Schilderung  des  grässlichen  Mordes,  deu  der  Hajdamaken- 
held  Gonta  an  seinen  leiblichen  Kindern  vollzieht,  zurück,  eben  so 
wenig  vor  der  Schilderung  der  von  den  Hajdamaken  verübten 
Greuelthaten  bei  der  Zerstörung  der  Jesuitenschule.  Der  Gesang 
schliesst  mitder  tief  ergreifenden  und  versöhnend  auf  uns  wirkenden 
Beschreibung,  wie  Gonta,  von  Reue  und  Gewissensbissen  gequält, 
heimlich  seine  Kinder  bestattet.  —  Der  Epilog  zu  dieser  herrlichen 
Dichtung  beginnt  mit  jenen  selten  tief  empfundenen,  rührenden 
Versen,  in  denen  Schewtschenko  sein  Leben  im  elterlichen  Hause 
schildert.  Zum  Schlüsse  des  Epilogs  spricht  Schewtschenko  seine 
Ansicht  über  die  Vergangenheit  der  Ukraine  aus.  In  der  That 
stimmen  diese  32  Zeilen  die  Seele  des  Lesers  traurig,  denn  es  liegt 
im  Menschen  nun  einmal  eine  Liebe  und  Neigung  zur  alten  Zeit,  und 
dieses  Mitgefühl  mit  der  Vergangenheit  tritt  bei  Schewtschenko  un- 
willkürlich dann  zum  Vorschein,  wenn  das  Gefühl  in  ihm  die  Oberhand 
gewinnt,  bis  zuletzt  der  klare  Verstand  wieder  in  seine  Rechte  tritt. 

Wie  in  allen  seinen  epischen  Dichtungen,  so  unterbricht 
Schewtschenko  auch  im  Epos  «Die  Hajdamaken >  den  Gang  der 
Handlung  bisweilen  durch  lyrische  Reflexionen,  wobei  er  fast 
immer  von  den  vier-  oder  dreifüssigen  Trochäen  auf  schwungvolle 
Daktylen  oder  Anapäste  übergeht.  An  solchen  Stellen  bewundern 
wir  den  klaren  Blick  des  Dichters  über  die  Menschenverhältnisse, 
desgleichen  die  Tiefe  seiner  Gedanken,  und  trotz  des  wilden,  un- 
bändigen Stoffes  staunen  wir  häufig  über  die  Zartheit  seines  Mit- 
gefühls, die  aus  allem,  was  er  sagt,  hervorleuchtet.  Im  allgemeinen 
hat  jedoch  Schewtschenko  den  epischen  Ton  vorzüglich  eingehalten. 


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750 


Taras  Grigorjewitsch  Schewtschenko. 


Taras  Grigorjewitsch  Schewtschenko  ist  nicht  nur  ein  klein- 
russischer,  sondern  überhaupt  ein  russischer  Dichter  im  weiteren 
Sinne,  denn  er  war  der  Verkündiger  der  Volksgedanken,  der  Re- 
präsentant des  Volkswillens,  der  Interpret  des  Volksgefühls.  Wol 
hat  er  klar  und  deutlich  das  Hereinbrechen  einer  neuen  Aera  für 
das  russische  Volk  geahnt  und  gefühlt,  allein  ein  hartes  Geschick 
gönnte  es  ihm  nicht,  jenen  Tag  zu  erleben,  an  dem  öffentlich  der 
Leibeigenschaft  der  Todesstoss  versetzt  wurde,  jenen  Tag,  welcher 
der  grösste  Feiertag,  der  grösste  Freudeutag  in  seinem  Märtyrerleben 
gewesen  wäre,  jenen  Tag,  an  dem  der  Grundstein  zur  Verwirklichung 
derjenigen  Ideen  gelegt  wurde,  die  die  Seele  seiner  Poesie  waren.  Am 
19.  Febr.  1801  unterzeichnete  Kaiser  Alexander  II.,  gesegneten  An- 
gedenkens, das  historische  Manifest  über  die  Aufhebung  der  Leib- 
eigenschaft und  am  5.  März  desselben  Jahres  wurde  selbiges 
promulgirt.  Als  an  diesem  Tage  das  gesammte  russische  Volk  im 
Taumel  der  Freiheitsfreude  jauchzte  und  jubelte,  hatte  genau  eine 
Woche  früher  einer  seiner  grössten  Freiheitskämpfer,  Taras  Grigor- 
jewitsch Schewtschenko,  bereits  den  letzten  Kampf  ausgekämpft 
und  war  zur  ewigen  Freiheit  eingegangen  ! 

\Y  o  1  <1  <>  m  a  r  Fische  r. 


758 


Eree  Universität  auf  tatarischem  Boden. 


geschiente  der  Universität  Kasan ;  wir  können  dem  betagten  Autor 
nur  wünschen,  dass  es  ihm  vergönnt  sei,  sein  Werk  bis  zu  unserer 
Zeit  fortzuführen.  Auch  für  den  deutschen  Leser  dürfte  eine 
nähere  Bekanntschaft  mit  dem  vorliegenden  Buch  nicht  ohne  Inter- 
esse sein ;  wir  schliessen  uns  in  den  folgenden  Zeilen  wesentlich 
der  Besprechung  an,  welche  der  bekannte  russische  Literarhistoriker 
Pypin  im  <Westnik  Jewropy»  dieser  Entstehungsgeschichte  der  öst. 
liebsten  Universität  zu  Theil  werden  lässt. 

Bis  zu  Peter  dem  Grossen  gab  es  bekanntlich  in  Russland 
in  den  geistlichen  Schulen  (Akademien)  zu  Kiew  und  Moskau  schon 
Lehranstalten  national-kirchlichen  Gepräges,  in  denen  Priester, 
grösstenteils  kleinrussischer  Herkunft,  deu  Lernenden  eine  Art 
höherer  Bildung  beizubringen  beflissen  waren,  welche  sich  auf  die 
Bekanntschaft  mit  dem  Kirchenslavonischen,  dem  Griechischen  und 
Lateinischen  beschränkte.  Diese  Schulen  trugen  im  ganzen  nur 
sehr  wenig  dazu  bei,  den  geistigen  Verkehr  zwischen  Ost-  und 
Westeuropa  anzuregen  und  dem  moskowitischen  Zarthum  den  Zu- 
gang zu  europäischer  Cultur  und  Civilisation  zu  eröffnen.  Einen 
ganz  anderen  Charakter  hatten  die  von  Peter  I.  und  seinen  Nach» 
folgern  gegründeten  Lehranstalten ;  diese  fussten  nicht  auf  den 
Traditionen  des  byzantinischen  Kirchenthums,  die  Lehrgegenstände, 
die  neu  vorgetragenen  Wissenschaften  kamen  eben  so  gut  aus  dem 
Westen,  wie  die  Lehrer  selbst,  die  nur  in  den  seltensten  Fällen 
der  russischen  Sprache  mächtig  waren.  Der  Schulbesuch  erfolgte 
zwangsmässig,  Schüler  und  Lehrer  wurden  zu-  und  abcommandirt 
—  da  konnten  die  mühselig  errungenen  Resultate  natürlich  nur 
ganz  ungenügende  sein.  Die  Wissenschaft  hatte  noch  keine  Pflege- 
stätte in  Russland  und  die  erste  akademische  Universität  nahm 
ein  klägliches  Ende  (s.  « Bult.  Monatsschrift >  1887  im  Januarhefte 
meinen  Aufsatz  über  die  erste  russische  Universität). 

Auch  späterhin  blieb  der  Lehrer,  der  Professor  —  der  Ge- 
lehrte überhaupt,  ein  ausserhalb  des  nationalen  Lebens  stehender 
Sonderling,  der  in  der  officiellen  Titulatur  als  t  Beamter  für 
Sprachenkunde»  erwähnt  werden  konnte  und  welcher  von  seinen 
Vorgesetzten  stets  nur  als  tTschinownik»  behandelt  wurde.  Wenn 
eine  derartige  Anschauungsweise  selbst  in  unserer  Zeit  noch  vor- 
kommt, so  bestand  dieselbe  unter  der  Regieruug  Kaiser  Alexandere  I. 
noch  zu  voller  Kraft.  Als  dieser  Monarch  in  der  ersten  Hälfte 
seiner  Regierung,  der  aufklärenden  Richtung  des  18.  Jahrhunderts 


760 


Eine  Universität  auf  tatarischem  Boden. 


