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Full text of "Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik"

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Archiv  für  Sozialwissenschaft 

und  Sozialpolitik 

Heinrich  Braun,  Werner  Sombart,  Max  Weber, 
Edgar  Jaffe,  Robert  Michels,  Emil  Lederer 


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ARCHIV 

FÜR 

SOZIALWISSENSCHAFT 

UND 

SOZIALPOLITIK 

NEUE  FOLGE 

DES 

ARCHIVS  FÜR  SOZIALE  GESETZGEBUNG  UND  STATISTIK 

BEGRÜNDET  VON 

HEINRICH  BRAUN 

HERAUSGEGEBEN 
VON 

WERNER  SOMBART  MAX  WEBER 

PROFESSOR  IN  BRESLAU  PROFESSOR  IN  HEIDELBERG 

UND 

EDGAR  JAFFE 

IN  HEIDELBERG 


NEUNZEHNTER  BAND 

(DER  NEUEN  FOLGE  I.  BAND) 


TÜBINGEN 

VERLAG  VON  J.  C.  B.  MOHR  (PAUL  SIEBECK) 

1904 

BRUXELLES:  c.  jcuquabdt's  hofbuchhandl.  falk  fils.—  BUDAPEST :  vvrx>wkst> 
pfeifeb.  —  CHRISTIANIA:  h.  ascheuouo  4  co.  —  HAAG :  bblinfantb  fbebes.  — 
KOPENHAGEN:  andil  pbbd.  host  *  bön.  —  NEW-  YORK':  oüstav  e.  stechest.  — 
PARIS:  u.  i.k  80CDIEB.  —  ST.PE7ERSBURG:  k.  l.  bickeb.  —  ROM:  lobscher  *  co. 
—  STOCKHOLM :  bambon  4  wallin.  —  WIEN:  manzschb  k.  k.  hofvbblaos-  und 
univebsitätbbcchhandluno.  —  ZÜRICH:  ed.  bascheb's  ebben. 


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Nachdruck  uad  Übersettung  vorbehalten. 


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INHALT  DES  NEUNZEHNTEN  BANDES. 


Seite 

Geleitwort  der  Herausgeber   1* 

ABHANDLUNGEN. 

Sombart,  Prof.  Dr.  W.,  in  Breslau,  Versuch  einer  Systematik  der 

Wirtschaftskrisen   i 

Weber,  Prof.  Dr.  M-,  in  Heidelberg,  Die  „Objektivität"  sozial- 
wissenschaftlicher und  sozialpolitischer  Erkenntnis    ....  22 

Tönnies,  Prof.  F.,  in  Eutin,  Amnions  Gesellschaftstheorie     .    .  88 

Bernstein,  Ed.,  in  Berlin,  Die  britischen  Arbeiter  und  der  zoll- 
politische Imperialismus  112 

Bonn,  Dr.  M.  J.,   in  Frankfurt  a.  M.,  Die   irische  Agrarfrage. 

I.  Das  heutige  Irland  140 

Tugan-Baranowsky,  Dr.  M.,  in  Loschwitza,  Der  Zusammen- 
bruch der  kapitalistischen  Wirtschaftsordnung  im  Lichte  der 
national« ökonomischen  Theorie  273 

K  e  s  t  n  e  r ,  Dr.  F.,  in  Halle  a.  S.,  Die  Bedeutung  der  Haushaltungs- 
budgets für  die  Beurteilung  des  Ernährungsproblems    .    .    .  307 

Weber,  Prof.  Dr.  M.,  in  Heidelberg,  Agrarstatistische  und  sozial- 
politische Betrachtungen  zur  Fideikommißfrage  in  Preußen   .  503 

Hoopcr,  R.  H.,  in  London,  Dreizehn  Jahre  sozialen  Fortschrittes 

in  Neuseeland  575 


Eberstadt,  Dr.  R.,  in  Berlin,  Der  Entwurf  eines  preußischen 

Wohnungsgesetzes,  seine  Vorgeschichte  und  seine  Bedeutung  173 

Bauer,  Prof.  St.,  in  Basel,  Die  Entwicklung  zum  Zehnstundentage  203 

Land  mann,  Dr.  J.,  in  Basel,  Die  Ausdehnung  des  Arbeiter- 
schutzes in  Frankreich.  (Das  Gesetz  vom  11.  Juli  1903).    .  348 

Arens,  W.,  in  Lankwitz-Berlin,  Die  staatliche  Pensionsversicherung 
der  Privatangestellten.  (Mit  besonderer  Berücksichtigung  des 
österreichischen  Gesetzentwurfs)  378 

Hauer,  Prof.  St.,  in  Basel,  Die  neuere  Kinderschutzgesetzgebung 

in  Deutschland  und  in  Großbritannien  616 

Falken  bürg,  Dr.  Ph.,  in  Amsterdam,  Die  Fortschritte  auf  dem 

Gebiete  des  Arbeiterschutzes  in  den  Niederlanden  ....  641 


IV  Inhalt. 

Seit« 


Macrosty,  H.  W.,  in  London,  Die  Arbeiterfrage  in  Südafrika  .  403 
Pringsheim,  Dr.  O.,  in  Breslau,  Kritische  Anmerkungen  zur 

revisionistischen  Agrarpolitik  418 

Wetzlar- Kilzer,  F.,  in  Frankfurt  a.  M.,  Die  Preise  der  Konsum- 
vereine und  der  Detaillisten.  (Preisvergleichende  Untersuchung 

für  Frankfurt  a.  M.)  435 

Pease,  E.  R.,  in  London,  Die  neue  Arbeiterpartei  in  England  .  650 
Fürth,  Henriette,  in  Frankfurt  a.  M.,  Wohnbedarf  und  Kinderzahl. 

(Ein  Beitrag  zur  Wohnungsfrage)  ....   660 

LITERATUR-ÜBERSICHTEN. 

Sombart,  Prof.  Dr.  W.,  in  Breslau,  Der  bibliographische  und 

literarisch-kritische  Apparat  der  Soziahvisscnschaften .    .    .    .  224 

Brentano,  Prof.  Dr.  L.,  in  München,  Zur  Genealogie  der  An- 
griffe auf  das  Eigentum  251 

Loria,  A.,  Prof.  Dr.,  in  Turin,  Die  Entwicklung  der  italienischen 

Nationalökonomie  in  jüngster  Zeit  678 

Lindemann,  Dr.  H.,  in  Stuttgart,  Zur  Literatur  über  die  Woh- 
nungsfrage  694 

BÜCHER-BESPRECHUNGEN. 

Stein,  L.,  Die  soziale  Frage  im  Lichte  der  Philosophie.  Be- 
sprochen von  Prof.  F.  Tönnies  in  Eutin  442 

Koigen,  D.,  Die  Kulturanschauung  des  Sozialismus.  Besprochen 

von  Prof.  /''.  Tönnies  in  Eutin  457 

Schmidt,  R.,  Die  gemeinsamen  Grundlagen  des  politischen  Lebens. 

Besprochen  von  Dr.  E.  Lask  in  Straßburg  i.  E.  .  .  460 

Bauer,  St.,  Die  gewerbliche  Nachtarbeit  der  Frauen.  Besprochen 

von  Dr.  R.  Fuehs  in  Karlsruhe  479 

Vogelstein,  Th.,  Die  Industrie  der  Rheinprovinz  1888 — 1900. 
Pieper,  L.,  Die  Lage  der  Bergarbeiter  im  Ruhrrevier.  Gott- 
h  e  i  n  e  r ,  E.,  Studien  über  die  Wuppertaler  Textilindustrie  und 
ihre  Arbeiter  in  den  letzten  20  Jahren.  Besprochen  von  Dr. 
/  Goldstein  in  Zürich  489 


Druck  fe  h  lerberichtigung: 

S.   89  Zeile  3  von  oben  lies  durch  statt  auf 

„  102    „    13    „    unten  „   Leuten  „  Leute 

„109    „     2    „      „      „    Erziel  ung  statt  Erziehung. 


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Geleitwort. 


Als  das  „Archiv"  vor  nunmehr  einem  halben  Menschenalter 
ins  Leben  trat,  übte  es,  besonders  auf  uns  Jüngere,  eine  außer- 
ordentliche Anziehungskraft  aus.  Daß  diese  Empfindung  tatsächlich 
in  weiten  Kreisen  geteilt  wurde,  zeigte  der  Erfolg  des  „Archivs", 
das  sich  —  obwohl  von  einem  „Außenseiter"  herausgegeben  und 
neben  alte  und  bewährte  Zeitschriften  unseres  Faches  tretend,  — 
doch  binnen  kurzem  eine  angesehene  wissenschaftliche  Stellung 
und  einen  immerhin  beachtenswerten  Einfluß  auf  das  praktische 
sozialpolitische  Streben  zu  erobern  vermochte.  Wie  kam  das? 
Wenn  wir  diese  Frage  mit  dem  Hinweis  auf  das  Herausgebertalent 
des  Begründers  der  Zeitschrift  beantworten  wollten,  so  wäre  damit 
eine  befriedigende  Erklärung  noch  nicht  gegeben.  Denn  so  zweifellos 
dieses  Talent  war,  so  konnte  es  sich  doch  nur  darin  äußern,  daß 
es  die  Eigenart  des  „Archivs"  bestimmte.  Und  es  drängt  sich  uns 
die  andere  Frage  auf:  worin  diese  Eigenart  bestand? 

Will  man  ihr  gerecht  werden,  so  wird  man  vor  allem  fest- 
stellen müssen,  daß  es  in  gewisser  Hinsicht  einen  neuen  Typus  in 
der  sozialwissenschaftlichen  Zeitschriftenliteratur  geschaffen  hat  oder 
zu  schaffen  wenigstens  beabsichtigte.  Das  „Archiv"  wurde  als  eine 
„SpezialZeitschrift"  gegründet:  Die  „Spezialität',  die  es  pflegen 
sollte,  war  die  „Arbeiterfrage"  im  weitesten  Verstände. 

Die  „Arbeiterfrage"  hatten  nun  auch  vorher  schon  zahlreiche 
Zeitschriften  in  Deutschland  und  im  Auslande  gepflegt,  aber  der 
Schritt,  den  das  „Archiv"  über  seine  Vorgänger  hinaustat,  war  der, 
daß  es  die  mit  dem  Namen  der  „Arbeiterfrage"  bezeichneten  Pro- 
bleme in  einen  allgemeinsten  Zusammenhang  stellte,  daß  es  die 
„Arbeiterfrage"   in  ihrer  Kulturbedeutung   erfaßte,  als  den 

Archiv  für  Sozial  Wissenschaft  u.  Sozialpolitik.  I.    ( A.  f.  so*.  G.  u.  St.  XIX.)  t.  * 


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Geleitwort 


äußerlich  am  deutlichsten  wahrnehmbaren  Ausdruck  eines  viel 
größeren  Erscheinungskomplexes:  des  grundstürzenden  Umgestal- 
tungsprozesses, den  unser  Wirtschaftsleben  und  damit  unser  Kultur- 
dasein überhaupt  durch  das  Vordringen  des  Kapitalismus  erlebten. 
Den  aus  dieser  weltgeschichtlichen  Tatsache  sich  ergebenden  prak- 
tischen Problemen  die  Dienste  der  Wissenschaft  zur  Verfügung  zu 
stellen,  sollte  die  Aufgabe  der  neuen  Zeitschrift  bilden.  Damit  aber 
war  im  wesentlichen  die  Eigenart  des  „Archivs"  bestimmt. 

Die  neue  Zeitschrift  wurde  eine  „SpezialZeitschrift"  nicht  dem 
Stoffe  nach  (wie  etwa  das  „Finanzarchiv"),  sondern  dem  Gesichts- 
punkte nach.  Als  ihr  Arbeitsgebiet  ergab  sich  die  Behandlung 
aller  Phänomene  des  wirtschaftlichen  und  gesamt-gesellschaftlichen 
Lebens  unter  dem  Gesichtspunkt  der  Revolutionierung  durch  den 
Kapitalismus,  wobei  naturgemäß  die  Wirkungen  der  sich  voll- 
ziehenden Neugestaltungen  auf  die  Lage  der  arbeitenden  Klassen 
und  die  Rückwirkungen,  die  von  diesen  selbst  oder  von  der  Ge- 
setzgebung ausgingen,  in  erster  Linie  Berücksichtigung  finden 
mußten. 

Wenn  die  neue  Zeitschrift  das  vieldeutige  und  oft  miß- 
brauchte Wort  „sozial"  im  Wappen  führte,  so  geschah  dies  an- 
gesichts der  eigenartigen  Problemstellung  ganz  zu  recht,  voraus- 
gesetzt, daß  man  das  Wort  „sozial"  in  dem  scharf  umgrenzten 
Sinne  gebraucht,  der  allein  die  Gewähr  der  Eindeutigkeit  und 
Präzision  enthält  In  diesem  Sinne  bedeutet  auch  dies  Wort  nicht 
sowohl  die  Abgrenzung  eines  bestimmten  Kreises  von  Phäno- 
menen, als  vielmehr  den  Gesichtspunkt,  unter  dem  die  Er- 
scheinungen des  wirtschaftlichen,  wie  die  des  übrigen  gesellschaft- 
lichen Lebens  betrachtet  werden:  das  ist  die  Ausrichtung  aller  öko- 
nomischen Einzelphänomene  auf  ein  bestimmtes  Wirtschaftssystem, 
also  ihre  Betrachtung  unter  dem  Gesichtpunkte  der  historischen  Be- 
dingtheit; das  ist  die  Aufdeckung  der  ursächlichen  Zusammenhänge 
zwischen  der  wirtschaftlichen  Entwicklung  und  allen  übrigen  gesell- 
schaftlichen Erscheinungen:  beides  unter  bewußter  Beschränkung 
auf  die  Gegenwart,  das  heißt  die  durch  das  Vordringen  des  Kapi- 
talismus gekennzeichnete  Geschichtsepoche. 

Die  eigenartige  Problemstellung  des  „Archivs"  brachte  andere 
Eigenarten  von  selbst  mit  sich.  Offenbar  mußte  die  Zeitschrift, 
wenn  sie  ihre  Aufgabe  erfüllen  wollte,  ohne  alle  Rücksicht  auf 
nationale  Schranken  den  Kapitalismus  überall  dort  aufsuchen,  wo 
er  sich  fand.    Von  Anfang  an  wurden  deshalb  sämtliche  Lander 


Geleitwort. 


mit  kapitalistischer  Entwicklung  in  die  Beobachtung  einbezogen. 
Diese  systematische  Ausdehnung  auf  ein  räumlich  möglichst  weites 
Gebiet  verlieh  dem  „Archiv",  in  stärkerem  Maße  als  anderen  Organen 
dieses  Faches,  einen  „internationalen"  Charakter.  Die  sachliche 
Internationalität  wurde  aus  praktischen  Gründen  von  selbst  zu  einer 
persönlichen  Internationalität.  Der  Mitarbeiterkreis  umfaßte  von 
den  ersten  Heften  an  die  gesamte  Kulturwelt,  teilweise  sogar  unter 
auffälliger  Bevorzugung  des  Auslandes. 

Weil  aber  der  wissenschaftliche  Charakter  der  Zeitschrift 
von  vornherein  betont  wurde  (mag  sein,  daß  daneben  die  Person 
des  Begründers  von  starkem  Einfluß  war),  so  rekrutierten  sich  die 
Mitarbeiter  von  Anfang  an  nicht  nur  aus  aller  Herren  Länder,  sondern 
auch  aus  aller  Parteien  Lager.  Das  „Archiv"  war  nicht  nur  inter- 
national, sondern  auch  die  erste  wirklich  „interfraktionelle"  Zeit- 
schrift unseres  Faches.  — 

Das  „Archiv"  hatte  nun  als  eines  seiner  vornehmsten  Arbeitsge- 
biete von  Anfang  an,  neben  der  rein  wissenschaftlichen  Erkenntnis 
der  Tatsachen,  sich  die  kritische  Verfolgung  des  Ganges  der  Ge- 
setzgebung zur  Aufgabe  gemacht.  In  diese  praktisch-kritische 
Arbeit  aber  spielen  unvermeidlich  Werturteile  hinein,  es  wird  neben 
der  Sozial  w  issenschaft  wenigstens  dem  Ergebnis  nach  auch  Sozial- 
p  o  I  i  t  i  k  getrieben,  und  es  entsteht  die  Frage :  Hatte  das  „Archiv" 
bei  dieser  „praktischen"  Kritik  auch  eine  bestimmte  „Tendenz", 
d.  h.  vertraten  die  maßgebenden  Mitarbeiter  einen  bestimmten 
„sozialpolitischen"  Standpunkt?  vereinigte  sie,  abgesehen  von  ihren 
gemeinsamen  wissenschaftlichen  Interessen,  auch  ein  gewisses  Maß 
übereinstimmender  Ideale  oder  doch  grundsätzlicher  Gesichtspunkte, 
aus  denen  praktische  Maximen  ableitbar  waren? 

Das  war  in  der  Tat  der  Fall,  und  in  gewissem  Sinn  beruhte 
gerade  auf  diesem  einheitlichen  Charakter  der  Erfolg  der  Zeitschrift. 
Deshalb  nämlich,  weil  diese  praktische  „Tendenz"  in  den  ent- 
scheidenden Punkten  nichts  anderes  als  das  Resultat  bestimmter 
Einsichten  in  die  historische  sozialpolitische  Situation  war,  mit 
der  gerechnet  werden  mußte.  Sie  war,  mit  anderen  Worten,  be- 
gründet in  gemeinsamen  theoretischen  Anschauungen  über  die 
tatsächlichen  Voraussetzungen,  von  denen  bei  jedem  Versuch 
praktischer  sozialpolitischer  Arbeit,  bei  der  nun  einmal  unabänderlich 
gegebenen  historischen  Lage,  ausgegangen  werden  müsse.  Sie  be- 
ruhte also  auf  Überzeugungen,  die  von  persönlichen  Wünschen 
ganz  und  gar  unabhängig  waren.    Diese  Einsichten,  aus  denen 


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IV  • 


Geleitwort. 


sich  die  „Tendenz"  der  Zeitschrift  ergab,  betrafen  vornehmlich 
folgende  Punkte: 

1.  daß  der  Kapitalismus  ein  nicht  mehr  aus  der  Welt  zu 
schaffendes,  also  schlechthin  hinzunehmendes  Ergebnis  der  ge- 
schichtlichen Entwicklung  sei,  hinter  das  zurück,  zu  den  patriar- 
chalen  Grundlagen  der  alten  Gesellschaft,  heute  kein  Weg  mehr  führt ; 

2.  daß  daher  die  alten  Formen  der  gesellschaftlichen  Ord- 
nungen, die  jenen  patriarchalen  Grundlagen  entsprochen  hatten,  ob 
wir  es  nun  wünschen  oder  nicht,  neuen  Platz  machen  werden,  die 
den  veränderten  Bedingungen  des  Wirtschaftslebens  sich  anzupassen 
vermögen.  Daraus  ergab  sich  insbesondere,  daß  die  Eingliederung 
des  Proletariats,  nachdem  dies  als  Klasse  durch  den  Kapitalismus 
einmal  geschaffen  und  zum  Bewußtsein  seiner  historischen  Eigenart 
gelangt  war,  in  die  Kulturgemeinschaft  der  modernen  Staaten  als 
neues  selbständiges  Element,  ein  unabweisliches  Problem  aller  staat- 
lichen Politik  geworden  sei; 

3.  daß  die  gesellschaftliche  Neugestaltung,  soweit  sie  die  Form 
gesetzgeberischer  Eingriffe  annehmen  will,  nur  das  Ergebnis  einer 
schrittweisen ,  „organischen"  Umbildung  historisch  überkommener 
Zustände  und  Einrichtungen  sein  könne,  bei  der  die  Mithilfe  der 
wissenschaftlichen  Erkenntnis  der  historisch  gegebenen  Lage  nicht 
zu  entbehren  sei. 

Diese  Grundanschauungen  sind  auch  den  neuen  Herausgebern 
des  „Archivs"  gemeinsam.  Wenn  dies  hier  ausdrücklich  ausge- 
sprochen wird,  so  bedeutet  das  natürlich  nicht  etwa,  daß  diese 
Ansichten  in  den  Spalten  unserer  Zeitschrift  außerhalb  oder  ober- 
halb der  Kritik  stehen  werden.  Sondern  es  besagt  lediglich,  daß 
wir  bei  der  praktischen  Kritik,  welche  in  der  Zeitschrift  neben 
der  wissenschaftlichen  Arbeit  zur  Aussprache  gelangt,  durch  jene 
Einsichten  geleitet  sind,  und  daß  wir  uns  mit  den  bisherigen  Mit- 
arbeitern des  „Archivs"  darin  einig  wissen.  Soweit  im  „Archiv" 
überhaupt  Sozialpolitik  getrieben  wird,  wird  dies  auch  künftig 
„Realpolitik"  auf  dem  Boden  des  nun  einmal  unabänderlich  Ge- 
gebenen sein. 

Die  neuen  Herausgeber  sind  nun  aber  der  Überzeugung,  daß 
die  heutige  Lage,  gegenüber  der  Art  wie  das  „Archiv"  in  den 
ersten  Jahren  seines  Bestehens  seiner  Aufgabe  gerecht  zu  werden 
suchte,  eine  Änderung  in  doppelter  Hinsicht  erfordert,  und  beab- 
sichtigen, dieser  veränderten  Situation  bei  der  Gestaltung  der  Zeit- 
schrift Rechnung  zu  tragen. 


Geleitwort. 


v* 


Zunächst  muß  heute  das  Arbeitsgebiet  des  „Archivs",  was  bisher 
nur  tastend  und  von  Fall  zu  Fall  geschah,  grundsätzlich  erweitert 
werden.    Unsere  Zeitschrift  wird  heute  die  historische  und  theo- 
retische Erkenntnis  der  allgemeinen  Kulturbedeutung  der 
kapitalistischen  Entwicklung  als  dasjenige  wissenschaftliche 
Problem  ansehen  müssen,  in  dessen  Dienst  sie  steht    Und  gerade 
weil   sie  selbst  von  einem  durchaus  spezifischen  Gesichtspunkt 
ausgeht  und  ausgehen  muß:  dem  der  ökonomischen  Bedingtheit 
der  Kulturerscheinungen,  kann  sie  nicht  umhin,  sich  in  engem 
Kontakt  mit  den  Nachbardisziplinen  der  allgemeinen  Staatslehre, 
der  Rechtsphilosophie,  der  Sozialethik,  mit  den  sozial  psychologischen 
und  den  gewöhnlich  unter  dem  Namen  Soziologie  zusammengefaßten 
Untersuchungen  zu  halten.    Wir  werden  die  wissenschaftliche  Be- 
wegung auf  diesen  Gebieten  namentlich  in  unseren  systematischen 
Literaturübersichten  eingehend  verfolgen.    Wir  werden  besondere 
Aufmerksamkeit  denjenigen  Problemen  zuwenden  müssen,  die  ge- 
wöhnlich als  sozialanthropologische  bezeichnet  werden,  den  Fragen 
also  nach  der  Rückwirkung  der  ökonomischen  Verhältnisse  auf  die 
Gestaltung  der  Rassenauslese  einerseits,  nach  der  Beeinflussung  des 
ökonomischen  Daseinskampfes  und  der  ökonomischen  Institutionen 
durch  ererbte  physische  und  psychische  Qualitäten  andererseits. 
Dazu,  daß  der  dilettantische  Charakter,  den  die  Behandlung  dieser 
Grenzfragen  zwischen  Biologie  und  Sozialwissenschaft  bisher  an  sich 
trug,  in  Zukunft  überwunden  werde,  möchten  auch  wir  unseren 
Teil  beitragen. 

Die  zweite  Änderung  betrifft  eine  Verschiebung  in  der  Form 
der  Behandlung. 

Als  das  „Archiv"  begründet  wurde,  schwebte  dem  Herausgeber 
als  wichtigste  Aufgabe,  die  es  zu  erfüllen  haben  sollte,  die  Material- 
sammlung vor.  Und  dem  lag  zweifellos  ein  für  jene  Zeit  durch- 
aus richtiger  Gedanke  zugrunde:  es  müsse  ein  Organ  geschaffen 
werden,  das  die  zerstreuten  sozialstatistischen  Daten,  ebenso  wie 
die  sich  immer  mehr  häufenden  sozialen  Gesetze  sammelte  und  in 
übersichtlicher  Anordnung  veröffentlichte.  Das  war  für  Wissen- 
schaft und  Praxis  damals  das  erste  und  dringendste  Bedürfnis,  denn 
ein  derartiges  Sammelorgan  fehlte.  Aber  unsere  Zeit  schreitet  rasch 
weiter.  Seit  der  Begründung  des  „Archivs"  im  Jahre  1888  sind  fast 
ein  Dutzend  Zeitschriften  ins  Leben  getreten,  deren  ausschließliche 
Funktion  jene  Materialsammlung  ist.  Vor  allem  haben  die  Re- 
gierungen fast  aller  Kulturländer  amtliche  Organe  zur  Veröffentlichung 


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VI* 


Geleitwort. 


sozialstatistischer  Tatsachen  geschaffen :  England  die  Labour  Gazette 
(seit  1893),  Frankreich  das  Bulletin  de  l'office  du  Travail  (seit  1894), 
Belgien  die  Revue  du  Travail  (seit  1896),  Österreich  die  Soziale 
Rundschau  (seit  1900),  Deutschland  das  Reichsarbeitsblatt  (seit  1903). 
Daneben  besitzen  die  meisten  Länder  private  Sammlungen :  Deutsch- 
land die  Soziale  Praxis  (seit  1892),  den  Arbeitsmarkt  (seit  1897), 
Frankreich  die  „Questions  pratiques  de  legislation  ouvriere"  (seit 
1900)  usw.  Und  für  eine  fast  lückenlose  Veröffentlichung  des  ge- 
setzgeberischen Materials  sorgen  das  Bulletin  der  Internationalen 
Vereinigung  für  gesetzlichen  Arbeiterschutz  (seit  1902),  das  Annuaire 
de  la  Legislation  du  Travail  (public"  par  l'Office  du  Travail  de 
Belgique,  seit  1897)  und  wiederum  andere. 

Damit  ist  die  Situation  vollständig  verändert.  Auf  der  einen 
Seite  entfallt  das  Bedürfnis,  neben  jenen  mit  reichen  Mitteln  aus- 
gestatteten und  vorzüglich  arbeitenden  Blättern,  eine  wissenschaft- 
liche Zeitschrift  wie  das  „Archiv"  in  den  Dienst  der  reinen  Stoff- 
sammlung zu  stellen.  Wir  werden  —  was  übrigens  schon  bisher 
in  zunehmendem  Maße  geschehen  ist  —  die  sozial  statistischen 
Berichte  einschränken  und  den  wörtlichen  Abdruck  der  Gesetzes- 
texte, die  bisher  einen  breiten  Raum  einnahmen,  zugunsten  ein- 
gehender kritischer  Referate  über  Sinn  und  Bedeutung  der 
Gesetze  und  ganz  besonders  der  Gesetzes-Ent würfe,  vielfach 
verkürzen  können.  Auf  der  anderen  Seite  ist  eine  wichtige  Auf- 
gabe neu  erwachsen:  den  ins  Grenzenlose  anwachsenden  und  in 
den  genannten  Sammelorganen  aufgespeicherten  Stoff  durch  wissen- 
schaftliche Synthese  gleichsam  zu  beseelen.  Dem  Hunger  nach 
sozialen  Tatsachen,  der  noch  vor  einem  halben  Menschenalter  die 
Besten  erfüllte,  ist,  mit  dem  Wiedererwachen  des  philosophi- 
schen Interesses  überhaupt,  auch  ein  Hunger  nach  sozialen  Theorien 
gefolgt,  den  nach  Kräften  zu  befriedigen  eine  der  künftigen  Haupt- 
aufgaben des  „Archivs"  bilden  wird.  Wir  werden  sowohl  die  Er- 
örterung sozialer  Probleme  unter  philosophischen  Gesichts- 
punkten im  wesentlich  verstärkten  Maße  zu  berücksichtigen  haben, 
wie  die  im  engeren  Sinn  „T  h  e  o  r  i  e"  genannte  Form  der  Forschung 
auf  unserem  Spezialgebiet :  die  Bildung  klarer  Begriffe.  Denn  soweit 
wir  von  der  Meinung  entfernt  sind,  daß  es  gelte,  den  Reichtum  des 
historischen  Lebens  in  Formeln  zu  zwängen,  so  entschieden  sind  wir 
davon  überzeugt,  daß  nur  klare  eindeutige  Begriffe,  einer  Forschung, 
welche  die  spezifische  Bedeutung  sozialer  Kulturerscheinungen  er- 
gründen will,  die  Wege  ebnen. 


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Geleitwort. 


VII* 


Kein  Organ  aber  würde  heute  die  soziale  Theorie  in  einer  den 
Anforderungen  strenger  Wissenschaftlichkeit  entsprechenden  Weise 
pflegen  können,  das  sich  nicht  durch  erkenntniskritisch-methodo- 
logische Erörterungen  über  das  Verhältnis  zwischen  den  theoreti- 
schen Bcgriffsgebilden  und  der  Wirklichkeit  auch  grundsätz- 
liche Klarheit  schafft.  Wir  werden  daher  die  wissenschaftliche 
Arbeit  der  Erkenntniskritik  und  Methodenlehre  ständig  verfolgen. 
Und  indem  wir  die  Neue  Folge  des  „Archivs"  mit  einem  Aufsatz 
eines  der  Herausgeber  eröffnen,  der  in  ausfuhrlicher  Weise  diese 
Probleme  behandelt,  wollen  wir  unsere  Absicht  bekunden,  uns  an 
diesen  prinzipiellen  Erörterungen  auch  unsererseits  dauernd  zu  be- 
teiligen. 

Die  Herausgeber. 


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I 


Versuch  einer  Systematik  der  Wirtschaftskrisen. 

Von 

WERNER  SOMBART. 
L 

Daß  wir  mit  dem  Worte  „Krisis"  die  Vorstellung  einer  „Störung 
des  Wirtschaftslebens"  verbinden,  dürfte  von  niemand  bestritten 
werden.  Will  man  nun  aber  auch  den  Begriff  der  „Wirtschafts- 
krisis" so  allgemein  fassen  wie  irgend  möglich  —  um  zunächst 
einmal  alles  einzubegreifen ,  was  jemals  als  Krisis  angesprochen 
worden  ist  — ,  so  ist  es  doch  nicht  möglich,  Krisis  etwa  mit 
„Störung  im  Wirtschaftsleben"  schlechthin  zu  identifizieren.  Es 
kann  niemandem  einfallen,  von  einer  Krisis  zu  sprechen,  wenn  eine 
Fabrik  abbrennt  oder  die  überseeische  Post  sich  um  einen  Tag 
verspätet  oder  ein  Wechsel  protestiert  wird  oder  ein  Geschäft  mit 
Verlust  abgeschlossen  wird  oder  das  Kleingeld  für  die  Lohnaus- 
zahlung am  Sonnabend  fehlt  oder  dem  Kaufmann  eine  Sendung 
Apfelsinen  faul  wird.  Und  doch  kann  nicht  bezweifelt  werden, 
daß  alle  diese  Vorkommnisse  und  ähnliche,  deren  jeder  Tag 
tausend  und  abertausend  bringt,  „ökonomische  Störungen"  sind. 

Ich  denke,  was  stets  vorhanden  sein  muß,  um  innerhalb  der 
ununterbrochen  sich  einstellenden  wirtschaftlichen  „Störungen"  einen 
Sonderbegriff  „Krisen"  abzugrenzen,  ist  zweierlei : 

1.  eine  Gefährdung  der  wirtschaftlichen  Existenz; 

2.  eine  Massenerscheinung. 

Es  muß  die  Gefährdung  der  wirtschaftlichen  Exi- 
stenz in  Frage  stehen,  wenn  wir,  selbst  im  allerwcitcsten  Sinne 
von  einer  „Krisis"  sprechen  wollen:  der  wirtschaftlichen  Existenz, 
die  nur  dann  gesichert  ist,  wenn  während  einer  Rechnungsperiode 

Archiv  für  Sozial wi*»enschaft  u.  Soiialpolitilc.  I.    <A.  f.  »or.  G.  u.  St.  XIX.)  i.  I 


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2 


Werner  Sombart, 


Ausgabe  und  Einnahme  einer  Wirtschaft  sich  im  Gleichgewicht  be- 
finden oder  die  Einnahmen  die  Ausgaben  überflügeln.  Also  muß  es 
sich  um  Störung  dieses  Gleichgewichts  zwischen  Ausgaben  und  Ein- 
nahmen der  einzelnen  Wirtschaft  handeln.  Tritt  diese  nicht  ein,  so 
kann  „gestört"  werden  was  immer  will :  es  kommt  zu  keiner  „Krisis". 
Es  mag  die  Warenzirkulation  noch  so  oft  unterbrochen  sein,  es 
mag  ein  noch  so  großes  „Mißverhältnis  zwischen  Angebot  und 
kauffähiger  Nachfrage"  herrschen,  es  mag  das  Geld  noch  so  „knapp", 
der  Kredit  noch  so  „erschüttert"  sein:  alle  diese  „Störungen" 
werden  erst  dann  und  nur  insoweit  den  Tatbestand  einer  „Krisis" 
konstituieren  können,  wenn  und  insoweit  sie  sich  in  eine  Störung 
des  Gleichgewichts  zwischen  Einnahmen  und  Ausgaben  der  ein- 
zelnen Wirtschaft  umsetzen.  Solange  es  diesen  gut  geht,  gibt  es 
auch  keine  Krisis.  Und  eine  Handelsunternehmung  beispielsweise 
kann  sehr  florieren,  obwohl  sie  vielleicht  einen  Teil  ihrer  Waren 
unter  dem  Einkaufspreise  losschlagen  oder  gar  als  unabsetzbar  ver- 
nichten muß:  wenn  nur  der  Gesamtertrag  der  verkauften  Waren 
den  erhofften  Profit  erbracht  hat.  Anders  ausgedrückt :  man  kommt 
niemals  zu  einem  brauchbaren  Krisenbegriffe  vom  Standpunkt  der 
Warenzirkulation  aus  oder  vom  Schicksal  der  einzelnen  Ware  (des 
einzelnen  Geschäfts)  aus  oder  von  einer  allgemein-volkswirtschaft- 
lichen Betrachtung  des  wirtschaftlichen  Gesamt prozesses  aus,  sondern 
nur  vom  Standpunkt  der  einzclwirtschaftlichen  Interessensphäre  aus. 

„Gefahrdung  der  wirtschaftlichen  Existenz"  kann  gleichbedeutend 
mit  Vernichtung  oder  Verlust  der  Selbständigkeit  sein,  der  sich  in 
unserer  Wirtschaftsordnung  als  Bankerott  äußert;  sie  kann  aucli 
den  leiblichen  Tod  zur  Folge  haben,  wenn  die  Existenzmittel  unter 
das  physische  Minimum  sinken.  Aber  wir  müssen  auch  dann 
schon  von  einer  „Gefährdung"  sprechen,  wenn  jene  schwersten 
Schädigungen  sich  nicht  einstellen,  aber  drohen,  ja  auch  dann 
schon,  wenn  die  Wirtschaftenden  Not  leiden,  wenn  sie  von  steter 
Sorge  um  ihre  Existenz  gequält  werden.  Was  sich  wiederum  ver- 
schieden äußern  kann:  als  Hunger  und  körperliche  Entbehrungen, 
als  Deklassierung,  als  „Vcrdienstlosigkeit". 

Nur  eines  ist  Voraussetzung,  wenn  wir  von  einer  „Krisis" 
sprechen  sollen :  daß  alle  jene  Übelstände  nicht  vereinzelt,  sondern 
in  Masse  auftreten,  daß  also  wie  ich  es  ausdrückte,  die  wirtschaft- 
lichen Störungen  eine  Massenerscheinung  werden.  Ebenso- 
wenig wie  eine  Schwalbe  den  Sommer  macht,  macht  ein  Bankerott 
die  Krisis.   Aber  wieviele  machen  sie  ?  Diese  Frage  läßt  sich  nicht 


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Versuch  einer  Systematik  der  Wirtschaftskrisen. 


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exakt  beantworten.  Ob  eine  „Massenerscheinung"  vorliegt,  muß  der 
Takt  des  Beobachters  entscheiden.  Als  Anhaltspunkt  wird  man 
nur  dieses  geben  können:  ein  Notstand  wird  dann  als  Massener- 
scheinung gelten  müssen,  wenn  er  eine  wirtschaftliche  Gruppe  als 
solche  ergreift.  „Als  solche"  heißt:  nicht  die  Schwächlichen,  Un- 
sicheren, sondern  die  Durchschnittsindividuen,  die  mittelkräftigen 
Existenzen.  Werden  diese  in  größerer  Anzahl  notleidend ,  so 
erscheint  die  Gruppe  selbst  notleidend  und  der  Notstand  wird 
zur  Krisis. 

Die  wirtschaftliche  Gruppe,  deren  Notstand  eine  Krisis  dar- 
stellt, kann  auf  ganz  verschiedenen  Bindungsmomenten  beruhen. 
Sie  kann  gebildet  werden  durch  Zugehörigkeit  zu  einer  sozialen 
Klasse :  Krisis  im  Handwerk,  in  der  Handweberei,  unter  der  Lohn- 
arbeiterschaft; oder  zu  einem  bestimmten  Beruf:  Textilindustrie, 
Stand  der  Arzte ;  oder  zu  einem  bestimmten  Produktionsgebiet :  Krisis 
der  westeuropäischen  Landwirtschaft;  oder  zu  einem  bestimmten 
Siedelungsgebiet :  Einwohner  einer  Stadt;  oder  zu  einer  bestimmten 
Volkswirtschaft.  Die  Gruppe  kann  sich  aber  auch  aus  Individuen 
zusammensetzen,  die  für  gewöhnlich  durch  keinerlei  Band  unter- 
einander verknüpft  sind :  Opfer  eines  Staatsbankerotts,  eines  Panama- 
schwindels. 

Die  Tatsache  eines  Notstandes,  den  wir  Krisis  nennen,  kann 
in  verschiedenen  Zusammenhängen  begründet  sein.  Man  kann 
unterscheiden: 

Krisen  als  persönliche  Schuldtatsache: 

Krisen  als  Naturtatsache; 

Krisen  als  gesellschaftliche  Tatsache. 

Krisen  als  persönliche  Schuldtatsache  sind  natür- 
lich außerordentlich  selten.  Denn  da  die  Krisis  immer  ein  Massen- 
phänomen ist,  so  wird  man  es  als  wunderbaren  Zufall  ansprechen 
müssen,  wenn  die  Angehörigen  einer  wirtschaftlichen  Gruppe  in 
großer  Anzahl  wegen  persönlichen  Verschuldens  notleidend  werden. 
Interessant  ist  dieser  Typus  nur  theoretisch  als  Widerspiel  zu  der 
gewöhnlichen  Form  der  Krisen.  Jeder,  der  nur  einiges  Empfinden 
für  soziale  Zusammenhänge  besitzt,  muß  es  in  Erstaunen  setzen, 
wenn  Gustav  Frenssen  im  „Jörn  Uhl"  seine  Marschbauern  einen 
nach  dem  anderen  durch  Trunksucht  zugrunde  gehen  läßt:  hier 
haben  wir  wenigstens  die  dichterische  Konstruktion  einer  Krisis  als 
persönliche  Schuldtatsache. 

Krisen  als  Naturtatsachc  liegen  dann  vor,  wenn  elcmen- 

i* 


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Werner  Sorabart, 


tare  Ereignisse  oder  was  diesen  gleichkommt  unmittelbar  einen 
Notstand  hervorrufen.  Wieder  liefert  uns  der  typisch  unsozial 
konzipierte  „Jörn  Uhl"  ein  Beispiel:  den  Massenbankerott  infolge 
Mäusefraßes.  Hierher  gehören  aber  auch  die  russischen  oder 
indischen  oder  chinesischen  Hungersnöte;  Notstände,  die  durch 
Hochwasser  oder  Erdbeben  oder  Feuersbrünste  herbeigeführt 
werden;  Verwüstungen  mit  ihren  Folgen  durch  Revolutionen 
oder  Kriege. 

Bei  den  Krisen  als  gesellschaftliche  Tatsache  tritt 
das  Massenphänomen  notleidender  Wirtschaften  deshalb  auf,  weil 
diese  Wirtschaften  mit  anderen  zu  einem  gesellschaftlichen  Ganzen 
verschlungen  sind.  Wären  also  die  Marschbauern  nicht  der  Trunk- 
sucht oder  dem  Mäusefraß,  sondern  der  amerikanischen  Konkurrenz 
zum  Opfer  gefallen;  stürben  die  indischen  Bauern  Hungers,  weil 
sie  ihre  Produkte  nicht  verkaufen  können,  litten  die  Buren  not, 
weil  ihre  Handelsbeziehungen  durch  den  Krieg  abgebrochen  sind, 
so  wären  alle  diese  Krisen  gesellschaftliche  (oder  sind  es,  insoweit 
der  soziale  Nexus  für  den  Notstand  bestimmend  wird).  Es  ist  ein- 
leuchtend, daß  dieser  Krisentypus  für  den  sozialen  Theoretiker 
eine  überragende  Bedeutung  haben  muß,  ja  daß  man  an  ihn  fast 
ausschließlich  denkt,  wenn  man  von  Krisen  schlechthin  spricht. 

Innerhalb  des  Kreises  der  gesellschaftlichen  Krisen  unterscheiden 
wir  nun  aber  sofort  wieder  zwei  ganz  und  gar  voneinander  ab- 
weichende Krisentypen,  je  nachdem  nämlich  die  notleidenden 
Wirtschaften  „Geschäfte"  sind  oder  nicht.  Unter  „Geschäften"  ver- 
stehe ich  hier  alle  Produktionswirtschaften  im  weitesten  Sinne,  also 
alle  diejenigen  Wirtschaften,  die  an  der  Abwicklung  des  gesell- 
schaftlichen Wirtschaftsprozesses  selbständig  beteiligt  sind.  Ihnen 
könnte  man  alle  übrigen  Wirtschaften  als  Konsumtionswirtschaften 
gegenüberstellen ,  wenn  durch  eine  solche  Bezeichnung  nicht  Miß- 
verständnisse hervorgerufen  würden.  Denn  zu  den  „Konsumtions- 
wirtschaften" gehören  natürlich  auch  alle  „Erwerbswirtschaften"  der 
nicht  am  Wirtschaftsleben  selbst  beteiligten  Berufsstände:  also  aller 
Ärzte,  Rechtsanwälte,  Künstler,  Beamten  etc.  Vielleicht  faßt  man 
deshalb  alle  Wirtschaften,  die  nicht  „Geschäfte"  sind,  besser  unter 
der  Bezeichnung  der  Privatwirtschaften  zusammen,  denen  dann 
freilich  (  wie  wir  noch  sehen  werden)  auch  die  Gemeinwirtschaften 
(Wirtschaften  öffentlicher  Körper)  zuzuzählen  sind.  Aber  der  Name 
ist  ja  unwesentlich,  wenn  nur  die  von  mir  getroffene  Unterscheidung 
in  ihrer  Wesenheit  richtig  erkannt  und  gewürdigt  wird. 


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Versuch  einer  Systematik  der  Wirtschaftskrisen. 