zu  erinnern  braueben.  Zu  diesen  lässt  sieb  auch  Rumowski  rechnen, 
welcher  zum  Curator  des  Lebrbezirks  und  der  Universität  Kasan 
ernannt  wurde.  Geboren  in  den  30er  Jahren  des  18.  Jahrhunderts 
(f  1810),  war  Rumowski  ein  gelehrter  Akademiker,  Astronom  und 
Klassiker,  aber  ein  Greis  von  über  siebzig  Jahren,  dem  es  natür- 
lich an  der  nothwendigen  Energie  fehlte,  um  die  schwierige  und 
verwickelte  Angelegenheit  der  Organisation  einer  Universität,  noch 
dazu  an  der  entlegenen  asiatischen  Grenze,  durchzuführen,  um  so 
mehr,  da  der  neue  Curator  (nach  der  Sitte  jener  Zeit)  in  Peters- 
burg wohnen  blieb,  <um  in  beständigen,  directen  Beziehungen  zu 
dem  Gentrum  der  Regierung  zu  verbleiben».  So  musste  sich  also 
der  Curator  gänzlich  auf  Mittheilungen  derjenigen  Person  ver- 
lassen, welche  ihn  im  Lehrbezirk  vertrat  und,  nach  dem  russischen 
Sprichwort  <Gott  ist  gross  und  der  Zar  ist  weit»,  leicht  genug 
ganz  willkürlich  verfuhr.  Ferner  lässt  sich  annehmen,  dass  trotz 
seiner  wissenschaftlichen  Bedeutung  der  neue  Curator  Rumowski 
ein  Mann  des  ancien  regime  geblieben  war  und  keineswegs  mit  den 
liberalen  Plänen  der  Regierung  Alexandere  I.  vollständig  sympathi- 
sirte,  insbesondere  der  beabsichtigten  Selbstverwaltung  der  Univer- 
sitäten feindlich  gegenüber  stand. 

Der  bevollmächtigte  Stellvertreter  Rumowskis  in  Kasan  ent- 
sprach dem  Geschmack  seines  Vorgesetzten  :  er  war  ein  Bureaukrat 
vom  reinsten  Wasser,  ein  eifriger  «Tschinownik»  mit  allen  Fehlern 
und  Vorzügen  eines  solchen  und  hiess  Uja  Feodorowitsch  Jakowkin. 
Als  Sohn  eines  Dorfpriesters  1764  im  Gouvernement  Perm  geboren, 
hatte  derselbe  den  Cursus  im  geistlichen  Seminar  zu  Wjatka  be- 
endet, kurze  Zeit  hindurch  als  Lehrer  gewirkt,  um  1783  die  Peters- 
burger «pädagogische  Abtheilung  für  Volksschullehrer»  als  Lehrer 
«höherer  Art»  durchmachen  zu  können.  In  der  Residenz  hatte  er 
eine  Anstellung  gefunden  und  in  allen  möglichen  Gegenständen 
unterrichtet,  die  russische,  französische,  deutsche  und  lateinische 
Sprache,  Geschichte,  Geographie  und  Naturwissenschaften  nicht 
nur  gelehrt,  sondern  auch  Lehrbücher  dieser  Disciplinen  veröffent- 
licht, welche  nur  Compilationen  oder  Uebersetzungen  waren.  Als 
Lehrer  an  das  Gymnasium  zu  Kasan  versetzt,  hatte  Jakowkin 
hier  schnell  seine  Laufbahn  gefunden  und  war  zum  Inspector,  bald 
darauf  zum  Director  dieser  Anstalt  ernannt  worden.  Die  neue 
Universität  stand  bei  ihrer  Gründung  in  einer  höchst  eigen  thüm- 
lichen  Verbindung  mit  dem  Gymnasium  von  Kasan,  sie-  warde  so 
zu  sagen  auf  das  Gymnasium  gepfropft.    Im  Februar  1805  erschien 


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762  Eine  Universität  auf  tatarischem  Boden. 

wollten  sich  dem  Universitätspascha  nicht  unterordnen,  und  der 
Curator  fand  es  bequemer,  wenn  e  i  n  ihm  bekannter,  energischer 
Leiter  die  ganze  Sache  in  der  Hand  behielt,  als  wenn  eine  viel- 
köpfige Selbstverwaltung  ihr  Wesen  trieb. 

Ueber  Jakowkin  und  sein  Regiment  enthält  sich  Herr  Bulitsch 
jeder  persönlichen  Kritik  und  schildert  mit  voller  Objectivität  die 
Licht-  und  Schattenseiten  seines  Charaktere.  So  erscheint  uns 
Jakowkin  einerseits  nach  den  Erinnerungen  seiner  Schüler  und 
Zöglinge  im  günstigsten  Licht,  während  andererseits  seine  Collegen 
und  Untergebenen  ihn  mit  ihrem  Hass  verfolgten.  «Die  Macht, 
die  Willkür  Jakowkins,»  heisst  es,  «standen  in  directer  Beziehung 
zu  dem  unbeschränkten  Vertrauen,  welches  ihm  der  Curator  schenkte. 
Sein  Verstand,  seine  Gewandtheit,  seine  genaue  Kenntnis  des 
menschlichen  Herzens  sind,  nach  authentischen  Zeugnissen  jener 
Zeit,  erstaunlich.  Umgeben  von  seinen  Creaturen,  die  er  von  der 
Schulbank  an  stets  geleitet  hatte,  die  ihm  ihre  Stellung  dankten 
und  in  vollster  Abhängigkeit  von  ihm  Stauden,  oder  von  Ausländern, 
die  weder  mit  der  Sprache,  noch  mit  den  Lebensbedingungen  ihrer 
neuen  Heimat  bekannt  waren,  schien  der  Director  alle  seine  Dienst- 
genossen  um  eines  Hauptes  Länge  zu  überragen.  Derartige  Persön- 
lichkeiten finden  sich  oft  genug  in  dem  Schulwesen  der  Provinz, 
sie  verstehen  es  vortrefflich,  sich  bei  der  fernen  Obrigkeit  einzu- 
schmeicheln und,  dank  der  abhängigen  Lage  und  des  nothgedrungenen 
Schweigens  ihrer  Untergebenen,  ihrer  despotischen  Neigung,  ihrer 
unbeschränkten  willkürlichen  Herrschsucht  die  Zügel  schiessen  zu 
lassen. » 

Ein  sympathischer  Zug  im  Charakter  Jakowkins  sind  jeden- 
falls die  freundschaftlichen,  milden  Beziehungen  zu  der  lernenden 
Jugend,  wenngleich  dieselben  vielleicht  auf  einer  gewissen  Be- 
rechnung beruhten.  Ferner  war  er  ein  energischer,  scharfsichtiger 
Administrator  und  unbeschränkter  Beherrscher  des  Gymnasiums 
und  hegte  den  Wunsch,  in  der  Universität  dieselbe  Rolle  zu  spielen. 
Dieser  letztere  Umstand  ist  es  aber  gerade,  der  uns  seine  Thätigkeit 
so  unsympathisch  erscheinen  lässt.  Seinen  Universitätscollegen 
gegenüber  ein  unsinniger  Despot,  dem  Curator  gegenüber  ein 
demüthiger  Speichellecker  und  gehorsamer  Diener,  verstand  es 
Jakowkin  vortrefflich,  durch  beständige  Berichte  und  Denunciationen 
seinen  greisen  Chef  gegen  die  «Deutschen»  aufzuhetzen.  Diese 
nennt  er  Leute  von  «frecher  Gemüthsart,  die  auf  die  Vernichtung 
jeglicher  Übrigkeit  bedacht  sind»  —  und  der  bald  80jährige  Curator 


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7i>4  Eine  Universität  auf  tatarischem  Hoden. 

die  von  dem  Kronstische  fielen,  und  konnte  ihm  gelegentlich  eines 
ihm  verliehenen  Ordens  folgendes  Verslein  zu  Ohren  kommen,  das 
einen  seiner  Collegen  zum  Autor  hatte : 

c  Lieber  Heiland  Jesus  Christ, 

Der  du  des  Diebes  Retter  bist, 

Als  er  am  Kreuze  hing  : 

Beweise  deine  Liebe, 

Bewahr'  das  Kreuz  dem  Diebe, 

Das  heute  er  empfing.» 
Auf  die  «Rechnungsfehler»,  welche  selbst  der  Curator  Ru- 
mowski  seinem  Schützling  Jakowkin  nachweisen  konnte,  brauchen 
wir  nicht  näher  einzugehen,  da  mit  dem  Obengesagten  der  Charakter 
des  Letzteren  genügend  angedeutet  ist.  Von  mehr  Interesse  ist  die 
Beantwortung  der  Frage:  Woher  kamen  die  Professoren  für  die 
neue  Universität  auf  tatarischem  Boden? 

Hier  wiederholte  sich  dieselbe  Erscheinung,  wie  bei  der 
Gründung  der  Petersburger  Akademie  der  Wissenschaften  und  an 
den  russischen  Universitäten  überhaupt,  eine  Erscheinung,  die  sich 
bis  in  die  Mitte  uuseres  Jahrhunderts  zu  wiederholen  pflegt :  eine 
ganze  Reihe  ausländischer  Gelehrter  wurde  verschrieben  und  die 
Namen  derselben  haben  bis  heute  einen  guten  Klang,  während  die 
der  russischen  Professoren  für  die  Wissenschaft  werthlos  blieben. 
So  hatte  der  Curator  Rumowski  berufen  :  Zeplin  für  das  Katheder 
der  Weltgeschichte,  Herrmann  für  die  lateinische,  Storl  für  die 
griechische  Sprache,  Bünemann  (BcHCMairb)  für  die  Rechtswissen- 
schaft, Fuchs  für  die  Naturgeschichte,  Braun  für  die  «Mediän», 
Frehn  für  orientalische  Sprachen,  Bartels  für  Mathematik,  endlich 
den  später  berühmt  gewordenen  Littrow  für  Astronomie.  Begreif- 
licherweise konnten  sich  diese  Männer  in  Kasan  nicht  glücklich 
fühlen  und  lässt  es  sich  nur  durch  die  Schwierigkeit  einer  Rück- 
reise auf  eigene  Kosten,  wie  durch  die  traurige  politische  Lage 
ihrer  Heimat,  Deutschlands,  zur  Zeit  des  napoleonischen  Joches 
erklären,  dass  sie  auf  dem  tatarischen  Boden  ausharrten,  nachdem 
sie  mit  den  tragikomischen  Verhältnissen  an  der  neuen  Universität 
bekannt  geworden  waren. 

Dennoch  scheinen  einzelne  jener  deutschen  Professoren  sich 
schliesslich  in  Kasan  recht  wohl  acclimatisirt  zu  haben,  so  war 
z.  B.  Fuchs,  Naturhistoriker  und  Arzt,  dabei  ein  ungewöhnlich 
wissbegieriger  und  vielseitiger  Mann,  späterhin  eine  äusserst  populäre 
Persönlichkeit  in  der  Stadt.  Andere,  wie  Bartels,  Frehn  und  Littrow, 


766 


Eine  Universität  auf  tatarischem  Boden. 


dem  dejoorirenden  Officier,  sich  zu  erkundigen,  weshalb  einige  Pro- 
fessoren nicht  erschienen  waren,  und  ihnen  mitzutheilen,  dass  sie 
sich  für  die  nicht  ausgeführten  Befehle  ihrer  Obrigkeit  vor  G  e  - 
rieht  zu  verantworten  haben  könnten.»  Von  den  geselligen  Ver- 
sammlungen bei  dem  Musiklehrer  Neumann,  wo  sich  die  Professoren 
mit  Erlaubnis  des  Directors  eingefunden  hatten,  spricht  er  tals 
von  geheimen  Zusammenkünften  verdächtiger  Ausländer»  —  kurz, 
die  c intelligenten  Deutschen»  Kasans  müssen  keineswegs  auf  Rosen 
gebettet  gewesen  sein. 

Die  Vorlesungen  trugen  gänzlich  den  Charakter  der  Zufällig- 
keit, von  einem  Lehrplan  konnte  eben  so  wenig  die  Rede  sein,  wie 
von  der  Existenz  streng  geschiedener  Facultäten.  So  konnte  es 
geschehen,  dass  die  Studenten  aus  einem  Golleg,  in  welchem  die 
stylistischen  Schönheiten  der  Lomonossowschen  Oden  analysirt 
wurden,  in  ein  anderes  geriethen,  wo  die  Theorie  des  Galvanismus 
zum  Vortrag  kam  oder  Ovid  gelesen  werden  musste,  trigonometrische 
Aufgaben  gelöst  wurden,  deutsches  Recht  oder  botanische  Erläute- 
rungen den  Stoff  bildeten.  Eine  solche  Planlosigkeit  des  Studiums 
war  übrigens  in  jener  Zeit  so  allgemein,  dass  auch  Jakowkin  daran 
nichts  auszusetzen  fand,  ja,  den  Curator  bat,  ihm  einen  Professor 
zu  schicken,  dereine  c  Encyklopädie  aller  Wissenschaften»  zu  lesen 
vermöge.  Die  Erfolge  und  Fortschritte,  von  denen  er  weiter  be- 
richtete, existirten  natürlich  nur  in  seiner  bureaukratischen  Phantasie 
und  auf  dem  Papier,  wusste  er  doch,  dass  der  greise  Curator 
schwerlich  nochmals  nach  Kasan  kommen  würde.  Er  selbst  ver- 
stand es  eben  nicht  besser,  als  nur  auf  Aeusserlichkeiten  zu  sehen 
und  dafür  zu  sorgen,  dass  der  Schein,  vor  allem  aber  die  Disciplin 
gewahrt  blieb.  Beklagten  sich  die  Professoren  darüber,  dass  die 
Studenten  nicht  im  Stande  seien  den  Vorlesungen  in  lateinischer 
Sprache  zu  folgen,  so  erwiderte  Jakowkin,  daran  sei  blos  die  schlechte 
deutsche  Aussprache  der  Professoren  schuld.  Als  jedoch  Littrow, 
der  das  persönliche  Vertrauen  des  Curators  genoss,  nach  Kasan 
kam,  wurde  der  Beweis  geliefert,  mit  welch  ungenügenden  Vor- 
kenntnissen die  Studenten  in  die  Universität  aufgenommen  bez. 
aus  dem  Gymnasium  entlassen  waren.  Littrow  dictirte  ihnen 
nämlich  drei  ganz  einfache,  kurze  Sätze,  welche  aus  dem  Russischen 
ins  Lateinische  übersetzt  werden  sollten.  Die  Studenten  meinten 
hierzu  lachend:  c  Sie  wissen,  wir  nicht  kennen  !»  (sie.)  Trotz  zwei- 
stündiger Arbeit,  der  Erlaubnis,  das  Lexikon  zu  benutzen  und  den 
Professor  nach  allem  zu  fragen,  was  ihnen  unklar  sei,  ja,  trotz 


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7fi8  Eine  Universität  auf  tatarischem  Boden. 

• 

asiatischen  Grenze.  Als  24jähriger  Jüngling  war  er,  der  Orienta- 
list an  der  Universität  Rostock,  durch  den  Curator  Rumowski 
nach  Kasan  berufen  worden  und  hatte  hier  den  Grund  zu  einer 
strengwissenschaftlichen  Behandlung  der  orientalischen  Sprachen 
gelegt.  Selbst  Specialist  für  das  Arabische  und  die  semitischen 
Sprachen,  hatte  er  seinen  zehnjährigen  Aufenthalt  in  Kasan  dazu 
benutzt,  das  Tatarische  zu  erlernen  und  ausserdem  die  tatarische 
Numismatik  vollständig  zu  beherrschen.  Wir  brauchen  hier  nicht 
näher  darauf  einzugehen,  wie  ungenügend  und  geistlos  die  Vor- 
träge über  russische  Sprache  und  Literatur  waren  ;  auch  eine  bei 
der  Universität  bestehende  literarische  Gesellschaft  leistete  gar 
nichts  und  ihre  Werke  blieben  als  «kindisch  und  unbedeutend 
gänzlich  nutzlos. 

Sonderbar  muss  es  erscheinen,  dass  bei  dieser  traurigen  Lage 
der  Wissenschaft  dennoch  von  der  neuen  Universität  gelehrte 
Diplome  an  Candidaten  und  Magister  vertheilt  wurden,  ohne  dass 
jedoch  die  Inhaber  dieser  Würden  in  Wirklichkeit  auf  Bildung 
Anspruch  erheben  konnten.  «Was  konnte  überhaupt  unter  diesen 
Verhältnissen,  bei  derartigen  Studenten  an  wissenschaftlicher  Arbeit 
geleistet  werden?»  ruft  Herr  ßulitsch  mit  Recht  aus,  führt  aber 
dennoch  die  Namen  einiger  Studenten  an,  welche  durch  ihre  kolossale 
Begabung  das  Entzücken  der  deutschen  Professoren  erregten. 
Unter  ihnen  ist  besonders  Nikolai  Lobatschewski  (1793—1856)  zu 
nennen,  der  ein  wahres  mathematisches  Genie  besass  und  späterhin 
Professor  und  Rector  der  Universität  Kasan  wurde. 