5 


Danach  gäbe  es  also  Krisen,  die  sich  einstellen  können,  ohne 
daß  die  „Geschäftswelt"  als  solche  Not  litte,  ohne  also  eine  „Stö- 
rung des  Wirtschaftslebens"  zur  Voraussetzung  zu  haben,  das  viel- 
mehr florieren  kann,  trotzdem  jene  Krisen  da  sind.  Diesen  Krisentyp 
will  ich  als  privatwirtschaftliche  Krisen  den  volkswirt- 
schaftlichen gegenüberstellen,  die  also  immer  mit  einer  „Störung 
des  Wirtschaftslebens"  selbst  verbunden  sind.  Selbstverständlich 
können  privat  wirtschaftliche  und  volkswirtschaftliche  Krisen  im  Ver- 
hältnis von  Ursache  und  Wirkung  zueinander  stehen:  jene  können 
aus  diesen,  diese  aus  jenen  hervorgehen;  oder  sie  können  die  eine 
als  Begleiterscheinung  der  anderen  nebeneinander  hergehen.  Jede 
größere  volkswirtschaftliche  Krisis  wird  sogar  mit  einiger  Gewißheit 
eine  privatwirtschaftliche  Krisis  im  Gefolge  haben.  Aber  privat- 
wirtschaftliche Krisen  können  auch  ganz  selbständig  sich  abspielen, 
ohne  den  normalen  Verlauf  des  volkswirtschaftlichen  Prozesses 
irgendwie  zu  beeinträchtigen. 

Ich  denke  dabei  vor  allem  an  folgende  Fälle: 

1.  Die  Notlage  liberaler  Berufsstände,  etwa  der 
Ärzte  oder  der  Schauspieler,  wenn  man  hierfür  die  Bezeichnung 
Krisis  überhaupt  anwenden  will *) ; 

2.  die  Notlage  der  wirtschaftlich  Unselbständigen, 
also  der  sogen,  arbeitenden  Klassen.  Die  „Krisis  auf  dem  Arbeits- 
markte" ist  ja  mehr  wie  die  meisten  anderen  privatwirtschaftlichen 
Krisen  mit  den  volkswirtschaftlichen  Krisen  engstens  verbunden. 
Wir  pflegen  sie  geradezu  als  deren  Gradmesser  anzusehen.  Und 
zweifellos  besteht  in  sehr  vielen  Fällen  dieser  innige  Zusammen- 
hang. Er  braucht  aber  ganz  gewiß  nicht  zu  bestehen  und  besteht 
auch  oft  genug  nicht.  Es  kann  sehr  wohl  das  Geschäftsleben 
florieren  (also  der  volkswirtschaftliche  Prozeß  ohne  Störung  ver- 
laufen), während  unter  den  Arbeitern  eine  Krisis,  das  heißt  Arbeits- 
losigkeit in  weitem  Umfange  herrscht.  Wenn  etwa  infolge  der  Ein- 
stellung von  Maschinen  Arbeitskräfte  in  größeren  Massen  freigesetzt 
werden,  so  werden  wir  nicht  anstehen,  von  einer  „Krisis  auf  dem 
Arbeitsmarkte"  zu  sprechen  (man  denke  etwa  an  die  Zustände  in 

•)  „6000  Schauspieler  in  Nordamerika  sind  infolge  des  Brandes  des  Iroquois- 
Theaters  beschäftigungslos.  Nicht  nur  in  Chicago,  sondern  auch  in  vielen  anderen 
Städten  sind  viele  Schaubühnen  teils  aus  Sicherheitsgründen,  teils  deshalb,  weil  das 
Publikum  den  Vorstellungen  fernbleibt,  geschlossen  worden.  Man  befürchtet,  daß 
der  Höhepunkt  dieser  Krisis  noch  nicht  erreicht  ist." 

(Zeitungsnotiz  Februar  1904.) 


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Werner  Sombart, 


der  englischen  Textilindustrie  am  Ausgang  des  18.  und  im  ersten 
Drittel  des  19.  Jahrhunderts!),  trotzdem  es  der  „Industrie"  vorzüglich 
ergehen  kann.  Wann  man  den  Anfang  einer  „Arbeitskrise"  ansetzen 
will,  während  doch  einige  Arbeitslosigkeit  und  beträchtlicher  Pau- 
perismus z.  B.  in  unserer  Wirtschaftsepoche  immer  bestehen,  bleibt 
wiederum  dem  Entscheide  von  Fall  zu  Fall  überlassen. 

3.  Zu  den  privatwirtschaftlichen  Krisen  gehören  auch  die 
Spekulation skrisen,  wie  man  vielleicht  zusammenfassend  alle 
Notstände  bezeichnen  kann,  die  sich  infolge  des  Stock-jobbing  ein- 
stellen, also  allen  Tulpenschwindel,  allen  Lawismus,  allen  Panamis- 
mus  mit  seinen  Folgen,  aber  auch  alles,  was  man  heute  „Börsen- 
krisis" nennt,  endlich  die  Wirkungen  großer  Staatsbankerotte.  Daß 
diese  Spekulationskrisen  heute  meist  in  engster  Verquickung  mit 
volkswirtschaftlichen  Krisen  auftreten,  darf  uns  nicht  hindern,  ihren 
ganz  und  gar  von  diesen  verschiedenen  Charakter  zu  betonen.  Auch 
heute  noch  erleben  wir  es,  daß  der  luftige  Bau  einer  Kurshausse 
an  der  Börse  zusammenstürzt,  ohne  daß  im  normalen  Verlauf  des 
Wirtschaftslebens  sich  irgend  welche  „Störung"  bemerkbar  machte. 
Ks  können  gleichwohl  eine  Menge  wirtschaftlicher  Existenzen  ge- 
fährdet sein  und  wenn  dies  —  zufallig!  —  Geschäftsleute  sind,  kann 
die  Spekulationskrisis  zur  volkswirtschaftlichen  Krisis  werden.  Ks 
braucht  aber,  wie  gesagt,  der  Funken  nicht  überzuspringen.  Wollen 
wir  uns  den  ganz  eigenartigen  Charakter  dieser  Spekulationskrisen 
klar  machen  und  erkennen,  daß  sie  tatsächlich  mit  den  Störungen 
des  Geschäftslebens,  also  den  volkswirtschaftlichen  Krisen  nichts  zu 
tun  haben,  so  müssen  wir  unser  Augenmerk  auf  die  älteren  Fälle 
dieser  Krisen  richten.  Schauen  wir  uns  etwa  die  Vorgänge  in 
Frankreich  und  England  um  das  Jahr  1720  an,  so  bemerken  wir 
deutlich,  daß  der  ganze  Law-  und  Südseeschwindel  sich  durchaus 
außerhalb  des  Wirtschaftslebens  jener  Zeit  abgespielt  hat.  Natür- 
lich bestand  eine  Wechselwirkung  zwischen  Wirtschaftsleben  und 
Stock-jobbing:  auf  der  einen  Seite  bewirkte  das  Zusammenströmen 
der  zahlreichen  Spieler  in  den  Hauptstädten  eine  solche  Steigerung 
der  Nachfrage  nach  bestimmten  Konsumtionsgütern,  daß  deren 
Preise  rasch  stiegen,  also  ihre  Produzenten  gute  Geschäfte  machten,1) 


')  „Nothing  scarcely  to  bc  secn  but  new  and  splendid  cquipages,  new  liouses, 
and  fmery  in  apparcl.  Lodgings  scarcely  to  be  had  for  moncy  and  the  highest 
prices  given  for  provisions  in  that  city  —  nämlich  Paris  im  Jahre  1719-  Ander- 
son, Annais  of  commerce  3,  86.    London  1787. 


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Versuch  einer  Systematik  der  Wirtschaftskrisen. 


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während  das  Verschwinden  dieser  zahlungsfähigen  Kundschaft  viele 
Geschäfte  brach  legte:  die  Spielepisode  übte  auf  die  Nahrung 
der  Städte  Paris  und  London  etwa  die  Wirkung  wie  ein  mittel- 
alterliches Konzil  aus;  auf  der  anderen  Seite  zog  das  Spiel  von 
den  Berufsgeschäften,  also  auch  von  der  berufsmäßigen  wirtschaft- 
lichen Tätigkeit  ab.  Aber  gerade  diese  Tatsache  beweist  ja, 
daß  die  Vorgänge  in  der  Rue  Quincampoix  und  in  Exchange 
Alley  sich  außerhalb  des  Wirtschaftslebens  abspielten.  Die  Ver- 
nachlässigung der  normalen  wirtschaftlichen  Tätigkeit  wird  von 
allen  Beobachtern  als  die  bedeutsamste  Wirkung  des  „chimerical 
trade",  des  „frenzy  of  the  time"  bezeichnet.1)  Die  Spielwut 
führte  also  alles  andere  als  einen  „wirtschaftlichen  Aufschwung", 
eine  „Gründungsperiode"  herbei.  Die  „bubbles",  deren  Anderson 
über  200  aufzählt,  bleiben  fast  alle  in  der  Sphäre  der  Projekten- 
machcrei  und  gaben  zu  nichts  anderem  Veranlassung  als  zum  Stock- 
jobbing.  Als  Anderson  seinen  Bericht  niederschrieb,  bestanden 
von  jenen  bubbles  noch  vier:  2  Versicherungsgesellschaften,  die 
York  Buildings  Company  und  die  English  Copper  Company  und 
zwar  war  die  überwiegende  Mehrzahl  aller  dieser  Projekte  schon  bei 
Erlaß  der  Scire  facias  Akte  im  Jahre  1720  verschwunden.  Das'Er- 
gebnis  der  wahnsinnigen  Episode  faßt  Anderson  in  die  Worte 
zusammen :  sie  brachte  „the  ruin  of  many  honourable  and  tili  then 
wealthy  families,  to  the  advancement  of  many  low  and  obscure  per- 
sons  and  the  great  temporary  detriment  of  our  commerce." 

4.  Endlich  gehören  zu  den  „privatwirtschaftlichen"  Krisen,  ob- 
wohl die  Bezeichnung,  wie  ich  schon  andeutete,  nicht  sehr  passend 
ist,  die  Katastrophen  der  öffentlichen  Haushalte:  die  Finanz- 
krisen.2)    Vielleicht  empfiehlt  es  sich  aus  ästhetischen  Gründen, 

')  Vom  Südseeschwindcl  und  was  ihm  folgte  sagt  Anderson:  „it  countenanced 
the  pernicious  practicc  of  stock-jobbing,  thereby  diverting  the  people  from  trade 
and  industry."  Annais  3,  93.  „the  real  and  substantial  traffic  of  many  of  the  dealers 
thercin  (sc.  in  the  chimerical  trade)  was  for  many  months  in  a  great  measure 
suspendcd  or  at  least  much  ncglected"  .  .  „the  traffic  in  these  (bubbles)  did  grcatly 
promote  luxury,  idlcncss  and  extravagance  in  the  middling  and  lower  classts  of  the 
people,  diverting  them  from  their  wonted  industry  and  frugality."   1.  c.  pag.  99. 

*)  Auch  in  der  englischen  Sprache  finden  wir  die  Unterscheidung  zwischen 
tinancial  crises  und  commercial  crises  in  dem  hier  angedeuteten  Sinne ;  so  wenn  2.  B. 
Macaulay  die  beiden  Krisen  des  Jahres  1696  mit  diesen  Ausdrücken  belegt  (Hist. 
of  Engl.,  Tauchnitz  ed.  8,  156,;  160),  allerdings  findet  sich  dann  die  Bezeichnung 
financial  crisis  gelegentlich  auch  in  einem  anderen  Sinne,  gemäß  der  abweichenden 


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s 


Werner  Sombart, 


sie  als  dritte  Gruppe  neben  den  privatwirtschaftlichen  und  den 
volkswirtschaftlichen  Krisen  besonders  zu  unterscheiden.  Wohl  ver- 
standen: es  handelt  sich  dabei  um  die  Krisen,  die  die  öffentlichen 
Haushalte  erleiden,  nicht  die  sie  durch  ihren  Bankerott  verursachen. 
In  dem  Sinne,  den  ich  den  Worten  gebe,  braucht  Richard 
Ehrenberg  das  Wort  „Finanzkrisen"  offenbar,  wenn  er  den 
zweiten  Band  seines  „Zeitalters  der  Fugger"  überschreibt:  „Die 
Weltbörsen  und  Finanzkrisen  des  16.  Jahrhunderts",  obwohl  man 
bei  der  Lektüre  gelegentlich  meinen  könnte,  er  wolle  als  Finanz- 
krisis  auch  die  Notlage  angesehen  wissen,  in  die,  infolge  der  zahl- 
reichen Bankerotte  der  französischen  und  spanischen  Könige,  viele 
Geldgeber  gerieten. 

Alles  andere  sind  dann  volkswirtschaftliche  Krisen 
in  dem  Sinne  von  Geschäftsstörungen,  die  zu  einer  Notlage  der 
selbständigen  Produktionswirtschaften  Veranlassung  werden.  Das 
wäre  also  jener  Krisentyp,  den  Ad.  Wagner  im  Auge  hat,  wenn 
er  Krise  schlechthin  definiert  als  „die  massenhaft  auf  einmal  auf- 
tretende Zahlungsunfähigkeit  selbständiger  wirtschaftlicher  Unter- 
nehmer". 

Fassen  wir  die  volkswirtschaftlichen  Krisen  näher  ins  Auge, 
untersuchen  wir  sie  auf  ihre  Artbeschaflfenheit  hin,  so  finden  wir, 
daß  sie  samt  und  sonders  „Absatzkrisen"  sind,  das  heißt  da- 
durch entstehen,  daß  der  Absatz  der  Produkte  nicht  lohnend  ist. 
Diese  Entdeckung  wird  uns  kaum  in  Erstaunen  setzen,  denn  sie 
enthält  nichts  anderes  als  die  Feststellung  einer  Selbstverständlich- 
keit. Wenn  es  sich  bei  den  volkswirtschaftlichen  Krisen  um  Ge- 
schäftsstörungen handelt,  die  auf  gesellschaftliche  Ursachen  zurück- 
zuführen sind,  die  gesellschaftlichen  Ursachen  aber  nur  durch  Ver- 
mittlung der  Warenzirkulation  (den  Waren  die  geldwerten  „Dienste" 
gleichgesetzt)  wirksam  werden,  weil  nur  durch  den  Güteraustausch 
der  ökonomische  Vergesellschaftungsprozeß  sich  vollzieht,  so  ist  es 

Bedeutung  des  Wortes  „finance"  im  englischen,  nämlich  eher  im  Sinne  der  Krisen, 
die  ich  vorhin  „Spekulationskrisen"  nannte,  oder  auch  im  Sinne  aller  Kriscntypen, 
die  ich  privatwirtschaftlichc  nenne.  Vgl.  z.  B.  Charles  A.  Conan),  A  History 
of  modern  banks  of  issue  (2.  ed.  1896)  p.  453:  ,,a  distinetion  is  sometimes  made 
belwecn  financial  and  commercial  crises  ...  A  panic  often  occurs  in  the  money 
market  or  on  the  stock  exchange,  as  the  rcsult  of  a  great  failure,  a  political  event  or  a 
mere  rumor.  Such  events,  whcre  they  producc  no  effeet  upon  thcgcncral 
movement  ofaffairs,  may  be  describcd  as  financial  or  purely  monetary  crises, 
if  they  arc  worth  dignifying  with  any  special  designation  . .  .  ' 


Uig 


Versuch  einer  Systematik  der  Wirtschaftskrisen. 


9 


im  Grunde  eine  Tautologie,  wenn  man  sagt,  daß  alle  Geschäfts- 
störungen gesellschaftlicher  Natur  auf  Störungen  im  Austausch- 
mechanismus zurückzuführen  seien.  Am  letzten  Ende  zurückzu- 
führen seien,  wird  man  gut  tun,  erläuternd  hinzuzufügen.  Denn 
zahlreiche  Produktionswirtschaften  haben  in  der  gegenwärtigen 
Wirtschaftsepoche  unmittelbar  mit  Warenumsatz  nichts  zu  tun; 
namentlich  auch  die  wichtige  Kategorie  der  Kredit  vermittelnden 
Unternehmungen  nicht.  Wenn  sie  notleidend  werden,  so  beruht 
das  zunächst  also  nicht  auf  ungenügender  Absatzgelegenheit,  sondern 
auf  der  Zahlungsunfähigkeit  ihrer  .Kundschaft.  Diese  aber  wird 
letztlich  ihren  Grund  in  nichts  anderem  als  einer  Absatzstockung 
haben  können. 

Ich  habe  absichtlich  ganz  vage  von  „nicht  lohnendem  Absatz", 
von  „Absatzstockung"  gesprochen  und  will  nun  diese  Ausdrücke 
noch  etwas  präzisieren.  Nicht  lohnend  ist  der  Absatz  dann,  wenn  der 
Gesamterlös  der  von  einer  Wirtschaft  abzusetzenden  Waren  keinen 
Profit  ergibt  oder  gar  die  Produktions-  (oder  Anschaffungs-)  Kosten 
nicht  deckt.  Das  kann  seinen  Grund  in  mannigfachen  Umständen 
haben  (die  ich  hier  nur  aufzahle,  ohne  sie  in  ihrem  ursächlichen 
Zusammenhange  zu  verfolgen,  was  Aufgabe  der  Krisentheorie  oder 
anderer  ökonomischer  Theorien  ist). 

Es  ist  möglich,  daß  nicht  genügend  Waren  nachgefragt  werden : 
sei  es  weit  im  ganzen  von  einer  bestimmten  Warengattung  nicht 
mehr  so  viel  wie  ehedem  verlangt  wird  —  dauernd  oder  vorüber- 
gehend! —  sei  es  weil  sich  die  Nachfrage  anderen  Märkten  zu- 
gewandt hat.  Es  ist  aber  auch  möglich,  daß  zwar  alle  Waren, 
die  eine  Wirtschaft  abzugeben  hat,  vom  Markte  aufgenommen 
werden,  aber  zu  „unlohnenden"  Preisen.  Die  niedrigen  Preise 
wiederum  können  ihren  Grund  darin  haben,  daß  der  „gesellschaft- 
lich notwendige  Aufwand",  der  zur  Beschaffung  der  Güter  zu  machen 
ist,  sich  verringert  hat:  dann  sind  die  Preise  „unlohnend"  nur  für 
solche  Wirtschaften,  deren  Produktionskosten  über  den  „gesellschaft- 
lich notwendigen"  verharrten :  westeuropäische  Landwirtschaft !  Haus- 
weberei !  Handwerk !  Oder  es  sind  die  Preise  niedrig,  zu  niedrig, 
um  lohnend  zu  sein,  ohne  jene  eben  angenommene  Senkung  der  ge- 
sellschaftlich notwendigen  Kosten:  dann  werden  von  dem  niedrigen 
Preisstande  alle  Wirtschaften  betroffen. 

Wenn  man  innerhalb  der  volkswirtschaftlichen  Krisen  partielle 
und  allgemeine  unterscheidet ,  so  ist  das  nicht  zweckmäßig, 
denn  die  Unterscheidung  läßt  sich  einigermaßen  genau  gar  nicht 


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IO 


Werner  Sombart, 


vornehmen.  Wirklich  „allgemeine"  Krisen,  in  dem  eminenten  Sinne, 
daß  alle  Wirtschaften  eines  größeren  Wirtschaftsgebietes  (etwa  einer 
moderne  Volkswirtschaft)  Not  litten,  hat  es  nie  gegeben  und  wird 
es  nie  geben.  Immer  bleiben  einzelne  Branchen  oder  einzelne 
Wirtschaften  innerhalb  einer  Branche  von  der  Notlage,  mag  sie  noch 
so  „allgemein"  gewesen  sein,  verschont.  Es  handelt  sich  also  um 
ein  Mehr  oder  Weniger.  Deshalb  wird,  man  besser  tun  zu  sagen: 
jede  volkswirtschaftliche  Krisis  setzt  als  partielle  ein,  hat  aber  eine 
Tendenz  zur  Verallgemeinerung.  Diese  Tendenz  ist  in  der 
Natur  der  Warenzirkulation  begründet,  sobald  diese  sich  der  Ver- 
mittlung des  Geldes  bedient.  Wird  an  einer  Stelle  der  Absatz  „un- 
lohnend", so  verringert  sich  die  Kaufkraft  dieser  Gruppe  von  Waren- 
verkäufern und  dadurch  verschlechtern  sich  wiederum  die  Absatz- 
bedingungen für  diejenigen  Warenbesitzer,  die  an  jene  erste  Gruppe 
abzusetzen  genötigt  sind.  Diese  allgemein  bekannten  Zusammen- 
hänge sind  neuerdings  in  theoretisch  einwandfreier  Weise  von 
Tugan-Baranowski  begründet  worden,  auf  den  hier  verwiesen 
werden  mag.1) 

Dagegen  ist  nun  von  außerordentlicher  Wichtigkeit,  innerhalb 
der  volkswirtschaftlichen  Krisen  eine  andere  Unterscheidung  zu 
treffen,  nämlich  zwischen  dem,  was  ich  einfache  Absatzkrisen  und 
Kapitalkrisen  nenne. 

Einfache  Absatzkrisen  sind  diejenigen,  die  darum  ent- 
stehen, weil  aus  irgend  einem  Grunde  die  kauffähige  Nachfrage  eine 
Verminderung  erfahrt,  ohne  daß  sich  auf  Seite  des  Angebots  etwas 
Wesentliches  verändert  hätte.  Aus  irgend  einem  Grunde:  sei  es 
weil  die  Ernte  schlecht  ausgefallen  ist,  oder  weil  die  Grenze  gesperrt 
wird  oder  weil  ein  Gegenstand  aus  der  Mode  kommt  oder  weil  tech- 
nische Fortschritte  die  gesellschaftlich  notwendigen  Kosten  herab- 
drücken oder  weil  die  Handelswcge  ihre  Richtung  verändern  oder 
eben  —  aus  einem  anderen  Grunde.  Etwa  auch  wegen  Geldknappheit, 
wenn  diese  nicht  etwa  erst  das  Ergebnis  eines  vorhergegangenen 
„wirtschaftlichen  Aufschwungs"  und  dann  Mitursache  einer  nicht 
hierhergehörigen  Kapitalkrisis  ist.  Sondern  wenn  die  Geldknappheit 
aus  irgend  einem  äußeren  Grunde  entstanden  ist,  weil  z.  B.  —  was 
in  früheren  Zeiten  häufiger  vorkam  —  die  Staaten  ihre  alten  Münzen 
behufs  Umprägung  einziehen,  ohne  rasch  genug  neugeprägte  Münzen 


')  M  i  c  h  a  cl  von  Tugan-Baranowski.  Studien  zur  Theorie  und  Geschichte 
der  Handelskrisen  in  England.    Jena  1901.    S.  S  tT. 


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Versuch  einer  Systematik  der  Wirtschaftskrisen. 


1 1 


auszugeben.  Man  nennt  hieraus  entstehende  Krisen  wohl  „Geld- 
krisen",1) wogegen  nichts  einzuwenden  ist,  vorausgesetzt,  daß  man 
sich  über  die  Beziehung  zwischen  dem  Gelde  und  den  Krisen  in 
der  hier  angedeuteten  Weise  völlig  klar  geworden  ist.  Alsdann 
kann  man  ebensogut  von  Geldkrisen  wie  von  Modekrisen,  Erntc- 
krisen,  Schutzzollkrisen,  Kriegskrisen  usw.  sprechen:  immer  be- 
zeichnet das  Zusatzwort  die  (zufallige)  Veranlassung,  die  zu  der 
verhängnisvollen  Absatzstockung  geführt  hat. 

Die  einfachen  Absatzkrisen  (deshalb  nenne  ich  sie  einfach)  sind 
jeder  Wirtschaftsepoche  eigentümlich,  in  der  für  den  Markt  pro- 
duziert wird,  negativ  ausgedrückt:  allen  nicht  eigenwirtschaftlichen 
Wirtschaftssystemen.  Diese  Feststellung  war  in  der  Definition  dieses 
Krisentypus  bereits  enthalten:  da  Veranlassung  zur  Krisis  immer 
nur  Veränderungen  der  Nachfrage  werden,  so  folgt  daraus,  daß  die 
eigentümliche  Gestaltung  des  Angebots,  wie  sie  in  den  verschiedenen 
Wirtschaftssystemen  zum  Ausdruck  kommt,  ohne  Bedeutung  für  die 
Entstehung  der  Krisen  ist.  Prinzipiell,  während  graduell  sich  Unter- 
schiedlichkeiten naturgemäß  leicht  ergeben. 

Die  einfache  Absatzkrisis  verschont  die  undifferenzierte  „Kun- 
denproduktion" ebensowenig  wie  die  hochdifierenzierte  Produktion 
für  einen  großen  Markt.  Die  gewerblichen  Produzenten  einer  mittel- 
alterlichen Stadt,  die  vielleicht  nur  in  der  nächsten  Umgebung  ihre 
Erzeugnisse  absetzten,  konnten  sehr  wohl  einer  Krisis  anheimfallen, 
weil  schlechte  Ernten,  Krieg  oder  Pestilenz  ihren  Abnehmerkreis 
kaufunfahig  gemacht  hatten.  Aber  natürlich  vergrößert  sich  die 
Gefahr  einer  Krisis  in  dem  Maße,  wie  die  Glieder  in  der  Kette  der 
Warenzirkulation  sich  vermehren.  Aus  dem  einfachen  Grunde,  weil 
gemäß  der  uns  schon  bekannten  Tendenz  der  Krisen  zur  Verall- 
gemeinerung die  Gelegenheit  zur  Krisenbildung  in  der  einzelnen 
Gruppe  im  geraden  Verhältnis  wächst  zu  der  Zahl  der  durch  die 
Warenzirkulation   mit   ihr  zusammengekoppeltcn  und  deshalb  in 

')  So  Max  Wirth,  Gesch.  d.  Handels.-Kr.  (3.  Aufl.  1883)8.27!.  den  Notstand, 
der  im  Jahre  1696  das  englische  Wirtschaftsleben  heimsuchte,  weil  die  Silbermünzen 
umgeprägt  und  zu  diesem  Behufe  mehrere  Monate  lang  dem  Verkehre  entzogen 
wurden.  Wirths  Gewährsmann  Macaul ay  spricht  dagegen  von  commercial  crisis 
(History  of  Engl.  8,  156  ff.).  Gelegentlich  verquickt  sich  die  einfache  Absatzkrisis 
wegen  Geldknappheit  mit  einer  Kapitalkrisis.  Das  war  z.  B.  1763  in  Hamburg 
der  Fall,  als  die  deutschen  Staaten  dem  Vorbilde  Preußens  folgend  ihre  alten  Münz- 
bestände zum  Umprägen  einzogen.  (Siehe  Büsch,  Sämtl.  Sehr,  über  d.  Handlung 
4  (1825)  94).    Dadurch  kam  die  latente  Kapitalkrisis  erst  zum  Ausbruch. 


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12 


Werner  Sombart, 


ihrem  wirtschaftlichen  Erfolge  mit  ihr  solidarischen  fremden  Wirt- 
schaften. Deshalb  muß  —  cet  par.  —  die  Krisengefahr  mit  zu- 
nehmender Differenzierung  der  Produktion  und  daraus  folgender 
Verlängerung  des  Weges  der  Warenzirkulation  sich  vergrößern.1) 

Die  einfache  Wirtschaftskrisis  ist  nicht  auf  Wirtschaftsepochen 
mit  stark  oder  überhaupt  entwickelten  Kreditverkehr  beschränkt; 
auch  Wirtschaftsverfassungen  mit  reinem  Barverkehr  sind  ihnen 
ausgesetzt.  Es  genügt  ja,  daß  an  irgend  einer  Stelle  sich  die  Ver- 
wandlung der  Ware  in  die  Geldform  nicht  prompt  vollzieht,  um  die 
Möglichkeit  einer  Krisis  zu  begründen.  Der  Kredit  vermehrt  nur 
wieder  durch  sein  Dazwischentreten  die  Möglichkeiten  einer  Zer- 
reißung der  Warenzirkulationskette.  Er  steigert  gleichsam  die 
Krisengefahr  intensiv,  wie  sie  die  Differenzierung  der  Produktion  ex- 
tensiv steigert. 

Die  einfache  Absatzkrisis  ergreift  endlich  ebenso  leicht  bäuer- 
lich oder  handwerksmäßig  organisierte  Wirtschaften  wie  kapita- 
listische Unternehmungen.  Soweit  eine  Agrarkrisis  heute  in  West- 
europa besteht,  sind  ihr  die  Bauern  —  vorausgesetzt,  daß  sie 
dieselben  Gegenstände  produzieren  —  ebenso  verfallen  wie  die 
Gutswirte  und  das  Handwerk  leidet  in  der  Gegenwart  oft  genug 
unter  einer  Krisennot,  wenn  es  den  industriellen  Unternehmungen 
derselben  Branche  (oder  weil  es  diesen)  recht  gut  ergeht.  An- 
falliger sind  kapitalistische  Unternehmungen  nur  insoweit,  als  auf 
sie  die  die  Krisengefahr  steigernden  Momente  der  Differenzierung 
des  Wirtschaftslebens  und  des  Kreditverkehrs  mehr  Anwendung 
finden. 

Negativ  das  Ergebnis  unserer  Feststellungen  zusammengefaßt: 
die  einfachen  Absatzkrisen  sind  keineswegs  an  das  Zeitalter  kapi- 
talistischer Wirtschaft  gebunden,  können  also  auch  nicht  durch 
den  Kapitalismus  erst  erzeugt  sein.  Damit  treten  sie  in  einen 
deutlichen  Gegensatz  zu  den  nun  noch  näher  zu  betrachtenden 
Kapitalkrisen.  Diese  nämlich,  die  Kapitalkrisen,  sind  nur  da, 
weil  und  insoweit  das  Wirtschaftsleben  kapitalistisch  organisiert  ist. 
Denn  sie  entspringen  aus  dem  Kapitalverhältnis  selbst.    Ihre  Ver- 


J)  Nebenbei  bemerkt:  Diese  Ausweitung  der  Warenzirkulation  ist  ein  Moment, 
welches  die  Gegenwart  von  der  Vergangenheit  unterscheidet.  Nicht  damit  zu  ver- 
wechseln ist  die  Länge  des  Weges,  den  ein  Gut  aus  der  Produktions-  in  die  Kon- 
sumtionswirtschaft  zurückzulegen  hat.  Bücher  hat  auf  der  Verwechslung  dieser 
beiden  ganz  verschiedenen  Dinge  seine  falsche  Theorie  der  Wirtschaftsstufen  aufgebaut. 


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Versuch  einer  Systematik  der  Wirtschaftskrisen. 


13 


anlassung  liegt  also  immer  in  Vorgängen  auf  der  Seite  des  Ange- 
bots, dessen  Organisation  nun  nicht  mehr  indifferent  für  das  Ein- 
treten der  Krisis  ist,  sondern  im  Gegenteil  ausschlaggebend  für 
das  Krisenereignis  wird.  Mir  scheint,  daß  ein  großer  Teil  der  Un- 
klarheiten, unter  denen  die  meisten  Krisentheorien  leiden,  zurück- 
zuführen ist  auf  die  mangelhafte  Unterscheidung  der  beiden  Typen 
volkswirtschaftlicher  Krisen.  Ich  wiederhole:  einfache  Absatzkrisen 
gehören  sowohl  dem  kapitalistischen  wie  dem  vorkapitalistischen 
Zeitalter  an,  Kapitalkrisen  nur  dem  kapitalistischen;  die  vorkapita- 
listische Wirtschaftsepoche  kannte  nur  einfache  Absatzkrisen,  die 
kapitalistische  Epoche  hat  beide  Formen  nebeneinander:  einfache 
Absatzkrisen  und  Kapitalkrisen. 

Bei  genauerem  Hinsehen  werden  wir  nun  aber  leicht  gewahr, 
daß  der  Typus  der  Kapitalkrisen  wiederum  kein  einheitlicher  ist, 
daß  sich  vielmehr  deutlich  zwei  verschiedene  Arten  derartiger 
Krisen  unterscheiden  lassen.  Ich  will  sie  als  primäre  und  sekundäre 
Kapitalkrisen  bezeichnen. 

Die  primären  Kapitalkrisen  entspringen  unmittelbar  aus 
dem  Prozeß  der  kapitalistischen  Wirtschaft  als  solcher.  Sie  be- 
dürfen zu  ihrer  Entstehung  nicht  des  Dazwischentretens  eines  be- 
sonderen Ereignisses,  sondern  folgen  aus  der  Natur  der  kapita- 
listischen Organisation  selbst.  Sie  sind  dieser  immanent.  Diese 
kann  nicht  sein  ohne  sie.  Weshalb  man  diesen  Typus  der  Kapital- 
krisen auch  als  konstitutionelle,  essentielle,  immanente  oder  endogene 
Kapitalkrisen  bezeichnen  könnte.  Systematisch  stehen  die  primären 
Kapitalkrisen  unter  den  verschiedenen  Typen  der  Kapitalkrisen  an 
erster  Stelle,  historisch  sind  sie  jedoch  eine  spätere  Form,  weil  sie 
sich  erst  in  einer  ausgebildeten  kapitalistischen  Wirtschaft,  in  der 
hochkapitalistischen  Wirtschaftsepoche,  einstellen.  Bis  dahin  ist  ihr 
Eintritt  durch  entgegenwirkende  Tendenz  aufgehalten  worden.  Kennt- 
lich ist  diese  Krisenart  daran,  daß  sich  für  ihren  Eintritt  keinerlei 
bestimmte  Veranlassung  nachweisen  läßt.  Da  sie  bisher  meist  in 
„milder"  Form,  mehr  als  Tendenz  zum  Notstande  wie  als  Notstand 
selbst,  dafür  aber  während  einer  längeren  Periode  aufgetreten  ist, 
so  bezeichnet  man  sie  oft  als  „chronische"  wirtschaftliche  Depression, 
indem  man  ihr  die  andere  Form  der  Kapitalkrisen,  die  ich  die 
sekundäre  nenne,  als  „akute"  Krisen  gegenüberstellt.  Diese  Unter- 
scheidung haftet  zu  sehr  an  äußeren  Symptomen  und  empfiehlt  sich 
deshalb  nicht.  Was  den  anderen  nun  noch  zu  erwähnenden 
Krisentyp  kennzeichnet,  ist  vielmehr  dieses: 


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Werner  Sombart, 


Die  sekundären  Kapitalkrisen  sind  Folgen  besonderer 
Ereignisse,  besser :  eines  besonderen  Ereignisses,  dessen  Eintritt  die 
Vorbedingung  ihrer  Existenz  ist;  die  Folge  dessen,  was  wir  einen 
wirtschaftlichen  Aufschwung,  eine  allgemeine  Hausse  des  Wirtschafts- 
lebens nennen.  „Une  crise  ne  survient  jamais  ä  l'improviste,  eile  a 
toujours  £te  pr^cedöe  d'une  periode  de  grande  prospeYite  et  d  un 
grand  mouvement  d'affeires  qui  n'a  pu  avoir  lieu  sans  une  pro- 
gression,  pour  ainsi  dire,  continue  de  hausse."  l)  Sie  kann  ebenso- 
wenig innerhalb  einer  kapitalistischen  Volkswirtschaft  „von  selbst" 
entstehen  wie  der  Katzenjammer  den  Menschen  nicht  ergreifen 
kann,  der  keinen  Alkohol  zu  sich  genommen  hat.  Ihr  Eintreten 
ist  also  nur  insoweit  „notwendig",  als  das  ihre  Vorbedingung 
bildende  Ereignis  —  der  wirtschaftliche  Aufschwung  —  „notwendig" 
ist,  das  heißt  aus  dem  Wesen  kapitalistischer  Wirtschaft  mit  Not- 
wendigkeit folgt.  Läßt  sich  etwa  der  Nachweis  führen,  daß  der 
wirtschaftliche  Aufschwung  kein  notwendiges,  sondern  ein  zufälliges 
Ereignis  im  Bereich  der  kapitalistischen  Wirtschaft  bildet,  so  würde 
alsdann  folgen,  daß  auch  die  sekundären  Kapitalkrisen  kein  aus 
dem  Ablauf  des  kapitalistischen  Wirtschaftsprozesses  mit  Notwendig- 
keit folgender  Vorgang,  daß  sie  also  nicht  endogen,  sondern  exogen, 
nicht  konstitutionell,  nicht  essentiell,  sondern  akzidentiell  für  die 
kapitalistische  Wirtschaft  sind. 

Der  „wirtschaftliche  Aufschwung",  den  wir  hier  einstweilen  als 
eine  bekannte  Erscheinung  ansehen  müssen,  so  wenig  gekannt  er 
tatsächlich  ist,  nimmt  verschiedene  Formen  an,  je  nach  der  An- 
lagesphäre des  Kapitals,  die  er  ergreift.  Insbesondere  ergeben  sich 
wesensunterschiedliche  Entwicklungsreihen ,  je  nachdem  von  der 
Aufschwungsbewegung  nur  das  in  der  Zirkulationssphäre  hausende 
oder  auch  das  in  Produktions-  (und  Verkehrs-)unternchmungen  an- 
gelegte Kapital  erfaßt  wird.  Demgemäß  ergeben  sich  auch  ver- 
schiedene Erscheinungsformen  der  sekundären  Kapitalkrisen,  die  wir 
als  Handels-  und  Produktionskrisen  bezeichnen  können ,  wobei  in 
die  Produktionskrisen  die  Verkehrskrisen  eingeschlossen  sein  mögen. 
Es  wird  zu  zeigen  sein,  daß  die  Handelskrisen  ebensosehr  die 
spezifische  Form  der  sekundären  Kapitalkriscn  in  der  frühkapi- 
talistischen Epoche,  wie  die  Produktionskrisen  die  in  der  hoch  kapi- 
talistischen Epoche  sind. 

Der  Übersichtlichkeit  halber  gebe  ich  hier  das 


')  Clement  Juglar,  Des  crises  commcrciules  etc.  2.  ed.   Paris  1889.  p.  14. 


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Versuch  tiner  Systematik  der  Wirtschaftskrisen. 


Schema   für  die  von   mir  versuchte  Systematik  der 

Wirtschaftskrisen. 

A.  Krisen  als  persönliche  Schuldtatsache; 

B.  Krisen  als  Naturtatsache; 

C.  Krisen  als  gesellschaftliche  Tatsache. 

I.  Privatwirtschaftliche  Krisen; 

II.  Finanzkrisen; 

III.  Volkswirtschaftliche  Krisen. 

1.  Einfache  Absatzkrisen; 

2.  Kapitalkrisen. 

a)  Primäre  Kapitalkriscn ; 

b)  Sekundäre  Kapitalkrisen, 
a)  Handelskrisen; 

Produktionskrisen. 

II. 

Es  fragt  sich,  was  diese  Systematik,  wie  ich  sie  entworfen  habe, 
für  das  Studium  der  Wirtschaftskrisen  bedeutet.  Welche  Wege  sie 
uns  weist,  welche  Aufgaben  sie  uns  stellt.  Daß  sie  aber  nur  dann 
eine  wissenschaftliche  Existenzberechtigung  hat,  wenn  sie  dazu  dient, 
die  Theorie  der  Wirtschaftskrisen  zu  klären  und  zu  vertiefen,  braucht 
nicht  erst  ausdrücklich  gesagt  zu  werden. 

Da  denke  ich  denn  hilft  uns  die  Einteilung  der  Krisenphäno- 
mene, wie  ich  sie  getroffen  habe,  vor  allem  dazu,  festzustellen,  was 
überhaupt  Gegenstand  einer  „Krisentheorie"  sein  kann  und  was 
nicht ;  und  weiter :  ob  überhaupt  eine  „Theorie  der  Wirtschafts- 
krisen" innerhalb  der  politischen  Ökonomie  selbständig  abgehandelt 
werden  soll.  Daß  die  Krisen,  soweit  sie  keine  gesellschaftliche  Tat- 
sache sind  (Typus  A  und  B)  außerhalb  des  Bereichs  der  Sozial- 
wissenschaften liegen,  versteht  sich  von  selbst.  Ich  möchte  aber 
auch  von  den  gesellschaftlich  begründeten  Krisen  die  privatwirt- 
schaftlichen (C  I)  und  die  Finanzkrisen  (C  II)  nicht  zu  den  Objekten 
der  politischen  Ökonomie  rechnen.  Einanzkrisen  sind  von  der 
Finanzwissenschaft  abzuhandeln  und  privatwirtschaftliche  Krisen 
können  das  Interesse  des  „Soziologen"  unter  verschiedenstem  Ge- 
sichtspunkt erwecken:  die  „Spekulationskrisen"  z.  B.  als  besonders 
lehrreiche  Erscheinungen  eines  kontagiösen  Spielrausches  und  darauf 
folgender  Massenangst,  dieser  etwa  im  Vergleich  zu  den  Vorgängen 
bei  einem  Theaterbrande:  mit  der  Volkswirtschaftslehre  haben  sie 


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i6 


Werner  Sombart, 


schlechterdings  nichts  zu  tun,  sofern  man  dieser  die  Aufgabe  zu- 
weist, den  Reproduktionsprozeß  des  gesellschaftlichen  Reichtums 
zu  analysieren.  Ist  ja  doch  ein  wesentliches  Kennzeichen  dieser 
„Störungen",  daß  „they  produce  no  effect  on  the  general  movement 
of  affairs". 

Bleiben  also  die  volkswirtschaftlichen  Krisen  (C  III)  als  Gegen- 
stand nationalökonomischer  Betrachtung  zurück.  Nun  erscheint  es 
mir  aber  ausgeschlossen,  auch  nur  diese  Krisenarten  einheitlich  in 
einer  Krisentheorie  abzuhandeln.  Ich  möchte  vielmehr  auch  die 
einfachen  Absatzkrisen  beiseite  gestellt  sehen,  ehe  man  den  Plan 
zu  einer  Krisentheorie  entwirft,  weil  ich  der  Meinung  bin,  daß  dieser 
Krisentyp  als  solcher  unfähig  ist,  Gegenstand  einer  besonderen 
Theorie  zu  bilden. 

Wir  müssen  uns  klar  machen,  daß  die  Lehre  von  den  ein- 
fachen Absatzkrisen  erschöpft  ist  mit  der  Lehre  von  der 
Warenzirkulation  und  daß  sie  als  solche  ganz  und  gar  nichts  proble- 
matisches enthalten.  Die  Gesetze  der  Warenzirkulation  als  bekannt 
vorausgesetzt:  „comment  sctonner  quc  la  secousse  des  pertur- 
bations  commerciales,  quand  eile  ebranle  un  marche\  sc  fasse  sentir 
de  proche  en  proche  Selon  l'&enduc  des  engagements  commerciaux  ?" 
(Juglar). 

Im  Grunde  sind  wir  also  über  das  Wesen  der  einfachen  Ab- 
satzkrisen seit  den  Tagen  unterrichtet,  da  uns  die  Nationalökonomen 
des  17.  Jahrhunderts  zuerst  die  Theorie  der  Warenzirkulation  ent- 
wickelt haben.  In  den  Schriften  der  Boisquillebert,  Joh.  Joach. 
Becher,  Petty,  Bellers  findet  sich  alles  Wissenswerte  über  Wesen 
und  Bedeutung  der  einfachen  Absatzkrisen.  Ich  wüßte  nicht,  was 
den  Ausführungen  hinzuzufügen  wäre,  die  John  Bellcrs  in  seinem 
„Colledgc  of  Industry"  über  diesen  Gegenstand  macht,  wenn  er  sagt : 

„In  the  common  way  of  üving  on  trade,  men,  their  wives  or 
children,  often  lose  half  what  they  get  cithcr  by  dear  bargains,  bad 
debts  or  law  suits,  of  which  there  will  be  neither  in  the  colledge; 
and  if  the  earth  gives  but  forth  its  fruit  and  the  workmen  do  but  their 
parts,  they  will  have  plenty;  whereas  often  now,  the  husbandmen 
and  mechanics  both  are  ruined,  tho'  the  first  have  a  great  crop  and 
the  second  industriously  maketh  much  manufacture.  Money  and 
not  labour  being  made  the  Standard,  the  husbandman  paying  the 
same  rent  and  wages  as  when  the  crop  yieldcd  double  the  pricc; 
it  being  no  better  with  the  mechanics,  where  it's  not  who  wants 
his  commodity,  but  who  can  give  him  money  for  it  (will  keep 


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Versuch  einer  Systematik  der  Wirtschaftskrisen. 