Seine  erstaunlichen  Fortschritte  auf  allen  Gebieten  der  höheren 
Mathematik  veranlassten  seine  Vorgesetzten,  das  «grobe  und  unge- 
horsame» Betragen  des  derben  Burschen  nachsichtig  zu  beurtheilen, 
wenngleich  Jakowkin  sich  immer  und  immer  wieder  veranlasst 
sah,  dem  Curator  über  denselben  zu  klagen.  In  der  c historischen 
Darstellung  von  Lobatschewkis  AurTühruug»  werden  seine  Streiche 
«merkwürdig»  genannt,  wird  sein  Charakter  als  «eigensinnig,  arro- 
gant und  der  Reue  gar  nicht  zugänglich»  bezeichnet  und  heisst  es 
noch  dazu  :  «er  beweist  alle  Anzeichen  der  Gottlosigkeit  und  nimmt 
in  Betreff  seines  schlechten  Betragens  die  erste  Stelle  ein,  so  dass 
seiue  vorzüglichen  Anlagen  durch  seine  schändliche  Conduite  ver- 
dunkelt werden.»  Trotz  dieser  strengen  Urtheile  erhielt  er  im 
Alter  von  18  Jahren  den  Grad  eines  Magisters  und  begann  drei 
.fahre  später  bereits  seine  Vorlesungen  an  der  Universität* 

Im  ganzen  gestatten  die  Betrachtungen  des  Herrn  Bulitsch 


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770  Eine  Universität  auf  tatarischem  Boden. 


Ist  diese  Verurtheilung  Jakowkins  und  seiner  Verwaltung 
selbst  aus  dem  Munde  des  ihm  feindlich  gesinnten  Vorgesetzten 
und  Revidenten  Magnizki  nicht  ohne  Iuteresse,  so  erscheint  dieser 
in  den  Augen  der  Nachwelt  in  noch  schlimmerem  Licht;  begab 
er  sich  doch  mit  der  Absicht  nach  Kasan,  um  cdie  Universität 
öffentlich  zu  vernichten  (uyojiiiqiio  pa3pyiuiiTb  yiniiiepcHTcn>)»  —  ein 
Gedanke,  der  des  traurigen  Systems  würdig  war,  welches  er,  der 
Obscurant  vom  reinsten  Wasser,  vertrat.  Dennoch  sind  die  Mit- 
theilungen, welche  er  über  die  Zustände  in  der  Universität  machte, 
in  vielen  Beziehungen  wahrheitsgemäss.  So  sagt  er  z.  B. :  « Viele 
Wissenschaften  werden  gar  nicht  vorgetragen,  andere  dagegen  in 
doppelten  Collegien  gelesen,  um  den  Professoren  und  Adjuncten 
ihre  Gagen  zu  sichern.  Die  Gymnasiasten  werden,  ohne  irgend 
welche  Kenntnisse  zu  besitzen,  ohne  Prüfung  unter  die  Zahl  der 
Studenten  aufgenommen,  wenn  sie  unter  Jakowkins  Schutz  stehen  ; 
seine  Pensionäre  besuchen  als  freie  Zuhörer  die  Collegia  und  er- 
halten dann  Diplome.»  Auch  die  administrative Thätigkeit  Jakow- 
kins erwies  sich  als  äusserst  unbefriedigend,  «die  Rechnungen  be- 
fanden sich  in  der  grössten  Verwirrung» ;  hatte  doch  der  greise 
Curator  sich  von  seinem  Vertrauten  dazu  bewegen  lassen,  diejenigen 
Professoren  zu  «entfernen»,  welche  auf  einer  Rechenschaftsablegung 
gegenüber  dem  Conseil  bestanden. 

So  hatte  die  junge  Hochschule  durch  die  Entfernung  und 
Lässigkeit  ihres  greisen  Curators,  wie  durch  die  Misgriffe  seines 
Vertrauten  gleich  von  Anbeginn  ihrer  Existenz  an  mit  Hindernissen 
zu  kämpfen,  welche  jede  tüchtige,  freiheitliche  Ent Wickelung  der 
Wissenschaft,  jeden  Fortschritt  europäischer  Cultur  auf  diesem 
tatarischen  Boden  fast  unmöglich  machten.  Das  aber,  was  Mag- 
nizki beabsichtigte  und  späterhin  theilweise  aasführte,  war  noch 
schlimmer :  an  die  Stelle  einer  offiziellen  Lüge  trat  eine  andere, 
noch  widerlichere ;  die  Wissenschaft  wurde  noch  mehr  eingeengt, 
und  die  moralische  Verderbnis,  welche  von  der  heuchlerischen  Ver- 
waltung Magnizkis  begünstigt  wurde,  hat  Spuren  hinterlassen,  die 
noch  lange  nachher  sichtbar  blieben,  weil  sie  ihre  Stütze  in  den 
zweideutigen  Beziehungen  der  massgebenden  Kreise  Russlands  zu 
der  misverstandenen  Wissenschaft  hatte. 

Weiter  vermögen  wir  die  Entstehungsgeschichte  der  Univer- 
sität Kasan  nicht  zu  verfolgen,  da  das  Buch  des  Herrn  Bulitsch 
uns  nur  bis  zu  dem  Jahre  1819  führt.  Zum  Schluss  sei  noch  auf 
einige  treffende  Ausführungen  hingewiesen,  mit  denen  Herr  Pypin 


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772 


Eine  Universität  auf  tatarischem  Boden. 


Adj mieten  der  neuen  Universität  Lobatschewski  und  Simonow  war 
und  in  den  40er  Jahren  einen  der  ersten  Professoren,  Fuchs,  noch 
persönlich  gekannt  hatte. 

Unter  solchen  Umständen  hat  Herr  Pypin  das  Recht,  einen 
melancholischen  Seufzer  seinen  Betrachtungen  nachzuschicken,  dessen 
Adresse,  wenn  wir  nicht  irren,  wol  in  Moskau  zu  suchen  ist :  «So 
jung  ist  bei  uns  das  Bestehen  einer  höheren  Bildung,  der  Wissen- 
schaft! Vor  so  kurzer  Zeit  überstand  unsere  russische  Gesellschaft 
die  geistige  Impfung  durch  dieselbe  Vermittelung  von  Ausländern, 
bei  derselben  Theilnahmlosigkeit  der  öffentlichen  Meinung,  wie  zur 
Zeit  Peters  des  Grossen.  Da  könnte  man  sich  füglich  wol  der 
Klagen  enthalten,  dass  unsere  Gesellschaft  in  der  petrinischen  Epoche 
sich  so  entschieden  von  den  alten  Traditionen  losgerissen  habe, 
um  sich  dem  «westlichen  Fortschritt»  in  die  Arme  zu  werfen!» 


Johannes  E  c  k  a  r  d  t. 


774 


Bericht  über  ein  altes  Tagebuch. 


Aber  es  scheint  nur  so.  Sittengeschichtlich  sind  Berichte, 
in  deuen  Bilder  des  Alltags  wiedergespiegelt  werden,  wichtiger  als 
Bekenntnisse  ausserhalb  der  Linie  stehender  Meuschen.  Wer 
wissen  will,  wie  man  zu  einer  bestimmten  Zeit  gedacht  und  em- 
pfunden hat,  wird  bei  denjenigen  anfragen  müssen,  die  sich  an 
dem  Bildungsinhalt  und  der  Empfindungsweise  ihrer  Zeit  genügen 
Hessen.  Nur  wenn  die  auf  culturgeschichtliche  Fragen  ertheilten 
Aut Worten  ausser  der  individuellen  eine  typische  Bedeutung  haben, 
werden  sie  als  Zeugnisse  für  die  Vergangenheit  in  Betracht  kommen. 
Der  Werth  solcher  Berichte  wird  aber  nicht  sowol  durch  den 
Ideenreichthum  des  Berichterstatters,  als  durch  dessen  Empfänglich- 
keit für  innere  und  äussere  Eindrücke  und  durch  die  Tiefe  der 
Empfindung  bedingt  sein,  mit  welcher  das  Gesehene  und  Gehörte 
aufgenommen  worden.  Denn  nur  in  dem  Spiegel  eines  tiefen  und 
warmen  Gemüths  kommen  d  i  e  Bilder  zu  richtiger  Erscheinung, 
welche  uns  über  das  Wesen  einer  vergangenen  Zeit  Auskunft 
ertheilen  können. 

I. 

An  Reichthum  der  Gemüthsent Wickelung  und  Tiefe  der  Em- 
pfindung ist  das  Geschlecht,  auf  dessen  Schultern  wir  stehen,  von 
keinem  anderen  übertroffen  worden.  Die  enge  Begrenzung,  welche 
dem  damaligen  baltischen  Pro vinzial leben  gesteckt  war,  die  Ein- 
förmigkeit, in  welcher  die  meisten  Existenzen  verliefen  und  die 
Undeutlichkeit  der  am  Horizont  auftauchenden  Bilder  sorgten  da- 
für, dass  die  «Generation  vor  uns>  die  Welt  des  Herzens  für 
ihren  Hauptreichthum  ansah  und  in  der  Vertiefung  gemüthlicher 
Beziehungen  Ersatz  für  Armuth  und  Farblosigkeit  ihrer  äusseren 
Umgebung  suchte.  Jedes  Blatt  des  vorliegenden  Tagebuchs  be- 
weist, wie  weit  man  es  zu  jener  Zeit  in  der  Kunst  gebracht  hatte, 
die  Erlebnisse  des  Tages  durch  vertiefte  Auffassung  und  liebevolle 
Hingabe  an  anscheinend  kleine  Aufgaben  zu  adeln.  Durch  das 
gesammte  kleine  Buch  aber  zieht  sich  als  rother  Faden  e  i  n  Ge- 
danke, der  damals  von  Vielen  und  zwar  von  den  Besten  getheilt 
wurde  und  auf  den  sich  heute  nur  noch  Einzelne  besinnen  mögen : 
die  Meinung  nämlich,  dass  jeder  Schritt  auf  der  Bahn  geläuterter 
Religiosität  zugleich  einen  Fortschritt  des  Landes  bedeute  und 
dass  auf  keinem  anderen  Wege  als  diesem  vorwärts  zu  kommen 
sei.  Unter  dem  Eindrucke  der  trüben  Vorgänge  der  40er  Jahre 
stehend,  bekennt  der  Tagebuchschreiber  sich  mit  zunehmender  Ent- 
schiedenheit zu  der  Ueberzeugung,  dass  das  moralische  und  materielle 


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770 


Bericht  über  ein  altes  Tagebuch. 


um  den  sittlichen  Fortschritt  derselben  von  der  ökonomischen 
Emancipation  bedingt  zu  wissen,  huldigte  der  grösste  Theil  der 
livländischen  Geistlichkeit  Grundsätzen,  welche  man  die  liberalen 
nannte.     Die  Unmöglichkeit,  eine  arme  und  abhängige  Land- 
bevölkerung zu  wahrer  menschlicher  und  christlicher  Bildung  ver- 
holten zu  sehen,  war  so  handgreiflich,  dass  Landprediger,  die  es 
mit  ihrem  Amte  ernst  nahmen,  Liberale  im  landesüblichen  Sinne 
des  Wortes  sein  m  u  s  s  t  e  n.    Niemals  ist  die  Zahl  tüchtiger, 
fähiger ,  für  ihre  Aufgaben  begeisterter  livländischer  Prediger 
grösser  gewesen,  als  im  Zeitalter  des  wiedererwaehten  kirchlichen 
Bewusstseins.    Unzweifelhaft  sind  in  der  Hitze  des  gegen  rationa- 
listische Selbstzufriedenheit  und  hermhutischen  Separatismus  ge- 
führten Kampfes  mannigfache  Fehler  begangen  worden  —  die  Ge- 
sinnung, welche  dieser  Kampf  trug,  und  der  Feuereifer,  mit  welchem 
die  Kämpfer  sich  die  Förderung  der  Volksbildung  angelegen  sein 
Hessen,  verdienen  nichts  desto  weniger  die  höchste  und  dankbarste 
Anerkennung.    Jedes  Blatt  unseres  Tagebuchs  bezeugt,  dass  es  in 
der  That  ein  neuer  und  besserer  Geist  war,  der  seit  Ausgang  der 
40er  Jahre  in  die  herrschenden  Schichten  unserer  Gesellschaft  fuhr 
und  dass  kein  anderer  Stand  um  diese  sittliche  Erneuerung  so  er- 
hebliches Verdienst  erworben  hat,  wie  der  geistliche.    Die  Kirche 
stand  auf  der  Höhe  ihres  Einflusses,  weil  sie  zugleich  eine  religiöse 
und  eine  sociale  Aufgabe  zu  lösen  hatte  und  weil  sie  über  ein 
aussergewöhnlich  grosses  Mass  hervorragender  Talente  gebot.  Auf 
gleich  engem  Raum  mögen  nur  selten  so  viele  ausgezeichnete 
Kanzelredner,  feinsinnige  Seelsorger  und  Gedankenveredler  zusammen 
gestanden  haben,  wie  damals,  wo  jede  Synode,  jedes  in  grösserem 
Styl  gefeierte  Missions-  und  Bibelfest  eine  Art  Ereignis  bildete 
und  wo  die  bei  solchen  Gelegenheiten  zum  Ausdruck  gekommenen 
guten  und  fruchtbaren  Gedanken  durch  hundert  kleine,  schier  un- 
sichtbare Canäle  über  das  halbe  Land  geleitet  wurden.  Ueber 
das  halbe  Land,  weil  Lettland  und  Estnisch-Livland  zwei  ver- 
schiedene, nur  mangelhaft  mit  einander  verbundene  Welttheile 
bildeten.    Was  es  mit  dieser  Bewegung  auf  sich  gehabt,  ist  mir 
nie  verständlicher  gewesen,  als  bei  Leetüre  unseres  Tagebachs. 
Der  Tagebuchschreiber  hat  niemals  eine  Landes-  oder  Sprengels- 
synode mitgemacht,  das  nördliche  Livland  kaum  öfter  als  ein  halbes 
Dutzend  Male  besucht ;  mit  eigentlicher  Theologie  hat  er  nichts 
zu  schaffen  und  pietistischen  Neigungen  steht  er  so  weit  ent- 
fernt, dass  seine  Aufzeichnungen  von  Bällen,  Jagden  und  anderen 


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778 


Bericht  über  ein  altes  Tagebuch. 


dass  der  bekannte  Aussprach,  nach  welchem  allein  das  Mass  über- 
nommener Pflichten  dem  Menschen  den  Werth  giebt,  «bei  uns» 
besondere  Bedeutung  habe.  —  Damit  geht  eine  Liebe  und  Werth- 
schätzung des  lettischen  Volksthums  Hand  in  Hand,  in  welcher 
der  Tagebuchschreiber  sich  mit  seinen  Freuuden  und  Gesinnungs- 
genossen aufs  eugste  verbunden  weiss.    Mit  zuweilen  überschwäng- 
licher  Freude  werden  die  aus  der  Volksmasse  hervorragenden  ehr- 
würdigen Gestalten  einzelner  patriarchalisch  waltender  Kirchen- 
vormünder, Aeltesten  und  Gemeinderichter  als  Bürgen  einer  besseren 
Zukunft  des  gesammten  Volkes  begrüsst  und  Zeiten  erwartet,  zu 
denen  Männer  vom  Schlage  des  würdigen  Sahrum  (des  letzten 
Liven),  des  trefflichen  Panke  und  anderer  seitdem  längst  ver- 
gessenen lettischen  Volksgrössen  nationale  Typen  bilden  würden. 
Mit  Stolz  und  Befriedigung  wird  auf  die  ungeheuren  Fortschritte 
hingewiesen,  welche  das  liviändische  Rochdaln,  das  zum  Sitze  einer 
Gemeinde  freier  Grundbesitzer  gewordene  Rujen  in  Bezug  auf 
Wohlstand  und  Bildung  gemacht  habe  —  mit  beneidenswerther 
Illusionsfähigkeit  die  Ueberzeugung  ausgesprochen,  dass  «der  Liebe» 
gelingen  müsse,  aller  noch  übrig  gebliebenen  Hindernisse  unserer 
Wohlfahrt  Herr  zu  werden  —  alle  Gegensätze  zu  überbrücken 
und  auszugleichen.    Anzeichen  dafür  glaubte  man  insbesondere 
während  der  auf  die  Beendigung  des  Krimkrieges  folgenden  Zeiten 
allgemeinen  Aufathmens  und  froher  Zukunftshoffnungen  mannigfach 
entdecken  zu  können.    Zwischen  die  Blätter  des  Tagebuchs  ist 
ein  Brief  gelegt,  in  welchem  ein  Freund  dem  Tagebuchschreiber 
über  Fölkersahms  Beerdigung  (24.  April  1856)  berichtet,  indem  er 
dessen  Aufmerksamkeit  vornehmlich  auf  einen  Punkt  richtet : 

« Ehe  wir  in  die  festlich  geschmückte  Jacobykirche  traten, 
meldeten  sich  zwölf  rujensche  grundbesitzende  Bauerwirthe  bei  K. 
Sie  hatten  auf  die  erste  Nachricht  von  dem  Tode  ihres  ehemaligen 
Herrn,  des  Begründers  ihrer  Selbständigkeit,  Postpferde  genommen, 
um  ihrer  Trauer  und  dankbaren  Anerkennung  öffentlichen  Aus- 
druck zu  geben  Grossen  Rindruck  machte  mir  die  Antwort,  welche 
der  athletische  Gemeindegerichtsvorsitzer  unserem  K.  ertheilte,  als 
dieser  ihn  fragte,  ob  er  (der  Vorsitzer)  seine  Gefährten  zu  dieser 
Reise  bestimmt  habe:  «Ta  roe§  nebit)  t  (So  war  es  nicht.)  Als  die 
Nachricht  zu  uns  kam,  war  es,  als  ob  Feuer  unter  uns  gekommen 
sei  (ta  fa  arr  ungun)  und  die  zwölf  nächstbenachbarten  Wirthe 
machten  sich  sogleich  mit  mir  auf.  Zwei  Alte  (roc^inttfi)  wollten 
auch  noch  mit,  wir  Hessen  das  aber  nicht  zu  und  reisten  so  eilig 