17 


hini)  and  so  often  he  must  take  half  the  value  in  money,  another 
could  give  him  in  labour  that  hath  no  money."  x) 

Will  man  mehr  sagen,  außer  was  diese  Skizze  etwas  weiter  ausfuhrt, 
will  man  eine  „Theorie  der  einfachen  Absatzkrisen"  geben,  das  heißt 
also  vor  allem  ihre  Ursachen  aufdecken,  so  kommt  man,  da,  wie 
wir  sahen,  die  Veranlassung  zur  Unterbrechung  der  Warenzirkulation 
eine  beliebige  sein  kann  und  vom  Standpunkt  des  wirtschaftlichen 
Prozesses  aus  stets  eine  zufällige  ist,  zu  einer  zusammenhanglosen 
Aufzählung  der  Krisenursachen,  wie  sie  etwa  Roscher  in  seinem 
bekannten  Essai  über  die  „Absatzkrisen"  gibt.    Es  heißt  das  etwa 
so  verfahren,  wie  der  Pathologe,  der  eine  „Theorie  des  Schnupfens" 
zu  geben  glaubte  damit,   daß  er  alle  erdenklichen  Fälle  aufzählte, 
in  denen  man  sich  den  Schnupfen  holen  kann.    In  der  Tat  gesteht 
Roscher  selbst    zu,    daß    in   einer  rein  äußerlichen  Aufzählung 
der  „Krisenursachen"  die  „Physiologie"  der  Absatzkrisen  bestehe, 
wenn  er  sagt : 2)  „Die  Ursachen  einer  solchen  Wirtschaftskrankheit 
sind  im  höchsten  Grade  mannigfaltig.    Jeder  (!)  Umstand,  welcher 
plötzlich  und  stark  die  Produktion  vermehrt,  die  Konsumtion  ver- 
mindert oder  auch  nur  die  gewohnte  Ordnung  des  Verkehrs  er- 
schüttert, muß  eine  Absatzkrise  nach  sich  ziehen  — "  und  wenn  er 
nach  dieser  Einleitung  die  Krisenursachen  in  dieser  Reihenfolge 
Revue  passieren  läßt:  Modewechsel,  Epidemien,  Verwandlung  von 
Einkommensteilen  in  Kapital,  Verbesserung  des  Maschinenwesens, 
unmäßige  Ackerproduktion,  günstige  Absatzkonjunkturen,  Schwin- 
deleien, bloß  temporäre  Erweiterungen  der  Nachfrage,  Preisernied- 
rigung  der   Edelmetalle,  Kornteuerung,   Ausbruch  eines  Krieges, 
innere  Unruhen,  die  allzugroße  Sicherheit  eines  tiefen  Friedens, 
Bankpolitik.    Es  liegt  kein  Grund  vor,  nicht  noch   ein  weiteres 
halbes  oder  ganzes  Dutzend  von  Krisenursachen  anzuführen. 

')  Proposais  for  Raising  a  Collcdgc  of  Industry  of  all  usefull  Tradcs  and 
Husbandry  with  Profit  for  the  Rieh,  a  plentiful  Living  for  the  Poor  and  a  Good 
Education  for  Youtb  etc.  Py  John  Bellers.  London  1696.  Das  Original  habe 
ich  noch  niemals  zu  Gesicht  bekommen.  Keine  der  großen  deutschen  Bibliotheken 
besitzt  meines  Wissens  die  Schrift,  deren  Verfasser  Marx  mit  Recht  „ein  wanres 
Phänomen  in  der  Geschichte  der  politischen  Ökonomie"  nennt.  Ich  zitiere  nach  dem 
Neudruck  in:  „A  supplemcntary  Appendix  to  the  first  Volume  of  the  Life  of  Robert 
Owen  etc.    Vol.  I  A.  London  1858  pag.  171. 

*)  Roscher,  Ansichten  der  Volksw.  2.  Aull.  (1861)  S.  312.  Roscher  unter- 
scheidet übrigens  nicht  zwischen  einfachen  Absatzkrisen  und  Kapitalkrisen,  wodurch 
seine  Darstellung  noch  verworrener  wird. 

Archiv  für  Soxialwmenschaft  u.  Sozialpolitik.  1.    (A.  f.  so*.  O.  u.  St.  XIX.)  1.  2 


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i8 


Werner  Sorabart, 


Dagegen  sind  nun  die  Kapitalkrisen  als  solche  zweifellos 
würdige  Objekte  theoretischer  Behandlung.  Da  sie  in  der  Natur  der 
kapitalistischen  Organisation  begründet  sind,  so  wird  ihre  Erörterung 
einen  integrierenden  Bestandteil  der  Theorie  der  kapitalistischen 
Wirtschaft  überhaupt  bilden  und  sicher  einen  der  wichtigsten.  Den- 
noch würde  ich  es  für  verfehlt  halten,  den  Komplex  von  Erschei- 
nungen, den  wir  mit  dem  Begriff  der  Krisis  zusammenfassen,  zum 
Gegenstand  einer  gesonderten  Betrachtung  zu  machen,  weil  ich 
glaube,  daß  auch  diejenigen  „Störungen",  die  wir  als  Kapitalkrisen 
bezeichnet  haben,  kein  Problem  bilden,  das  eine  methodisch  cin- 
wandsfreie  Behandlung  zuließe. 

Zunächst  ist  es  sicher  einmal  falsch,  die  Lehre  von  den 
Krisen  als  eine  Art  von  „Pathologie"  des  Wirtschaftsorganismus, 
der  „Physiologie"  oder  „Anatomie"  gegenüberzustellen.  Auch  wenn 
wir  uns  vor  den  Gefahren  der  hiermit  nahe  gelegten  Realanalogie 
zur  Medizin  hüten  würden,  so  wäre  es  doch  immer  unstatthaft,  die 
Krisen  als  einen  „anomalen"  Zustand  dem  normalen  gegenüberzu- 
stellen. Denn  einen  solchen  „normalen"  Zustand  ohne  Krisen  gibt 
es  nicht  und  es  hätte  auch  wenig  Zweck,  ihn  als  regulative  Idee 
für  die  Forschung  zu  konstruieren.  Diese  würde  dadurch  eher  irre- 
geführt als  gefördert  werden.  Es  wäre  das  ebenso,  als  wenn  man, 
um  die  Fallgesetzc  zu  finden,  von  der  Konstruktion  einer  Körper- 
welt ohne  Schwere  ausgegangen  wäre  oder  um  die  Lehre  von  der 
Ermüdung  zu  entwickeln,  sich  einen  Zustand  dächte,  in  dem  der 
Energie  ausgebende  Organismus  überhaupt  nicht  ermüdete.  Wenn 
es  richtig  ist  (was  freilich  erst  erwiesen  werden  muß),  daß  der 
„ungestörte"  Verlauf  der  kapitalistischen  Wirtschaft  notwendig  zu 
den  als  Krisen  bezeichneten  „Störungen"  führt:  wo  ist  dann  der 
„normale"  Zustand  ohne  Krisen?  Wenn  die  sekundäre  Kapitalkrisis 
(was  bereits  bekannt  ist)  die  Reaktion  gegen  den  wirtschaftlichen 
Aufschwung  ist,  der  unvermeidliche  Zusammenbruch  nach  einer 
Periode  der  Überreizung,  warum  will  man  dann  diese  Reaktion, 
diesen  Zusammenbruch  als  den  anomalen  Zustand  dem  Aktionszu- 
stande gegenüberstellen?  Ich  weiß  nicht,  was  „pathologischer"  ist: 
die  fieberhafte  Überspannung  aller  produktiven  Kräfte  während  der 
Hausse  oder  die  Erschlaffung  während  der  Baisse.  Es  ist  eben 
das  „Normale",  daß  auf  den  Rausch  der  Katzenjammer  folgt.  Und 
(da  man  so  gerne  die  Analogie  der  Medizin  heranzieht)  kein  Medi- 
ziner, der  einen  Morphiumkranken  behandelt,  wird  den  Morphium- 
rausch für  etwas  Normaleres  ansehen  als  die  darauffolgende  De- 


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Versuch  einer  Systematik  der  Wirtschaftskrisen. 


19 


pression  oder  die  Anspannung  der  Muskeln  im  Geschlechtsakte, 
deren  Erschlaffung  nach  seinem  Vollzuge  als  das  Normale  dem 
Abnormen  gegenüberstellen. 

Aber  auch  wenn  wir  uns  ganz  frei  machen  von  den  Vor- 
stellungen eines  „normalen"  Verlaufes  des  Wirtschaftslebens  und 
seinem  Gegenteil,  erscheint  es  unzweckmäßig,  das  Problem  der 
Krisen  zum  Gegenstande  einer  besonderen  Theorie  zu  machen. 
Dazu  ist  der  Begriff  der  Krisis  viel  zu  unbestimmt  und  unbestimm- 
bar. Sowohl  bei  den  primären  wie  bei  den  sekundären  Kapital- 
krisen ist  es  oft  ganz  unmöglich  zu  entscheiden,  ob  nun  wirklich 
eine  Krisis  vorliegt  oder  nicht,  weil  es  ja  an  jedem  exakten  Maß- 
stab zur  Feststellung  des  Tatbestandes  einer  Krisis  fehlt.  Wenn 
wir  die  Symptome  überblicken,  an  denen  wir  das  Vorhandensein 
einer  Krisis  beurteilen  sollen  *),  so  ist  kein  einziges  darunter ,  das 
eine  einwandsfreie  Konstatierung  einer  „Krisis"  zuließe,  das  sich 
nicht  auch  bemerkbar  machen  könnte  in  einer  „krisenlosen"  Zeit. 
Diese  Symptome  sind  nämlich :  verringerte  Heiratsziffern ;  Zunahme 
der  Sterblichkeit ;  Anwachsen  der  Eigentumsvergehen  und  der  poli- 
zeilichen Anzeigen  wegen  Bettelei,  Landstreicherei,  Arbeitsscheu; 
Zunahme  der  Armenunterstützung ;  Ergebnisse  der  Wanderbewegung 
zwischen  Stadt  und  Land ;  Rückgang  der  Börsenkurse  und  Industrie- 
werte und  parallele  Aufwärtsbewegung  der  staatlichen  Fonds; 
Steigen  der  Zahl  der  Konkurse;  ungünstige  Bankausweise;  un- 
günstige Betriebsergebnisse;  Überfüllung  des  Arbeitsmarktes. 

So  darf  es  uns  denn  nicht  wundernehmen,  wenn  eine  Ab- 
wärtsbewegung der  Industrie  wie  die  in  den  Jahren  1900  fr.  von 
den  einen  als  „Krisis"  angesprochen  wird,  während  andere  ihr  den 
Charakter  einer  „Krisis"  aberkennen.  Daß  es  heutzutage  gar  keine 
„Krisis"  mehr  gäbe,  ist  nicht  nur  die  Auffassung  von  Theoretikern 
(Bernstein !  Dietzel !),  sondern  auch  die  vieler  Praktiker,  namentlich 
derer,  die  die  furchtbare  Katastrophe  des  Jahres  1857  noch  selbst 
miterlebt  haben.  Und  in  der  Tat  :  verglichen  mit  den  Verwüstungen, 
die  ein  wirtschaftlicher  Rückschlag  in  früherer  Zeit  mit  sich  zu 
bringen  pflegte,  kommt  das,  was  wir  soeben  erlebt  haben,  kaum  in 
Betracht.  Wollte  man  die  Wirkungen,  die  die  letzte  „Krisis"  auf 
den  deutschen  Volkskörper  ausgeübt  hat,  in  dem  Satze  zusammen- 


*)  Vgl.  die  urtcilsvolle  Zusammenstellung  bei  F.  Eulenburg,  Di««  gegen- 
wärtige Wirtschaftskrisis  in  den  Jahrbüchern  für  Nat-Okonora.  III.  Folge.  Bd.  24, 
S.  316  ff. 

2* 


20 


Werner  Sombart, 


fassen:  „Ganz  Deutschland  gleicht  einem  Kranken,  der  sich  auf 
seinem  Schmerzenslagcr  hin  und  her  wälzt", *)  so  wäre  das  eine 
maßlose  Übertreibung;  für  das  England  der  1830er,  1840er,  1850er 
Jahre  war  es  in  hohem  Grade  zutreffend. 

Nun  lallt  aber  dieses  Bedenken,  daß  man  gar  nicht  (auch  rein 
theoretisch  nicht)  bestimmen  kann,  ob  eine  „Krisis"  vorhanden  ist 
oder  nicht,  für  die  Deutung  der  empirischen  Wirklichkeit  um  so 
mehr  ins  Gewicht,  je  weiter  die  kapitalistische  Entwicklung  fort- 
schreitet, denn  allem  Anschein  nach  macht  die  Katastrophenform 
auch  der  sekundären  Kapitalkrisen,  immer  mehr  der  milderen  Form 
langsamen  Geschäftsrückganges  Platz.  Die  primären  Kapitalkriscn 
aber,  denen  voraussichtlich  in  viel  größerem  Maße  die  Zukunft  ge- 
hört als  den  sekundären,2)  äußern  sich  stets  in  einer  Form,  die 
man  vielfach  gar  nicht  als  Krisis  zu  bezeichnen  sich  entschließen 
kann,  weshalb  man  lieber  von  wirtschaftlicher  Depression  als  von 
Krisen  spricht. 

Endlich  noch  eine  Erwägung,  die  es  unratsam  erscheinen  läßt, 
einen  unter  dem  Begriff  der  Krisis  zusammengefaßten  Erscheinungs- 
komplex  einer  gesonderten  Betrachtung  zu  unterziehen.  Handelt 
man  die  Krisen  für  sich  ab,  so  kommt  wenigstens  bei  den  sekun- 
dären Kapitalkrisen  der  sie  veranlassende  Zustand  des  wirtschaft- 
lichen Aufschwungs  regelmäßig  zu  kurz.  Nun  ist  aber,  sobald  man 
einsieht,  daß  die  sekundäre  Kapitalkrisis  nicht  nur  post  hausse, 
sondern  propter  hausse  auftritt,  die  Lehre  von  den  sekundären 
Krisen  ohne  die  Lehre  vom  wirtschaftlichen  Aufschwung  ebenso 
unvollständig  und  deshalb  wertlos,  wie  es  etwa  eine  Darstellung 
der  Wirkungen  des  Alkohols  auf  den  Organismus  wäre,  die  erst 
bei  den  Rcaktionszuständen  des  Katzenjammers  einsetzen  wollte. 
Läßt  man  aber  den  wirtschaftlichen  Aufschwung  diejenige  Beachtung 
zuteil  werden,  die  er  tatsächlich  verdient,  so  gibt  man  offenbar 
mehr  als  nur  eine  Krisentheorie. 

Zieht  man  dieses  alles  in  Betracht,  so  wird  es  sich  als  zweck- 
mäßiger erweisen,  die  Untersuchung  statt  auf  das  zu  enge  und  zu 


')  „L'Anglctcrre  est  un  malade,  qui  s'agit  vainement  sur  son  lit  de  douleur." 
I..  Kau  eher,  Etudes  .sur  l'Anglctcrrc  2  (1845),  454. 

')  Das  wurde  schon  im  Jahre  1850  von  Friedrich  Engels  ausgesprochen, 
der  sich  übrigens  der  Duplizität  des  kapitalistischen  Krisenproblenis  nicht  bewußt 
war.  Siehe  Neue  Khein.  Zeitung,  pol.-ökon.  Kcvuc  redig.  von  Karl  Marx.  4.  Heft, 
April  1850.    S.  16. 


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Versuch  einer  Systematik  der  Wirtschaftskrisen. 


21 


unbestimmte  Krisenproblem,  auf  das  allgemeinere  und  doch  be- 
stimmtere Problem  der  Bewegungsformen  der  kapita- 
listischen Wirtschaft  auszurichten.  Man  wird  nicht  mehr  den 
Gegensatz  von  gesund  und  krank,  von  normal  und  abnorm,  von 
gut  und  schlecht,  von  hoch  und  niedrig  urgieren,  sondern  wird 
von  der  Erkenntnis  ausgehen  müssen,  daß  die  kapitalistische  Wirt- 
schaft entweder  von  einer  Tendenz  nach  oben  (steigende  Preise, 
steigende  Beschäftigung,  steigende  Profite,  steigende  Löhne)  oder 
nach  unten  beherrscht  wird.  Da  wir  nun  für  diesen  Wechsel  von 
Expansions-  oder  Kontraktionszuständen,  für  diese  Bewegungsformen 
den  Ausdruck  „Konjunktur"  haben,  so  kann  man  das  Ergebnis  der 
soeben  angestellten  Betrachtungen  auch  in  den  Satz  zusammen- 
fassen: die  Krisentheorie  muß  zu  einer  Theorie  der  Konjunk- 
tur erweitert  werden. 

Die  Behandlung  dieses  Problems  wird  naturgemäß  sich  in 
folgende  Teilaufgaben  gliedern  müssen: 

E  r  s  t  e  n  s  die  Frage :  folgt  aus  dem  Wesen  der  kapitalistischen 
Wirtschaft  ein  regelmäßiger  Wechsel  der  Bewegung,  mit  anderen 
Worten :  hat  die  kapitalistische  Wirtschaft  einen^bestimmten  Rhyth- 
mus? Wird  diese  Frage  verneint,  ergibt  die  Untersuchung  vielmehr, 
daß  der  kapitalistischen  Wirtschaft  immanent  nur  eine  Tendenz 
ist:  die  Abwärtsbewegung,  so  entsteht  angesichts  der  historischen 
Tatsache,  daß  sich  im  bisherigen  Ablauf  der  kapitalistischen  Wirt- 
schaft ein  Rhythmus  ergibt  —  durch  den  regelmäßigen  Wechsel 
von  Expansions-  und  Kontraktionsperioden,  von  Hausse  und  Baisse  — 

zweitens  die  Frage:  wodurch  wird  eine  Aufwärtsbewegung 
erzeugt,  wodurch  entsteht  eine  Hausse,  wie  ist  wirtschaftlicher  Auf- 
schwung möglich?  woran  sich  dann  von  selbst 

drittens  die  Frage  schließt :  muß  auf  jede  Aufschwungsperiode 
eine  Periode  des  Niedergangs  folgen  und  wenn  ja:  warum?  Die 
„Krisentheorie"  verschwindet  also,  weil  sie  sich  auflöst  in  drei 
unterschiedliche  Theorien : 

1.  die  Theorie  der  wirtschaftlichen  Depression  (der  „chro- 
nischen" Baisse); 

2.  die  Theorie  des  wirtschaftlichen  Aufschwungs  (der  Hausse); 

3.  die  Theorie  der  wirtschaftlichen  Reaktion  (der  „akuten" 
Baisse). 

Aufgabe  der  folgenden  Abhandlungen  wird  es  sein,  diese 
Theorien  zu  entwickeln. 


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22 


Die  „Objektivität"  sozialwissenschaftlicher  und 
sozialpolitischer  Erkenntnis. !) 

Von 

MAX  WEBER. 

Die  erste  Frage,  mit  der  bei  uns  eine  sozial  wissenschaftliche 
und  zumal  eine  sozialpolitische  Zeitschrift  bei  ihrem  Erscheinen 
oder  bei  ihrem  Übergang  in  eine  neue  Redaktion  begrüßt  zu  werden 


')  Wo  in  Abschnitt  I  der  nachstehenden  Ausführungen  ausdrücklich  im  Namen 
der  Herausgeber  gesprochen  wird  oder  dem  Archiv  Aufgaben  gestellt  werden,  handelt 
es  sich  natürlich  nicht  um  Privatansichten  des  Verfassers,  sondern  sind  die  be- 
treffenden Äußerungen  von  den  Mitherausgebern  ausdrücklich  gebilligt.  Für  Ab- 
schnitt II  trifft  die  Verantwortung  für  Form  und  Inhalt  den  Verfasser  allein. 

Daß  das  Archiv  niemals  in  den  Bann  einer  bestimmten  Schulmeinung  geraten 
wird,  dafür  bürgt  der  Umstand,  daß  der  Standpunkt  nicht  nur  seiner  Mitarbeiter, 
sondern  auch  seiner  Herausgeber,  auch  in  methodischer  Hinsicht,  keineswegs  schlecht- 
hin identisch  ist.  Andererseits  war  natürlich  eine  Übereinstimmung  in  gewissen 
Grundanschauungen  Voraussetzung  der  gemeinsamen  Übernahme  der  Redaktion. 
Diese  Übereinstimmung  besteht  insbesondere  bezüglich  der  Schätzung  des  Wertes 
theoretischer  Erkenntnis  unter  „einseitigen"  Gesichtspunkten,  sowie  bezüglich  der 
Forderung  der  Bildung  scharfer  Begriffe  und  der  strengen  Scheidung 
von  Er fahrungs wissen  und  Werturteil,  wie  sie  hier  —  natürlich  ohne  den 
Anspruch,  damit  etwas  „neues"  zu  fordern  —  vertreten  wird. 

Die  vielen  Breiten  der  Erörterung  (sub  II)  und  die  häufige  Wiederholung  desselben 
Gedankens  dient  dem  ausschließlichen  Zweck,  das  bei  solchen  Ausführungen  mög- 
liche Maximum  von  Gemeinverständlichkeit  zu  erzielen.  Diesem  Interesse 
ist  viel  —  hoffentlich  nicht  zu  viel  —  an  Präzision  des  Ausdrucks  geopfert,  und 
ihm  zu  Liebe  ist  auch  der  Versuch  an  Stelle  der  Aneinanderreihung  einiger  metho- 
dologischer Gesichtspunkte  eine  systematische  Untersuchung  treten  zu  lassen,  hier 


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Die  „Objektivität"  sozialwissenschaftlicher  und  sozialpolitischer  Erkenntnis.  23 

pflegt,  ist:  welches  ihre  „Tendenz"  sei.  Auch  wir  können  uns 
einer  Antwort  auf  diese  Frage  nicht  entziehen  und  es  soll  an  dieser 
Stelle  darauf  im  Anschluß  an  die  Bemerkungen  in  unserem  „Geleit- 
wort" in  etwas  prinzipiellerer  Fragestellung  eingegangen  werden.  Es 
bietet  sich  dadurch  Gelegenheit,  die  Eigenart  der  in  unserem  Sinne 
„sozialwissenschaftlichen"  Arbeit  überhaupt  nach  manchen  Rich- 
tungen in  ein  Licht  zu  rücken,  welches,  wenn  nicht  für  den  Fach- 
mann, so  doch  für  manchen  der  Praxis  der  wissenschaftlichen  Arbeit 
ferner  stehenden  Leser  nützlich  sein  kann,  obwohl  oder  vielmehr 
gerade  weil  es  sich  dabei  um  „Selbstverständlichkeiten"  handelt.  — 
Ausgesprochener  Zweck  des  „Archivs"  war  seit  seinem  Be- 
stehen neben  der  Erweiterung  unserer  Erkenntnis  der  „gesell- 
schaftlichen Zustände  aller  Länder",  also  der  Tatsachen  des 
sozialen  Lebens,  auch  die  Schulung  des  Urteils  über  praktische 
Probleme  desselben  und  damit  —  in  demjenigen,  freilich  sehr 
bescheidenen  Maße,  in  dem  ein  solches  Ziel  von  privaten  Gelehrten 
gefördert  werden  kann  —  die  Kritik  an  der  sozialpolitischen  Arbeit 
der  Praxis,  bis  hinauf  zu  derjenigen  der  gesetzgebenden  Faktoren. 
Trotzdem  hat  nun  aber  das  Archiv  von  Anfang  an  daran  festgehalten, 
eine  ausschließlich  wissenschaftliche  Zeitschrift  sein  zu  wollen,  nur 
mit  den  Mitteln  wissenschaftlicher  Forschung  zu  arbeiten, — 
und  es  entsteht  zunächst  die  Frage:  wie  sich  jener  Zweck  mit  der 
Beschränkung  auf  diese  Mittel  prinzipiell  vereinigen  läßt.  Wenn 
das  Archiv  in  seinen  Spalten  Maßregeln  der  Gesetzgebung  und  Ver- 
waltung oder  praktische  Vorschläge  zu  solchen  beurteilen  läßt 
—  was  bedeutet  das?  Welches  sind  die  Normen  für  diese  Ur- 
teile? Welches  ist  die  Geltung  der  Werturteile,  die  der  Beurteilende 
seinerseits  etwa  äußert,  oder  welche  ein  Schriftsteller,  der  praktische 
Vorschläge  macht,  diesen  zugrunde  legt?  In  welchem  Sinne  be- 
findet er  sich  dabei  auf  dem  Boden  wissenschaftlicher  Er- 
örterung, da  doch  das  Merkmal  wissenschaftlicher  Erkenntnis  in 
der  „objektiven"  Geltung  ihrer  Ergebnisse  als  W  a  h  r  h  e  i  t  gefunden 
werden  muß?  Wir  legen  zunächst  unseren  Standpunkt  zu  dieser 

ganz  unterlassen  worden.  Dies  hätte  das  Hineinziehen  einer  Fülle  von  zum  Teil  noch 
weit  tiefer  liegenden  crkcnntnistheorctischcn  Problemen  erfordert.  Es  soll  hier  nicht 
Logik  getrieben,  sondern  es  sollen  bekannte  Ergebnisse  der  modernen  Logik  für 
uns  nutzbar  gemacht,  Probleme  nicht  gelöst,  sondern  dem  Laien  ihre  Hcdeutung 
veranschaulicht  werden.  Wer  die  Arbeiten  der  modernen  Logiker  kennt,  —  ich 
nenne  nur  Windelband,  Simmel,  und  für  unsere  Zwecke  speziell  Heinrich  Rickcrt  — , 
wird  sofort  bemerken,  daß  in  allem  Wesentlichen  lediglich  an  sie  angeknüpft  ist. 


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24 


Max  Weber, 


Frage  dar,  um  daran  später  die  weitere  zu  schließen:  in  welchem 
Sinne  gibt  es  „objektiv  gültige  Wahrheiten"  auf  dem  Boden  der 
Wissenschaften  vom  Kulturleben  überhaupt?  —  eine  Frage,  die 
angesichts  des  steten  Wandels  und  erbitterten  Kampfes  um  die 
scheinbar  elementarsten  Probleme  unserer  Disziplin,  die  Methode 
ihrer  Arbeit,  die  Art  der  Bildung  ihrer  Begriffe  und  deren  Geltung, 
nicht  umgangen  werden  kann.  Nicht  Lösungen  bieten,  sondern 
Probleme  aufzeigen,  wollen  wir  hier,  —  solche  Probleme  näm- 
lich, denen  unsere  Zeitschrift,  um  ihrer  bisherigen  und  zukünftigen 
Aufgabe  gerecht  zu  werden,  ihrer  Aufmerksamkeit  wird  zuwenden 
müssen.  — 

L 

Wir  alle  wissen,  daß  unsere  Wissenschaft,  wie  mit  Ausnahme 
vielleicht  der  politischen  Geschichte  jede  Wissenschaft,  deren 
Objekt  menschliche  Kulturinstitutionen  und  Kulturvorgänge  sind, 
geschichtlich  zuerst  von  praktischen  Gesichtspunkten  ausging. 
Werturteile  über  bestimmte  wirtschaftpolitische  Maßnahmen  des 
Staates  zu  produzieren,  war  ihr  nächster  und  zunächst  einziger 
Zweck.  Sie  war  „Technik"  etwa  in  dem  Sinne,  in  welchem  es 
auch  die  klinischen  Disziplinen  der  medizinischen  Wissenschaften 
sind.  Es  ist  nun  bekannt,  wie  diese  Stellung  sich  allmählich  ver- 
änderte, ohne  daß  doch  eine  prinzipielle  Scheidung  von  Er- 
kenntnis des  „Seienden"  und  des  „Seinsollendcn"  vollzogen  wurde. 
Gegen  diese  Scheidung  wirkte  zunächst  die  Meinung,  daß  unab- 
änderlich gleiche  Naturgesetze,  sodann  die  andere,  daß  ein  ein- 
deutiges Entwicklungsprinzip  die  wirtschaftlichen  Vorgänge  be- 
herrsche und  daß  also  das  Seins  ollende  entweder  —  im  ersten 
Falle  —  mit  dem  unabänderlich  Seienden,  oder  —  im  zweiten 
Falle  —  mit  dem  unvermeidlich  Werdenden  zusammenfalle. 
Mit  dem  Erwachen  des  historischen  Sinnes  gewann  dann  in  unserer 
Wissenschaft  eine  Kombination  von  ethischem  Evolutionismus  und 
historischem  Relativismus  die  Herrschaft,  welche  versuchte,  die 
ethischen  Normen  ihres  formalen  Charakters  zu  entkleiden,  durch 
Hincinbezichung  der  Gesamtheit  der  Kulturwerte  in  den  Bereich 
des  „Sittlichen"  dies  letztere  inhaltlich  zu  bestimmen  und  so 
die  Nationalökonomie  zur  Dignität  einer  „ethischen  Wissenschaft" 
auf  empirischer  Grundlage  zu  erheben.  Indem  man  die  Gesamtheit 
aller  möglichen  Kulturideale  mit  dem  Stempel  des  „Sittlichen"  ver- 
sah, verflüchtigte  man  die  spezifische  Dignität  der  ethischen  Im- 


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Die  „Objektivität"  sozial  wissenschaftlicher  und  sozialpolitischer  Erkenntnis.  25 

perative,  ohne  doch  für  die  „Objektivität"  der  Geltung  jener  Ideale 
irgend  etwas  zu  gewinnen.  Indessen  kann  und  muß  eine  prinzi- 
pielle Auseinandersetzung  damit  hier  beiseite  bleiben :  wir  halten  uns 
lediglich  an  die  Tatsache,  daß  noch  heute  die  unklare  Ansicht  nicht 
geschwunden,  sondern  besonders  den  Praktikern  ganz  begreiflicher- 
weise geläufig  ist,  daß  die  Nationalökonomie  Werturteile  aus 
einer  spezifisch  „wirtschaftlichen  Weltanschauung"  heraus  produziere 
und  zu  produzieren  habe.  — 

Unsere  Zeitschrift   als  Vertreterin   einer    empirischen  Fach- 


disziplin muß,  wie  wir  gleich  vorweg  feststellen  wollen,  diese  An- 
sicht grundsätzlich  ablehnen,  denn  wir  sind  der  Meinung, 
daß  es  niemals  Aufgabe  einer  Erfahrungswissenschaft  sein  kann, 
bindende  Normen  und  Ideale  zu  ermitteln ,  um  daraus  für  die 
Praxis  Rezepte  ableiten  zu  können. 

Was  folgt  aber  aus  diesem  Satze?  Keineswegs,  daß  Wert- 
urteile deshalb,  weil  sie  in  letzter  Instanz  auf  bestimmten  Idealen 
fußen  und  daher  „subjektiven"  Ursprungs  sind,  der  wissenschaft- 
lichen Diskussion  überhaupt  entzogen  seien.  Die  Praxis  und  der 
Zweck  unserer  Zeitschrift  würde  einen  solchen  Satz  ja  immer  wieder 
"desavouieren.  Die  Kritik  macht  vor  den  Werturteilen  nicht  Halt. 
Die  Frage  ist  vielmehr:  Was  bedeutet  und  bezweckt  wissen- 
schaftliche Kritik  von  Idealen  und  Werturteilen  ?  Sie  erfordert  eine 
etwas  eingehendere  Betrachtung. 

Jede  denkende  Besinnung  auf  die  letzten  Elemente  sinnvollen 
menschlichen  Handelns  ist  zunächst  gebunden  an  die  Kategorien: 
„Zweck"  und  „Mittel".  Wir  wollen  etwas  in  concreto  entweder  „um 
seines  eigenen  Wertes  willen"  oder  als  Mittel  im  Dienste  des  in 
letzter  Linie  Gewollten.  Der  wissenschaftlichen  Betrachtung  zugäng- 
lich ist  nun  zunächst  unbedingt  die  Frage  der  Geeignetheit  der 
Mittel  bei  gegebenem  Zwecke.  Da  wir  (innerhalb  der  jeweiligen 
Grenzen  unseres  Wissens)  gültig  festzustellen  vermögen,  welche 
Mittel  zu  einem  vorgestellten  Zwecke  zu  führen  geeignet  oder  un- 
geeignet  sind,  so  können  wir  auf  diesem  Wege  die  Chancen,  mit  be- 
stimmten zur  Verfügung  stehenden  Mitteln  einen  bestimmten  Zweck 
überhaupt  zu  erreichen,  abwägen  und  mithin  indirekt  die  Zweck- 
setzung selbst,  auf  Grund  der  jeweiligen  historischen  Situation,  als 
praktisch  sinnvoll  oder  aber  als  nach  Lage  der  gegebenen  Ver- 
hältnisse sinnlos  kritisieren.  Wir  können  weiter,  wenn  die  Mög- 
lichkeit der  Erreichung  eines  vorgestellten  Zweckes  gegeben  er- 
scheint, (natürlich  immer  innerhalb  der  Grenzen  unseres  jeweiligen 


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26 


Max  Weber, 


Wissens)  die  Folge  n  feststellen,  welche  die  Anwendung  der  erforder- 
lichen Mittel  neben  der  eventuellen  Erreichung  des  beabsichtigten 
Zweckes,  infolge  des  Allzusammenhanges  alles  Geschehens,  haben 
würde.  Wir  bieten  alsdann  dem  Handelnden  die  Möglichkeit  der 
Abwägung  dieser  ungewollten  gegen  die  gewollten  Folgen 
seines  Handelns  und  damit  die  Antwort  auf  die  Frage  :  was  „kostet" 
die  Erreichung  des  gewollten  Zweckes  in  Gestalt  der  voraussichtlich 
eintretenden  Verletzung  anderer  Werte?  Da  in  der  großen 
Uberzahl  aller  Fälle  jeder  erstrebte  Zweck  in  diesem  Sinne  etwas 
„kostet"  oder  doch  kosten  kann,  so  kann  an  der  Abwägung  von 
Zweck  und  Folgen  des  Handelns  gegeneinander  keine  Selbstbesinnung 
verantwortlich  handelnder  Menschen  vorbeigehen,  und  sie  zu  er- 
möglichen ist  eine  der  wesentlichsten  Funktionen  der  technischen 
Kritik,  welche  wir  bisher  betrachtet  haben.  Jene  Abwägung  selbst 
nun  aber  zur  Entscheidung  zu  bringen  ist  freilich  nicht  mehr  eine 
mögliche  Aufgabe  der  Wissenschaft,  sondern  des  wollenden  Men- 
schen: er  wägt  und  wählt  nach  seinem  eigenen  Gewissen  und 
seiner  persönlichen  Weltanschauung  zwischen  den  Werten,  um  die 
es  sich  handelt.  Die  Wissenschaft  kann  ihm  zu  dem  Bewußtsein 
verhelfen,  daß  alles  Handeln,  und  natürlich  auch,  je  nach  den 
Umständen,  das  Nicht -Handeln,  in  seinen  Konsequenzen  eine 
Parteinahme  zugunsten  bestimmter  Werthe  bedeutet,  und  damit 
—  was  heute  so  besonders  gern  verkannt  wird  —  regelmäßig  gegen 
andere.    Die  Wahl  zu  treffen,  ist  seine  Sache. 

Was  wir  ihm  für  diesen  Entschluß  nun  noch  weiter  bieten 
können,  ist:  Kenntnis  der  Bedeutung  des  Gewollten  selbst. 
Wir  können  ihn  die  Zwecke  nach  Zusammenhang  und  Bedeutung 
kennen  lehren,  die  er  will  und  zwischen  denen  er  wählt,  zunächst 
durch  Aufzeigung  und  logisch  zusammenhängende  Entwicklung  der 
„Ideen",  die  dem  konkreten  Zweck  zugrunde  liegen  oder  liegen 
können.  Denn  es  ist  selbstverständlich  eine  der  wesentlichsten  Auf- 
gaben einer  jeden  Wissenschaft  vom  menschlichen  Kulturleben,  diese 
„Ideen",  für  welche  teils  wirklich,  teils  vermeintlich  gekämpft  worden 
ist  und  gekämpft  wird,  dem  geistigen  Verständnis  zu  erschließen. 
Das  überschreitet  nicht  die  Grenzen  einer  Wissenschaft,  welche 
„denkende  Ordnung  der  empirischen  Wirklichkeit"  erstrebt,  so  wenig 
die  Mittel,  die  dieser  Deutung  geistiger  Werte  dienen,  „Induktionen" 
im  gewöhnlichen  Sinne  des  Wortes  sind.  Allerdings  fällt  diese  Auf- 
gabe wenigstens  teilweise  aus  dem  Rahmen  der  ökonomischen 
Fachdisziplin  in  ihrer  üblichen  arbeitsteiligen  Spezialisat ion  heraus; 


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Die  „Objektivität'1  sozialwisscnschaftlicber  und  sozialpolitischer  Erkenntnis.  27 


es  handelt  sich  um  Aufgaben  der  Sozialphilosophie.  Allein 
die  historische  Macht  der  Ideen  ist  für  die  Entwicklung  des  Sozial- 
lebens eine  so  gewaltige  gewesen  und  ist  es  noch,  daß  unsere  Zeit- 
schrift sich  dieser  Aufgabe  niemals  entziehen,  deren  Pflege  vielmehr 
in  den  Kreis  ihrer  wichtigsten  Pflichten  einbeziehen  wird. 

Aber  die  wissenschaftliche  Behandlung  der  Werturteile  möchte 
nun  weiter  die  gewollten  Zwecke  und  die  ihnen  zugrunde  liegen- 
den Ideale  nicht  nur  verstehen  und  nacherleben  lassen,  sondern  vor 
allem  auch  kritisch  „beurteilen"  lehren.  Diese  Kritik  freilich  kann 
nur  dialektischen  Charakter  haben,  d.  h.  sie  kann  nur  eine  formal- 
logische Beurteilung  des  in  den  geschichtlich  gegebenen  Werturteilen 
und  Ideen  vorliegenden  Materials,  eine  Prüfung  der  Ideale  an  dem 
Postulat  der  inneren  Widerspruchslosigkeit  des  Gewollten  sein. 
Sie  kann,  indem  sie  sich  diesen  Zweck  setzt,  dem  Wollenden  ver- 
helfen zur  Selbstbesinnung  auf  diejenigen  letzten  Axiome,  welche 
dem  Inhalt  seines  Wollens  zugrunde  liegen,  auf  die  letzten  Wert- 
maßstäbe von  denen  er  unbewußt  ausgeht  oder  —  um  konsequent 
zu  sein  —  ausgehen  müßte.  Diese  letzten  Maßstäbe,  welche  sich 
in  dem  konkreten  Werturteile  manifestieren,  zum  Bewußtsein 
zu  bringen,  ist  nun  allerdings  das  letzte,  was  sie,  ohne  den  Boden 
der  Spekulation  zu  betreten,  leisten  kann.  Ob  sich  das  urteilende 
Subjekt  zu  diesen  letzten  Maßstäben  bekennen  soll,  ist  seine  per- 
sönlichste Angelegenheit  und  eine  Frage  seines  Wollens  und  Ge- 
wissens, nicht  des  Erfahrungswissens. 

Eine  empirische  Wissenschaft  vermag  niemanden  zu  lehren, 
was  er  soll,  sondern  nur  was  er  kann  und  —  unter  Um- 
ständen —  was  er  will.  Richtig  ist,  daß  die  persönlichen  Welt- 
anschauungen auf  dem  Gebiet  unserer  Wissenschaften  unausgesetzt 
hineinzuspielen  pflegen  auch  in  die  wissenschaftliche  Argumenta- 
tion, sie  immer  wieder  trüben,  das  Gewicht  wissenschaftlicher  Ar- 
gumente auch  auf  dem  Gebiet  der  Ermittlung  einfacher  kausaler 
Zusammenhänge  von  Tatsachen  verschieden  einschätzen  lassen,  je 
nachdem  das  Resultat  die  Chancen  der  persönlichen  Ideale:  die 
Möglichkeit,  etwas  Bestimmtes  zu  wollen,  mindert  oder  steigert 
Auch  die  Herausgeber  und  Mitarbeiter  unserer  Zeitschrift  werden 
in  dieser  Hinsicht  sicherlich  „nichts  Menschliches  von  sich  fern 
glauben."  Aber  von  diesem  Bekenntnis  menschlicher  Schwäche  ist 
es  ein  weiter  Weg  bis  zu  dem  Glauben  an  eine  „ethische" 
Wissenschaft  der  Nationalökonomie ,  welche  aus  ihrem  Stoff  Ideale 
oder  durch  Anwendung  allgemeiner  ethischer  Imperative  auf  ihren 


28 


Max  Weber, 


Stoff  konkrete  Normen  zu  produzieren  hätte.  —  Richtig  ist  noch 
etwas  Weiteres:  gerade  jene  innersten  Elemente  der  „Persönlichkeit", 
die  höchsten  und  letzten  Werturteile,  die  unser  Handeln  bestimmen 
und  unserem  Leben  Sinn  und  Bedeutung  geben,  werden  von  uns 
als  etwas  „objektiv"  Wertvolles  empfunden.  Wir  können  sie  ja 
nur  vertreten,  wenn  sie  uns  als  geltend,  als  aus  unseren  höchsten 
Lebenswerten  fließend,  sich  darstellen  und  so,  im  Kampfe  gegen 
die  Widerstände  des  Lebens,  entwickelt  werden.  Und  sicherlich 
liegt  die  Würde  der  „Persönlichkeit"  darin  beschlossen,  daß  es  für  sie 
Werte  gibt,  auf  die  sie  ihr  eigenes  Leben  bezieht,  —  und  lägen 
diese  Werte  auch  im  einzelnen  Falle  ausschließlich  innerhalb  der 
Sphäre  der  eigenen  Individualität:  dann  gilt  ihr  eben  das  „Sich- 
ausleben" in  denjenigen  ihrer  Interessen,  für  welche  sie  die 
Geltung  als  Werte  beansprucht,  als  die  Idee,  auf  welche  sie 
sich  bezieht.  Nur  unter  der  Voraussetzung  des  Glaubens  an  Werte 
jedenfalls  hat  der  Versuch  Sinn,  Werturteile  nach  außen  zu  ver- 
treten. Aber:  die  Geltung  solcher  Werte  zu  b  e  u  r  t  e  i  1  e  n ,  ist 
Sache  des  Glaubens,  daneben  vielleicht  eine  Aufgabe  speku- 
lativer Betrachtung  und  Deutung  des  Lebens  und  der  Welt  auf  ihren 
Sinn  hin,  sicherlich  aber  nicht  Gegenstand  einer  Erfahrungswissen- 
schaft in  dem  Sinne,  in  welchem  sie  an  dieser  Stelle  gepflegt  werden 
soll.  Für  diese  Scheidung  fallt  nicht  —  wie  oft  geglaubt  wird  — 
entscheidend  ins  Gewicht  die  empirisch  erweisliche  Tatsache,  daß 
jene  letzten  Ziele  historisch  wandelbar  und  streitig  sind.  Denn  auch 
die  Erkenntnis  der  sichersten  Sätze  unseres  theoretischen  —  etwa 
des  exakt  naturwissenschaftlichen  oder  mathematischen  —  Wissens 
ist,  ebenso  wie  die  Schärfung  und  Verfeinerung  des  Gewissens,  erst 
Produkt  der  Kultur.  Allein  wenn  wir  speziell  an  die  praktischen 
Probleme  der  Wirtschafts-  und  Sozialpolitik  (im  üblichen  Wortsinn) 
denken,  so  zeigt  sich  zwar,  daß  es  zahlreiche,  ja  unzählige  prak- 
tische Einzelfragen  gibt,  bei  deren  Erörterung  man  in  allseitiger 
Übereinstimmung  von  gewissen  Zwecken  als  s  e  1  b  s  t  v  c  r  s  t  ä  n  d  1  i  c  h 
gegeben  ausgeht  —  man  denke  etwa  an  Notstandskredite,  an  kon- 
krete Aufgaben  der  sozialen  Hygiene,  der  Armenpflege,  an  Maß- 
regeln wie  die  Fabrikinspektionen,  die  Gewerbegerichte,  die  Ar- 
beitsnachweise, große  Teile  der  Arbeiterschutzgesetzgebung,  —  bei 
denen  also ,  wenigstens  scheinbar ,  nur  nach  den  Mitteln  zur 
Erreichung  des  Zweckes  gefragt  wird.  Aber  selbst  wenn  wir 
hier  —  was  die  Wissenschaft  niemals  ungestraft  tun  würde  —  den 
Schein  der  Selbstverständlichkeit  für  Wahrheit  nehmen  und  die 


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Die  „Objektivität"  sozialwisscnschalüicher  und  sozialpolitischer  Erkenntnis.  29 


Konflikte,  in  welche  der  Versuch  der  praktischen  Durchführung 
alsbald  hinein  führt,  für  rein  technische  Fragen  der  Zweckmäßigkeit 
ansehen  wollten,  —  was  recht  oft  irrig  wäre  — ,  so  müßten  wir 
doch  bemerken,  daß  auch  dieser  Schein  der  Selbstverständlichkeit 
der  regulativen  Wertmaßstäbe  sofort  verschwindet,  wenn  wir  von 
den  konkreten  Problemen  karitativ-polizeilicher  Wohlfahrts-  und 
Wirtschafts  p  fl  e  g  e  aufsteigen  zu  den  Fragen  der  Wirtschafts-  und 
Sozial  p  o  1  i  t  i  k.  Das  Kennzeichen  des  sozial  politischen  Charakters 
eines  Problems  ist  es  ja  geradezu,  daß  es  nicht  auf  Grund  bloß  tech- 
nischer Erwägungen  aus  feststehenden  Zwecken  heraus  zu  erledigen 
ist,  daß  um  die  regulativen  Wertmaßstäbe  selbst  gestritten 
werden  kann  und  muß,  weil  das  Problem  in  die  Region  der  allge- 
meinen Kultur  fragen  hineinragt.  Und  es  wird  gestritten  nicht 
nur,  wie  wir  heute  so  gerne  glauben,  zwischen  „Klasseninteressen", 
sondern  auch  zwischen  Weltanschauungen,  —  wobei 
die  Wahrheit  natürlich  vollkommen  bestehen  bleibt,  daß  dafür, 
welche  Weltanschauung  der  einzelne  vertritt,  neben  manchem 
anderen  auch  ujjd  sicherlich  in  ganz  hervorragendem  Maße  der 
Grad  von  Wahlverwandtschaft  entscheidend  zu  werden  pflegt,  der 
sie  mit  seinem  „Klasscninteressc"  —  wenn  wir  diesen  nur  schein- 
bar eindeutigen  Begriff"  hier  einmal  akzeptieren  —  verbindet.  Sicher 
ist  unter  allen  Umständen  Eines:  je  „allgemeiner"  das  Problem  ist, 
um  das  es  sich  handelt,  d.  h.  aber  hier:  je  weittragender  seine 
Kulturbedcutung,  desto  weniger  ist  es  einer  eindeutigen  Be- 
antwortung aus  dem  Material  des  Erfahrungswissens  heraus  zu- 
gänglich, desto  mehr  spielen  die  letzten  höchst  persönlichen  Axiome 
des  Glaubens  und  der  Wertideen  hinein.  Es  ist  einfach  eine  Nai- 
vität, wenn  auch  von  Fachmännern  gelegentlich  immer  noch  ge- 
glaubt wird,  es  gelte,  für  die  praktische  Sozialwissenschaft  vor 
allem  „ein  Prinzip"  aufzustellen  und  wissenschaftlich  als  gültig  zu 
erhärten,  aus  welchem  alsdann  die  Normen  für  die  Lösung  der 
praktischen  Einzelprobleme  eindeutig  deduzierbar  seien.  So  sehr 
. prinzipielle"  Erörterungen  praktischer  Probleme,  d.  h.  die  Zurück- 
führung  der  unreflektiert  sich  aufdrängenden  Werturteile  auf  ihren 
Ideengehalt,  in  der  Sozialwissenschaft  vonnöten  sind,  und  so  sehr 
unsere  Zeitschrift  speziell  sich  gerade  auch  ihnen  zu  widmen  be- 
absichtigt, —  die  Schaffung  eines  praktischen  Generalnenners  für 
unsere  Probleme  in  Gestalt  allgemein  gültiger  letzter  Ideale  kann 
sicherlich  weder  ihre  Aufgabe  noch  überhaupt  die  irgend  einer 
Erfahrungswissenschaft  sein:  sie  wäre  als  solche  nicht  etwa  nur 


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Max  Weber, 


praktisch  unlösbar,  sondern  in  sich  widersinnig.  Und  wie  immer 
Grund  und  Art  der  Verbindlichkeit  ethischer  Imperative  gedeutet 
werden  mag,  sicher  ist,  daß  aus  ihnen,  als  aus  Normen  für  das 
konkret  bedingte  Handeln  des  Einzelnen,  nicht  Kulturinhalte 
als  gesollt  eindeutig  deduzierbar  sind,  und  zwar  umsoweniger, 
je  umfassender  die  Inhalte  sind,  um  die  es  sich  handelt.  Nur  posi- 
tive Religionen,  —  präziser  ausgedrückt:  dogmatisch  gebundene 
Sekten  —  vermögen  dem  Inhalt  von  Kultur  werten  die  Dignität 
unbedingt  gültiger  ethischer  Gebote  zu  verleihen.  Außerhalb 
ihrer  sind  Kulturideale,  die  der  einzelne  verwirklichen  will,  und 
ethische  Pflichten,  die  er  erfüllen  soll,  von  prinzipiell  verschiedener 
Dignität.  Das  Schicksal  einer  Kulturepoche,  die  vom  Baum  der 
Erkenntnis  gegessen  hat,  ist  es,  wissen  zu  müssen,  daß  wir  den 
Sinn  des  Weltgeschehens  nicht  aus  dem  noch  so  sehr  vervoll- 
kommneten Ergebnis  seiner  Durchforschung  ablesen  können,  sondern 
ihn  selbst  zu  schaffen  im  stände  sein  müssen,  daß  „Weltanschauungen" 
niemals  Produkt  fortschreitenden  Erfahrungswissens  sein  können, 
und  daß  also  die  höchsten  Ideale,  die  uns  am  mächtigsten  bewegen, 
für  alle  Zeit  nur  im  Kampf  mit  anderen  Idealen  sich  auswirken,  die 
anderen  eben  so  heilig  sind,  wie  uns  die  unseren. 

Nur  ein  optimistischer  Synkretismus,  wie  er  zuweilen  das 
Ergebnis  des  entwicklungsgeschichtlichen  Relativismus  ist,  kann 
sich  über  den  gewaltigen  Ernst  dieser  Sachlage  entweder  theoretisch 
hinwegtäuschen  oder  ihren  Konsequenzen  praktisch  ausweichen. 
Es  kann  selbstverständlich  subjektiv  im  einzelnen  Falle  genau 
ebenso  pflichtgemäß  für  den  praktischen  Politiker  sein ,  zwischen 
vorhandenen  Gegensätzen  der  Meinungen  zu  vermitteln,  als  für 
eine  von  ihnen  Partei  zu  ergreifen.  Aber  mit  wissenschaft- 
licher „Objektivität"  hat  das  nicht  das  Allermindeste  zu  tun.  Die 
„mittlere  Linie"  ist  um  kein  Haarbreit  mehr  wissen- 
schaftliche Wahrheit,  als  die  extremsten  Parteiideale  von 
rechts  oder  links.  Nirgends  ist  das  Interesse  der  Wissenschaft 
auf  die  Dauer  schlechter  aufgehoben  als  da,  wo  man  unbequeme 
Tatsachen  und  die  Realitäten  des  Lebens  in  ihrer  Härte  nicht 
sehen  will.  Das  Archiv  wird  die  schwere  Selbsttäuschung,  man 
könne  durch  Synthese  von  mehreren  oder  auf  der  Diagonale 
zwischen  mehreren  Parteiansichten  praktische  Normen  von  wissen- 
schaftlicher Gültigkeit  gewinnen,  unbedingt  bekämpfen, 
denn  sie  ist,  weil  sie  ihre  eigenen  Wcrtmaßstäbe  relativistisch  zu 
verhüllen  liebt,  weit  gefährlicher  für  die  Unbefangenheit  der  Forschung 


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Die  „Objektivität"  sozialwissenschafUicher  und  sozialpolitischer  Erkenntnis.     3 1 

als  der  alte  naive  Glaube  der  Parteien  an  die  wissenschaftliche  „Be- 
weisbarkeit" ihrer  Dogmen.  Die  Fähigkeit  der  Unterscheidung 
zwischen  Erkennen  und  Beurteilen  und  die  Erfüllung  sowohl  der 
wissenschaftlichen  Pflicht,  die  Wahrheit  der  Tatsachen  zu  sehen,  als 
der  praktischen,  für  die  eigenen  Ideale  einzutreten,  ist  das,  woran 
wir  uns  wieder  stärker  gewöhnen  wollen. 

Es  ist  und  bleibt  —  darauf  kommt  es  für  uns  an  —  für  alle 
Zeit  ein  unüberbrückbarer  Unterschied,  ob  eine  Argumentation  sich 
an  unser  Gefühl  und  unsere  Fähigkeit  für  konkrete  praktische  Ziele 
oder  für  Kulturformen  und  Kulturinhalte  uns  zu  begeistern  wendet, 
oder,  wo  einmal  die  Geltung  ethischer  Normen  in  Frage  steht,  an 
unser  Gewissen,  oder  endlich  an  unser  Vermögen  und  Bedürfnis, 
die  empirische  Wirklichkeit  in  einer  Weise  denkend  zu  ordnen, 
welche  den  Anspruch  auf  Geltung  als  Erfahrungswahrheit  erhebt. 
Und  dieser  Satz  bleibt  richtig,  trotzdem,  wie  sich  noch  zeigen 
wird,  jene  höchsten  „Werte"  des  praktischen  Interesses  für 
die  Richtung,  welche  die  ordnende  Tätigkeit  des  Denkens  auf 
dem  Gebiete  der  Kulturwissenschaften  jeweils  einschlägt,  von  ent- 
scheidender Bedeutung  sind  und  immer  bleiben  werden.  Denn  es 
ist  und  bleibt  wahr,  daß  eine  methodisch  korrekte  wissenschaftliche 
Beweisführung  auf  dem  Gebiete  der  Sozialwissenschaften,  wenn 
sie  ihren  Zweck  erreicht  haben  will,  auch  von  einem  Chinesen  als 
richtig  anerkannt  werden  muß  oder  —  richtiger  gesagt  —  daß  sie 
dieses,  vielleicht  wegen  Materialmangels  nicht  voll  erreichbare,  Ziel 
jedenfalls  erstreben  muß,  daß  ferner  auch  die  logische  Analyse 
eines  Ideals  auf  seinen  Gehalt  und  auf  seine  letzten  Axiome  hin 
und  die  Aufzeigung  der  aus  seiner  Verfolgung  sich  logischer  und 
praktischer  Weise  ergebenden  Konsequenzen,  wenn  sie  als  ge- 
lungen gelten  soll,  auch  für  ihn  gültig  sein  muß,  —  während  ihm 
für  unsere  ethischen  Imperative  das  „Gehör"  fehlen  kann,  und  während 
er  das  Ideal  selbst  und  die  daraus  fließenden  konkreten  Wertungen 
ablehnen  kann  und  sicherlich  oft  ablehnen  wird,  ohne  dadurch 
dem  wissenschaftlichen  Wert  jener  denkenden  Analyse  irgend  zu 
nahe  zu  treten.  Sicherlich  wird  unsere  Zeitschrift  die  immer  und  un- 
vermeidlich sich  wiederholenden  Versuche,  den  Sinn  des  Kulturlebens 
eindeutig  zu  bestimmen,  nicht  etwa  ignorieren.  Im  Gegenteil :  sie 
gehören  ja  selbst  zu  den  wichtigsten  Erzeugnissen  eben  dieses 
Kulturlebens  und  unter  Umständen  auch  zu  seinen  mächtigsten 
treibenden  Kräften.  Wir  werden  daher  den  Verlauf  auch  der  in 
diesem  Sinne  „sozialphilosophischen"  Erörterungen  jederzeit  sorg- 


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32 


Max  Weber, 


sam  verfolgen.    Ja,  noch  mehr:  es  liegt  hier  das  Vorurteil  durch- 
aus fern,   als  ob  Betrachtungen  des  Kulturlebens,   die  über  die 
denkende  Ordnung   des   empirisch  Gegebenen   hinausgehend  die 
Welt  metaphysisch   zu  deuten  versuchen,   etwa  schon  um  dieses 
ihres  Charakters  willen  keine  Aufgabe  im  Dienste  der  Erkenntnis 
erfüllen  könnten.    Wo  diese  Aufgaben  etwa  hegen  würden ,  ist 
freilich  ein  Problem  zunächst  der  Erkenntnislehrc,  dessen  Beant- 
wortung hier  für  unsere  Zwecke  dahingestellt  bleiben  muß  und  auch 
kann.    Denn  eines  halten  wir  für  unsere  Arbeit  fest  :  eine  sozial- 
wissenschaftliche Zeitschrift  in  unserem  Sinne  soll,  soweit  sie 
Wissenschaft  treibt,  ein  Ort  sein,  wo  Wahrheit  gesucht  wird,  die 
—  um  im  Beispiel  zu  bleiben  —  auch  für  den  Chinesen  die  Geltung 
einer  denkenden  Ordnung  der  empirischen  Wirklichkeit  beansprucht. — 
Freilich  können  die  Herausgeber  weder  sich  selbst  noch  ihren 
Mitarbeitern  ein  für  allemal  verbieten,  die  Ideale,  die  sie  beseelen, 
auch  in  Werturteilen  zum  Ausdruck  zu  bringen.  Nur  erwachsen  daraus 
zwei  wichtige  Pflichten.    Zunächst  die:  in  jedem  Augenblick  den 
Lesern  und  sich  selbst  scharf  zum  Bewußtsein  zu  bringen,  welches 
die  Maßstäbe  sind,  an  denen  die  Wirklichkeit  gemessen  und  aus 
denen  das  Werturteil  abgeleitet  wird,  anstatt,  wie  es  nur  allzu  oft 
geschieht,  durch   unpräzises  Ineinanderschieben  von  Werten  ver- 
schiedenster Art  sich  um  die  Konflikte  zwischen  den  Idealen  hcrum- 
zutäuschen  und  „jedem  etwas  bieten"  zu  wollen.  Wird  dieser  Pflicht 
streng  genügt,  dann  kann  die  praktisch  urteilende  Stellungnahme 
im  rein  wissenschaftlichen  Interesse  nicht  nur  unschädlich,  sondern 
direkt  nützlich,  ja,  geboten  sein:  in  der  wissenschaftlichen  Kritik 
von  gesetzgeberischen  und  anderen  praktischen  Vorschlägen  ist  die 
Aufklärung  der  Motive  des  Gesetzgebers  und  der  Ideale  des  kriti- 
sierten Schriftstellers  in  ihre  Tragweite  sehr  oft  gar  nicht  anders 
in  anschaulich-verständliche  Form  zu   bringen,  als  durch  Kon- 
fronticrung  der  von  ihnen  zugrunde  gelegten  Wertmaßstäbe  mit 
anderen,  und  dann  natürlich  am  besten:  mit  den  eigenen.  Jede 
sinnvolle  Wertung  fremden  Wo  Ileus  kann  nur  Kritik  aus  einer 
eigenen  „Weltanschauung"  heraus,  Bekämpfung  des  fremden  Ideals 
vom  Boden  eines  eigenen  Ideals  aus  sein.  Soll  also  im  einzelnen 
Fall  das  letzte  Wertaxiom,  welches  einem  praktischen  Wollen  zugrunde 
liegt,  nicht  nur  festgestellt  und  wissenschaftlich  analysiert,  sondern 
in  seinen  Beziehungen  zu  anderen  Wertaxiomen  veranschaulicht 
werden,  so  ist  eben  „positive"  Kritik  durch  zusammenhängende 
Darlegung  der  letzteren  unvermeidlich. 


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Die  „Objektivität"  iozialwissenscliaftlicher  und  sozialpolitischer  Erkenntnis.  33 


Es  wird  also  in  den  Spalten  der  Zeitschrift  —  speziell  bei  der 
Besprechung  von  Gesetzen  —  neben  der  Sozial  Wissenschaft 

—  der  denkenden  Ordnung  der  Tatsachen  —  unvermeidlich  auch 
die  Sozialpolitik  —  die  Darlegung  von  Idealen  —  zu  Worte 
kommen.  Aber  :wirdenkennichtdaran,  derartige  Auseinander- 
setzungen für  „Wissenschaft"  auszugeben  und  werden  uns  nach 
besten  Kräften  hüten,  sie  damit  vermischen  und  verwechseln  zu 
lassen.  Die  Wissenschaft  ist  es  dann  nicht  mehr,  welche 
spricht,  und  das  zweite  fundamentale  Gebot  wissenschaftlicher 
Unbefangenheit  ist  es  deshalb:  in  solchen  Fällen,  den  Lesern  (und 

—  sagen  wir  wiederum  —  vor  allem  sich  selbst !)  jederzeit  deutlich 
zu  machen,  daß  und  wo  der  denkende  Forscher  aufhört  und  der 
wollende  Mensch  anfangt  zu  sprechen,  wo  die  Argumente  sich  an 
den  Verstand  und  wo  sie  sich  an  das  Gefühl  wenden.  Die  stete 
Vermischung  wissenschaftlicher  Erörterung  der  Tatsachen  und 
wertender  Raisonnements  ist  eine  der  zwar  noch  immer  verbreitetsten, 
aber  auch  schädlichsten  Eigenarten  von  Arbeiten  unseres  Faches. 
Gegen  diese  Vermischung,  nicht  etwa  gegen  das  Eintreten 
für  die  eigenen  Ideale  richten  sich  die  vorstehenden  Ausführungen: 
Gesinnnngslosigkeit  und  wissenschaftliche  „Objektivität" 
haben  keinerlei  innere  Verwandtschaft.  —  Das  Archiv  ist,  wenig- 
stens seiner  Absicht  nach,  niemals  ein  Ort  gewesen  und  soll 
es  auch  nicht  Werden,  an  welchem  Polemik  gegen  bestimmte 
politische  oder  sozialpolitische  Parteien  getrieben  wird,  ebensowenig 
eine  Stelle,  an  der  für  oder  gegen  politische  oder  sozial- 
politische Ideale  geworben  wird;  dafür  gibt  es  andere  Organe. 
Die  Eigenart  der  Zeitschrift  hat  vielmehr  von  Anfang  an  gerade 
darin  bestanden  und  soll,  soviel  an  den  Herausgebern  liegt,  auch 
fernerhin  darin  bestehen,  daß  in  ihr  scharfe  politische  Gegner 
sich  zu  wissenschaftlicher  Arbeit  zusammenfinden.  Sic  war  bisher 
kein  „sozialistisches"  und  wird  künftig  kein  „bürgerliches"  Organ 
sein.  Sie  schließt  von  ihrem  Mitarbeiterkreise  niemand  aus,  der 
sich  auf  den  Boden  wissenschaftlicher  Diskussion  stellen  will. 
Sie  kann  kein  Tummelplatz  von  „Erwiderungen",  Repliken  und 
Dupliken  sein,  aber  sie  schützt  niemand,  auch  nicht  ihre  Mitarbeiter 
und  ebensowenig  ihre  Herausgeber  dagegen,  in  ihren 
Spalten  der  denkbar  schärfsten  sachlich-wissenschaftlichen  Kritik 
ausgesetzt  zu  sein.  Wer  das  nicht  ertragen  kann,  oder  wer  auf 
dem  Standpunkt  steht,  mit  Leuten,  die  im  Dienste  anderer 
Ideale  arbeiten  als  er  selbst,  auch  im  Dienste  wissenschaftlicher 

Archiv  für  Soita!wu»en»ch»ft  u.  Sozialpolitik.  I.    (A.  f.  *ox.  G.  u.  St.  XIX.  1  1.  3 


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34 


Max  Weber, 


Erkenntnis  nicht  zusammenwirken  zu  wollen,  der  mag  ihr  fern 
bleiben. 

Nun  ist  aber  freilich  —  wir  wollen  uns  darüber  nicht  täuschen  — 
mit  diesem  letzten  Satze  praktisch  zurzeit  leider  mehr  gesagt,  als  es 
auf  den  ersten  Blick  scheint.  Zunächst  hat,  wie  schon  angedeutet,  die 
Möglichkeit  mit  politischen  Gegnern  sich  auf  neutralem  Boden 
—  geselligem  oder  ideellem  —  unbefangen  zusammenzufinden,  leider 
erfahrungsgemäß  überall  und  zumal  unter  unsern  deutschen  Ver- 
hältnissen ihre  psychologischen  Schranken.  An  sich  als  ein  Zeichen 
parteifanatischer  Beschränktheit  und  unentwickelter  politischer  Kultur 
unbedingt  bekämpfenswert,  gewinnt  dieses  Moment  für  eine  Zeit- 
schrift wie  die  unsrige  eine  ganz  wesentliche  Verstärkung  durch 
den  Umstand,  daß  auf  dem  Gebiet  der  Sozialwissenschaften  der 
Anstoß  zur  Aufrollung  wissenschaftlicher  Probleme  erfahrungs- 
gemäß regelmäßig  durch  praktische  „Fragen"  gegeben  wird,  so 
daß  die  bloße  Anerkennung  des  Bestehens  eines  wissenschaftlichen 
Problems  in  Personalunion  steht  mit  einem  bestimmt  gerichteten 
Wollen  lebendiger  Menschen.  In  den  Spalten  einer  Zeitschrift, 
welche  unter  dem  Einflüsse  des  allgemeinen  Interesses  für  ein  kon- 
kretes Problem  ins  Leben  tritt,  werden  sich  daher  als  Mitarbeiter 
regelmäßig  Menschen  zusammenfinden,  die  ihr  persönliches  Interesse 
diesem  Problem  deshalb  zuwenden,  weil  bestimmte  konkrete  Zu- 
stände ihnen  im  Widerspruch  mit  idealen  Werten,  an  die  sie  glauben, 
zu  stehen,  jene  Werte  zu  gefährden  scheinen.  Die  Wahlverwandt- 
schaft ähnlicher  Ideale  wird  alsdann  diesen  Mitarbeiterkreis  zu- 
sammenhalten und  sich  neu  rekrutieren  lassen,  und  dies  wird 
der  Zeitschrift  wenigstens  bei  der  Behandlung  praktisch-sozial- 
politischer Probleme  einen  bestimmten  „Charakter"  auf- 
prägen, wie  er  die  unvermeidliche  Begleiterscheinung  jedes  Zu- 
sammenwirkens lebendig  empfindender  Menschen  ist,  deren 
wertende  Stellungnahme  zu  den  Problemen  auch  bei  der  rein 
theoretischen  Arbeit  nicht  immer  ganz  unterdrückt  wird  und 
bei  der  Kritik  praktischer  Vorschläge  und  Maßnahmen  auch  — 
unter  den  oben  erörterten  Voraussetzungen  —  ganz  legitimerweise 
zum  Ausdruck  kommt.  Das  Archiv  nun  trat  in  einem  Zeit- 
punkte ins  Leben,  als  bestimmte  praktische  Probleme  der  „Ar- 
beiterfrage" im  überkommenen  Sinne  des  Wortes,  im  Vordergrund 
der  sozialwisscnschaftlichen  Erörterungen  standen.  Diejenigen  Per- 
sönlichkeiten, für  welche  mit  den  Problemen,  die  es  behandeln 
wollte,  die  höchsten  und  entscheidenden  Wertideen  sich  verknüpften, 


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Die  „Objektivität"  sozialwissenschaftlichcr  und  sozialpolitischer  Erkenntnis.  35 

und  welche  deshalb  seine  regelmäßigsten  Mitarbeiter  wurden,  waren 
eben  daher  zugleich  auch  Vertreter  einer  durch  jene  Wertideen 
gleich  oder  doch  ähnlich  gefärbten  Kulturauffassung.  Jedermann 
weiß  denn  auch,  daß,  wenn  die  Zeitschrift  den  Gedanken,  eine 
„Tendenz"  zu  verfolgen,  durch  die  ausdrückliche  Beschränkung  auf 
„wissenschaftliche"  Erörterungen  und  durch  die  ausdrückliche  Ein- 
ladung an  „Angehörige  aller  politischen  Lager"  bestimmt  ablehnte, 
sie  trotzdem  sicherlich  einen  „Charakter"  im  obigen  Sinn  besaß.  Er 
wurde  durch  den  Kreis  ihrer  regelmäßigen  Mitarbeiter  geschaffen. 
Es  waren  im  allgemeinen  Männer,  denen,  bei  aller  sonstigen  Ver- 
schiedenheit der  Ansichten,  der  Schutz  der  physischen  Gesundheit 
der  Arbeitermassen  und  die  Krmöglichung  steigender  Anteilnahme 
an  den  materiellen  und  geistigen  Gütern  unserer  Kultur  für  sie, 
als  Ziel  —  als  Mittel  aber  die  Verbindung  staatlichen  Eingreifens 
in  die  materielle  Interessensphäre  mit  freiheitlicher  Fortentwick- 
lung der  bestehenden  Staats-  und  Rechtsordnung  vorschwebten, 
und  die  —  welches  immer  ihre  Ansicht  über  die  Gestaltung  der 
Gesellschaftsordnung  in  der  ferneren  Zukunft  sein  mochte  —  für 
die  Gegenwart  die  kapitalistische  Entwicklung  bejahten,  nicht 
weil  sie  ihnen,  gegenüber  den  älteren  Formen  gesellschaftlicher 
Gliederung  als  die  bessere,  sondern  weil  sie  ihnen  als  praktisch 
unvermeidlich  und  der  Versuch  grundsätzlichen  Kampfes  gegen  sie, 
nicht  als  Förderung,  sondern  als  Hemmung  des  Emporsteigens  der 
Arbeiterklasse  an  das  Licht  der  Kultur  erschien.  Unter  den  in 
Deutschland  heute  bestehenden  Verhältnissen  —  sie  bedürfen  hier 
nicht  der  näheren  Klarlegung  —  war  dies  und  wäre  es  auch  heute 
nicht  zu  vermeiden.  Ja,  es  kam  im  tatsächlichen  Erfolg  der  All- 
scitigkeit  der  Beteiligung  an  der  wissenschaftlichen  Diskussion  direkt 
zugute  und  war  für  die  Zeitschrift  eher  ein  Moment  der  Stärke, 
ja  —  unter  den  gegebenen  Verhältnissen  —  sogar  vielleicht  einer 
der  Titel  ihrer  Existenzberechtigung. 

Unzweifelhaft  ist  es  nun,  daß  die  Entwicklung  eines  „Charak- 
ters" in  diesem  Sinne  bei  einer  wissenschaftlichen  Zeitschrift  eine 
Gefahr  für  die  Unbefangenheit  der  wissenschaftlichen  Arbeit  be- 
deuten kann  und  dann  .wirklich  bedeuten  müßte,  wenn  die 
Auswahl  der  Mitarbeiter  eine  planvoll  einseitige  würde :  in 
diesem  Falle  bedeutete  die  Züchtung  jenes  „Charakters"  prak- 
tisch dasselbe  wie  das  Bestehen  einer  „Tendenz".  Die  Heraus- 
geber sind  sich  der  Verantwortung,  die  ihnen  diese  Sachlage 
auferlegt,  durchaus  bewußt.  Sie  beabsichtigen  weder,  den  Charakter 

3* 


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36 


Max  Weber, 


des  Archivs  planvoll  zu  ändern,  noch  etwa  ihn  durch  geflissentliche 
Beschränkung  des  Mitarbeiterkreises  auf  Gelehrte  mit  bestimmten 
Parteimeinungen,  künstlich  zu  konservieren.  Sie  nehmen  ihn  als 
gegeben  hin  und  warten  seine  weitere  „Entwicklung"  ab.  Wie 
er  sich  in  Zukunft  gestaltet  und  vielleicht,  infolge  der  unvermeid- 
lichen Erweiterung  unseres  Mitarbeiterkreises,  u  m  gestaltet,  das  wird 
zunächst  von  der  Eigenart  derjenigen  Persönlichkeiten  abhängen, 
die  mit  der  Absicht,  wissenschaftlicher  Arbeit  zu  dienen,  in  diesen 
Kreis  eintreten  und  in  den  Spalten  der  Zeitschrift  heimisch  werden 
oder  bleiben.  Und  es  wird  weiter  durch  die  Erweiterung  der 
Probleme  bedingt  sein,  deren  Förderung  sich  die  Zeitschrift  zum 
Ziel  setzt. 

Mit  dieser  Bemerkung  gelangen  wir  zu  der  bisher  noch  nicht 
erörterten  Frage  der  sachlichen  Abgrenzung  unseres  Arbeits- 
gebietes. Hierauf  kann  aber  eine  Antwort  nicht  gegeben  werden, 
ohne  auch  hier  die  Frage  nach  der  Natur  des  Zieles  sozialwissen- 
schaftlicher Erkenntnis  überhaupt  aufzurollen.  Wir  haben  bisher, 
indem  wir  „Werturteile"  und  „Erfahrungswissen"  prinzipiell  schieden, 
vorausgesetzt,  daß  es  eine  unbedingt  gültige  Art  der  Erkenntnis, 
d.  h.  der  denkenden  Ordnung  der  empirischen  Wirklichkeit  auf  dem 
Gebiet  der  Sozialwissenschaften  tatsächlich  gebe.  Diese  Annahme 
wird  jetzt  insofern  zum  Problem,  als  wir  erörtern  müssen,  was  ob- 
jektive „Geltung"  der  Wahrheit,  die  wir  erstreben,  auf  unserem 
Gebiet  bedeuten  kann.  Daß  das  Problem  als  solches  besteht  und 
hier  nicht  spintisierend  geschaffen  wird,  kann  niemanden  entgehen, 
der  den  Kampf  um  Methode,  „Grundbegriffe"  und  Voraussetzungen, 
den  steten  Wechsel  der  „Gesichtspunkte"  und  die  stete  Xcube- 
stimmung  der  „Begriffe",  die  verwendet  werden,  beobachtet  und 
sieht,  wie  theoretische  und  historische  Betrachtungsform  noch  immer 
durch  eine  scheinbar  unüberbrückbare  Kluft  getrennt  sind :  „z  w  e  i 
Nationalökonomien",  wie  ein  verzweifelnder  Wiener  Examinand 
seinerzeit  jammernd  klagte.  Was  heißt  hier  Objektivität?  Ledig- 
lich diese  Frage  wollen  die  nachfolgenden  Ausführungen  er- 
örtern. 

it.«) 

Die  Zeitschrift  hat  von  Anfang  an  die  Gegenstände ,  mit 
denen  sie  sich  befaßte,  als  sozial-ökonomische  behandelt.  So 

')  Vgl.  die  Anmerkung  zum  Titel. 


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Die  „Objektivität"  sozialwisscnschaftlichcr  und  sozialpolitischer  Erkenntnis.  37 

wenig  Sinn  es  nun  hätte,  hier  Begriffsbestimmungen  und  Ab- 
grenzungen von  Wissenschaften  vorzunehmen,  so  müssen  wir  uns 
doch  darüber  summarisch  ins  klare  setzen,  was  das  bedeutet. 

Daß  unsere  physische  Existenz  ebenso  wie  die  Befriedigung 
unserer  idealsten  Bedürfnisse  überall  auf  die  quantitative  Begrenzt- 
heit und  qualitative  Unzulänglichkeit  der  dafür  benötigten  äußeren 
Mittel  stößt,  daß  es  zu  ihrer  Befriedigung  der  planvollen  Vorsorge 
und  der  Arbeit,  des  Kampfes  mit  der  Natur  und  der  Vergesell- 
schaftung mit  Menschen  bedarf,  —  das  ist,  möglichst  unpräzis  aus- 
gedrückt, der  grundlegende  Tatbestand,  an  den  sich  alle  jene  Er- 
cheinungen  knüpfen,  die  wir  im  weitesten  Sinne  als  „sozial- 
ökonomische" bezeichnen.  Die  Qualität  eines  Vorganges  als 
„sozial-ökonomischer"  Erscheinung  ist  nun  nicht  etwas  ,  was 
ihm  als  solchem  „objektiv"  anhaftet.  Sie  ist  vielmehr  bedingt 
durch  die  Richtung  unseres  Erkenntnisinteresses,  wie  sie  sich 
aus  der  spezifischen  Kulturbedeutung  ergibt,  die  wir  dem  be- 
treffenden Vorgange  im  einzelnen  Fall  beilegen.  Wo  immer  ein 
Vorgang  des  Kulturlebens  in  denjenigen  Teilen  seiner  Eigenart,  in 
welchen  für  uns  seine  spezifische  Bedeutung  beruht,  direkt  oder 
in  noch  so  vermittelter  Weise  an  jenem  Tatbestand  verankert  ist,  da 
enthält  er  oder  kann  er  wenigstens,  so  weit  dies  der  Fall,  ein  sozial- 
wissenschaftliches Problem  enthalten,  d.  h.  eine  Aufgabe  für  eine 
Disziplin,  welche  die  Aufklärung  der  Tragweite  jenes  grundlegenden 
Tatbestandes  zu  ihrem  Gegenstande  macht. 

Wrir  können  nun  innerhalb  der  sozialökonomichen  Probleme 
unterscheiden :  Vorgänge  und  Komplexe  von  solchen,  Normen, 
Institutionen  usw. ,  deren  Kulturbedeutung  für  uns  wesentlich  in 
ihrer  ökonomischen  Seite  beruht,  die  uns  —  wie  z.  B.  etwa  Vor- 
gänge des  Börsen-  und  Banklebens  —  zunächst  wesentlich  nur  unter 
diesem  Gesichtspunkt  interessieren.  Dies  wird  regelmäßig  (aber 
nicht  etwa  ausschließlich)  dann  der  Fall  sein,  wenn  es  sich  um 
Institutionen  handelt,  welche  bewußt  zu  ökonomischen  Zwecken 
geschaffen  wurden  oder  benutzt  werden.  Solche  Objekte  unseres  Er- 
kennens können  wir  i.  e.S.  „wirtschaftliche"  Vorgänge  bez.  Institutionen 
nennen.  Dazu  treten  andere,  die  —  wie  z.  B.  etwa  Vorgänge  des  r  e  1  i  - 
g  iösen  Lebens  —  uns  picht  oder  doch  sicherlich  nicht  in  erster  Linie 
unter  dem  Gesichtspunkt  ihrer  ökonomischen  Bedeutung  und  um 
dieser  willen  interessieren,  die  aber  unter  Umständen  unter  diesem 
Gesichtspunkt  Bedeutung  gewinnen,  weil  von  ihnen  Wirkungen 
ausgehen,  die  uns  unter  ökonomischen  Gesichtspunkten  interessieren  : 


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3« 


Max  Weber, 


„ökonomisch  relevante"  Erscheinungen.  Und  endlich  gibt  es  unter  den 
nicht  in  unserem  Sinne  „wirtschaftlichen"  Erscheinungen  solche, 
deren  ökonomische  Wirkungen  für  uns  von  keinem  oder  doch  nicht 
erheblichem  Interesse  sind:  etwa  die  Richtung  des  künstlerischen 
Geschmacks  einer  Zeit,  —  die  aber  ihrerseits  im  Einzelfalle  in  ge- 
wissen bedeutsamen  Seiten  ihrer  Eigenart  durch  ökonomische  Mo- 
tive, also  z.  B.  in  unserem  Falle  etwa  durch  die  Art  der  sozialen 
Gliederung  des  künstlerisch  interessierten  Publikums  mehr  oder 
minder  stark  mit  beeinflußt  sind:  ökonomisch  bedingte  Er- 
scheinungen. Jener  Komplex  menschlicher  Beziehungen,  Normen 
und  normbestimmter  Verhältnisse,  die  wir  „Staat"  nennen,  ist  bei- 
spielsweise bezüglich  der  staatlichen  Finanzwirtschaft  eine  „wirt- 
schaftliche" Erscheinung;  —  insofern  er  gesetzgeberisch  oder  sonst 
auf  das  Wirtschaftsleben  einwirkt  (und  zwar  auch  da,  wo  ganz 
andere  als  ökonomische  Gesichtspunkte  sein  Verhalten  bewußt  be- 
stimmen) ist  er  „ökonomisch  relevant" ;  —  sofern  endlich  sein  Ver- 
halten und  seine  Eigenart  auch  in  anderen  als  in  seinen  „wirtschaft- 
lichen" Beziehungen  durch  ökonomische  Motive  mitbestimmt  wird, 
ist  er  „ökonomisch  bedingt".  Es  versteht  sich  nach  dem  Gesagten 
von  selbst,  daß  einerseits  der  Umkreis  der  „wirtschaftlichen"  Er- 
scheinungen ein  flüssiger  und  nicht  scharf  abzugrenzender  ist,  und 
daß  andererseits  natürlich  keineswegs  etwa  die  „wirtschaftlichen" 
Seiten  einer  Erscheinung  nur  „wirtschaftlich  bedingt"  oder  nur 
„wirtschaftlich  wirksam"  sind,  und  daß  eine  Erscheinung  überhaupt 
die  Qualität  einer  „wirtschaftlichen"  nur  in  soweit  und  nur  so  lange 
behält,  als  unser  Interesse  sich  der  Bedeutung,  die  sie  für 
den  materiellen  Kampf  ums  Dasein  besitzt,  ausschließlich  zuwendet. 

Unsere  Zeitschrift  nun  befaßt  sich  wie  die  sozialökono- 
mische Wissenschaft  seit  Marx  und  Roscher  nicht  nur  mit  „wirt- 
schaftlichen" sondern  auch  mit  „wirtschaftlich  relevanten"  und 
„wirtschaftlich  bedingten"  Erscheinungen.  Der  Umkreis  derartiger 
Objekte  erstreckt  sich  natürlich,  —  flüssig,  wie  er  je  nach  der  je- 
weiligen Richtung  unseres  Interesses  ist,  —  offenbar  durch  die  Ge- 
samtheit aller  Kulturvorgänge.  Spezifisch  ökonomische  Motive  — 
d.  h.  Motive,  die  in  ihrer  für  uns  bedeutsamen  Eigenart  an  jenem 
grundlegenden  Tatbestand  verankert  sind  —  werden  überall  da 
wirksam,  wo  die  Befriedigung  eines  noch  so  immateriellen  Be- 
dürfnisses an  die  Verwendung  begrenzter  äußerer  Mittel  ge- 
bunden ist.  Ihre  Wucht  hat  deshalb  überall  nicht  nur  die  Form 
der  Befriedigung,  sondern  auch  den  Inhalt  von  Kulturbedürfnissen 


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Die  „Objektivität"  sozialwissenschaftlicher  und  sozialpolitischer  Erkenntnis.  30, 


auch  der  innerlichsten  Art  mitbestimmt  und  umgestaltet.  Der  in- 
direkte Einfluß,  der  unter  dem  Drucke  „materieller"  Interessen 
stehenden  sozialen  Beziehungen,  Institutionen  und  Gruppierungen 
der  Menschen,  erstreckt  sich  (oft  unbewußt)  auf  alle  Kulturgebiete 
ohne  Ausnahme,  bis  in  die  feinsten  Nuancierungen  des  ästhetischen 
und  religiösen  Empfindens  hinein.  Die  Vorgänge  des  alltäglichen 
Lebens  nicht  minder  wie  die  „historischen"  Ereignisse  der  hohen 
Politik,  Kollektiv-  und  Massenerscheinungen  ebenso  wie  „singulare" 
Handlungen  von  Staatsmännern  oder  individuelle  literarische  und 
künstlerische  Leistungen  sind  durch  sie  mitbeeinflußt,  —  „ökono- 
misch bedingt".  Andererseits  wirkt  die  Gesamtheit  aller  Lebens- 
erscheinungen und  Lebensbedingungen  einer  historisch  gegebenen 
Kultur  auf  die  Gestaltung  der  materiellen  Bedürfnisse,  auf  die  Art 
ihrer  Befriedigung,  auf  die  Bildung  der  materiellen  Interessen- 
gruppen und  auf  die  Art  ihrer  Machtmittel  und  damit  auf  die  Art 
des  Verlaufes  der  „ökonomischen  Entwicklung"  ein,  —  wird  „öko- 
nomisch relevant".  Soweit  unsere  Wissenschaft  wirtschaftliche 
Kulturerscheinungen  im  kausalen  Regressus  individuellen  Ursachen 
—  ökonomischen  oder  nicht  ökonomischen  Charakters  —  zurechnet, 
erstrebt  sie  „historische"  Erkenntnis.  Soweit  sie  ein  spezifisches 
Element  der  Kulturerscheinungen:  das  ökonomische,  in  seiner 
Kulturbedeutung  durch  die  verschiedensten  Kulturzusammenhänge 
hindurch  verfolgt,  erstrebt  sie  Geschichtsinterpretation  unter 
einem  spezifischen  Gesichtspunkt  und  bietet  ein  Teilbild,  eine  Vor- 
arbeit für  die  volle  historische  Kulturcrkenntnis. 

Wenn  nun  auch  nicht  überall,  wo  ein  Hineinspielen  ökonomi- 
scher Momente  als  Folge  oder  Ursache  stattfindet,  ein  sozial-öko- 
nomisches Problem  vorliegt  —  denn  ein  solches  entsteht  nur  da, 
wo  die  Bedeutung  jener  Faktoren  eben  problematisch  und  nur 
durch  die  Anwendung  der  Methoden  der  sozial-ökonomischen 
Wissenschaft  sicher  feststellbar  ist  —  so  ergibt  sich  doch  der  schier 
unübersehbare  Umkreis  des  Arbeitsgebietes  der  sozial-ökonomischen 
Betrachtungsweise. 