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780 


Beliebt  über  ein  altes  Tagebuch. 


und  Disputationen  berichtet,  die  sich  auf  halbe  Tage  ausdehnen 
und  die  ganze  Wochen  nachklingen.  Man  bleibt  beim  Kaffeetiscli 
sitzen,  bis  es  Mittagszeit  geworden,  man  lässt  angeschirrte  Pferde 
und  reisefertige  Wagen  warten,  man  vergisst  den  auf  Bescheid 
harrenden  « Starost  >,  weil  man  die  aufgeworfenen  Fragen  durch- 
sprechen, das  Ergebnis  begonnener  Kämpfe  abwarten  will,  um  be- 
stimmende Resultate,  bleibenden  Gewinn  in  die  stille  Einsamkeit 
mitzunehmen,  auf  welche  man  sich  im  regelmässigen  Laufe  der 
Dinge  beschränkt  weiss.  Was  von  des  Lebens  holdem  Ueberfluss 
vorhanden  ist,  wird  weder  zu  raffinirtem  Genuss,  noch  zu  anspruchs- 
voller Repräsentation  benutzt,  sondern  als  Mittel  zur  Sicherang 
reiferer  geistiger  Bewegung  geschätzt  und  in  den  Dienst  höherer 
Interessen  genommen.  Eng  waren  die  Kreise  allerdings  gezogen, 
in  denen  das  Leben  diese  Gestalt  annahm  ;  als  Aristokrative  der 
Geburt  konnten  dieselben  indessen  eben  so  wenig  bezeichnet  werden, 
wie  als  Geistesaristokrative :  es  waren  Aristokrative 
des  Gemuths  und  des  Empfindungslebens,  von  denen  damals 
die  stärksten  und  bleibendsten  Eiuflüsse  geübt  wurden.  Zu  ihnen 
hatte  nahe  jeder  Zutritt,  der  Eigenes  mitzubringen  und  seine 
Mitgliedschaft  durch  den  Adelsbrief  eines  gebildeten  Geistes  und 
fein  gestimmten  Gemüths  zu  legitimiren  vermochte. 


Zum  Verständnis  des  geistigen  Lebens  vergangener  Zeit- 
abschnitte ist  eine  gewisse  Bekanntschaft  mit  den  Quellen  un- 
entbehrlich, aus  denen  frühere  Geschlechter  ihre  Bildung  zogen.  In 
Ländern,  deren  Bewohner  den  grössten  Theil  des  Jahres  hinter 
geschlossenen  Thüren  und  Fenstern  verbringen,  pflegt  das  gedruckte 
Wort  eine  Rolle  zu  spielen,  die  hinter  derjenigen  der  lebendigen 
Rede  wenig  zurückbleibt.  Zeugnisse  darüber,  was  vor  dreissig 
und  vierzig  Jahren  in  unserem  Lande  gelesen  worden,  erscheinen 
aus  diesem  Grunde  eben  so  bemerkenswerth,  wie  Berichte  über  das 
Denken,  Handeln  und  Empfinden  derjenigen,  die  vor  uns  auf 
livländischer  Erde  gesessen  haben. 

Dass  die  am  meisten  und  von  den  Meisten  gelesenen  Schriften 
Schul-  und  Andachtsbücher  sind,  ist  von  altersher  bekannt  und 
allenthalben  giltige  Regel.  Wer  jemals  ältere  Briefe  und  Tage- 
bücher mit  einiger  Aufmerksamkeit  studirt  hat,  wird  über  diesen  Punkt 
nicht  zweifelhaft  sein  und  ziemlich  genau  erfahren  haben,  welche  Er- 
bauungsschriften neben  Bibel  und  Gesangbuch  die  Hauptstellen  in  alten 


II. 


782 


Bericht  über  ein  altes  Tagebuch. 


sohns  gelten  und  trotz  der  grossen  mit  ihrer  Inscenirung  verbundenen 
Schwierigkeiten  Anklang  und  Nachahmung  finden,  weil  sie  zugleich 
dem  künstlerischen  und  dem  religiösen  Bedürfnis  entsprechen,  eben  so 
genussreich  wie  erbaulich  wirken.  Neben  den  Schöpfungen  Mendels- 
sohns wendet  man  sich  denjenigen  Händeis  und  Haydns  zu :  der 
Cultus  Bachs  kommt  erst  ein  reichliches  Jahrzehnt  später  in  Uebung. 

Bei  diesem  letzteren  Umstände  darf  für  einen  Augenblick 
verweilt  werden.  Unser  «Tagebuch»  bestätigt  die  bereits  früher 
gemachte  Wahrnehmung,  dass  der  Geschmack  für  reine  und  strenge 
Klassicität  sich  bei  uns  später  entwickelt  hat,  als  das  Verständnis 
für  Neuklassicität  und  Romantik.  Schiller  und  Körner  waren  sehr 
viel  früher  populär,  als  Goethe,  Shakespeare  und  als  die  weiteren 
Kreisen  erst  neuerdings  zugänglich  gewordenen  Tragiker  des  Alter- 
thums ;  in  den  fünfziger  Jahren  wurden  die  Lieder  Schuberts  und 
Schumanns  von  Musikenthusiasten  gesungen,  welche  die  unsterblichen 
Weisen  des  Figaro  und  der  Zauberflöte  lediglich  aus  dem  Theater, 
die  Beethovenschen  Gesangstücke  überhaupt  nicht  kannten  —  von 
Enthusiasten,  die  geneigt  waren,  Webers  Opern  über  diejenigen 
Mozarts  zu  stellen.  Ausserordentliche  Verdienste  um  die  musika- 
lische Bildung  des  alten  Livland  hat  das  von  E.  Weller  geleitete 
rigasche  Streichquartett  erworben,  dessen  allwinterliche  Kunstreisen 
in  den  kleinen  Städten  des  Landes  Epoche  machten  und  von  der 
Heerstrasse  weiter  ab  wohnende  Kunstfreunde  zu  förmlichen  Wall- 
fahrten veranlassten.  In  dem  Tagebuch  werden  diese  Veran- 
staltungen wie  Ereignisse  behandelt,  die  unvergängliche  Goldfäden 
durch  trübe  und  lichtlose  Lebensabschnitte  zogen,  ja,  mit  religiösen 
Erbauungen  auf  die  nämliche  Stufe  gestellt  werden  konnten.  In 
den  Seelen  der  anspruchslosen  Kunstfreunde  Alt-Livlands  haben 
die  grossen  Meister  Triumphe  gefeiert,  welche  den  Absichten  jener 
Unsterblichen  näher  kamen,  als  die  brausenden  Beifallsspenden 
überfüllter  Concerthäuser.  Hier  wusste  man  noch,  dass  die  Kunst 
eine  sittliche  Mission  habe  —  hier  war  es  buchstäblich  zu  nehmen, 
dass  die  Kunst  um  die  gemeine  Deutlichkeit  der  Dinge  den  goldenen 
Duft  der  Morgenröthe  webe  und  dass  sie  eine  Erlösung  vou  der 
Ewiggestrigkeit  des  Lebens  bedeuten  könne.  --  Dafür  kommen  die 
bildenden  Künste  für  die  damalige  Entwickelung  kaum  in  Betracht. 
Auf  zehn  zutreffende  Urtheile  unseres  Tagebuchs  über  Werke  der 
Tonkunst  kommt  kaum  eins,  welches  von  richtiger  Würdigung 
eines  Bildes  oder  einer  Statue  zeugte.  Der  Geschmack  iu  diesen 
Dingen  war  unsicher  oder  durch  vorgefasste  Meinungen  bedingt, 


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784 


Bericht  über  ein  altes  Tagebuch. 


lässt  sich  den  Muth  und  das  Recht  selbständiger  Meinung  indessen 
nicht  verkümmern  und  ist  entschlossen  zu  wählen,  wie  es  cutis» 
gemäss  ist.  —  Die  Vorherrschaft  derjenigen,  welche  diese  An- 
schauungen zum  Ausdruck  brachten,  stützte  sich  in  nicht  uner- 
heblichem Masse  auf  die  Zustimmung  der  Frauen,  deren  stiller,  aber 
unabweislicher  Einfluss  kaum  jemals  grösser  gewesen  ist,  als  damals, 
wo  der  weibliche  Bildungseifer  den  männlichen  sehr  häufig  übertraf. 