Unsere  Zeitschrift  hat  nun  schon  bisher  in  wohlerwogener 
Selbstbeschränkung  auf  die  Pflege  einer  ganzen  Reihe  höchst 
wichtiger  Spezialgebiete  unserer  Disziplin,  wie  namentlich  der  de- 
skriptiven Wirtschaftskunde,  der  Wirtschaftsgeschichte  im  engeren 
Sinne  und  der  Statistik,  im  allgemeinen  verzichtet.  Ebenso  hat  sie 
die  Erörterung  der  finanztechnischen  Fragen  und  die  technisch- 
ökonomischen  Probleme  der  Markt-  und  Preisbildung  in  der  modernen 


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40  Max  Weber, 

Tauschwirtschaft  anderen  Organen  überlassen.  Ihr  Arbeitsgebiet 
waren  gewisse  Interessenkonstellationen  und  Konflikte,  welche  durch 
die  führende  Rolle  des  Verwertung  suchenden  Kapitals  in  der 
Wirtschaft  der  modernen  Kulturländer  entstanden  sind,  in  ihrer 
heutigen  Bedeutung  und  ihrem  geschichtlichen  Gewordensein.  Sie 
hat  sich  dabei  nicht  auf  die  im  engsten  Sinne  „soziale  Frage"  ge- 
nannten praktischen  und  entwicklungsgeschichtlichen  Probleme:  die 
Beziehungen  der  modernen  Lohnarbeiterklasse  zu  der  bestehenden 
Gesellschaftsordnung,  beschränkt.  Freilich  mußte  die  wissenschaft- 
liche Vertiefung  des  im  Laufe  der  80 er  Jahre  bei  uns  sich  ver- 
breitenden Interesses  gerade  an  dieser  Spezialfrage,  zunächst  eine 
ihrer  wesentlichsten  Aufgaben  sein.  Allein  je  mehr  die  prak- 
tische Behandlung  der  Arbeiterverhältnisse  auch  bei  uns  dauernder 
Gegenstand  der  gesetzgebenden  Tätigkeit  und  der  öffentlichen  Er- 
örterung geworden  ist,  um  so  mehr  mußte  der  Schwerpunkt  der 
wissenschaftlichen  Arbeit  sich  auf  die  Feststellung  der  universelleren 
Zusammenhänge,  in  welche  diese  Probleme  hineingehören,  ver- 
schieben und  damit  in  die  Aufgabe  einer  Analyse  aller,  durch  die 
Eigenart  der  ökonomischen  Grundlagen  unserer  Kultur  geschaffenen 
und  insofern  spezifisch  modernen  Kulturprobleme  ausmünden.  Die 
Zeitschrift  hat  denn  auch  schon  sehr  hald  die  verschiedensten,  teils 
„ökonomisch  relevanten",  teils  „ökonomisch  bedingten"  Lebensver- 
hältnisse auch  der  übrigen  großen  Klassen  der  modernen  Kultur- 
nationen und  deren  Beziehungen  zueinander  historisch,  statistisch 
und  theoretisch  zu  behandeln  begonnen.  Wir  ziehen  nur  die  Kon- 
sequenzen dieses  Verhaltens,  wenn  wir  jetzt  als  eigenstes  Arbeits- 
gebiet unserer  Zeitschrift  die  wissenschaftliche  Erforschung  der  all- 
gemeinen Kulturbedeutung  der  sozialökonomischen 
Struktur  des  menschlichen  Gemeinschaftslebens  und 
seiner  historischen  Organisationsformen  bezeichnen.  —  Dies  und 
nichts  anderes  meinen  wir,  wenn  wir  unsere  Zeitschrift  „Archiv  für 
Sozialwissenschaft"  genannt  haben.  Das  Wort  soll  hier  die  geschicht- 
liche und  theoretische  Beschäftigung  mit  den  gleichen  Problemen 
umfassen,  deren  praktische  Lösung  Gegenstand  der  „Sozial  p  o  1  i  t  i  k" 
im  weitesten  Sinne  dieses  Wortes  ist.  Wir  machen  dabei  von  dem 
Rechte  Gebrauch,  den  Ausdruck  „sozial"  in  seiner  durch  konkrete 
Gegenwartsprobleme  bestimmten  Bedeutung  zu  verwenden.  Will 
man  solche  Disziplinen,  welche  die  Vorgänge  des  menschlichen 
Lebens  unter  dem  Gesichtspunkt  ihrer  Kult  Urbedeutung  be- 
trachten,   „Kulturwissenschaften"   nennen,  so   gehört    die  Sozial- 


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Die  „Objektivität"  sozialwissenschaAlicber  und  sozialpolitischer  Erkenntnis.  41 


Wissenschaft  in  unserem  Sinne  in  diese  Kategorie  hinein.  Wir 
werden  bald  sehen,  welche  prinzipiellen  Konsequenzen  das  hat. 

Unzweifelhaft  bedeutet  die  Heraushebung  der  sozialökono- 
mischen Seite  des  Kulturlebens  eine  sehr  fühlbare  Begrenzung 
unserer  Themata.  Man  wird  sagen,  daß  der  ökonomische  oder, 
wie  man  unpräzis  gesagt  hat,  der  „materialistische"  Gesichtspunkt 
von  dem  aus  das  Kulturleben  hier  betrachtet  wird,  „einseitig"  sei. 
Sicherlich,  und  diese  Einseitigkeit  ist  beabsichtigt.  Der  Glaube,  es 
sei  die  Aufgabe  fortschreitender  wissenschaftlicher  Arbeit,  die  „Ein- 
seitigkeit" der  ökonomischen  Betrachtungsweise  dadurch  zu  heilen, 
daß  sie  zu  einer  allgemeinen  Sozialwissenschaft  erweitert  werde, 
krankt  zunächst  an  dem  Fehler,  daß  der  Gesichtspunkt  des  „Sozialen", 
also  der  Beziehung  zwischen  Menschen,  nur  dann  irgend  welche 
zur  Abgrenzung  wissenschaftlicher  Probleme  ausreichende  Bestimmt- 
heit besitzt,  wenn  er  mit  irgend  einem  speziellen  inhaltlichen  Prä- 
dikat versehen  ist.  Sonst  umfaßte  er,  als  Objekt  einer  Wissenschaft 
gedacht,  natürlich  z.  B.  die  Philologie  ebensowohl  wie  die  Kirchen- 
geschichte und  namentlich  alle  jene  Disziplinen,  die  mit  dem 
wichtigsten  konstitutiven  Elemente  jedes  Kulturlebens:  dem  Staat, 
und  mit  der  wichtigsten  Form  seiner  normativen  Regelung:  dem 
Recht,  sich  beschäftigen.  Daß  die  Sozialökonomik  sich  mit  „so- 
zialen" Beziehungen  befaßt  ist  so  wenig  ein  Grund,  sie  als  not- 
wendigen Vorläufer  einer  „allgemeinen  Sozialwissenschaft"  zu  denken, 
wie  etwa  der  Umstand,  daß  sie  sich  mit  Lebenserscheinungen  be- 
faßt, dazu  nötigt,  sie  als  Teil  der  Biologie,  oder  der  andere,  daß  sie 
es  mit  Vorgängen  auf  einem  Himmelskörper  zu  tun  hat,  dazu,  sie 
als  Teil  einer  künftigen  vermehrten  und  verbesserten  Astronomie 

0 

anzusehen.  Nicht  die  „sachlichen"  Zusammenhänge  der  „D  i  n  g  e", 
sondern  die  gedanklichen  Zusammenhänge  der  Probleme 
liegen  den  Arbeitsgebieten  der  Wissenschaften  zugrunde:  wo  mit 
neuer  Methode  einem  neuen  Problem  nachgegangen  wird  und  da- 
durch Wahrheiten  entdeckt  werden,  welche  neue  bedeutsame  Ge- 
sichtspunkte eröffnen,  da  entsteht  eine  neue  „Wissenschaft".  — 

Es  ist  nun  kein  Zufall,  daß  der  Begriff  des  „Sozialen",  der  einen 
ganz  allgemeinen  Sinn  zu  haben  scheint,  sobald  man  ihn  auf  seine 
Verwendung  hin  kontrolliert,  stets  eine  durchaus  besondere,  spezi- 
fisch gefärbte,  wenn  auch  meist  unbestimmte,  Bedeutung  an  sich 
trägt;  das  „allgemeine"  beruht  bei  ihm  tatsächlich  in  nichts  anderem 
als  eben  in  seiner  Unbestimmtheit.  Er  bietet  eben,  wenn  man  ihn  in 
seiner  „allgemeinen"  Bedeutung  nimmt,  keinerlei  spezifische  Gesichts- 


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42 


Max  Weber, 


punkte,  unter  denen  man  die  Bedeutung  bestimmter  Kultur- 
elemente beleuchten  könnte. 

Frei  von  dem  veralteten  Glauben,  daß  die  Gesamtheit  der 
Kulturerscheinungen  sich  als  Produkt  oder  als  Funktion  „materieller" 
Interessekonstcllationen  deduzieren  lasse,  glauben  wir  unsrerseits 
doch,  daß  die  Analyse  der  sozialen  Erscheinungen  und 
Kultur  Vorgänge  unter  dem  speziellen  Gesichtpunkte  ihrer 
ökonomisch  en  Bedingtheit  und  Tragweite  ein  wissenschaftliches 
Prinzip  von  schöpferischer  Fruchtbarkeit  war  und,  bei  umsichtiger 
Anwendung  und  Freiheit  von  dogmatischer  Befangenheit,  auch  in 
aller  absehbarer  Zeit  noch  bleiben  wird.  Die  sogenannte  „materia- 
listische Geschichtsauffassung"  als  „VV eltanschauung"  oder  als 
Generalnenner  kausaler  Erklärung  der  historischen  Wirklichkeit 
ist  auf  das  Bestimmteste  abzulehnen,  —  die  Pflege  der  ökonomischen 
Geschichtsinterpretation  ist  einer  der  wesentlichsten  Zwecke 
unserer  Zeitschrift.    Das  bedarf  der  näheren  Erläuterung. 

Die  sogenannte  „materialistische  Geschichtsauffassung"  in  dem 
alten  genial -primitiven  Sinne  etwa  des  kommunistischen  Manifeste  be- 
herrscht heute  wohl  nur  noch  die  Köpfe  von  Laien  und  Dilettanten. 
Bei  ihnen  findet  sich  allerdings  noch  immer  die  eigentümliche  Er- 
scheinung verbreitet,  daß  ihrem  Kausalbedürfnis  bei  der  Erklärung 
einer  historischen  Erscheinung  so  lange  nicht  Genüge  geschehen 
ist,  als  nicht  irgendwie  und  irgendwo  ökonomische  Ursachen  als 
mitspielend  nachgewiesen  sind  (oder  zu  sein  scheinen):  ist  dies 
aber  der  Fall,  dann  begnügen  sie  sich  wiederum  mit  der  faden- 
scheinigsten Hypothese  und  den  allgemeinsten  Redewendungen,  weil 
nunmehr  ihrem  dogmatischen  Bedürfnis,  daß  die  ökonomischen 
„Triebkräfte"  die  „eigentlichen",  einzig  „wahren",  in  „letzter  Instanz 
überall  Ausschlag  gebenden"  seien,  Genüge  geschehen  ist.  Die  Er- 
scheinung ist  ja  nichts  Einzigartiges.  Es  haben  fast  alle  Wissen- 
schaften, von  der  Philologie  bis  zur  Biologie,  gelegentlich  den  An- 
spruch erhoben,  Produzenten  nicht  nur  von  Fachwissen,  sondern 
auch  von  „Weltanschauungen"  zu  sein.  Und  unter  dem  Eindruck 
der  gewaltigen  Kulturbedeutung  der  modernen  ökonomischen 
Umwälzungen  und  speziell  der  überragenden  Tragweite  der  „Ar- 
beiterfrage" glitt  der  unausrottbare  monistische  Zug  jedes  gegen 
sich  selbst  unkritischen  Erkennens  naturgemäß  auf  diesen  Weg. 
Der  gleiche  Zug  kommt  jetzt,  wo  in  zunehmender  Schärfe  der 
politische  und  handelspolitische  Kampf  der  Nationen  untereinander 
um  die  Welt  gekämpft  wird,  der  Anthropologie  zugute:  ist  doch 


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Die  ..Objektivität"  so/ialwisscnschaftlicher  und  sozialpolitischer  Erkenntnis.  43 

der  Glaube  weit  verbreitet,  daß  „in  letzter  Linie"  alles  historische 
Geschehen  Ausfluß  des  Spiels  angeborener  „Rassenqualitäten"  gegen- 
einander sei.  An  die  Stelle  der  kritiklosen  bloßen  Beschreibung 
von  „Volkscharakteren"  trat  die  noch  kritiklosere  Aufstellung  von 
eigenen  „Gesellschaftstheorien"  auf  „naturwissenschaftlicher"  Grund- 
lage. Wir  werden  in  unserer  Zeitschrift  die  Entwicklung  der  anthro- 
pologischen Forschung,  soweit  sie  für  unsere  Gesichtspunkte  Be- 
deutung gewinnt,  sorgsam  verfolgen.  Es  steht  zu  hoffen,  daß  der 
Zustand,  in  welchem  die  kausale  Zurückführung  von  Kulturvor- 
gängen  auf  die  „Rasse"  lediglich  unser  Nichtwissen  dokumen- 
tierte, —  ähnlich  wie  etwa  die  Bezugnahme  auf  das  „Milieu"  oder, 
früher,  auf  die  „Zeitumstände",  —  allmählich  durch  methodisch  ge- 
schulte Arbeit  überwunden  wird.  Wenn  etwas  dieser  Forschung 
bisher  geschadet  hat,  so  ist  es  die  Vorstellung  eifriger  Dilettanten, 
daß  sie  für  die  Erkenntnis  der  Kultur  etwas  spezifisch  Anderes 
und  Erheblicheres  leisten  könnte,  als  die  Erweiterung  der  Möglich- 
keit sicherer  Zurechnung  einzelner  konkreter  Kulturvorgänge  der 
historischen  Wirklichkeit  zu  konkreten  historisch  gegebenen 
Ursachen  durch  Gewinnung  exakten,  unter  spezifischen  Gesichts- 
punkten erhobenen  Beobachtungsmaterials.  Ausschließlich  soweit 
sie  uns  dies  zu  bieten  vermögen,  haben  ihre  Ergebnisse  für  uns 
Interesse  und  qualifizieren  sie  die  „Rassenbiologie"  als  etwas  mehr 
als  ein  Produkt  des  modernen  wissenschaftlichen  Gründungsfiebers. 

Nicht  anders  steht  es  um  die  Bedeutung  der  ökonomischen 
Interpretation  des  Geschichtlichen.  Wenn  nach  einer  Periode  grenzen- 
loser Überschätzung  heute  beinahe  die  Gefahr  besteht,  daß  sie  in 
ihrer  wissenschaftlichen  Leistungsfähigkeit  unter  wertet  werde,  so  ist 
das  die  Folge  der  beispielslosen  Unkritik,  mit  welcher  die  ökono- 
mische Deutung  der  Wirklichkeit  als  „universelle"  Methode  in  dem 
Sinne  einer  Deduktion  aller  Kukurerscheinungen  —  d.  h.  alles  an 
ihnen  für  uns  Wesentlichen,  —  als  in  letzter  Instanz  ökonomisch 
bedingt  verwendet  wurde.  Heute  ist  die  logische  Form,  in  der  sie 
auftritt,  nicht  ganz  einheitlich.  Wo  für  die  rein  ökonomische  Er- 
klärung sich  Schwierigkeiten  ergeben,  stehen  verschiedene  Mittel 
zur  Verfügung,  um  ihre  Allgemeingültigkeit  als  entscheidendes  ur- 
sächliches Moment  aufrecht  zu  erhalten.  Entweder  man  behandelt 
alles  das,  was  in  der  historischen  Wirklichkeit  nicht  aus  ökono- 
mischen Motiven  deduzierbar  ist,  als  eben  deshalb  wissenschaft- 
lich bedeutungslose  „Zufälligkeit".  Oder  man  dehnt  den  Be- 
griff des  Ökonomischen  bis  zur  Unkenntlichkeit,  so  daß  alle  mensch- 


44 


Max  Weber, 


liehen  Interessen,  welche  irgend  wie  an  äußere  Mittel  gebunden 
sind,  in  jenen  Begriff  einbezogen  werden.  Steht  historisch  fest,  daß 
auf  zwei  in  ökonomischer  Hinsicht  gleiche  Situationen  dennoch 
verschieden  reagiert  wurde,  —  infolge  der  Differenzen  der  poli- 
tischen und  religiösen,  klimatischen  und  der  zahllosen  anderen 
nicht  ökonomischen  Determinanten  — ,  dann  degradiert  man,  um 
die  Suprematie  des  Ökonomischen  zu  erhalten,  alle  diese  Momente 
zu  den  historisch  zufälligen  „Bedingungen",  unter  denen  die  ökono- 
mischen Motive  als  „Ursachen"  wirken.  Es  versteht  sich  aber,  daß 
alle  jene  für  die  ökonomische  Betrachtung  „zufälligen"  Momente  ganz 
in  demselben  Sinne  wie  die  ökonomischen  je  ihren  eigenen  Gesetzen 
folgen,  und  daß  für  eine  Betrachtungsweise,  welche  ihre  spezifische 
Bedeutung  verfolgt,  die  jeweiligen  ökonomischen  „Bedingungen" 
ganz  in  dem  gleichen  Sinne  „historisch  zufällig"  sind,  wie  um- 
gekehrt. Ein  beliebter  Versuch,  demgegenüber  die  überragende 
Bedeutung  des  Ökonomischen  zu  retten,  besteht  endlich  darin,  daß 
man  das  konstante  Mit-  und  Aufeinanderwirken  der  einzelnen  Ele- 
mente des  Kulturlebens  in  eine  kausale  oder  funktionelle  Ab- 
hängigkeit des  einen  von  den  anderen  oder  vielmehr  aller  übrigen 
von  einem:  dem  ökonomischen,  deutet.  Wo  eine  bestimmte  ein- 
zelne nicht  wirtschaftliche  Institution  historisch  auch  eine  be- 
stimmte „Funktion"  im  Dienste  von  ökonomischen  Klasseninteressen 
versehen  hat,  d.  h.  diesen  dienstbar  geworden  ist ,  wo  z.  B.  etwa 
bestimmte  religiöse  Institutionen  als  „schwarze  Polizei"  sich  ver- 
wenden lassen  und  verwendet  werden,  wird  dann  die  ganze  Insti- 
tution entweder  als  für  diese  Funktion  geschaffen  oder,  —  ganz 
metaphysisch,  —  als  durch  eine  vom  Ökonomischen  ausgehende 
„Entwicklungstendenz"  geprägt,  vorgestellt. 

Es  bedarf  heute  für  keinen  Fachmann  mehr  der  Ausfuhrung, 
daß  diese  Deutung  des  Zweckes  der  ökonomischen  Kulturanalyse 
der  Ausfluß  teils  einer  bestimmten  geschichtlichen  Konstellation, 
die  das  wissenschaftliche  Interesse  bestimmten  ökonomisch  bedingten 
Kulturproblemen  zuwendete,  teils  eines  rabiaten  wissenschaftlichen 
Ressortpatriotismus  war  und  daß  sie  heute  mindestens  veraltet  ist. 
Die  Reduktion  auf  ökonomische  Ursachen  allein  ist  auf  keinem 
Gebiete  der  Kulturerscheinungen  je  in  irgend  einem  Sinn  erschöpfend, 
auch  nicht  auf  demjenigen  der  „wirtschaftlichen"  Vorgänge.  Prin- 
zipiell ist  eine  B  a  n  k  geschiente  irgend  eines  Volkes,  die  nur  die 
ökonomischen  Motive  zur  Erklärung  heranziehen  wollte,  natürlich 
ganz  ebenso  unmöglich,  wie  etwa  eine  „Erklärung"  der  Sixtinischen 


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Die  „Objektivität"  sozialwissenschaAlicbcr  und  sozialpolitischer  Erkenntnis.  45 

Madonna  aus  den  sozial  -  ökonomischen  Grundlagen  des  Kultur- 
lebens zur  Zeit  ihrer  Entstehung  sein  würde,  und  sie  ist  in  keiner 
Weise  prinzipiell  erschöpfender  als  es  etwa  die  Ableitung  des  Ka- 
pitalismus aus  gewissen  Umgestaltungen  religiöser  Bewußtseins- 
inhalte, die  bei  der  Genesis  des  kapitalistischen  Geistes  mit- 
spielten, oder  etwa  irgend  eines  politischen  Gebildes  aus  geogra- 
phischen Bedingungen  sein  würden.  In  allen  diesen  Fällen  ist  für 
das  Maß  der  Bedeutung,  die  wir  ökonomischen  Bedingungen  bei- 
zumessen haben,  entscheidend,  welcher  Klasse  von  Ursachen  die- 
jenigen spezifischen  Elemente  der  betreffenden  Erscheinung,  denen 
wir  im  einzelnen  Falle  Bedeutung  beilegen,  auf  die  es  uns  an- 
kommt, zuzurechnen  sind.  Das  Recht  der  einseitigen  Ana- 
lyse der  Kulturwirklichkeit  unter  spezifischen  „Gesichtspunkten" 
aber,  —  in  unserem  Falle  dem  ihrer  ökonomischen  Bedingt- 
heit, —  ergibt  sich  zunächst  rein  methodisch  aus  dem  Umstände, 
daß  die  Einschulung  des  Auges  auf  die  Beobachtung  der  Wirkung 
qualitativ  gleichartiger  Ursachenkategorien  und  die  stete  Verwen- 
dung des  gleichen  begrifflich-methodischen  Apparates  alle  Vorteile 
der  Arbeitsteilung  bietet.  Sie  ist  so  lange  nicht  „willkürlich", 
als  der  Erfolg  für  sie  spricht,  d.  h.  als  sie  Erkenntnis  von  Zu- 
sammenhängen liefert,  welche  für  die  kausale  Zurechnung  kon- 
kreter historischer  Vorgänge  sich  wertvoll  erweisen.  Aber:  die 
„Einseitigkeit"  und  Unwirklichkeit  der  rein  ökonomischen  Inter- 
pretation des  Geschichtlichen  ist  überhaupt  nur  ein  Spezialfall  eines 
ganz  allgemein  für  die  wissenschaftliche  Erkenntnis  der  Kultur- 
wirklichkeit geltenden  Prinzips.  Dies  in  seinen  logischen  Grund- 
lagen und  in  seinen  allgemeinen  methodischen  Konsequenzen  uns 
zu  verdeutlichen  ist  der  wesentliche  Zweck  der  weiteren  Ausein- 
andersetzungen. 

Es  gibt  keine  schlechthin  „objektive"  wissenschaftliche  Ana- 
lyse des  Kulturlebens  oder,  —  was  vielleicht  etwas  Engeres,  für 
unser n  Zweck  aber  sicher  nichts  wesentlich  anderes  bedeutet,  — 
der  „sozialen  Erscheinungen"  unabhängig  von  speziellen  und 
„einseitigen"  Gesichtspunkten,  nach  denen  sie  —  ausdrücklich  oder 
stillschweigend,  bewußt  oder  unbewußt  —  als  Forschungsobjekt 
ausgewählt,  analysiert  und  darstellend  gegliedert  werden.  Der 
Grund  liegt  in  der  Eigenart  des  Erkcnntniszicls  einer  jeden  sozial - 
wissenschaftlichen  Arbeit,  die  über  eine  rein  formale  Betrachtung 
der  Normen  —  rechtlichen  oder  konventionellen  —  des  sozialen 
Beieinanderseins  hinausgehen  will. 


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46 


Max  Weber, 


Die  Sozialwissenschaft,  die  wir  treiben  wollen,  ist  eine  Wirk- 
lichkeitswissenschaft. Wir  wollen  die  uns  umgebende  Wirk- 
lichkeit des  Lebens,  in  welches  wir  hineingestellt  sind,  in  ihrer 
Eigenart  verstehen  —  den  Zusammenhang  und  die  Kulturbedeu- 
tung ihrer  einzelnen  Erscheinungen  in  ihrer  heutigen  Gestaltung 
einerseits,  die  Gründe  ihres  geschichtlichen  So  -und  -nicht  -anders- 
Gewordenseins  andererseits.  Nun  bietet  uns  das  Leben,  sobald 
wir  uns  auf  die  Art,  in  der  es  uns  unmittelbar  entgegentritt,  zu 
besinnen  suchen,  eine  schlechthin  unendliche  Mannigfaltigkeit  von 
nach-  und  nebeneinander  auftauchenden  und  vergehenden  Vorgängen, 
„in"  uns  und  „außer"  uns.  Und  die  absolute  Unendlichkeit  dieser 
Mannigfaltigkeit  bleibt  intensiv  durchaus  ungemindert  auch  dann 
bestehen,  wenn  wir  ein  einzelnes  „Objekt"  —  etwa  einen  konkreten 
Tauschakt  —  isoliert  ins  Auge  fassen,  —  sobald  wir  nämlich  ernst- 
lich versuchen  wollen,  dies  „Einzelne"  erschöpfend  in  allen 
seinen  individuellen  Bestandteilen  auch  nur  zu  beschreiben,  ge- 
schweige denn  es  in  seiner  kausalen  Bedingtheit  zu  erfassen.  Alle 
denkende  Erkenntnis  der  unendlichen  Wirklichkeit  durch  den  end- 
lichen Menschengeist  beruht  daher  auf  der  stillschweigenden  Vor- 
aussetzung, daß  jeweils  nur  ein  endlicher  Teil  derselben  den 
Gegenstand  wissenschaftlicher  Erfassung  bilden,  daß  nur  er  „wesent- 
lich" im  Sinne  von  „wissenswert"  sein  solle.  Nach  welchen  Prin- 
zipien aber  wird  dieser  Teil  ausgesondert?  Immer  wieder  hat  man 
geglaubt,  das  entscheidende  Merkmal  auch  in  den  Kulturwissen- 
schaften in  letzter  Linie  in  der  „gesetzmäßigen"  Wiederkehr  be- 
stimmter ursächlicher  Verknüpfungen  finden  zu  können.  Das,  was 
die  „Gesetze",  die  wir  in  dem  unübersehbar  mannigfaltigen  Ablauf 
der  Erscheinungen  zu  erkennen  vermögen,  in  sich  enthalten,  muß,  — 
nach  dieser  Auffassung,  —  das  allein  wissenschaftlich  „Wesentliche" 
in  ihnen  sein:  sobald  wir  die  „Gesetzlichkeit"  einer  ursächlichen 
Verknüpfung,  sei  es  mit  den  Mitteln  umfassender  historischer  In- 
duktion als  ausnahmslos  geltend  nachgewiesen,  sei  es  für  die  innere 
Erfahrung  zur  unmittelbaren  anschaulichen  Existenz  gebracht  haben, 
ordnet  sich  ja  jeder  so  gefundenen  Formel  jede  noch  so  groß  ge- 
dachte Zahl  gleichartiger  Fälle  unter.  Was  nach  dieser  Hcraus- 
hebung  des  „Gesetzmäßigen"  jeweils  von  der  individuellen  Wirk- 
lichkeit unbegrifTen  verbleibt,  gilt  entweder  als  wissenschaftlich 
noch  unverarbeiteter  Rückstand,  der  durch  immer  weitere  Vervoll- 
kommnung des  „Gesctzcs"-Systems  in  dieses  hineinzuarbeiten  sei, 
oder  aber  es  bleibt  als  „zufällig"  und  eben  deshalb  Wissenschaft  - 


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Die  ..Objektivität"  sozialwissenschaftlicher  und  sozialpolitischer  Erkenntnis.  47 

lieh  unwesentlich  überhaupt  beiseite,  eben  weil  es  nicht  „gesetz- 
lichbegreifbar" ist,  also  nicht  zum  „Typus"  des  Vorgangs  gehört  und 
daher  nur  Gegenstand  „müßiger  Neugier"  sein  kann.  Immer  wieder 
taucht  demgemäß  —  selbst  bei  Vertretern  der  historischen  Schule  — 
die  Vorstellung  auf,  das  Ideal,  dem  alle,  also  auch  die  Kulturer- 
kenntnis zustrebe  und,  wenn  auch  für  eine  ferne  Zukunft,  zustreben 
könne,  sei  ein  System  von  Lehrsätzen,  aus  dem  die  Wirklichkeit 
„deduziert"  werden  könnte.  Ein  Führer  der  Naturwissenschaft  hat 
bekanntlich  geglaubt,  als  das  (faktisch  unerreichbare)  ideale  Ziel 
einer  solchen  Verarbeitung  der  Kulturwirklichkeit  eine  „astrono- 
mische" Erkenntnis  der  Lebensvorgänge  bezeichnen  zu  können. 
Lassen  wir  uns,  so  oft  diese  Dinge  nun  auch  schon  erörtert  sind,  die 
Mühe  nicht  verdrießen  auch  unsererseits  hier  etwas  näher  zuzu- 
sehen. Zunächst  lallt  in  die  Augen,  daß  diejenige  „astronomische" 
Erkenntnis  an  welche  dabei  gedacht  wird,  keine  Erkenntnis  von 
Gesetzen  ist,  sondern  vielmehr  die  „Gesetze",  mit  denen  sie 
arbeitet,  als  Voraussetzungen  ihrer  Arbeit  anderen  Disziplinen, 
wie  der  Mechanik,  entnimmt.  Sie  selbst  aber  interessiert  sich  für  die 
Frage:  welches  individuelle  Ergebnis  die  Wirkung  jener  Ge- 
setze auf  eine  individuell  gestaltete  Konstellation  erzeugt, 
da  diese  individuellen  Konstellationen  für  uns  Bedeutung  haben. 
Jede  individuelle  Konstellation,  die  sie  uns  „erklärt"  oder  voraus- 
sagt, ist  natürlich  kausal  nur  erklärbar  als  Folge  einer  anderen 
gleich  individuellen  ihr  vorhergehenden,  und  soweit  wir  zurück- 
greifen in  den  grauen  Nebel  der  fernsten  Vergangenheit  —  stets 
bleibt  die  Wirklichkeit,  für  welche  die  Gesetze  gelten,  gleich  indi- 
viduell, gleich  wenig  aus  den  Gesetzen  deduzierbar.  Ein  kos- 
mischer „Urzustand",  der  einen  nicht  oder  weniger  individuellen 
Charakter  an  sich  trüge  als  die  kosmische  Wirklichkeit  der  Gegen- 
wart ist,  wäre  natürlich  ein  sinnloser  Gedanke:  —  aber  spukt 
nicht  ein  Rest  ähnlicher  Vorstellungen  auf  unserm  Gebiet  in  jenen 
bald  naturrechtlich  erschlossenen,  bald  durch  Beobachtung  an 
„\'aturvÖlkernu  verifizierten  Annahmen  ökonomisch-sozialer  „Ur- 
zustände" ohne  historische  „Zufälligkeiten",  —  so  des  „primitiven 
Agrarkommunismus",  der  sexuellen  „Promiscuität"  usw.,  aus  denen 
heraus  alsdann  durch  eine  Art  von  Sündcnfall  ins  Konkrete  die 
individuelle  historische  Entwicklung  entsteht? 

Ausgangspunkt  des  sozialwisscnschaftlichcn  Interesses  ist  nun 
zweifellos  die  wirkliche,  also  individuelle  Gestaltung  des  uns 
umgebenden  sozialen  Kulturlebens  in  seinem  universellen,  aber 


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48 


Max  Weber, 


deshalb  natürlich  nicht  minder  individuell  gestalteten ,  Zu- 
sammenhange und  in  seinem  Gewordensein  aus  anderen,  selbst- 
verständlich wiederum  individuell  gearteten,  sozialen  Kulturzuständen 
heraus.  Offenbar  liegt  hier  der  Sachverhalt,  den  wir  eben  an  der 
Astronomie  als  einem  (auch  von  den  Logikern  regelmäßig  zum 
gleichen  Behufe  herangezogenen)  Grenzfalle  erläuterten,  in  spezifisch 
gesteigertem  Maße  vor.  Während  für  die  Astronomie  die  Welt- 
körper nur  in  ihren  quantitativen,  exakter  Messung  zugäng- 
lichen Beziehungen  für  unser  Interesse  in  Betracht  kommen,  ist 
die  qualitative  Färbung  der  Vorgänge  das,  worauf  es  uns  in 
der  Sozialwissenschaft  ankommt.  Dazu  tritt,  daß  es  sich  in  den 
Sozialwissenschaften  um  die  Mitwirkung  geistiger  Vorgänge 
handelt,  welche  nacherlebend  zu  „verstehen"  natürlich  eine  Auf- 
gabe spezifisch  anderer  Art  ist,  als  sie  die  Formeln  der  exakten  Natur- 
erkenntnis überhaupt  lösen  können  oder  wollen.  Immerhin  sind 
diese  Unterschiede  nicht  an  sich  derart  prinzipielle,  wie  es  auf  den 
ersten  Blick  scheint.  Ohne  Qualitäten  kommen  —  von  der  reinen 
Mechanik  abgesehen  —  auch  die  exakten  Naturwissenschaften 
nicht  aus;  wir  stoßen  ferner  auf  unserem  Spezialgebiet  auf 
die  —  freilich  schiefe  —  Meinung,  daß  wenigstens  die  für  unsere 
Kultur  fundamentale  Erscheinung  des  geldwirtschaftlichen  Ver- 
kehrs quantifizierbar  und  eben  deshalb  „gesetzlich"  erfaß- 
bar sei;  und  endlich  hängt  es  von  der  engeren  oder  weiteren 
Fassung  des  Begriffs  „Gesetz"  ab,  ob  man  auch  Regelmäßig- 
keiten, die,  weil  nicht  quantifizierbar,  keiner  zahlenmäßigen  Er- 
fassung zugänglich  sind,  darunter  verstehen  will.  Was  speziell  die 
Mitwirkung  „geistiger"  Motive  anlangt,  so  schließt  sie  jedenfalls  die 
Aufstellung  von  Regeln  rationalen  Handelns  nicht  aus,  und  vor 
allem  ist  die  Ansicht  noch  heute  nicht  ganz  verschwunden,  daß  es 
eben  die  Aufgabe  der  Psychologie  sei,  eine  der  Mathematik 
vergleichbare  Rolle  für  die  einzelnen  „Geisteswissenschaften' 
zu  spielen,  indem  sie  die  komplizierten  Erscheinungen  des  Sozial- 
lebens auf  ihre  psychischen  Bedingungen  und  Wirkungen  hin  zu 
zergliedern,  diese  auf  möglichst  einfache  psychische  Faktoren  zu- 
rückzuführen, letztere  wieder  gattungsmäßig  zu  klassifizieren  und 
in  ihren  funktionellen  Zusammenhängen  zu  untersuchen  habe.  Damit 
wäre  dann,  wenn  auch  keine  „Mechanik",  so  doch  eine  Art  von 
„Chemie"  des  Soziallebens  in  seinen  psychischen  Grundlagen  ge- 
schaffen. Ob  derartige  Untersuchungen  jemals  wertvolle  und  — 
was  davon  verschieden  ist  —  für  die  Kulturwissenschaften  brauch- 


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Die  „Objektivität"  sozialwisscnschaftlicher  und  sozialpolitischer  Erkenntnis.  40, 

bare  E  i  n  z e  1  ergebnisse  liefern  würden,  können  wir  hier  nicht  ent- 
scheiden wollen.  Für  die  Frage  aber ,  ob  das  Ziel  sozialökono- 
mischer Erkenntnis  in  unserem  Sinn:  Erkenntnis  der  Wirklichkeit 
in  ihrer  Kulturbedeutung  und  ihrem  kausalen  Zusammenhang 
durch  die  Aufsuchung  des  sich  gesetzmäßig  Wiederholenden  erreicht 
werden  kann,  wäre  dies  ohne  allen  Belang.  Gesetzt  den  Fall,  es 
gelänge  einmal,  sei  es  mittels  der  Psychologie,  sei  es  auf  anderem 
Wege,  alle  jemals  beobachteten  und  weiterhin  auch  alle  in  irgend 
einer  Zukunft  denkbaren  ursächlichen  Verknüpfungen  von  Vor- 
gängen des  menschlichen  Zusammenlebens  auf  irgend  welche  ein- 
fache letzte  „Faktoren"  hin  zu  analysieren,  und  dann  in  einer  un- 
geheuren Kasuistik  von  Begriffen  und  streng  gesetzlich  geltenden 
Regeln  erschöpfend  zu  erfassen  —  was  würde  das  Resultat  für  die 
Erkenntnis  der  geschichtlich  gegebenen  Kulturwelt,  oder  auch 
nur  irgend  einer  Einzelerscheinung  daraus,  —  etwa  des  Kapitalismus  in 
seinem  Gewordensein  und  seiner  Kulturbedeutung,  —  besagen?  Als 
Erkenntnis  mittel  ebensoviel  und  ebensowenig  wie  etwa  ein  Lexikon 
der  organischen  chemischen  Verbindungen  für  die  biogenetische 
Erkenntnis  der  Tier-  und  Pflanzenwelt.  Im  einen  Falle  wie  im 
andern  würde  eine  sicherlich  wichtige  und  nützliche  Vorarbeit  ge- 
leistet sein.  Im  einen  Fall  so  wenig  wie  im  andern  ließe  sich  aber 
aus  jenen  „Gesetzen"  und  „Faktoren"  die  Wirklichkeit  des  Lebens 
jemals  deduzieren  —  nicht  etwa  deshalb  nicht,  weil  noch  irgend 
welche  höhere  und  geheimnisvolle  „Kräfte"  („Dominanten",  „Ente- 
lechien"  oder  wie  man  sie  sonst  genannt  hat)  in  den  Lebenserschei- 
nungen stecken  müßten  —  das  ist  eine  Frage  ganz  für  sich  — 
sondern  schon  einfach  deswegen,  weil  es  uns  für  die  Erkenntnis 
der  Wirklichkeit  auf  die  Konstellation  ankommt,  in  der  sich 
jene  (hypothetischen!)  „Faktoren",  zu  einer  geschichtlich  für 
uns  bedeutsamen  Kulturerscheinung  gruppiert,  vorfinden,  und 
weil,  wenn  wir  nun  diese  individuelle  Gruppierung  „kausal  er- 
klären" wollen,  wir  immer  auf  andere,  ganz  ebenso  individuelle 
Gruppierungen  zurückgreifen  müßten,  aus  denen  wir  sie,  natürlich 
unter  Benutzung  jener  (hypothetischen!)  „Gesetzes"-Begriffc  „er- 
klären" würden.  Jene  (hypothetischen)  „Gesetze"  und  „Faktoren" 
festzustellen,  wäre  für  uns  also  jedenfalls  nur  die  erste  der 
mehreren  Arbeiten,  die  zu  der  von  uns  erstrebten  Erkenntnis  führen 
würden.  Die  Analyse  und  ordnende  Darstellung  der  jeweils 
historisch  gegebenen,  individuellen  Gruppierung  jener  „Faktoren" 
und  ihres  dadurch  bedingten  konkreten,  in  seiner  Art  bedeut- 

Archiv  für  Soxialwi«en»chaft  u.  Sozialpolitik.  I.    <  A.  f.  »oz.G.  u.  Si.  XIX.)  i.  4 


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50 


Max  Weber, 


samen  Zusammenwirkens  und  vor  allen  die  Verständlich  - 
machung  des  Grundes  und  der  Art  dieser  Bedeutsamkeit, 
wäre  die  nächste,  zwar  unter  Verwendung  jener  Vorarbeit  zu  lösende, 
aber  ihr  gegenüber  völlig  neue  und  selbständige  Aufgabe. 
Die  Zurückverfolgung  der  einzelnen,  für  die  Gegenwart  bedeut- 
samen, individuellen  Eigentümlichkeiten  dieser  Gruppierungen  in 
ihrem  Gewordensein  soweit  in  die  Vergangenheit  als  möglich  und 
ihre  historische  Erklärung  aus  früheren  wiederum  individuellen 
Konstellationen  wäre  die  dritte,  —  die  Abschätzung  möglicher  Zu- 
kunftskonstcllationen  endlich  eine  denkbare  vierte  Aufgabe. 

Für  alle  diese  Zwecke  wäre  das  Vorhandensein  klarer  Begriffe 
und  die  Kenntnis  jener  (hypothetischen)  „Gesetze"  offenbar  als  Er- 
kenntnismittel  —  aber  auch  nur  als  solches  —  von  großem  Werte, 
ja  sie  wäre  zu  diesem  Zwecke  schlechthin  unentbehrlich.  Aber 
selbst  in  dieser  Funktion  zeigt  sich  an  einem  entscheidenden 
Punkte  sofort  die  Grenze  ihrer  Tragweite,  und  mit  deren  Feststellung 
gelangen  wir  zu  der  entscheidenden  Eigenart  kulturwisscnschaftlicher 
Betrachtungsweise.  Wir  haben  als  „Kulturwissenschaften"  solche  Diszi- 
plinen bezeichnet,  welche  die  Lebenserscheinungen  in  ihrer  Kultur  be  - 
deutung  zu  erkennen  strebten.  Die  Bedeutung  der  Gestaltung 
einer  Kulturerscheinung  und  der  Grund  dieser  Bedeutung  kann  aber 
aus  keinem  noch  so  vollkommenen  System  von  Gesetzesbegriffen 
entnommen,  begründet  und  verständlich  gemacht  werden,  denn  sie 
setzt  die  Beziehung  der  Kulturerscheinungen  auf  Wertideen 
voraus.  Der  Begriff  der  Kultur  ist  ein  Wertbegriff.  Die  empi- 
rische Wirklichkeit  ist  für  uns  „Kultur",  weil  und  sofern  wir  sie 
mit  Wertideen  in  Beziehung  setzen,  sie  umfaßt  diejenigen  Bestand- 
teile der  Wirklichkeit,  welche  durch  jene  Beziehung  für  uns  be- 
deutsam werden,  und  nur  diese.  Ein  winziger  Teil  der  jeweils 
betrachteten  individuellen  Wirklichkeit  wird  von  unserm  durch  jene 
Wertideen  bedingten  Interesse  gefärbt,  er  allein  hat  Bedeutung  für 
uns,  er  hat  sie,  weil  er  Beziehungen  aufweist ,  die  für  uns  infolge 
ihrer  Verknüpfung  mit  Wertideen  wichtig  sind;  nur  weil  und  so- 
weit dies  der  Fall,  ist  er  in  seiner  individuellen  Eigenart  für  uns 
wissenswert.  Was  aber  für  uns  Bedeutung  hat,  das  ist  natürlich 
durch  keine  „voraussetzunglose"  Untersuchung  des  empirisch  Ge- 
gebenen zu  erschließen,  sondern  seine  Feststellung  ist  Voraussetzung 
dafür,  daß  etwas  Gegenstand  der  Untersuchung  wird.  Das  B e - 
deutsame  koinzidiert  natürlich  auch  als  solches  mit  keinem 
Gesetze  als  solchem,  und  zwar  um  so  weniger,  je  allgemein- 


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Die  „Objektivität"  sozialwissenschaftlicher  und  sozialpolitischer  Krkenntnis.     5  1 

gültiger  jenes  Gesetz  ist.  Denn  die  spezifische  Bedeutung,  die 
ein  Bestandteil  der  Wirklichkeit  für  uns  hat,  findet  sich  natürlich 
gerade  nicht  in  denjenigen  seiner  Beziehungen,  die  er  mit  mög- 
lichst vielen  anderen  teilt.  Die  Beziehung  der  Wirklichkeit  auf 
Wertideen,  die  ihr  Bedeutung  verleihen  und,  die  Heraushebung  und 
Ordnung  der  dadurch  gefärbten  Bestandteile  des  Wirklichen  unter 
dem  Gesichtspunkt  ihrer  Kulturbedeutung  ist  ein  gänzlich 
heterogener  und  disparater  Gesichtspunkt  gegenüber  der  Analyse 
der  Wirklichkeit  auf  Gesetze  und  ihrer  Ordnung  in  generellen 
Begriffen.  Beide  Arten  der  denkenden  Ordnung  des  Wirklichen 
haben  keinerlei  notwendige  logische  Beziehungen  zueinander.  Sie 
können  in  einem  Einzelfall  einmal  koinzidieren,  aber  es  ist  von  den 
verhängnisvollsten  Folgen,  wenn  dies  zufallige  Zusammentreffen 
über  ihr  prinzipielles  Auseinanderfallen  täuscht.  Es  kann  die 
Kulturbedeutung  einer  Erscheinung,  z.B.  des  geldwirtschaftlichen 
Tausches,  darin  bestehen,  daß  er  als  Massenerscheinung  auftritt, 
wie  dies  eine  fundamentale  Komponente  des  heutigen  Kulturlebens 
ist.  Alsdann  ist  aber  eben  die  historische  Tatsache,  daß  er 
diese  Rolle  spielt,  das,  was  in  seiner  Kulturbedeutung  verständ- 
lich zu  machen,  in  seiner  historischen  Entstehung  kausal  zu  erklären 
ist.  Die  Untersuchung  des  generellen  Wesens  des  Tausches  und 
der  Technik  des  Marktverkehrs  ist  eine  —  höchst  wichtige  und 
unentbehrliche!  —  Vorarbeit.  Aber  nicht  nur  ist  damit  die  Frage 
nicht  beantwortet,  wie  denn  historisch  der  Tausch  zu  seiner 
heutigen  fundamentalen  Bedeutung  gekommen  ist,  sondern  vor  allen 
Dingen:  das,  worauf  es  uns  in  letzter  Linie  doch  ankommt:  die 
Kulturbedcutung  der  Geldwirtschaft,  um  derentwillen  wir  uns 
für  jene  Schilderung  der  Verkehrstechnik  ja  allein  interessieren,  um 
derentwillen  allein  es  heute  eine  Wissenschaft  gibt,  welche  sich  mit 
jener  Technik  befaßt,  —  sie  folgt  aus  keinem  jener  „Gesetze". 
Die  gattungsmäßigen  Merkmale  des  Tausches,  Kaufs  etc. 
interessieren  den  Juristen,  —  was  uns  angeht,  ist  die  Aufgabe,  eben 
jene  Kulturbedcutung  der  historischen  Tatsache,  daß  der 
Tausch  heute  Massenerscheinung  ist,  zu  analysieren.  Wo  sie  erklärt 
werden  soll,  wo  wir  verstehen  wollen,  was  unsere  sozialökonomische 
Kultur  etwa  von  der  des  Altertums,  in  welcher  der  Tausch  ja  ge- 
nau die  gleichen  gattungsmäßigen  Qualitäten  aufwies  wie  heute, 
unterscheidet,  worin  also  die  Bedeutung  der  „Geldwirtschaft" 
liegt,  da  ragen  logische  Prinzipien  durchaus  heterogener  Herkunft 
in  die  Untersuchung  hinein:  wir  werden  jene  Begriffe,  welche  die 

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Max  Weber, 


Untersuchung  der  gattungsmäßigen  Elemente  der  ökonomischen 
Massenerscheinungen  uns  liefern,  zwar,  soweit  in  ihnen  be- 
deutungsvolle Bestandteile  unserer  Kultur  enthalten  sind,  als 
Darstellungs m i 1 1 e  1  verwenden:  —  nicht  nur  aber  ist  das  Ziel 
unserer  Arbeit  durch  die  noch  so  genaue  Darstellung  jener  Begriffe 
und  Gesetze  nicht  erreicht,  sondern  die  Frage,  was  zum  Gegen- 
stand der  gattungsmäßigen  Begriffsbildung  gemacht  werden  soll, 
ist  gar  nicht  „voraussetzungslos",  sondern  eben  im  Hinblick  auf  die 
Bedeutung  entschieden  worden,  welche  bestimmte  Bestandteile 
jener  unendlichen  Mannigfaltigkeit,  die  wir  „Verkehr"  nennen,  für  die 
Kultur  besitzen.  Wir  erstreben  eben  die  Erkenntnis  einer  histo- 
rischen, d.  h.  einer  in  ihrer  Eigenart  bedeutungsvollen, 
Erscheinung.  Und  das  entscheidende  dabei  ist:  nur  durch  die 
Voraussetzung,  daß  ein  endlicher  Teil  der  unendlichen  Fülle  der 
Erscheinungen  allein  bedeutungsvoll  sei,  wird  der  Gedanke 
einer  Erkenntnis  individueller  Erscheinungen  überhaupt  logisch 
sinnvoll.  Wir  ständen,  selbst  mit  der  denkbar  umfassendsten  Kenntnis 
aller  „Gesetze"  des  Geschehens,  ratlos  vor  der  Frage:  wie  ist  kau- 
sale Erklärung  einer  individuellen  Tatsache  überhaupt 
möglich,  —  da  schon  eine  Beschreibung  selbst  des  kleinsten 
Ausschnittes  der  Wirklichkeit  ja  niemals  erschöpfend  denkbar  ist  ? 
Die  Zahl  und  Art  der  Ursachen,  die  irgend  ein  individuelles  Er- 
eignis bestimmt  haben,  ist  ja  stets  unendlich,  und  es  gibt  keinerlei 
in  den  Dingen  selbst  liegendes  Merkmal,  einen  Teil  von  ihnen  als 
allein  in  Betracht  kommend ,  auszusondern.  Ein  Chaos  von 
„Existcnzialurteilen"  über  unzählige  einzelne  Wahrnehmungen  wäre 
das  einzige,  was  der  Versuch  eines  ernstlich  „voraussetzungslosen" 
Erkennens  der  Wirklichkeit  erzielen  würde.  Und  selbst  dieses 
Ergebnis  wäre  nur  scheinbar  möglich,  denn  die  Wirklichkeit  jeder 
einzelnen  Wahrnehmung  zeigt  bei  näherem  Zusehen  ja  stets  un- 
endlich viele  einzelne  Bestandteile,  die  nie  erschöpfend  in  Wahr- 
nehmungsurteilen ausgesprochen  werden  können.  In  dieses  Chaos 
bringt  nur  der  Umstand  Ordnung,  daß  in  jedem  Fall  nur  e  i  n 
Teil  der  individuellen  Wirklichkeit  für  uns  Interesse  und  Be- 
deutung hat,  weil  nur  er  in  Beziehung  steht  zu  den  Kultur- 
wertideen, mit  welchen  wir  an  die  Wirklichkeit  herantreten. 
Nur  bestimmte  Seiten  der  stets  unendlich  mannigfaltigen  Einzel- 
erscheinungen: diejenigen,  welchen  wir  eine  allgemeine  Kult  Ur- 
bedeutung beimessen  —  sind  daher  wissenswert,  sie  allein 
sind  Gegenstand  der  kausalen  Erklärung.    Auch  diese  kausale  Er- 


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Die  „Objektivität"  sozialwisscnschaAlicher  und  sozialpolitischer  Erkenntnis.  jj^ 


klärung  selbst  weist  dann  wiederum  die  gleiche  Erscheinung  auf: 
ein  erschöpfender  kausaler  Regressus  von  irgend  einer  konkreten 
Erscheinung  in  ihrer  vollen  Wirklichkeit  aus  ist  nicht  nur  praktisch 
unmöglich  sondern  einfach  ein  Unding.  Nur  diejenigen  Ursachen, 
welchen  die  im  Einzelfalle  „w  e  s  e  n  1 1  i  c  h  e  n"  Bestandteile  eines  Ge- 
schehens zuzurechnen  sind,  greifen  wir  heraus:  die  Kausalfrage 
ist,  wo  es  sich  um  die  Individualität  einer  Erscheinung  han- 
delt, nicht  eine  Frage  nach  Gesetzen,  sondern  nach  konkreten 
kausalen  Zusammenhängen,  nicht  eine  Frage,  welcher  Formel 
die  Erscheinung  als  Exemplar  unterzuordnen,  sondern  die  Frage, 
welcher  individuellen  Konstellation  sie  als  Ergebnis  zuzurechnen 
ist:  sie  ist  Zurechnungsfrage.  Wo  immer  die  kausale  Er- 
klärung einer  „Kulturerscheinung"  — eines  „historischen  Indi- 
viduums", wie  wir  im  Anschluß  an  einen  in  der  Methodologie 
unserer  Disziplin  schon  gelegentlich  gebrauchten  und  jetzt  in  der 
Logik  in  präziser  Formulierung  üblich  werdenden  Ausdruck  sagen 
wollen  —  in  Betracht  kommt,  da  kann  die  Kenntnis  von  Gesetzen 
der  Verursachung  nicht  Zweck,  sondern  nur  Mittel  der  Unter- 
suchung sein.  Sie  erleichtert  und  ermöglicht  uns  die  kausale  Zu- 
rechnung der  in  ihrer  Individualität  kulturbedeutsamen  Bestandteile 
der  Erscheinungen  zu  ihren  konkreten  Ursachen.  Soweit,  und  nur 
soweit,  als  sie  dies  leistet,  ist  sie  für  die  Erkenntnis  individueller  Zu- 
sammenhänge wertvoll.  Und  je  „allgemeiner",  d.  h.  abstrakter,  die 
Gesetze,  desto  weniger  leisten  sie  für  die  Bedürfnisse  der  kau- 
salen Zurechnung  individueller  Erscheinungen  und  damit  in- 
direkt für  das  Verständnis  der  Bedeutung  der  Kulturvorgänge. 
Was  folgt  nun  aus  alledem? 

Natürlich  nicht  etwa,  daß  auf  dem  Gebiet  der  Kulturwissen- 
schaften die  Erkenntnis  des  Generellen,  die  Bildung  abstrakter 
Gattungsbegriffe,  die  Erkenntnis  von  Regelmäßigkeiten  und  der 
Versuch  der  Formulierung  von  „gesetzlichen"  Zusammenhängen 
keine  wissenschaftliche  Berechtigung  hätte.  Im  geraden  Gegenteil: 
wenn  die  kausale  Erkenntnis  des  Historikers  Zurechnung  kon- 
kreter Erfolge  zu  konkreten  Ursachen  ist,  so  ist  eine  gültige  Zu- 
rechnung irgend  eines  individuellen  Erfolges  ohne  die  Verwendung 
,,nomologischer"  Kenntnis  —  Kenntnis  der  Regelmäßigkeiten  der 
kausalen  Zusammenhänge  —  überhaupt  nicht  möglich.  Ob  einem 
einzelnen  individuellen  Bestandteil  eines  Zusammenhanges  in  der 
Wirklichkeit  in  concreto  kausale  Bedeutung  für  den  Erfolg,  um  dessen 
kausale  Erklärung  es  sich  handelt,  beizumessen  ist,  kann  ja  im 


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Max  Weber, 


Zweifelsfalle  nur  durch  Abschätzung  der  Einwirkungen,  welche  wir 
von  ihm  und  den  anderen  für  die  Erklärung  mit  in  Betracht 
kommenden  Bestandteilen  des  gleichen  Komplexes  generell  zu  er- 
warten pflegen:  welche  „adäquate"  Wirkungen  der  betreffenden  ur- 
sächlichen Elemente  sind,  bestimmt  werden.  Inwieweit  der  Historiker 
{im  weitesten  Sinne  des  Wortes)  mit  seiner  aus  der  persönlichen 
Lebenserfahrung  gespeisten  und  methodisch  geschulten  Phantasie 
diese  Zurechnung  sicher  vollziehen  kann  und  inwieweit  er  auf  die 
Hilfe  spezieller  Wissenschaften  angewiesen  ist,  welche  sie  ihm  er- 
möglichen, das  hängt  vom  Einzelfalle  ab.  Überall  aber  und  so  auch 
auf  dem  Gebiet  komplizierter  wirtschaftlicher  Vorgänge  ist  die 
Sicherheit  der  Zurechnung  um  so  größer,  je  gesicherter  und 
umfassender  unsere  generelle  Erkenntnis  ist.  Daß  es  sich  dabei 
stets,  auch  bei  allen  sog.  „wirtschaftlichen  Gesetzen"  ohne  Aus- 
nahme, nicht  um  im  engeren,  exakt  naturwissenschaftlichen  Sinne 
„gesetzliche",  sondern  um  in  Regeln  ausgedrückte  adäquate  ur- 
sächliche Zusammenhänge,  um  eine  hier  nicht  näher  zu  analysierende 
Anwendung  der  Kategorie  der  „objektiven  Möglichkeit"  handelt, 
tut  diesem  Satz  nicht  den  mindesten  Eintrag.  Nur  ist  eben  die 
Aufstellung  solcher  Regelmäßigkeiten  nicht  Ziel,  sondern  Mittel 
der  Erkenntnis,  und  ob  es  Sinn  hat,  eine  aus  der  Alltagserfahrung 
bekannte  Regelmäßigkeit  ursächlicher  Verknüpfung  als  „Gesetz"  in 
eine  Formel  zu  bringen,  ist  in  jedem  einzelnen  Fall  eine  Zweck- 
mäßigkeitsfrage.  Für  die  exakte  Naturwissenschaft  sind  die  „Ge- 
setze" um  so  wichtiger  und  wertvoller,  je  allgemeingültiger 
sie  sind,  für  die  Erkenntnis  der  historischen  Erscheinungen  in  ihrer 
konkreten  Voraussetzung  sind  die  allgemeinsten  Gesetze,  weil 
die  inhaltleersten,  regelmäßig  auch  die  wertlosesten.  Denn  je  um- 
fassender die  Geltung  eines  Gattungsbegriffes  —  sein  Umfang 
—  ist,  desto  mehr  führt  er  uns  von  der  Fülle  der  Wirklichkeit 
ab,  da  er  ja,  um  das  Gemeinsame  möglichst  vieler  Erscheinungen 
zu  enthalten,  möglichst  abstrakt,  also  inhaltsarm  sein  muß.  Die 
Erkenntnis  des  Generellen  ist  uns  in  den  Kulturwissenschaften 
nie  um  ihrer  selbst  willen  wertvoll. 

Was  sich  uns  als  Resultat  des  bisher  Gesagten  ergibt,  ist,  daß 
eine  „objektive"  Behandlung  der  Kulturvorgängc  in  dem  Sinne,  daß 
als  idealer  Zweck  der  wissenschaftlichen  Arbeit  die  Reduktion  des 
Empirischen  auf  „Gesetze"  zu  gelten  hätte,  sinnlos  ist  Sie  ist  dies 
nicht  etwa,  wie  oft  behauptet  worden  ist,  deshalb  weil  die  Kultur- 
vorgänge oder  etwa  die   geistigen  Vorgänge  „objektiv"  weniger 


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Die  „Objektivität"  sozialwissenschaftlicher  und  sozialpolitischer  Erkenntnis.  55 

gesetzlich  abliefen,  sondern  weil  i)  Erkenntnis  von  sozialen  Gesetzen 
keine  Erkenntnis  des  sozial  Wirklichen  ist,  sondern  nur  eins  von 
den  verschiedenen  Hilfsmitteln,  die  unser  Denken  zu  diesem  Be- 
hufe  braucht,  und  weil  2)  keine  Erkenntnis  von  K  u  1 1  u  r  Vorgängen 
anders  denkbar  ist,  als  auf  der  Grundlage  der  Bedeutung,  welche 
die  stets  individuell  geartete  Wirklichkeit  des  Lebens  in  bestimmten 
einzelnen  Beziehungen  für  uns  hat  In  welchem  Sinn  und  in 
welchen  Beziehungen  dies  der  Fall  ist,  enthüllt  uns  aber  kein 
Gesetz ,  denn  das  entscheidet  sich  nach  den  Wertideen,  unter 
denen  wir  die  „Kultur"  jeweils  im  einzelnen  Falle  betrachten. 
..Kultur"  ist  ein  vom  Standpunkt  des  Menschen  aus  mit  Sinn  und 
Bedeutung  bedachter  endlicher  Ausschnitt  aus  der  sinnlosen  Unend- 
lichkeit des  Weltgeschehens.  Sie  ist  es  für  den  Menschen  auch 
dann,  wenn  er  einer  konkreten  Kultur  als  Todfeind  sich  ent- 
gegenstellt und  „Rückkehr  zur  Natur"  verlangt.  Denn  auch  zu 
dieser  Stellungnahme  kann  er  nur  gelangen,  indem  er  die  kon- 
krete Kultur  auf  seine  Wertideen  bezieht  und  „zu  leicht"  befindet. 
Dieser  rein  logisch- formale  Tatbestand  ist  gemeint,  wenn  hier 
von  der  logisch  notwendigen  Verankerung  aller  historichen  Indi- 
viduen an  „Wertideen"  gesprochen  wird.  Transzendentale  Voraus- 
setzung jeder  Kulturwissenschaft  ist  nicht  etwa,  daß  wir 
eine  bestimmte  oder  überhaupt  irgend  eine  „Kultur"  wertvoll 
finden,  sondern  daß  wir  Kulturmenschen  sind,  begabt  mit  der 
Fähigkeit  und  dem  Willen,  bewußt  zur  Welt  Stellung  zu  nehmen 
und  ihr  einen  Sinn  zu  verleihen.  Welches  immer  dieser  Sinn  sein 
mag,  er  wird  dazu  fuhren,  daß  wir  im  Leben  bestimmte  Erschei- 
nungen des  menschlichen  Zusammenseins  aus  ihm  heraus  beur- 
teilen, zu  ihnen  als  bedeutsam  (positiv  oder  negativ)  Stellung 
nehmen.  Welches  immer  der  Inhalt  dieser  Stellungnahme  sei,  — 
di es e  Erscheinungen  haben  für  uns  Kultur bedeu tu ng,  auf  dieser 
Bedeutung  beruht  allein  ihr  wissenschaftliches  Interesse.  Wenn  also 
hier  im  Anschluß  an  den  Sprachgebrauch  moderner  Logiker  von 
der  Bedingtheit  der  Kulturerkenntnis  durch  Wertideen  gesprochen 
wird,  so  ist  das  hoffentlich  Mißverständnissen  so  grober  Art,  wie 
der  Meinung,  Kulturbedeutung  solle  nur  wertvollen  Erschei- 
nungen zugesprochen  werden ,  nicht  ausgesetzt.  Eine  Kultur- 
erscheinung  ist  die  Prostitution  so  gut  wie  die  Religion  oder  das 
Geld,  alle  drei  deshalb  und  nur  deshalb  und  nur  soweit,  als  ihre 
Existenz  und  die  Form,  die  sie  historisch  annehmen,  unsere 
Kultur intcr essen  direkt  oder  indirekt  berühren,  als  sie  unseren 


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56 


Max  Weber, 


Krkenntnistrieb  unter  Gesichtspunkten  erregen,  die  hergeleitet  sind 
aus  den  Wertideen,  welche  das  Stück  Wirklichkeit,  welches  in  jenen 
Begriffen  gedacht  wird,  für  uns  bedeutsam  machen. 

Alle  Erkenntnis  der  Kulturwirklichkeit  ist,  wie  sich  daraus  er- 
gibt, stets  eine  Erkenntnis  unter  spezifisch  besonderten  Ge- 
sichtspunkten. Wenn  wir  von  dem  Historiker  und  Sozial- 
forscher als  elementare  Voraussetzung  verlangen,  daß  er  Wichtiges 
von  Unwichtigem  unterscheiden  könne,  und  daß  er  für  diese  Unter- 
scheidung die  erforderlichen  „Gesichtspunkte"  habe,  so  heißt  das 
lediglich,  daß  er  verstehen  müsse,  die  Vorgänge  der  Wirklichkeit, 
—  bewußt  oder  unbewußt  —  auf  universelle  „Kulturwerte"  zu  be- 
ziehen und  danach  d  i  e  Zusammenhänge  herauszuheben,  welche  für 
uns  bedeutsam  sind.  Wenn  immer  wieder  die  Meinung  auftritt, 
jene  Gesichtspunkte  könnten  dem  „Stoff  selbst  entnommen"  werden, 
so  entspringt  das  der  naiven  Selbsttäuschung  des  Fachgelehrten, 
der  nicht  beachtet,  daß  er  von  vornherein  kraft  der  Wertideen,  mit 
denen  er  unbewußt  an  den  Stoff  herangegangen  ist,  aus  einer  ab- 
soluten Unendlichkeit  einen  winzigen  Bestandteil  als  das  heraus- 
gehoben hat,  auf  dessen  Betrachtung  es  ihm  allein  ankommt.  In 
dieser  immer  und  überall  bewußt  oder  unbewußt  erfolgenden  Aus- 
wahl einzelner  spezieller  „Seiten"  des  Geschehens  waltet  auch 
dasjenige  Element  kulturwisscnschaftlicher  Arbeit,  welches  jener  oft 
gehörten  Behauptung  zugrunde  liegt,  daß  das  „Persönliche"  eines 
wissenschaftlichen  Werkes  das  eigentlich  Wertvolle  an  ihm  sei,  daß 
sich  in  jedem  Werk,  solle  es  anders  zu  existieren  wert  sein,  „eine 
Persönlichkeit"  aussprechen  müsse.  Gewiß:  ohne  Wertideen  des 
Forschers  gäbe  es  kein  Prinzip  der  Stoffauswahl  und  keine  sinnvolle 
Erkenntnis  des  individuell  Wirklichen,  und  wie  ohne  den  Glauben 
des  Forschers  an  die  Bedeutung  irgendwelcher  Kulturinhalte 
jede  Arbeit  an  der  Erkenntnis  der  individuellen  Wirklichkeit 
schlechthin  sinnlos  ist,  so  wird  die  Richtung  seines  persönlichen 
Glaubens,  die  Farbenbrechung  der  Werte  im  Spiegel  seiner  Seele, 
seiner  Arbeit  die  Richtung  weisen.  Und  die  Werte,  auf  welche  der 
wissenschaftliche  Genius  die  Objekte  seiner  Forschung  bezieht, 
werden  die  „Auffassung"  einer  ganzen  Epoche  zu  bestimmen,  d.  h. 
entscheidend  zu  sein  vermögen  nicht  nur  für  das,  was  als  „wert- 
voll", sondern  auch  für  das,  was  als  bedeutsam  oder  bedeutungslos, 
als  „wichtig"  und  „unwichtig"  an  den  Erscheinungen  gilt. 

Die  kulturwissenschaftlichc  Erkenntnis  in  unserem  Sinn  ist  also 
insofern  an  „subjektive"  Voraussetzungen  gebunden,  als  sie  sich 


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Die  „Objektivität1  soiialwissenschaftlicher  und  sozialpolitischer  Erkenntnis.  57 

nur  um  diejenigen  Bestandteile  der  Wirklichkeit  kümmert,  welche 
irgend  eine  —  noch  so  indirekte  —  Beziehung  zu  Vorgängen  haben, 
denen  wir  Kultur bedeutung  beilegen.  Sie  ist  trotzdem  natürlich 
rein  kausale  Erkenntnis  genau  in  dem  gleichen  Sinn  wie  die  Er- 
kenntnis bedeutsamer  individueller  Naturvorgänge,  welche  qualita- 
tiven Charakter  haben.  Neben  die  mancherlei  Verirrungen,  welche 
das  Hinübergreifen  formal-juristischen  Denkens  in  die  Sphäre  der 
Kulturwissenschaften  gezeitigt  hat,  ist  neuerdings  u.  a.  der  Versuch 
getreten,  die  „materialistische  Geschichtsauffassung"  durch  eine  Reihe 
geistreicher  Trugschlüsse  prinzipiell  zu  „widerlegen",  indem  ausge- 
führt wurde,  daß,  da  alles  Wirtschaftsleben  sich  in  rechtlich  oder  kon- 
ventionell geregelten  Formen  abspielen  müsse,  alle  ökonomische 
„Entwicklung"  die  Form  von  Bestrebungen  zur  Schaffung  neuer 
Rechtsformen  annehmen  müsse,  also  nur  aus  sittlichen 
Maximen  verständlich  und  aus  diesem  Grunde  von  jeder 
„natürlichen"  Entwicklung  dem  Wesen  nach  verschieden  sei.  Die 
Erkenntnis  der  wirtschaftlichen  Entwicklung  sei  daher  „teleologischen" 
Charakters.  Ohne  hier  die  Bedeutung  des  vieldeutigeren  Begriffs 
der  „Entwicklung"  für  die  Sozialwissenschaft  oder  auch  den  logisch 
nicht  minder  vieldeutigen  Begriff  des  „Teleologischen"  erörtern  zu 
wollen,  sei  demgegenüber  hier  nur  festgestellt,  daß  sie  jedenfalls 
nicht  in  dem  Sinn  „teleologisch"  zu  sein  genötigt  ist,  wie  diese 
Ansicht  voraussetzt  Bei  völliger  formaler  Identität  der  geltenden 
Rechtsnormen  kann  die  Kulturbedeutung  der  normierten  Rechts- 
verhältnisse und  damit  auch  der  Normen  selbst  sich  grundstürzend 
ändern.  Ja,  will  man  sich  denn  einmal  in  Zukunftsphantasien 
spintisierend  vertiefen,  so  könnte  jemand  sich  z.  B.  eine  „Vergesell- 
schaftung der  Produktionsmittel"  theoretisch  als  vollzogen  denken, 
ohne  daß  irgend  eine  auf  diesen  Erfolg  bewußt  abzielende  „Be- 
strebung" entstanden  wäre  und  ohne  daß  irgend  ein  Paragraph  unserer 
Gesetzgebung  verschwände  oder  neu  hinzuträte :  das  statistische 
Vorkommen  der  einzelnen  rechtlich  normierten  Beziehungen  freilich 
wäre  von  Grund  aus  geändert,  bei  vielen  auf  Null  gesunken,  ein  großer 
Teil  der  Rechtsnormen  praktisch  bedeutungslos,  ihre  ganze  Kultur- 
bedeutung bis  zur  Unkenntlichkein  verändert.  Erörterungen  de 
lege  ferenda  konnte  daher  die  „materialistische"  Geschichtstheorie 
mit  Recht  ausscheiden,  denn  ihr  zentraler  Gesichtspunkt  war  gerade 
der  unvermeidliche  Bedeutungswandel  der  Rechtsinstitutionen. 
Wem  die  schlichte  Arbeit  kausalen  Verständnisses  der  historischen 
Wirklichkeit  subaltern  erscheint,  der  mag  sie  meiden,  —  sie  durch 


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58 


Max  Weber, 


irgend  eine  „Teleologie"  zu  ersetzen  ist  unmöglich.  „Zweck"  ist 
für  unsere  Betrachtung  die  Vorstellung  eines  Erfolges,  welche 
Ursache  einer  Handlung  wird;  wie  jede  Ursache,  welche  zu 
einem  bedeutungsvollen  Erfolg  beiträgt  oder  beitragen  kann, 
so  berücksichtigen  wir  auch  diese.  Und  ihre  spezifische  Be- 
deutung beruht  nur  darauf,  daß  wir  menschliches  Handeln  nicht 
nur  konstatieren,  sondern  verstehen  können  und  wollen.  — 
Ohne  alle  Frage  sind  nun  jene  VVertidcen  „subjektiv". 
Zwischen  dem  „historischen"  Interesse  an  einer  Familienchronik 
und  demjenigen  an  der  Entwicklung  der  denkbar  größten  Kul- 
turerscheinungen, welche  einer  Nation  oder  der  Menschheit  in 
langen  Epochen  gemeinsam  waren  und  sind,  besteht  eine  unend- 
liche Stufenleiter  der  „Bedeutungen",  deren  Staffeln  für  jeden 
einzelnen  von  uns  eine  andere  Reihenfolge  haben  werden.  Und 
ebenso  sind  sie  natürlich  historisch  wandelbar  mit  dem  Charakter 
der  Kultur  und  der  die  Menschen  beherrschenden  Gedanken  selbst. 
Daraus  folgt  nun  aber  selbstverständlich  nicht,  daß  auch  die 
kulturwissenschaftliche  Forschung  nur  Ergebnisse  haben 
könne,  die  „subjektiv"  indem  Sinne  seien,  daß  sie  für  den  einen 
gelten  und  für  den  andern  nicht.  Was  wechselt  ist  vielmehr 
der  Grad,  in  dem  sie  den  einen  interessieren  und  den  andern 
nicht.  Mit  anderen  Worten:  was  Gegenstand  der  Untersuchung 
wird,  und  wie  weit  diese  Untersuchung  sich  in  die  Unendlichkeit 
der  Kausalzusammenhänge  erstreckt,  das  bestimmen  die  den  Forscher 
und  seine  Zeit  beherrschenden  Wertideen;  —  im  Wier,  In  der 
Methode  der  Forschung  ist  der  leitende  „Gesichtspunkt"  zwar  — 
wie  wir  noch  sehen  werden  —  für  die  Bildung  der  begrifflichen 
Hilfsmittel,  die  er  verwendet,  bestimmend,  in  der  Art  ihrer  Ver- 
wendung aber  ist  der  Forscher  selbstverständlich  hier  wie  überall 
an  die  Normen  unseres  Denkens  gebunden.  Denn  wissenschaftliche 
Wahrheit  ist  nur,  was  für  alle  gelten  will,  die  Wahrheit  wollen. 

Aber  allerdings  folgt  daraus  eins:  Die  Sinnlosigkeit  des 
selbst  die  Historiker  unseres  Faches  gelegentlich  beherrschenden 
Gedankens,  daß  es  das,  wenn  auch  noch  so  ferne,  Ziel  der  Kultur- 
wissenschaften sein  könne,  ein  geschlossenes  System  von  Begriffen 
zu  bilden,  in  dem  die  Wirklichkeit  in  einer  in  irgend  einem  Sinne 
endgültigen  Gliederung  zusammengefaßt  und  aus  dem  heraus 
sie  dann  wieder  deduziert  werden  könnte.  Endlos  wälzt  sich  der 
Strom  des  unermeßlichen  Geschehens  der  Ewigkeit  entgegen.  Immer 
neu  und  anders  gefärbt  bilden  sich  die  Kulturprobleme,  welche  die 


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Die  „Objektivität"  sozialwissenschaftlicher  und  sozialpolitischer  Erkenntnis.  59 

Menschen  bewegen,  flüssig  bleibt  damit  der  Umkreis  dessen,  was 
aus  jenem  stets  gleich  unendlichen  Strome  des  Individuellen  Sinn 
und  Bedeutung  für  uns  erhält,  „historisches  Individuum"  wird.  Es 
wechseln  die  Gedankenzusammenhänge,  unter  denen  es  betrachtet 
und  wissenschaftlich  erfaßt  wird.  Die  Ausgangspunkte  der  Kultur- 
wissenschaften bleiben  damit  wandelbar  in  die  grenzenlose  Zukunft 
hinein,  solange  nicht  chinesische  Erstarrung  des  Geisteslebens  die 
Menschheit  entwöhnt,  neue  Fragen  an  das  immer  gleich  unerschöpf- 
liche Leben  zu  stellen.  Ein  System  der  Kulturwissenschaften  auch 
nur  in  dem  Sinne  einer  definitiven,  objektiv  gültigen,  systemati- 
sierenden Fixierung  der  Fragen  und  Gebiete,  von  denen  sie 
zu  handeln  berufen  sein  sollen,  wäre  ein  Unsinn  in  sich:  stets  kann 
bei  einem  solchen  V ersuch  nur  eine  Aneinanderreihung  von  mehreren, 
spezifisch  besonderten,  untereinander  vielfach  heterogenen  und  dis- 
paraten Gesichtspunkten  herauskommen,  unter  denen  die  Wirklichkeit 
für  uns  jeweils  „Kultur",  d.  h.  in  ihrer  Eigenart  bedeutungsvoll  war 
oder  ist.  — 

Nach  diesen  langwierigen  Auseinandersetzungen  können  wir  uns 
nun  endlich  der  Frage  zuwenden,  die  uns  bei  einer  Betrachtung  der 
„Objektivität"  der  Kulturerkenntnis  methodisch  interessiert : 
welches  ist  die  logische  Funktion  und  Struktur  der  Begriffe,  mit 
der  unsere,  wie  jede,  Wissenschaft  arbeitet,  oder  spezieller  mit 
Rücksicht  auf  das  entscheidende  Problem  gewendet :  welches  ist  die 
Bedeutung  der  Theorie  und  der  theoretischen  Begrifisbildung  für 
die  Erkenntnis  der  Kulturwirklichkeit? 

Die  Nationalökonomie  war,  —  wir  sahen  es  schon  —  ur- 
sprünglich wenigstens  dem  Schwerpunkt  ihrer  Erörterungen  nach 
„Technik",  d.  h.  sie  betrachtete  die  Erscheinungen  der  Wirklichkeit 
von  einem,  wenigstens  scheinbar,  eindeutigen,  feststehenden  prak- 
tischen Wertgesichtspunkt  aus:  dem  der  Vermehrung  des  „Reich- 
tums" der  Staatsangehörigen.  Sie  war  andererseits  von  Anfang  an 
nicht  nur  „Technik",  denn  sie  wurde  eingegliedert  in  die  mächtige 
Einheit  der  naturrechtlichen  und  rationalistischen  Weltanschauung 
des  achtzehnten  Jahrhunderts.  Aber  die  Eigenart  jener  Weltan- 
schauung mit  ihrem  optimistischen  Glauben  an  die  theoretische 
und  praktische  Rationalisierbarkeit  des  Wirklichen  wirkte  wesent- 
lich insofern,  als  sie  hinderte,  daß  der  problematische 
Charakter  jenes  als  selbstverständlich  vorausgesetzten  Gesichtspunktes 
entdeckt  wurde.  Wie  die  rationale  Betrachtung  der  sozialen  Wirk- 
lichkeit im  engen  Zusammenhalt  mit  der  modernen  Entwicklung 


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6o 


Max  Weber, 


der  Naturwissenschaft  entstanden  war ,  so  blieb  sie  in  der  ganzen 
Art  ihrer  Betrachtung  ihr  verwandt.  In  den  naturwissenschaftlichen 
Disziplinen  nun  war  der  praktische  Wertsgesichtspunkt  des  un- 
mittelbar technisch  Nützlichen  von  Anfang  an  mit  der  als  Erbteil 
der  Antike  überkommenen  und  weiter  entwickelten  Hoffnung  eng 
verbunden ,  auf  dem  Wege  der  generalisierenden  Abstraktion  und 
der  Analyse  des  Empirischen  auf  gesetzliche  Zusammenhänge  hin 
zu  einer  rein  „objektiven",  d.  h.  hier:  von  allen  Werten  losgelösten, 
und  zugleich  durchaus  rationalen,  d.  h.  von  allen  individuellen  „Zu- 
fälligkeiten" befreiten  monistischen  Erkenntnis  der  gesamten  Wirk- 
lichkeit in  Gestalt  eines  Begriffssystems  von  metaphysischer 
Geltung  und  von  mathematischer  Form  zu  gelangen.  Die  an 
Wertgesichtspunkte  geketteten  naturwissenschaftlichen  Disziplinen, 
wie  die  klinische  Medizin  und  noch  mehr  die  gewöhnlich  sogenannte 
„Technologie",  wurden  rein  praktische  „Kunstlehren".  Die  Werte, 
denen  sie  zu  dienen  hatten:  Gesundheit  des  Patienten,  technische 
Vervollkommnung  eines  konkreten  Produktionsprozesses  etc.  standen 
für  jede  von  ihnen  jeweils  fest.  Die  Mittel,  die  sie  anwendeten, 
waren  und  konnten  nur  sein  die  Verwertung  der  durch  die  theore- 
tischen Disziplinen  gefundenen  Gesetzesbegrific.  Jeder  prinzipielle 
Fortschritt  in  der  Bildung  dieser  war  oder  konnte  doch  sein  auch 
ein  Fortschritt  der  praktischen  Disziplin.  Bei  feststehendem  Zweck 
war  ja  die  fortschreitende  Reduktion  der  einzelnen  praktischen 
Fragen  (eines  Krankheitsfalles,  eines  technischen  Problems)  als 
Spezialfall  auf  generell  geltende  Gesetze,  also  die  Erweiterung  des 
theoretischen  Erkennens,  unmittelbar  mit  der  Ausweitung  der  tech- 
nisch-praktischen Möglichkeiten  verknüpft  und  identisch.  Als  dann 
die  moderne  Biologie  auch  diejenigen  Bestandteile  der  Wirklichkeit, 
die  uns  historisch,  d.  h.  in  der  Art  ihres  So-und-nicht-anders- 
geworden-seins  interessieren ,  unter  den  Begriff  eines  allgemein- 
gültigen Entwicklungsprinzips  gebracht  hatte,  welches  wenigstens  dem 
Anschein  nach  —  aber  freilich  nicht  in  Wahrheit  —  alles  an  jenen 
Objekten  Wesentliche  in  ein  Schema  generell  geltender  Gesetze 
einzuordnen  gestattete,  da  schien  die  Götterdämmerung  aller  Wert- 
gesichtspunkte in  allen  Wissenschaften  heraufzuziehen.  Denn  da 
ja  doch  auch  das  sogenannte  historische  Geschehen  ein  Teil  der 
gesamten  Wirklichkeit  war,  und  da  das  Kausalprinzip,  die  Voraus- 
setzung aller  wissenschaftlichen  Arbeit,  die  Auflösung  alles  Ge- 
schehens in  generell  geltende  „Gesetze"  zu  fordern  schien ,  da  end- 
lich der  ungeheure  Erfolg  der  Naturwissenschaften,  die  mit  diesem 


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Die  „Objektivität"  sozial  wissenschaftlicher  und  sozialpolitischer  Erkenntnis.  6l 


Gedanken  ernst  gemacht  hatten,  zutage  lag,  so  schien  ein  anderer 
Sinn  des  wissenschaftlichen  Arbeitens  als  die  Auffindung  der  Ge- 
setze des  Gesehehens  überhaupt  nicht  vorstellbar.  Nur  das  „Ge- 
setzmäßige" kormte  das  wissenschaftlich  Wesentliche  an  den  Er- 
scheinungen sein,  „individuelle"  Vorgänge  nur  als  „Typen",  d.  h.  hier: 
als  illustrative  Repräsentanten  der  Gesetze  in  Betracht  kommen; 
ein  Interesse  an  ihnen  um  ihrer  selbst  willen  schien  „kein  wissen- 
schaftliches" Interesse. 

Die  mächtigen  Rückwirkungen  dieser  glaubensfrohen  Stimmung 
des  naturalistischen  Monismus  auf  die  ökonomischen  Disziplinen 
hier  zu  verfolgen,  ist  unmöglich.  Als  die  sozialistische  Kritik 
und  die  Arbeit  der  Historiker  die  ursprünglichen  Wertgesichtspunkte 
in  Probleme  zu  verwandeln  begannen,  hielt  die  mächtige  Entwicklung 
der  biologischen  Forschung  auf  der  einen  Seite,  der  Einfluß  des 
Hcgel'schen  Panlogismus  auf  der  anderen  Seite  die  National- 
ökonomie davon  ab,  das  Verhältnis  von  Begriff  und  Wirklichkeit 
in  vollem  Umfang  deutlich  zu  erkennen.  Das  Resultat,  soweit  es 
uns  hier  interessiert,  ist,  daß  trotz  des  gewaltigen  Dammes,  welchen 
die  deutsche  idealistische  Philosophie  seit  Fichte,  die  Leistungen  der 
deutschen  historischen  Rechtsschule  und  die  Arbeit  der  historischen 
Schule  der  deutschen  Nationalökonomie,  dem  Eindringen  natura- 
listischer Dogmen  entgegenbaute,  dennoch  und  zum  Teil  infolge 
dieser  Arbeit  an  entscheidenden  Stellen  die  Gesichtspunkte  des 
Naturalismus  noch  immer  unüberwunden  sind.  Dahin  gehört  ins- 
besondere das  noch  immer  problematisch  gebliebene  Verhältnis 
zwischen  „theoretischer"  und  „historischer"  Arbeit  in  unserem  Fache. 

In  unvermittelter  und  anscheinend  unüberbrückbarer  Schroffheit 
steht  noch  heute  die  „abstrakt"-theoretische  Methode  der  empirisch- 
historischen Forschung  gegenüber.  Sie  erkennt  durchaus  richtig 
die  methodische  Unmöglichkeit,  durch  Formulierung  von  „Gesetzen" 
die  geschichtliche  Erkenntnis  der  Wirklichkeit  zu  ersetzen  oder 
umgekehrt  durch  bloßes  Aneinanderreihen  historischer  Beobachtungen 
zu  „Gesetzen"  im  strengen  Sinne  zu  gelangen.  Um  nun  solche  zu 
gewinnen,  —  denn  daß  dies  die  Wissenscheft  als  höchstes  Ziel 
zu  erstreben  habe,  steht  ihr  fest  — ,  geht  sie  von  der  Tat- 
sache aus,  daß  wir  die  Zusammenhänge  menschlichen  Handelns  be- 
ständig selbst  in  ihrer  Realität  unmittelbar  erleben,  daher  —  so 
meint  sie  —  ihren  Ablauf  mit  axiomatischer  Evidenz  direkt 
verständlich  machen  und  so  in  seinen  „Gesetzen"  erschließen 
können.     Die  einzig  exakte  Form  der  Erkenntnis,  die  Formu- 


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62 


Max  Weber, 


lierung  unmittelbar  anschaulich  evidenter  Gesetze,  sei  aber, 
zugleich  die  einzige,  welche  den  Schluß  auf  die  nicht  unmittel- 
bar beobachteten  Vorgänge  zulasse,  daher  sei  mindestens  für 
die  fundamentalen  Phänomene  des  wirtschaftlichen  Lebens  die  Auf- 
stellung eines  Systems  von  abstrakten  und  —  infolgedessen  —  rein 
formalen  Lehrsätzen  nach  Analogie  derjenigen  der  exakten  Natur- 
wissenschaften das  einzige  Mittel  geistiger  Beherrschung  der  gesell- 
schaftlichen Mannigfaltigkeit.  Trotz  der  prinzipiellen  methodischen 
Scheidung  gesetzlicher  und  historischer  Erkenntnis,  welche  der 
Schöpfer  der  Theorie  als  Erster  und  Einziger  vollzogen  hatte, 
wird  nun  aber  für  die  Lehrsätze  der  abstrakten  Theorie  von  ihm 
empirische  Geltung  im  Sinne  der  Deduzierbarke it  der  Wirk- 
lichkeit aus  den  „Gesetzen"  in  Anspruch  genommen.  Zwar  nicht 
im  Sinne  der  empirischen  Geltung  der  abstrakten  ökonomischen 
Lehrsätze  für  sich  allein,  sondern  in  der  Art,  daß,  wenn  man 
entsprechende  „exakte"  Theorien  von  allen  übrigen  in  Betracht 
kommenden  Faktoren  gebildet  haben  werde,  diese  sämtlichen  ab- 
strakten Theorien  zusammen  dann  die  wahre  Realität  der 
Dinge  —  d.  h. :  das,  was  von  der  Wirklichkeit  wissenswert  sei  — 
in  sich  enthalten  müßten.  Die  exakte  ökonomische  Theorie  stelle 
die  Wirkung  eines  psychischen  Motivs  fest ,  andere  Theorien 
hätten  die  Aufgabe,  alle  übrigen  Motive  in  ähnlicher  Art  in  Lehr- 
sätzen von  hypothetischer  Geltung  zu  entwickeln.  Für  das  Er- 
gebnis der  theoretischen  Arbeit,  die  abstrakten  Prcisbildungs-,  Zins-, 
Rcnten-etc.-Theorien,  wurde  demgemäß  hie  und  da  phantastischer- 
weise in  Anspruch  genommen :  sie  könnten,  nach  —  angeblicher  — 
Analogie  physikalischer  Lehrsätze,  dazu  verwendet  werden,  aus  ge- 
gebenen realen  Prämissen  quantitativ  bestimmte  Resultate  — 
also  Gesetze  im  strengsten  Sinne  —  mit  Gültigkeit  für  die  Wirk- 
lichkeit des  Lebens  deduzieren,  da  die  Wirtschaft  des  Menschen 
bei  gegebenem  Zweck  in  bezug  auf  die  Mittel  eindeutig  „deter- 
miniert" sei.  Es  wurde  nicht  beachtet,  daß,  um  dies  Resultat  in 
irgend  einem  noch  so  einfachen  Falle  erzielen  zu  können,  die  Ge- 
samtheit der  jeweiligen  historischen  Wirklichkeit  einschließlich 
aller  ihrer  kausalen  Zusammenhänge  als  „gegeben"  gesetzt  und  als 
bekannt  vorausgesetzt  werden  müßte  und  daß,  wenn  dem  end- 
lichen Geist  diese  Kenntnis  zugänglich  würde,  irgend  ein  Er- 
kenntniswert einer  abstrakten  Theorie  nicht  vorstellbar  wäre.  Das 
naturalistische  Vorurteil,  das  in  jenen  Begriffen  etwas  den  exakten 
Naturwissenschaften  Verwandtes   geschaffen    werden    solle,  hatte 


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Die  „Objektivität"  sozialwissenschafllichcr  und  sozialpolitischer  Erkenntnis.  63 


eben  dahin  gefuhrt,  daß  man  den  Sinn  dieser  theoretischen  Ge- 
dankengebilde falsch  verstand.  Man  glaubte,  es  handele  sich  um 
die  psychologische  Isolierung  eines  spezifischen  „Triebes",  des  Er- 
werbstriebes, im  Menschen,  oder  aber  um  die  isolierte  Beobachtung 
einer  spezifischen  Maxime  menschlichen  Handelns,  des  sogenannten 
wirtschaftlichen  Prinzipes.  Die  abstrakte  Theorie  meinte,  sich  auf 
psychologische  Axiome  stützen  zu  können  und  die  Folge  war,  daß 
die  Historiker  nach  einer  e  m  p  i  r  i  s  c  h  e  n  Psychologie  riefen,  um  die 
Nichtgcltung  jener  Axiome  beweisen  und  den  Verlauf  der  wirt- 
schaftlichen Vorgänge  psychologisch  ableiten  zu  können.  Wir 
wollen  nun  an  dieser  Stelle  den  Glauben  an  die  Bedeutung  einer  — 
erst  zu  schaffenden  —  systematischen  Wissenschaft  der  „Sozial- 
psychologie" als  künftiger  Grundlage  der  Kulturwissenschaften, 
speziell  der  Sozialökonomik,  nicht  eingehend  kritisieren.  Gerade 
die  bisher  vorliegenden,  zum  Teil  glänzenden  Ansätze  psycholo- 
gischer Interpretation  ökonomischer  Erscheinungen  zeigen  jedenfalls, 
daß  nicht  von  der  Analyse  psychologischer  Qualitäten  des  Menschen 
zur  Analyse  der  gesellschaftlichen  Institutionen  fortgeschritten  wird, 
sondern  gerade  umgekehrt  die  Aufhellung  der  psychologischen 
Voraussetzungen  und  Wirkungen  der  Institutionen  die  genaue  Be- 
kanntschaft mit  diesen  letzteren  und  die  wissenschaftliche  Analyse 
ihrer  Zusammenhänge  voraussetzt.  Die  psychologische  Analyse 
bedeutet  alsdann  lediglich  eine  im  konkreten  Fall  höchst  wertvolle 
Vertiefung  der  Erkenntnis  ihrer  historischen  Kulturbedingtheit 
und  Kultur bede u tu ng.  Das,  was  uns  an  dem  psychischen  Ver- 
halten des  Menschen  in  seinen  sozialen  Beziehungen  interessiert,  ist 
eben  in  jedem  Falle  je  nach  der  spezifischen  Kulturbedeutung  der 
Beziehung,  um  die  es  sich  handelt,  spezifisch  besondert.  Es  handelt 
sich  dabei  um  untereinander  höchst  heterogene  und  höchst  konkret 
komponierte  psychische  Motive  und  Einflüsse.  Die  sozial-psycho- 
logische Forschung  bedeutet  eine  Durchmusterung  verschiedener 
einzelner,  untereinander  vielfach  disparater  Gattungen  von 
Kulturelementen  auf  ihre  Deutungsfähigkeit  für  unser  nacher- 
lebendes Verständnis  hin.  Wir  werden  durch  sie,  von  der  Kenntnis 
der  einzelnen  Institutionen  ausgehend,  deren  Kulturbedingtheit  und 
Kulturbedeutung  in  steigendem  Maße  geistig  verstehen  lernen, 
nicht  aber  die  Institutionen  aus  psychologischen  Gesetzen  deduzieren 
oder  aus  psychologischen  Elementarerscheinungen  erklären  wollen. 