Vollstäudig  wird  das  Bild  der  hier  in  Rede  stehenden  In- 
ländischen Periode  aber  erst,  wenn  man  in  Betracht  zieht,  dass 
die  einheimische  literarische  Production  während  der  .Fahre  1835 
bis  1859  fast  vollständig  ins  Stocken  gerathen  war.    Von  den 
obenerwähnten  einheimischen  Predigtbüchern  und  vereinzelten  theolo- 
gischen Abhandlungen  abgesehen,  thut  das  Tagebuch  kaum  eines 
einzigen  innerhalb  Landes  erschienenen  Buches  Erwähnung.  Was 
sich  auf  einheimische  Verhältnisse  und  Interessen  bezog,  wurde 
mündlich  verhandelt  und  auf  dem  Wege  der  häuslichen  Verständi- 
gung zum  Austrag  gebracht,  —  die  wenigen  in  Riga  und  Dorpat 
erscheinenden  Zeitungen  aber  kamen  höchstens  als  Berichterstatter 
über  Thatsachen,  ja,  kaum  als  solche  in  Betracht,  weil  sie  die  wichtig- 
sten Dinge  häufig  unerwähnt  Hessen .    Die  «Getauften,  Copulirten 
und  Begrabenen»  der  «Rig.  Stadtblätter»  und  die  Nekrologe  des 
«Inland»  bildeten  (uach  Georg  Berkholz'  witziger  Bemerkung)  den 
wichtigsten  Theil  des  einheimischen  Lesestoffs.  Selbst  das  in  früherer 
Zeit  ziemlich  fleissig  angebaut  gewesene  Feld  der  livländischeu 
Geschichte  wurde  von  dem  grösseren  Publicum  der  40er  und  50er 
Jahre  nur  selten  beschritten.    Die  einst  viel  gelesenen  Schriften 
Jannaus,  Merkels,  Thieles  &c.  galten  aus  guten  Gründen  für  ver- 
altet —  von  den  Forschungen  Napierskys  uud  Bunges  und  den 
neu  aufgelegten  *Scriptores  rerum*  nahm  man  an,  dass  sie  nur  für 
Gelehrte  bestimmt  seien,  neuere  lesbare  Bücher  über  diesen  Gegen- 
stand aber  sollte  es  nicht  geben  ;  während  man  das  unbedeutende 
Werk  Kurt  von  Schlözers  wenigstens  gelegentlich  zur  Hand  nahm, 
scheint  Kruses  treffliche  Geschichte  «Kurland  unter  den  Herzögen 
nördlich  von  der  Düna»  wenig  bekannt  geworden  zu  sein  —  Kur- 
land lag  für  viele  Leute  noch  ausserhalb  der  Welt,  und  von  Est- 
land hörte  man  höchstens  in  Pernau  und  Dorpat  zuweilen  reden. 
Endlich  war  von  lettischer  und  estnischer  Literatur  so  wenig  die 
Rede,  dass  die  Verhandlungen  der  beiden  mit  der  Erforschung 
dieser  Sprachen  beschäftigten  Gesellschaften  ausserhalb  gewisser 
pastoraler  Kreise  so  gut  wie  unbeachtet  blieben. 


Notizen. 


Herder»  Briefwechsel  mit  Nicolai.    Im  Originaltext  heraus 
gegeben  von  Otto  H  o  f  f  iu  a  n  n.   Mit  einem  Facsimile.  Berlin, 
Nicoliusche  Verlagsbuchhandlung.   1887.    S.  144.  8. 


.is  kleine  Büchlein  beschäftigt  sich  mit  dem  deutschen 


feSoRj  Klassiker,  der  seine  reichsten  und  schönsten  Lebensjahre 
bei  uns  gelebt  hat,  mit  Herder.  Von  eben  diesen  Jahren  geht  der 
zwar  nicht  unbekannte,  vielmehr  von  H.  Düntzer  in  seiner  Samm- 
lung <Von  und  an  Herder»  bereits  veröffentlichte  Briefwechsel  aus. 
Während  Düntzer  aber  nur  ungeschickt  gemachte  Abschriften  vor- 
lagen, aus  denen  er  manche  Stellen  und  auch  einige  Briefe  ganz 
fortgelassen,  ist  der  vorliegende  vollständige  Abdruck  aus  den 
Originalbriefen  genommen,  die  jetzt  im  Besitze  der  königlichen 
Bibliothek  zu  Berlin  sind.  Der  diplomatisch  genauen  und  mit  allen 
nöthigen  Erläuterungen  versehenen  Ausgabe  sind  dann  noch,  zum 
ersten  Male,  die  Briefe  beigefügt,  welche  Herders  Gattin  nach 
dem  Tode  ihres  Gemahls  mit  seinem  früheren  Redacteur  austauschte. 
Aus  ihnen  »klingt  ein  versöhnender  Schlussaccord  zu  den  unharmoni- 
schen Lauten,  in  die  der  Briefwechsel  der  beiden  Männer  austönte. 
Caroline  legt  gleichsam  ein  frisches  Reis  des  Friedens  zu  den  ver- 
welkten Blättern  t. 

Der  Reiz  des  Buches  —  und  den  hat  es  für  den  Ref.  in 
hohem  Grade  gehabt  —  liegt  darin,  dass  es  eine  abgeschlossene 
Periode  des  Seelenlebens  Herders,  die  mit  seinem  Verkehr  mit 
Nicolai,  wenn  auch  nicht  gerade  in  ursächlichem,  so  doch  in  sehr 
bedingtem  Zusammenhange  stand,  in  voller  Unmittelbarkeit  zur 
Anschauung  bringt.    Der  Briefwechsel  führt  uns  den  jungen  Schrift- 


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788 


Notizen. 


Nicolais  war  nicht  geeignet  und  beabsichtigte  auch  nicht  das  inner- 
lich längst  gestörte  Verhältnis  wieder  herzustellen. 

Die  Leetüre  des  Briefwechsels  ist  selbst  nach  der  Kenntnis 
der  so  trefflich  eingehenden  und  unparteiischen  Herderbiographie 
von  Rudolf  Haym  wohlgeeignet,  die  literarischen  Strömungen  und 
Kämpfe  der  Jahre  17GG— 74  und  Herders  Stellung  in  denselben 
zu  vergegenwärtigen  und  das  Werden  des  Conflicts  zu  veranschau- 
lichen, in  den  Herder  nach  und  nach  zu  dem  Wortführer  der 
Literatur  jener  Periode  gerathen  musste.  Zugleich  aber  will  es 
uns  dünken,  dass  Nicolais  Persönlichkeit  weniger  abstossend  aus 
seinen  Briefeu  hervortritt,  als  sie  gemeinhin  dargestellt  zu  werden 
pflegt.  Fr.  B. 


Ciraf  L>.  A.  Tolstoi,  Die  Stndtsihulen  wahrend  dir  Regierung  der  Kaiserin 
Katharina  II.  Au«  dem  Russisehen  übersetzt  von  1\  v.  K  ii  g  e  1  g  e  B. 
St.  Petersburg  1887.    S.  200.  8. 

Von  den  drei  Büchern  des  Grafen  Tolstoi  zur  Geschichte  der 
Pädagogik  unter  Katharina  II.  ist  das  vorliegende,  vielfach  bereits 
besprochene,  das  umfänglichste  und  seinem  Inhalte  nach  bedeutendste. 
Es  stellt  den  Leser  von  vornherein  auf  eine  höhere  Warte,  von  der 
aus  er  einen  Ueberblick  über  den  Stand  des  Volksschulwesens  eines 
guten  Theils  vou  Europa  während  der  achtziger  Jahre  des  vorigen 
Jahrhunderts  gewinnt  und  in  die  idealistisch-kosmopolitische  Strö- 
mung jener  Periode  eingeführt  wird.  Der  Umstand,  dass  der 
Kaiserin  Blick  seit  dem  Erlass  der  Statthalterschaftsordnung  auch 
dem  Schulwesen  sich  zuwandte  und  den  neu  errichteten  Collegien 
der  allgemeinen  Fürsorge  den  vorgeschriebenen  Wirkungskreis  auch 
auszufüllen  gedachte ,  führte  sie  bei  ihrer  Zusammenkunft  mit 
Joseph  II.  in  Mohilew  auf  das  ihr  schon  empfohlene  österreichische 
reorganisirte  Schulsystem.  Von  dessen  günstigen  Wirkungen  wusste 
der  Kaiser  so  lebendig  zu  erzählen,  dass  seine  Zuhörerin  einen 
bleibenden  Eindruck  gewann.  Sie  ist  ihm  nachgegangen  und  hat 
nach  zwei  Jahren  sich  zur  Annahme  des  gerühmten  Systems  ent- 
schlossen. 