So  ist  denn  auch  die  weitschichtige  Polemik,  welche  sich  um 
die  Frage  der  psychologischen  Berechtigung  der  abstrakt  theore- 


64 


Max  Weber, 


tischen  Aufstellungen,  um  die  Tragweite  des  „Erwerbstriebes"  und 
des  „wirtschaftlichen  Prinzips"  etc.  gedreht  hat,  wenig  fruchtbar 
gewesen.  — 

Es  handelt  sich  bei  den  Aufstellungen  der  abstrakten  Theorie 
nur  scheinbar  um  „Deduktionen"  aus  psychologischen  Grundmotiven, 
in  Wahrheit  vielmehr  um  einen  Spezialfall  einer  Form  der  Begrifis- 
bildung,  welche  den  Wissenschaften  von  der  menschlichen  Kultur 
eigentümlich  und  in  gewissem  Umfange  unentbehrlich  ist.  Es  lohnt 
sich,  sie  an  dieser  Stelle  etwas  eingehender  zu  charakterisieren, 
da  wir  dadurch  der  prinzipiellen  Frage  nach  der  Bedeutung  der 
Theorie  für  die  sozialwissenschaftliche  Erkenntnis  näher  kommen. 
Dabei  lassen  wir  es  ein  für  allemal  unerörtert,  ob  die  theoretischen 
Gebilde,  welche  wir  als  Beispiele  heranziehen,  oder  auf  die  wir 
anspielen,  so  wie  sie  sind,  dem  Zwecke  entsprechen,  dem  sie  dienen 
wollen,  ob  sie  also  sachlich  zweckmäßig  gebildet  sind.  Die 
Frage,  wie  weit  z.  B.  die  heutige  „abstrakte  Theorie-'  noch  aus- 
gesponnen werden  soll,  ist  schließlich  auch  eine  Frage  der  Ökonomie 
der  wissenschaftlichen  Arbeit,  deren  doch  auch  andere  Probleme 
harren.  Auch  die  „Grenznutztheorie"  untersteht  dem  „Gesetz  des 
Grenznutzens".  — 

Wir  haben  in  der  abstrakten  Wirtschaftstheoric  ein  Beispiel 
jener  Synthesen  vor  uns,  welche  man  als  „Ideen"  historischer  Er- 
scheinungen zu  bezeichnen  pflegt.  Sie  bietet  uns  ein  Idealbild  der 
Vorgänge  auf  dem  Gütermarkt  bei  tauschwirtschaftlicher  Gesell- 
schaftsorganisation, freier  Konkurrenz  und  streng  rationalem  Handeln. 
Dieses  Gedankenbild  vereinigt  bestimmte  Beziehungen  und  Vor- 
gänge des  historischen  Lebens  zu  einem  in  sich  widerspruchslosen 
Kosmos  gedachter  Zusammenhänge.  Inhaltlich  trägt  diese  Kon- 
struktion den  Charakter  einer  Utopie  an  sich,  die  durch  gedank- 
liche Steigerung  bestimmter  Elemente  der  Wirklichkeit  gewonnen 
ist.  Ihr  Verhältnis  zu  dem  empirisch  gegebenen  Tatsachen  des  Lebens 
besteht  lediglich  darin,  daß  da,  wo  Zusammenhänge  der  in  jener 
Konstruktion  abstrakt  dargestellten  Art,  also  vom  „Markt"  abhängige 
Vorgänge,  in  der  Wirklichkeit  als  in  irgend  einem  Grade  wirksam 
festgestellt  sind  oder  vermutet  werden,  wir  uns  die  Eigen- 
art dieses  Zusammenhangs  an  einem  Idealtypus  pragmatisch 
veranschaulichen  und  verständlich  machen  können.  Diese 
Möglichkeit  kann  sowohl  heuristisch,  wie  für  die  Darstellung  von 
Wert,  ja  unentbehrlich  sein.  Für  die  Forschung  will  der  ideal- 
typische Begriff  das  Zurechnungsurteil  schulen:  er  ist  keine  „Hypo- 


Die  „Objektivität"  sozialwissenschaftlicher  und  sozialpolitischer  Erkenntnis.  65 

these",  aber  er  will  der  Hypothesenbildung  die  Richtung  weisen. 
Er  ist  nicht  eine  Darstellung  des  Wirklichen,  aber  er  will  der 
Darstellung  eindeutige  Ausdrucksmittel  verleihen.  Es  ist  also  die 
„Idee"  der  historisch  gegebenen  modernen  verkehrswirtschaft- 
lichen Organisation  der  Gesellschaft,  die  uns  da  nach  ganz  denselben 
logischen  Prinzipien  entwickelt  wird,  wie  man  z.  B.  die  Idee  der 
„Stadtwirtschaft"  des  Mittelalters  als  „genetischen"  Begriff  konstruiert 
hat.  Tut  man  dies,  so  bildet  man  den  Begriff  „Stadtwirtschaft" 
nicht  etwa  als  einen  Durchschnitt  der  in  sämtlichen  beobach- 
teten Städten  tatsächlich  bestehenden  Wirtschaftsprinzipien, 
sondern  ebenfalls  als  einen  Ideal typus.  Er  wird  gewonnen  durch 
einseitige  Steigerung  eines  oder  einiger  Gesichtspunkte  und 
durch  Zusammenschluß  einer  Fülle  von  diffus  und  diskret,  hier  mehr, 
dort  weniger,  stellenweise  gar  nicht,  vorhandenen  Einzelerschei- 
nungen, die  sich  jenen  einseitig  herausgehobenen  Gesichtspunkten 
fügen,  zu  einem  in  sich  einheitlichen  Gedankenbilde.  In  seiner 
begrifflichen  Reinheit  ist  dieses  Gedankenbild  nirgends  in  der  Wirk- 
lichkeit empirisch  vorfindbar,  es  ist  eine  Utopie,  und  für  die 
historische  Arbeit  erwächst  die  Aufgabe,  in  jedem  einzelnen 
Falle  festzustellen,  wie  nahe  oder  wie  fern  die  Wirklichkeit  jenem 
Idealbilde  steht,  inwieweit  also  der  Ökonomische  Charakter  der  Ver- 
hältnisse einer  bestimmten  Stadt  als  „stadtwirtschaftlich"  im  be- 
grifflichen Sinn  anzusprechen  ist.  Für  den  Zweck  der  Erforschung 
und  Veranschaulichung  aber  leistet  jener  Begriff,  vorsichtig  angewendet 
seine  spezifischen  Dienste.  —  Ganz  in  der  gleichen  Art  kann  man,  um 
noch  ein  weiteres  Beispiel  zu  analysieren,  die  „Idee"  des  „Handwerks" 
in  einer  Utopie  zeichnen,  indem  man  bestimmte  Züge,  die  sich 
diffus  bei  Gewerbetreibenden  der  verschiedensten  Zeiten  und  Länder 
vorfinden,  einseitig  in  ihren  Konsequenzen  gesteigert  zu  einem  in 
sich  widerspruchslosen  Idcalbildc  zusammenfügt  und  auf  einen  Ge- 
danken ausdruck  bezieht,  den  man  darin  manifestiert  findet.  Man 
kann  dann  ferner  den  Versuch  machen,  eine  Gesellschaft  zu  zeichnen, 
in  der  alle  Zweige  wirtschaftlicher,  ja  selbst  geistiger  Tätigkeit 
von  Maximen  beherrscht  werden,  die  uns  als  Anwendung  des 
gleichen  Prinzips  erscheinen,  welches  dem  zum  Idealtypus  erhobenen 
„Handwerk"  charakteristisch  ist.  Man  kann  nun  weiter  jenem 
Idealtypus  des  Handwerks  als  Antithese  einen  entsprechenden  Ideal- 
typus einer  kapitalistischen  Gewerbeverfassung,  aus  gewissen  Zügen 
der  modernen  Großindustrie  abstrahiert,  entgegensetzen  und  daran 
anschließend  den  Versuch  machen,  die  Utopie  einer  „kapitalistischen" 

Archiv  für  Soiialwissenschaft  u.  Sozialpolitik.  I.    rA.  f.  %or.  G.  u.  St.  XIX\  i.  5 


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66 


Max  Weber, 


d.  h.  allein  durch  das  Verwertungsinteresse  privater  Kapitalien  be- 
herrschten Kultur  zu  zeichnen.  Sie  hätte  einzelne  diffus  vorhandene 
Züge  des  modernen  materiellen  und  geistigen  Kulturlebens  in  ihrer 
Eigenart  gesteigert  zu  einem  für  unsere  Betrachtung  widerspruchs- 
losen Idealbilde  zusammenzuschließen.  Das  wäre  dann  ein  Versuch 
der  Zeichnung  einer  „Idee"  der  kapitalistischen  Kultur  — 
ob  und  wie  er  etwa  gelingen  könnte,  müssen  wir  hier  ganz  dahin- 
gestellt sein  lassen.  Nun  ist  es  möglich,  oder  vielmehr  es  muß  als 
sicher  angesehen  werden,  daß  mehrere,  ja  sicherlich  jeweils  sehr  zahl- 
reiche Utopien  dieser  Art  sich  entwerfen  lassen,  von  denen  keine 
der  anderen  gleicht,  von  denen  erst  recht  keine  in  der  empirischen 
Wirklichkeit  als  tatsächlich  geltende  Ordnung  der  gesellschaftlichen 
Zustande  zu  beobachten  ist,  von  denen  aber  doch  jede  den  An- 
spruch erhebt,  eine  Darstellung  der  „Idee"  der  kapitalistischen 
Kultur  zu  sein,  und  von  denen  auch  jede  diesen  Anspruch  insofern 
erheben  kann,  als  jede  tatsächlich  gewisse,  in  ihrer  Eigenart 
bedeutungsvolle  Züge  unserer  Kultur  der  Wirklichkeit  ent- 
nommen und  in  ein  einheitliches  Idealbild  gebracht  hat.  Denn 
diejenigen  Phänomene,  die  uns  als  Kulturerscheinungen  interessieren, 
leiten  regelmäßig  dies  unser  Interesse  —  ihre  „Kulturbedeu- 
tung" —  aus  sehr  verschiedenen  Wertideen  ab,  zu  denen  wir  sie 
in  Beziehung  setzen  können.  Wie  es  deshalb  die  verschiedensten 
„Gesichtspunkte"  gibt,  unter  denen  wir  sie  als  für  uns  bedeutsam 
betrachten  können,  so  lassen  sich  die  allerverschiedensten  Prinzipien 
der  Auswahl  der  in  einen  Idealtypus  einer  bestimmten  Kultur  auf- 
zunehmenden Zusammenhänge  zur  Anwendung  bringen. 

Was  ist  nun  aber  die  Bedeutung  solcher  idealtypischen  Begriffe 
für  eine  Er fahrungs Wissenschaft,  wie  wir  sie  treiben  wollen?  Vor- 
weg sei  hervorgehoben ,  daß  der  Gedanke  des  Sein  sollenden, 
„Vorbildlichen"  von  diesen  in  rein  logischem  Sinn  „idealen'1 
Gcdankengebilden,  die  wir  besprechen,  hier  zunächst  sorgsam  fern- 
zuhalten ist.  Es  handelt  sich  um  die  Konstruktion  von  Zusammen- 
hängen, welche  unserer  Phantasie  als  zulänglich  motiviert  und 
also  „objektiv  möglich",  unserem  nomologischen  Wissen  als  adä- 
quat erscheinen. 

Wer  auf  dem  Standpunkt  steht,  daß  die  Erkenntnis  der  histo- 
rischen Wirklichkeit  „voraussetzungslose'4  Abbildung  „objektiver" 
Tatsachen"  sein  solle  oder  könne,  wird  ihnen  jeden  Wert  ab- 
sprechen. Und  selbst  wer  erkannt  hat,  daß  es  eine  „Voraussetzungs- 
losigkeit"  im  logischen  Sinn  auf  dem  Boden  der  Wirklichkeit  nicht 


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Die  „Objektivität"  sozialwisscnschaftlichcr  und  sozialpolitischer  Erkenntnis.  67 

gibt  und  auch  das  einfachste  Aktenexzerpt  oder  Urkundenregest 
nur  durch  Bezugnahme  auf  „Bedeutungen",  und  damit  auf  Wert- 
ideen als  letzte  Instanz,  irgend  welchen  wissenschaftlichen  Sinn 
haben  kann,  wird  doch  die  Konstruktion  irgend  welcher  histo- 
rischer „Utopien"  als  ein  für  die  Unbefangenheit  der  historischen 
Arbeit  gefährliches  Veranschaulichungsmittel,  überwiegend  aber  ein- 
fach als  Spielerei  ansehen.  Und  in  der  Tat:  ob  es  sich  um  reines 
Gedankenspiel  oder  um  eine  wissenschaftlich  fruchtbare  Begriffs- 
bildung  handelt,  kann  a  priori  niemals  entschieden  werden :  es  gibt 
auch  hier  nur  einen  Maßstab:  den  des  Erfolges  für  die  Erkenntnis 
konkreter  Kulturerscheinungen  in  ihrem  Zusammenhang,  ihrer  ur- 
sächlichen Bedingtheit  und  ihrer  Bedeutung.  Nicht  als  Ziel, 
sondern  als  Mittel  kommt  mithin  die  Bildung  abstrakter  Ideal- 
typen in  Betracht.  Jede  aufmerksame  Beobachtung  der  begriff- 
lichen Elemente  historischer  Darstellung  zeigt  nun  aber,  daß  der 
Historiker,  sobald  er  den  Versuch  unternimmt,  über  das  bloße 
Konstatieren  konkreter  Zusammenhänge  hinaus  die  Kultur- 
bedeutung eines  noch  so  einfachen  individuellen  Vorgangs  fest- 
zustellen, ihn  zu  „charakterisieren",  mit  Begriffen  arbeitet  und 
arbeiten  muß,  welche  regelmäßig  nur  in  Idealtypen  scharf 
und  eindeutig  bestimmbar  sind.  Oder  sind  Begriffe  wie  etwa: 
„Individualismus",  „Imperialismus",  Feudalismus",  „Merkantilismus" 
„konventionell"  und  die  zahllosen  Begriffsbildungen  ähnlicher  Art, 
mittels  deren  wir  uns  der  Wirklichkeit  denkend  und  verstehend  zu 
bemächtigen  suchen,  ihrem  Inhalt  nach  durch  „voraussetzungslosc" 
Beschreibung  irgend  einer  konkreten  Erscheinung  oder  aber 
durch  abstrahierende  Zusammenfassung  dessen,  was  mehreren 
konkreten  Erscheinungen  gemeinsam  ist,  zu  bestimmen?  Die 
Sprache,  die  der  Historiker  spricht,  enthält  in  hunderten  von 
Worten  solche  unbestimmten,  dem  unrcflektiert  waltenden  Bedürfnis 
des  Ausdrucks  entnommenen  Gedankenbilder,  deren  Bedeutung  zu- 
nächst nur  anschaulich  empfunden,  nicht  klar  gedacht  wird.  In  unend- 
lich vielen  Fällen,  zumal  auf  dem  Gebiet  der  darstellenden  po  1  i  t  i  - 
sehen  Geschichte,  tut  nun  die  Unbestimmtheit  ihres  Inhaltes  der 
Klarheit  der  Darstellung  sicherlich  keinen  Eintrag.  Es  genügt  dann, 
daß  im  einzelnen  Falle  empfunden  wird ,  was  dem  Historiker 
vorschwebt,  oder  aber  man  kann  sich  damit  begnügen,  daß  eine 
partikuläre  Bestimmtheit  des  Begriffsinhaltes  von  relativer 
Bedeutung  für  den  einzelnen  Fall  als  gedacht  vorschwebt.  Je 
schärfer  aber  die  Bedeutsamkeit  einer  Kulturerscheinung  zum  klaren 

5* 


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Max  Weber, 


Bewußtsein  gebracht  werden  soll,  desto  unabweislicher  wird  das 
Bedürfnis,  mit  klaren  und  nicht  nur  partikulär,  sondern  allseitig  be- 
stimmten Begriffen  zu  arbeiten.  Eine  „Definition"  jener  Synthesen 
des  historischen  Denkens  nach  dem  Schema:  genus  proximum 
und  differentia  speeifica  ist  natürlich  ein  Unding:  man  mache  doch 
die  Probe.  Eine  solche  Form  der  Feststellung  der  Wortbedeutung 
gibt  es  nur  auf  dem  Boden  dogmatischer  Disziplinen,  welche  mit 
Syllogismen  arbeiten.  Eine  einfach  „schildernde  Auflösung"  jener 
Begriffe  in  ihre  Bestandteile  gibt  es  ebenfalls  nicht  oder  nur  schein- 
bar, denn  es  kommt  eben  darauf  an,  welche  dieser  Bestandteile 
denn  als  wesentlich  gelten  sollen.  Es  bleibt,  wenn  eine  genetische 
Definition  des  Begriffsinhaltes  versucht  werden  soll,  nur  die  Form 
des  Idealtypus  im  oben  fixierten  Sinn.  Er  ist  ein  Gedankenbild, 
welches  nicht  die  historische  Wirklichkeit  oder  gar  die  „eigentliche" 
Wirklichkeit  ist,  welches  noch  viel  weniger  dazu  da  ist,  als  ein 
Schema  zu  dienen ,  i  n  welches  die  Wirklichkeit  als  Exemplar 
eingeordnet  werden  sollte,  sondern  welches  die  Bedeutung  eines  rein 
idealen  G  r  e  n  z  begriffes  hat,  an  welchem  die  Wirklichkeit  zur  Ver- 
deutlichung bestimmter  bedeutsamer  Bestandteile  ihres  empirischen 
Gehaltes  gemessen,  mit  dem  sie  verglichen  wird.  Solche 
Begriffe  sind  Gebilde,  in  welchen  wir  Zusammenhänge  unter  Verwen- 
dung der  Kategorie  der  objektiven  Möglichkeit  konstruieren,  welche 
unsere,  an  der  Wirklichkeit  orientierte  und  geschulte  Phantasie 
als  adäquat  beurteilt. 

Der  Idealtypus  ist  in  dieser  Funktion  insbesondere  der  Ver- 
such, historische  Individuen  oder  deren  Einzelbestandteile  in  ge- 
netische Begriffe  zu  fassen.  Man  nehme  etwa  die  Begriffe: 
„Kirche"  und  „Sekte".  Sic  lassen  sich  rein  klassifizierend  in  Mcrk- 
malskomplexe  auflösen,  wobei  dann  nicht  nur  die  Grenze  zwischen 
beiden,  sondern  auch  der  Begriffsinhalt  stets  flüssig  bleiben  muß. 
Will  ich  aber  den  Begriff  der  „Sekte"  genetisch,  z.  B.  im  bezug 
auf  gewisse  wichtige  Kulturbedeutungen,  die  der  „Sektengeist"  für 
die  moderne  Kultur  gehabt  hat,  erfassen,  so  werden  bestimmte  Merk- 
male beider  wesentlich,  weil  sie  in  adäquater  ursächlicher  Be- 
ziehung zu  jenen  Wirkungen  stehen.  Die  Begriffe  werden  aber  alsdann 
zugleich  ideal  typisch,  d.  h.  in  voller  begrifflicher  Reinheit  sind 
sie  nicht  oder  nur  vereinzelt  vertreten.  Hier  wie  überall  führt  eben 
jeder  nicht  rein  klassifikatorische  Begriff  von  der  Wirklichkeit  ab. 
Aber  die  diskursive  Natur  unseres  Erkennens :  der  Umstand,  daß  wir 
die  Wirklichkeit  nur  durch  eine  Kette  von  Vorst ellungsverändcrungen 


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Die  „Objektivität1"  soziulwissenscbaftlicher  und  sozialpolitischer  Erkenntnis.  69 


hindurch  erfassen,  postuliert  eine  solche  Begriffsstenographie.  Unsere 
Phantasie  kann  ihre  ausdrückliche  begriffliche  Formulierung  sicher- 
lich oft  als  Mittel  der  Forschung  entbehren,  —  für  die  Dar- 
stellung ist,  soweit  sie  eindeutig  sein  will,  ihre  Verwendung  auf 
dem  Boden  der  Kulturanalyse  in  zahlreichen  Fällen  ganz  unver- 
meidlich. Wer  sie  grundsätzlich  verwirft,  muß  sich  auf  die  for- 
male, etwa  die  rechtshistorische  Seite  der  Kulturerschcinungen  be- 
schränken. Der  Kosmos  der  rechtlichen  Normen  ist  natürlich  zu- 
gleich begrifflich  klar  bestimmbar  und  (im  rechtlichen  Sinn!) 
für  die  historische  Wirklichkeit  geltend.  Aber  ihre  praktische 
Bedeutung  ist  es,  mit  der  die  Arbeit  der  Sozialwissenschaft  in 
unserem  Sinn  zu  tun  hat.  Diese  Bedeutung  aber  ist  sehr  oft  nur 
durch  Beziehung  des  empirisch  Gegebenen  auf  einem  idealen 
Grenzfall  eindeutig  zum  Bewußtsein  zu  bringen.  Lehnt  der  Histo- 
riker (im  weitesten  Sinne  des  Wortes)  einen  Formulierungsversuch 
eines  solchen  Idealtypus  als  „theoretische  Konstruktion",  d.  h.  als  für 
seinen  konkreten  Erkenntniszweck  nicht  tauglich  oder  entbehrlich, 
ab,  so  ist  die  Folge  regelmäßig  entweder,  daß  er,  bewußt  oder  un- 
bewußt, andere  ähnliche  ohne  sprachliche  Formulierung  und 
logische  Bearbeitung  verwendet,  oder  daß  er  im  Gebiet  des  un- 
bestimmt „Empfundenen"  stecken  bleibt. 

Nichts  aber  ist  allerdings  gefährlicher,  als  die,  naturalistischen 
Vorurteilen  entstammende,  Ve rmischung  von  Theorie  und  Ge- 
schichte, sei  es  in  der  Form,  daß  man  glaubt,  in  jenen  theoreti- 
schen Begriffsbildern  den  „eigentlichen"  Gehalt ,  das  „Wesen"  der 
geschichtlichen  Wirklichkeit  fixiert  zu  haben,  oder  daß  man  sie  als 
ein  Prokrustesbett  benutzt,  in  welches  die  Geschichte  hineingezwängt 
werden  soll,  oder  daß  man  gar  die  „Ideen"  als  eine  hinter  der  Flucht 
der  Erscheinungen  stehende  „eigentliche"  Wirklichkeit,  als  reale 
„Kräfte"  hypostasiert,  die  sich  in  der  Geschichte  auswirkten. 

Speziell  diese  letztere  Gefahr  liegt  nun  um  so  näher,  als  wir 
unter  „Ideen"  einer  Epoche  auch  und  sogar  in  erster  Linie  Ge- 
danken oder  Ideale  zu  verstehen  gewohnt  sind,  welche  die  Masse 
oder  einen  geschichtlich  ins  Gewicht  fallenden  Teil  der  Menschen 
jener  Epoche  selbst  beherrscht  haben  und  dadurch  für  deren 
Kultureigenart  als  Komponenten  bedeutsam  gewesen  sind.  Und  es 
kommt  noch  zweierlei  hinzu :  Zunächst  der  Umstand,  daß  zwischen 
der  „Idee"  im  Sinn  von  praktischer  oder  theoretischer  Gedanken- 
richtung und  der  „Idee"  im  Sinn  eines  von  uns  als  begriffliches 
Hilfsmittel  konstruierten  Ideal typus  einer  Epoche  regelmäßig  be- 


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7o 


Max  Weber, 


stimmte  Beziehungen  bestehen.  Ein  Idealtypus  bestimmter  gesell- 
schaftlicher Zustände,  welcher  sich  aus  gewissen  charakteristischen 
sozialen  Erscheinungen  einer  Epoche  abstrahieren  läßt,  kann  —  und 
dies  ist  sogar  recht  häufig  der  Fall  —  den  Zeitgenossen  selbst  als 
praktisch  zu  erstrebendes  Ideal  oder  doch  als  Maxime  für  die 
Regelung  bestimmter  sozialer  Beziehungen  vorgeschwebt  haben. 
So  steht  es  schon  mit  der  „Idee"  des  „Nahrungsschutzes"  und 
manchen  Theorien  der  Kanonisten ,  speziell  des  heiligen  Thomas, 
im  Verhältnis  zu  dem  heute  verwendeten  idealtypischen  Begriff 
der  „Stadtwirtschaft"  des  Mittelalters,  den  wir  oben  besprachen. 
Erst  recht  steht  es  so  mit  dem  berüchtigten  „Grundbegriff'  der 
Nationalökonomie:  dem  des  „wirtschaftlichen  Werts".  Von  der 
Scholastik  an  bis  in  die  Marxsche  Theorie  hinein  verquickt  sich 
hier  der  Gedanke  von  etwas  „objektiv"  Geltendem,  d.  h.  also :  Sein- 
sollcnden,  mit  einer  Abstraktion  aus  dem  empirischen  Verlauf 
der  Preisbildung.  Und  jener  Gedanke,  daß  der  „Wert"  der  Güter 
nach  bestimmten  (naturrechtlichen)  Prinzipien  reguliert  sein  solle, 
hat  unermeßliche  Bedeutung  für  die  Kulturcntwicklung  —  und 
zwar  nicht  nur  des  Mittelalters  —  gehabt  und  hat  sie  noch.  Und 
er  hat  speziell  auch  die  empirische  Preisbildung  intensiv  beeinflußt. 
Was  aber  unter  jenem  theoretischen  Begriff  gedacht  wird 
und  gedacht  werden  kann,  das  ist  nur  durch  scharfe,  das  heißt 
idealtypische  Begriffsbildung  wirklich  eindeutig  klar  zu  machen,  — 
das  sollte  der  Spott  über  die  „Robinsonaden"  der  abstrakten  Theorie 
jedenfalls  so  lange  bedenken,  als  er  nichts  besseres,  d.  h.  hier: 
Klareres  an  die  Stelle  zu  setzen  vermag. 

Das  Kausalverhältnis  zwischen  der  historisch  konstatierbaren, 
die  Menschen  beherrschenden,  Idee  und  denjenigen  Bestandteilen 
der  historischen  Wirklichkeit,  aus  welchen  der  ihr  korrespondierende 
Ideal typus  sich  abstrahieren  läßt,  kann  dabei  natürlich  höchst 
verschieden  gestaltet  sein.  Festzuhalten  ist  prinzipiell  nur,  daß 
beides  selbstverständlich  grundverschiedene  Dinge  sind.  Nun  aber 
tritt  noch  etwas  weiteres  hinzu :  Jene  die  Menschen  einer 
Epoche  beherrschenden,  d.  h.  diffus  in  ihnen  wirksamen  „Ideen" 
selbst  können  wir,  sobald  es  sich  dabei  um  irgend  kompliziertere 
Gedankengebildc  handelt,  mit  begrifflicher  Schärfe  wiederum  nur 
in  Gestalt  eines  Idealtypus  erfassen,  weil  sie  empirisch  ja 
in  den  Köpfen  einer  unbestimmten  und  wechselnden  Vielzahl  von 
Individuen  leben  und  in  ihnen  die  mannigfachsten  Abschattierungen 
nach  Form  und  Inhalt,  Klarheit  und  Sinn  erfahren.    Diejenigen  Be- 


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Die  „Objektivität"  sozialwissenschaftlicher  und  sozialpolitischer  Erkenntnis.     j  j 


standteile  des  Geisteslebens  der  einzelnen  Individuen  in  einer  be- 
stimmten Epoche  des  Mittelalters  z.  B.,  die  wir  als  „das  Christen- 
tum" der  betreffenden  Individuen  ansprechen  dürfen,  würden, 
wenn  wir  sie  vollständig  zur  Darstellung  zu  bringen  vermöchten, 
natürlich  ein  Chaos  unendlich  differenzierter  und  höchst  wider- 
spruchsvoller Gedanken-  und  Gefühlszusammenhänge  aller  Art  sein, 
trotzdem  die  Kirche  des  Mittelalters  die  Einheit  des  Glaubens  und 
der  Sitten  sicherlich  in  besonders  hohem  Maße  durchzusetzen  ver- 
mocht hat.  Wirft  man  nun  die  Frage  auf,  was  denn  in  diesem 
Chaos  das  „Christentum"  des  Mittelalters,  mit  dem  man  doch  fort- 
während als  mit  einem  feststehenden  Begriff  operieren  muß,  ge- 
wesen sei,  worin  das  „Christliche",  welches  wir  in  den  Institutionen 
des  Mittelalters  finden,  denn  liege,  so  zeigt  sich  alsbald,  daß  auch 
hier  in  jedem  einzelnen  Fall  ein  von  uns  geschaffenes  reines  Ge- 
dankcngebilde  verwendet  wird.  Es  ist  eine  Verbindung  von 
Glaubenssätzen,  Kirchenrechts-  und  sittlichen  Normen,  Maximen  der 
Lebensführung  und  zahllosen  Einzelzusammenhängen,  die  wir  zu 
einer  „Idee"  verbinden:  eine  Synthese,  zu  der  wir  ohne  die  Ver- 
wendung idealtypischen  Begriffe  gar  nicht  widerspruchslos  zu  ge- 
langen vermöchten. 

Die  logische  Struktur  der  Begriffssysteme,  in  denen  wir  solche 
„Ideen"  zur  Darstellung  bringen,  und  ihr  Verhältnis  zu  dem,  was 
uns  in  der  empirischen  Wirklichkeit  unmittelbar  gegeben  ist,  sind 
nun  natürlich  höchst  verschieden.  Verhältnismäßig  einfach  gestaltet 
sich  die  Sache  noch,  wenn  es  sich  um  Fälle  handelt,  in  denen  ein 
oder  einige  wenige  leicht  in  Formeln  zu  fassende  theoretische  Leit- 
sätze —  etwa  der  Prädestinationsglaube  Calvins  —  oder  klar  formu- 
lierbare sittliche  Postulate  es  sind,  welche  sich  der  Menschen  bemächtigt 
und  historische  Wirkungen  erzeugt  haben,  so  daß  wir  die  „Idee" 
in  einer  Hierarchie  von  Gedanken  gliedern  können,  welche  logisch 
aus  jenen  Leitsätzen  sich  entwickeln.  Schon  dann  wird  freilich  leicht 
übersehen,  daß,  so  gewaltig  die  Bedeutung  auch  der  rein  logisch 
zwingenden  Macht  des  Gedankens  in  der  Geschichte  gewesen  ist,  — 
der  Marxismus  ist  ein  hervorragendes  Beispiel  dafür  —  doch  der 
empirisch- historische  Vorgang  in  den  Köpfen  der  Menschen  regel- 
mäßig als  ein  psychologisch,  nicht  als  ein  logisch  bedingter  ver- 
standen werden  muß.  Deutlicher  noch  zeigt  sich  der  idealtypische 
Charakter  solcher  Synthesen  von  historisch  wirksamen  Ideen  dann, 
wenn  jene  grundlegenden  Leitsätze  und  Postulate  gar  nicht  oder 
nicht  mehr  in  den  Köpfen  derjenigen  Einzelnen  leben,  die  von  den 


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Max  Weber, 


aus  ihnen  logisch  folgenden  oder  von  ihnen  durch  Assoziation  aus- 
gelösten Gedanken  beherrscht  sind,  weil  die  historisch  ursprünglich 
zugrunde  liegende  „Idee"  entweder  abgestorben  ist,  oder  überhaupt 
nur  in  ihren  Konsequenzen  in  die  Breite  gedrungen  war.  Und 
noch  entschiedener  tritt  der  Charakter  der  Synthese  als  einer  „Idee", 
die  w  i  r  schaffen,  dann  hervor,  wenn  jene  grundlegenden  Leitsätze 
von  Anfang  an  nur  unvollkommen  oder  gar  nicht  zum  deutlichen 
Bewußtsein  gekommen  sind  oder  wenigstens  nicht  die  Form  klarer 
Gedankenzusammenhänge  angenommen  haben.  Wenn  alsdann 
diese  Prozedur  von  uns  vorgenommen  wird,  wie  es  unendlich  oft 
geschieht  und  auch  geschehen  muß,  so  handelt  es  sich  bei  dieser 
„Idee"  —  etwa  des  „Liberalismus"  einer  bestimmten  Periode  oder 
des  „Methodismus"  oder  irgend  einer  gedanklich  unentwickelten 
Spielart  des  „Sozialismus",  —  um  einen  reinen  Idealtypus  ganz  des 
gleichen  Charakters  wie  die  Synthesen  von  „Prinzipien"  einer  Wirt- 
schaftsepoche, von  denen  wir  ausgingen.  Je  umfassender  die  Zu- 
sammenhänge sind,  um  deren  Darstellung  es  sich  handelt,  und  je 
vielseitiger  ihre  Kulturbedeutung  gewesen  ist,  desto  mehr  nähert 
sich  ihre  zusammenfassende  systematische  Darstellung  in  einem  Be- 
griffs- und  Gedankensystem  dem  Charakter  des  Idealtypus,  desto 
weniger  ist  es  möglich,  mit  einem  derartigen  Begriffe 
auszukommen,  desto  natürlicher  und  unumgänglicher  daher  die 
immer  wiederholten  Versuche,  immer  neue  Seiten  der  Bedeutsam- 
keit durch  neue  Bildung  idealtypischer  Begriffe  zum  Bewußtsein  zu 
bringen.  Alle  Darstellungen  eines  „Wesens"  des  Christentums 
z.  B.  sind  Idealtypen  von  stets  und  notwendig  nur  sehr  relativer 
und  problematischer  Gültigkeit,  wenn  sie  als  historische  Dar- 
stellung des  empirisch  Vorhandenen  angesehen  sein  wollen,  da- 
gegen von  hohem  heuristischen  Wert  für  die  Forschung  und  hohem 
systematischen  Wert  für  die  Darstellung,  wenn  sie  lediglich  als  be- 
griffliche Mittel  zur  Vergleich  ung  und  Messung  der  Wirk- 
lichkeit an  ihnen  verwendet  werden.  In  dieser  Funktion  sind  sie 
geradezu  unentbehrlich.  Nun  aber  haftet  solchen  idealtypischen 
Darstellungen  regelmäßig  noch  ein  anderes,  ihre  Bedeutung  noch 
weiter  komplizierendes  Moment  an.  Sie  wollen  sein,  oder  sind  un- 
bewußt, regelmäßig  Idealtypen  nicht  nur  im  logischen,  sondern 
auch  im  praktischen  Sinne :  vorbildliche  Typen,  welche  —  in 
unserem  Beispiel  —  das  enthalten,  was  das  Christentum  nach  der  An- 
sicht des  Darstellers  sein  soll,  was  an  ihm  das  f  ü  r  ihn  „Wesentliche", 
weil  dauernd  Wertvolle  ist.  Ist  dies  aber  bewußt  oder  —  häu- 


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Die  „Objektivität"  sozialwissenschaftlicher  und  sozialpolitischer  F-rkenntnis. 


figer  —  unbewußt  der  Fall,  dann  enthalten  sie  Ideale,  auf  welche  der 
Darsteller  das  Christentum  wertend  bezieht:  Aufgaben  und  Ziele, 
auf  die  hin  er  seine  „Idee"  des  Christentums  ausrichtet  und  welche 
natürlich  von  den  Werten,  auf  welche  die  Zeitgenossen,  etwa  die 
Urchristen,  das  Christentum  bezogen,  höchst  verschieden  sein  können, 
ja  zweifellos  immer  sein  werden.  In  dieser  Bedeutung  sind  die 
„Ideen"  dann  aber  natürlich  nicht  mehr  rein  1  o  g  i  s  c  h  e  Hilfsmittel, 
nicht  mehr  Begriffe,  an  welchen  die  Wirklichkeit  vergleichend  ge- 
messen, sondern  Ideale,  aus  denen  sie  wertend  beurteilt  wird. 
Es  handelt  sich  hier  nicht  mehr  um  den  rein  theoretischen 
Vorgang  der  Beziehung  des  Empirischen  auf  Werte,  sondern  um 
Werturteile,  welche  in  den  „Begriff"  des  Christentums  aufge- 
nommen sind.  Weil  hier  der  Idealtypus  empirische  Geltung  be- 
ansprucht, ragt  er  in  die  Region  der  wertenden  Deutung  des 
Christentums  hinein:  der  Boden  der  Erfahrungswissenschaft  ist 
verlassen:  es  liegt  ein  persönliches  Bekenntnis  vor,  nicht  eine 
ideal-typische  Begriffsbildung.  So  prinzipiell  dieser  Unterschied 
ist,  so  tritt  die  Vermischung  jener  beiden  grundverschiedenen 
Bedeutungen  der  „Idee"  im  Verlauf  der  historischen  Arbeit  doch 
außerordentlich  häufig  ein.  Sie  liegt  immer  sehr  nahe,  sobald  der 
darstellende  Historiker  seine  „Auffassung"  einer  Persönlichkeit  oder 
Epoche  zu  entwickeln  beginnt.  Im  Gegensatz  zu  den  konstant  blei- 
benden ethischen  Maßstäben,  die  Schlosser  im  Geiste  des  Rationalis- 
mus verwendete,  hat  der  moderne  relativistisch  eingeschulte  Historiker, 
der  die  Epoche,  von  der  er  spricht,  einerseits  „aus  ihr  selbst  verstehen", 
andererseits  doch  auch  „beurteilen"  will,  das  Bedürfnis,  die  Maß- 
stäbe seines  Urteils  „dem  Stoff"  zu  entnehmen,  d.  h.  die  „Idee"  im 
Sinne  des  Ideals  aus  der  „Idee"  im  Sinne  des  „Ideal typus"  heraus- 
wachsen zu  lassen.  Und  das  ästhetische  Reizvolle  eines  solchen 
Verfahrens  verlockt  ihn  lortwährend  dazu,  die  Linie,  wo  beide  sich 
scheiden ,  zu  verwischen  —  eine  Halbheit ,  welche  einerseits  das 
wertende  Urteilen  nicht  lassen  kann,  andererseits  die  Verantwortung 
für  ihre  Urteile  von  sich  abzulehnen  trachtet.  Demgegenüber  ist 
es  aber  eine  elementare  Pflicht  der  wissenschaftlichen 
Selbstkontrolle  und  das  einzige  Mittel  zur  Verhütung  von  Er- 
schleichungen, die  logisch- vergleichende  Beziehung  der  Wirk- 
lichkeit auf  Ideal  typen  im  logischen  Sinne  von  der  wertenden 
Beurteilung  der  Wirklichkeit  aus  Idealen  heraus  scharf  zu 
scheiden.  Ein  „Idealtypus"  in  unserem  Sinne  ist,  wie  noch  einmal 
wiederholt  sein  mag,  etwas  gegenüber  der  wertenden  Beurteilung 


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Max  Weber, 


völlig  indifferentes,  er  hat  mit  irgend  einer  anderen  als  einer  rein 
logischen  „Vollkommenheit''  nichts  zu  tun.  Es  gibt  Idealtypen 
von  Bordellen  so  gut  wie  von  Religionen,  und  es  gibt  von  den 
ersteren  sowohl  Idealtypen  von  solchen,  die  vom  Standpunkt  der 
heutigen  Polizeiethik  aus  technisch  „zweckmäßig"  erscheinen  würden, 
wie  von  solchen,  bei  denen  das  gerade  Gegenteil  der  Fall  ist. 