Diese  Thatsache  giebt  dem  Verfasser  Aulass  zu  einer  höchst 
durchsichtigen  und  fesselnden  Darstellung  der  Eutwickelung  des 
österreichischen  Schulwesens  unter  Maria  Theresia,  welches  durch 
den  von  Joseph  auf  Katharinas  Bitte  ihr  überlassenen  serbischen 
Schulmann  Jankovics  de  Mirievo  nun  nach  Russland  übertragen 


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71K) 


Notizen. 


züglichsten  Lehrbücher,  sondern  auch  die  hervorragendsten  uud 
vorzüglichsten  Werke  zum  Lesen  besitzen,  was  freilich  dem  russi- 
schen Volk  bei  der  erst  vor  wenigen  Jahren  begonnenen  Einrichtung 
öffentlicher  Volksschulen  einstweilen  noch  mangelt,  und  deswegen 
ist  die  Abfassung  von  Lehrbüchern  für  diese  eben  so  nothwendig, 
als  eine  Uebersetzung  für  die  deutschen  Schulen  überflüssig  wäre.» 
Die  Commission,  erzählt  Graf  Tolstoi  nach  dem  Protokoll,  fand 
diese  Vorstellung  erfüllt  von  frechen  Ausdrücken,  von  ironischen 
Wendungen,  von  Tadel  gegen  die  höchste  Gewalt,  welche  die  Com- 
mission gegenüber  dem  Schulamt  darstellt,  von  unstatthaften  Wider- 
legungen, welche  einer  untergeordneten  Behörde  gegenüber  den 
Resolutionen  ihrer  Oberbehörde  eben  so  wenig  geziemen,  als  sie 
unbegründet  sind  u.  s.  w.  —  Die  Differenzen  dauerten  fort,  das 
Schulcollegium  weigerte  sich  beharrlich  der  unnützen  Arbeit  und 
im  J.  1791  fing  die  Schulcommission  selbst  an  die  russischen  Schul- 
bücher ins  Deutsche  übersetzen  zu  lassen,  €  was  nicht  schwer  war,> 
sagt  Graf  Tolstoi,  «da  der  grösste  Theil  derselben  aus  dem  Deutschen 
ins  Russische  übersetzt  oder  nach  deutschen  Büchern  umgearbeitet 
worden  war> ;  diese  Uebersetzungen  sandte  die  Commission  zum 
Druck  ins  Schulcollegium.  Aber  hier  entsinnt  sich  der  Verfasser, 
dass  er  nicht  nur  Geschichtsforscher  ist:  er  berichtet,  aber 
urtheilt  nicht. 


Z  u  r  ü  e  s  c  h  i  c  h  t  e  der  St.  P  e  t  r  i  s  e  h  n  1  e  in  St,  Petersburg. 

1.  Theil.    Gesehichte  der  St.  Petrisehule  von  1802-87.    Von  Ernst 

Frielendorf  f. 

2.  Theil.    Das  Lehrerpersonal  der  St,  Petrisehule  von  1710—1887.  Von 

Julius  I  Versen.   St,  Petersburg  1887.   8.121  +  67.  8. 

Von  der  umfassenden  Ueberschau,  die  das  eben  besprochene 
Buch  von  hohem  Standpunkte  über  eine  entlegene  Zeit  und  ein 
weit  ausgedehntes  Arbeitsfeld  gewährt,  auf  dem  der  Blick  nur 
spärliche  Früchte  und  von  zweifelhafter  Güte  findet,  wenden  wir 
uns  gern  zur  Schilderuug  einer  blühenden,  sich  erfolgreich  steigern- 
den Thätigkeitssphäre  der  Gegenwart,  wie  sie  die  Arbeit  des 
Directors  der  St.  Petrischule  bietet.  Im  J.  1862  hatte  sich  ein 
Jahrhundert  dieser  Anstalt  vollendet  und  war  ihre  Geschichte  durch 
Dr.  C.  Lammerich  in  einem  starken  Bande  in  aller  Umständlichkeit 
geschrieben.  Jetzt,  da  seitdem  wieder  25  Jahre  dahingegangen, 
hat  es  den  gegenwärtigen  Leiter  zur  Fortführung  des  Werkes  ge- 
drängt.   Und  er  hat  wohl  daran  gethan.   Denn  wer  weiss,  ob 


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792 


Notizen. 


gegenübertritt.   Was  der  Verfasser  als  solchen  anführt,  das  genannte 
Werk  Listowskis,  Ssamarins  «Rossische  Grenzmarken»,  Philarets 
«Geschichte  der  Kirche  Russlands»  und  «andere  geistliche  Zeit- 
schriften, welche  dem  Verfasser,  dank  der  Liebenswürdigkeit  des 
Vorstehers  der  Kaiserlich  Russischen  Botschaftskirche  zu  Berlin, 
Propst  Alexius  Maltzew,  bereitwilligst  zur  Verfügung  gestellt 
wurden»  —  wird  schwerlich  mehr  als  die  gebührende  Würdigung 
erfahren.    Erzählungen,  über  deren  Herkunft  man  nicht  genauer 
belehrt  wird,  als  es  hier  geschieht,  und  welche  den  Charakter  der 
seinerzeit  von  Juri  Ssamarin  veröffentlichten  Memoiren  des  Indrik 
Straumit  an  sich  tragen,  pflegt  man  —  wir  constatiren  nur  die 
wissenschaftliche  Gewohnheit  der  Deutschen  —  mit  Mistrauen  und 
Zweifel  aufzunehmen.   Sodann  stimmen  luhalt,  Ton  und  Auffassung 
dieser  Schrift  nicht  überein  mit  ausführlicheren  Darstellungen  jener 
Zeit,  die  vou  der  anderen  Seite  geliefert  worden  sind  und  welche 
den  in  den  Augen  der  deutschen  Historiker  unbestreitbaren  Vorzug 
haben,  ihren  wissenschaftlichen  Anforderungen  Genüge  zu  leisten. 
Der  Verfasser  hat  sich  nicht  die  Mühe  gegeben,  auf  jene  einzu- 
gehen und  deren  Unrichtigkeit  nachzuweisen.    Endlich  aber  ist  die 
Rechtsfrage,  das  Princip  des  ganzen  Streites,  vollständig  bei  Seite 
geblieben  und  damit  der  nothwendige  Boden  für  eine  Beurtheilung 
der  angeführten  Thatsachen  nicht  geschaffen  worden.    Wir  müssen 
es  uns  versage»,  hier  auf  Schriften  aufmerksam  zu  machen,  welche 
dem  letzterwähnten  Mangel  in  historisch  und  juristisch  unanfechtr 
barer  Weise  abgeholfen  haben. 

Dass  der  Verfasser  mit  seinem  Auszuge  mehr  hat  geben 
wollen,  als  eine  geschichtliche  Darstellung,  erhellt  aus  dem  Schluss, 
welcher  die  «heftigen  Anklagen  gegen  die  russische  Regierung»  von 
Seiten  der  livländischen  Ritterschaft  und  der  Evangelischen  Allianz 
in  seiner  Weise  würdigt.  Wir  werden  darüber  belehrt,  dass  die 
sogenaunte  Baltische  Frage  zwei  Seiten  habe,  eine  kirchliche 
und  eine  politische.  « Beide  werden  oft  verwechselt  —  zu- 
weilen wol  mit  Absicht,  wie  ich  vermuthe  —  während  sie  doch 
sorgfaltig  auseinandergehalten  werden  sollten.  Die  orthodoxe  Kirche 
treibt  keine  Propaganda,  und  niemand  wird  in  Russland  seines 
Glaubens  wegen  verfolgt  oder  unterdrückt.  —  Thatsache  ist,  dass 
sowol  in  den  baltischen  Provinzen  wie  überall  in  Russland  völlige 
Gewissensfreiheit  herrscht,  dass  Muhamedaner,  römische  Katholiken 
und  Protestanten  in  voller  Freiheit  ihre  Religionen  bekennen  uud 
ausüben  können. 


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794 


Notizen. 


r 


Buch  nicht  legen,  aber  dankbare  harmlose  Leser  wird  es  finden, 
da  es  in  warmer  Liebe  für  den  vaterländischen  Boden  geschrieben 
ist  und  in  dem  anspruchslosen  Erzählerton  ausser  vielem  Neben- 
sächlichen auch  manche  anziehende  Notiz  mitzutheilen  weiss. 
Namentlich  das  Capitel  cvor  hundert  Jahren»  ist  lange  nicht  be- 
kannt genug,  um  nicht  vielen  Neues  zu  bringen  und  die  heutigen 
Alten  in  die  Werdezeit  ihrer  Grossväter  zu  versetzen.  Als  Werk- 
stücke zu  einer  einstigen  Landeskunde  unserer  Provinzen  wollen 
wir  denn  auch  von  vornherein  die  noch  ausstehenden  Bände  will- 
kommen heissen.  Fr.  B. 


4 


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.   -  J 


Berichtigung: 
Heft  8  S.  71«  Z.  Iii  v.  n.  I.  «und  von  Rigai  st.    und  Riga». 


Verantwortlicher  Riitactenr:  Heinrich  Hollander. 


Äonnojenno  ueinypo».  -  Pceei»,  93-ro  MapTa  1S8S  r. 

Uodruckt  boi  I.in.lfors*  F.rtiiri  in  K»val. 


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