Notgedrungen  muß  hier  die  eingehende  Erörterung  des  weitaus 
kompliziertesten  und  interessantesten  Falles:  die  Frage  der  logi- 
schen Struktur  des  Staat sbegri fies,  beiseite  bleiben.   Nur  folgendes 
sei  dazu  bemerkt:  Wenn  wir  fragen,  was  in  der  empirischen  Wirk- 
lichkeit dem  Gedanken  „Staat"  entspricht,  so  finden  wir  eine  Un- 
endlichkeit diffuser  und  diskreter  menschlicher  Handlungen  und 
Duldungen,  faktischer  und  rechtlich  geordneter  Beziehungen,  teils 
einmaligen  teils  regelmäßig  wiederkehrenden  Charakters,  zusammen- 
gehalten durch  eine  Idee,  den  Glauben  an  tatsächlich  geltende  oder 
gelten  sollende  Normen  und  Herrschaftsverhältnisse  von  Menschen 
über  Menschen.    Dieser  Glaube  ist  teils  gedanklich  entwickelter 
geistiger  Besitz,  teils  dunkel  empfunden,  teils  passiv  hingenommen 
und  auf  das  mannigfaltigste  abschattiert  in  den  Köpfen  der  ein- 
zelnen vorhanden,  welche,  wenn  sie  die  „Idee"  wirklich  selbst  klar 
als  solche  dächten,  ja  nicht  erst  der  „allgemeinen  Staatslehre" 
bedürften,  die  sie  entwickeln  will.    Der  wissenschaftliche  Staats- 
begriff, wie  immer  er  formuliert  werde,  ist  nun  natürlich  stets  eine 
Synthese,  die  wir  zu  bestimmten  Erkenntniszwecken  vornehmen. 
Aber  er  ist  andererseits  auch  abstrahiert  aus  den  unklaren  Syn- 
thesen, welche  in  den  Köpfen  der  historischen  Menschen  vorge- 
funden werden.     Der  konkrete  Inhalt  aber,  den  der  historische 
„Staat"  in  jenen  Synthesen  der  Zeitgenossen  annimmt,  kann  wiederum 
nur  durch  Orientierung  an  idealtypischen  Begriffen  zur  Anschauung 
gebracht  werden.    Und  ferner  unterliegt  es  nicht  dem  mindesten 
Zweifel,  daß  die  Art,  wie  jene  Synthesen,  in  logisch  stets  unvoll- 
kommener Form,  von  den   Zeitgenossen  vollzogen  werden,  die 
„Ideen"  die  s  i  e  sich  vom  Staat  machen,  —  die  deutsche  „organische" 
Staatsmetaphysik  z.  B.  im  Gegensatz  zu  der  „geschäftlichen"  ameri- 
kanischen Auffassung,  —  von  eminenter  praktischer  Bedeutung  ist, 
daß  mit  anderen   Worten   auch    hier  die   als  geltensollend  oder 
geltend  geglaubte  praktische  Idee  und  der  zu  Erkenntnis- 
zwecken konstruierte  theoretische  Ideal  typus  nebeneinander  her- 
laufen und  die  stete  Neigung  zeigen,  ineinander  überzugehen.  — 
Wir  hatten  oben  absichtlich  den  „Idealtypus"  wesentlich  — 


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Die  „Objektivität"  sozialwisscnschaftlichcr  und  sozialpolitischer  Erkenntnis.  75 

wenn  auch  nicht  ausschließlich  —  als  gedankliche  Konstruktion 
zur  Messung  und  systematischen  Charakterisierung  von  indivi- 
duellen, d.  h.  in  ihrer  Einzigartigkeit  bedeutsamen  Zusammen- 
hängen —  wie  Christentum,  Kapitalismus  usw.  —  betrachtet.  Dies 
geschah,  um  die  landläufige  Vorstellung  zu  beseitigen,  als  ob  auf 
dem  Gebiet  der  Kulturerscheinungen  das  abstrakt  Typische 
mit  dem  abstrakt  Gattungsmäßigen  identisch  sei.  Das  ist 
nicht  der  Fall.  Ohne  den  viel  erörterten  und  durch  Mißbrauch 
stark  diskreditierten  Begriff  des  „typischen"  hier  prinzipiell  analy- 
sieren zu  können,  entnehmen  wir  doch  schon  unserer  bisherigen 
Erörterung,  daß  die  Bildung  von  Typenbegriffen  im  Sinn  der 
Ausscheidung  des  „Zufalligen"  auch  und  gerade  bei  histo- 
rischen Individuen  ihre  Stätte  findet.  Nun  aber  können 
natürlich  auch  diejenigen  Gattungsbegriffe,  die  wir  fortwährend 
als  Bestandteile  historischer  Darstellungen  und  konkreter  histo- 
rischer Begriffe  finden,  durch  Abstraktion  und  Steigerung  bestimmter 
ihnen  begriffswesentlicher  Elemente  als  Idealtypen  geformt  werden. 
Dies  ist  sogar  ein  praktisch  besonders  häufiger  und  wichtiger  An- 
wendungsfall der  idealtypischen  Begriffe  und  jeder  individuelle 
Idealtypus  setzt  sich  aus  begrifflichen  Elementen  zusammen,  die 
gattungsmäßig  sind  und  als  Idealtypen  geformt  worden  sind.  Auch 
in  diesem  Falle  zeigt  sich  aber  die  spezifische  logische  Funktion 
der  idealtypischen  Begriffe.  Ein  einfacher  Gattungsbegriff  im  Sinne 
eines  Komplexes  von  Merkmalen,  die  an  mehreren  Erscheinungen 
gemeinsam  sich  vorfinden,  ist  z.  B.  der  Begriff  des  „Tausches",  so 
lange  ich  von  der  B  e  d  e  u  t  u  n  g  der  Begriffsbestandteile  absehe,  also 
einfach  den  Sprachgebrauch  des  Alltags  analysiere.  Setze  ich  diesen 
Begriff  nun  aber  etwa  zu  dem  „Grenznutzgesetz"  in  Beziehung  und 
bilde  der  Begriff  des  „ökonomischen  Tausches"  als  eines  ökonomisch 
rationalen  Vorgangs,  dann  enthält  dieser,  wie  jeder  logisch 
voll  entwickelte,  Begriff  ein  Urteil  über  die  „typischen"  Bedin- 
gungen des  Tausches  in  sich.  Er  nimmt  genetischen  Charakter 
an  und  wird  damit  zugleich  im  logischen  Sinn  idealtypisch, 
d.  h.  er  entfernt  sich  von  der  empirischen  Wirklichkeit,  die  nur 
mit  ihm  verglichen,  auf  ihn  bezogen  werden  kann.  Ahnliches 
gilt  von  allen  sogenannten  „Grundbegriffen"  der  Nationalökonomie : 
sie  sind  in  genetischer  Form  nur  als  Idealtypen  zu  entwickeln. 
Der  Gegensatz  zwischen  einfachen  Gattungsbegriffen,  welche  ledig- 
lich das  empirischen  Erscheinungen  Gemeinsame  zusammen- 
fassen, und  gattungsmäßigen  Ideal  typen  —  wie  etwa  eines  ideal- 


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76 


Max  Weber, 


typischen  Begriffs  des  „Wesens"  des  Handwerks  —  ist  natürlich  im 
einzelnen  flüssig.  Aber  kein  Gattungsbegriff  hat  als  solcher 
„typischen"  Charakter  und  einen  reinen  gattungsmäßigsn  „Durch- 
schnitts"^ y  p  u  s  gibt  es  nicht.  Wo  immer  wir  —  z.  B.  in  der 
Statistik  —  von  „typischen"  Größen  reden,  liegt  mehr  als  ein 
bloßer  Durchschnitt  vor.  Je  mehr  es  sich  um  einfache  Klassi- 
fikation von  Vorgängen  handelt,  die  als  Massenerscheinungen  in 
der  Wirklichkeit  auftreten,  desto  mehr  handelt  es  sich  um  G  a  t  - 
t  u  n  g  s  begriffe,  je  mehr  dagegen  komplizierte  historische  Zusammen- 
hänge in  denjenigen  ihrer  Bestandteile,  auf  welchen  ihre  spezifische 
Kulturbedeutung  ruht,  begrifflich  geformt  werden,  desto  mehr 
wird  der  Begriff  —  oder  das  Begriffssystem  —  den  Charakter  des 
Ideal  typus  an  sich  tragen.  Denn  Zweck  der  ideal  typischen 
Begriffsbildung  ist  es  überall,  nicht  das  Gattungsmäßige,  sondern 
umgekehrt  die  Eigenart  von  Kulturerscheinungen  scharf  zum  Be- 
wußtsein zu  bringen. 

Die  Tatsache,  daß  Idealtypen  auch  gattungsmäßige  verwendet 
werden  können  und  verwendet  werden,  bietet  methodisches 
Interesse  erst  im  Zusammenhang  mit  einem  anderen  Tatbestand. 

Bisher  haben  wir  die  Idealtypen  wesentlich  nur  als  abstrakte 
Begriffe  von  Zusammenhängen  kennen  gelernt,  welche  als  im  Fluß 
des  Geschehens  verharrend,  als  historische  Individuen,  an  denen 
sich  Entwicklungen  vollziehen,  von  uns  vorgestellt  werden.  Nun 
aber  tritt  eine  Komplikation  ein,  welche  das  naturalistische  Vor- 
urteil, daß  das  Ziel  der  Sozialwissenschaften  die  Reduktion  der 
Wirklichkeit  auf  „Gesetze"  sein  müsse,  mit  Hilfe  des  Begriffes 
des  „Typischen"  außerordentlich  leicht  wieder  hereinpraktiziert. 
Auch  Entwicklungen  lassen  sich  nämlich  als  Idealtypen  kon- 
struieren und  diese  Konstruktionen  können  ganz  erheblichen  heu- 
ristischen Wert  haben.  Aber  es  entsteht  dabei  in  ganz  besonders 
hohem  Maße  die  Gefahr,  daß  Idealtypus  und  Wirklichkeit  ineinander 
geschoben  werden.  Man  kann  z.  B.  zu  dem  theoretischen  Ergebnis 
gelangen,  daß  in  einer  streng  „handwerksmäßig"  organisierten 
Gesellschaft  die  einzige  Quelle  der  Kapitalakkumulation  die  Grund- 
rente sein  könne.  Daraus  kann  man  dann  vielleicht  —  denn  die 
Richtigkeit  der  Konstruktion  wäre  hier  nicht  zu  untersuchen  —  ein 
rein  durch  bestimmte  einfache  Faktoren :  —  begrenzter  Boden,  steigende 
Volkszahl,  Edelmetallzufluß,  Rationalisierung  der  Lebensführung,  — 
bedingtes  Idealbild  einer  Umbildung  der  handwerksmäßigen  in  die 
kapitalistische  Wirtschaftsform  konstruieren.    Ob   der  empirisch- 


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Die  „Objektivität"  sozialwissenschaftlicher  und  sozialpolitischer  F.rkcnntnis.  77 

historische  Verlauf  der  Entwicklung  tatsächlich  der  konstruierte 
gewesen  ist,  wäre  nun  erst  mit  Hilfe  dieser  Konstruktion  als  heuristi- 
schem Mittel  zu  untersuchen  im  Wege  der  Vergleichung  zwischen 
Idealtypus  und  „Tatsachen".  War  der  Idealtypus  „richtig"  konstruiert 
und  entspricht  der  tatsächliche  Verlauf  dem  idealtypischen  nicht, 
so  wäre  damit  der  Beweis  geliefert,  daß  die  mittelalterliche  Gesell- 
schaft eben  in  bestimmten  Beziehungen  keine  streng  „handwerks- 
mäßige" war.  Und  wenn  der  Idealtypus  in  heuristisch  „idealer" 
Weise  konstruiert  war,  —  ob  und  wie  dies  in  unserem  Beispiel 
der  Fall  sein  könnte,  bleibt  hier  gänzlich  außer  Betracht,  —  dann 
wird  er  zugleich  die  Forschung  auf  den  Weg  lenken,  der  zu  einer 
schärferen  Erfassung  jener  nicht  handwerksmäßigen  Bestandteile  der 
mittelalterlichen  Gesellschaft  in  ihrer  Eigenart  und  historischen  Be- 
deutung führt.  Er  hat,  wenn  er  zu  diesem  Ergebnis  fuhrt,  seinen 
logischen  Zweck  erfüllt,  gerade  indem  er  seine  eigene  U  n  Wirklich- 
keit manifestierte.  Er  war  —  in  diesem  Fall  —  die  Erprobung 
einer  Hypothese.  Der  Vorgang  bietet  keinerlei  methodologische 
Bedenken,  so  lange  man  sich  stets  gegenwärtig  hält,  daß  ideal- 
typische Entwicklungskonstruktion  und  Geschichte  zwei 
streng  zu  scheidende  Dinge  sind  und  daß  die  Konstruktion  hier 
lediglich  das  Mittel  war,  planvoll  die  gültige  Zurechnung  eines 
historischen  Vorganges  zu  seinen  wirklichen  Ursachen  aus  dem 
Kreise  der  nach  Lage  unserer  Erkenntnis  möglichen  zu  vollziehen. 

Diese  Scheidung  streng  aufrecht  zu  erhalten  wird  nun  erfahrungs- 
gemäß durch  einen  Umstand  oft  ungemein  erschwert.  Im  Interesse 
der  anschaulichen  Demonstration  des  Idealtypus  oder  der  ideal- 
typischen Entwicklung  wird  man  sie  durch  Anschauungsmaterial 
aus  der  empirischhistorischen  Wirklichkeit  zu  verdeutlichen 
suchen.  Die  Gefahr  dieses  an  sich  ganz  legitimen  Verfahrens  liegt 
darin,  daß  das  geschichtlich  Wissen  hier  einmal  als  Diener 
der  Theorie  erscheint  statt  umgekehrt.  Die  Versuchung  liegt  für 
den  Theoretiker  recht  nahe,  dieses  Verhältnis  entweder  als  das  nor- 
male anzusehen,  oder,  was  schlimmer  ist,  Theorie  und  Geschichte 
ineinander  zu  schieben  und  geradezu  miteinander  zu  verwechseln. 
In  noch  gesteigertem  Maße  liegt  dieser  Fall  dann  vor,  wenn  die 
Idealkonstruktion  einer  Entwicklung  mit  der  begrifflichen  Klassi- 
fikation von  Idealtypen  bestimmter  Kulturgebilde  (z.  B.  der  gewerb- 
lichen Betriebsformen  von  der  „geschlossenen  Hauswirtschaft"  aus- 
gehend, oder  etwa  der  religiösen  Begriffe,  von  den  „Augenblicks- 
göttern" anfangend),  zu  einer  genetischen  Klassifikation  ineinander 


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78  Max  Weber, 

gearbeitet  wird.  Die  nach  den  gewählten  Begriffsmerkmalen  sich 
ergebende  Reihenfolge  der  Typen  erscheint  dann  als  eine  gesetzlich 
notwendige  historische  Aufeinanderfolge  derselben.  Logische  Ord- 
nung der  Begriffe  einerseits  und  empirische  Anordnung  des  Be- 
griffenen in  Raum,  Zeit  und  ursächlicher  Verknüpfung  andererseits 
erscheinen  dann  so  miteinander  verkittet,  daß  die  Versuchung,  der 
Wirklichkeit  Gewalt  anzutun,  um  die  reale  Geltung  der  Konstruktion 
in  der  Wirklichkeit  zu  erhärten,  fast  unwiderstehlich  wird. 

Absichtlich  ist  es  vermieden  worden,  an  dem  für  uns  weitaus 
wichtigsten  Fall  idealtypischer  Konstruktionen  zu  demonstrieren :  an 
Marx.  Es  geschah,  um  die  Darstellung  nicht  durch  Hineinziehen 
von  Marx-Interpretationen  noch  zu  komplizieren  und  um  den  Er- 
örterungen in  unserer  Zeitschrift,  welche  die  Literatur,  die  über 
und  im  Anschluß  an  den  großen  Denker  erwächst,  zum  regel- 
mäßigen Gegenstand  kritischer  Analyse  machen  wird,  nicht  vor- 
zugreifen. Daher  sei  hier  nur  konstatiert,  daß  natürlich  alle  spezifisch- 
marxistischen „Gesetze"  und  Entwicklungskonstruktionen  —  soweit 
sie  theoretisch  fehlerfrei  sind  —  idealtypischen  Charakter  haben. 
Die  eminente,  ja  einzigartige  heuristische  Bedeutung  dieser 
Idealtypen ,  wenn  man  sie  zur  Ve  r  g  1  e  i  c  h  u  n  g  der  Wirklichkeit 
mit  ihnen  benutzt  und  ebenso  ihre  Gefährlichkeit,  sobald  sie  als  em- 
pirisch geltend  oder  gar  als  reale  (d.  h.  in  Wahrheit  metaphysische) 
„wirkende  Kräfte",  „Tendenzen"  usw.  vorgestellt  werden,  kennt 
jeder,  der  je  mit  marxistischen  Begriffen  gearbeitet  hat. 

Gattungsbegriffe  —  Idealtypen  —  idealtypische  Gattungs- 
begriffe, —  Ideen  im  Sinne  von  empirisch  in  historischen  Menschen 
wirksamen  Gedankenverbindungen  —  Idealtypen  solcher  Ideen  — 
Ideale,  welche  historische  Menschen  beherrschen  —  Idealtypen  solcher 
Ideale  —  Ideale,  auf  welche  der  Historiker  die  Geschichte  bezieht ;  — 
theoretische  Konstruktionen  unter  illustrativer  Benutzung 
des  Empirischen  —  geschichtliche  Untersuchnng  unter  Benutzung 
der  theoretischen  Begriffe  als  idealer  Grcnzfalle,  —  dazu  dann  die 
verschiedenen  möglichen  Konplikationen,  die  hier  nur  angedeutet 
werden  konnten :  lauter  gedankliche  Bildungen,  deren  Verhältnis  zur 
empirischen  Wirklichkeit  des  unmittelbar  Gegebenen  in  jedem  ein- 
zelnen Fall  problematisch  ist:  —  diese  Musterkarte  allein  zeigt 
schon  die  unendliche  Vcrschlungenheit  der  begrifflich-methodischen 
Probleme,  welche  auf  dem  Gebiet  der  Kulturwissenschaften  fort- 
während lebendig  bleiben.  Und  wir  mußten  uns  schlechthin  ver- 
sagen, auf  die  praktisch  methodologischen  Fragen  hier,  wo  die  Pro- 


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Die  „Objektivität"  sozialwissenschaftlicher  und  sozialpolitischer  Erkenntnis.  yg 


bleme  nur  gezeigt  werden  sollten,  ernstlich  einzugehen,  die  Be- 
ziehungen der  idealtypischen  zur  „gesetzlichen"  Erkenntnis,  der 
idealtypischen  Begriffe  zu  den  Kollektivbegriffen  usw.  eingehender 
zu  erörtern.  — 

Der  Historiker  wird  nach  allen  diesen  Auseinandersetzungen 
doch  immer  wieder  darauf  beharren,  daß  die  Herrschaft  der  ideal- 
typischen Form  der  Begriffsbildung  und  Konstruktion  spezifische 
Symptome  der  Jugendlichkeit  einer  Disziplin  seien.  Und 
darin  ist  ihm  in  gewissem  Sinne  recht  zu  geben,  freilich  mit 
anderen  Konsequenzen,  als  er  sie  ziehen  wird.  Nehmen  wir  ein 
paar  Beispiele  aus  anderen  Disziplinen.  Es  ist  gewiß  wahr:  der 
geplagte  Quartaner  ebenso  wie  der  primitive  Philologe  stellt  sich 
zunächst  eine  Sprache  „organisch",  d.h.  als  ein  von  Normen 
beherrschtes  überempirisches  Ganzes  vor,  die  Aufgabe  der  Wissen- 
schaft aber  als  die:  festzustellen,  was  —  als  Sprachregel  —  gelten 
solle.  Die  „Schriftsprache"  logisch  zu  bearbeiten  wie  etwa  die 
Crusca  es  tat,  ihren  Gehalt  auf  Regeln  zu  reduzieren,  ist  die 
normalerweise  erste  Aufgabe,  welche  sich  eine  „Philologie"  stellt. 
Und  wenn  demgegenüber  heute  ein  führender  Philologe  das 
„Sprechen  jedes  einzelnen"  als  Objekt  der  Philologie  prokla- 
miert, so  ist  selbst  die  Aufstellung  eines  solchen  Programms  nur  mög- 
lich, nachdem  in  der  Schriftsprache  ein  relativ  fester  Idealtypus 
vorliegt,  mit  welchem  die  sonst  gänzlich  orienticrungs-  und  uferlose 
Durchforschung  der  unendlichen  Mannigfaltigkeit  des  Sprechens 
(mindestens  stillschweigend)  operieren  kann.  —  Und  nicht 
anders  funktionierten  die  Konstruktionen  der  naturrechtlichen  und  der 
organischen  Staatstheorien,  oder  etwa  —  um  an  einen  Idealtypus  in 
unserm  Sinn  zu  erinnern  —  die  Benjamin  Constantsche  Theorie  des 
antiken  Staats,  gewissermaßen  als  Nothäfen,  bis  man  gelernt  hatte, 
sich  auf  dem  ungeheueren  Meere  der  empirischen  Tatsachen  zu- 
rechtzufinden. Die  reif  werdende  Wissenschaft  bedeutet  also  in 
der  Tat  immer  Üb  erwindung  des  Idealtypus,  sofern  er  als  em- 
pirisch geltend  oder  als  Gattungsbegriff,  gedacht  wird.  Allein 
nicht  nur  ist  z.  B.  die  Benutzung  der  geistvollen  Constantschen 
Konstruktion  zur  Demonstration  gewisser  Seiten  und  historischer 
Eigenarten  antiken  Staatslebens  noch  heute  ganz  legitim,  sobald 
man  sorgsam  ihren  idealtypischen  Charakter  festhält.  Sondern  vor 
allem:  es  gibt  Wissenschaften,  denen  ewige  Jugendlichkeit  be- 
schieden ist,  und  das  sind  alle  historischen  Disziplinen,  alle 
die,  denen   der  ewig  fortschreitende  Fluß  der  Kultur  stets  neue 


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So 


Max  Weber, 


Problemstellungen  zufuhrt.  Bei  ihnen  liegt  die  Vergänglichkeit 
aller,  aber  zugleich  die  Unvermeidlichkeit  immer  neuer  ideal- 
typischer  Konstruktionen  im  Wesen  der  Aufgabe. 

Stets  wiederholen  sich  die  Versuche,  den  „eigentlichen", 
„wahren"  Sinn  historischer  Begriffe  festzustellen,  und  niemals  ge- 
langen sie  zu  Ende.  Ganz  regelmäßig  bleiben  infolgedessen  die 
Synthesen,  mit  denen  die  Geschichte  fortwährend  arbeitet,  ent- 
weder nur  relativ  bestimmte  Begriffe,  oder,  sobald  Eindeutigkeit 
des  Begriffsinhaltes  erzwungen  werden  soll,  wird  der  Begriff  zum 
abstrakten  Idealtypus  und  enthüllt  sich  damit  als  ein  theoretischer, 
also  „einseitiger"  Gesichtspunkt,  unter  dem  die  Wirklichkeit  be- 
leuchtet, auf  den  sie  bezogen  werden  kann,  der  aber  zum  Schema, 
in  das  "  sie  restlos  eingeordnet  werden  könnte,  sich  selbstver- 
ständlich als  ungeeignet  erweist.  Denn  keines  jener  Gedanken- 
Systeme,  deren  wir  zur  Erfassung  der  jeweils  bedeutsamen  Bestand- 
teile der  Wirklichkeit  nicht  entraten  können,  kann  ja  ihren  unend- 
lichen Reichtum  erschöpfen.  Keins  ist  etwas  anderes  als  der  Ver- 
such, auf  Grund  des  jeweiligen  Standes  unseres  Wissens  und  der 
uns  jeweils  zur  Verfügung  stehenden  begrifflichen  Gebilde,  Ord- 
nung in  das  Chaos  derjenigen  Tatsachen  zu  bringen,  welche  wir  in 
den  Kreis  unseres  Interesses  jeweils  einbezogen  haben.  Der 
Gedankenapparat,  welchen  die  Vergangenheit  durch  denkende  Be- 
arbeitung, das  heißt  aber  in  Wahrheit:  denkende  Umbildung  der 
unmittelbar  gegebenen  Wirklichkeit  und  durch  Einordnung  in  die- 
jenigen Begriffe,  die  dem  Stande  ihrer  Erkenntnis  und  der  Rich- 
tung ihres  Interesses  entsprachen,  entwickelt  hat,  steht  in  steter 
Auseinandersetzung  mit  dem,  was  wir  an  neuer  Erkenntnis  aus  der 
Wirklichkeit  gewinnen  können  und  wollen.  In  diesem  Kampf 
vollzieht  sich  der  Fortschritt  der  kulturwissenschaftlichen  Arbeit. 
Ihr  Ergebnis  ist  ein  steter  Umbildungsprozeß  jener  Begriffe,  in  denen 
wir  die  Wirklichkeit  zu  erfassen  suchen.  Die  Geschichte  der  Wissen- 
schaften vom  sozialen  Leben  ist  und  bleibt  daher  ein  steter  Wechsel 
zwischen  dem  Versuch,  durch  Begriffsbildung  Tatsachen  gedanklich 
zu  ordnen,  —  der  Auflösung  der  so  gewonnenen  Gedankenbilder 
durch  Erweiterung  und  Verschiebung  des  wissenschaftlichen  Hori- 
zontes, —  und  der  Neubildung  von  Begriffen  auf  der  so  veränderten 
Grundlage.  Nicht  etwa  das  Fehlerhafte  des  Versuchs,  Begriffs- 
systeme überhaupt  zu  bilden ,  spricht  sich  darin  aus :  —  eine 
jede  Wissenschaft,  auch  die  einfach  darstellende  Geschichte,  arbeitet 
mit  dem  Begriffsvorrat  ihrer  Zeit  —  sondern  der  Umstand  kommt 


Die  „Objektivität"  sozialwissenschaftlicher  und  sozialpolitischer  Erkenntnis.  8! 

darin  zum  Ausdruck,  daß  in  den  Wissenschaften  von  der  mensch- 
lichen Kultur  die  Bildung  der  Begriffe  von  der  Stellung  der  Pro- 
bleme abhängt,  und  daß  diese  letztere  wandelbar  ist  mit  dem  Inhalt 
der  Kultur  selbst.  Das  Verhältnis  von  Begriff  und  Begriffenen  in 
den  Kulturwissenschaften  bringt  die  Vergänglichkeit  jeder  solchen 
Synthese  mit  sich.  Große  begriffliche  Konstruktionsversuche  haben 
auf  dem  Gebiet  unserer  Wissenschaft  ihren  Wert  regelmäßig  gerade 
darin  gehabt,  daß  sie  die  Schranken  der  Bedeutung  desjenigen 
Gesichtspunktes,  der  ihnen  zugrunde  lag,  enthüllten.  Die  weit- 
tragendsten Fortschritte  auf  dem  Gebiet  der  Sozialwissenschaften 
knüpfen  sich  sachlich  an  die  Verschiebung  der  praktischen  Kul- 
turprobleme und  kleiden  sich  in  die  Form  einer  Kritik  der  Be- 
griffsbildung. Es  wird  zu  den  vornehmsten  Aufgaben  unserer  Zeit- 
schrift gehören,  dem  Zweck  dieser  Kritik  und  damit  der  Unter- 
suchung der  Prinzipien  der  Synthese  auf  dem  Gebiet  der 
Sozialwissenschaft  zu  dienen.  — 

Bei  den  Konsequenzen,  die  aus  dem  Gesagten  zu  ziehen  sind, 
gelangen  wir  nun  an  einen  Punkt,  wo  unsere  Ansichten  sich  viel- 
leicht hier  und  da  von  denen  mancher,  auch  hervorragender,  Ver- 
treter der  historischen  Schule,  zu  deren  Kindern  wir  ja  selbst  ge- 
hören, scheiden.  Diese  letzteren  nämlich  verharren  vielfach  ausdrück- 
lich oder  stillschweigend  in  der  Meinung,  es  sei  das  Endziel,  der 
Zweck,  jeder  Wissenschaft,  ihren  Stoff  in  einem  System  von  Be- 
griffen zu  ordnen,  deren  Inhalt  durch  Beobachtung  empirischer 
Regelmäßigkeiten,  Hypothescnbildung  und  Verifikation  derselben 
zu  gewinnen  und  langsam  zu  vervollkommnen  sei,  bis  irgend  wann 
eine  „vollendete"  und  deshalb  deduktive  Wissenschaft  daraus 
entstanden  sei.  Für  dieses  Ziel  sei  die  historisch-induktive  Arbeit 
der  Gegenwart  eine  durch  die  Unvollkommenheit  unserer  Disziplin 
bedingte  Vorarbeit :  nichts  muß  naturgemäß  vom  Standpunkt  dieser 
Betrachtungsweise  aus  bedenklicher  erscheinen,  als  die  Bildung  und 
Verwendung  scharfer  Begriffe,  die  ja  jenes  Ziel  einer  fernen  Zukunft 
voreilig  vorweg  zu  nehmen  trachten  müßte.  —  Prinzipiell  unanfecht- 
bar wäre  diese  Auffassung  auf  dem  Boden  der  antik-scholastischen 
Erkenntnislehre,  welche  denn  auch  der  Masse  der  Spezialarbeiter 
der  historischen  Schule  noch  tief  im  Blute  steckt:  Als  Zweck  der 
Begriffe  wird  vorausgesetzt,  vorstellungsmäßige  Abbilder  der  „ob- 
jektiven" Wirklichkeit  zu  sein:  daher  der  immer  wiederkehrende 
Hinweis  auf  die  U  n  w  i  r  k  1  i  c  h  k  e  i  t  aller  scharfen  Begriffe.  Wer  den 
Grundgedanken  der  auf  Kant  zurückgehenden  modernen  Erkcnntnis- 

Archir  für  Soziatwissenschaft  u.  Sozialpolitik.  I.    (A.  f.  %oz.  G.  u.  St.  XIX.)  i.  6 


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82 


Max  Weber, 


lehre :  daß  die  Begriffe  vielmehr  gedankliche  Mittel  zum  Zweck  der 
geistigen  Beherrschung  des  empirisch  Gegebenen  sind  und  allein  sein 
können,  zu  Ende  denkt,  dem  wird  der  Umstand,  daß  scharfe  genetische 
Begriffe  notwendig  Ideal  typen  sind,  nicht  gegen  die  Bildung  von 
solchen  sprechen  können.  Ihm  kehrt  sich  das  Verhältnis  von  Be- 
griff und  historischer  Arbeit  um :  Jenes  Endziel  erscheint  ihm  logisch 
unmöglich,  die  Begriffe  nicht  Ziel,  sondern  Mittel  zum  Zweck  der 
Erkenntnis  der  unter  individuellen  Gesichtspunkten  bedeutsamen 
Zusammenhänge:  gerade  weil  die  Inhalte  der  historischen  Be- 
griffe notwendig  wandelbar  sind,  müssen  sie  jeweils  notwendig 
scharf  formuliert  werden.  Er  wird  nur  das  Verlangen  stellen,  daß 
bei  ihrer  Verwendung  stets  ihr  Charakter  als  idealer  Gedanken- 
gebilde sorgsam  festgehalten,  Idealtypus  und  Geschichte  nicht  ver- 
wechselt werde.  Er  wird,  da  wirklich  definitive  historische  Begriffe 
bei  dem  unvermeidlichen  Wechsel  der  leitenden  Wertideen  als 
generelles  Endziel  nicht  in  Betracht  kommen,  glauben,  daß  eben 
dadurch,  daß  für  den  einzelnen,  jeweils  leitenden  Gesichtspunkt, 
scharfe  und  eindeutige  Begriffe  gebildet  werden,  die  Möglichkeit 
gegeben  sei,  die  Schranken  ihrer  Geltung  jeweils  klar  im  Be- 
wußtsein zu  behalten. 

Man  wird  nun  darauf  hinweisen,  und  wir  haben  es  selbst  zu- 
gegeben, daß  ein  konkreter  historischer  Zusammenhang  im  einzelnen 
Fall  sehr  wohl  in  seinem  Ablauf  anschaulich  gemacht  werden 
könne,  ohne  daß  er  fortwährend  mit  definierten  Begriffen  in  Be- 
ziehung gesetzt  werde.  Und  man  wird  demgemäß  für  den  Histo- 
riker unserer  Disziplin  in  Anspruch  nehmen,  daß  er  ebenso,  wie 
man  dies  von  dem  politischen  Historiker  gesagt  hat,  die  „Sprache 
des  Lebens"  reden  dürfe.  Gewiß!  Nur  ist  dazu  zu  sagen,  daß  es 
bei  diesem  Verfahren  bis  zu  einem  oft  sehr  hohen  Grade  not- 
wendig Zufall  bleibt,  ob  der  Gesichtspunkt,  unter  welchem  der  be- 
handelte Vorgang  Bedeutung  gewinnt,  zu  klarem  Bewußtsein  ge- 
langt. Wir  sind  im  allgemeinen  nicht  in  der  günstigen  Lage  des 
politischen  Historikers,  bei  welchem  die  Kulturinhalte,  auf  die  er 
seine  Darstellung  bezieht,  regelmäßig  eindeutig  sind  —  oder  zu  sein 
scheinen.  Jeder  nur  anschaulichen  Schilderung  haftet  die  Eigenart 
der  Bedeutung  künstlerischer  Darstellung  an:  „Ein  jeder  sieht, 
was  er  im  Herzen  trägt,"  —  gültige  Urteile  setzen  überall  die 
logische  Bearbeitung  des  Anschaulichen,  das  heißt  die  Verwen- 
dung von  Begriffen  voraus,  und  es  ist  zwar  möglich  und  oft 
ästhetisch  reizvoll ,  diese  in  petto  zu  behalten ,  aber  es  gefährdet 


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Die  „Objektivität"  sozialwissenschafllicher  und  sozialpolitischer  Erkenntnis.  83 


stets  die  Sicherheit  der  Orientierung  des  Lesers,  oft  die  des  Schrift- 
stellers selbst,  über  Inhalt  und  Tragweite  seiner  Urteile. 

Ganz  hervorragend  gefährlich  aber  kann  nun  die  Unterlassung 
scharfer  BegrifTsbildung  für  praktische,  wirtschafts-  und  sozial- 
politische Erörterungen  werden.  Was  hier  z.  B.  die  Verwendung 
des  Terminus  „Wert"  —  jenes  Schmerzenskindes  unserer  Disziplin, 
welchem  eben  nur  idealtypisch  irgend  ein  eindeutiger  Sinn  gegeben 
werden  kann  — ,  oder  Worte  wie  „produktiv",  „vom  volkswirt- 
schaftlichen Standpunkt"  usw.,  die  überhaupt  keiner  begrifflich  klaren 
Analyse  standhalten,  für  Verwirrung  gestiftet  haben,  ist  für  den 
Außenstehenden  geradezu  unglaublich.  Und  zwar  sind  es  hier  vor- 
nehmlich die  der  Sprache  des  Lebens  entnommenen  Kollektiv- 
begriffe  welche  Unsegen  stiften.  Man  nehme,  um  ein  für  den  Laien 
möglichst  durchsichtiges  Schulbeispiel  herauszugreifen,  den  Begriff 
„Landwirtschaft",  wie  er  in  der  Wortverbindung  „Interessen  der 
Landwirtschaft"  auftritt.  Nehmen  wir  zunächst  die  „Interessen  der 
Landwirtschaft"  als  die  empirisch  konstatierbaren  mehr  oder  minder 
klaren  subjektiven  Vorstellungen  der  einzelnen  wirtschaftenden 
Individuen  von  ihren  Interessen,  und  sehen  wir  dabei  ganz  und  gar 
von  den  unzähligen  Konflikten  der  Interessen  viehzüchtender,  vieh- 
mästender, kornbauender,  kornverfutternder,  schnapsdestillierender  etc. 
Landwirte  hier  ab,  so  kennt  zwar  nicht  jeder  Laie,  aber  doch  jeder 
Fachmann  den  gewaltigen  Knäuel  von  durch-  und  gegeneinander 
laufenden  Wertbeziehungen,  der  darunter  unklar  vorgestellt  wird. 
Wir  wollen  hier  nur  einige  wenige  aufzählen :  Interessen  von  I^and- 
wirten,  welche  ihr  Gut  verkaufen  wollen  und  deshalb  lediglich  an 
einer  schnellen  Hausse  des  Bodenpreises  interessiert  sind;  das  ge- 
rade entgegengesetzte  Interesse  von  solchen,  die  sich  ankaufen, 
arrondieren  oder  pachten  wollen;  das  Interesse  derjenigen,  die  ein 
bestimmtes  Gut  ihren  Nachfahren  um  sozialer  Vorteile  willen  zu 
erhalten  wünschen  und  deshalb  an  Stabilität  des  Bodenbesitzes 
interessiert  sind;  —  das  entgegengesetzte  Interesse  solcher,  die  in 
ihrem  und  ihrer  Kinder  Interesse  Bewegung  des  Bodens  in  der 
Richtung  zum  besten  Wirt  oder  —  was  nicht  ohne  weiteres  das- 
selbe ist  —  zum  kapitalkräftigsten  Käufer  wünschen ;  —  das  rein  ökono- 
mische Interesse  der  im  privatwirtschaftlichcn  Sinne  „tüchtigsten 
Wirte"  an  ökonomischer  Bewegungsfreiheit;  —  das  damit  im  Konflikt 
stehende  Interesse  bestimmter  herrschender  Schichten  an  der  Erhaltung 
der  überkommenen  sozialen  und  politischen  Position  des  eigenen 
„Standes"  und  damit  der  eigenen  Nachkommen;  —  das  soziale  der 

6» 


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84 


Max  Weber, 


nicht  herrschenden  Schichten  der  Landwirte  am  Wegfall  jener 
oberen,  ihre  eigene  Position  drückenden  Schichten;  —  ihr  unter 
Umständen  damit  kollidierendes  Interesse,  in  jenen  politische 
Führer  zur  Wahrung  ihrer  Erwerbsinteressen  zu  besitzen;  —  die 
Liste  könnte  noch  gewaltig  vermehrt  werden,  ohne  ein  Ende  zu 
finden,  obwohl  wir  so  summarisch  und  unpräzis  wie  nur  möglich 
verfahren  sind.  Daß  sich  mit  den  mehr  „egoistischen"  Interessen 
dieser  Art  die  verschiedensten  rein  idealen  Werte  mischen,  ver- 
binden, sie  hemmen  und  ablenken  können,  übergehen  wir,  um  uns 
vor  allem  zu  erinnern ,  daß ,  wenn  wir  von  „Interessen  der  Land- 
wirtschaft" reden,  wir  regelmäßig  nicht  nur  an  jene  materiellen 
und  idealen  Werte  denken,  auf  welche  die  jeweiligen  Landwirte 
selbst  ihre  „Interessen"  beziehen,  sondern  daneben  an  die  zum  Teil 
ganz  heterogenen  Wertideen,  auf  welche  wir  die  Landwirtschaft 
beziehen  können,  —  beispielsweise :  Produktionsinteressen,  hergeleitet 
aus  dem  Interesse  billiger  und  dem  damit  nicht  immer  zusammen- 
fallenden Interesse  qualitativ  guter  Ernährung  der  Bevölkerung, 
wobei  die  Interessen  von  Stadt  und  Land  in  den  mannigfachsten 
Kollisionen  liegen  können,  und  wobei  das  Interesse  der  gegenwär- 
tigen Generation  mit  den  wahrscheinlichen  Interessen  künftiger  Gene- 
rationen  keineswegs  identisch  sein  muß;  —  populationistische  Inter- 
essen: insbesondere  Interesse  an  einer  zahlreichen  Landbevölke- 
rung, hergeleitet,  sei  es  aus  Interessen  „des  Staates",  machtpolitischen 
oder  innerpolitischen,  oder  aus  anderen  ideellen  Interessen  von  unter 
sich  verschiedener  Art,  z.  B.  an  dem  erwarteten  Einfluß  einer  zahl- 
reichen Landbevölkerung  auf  die  Kultureigenart  eines  Landes;  — 
dies  populationistische  Interesse  kann  mit  den  verschiedensten  privat- 
wirtschaftlichen Interessen  aller  Teile  der  I^andbevölkerung,  ja  denk- 
barerweise mit  allen  Gegenwartsinteressen  der  Masse  der  Land- 
bevölkerung kollidieren.  Oder  etwa  das  Interesse  an  einer  bestimmten 
Art  der  sozialen  Gliederung  der  Landbevölkerung  wegen 
der  Art  der  politischen  oder  Kultureinflüsse,  die  sich  daraus  er- 
geben: dies  Interesse  kann  je  nach  seiner  Richtung  mit  allen  denk- 
baren, auch  den  dringlichsten  Gegenwarts-  und  Zukunftsinteressen 
der  einzelnen  Landwirte  sowohl  wie  „des  Staates"  kollidieren. 
Und  —  dies  kompliziert  die  Sache  weiter  —  der  „Staat",  auf  dessen 
„Interesse"  wir  solche  und  zahlreiche  andere  ähnliche  Einzelinter- 
essen gern  beziehen,  ist  uns  dabei  ja  oft  nur  Deckadresse  für  ein  in 
sich  höchst  verschlungenes  Knäuel  von  Wertideen,  auf  die  er  seiner- 
seits von  uns  im  einzelnen  Falle  bezogen  wird:  rein  militärische 


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Die  „Objektivität"  sozialwisscnscbaftlicher  und  sozialpolitischer  Erkenntnis. 


Sicherung    nach    außen;    Sicherung   der  Herrscherstellung  einer 
Dynastie  oder  bestimmter  Klassen  nach  innen;  Interesse  an  der 
Erhaltung    und  Erweiterung   der  formal-staatlichen   Einheit  der 
Nation,  um  ihrer  selbst  willen  oder  im  Interesse  der  Erhaltung  be- 
stimmter objektiver,  unter  sich  wieder  sehr  verschiedener  Kultur- 
werte, die  wir  als  staatlich  geeintes  Volk  zu  vertreten  glauben; 
Umgestaltung  des  sozialen  Charakters  des  Staates  im  Sinne  be- 
stimmter, wiederum  sehr  verschiedener  Kulturideale  —  es  würde  zu 
weit  fuhren,  auch  nur  anzudeuten,  was  alles  unter  dem  Sammel- 
namen „staatlicher  Interessen"  läuft,  auf  die  wir  „die  Landwirtschaft" 
beziehen  können.     Das  hier  gewählte  Beispiel   und  noch  mehr 
unsere  summarische  Analyse  sind  plump  und  einfach.    Der  I.aie 
möge  sich  nun  einmal  etwa  den  Begriff  „Klasseninteresse  der  Ar- 
beiter" ähnlich  (und  gründlicher)  analysieren,  um  zu  sehen,  welch 
widerspruchsvoller  Knäuel   teils  von  Interessen  und  Idealen  der 
Arbeiter,  teils  von  Idealen,  unter  denen  w  i  r  die  Arbeiter  betrachten, 
dahinter  steckt.    Es  ist  unmöglich,  die  Schlagworte  des  Interessen- 
kampfes durch  rein  empiristische  Betonung  ihrer  „Relativität"  zu 
überwinden:  klare,  scharfe,  begriffliche  Feststellung  der  verschie- 
denen möglichen  Gesichtspunkte  ist  der  einzige  Weg ,  der  hier 
über  die  Unklarheit  der  Phrase  hinausfuhrt.    Das  „Freihandelsargu- 
ment" als  Weltanschauung  oder  gültige  Norm  ist  eine  Lächer- 
lichkeit, aber  schweren  Schaden  hat  es  für  unsere  handelspolitischen 
Erörterungen  mit  sich  gebracht  —  und   zwar  ganz  gleichgültig, 
welche  handelspolitischen  Ideale  der  einzelne  vertreten  will  — 
daß  wir    die    in    solchen   idealtypischen   Formeln  niedergelegte 
alte  Lebensweisheit  der  größten  Kaufleute  der  Erde  in  ihrem 
heuristischen  Wert  unterschätzt  haben.  Nur  durch  idealtypische  Be- 
grifTsformeln  werden  die  Gesichtspunkte,  die  im  Einzelfalle  in  Be- 
tracht kommen,  in  ihrer  Eigenart  im  Wege  der  Konfrontierung 
des  Empirischen  mit  dem  Idealtypus  wirklich  deutlich.  Der  Gebrauch 
der  undifferenzierten  Kollektivbegriffe,  mit  denen  die  Sprache  des 
Alltags  arbeitet,  ist  stets  Deckmantel  von  Unklarheiten  des  Denkens 
oder  Wollens,  oft  genug  das  Werkzeug  bedenklicher  Erschleichungen, 
immer  aber  ein  Mittel,  die  Entwicklung  der  richtigen  Problem- 
stellung zu  hemmen. 

Wir  sind  am  Ende  dieser  Ausführungen,  die  lediglich  den 
Zweck  verfolgten,  die  oft  haarfeine  Linie,  welche  Wissenschaft  und 
Glauben  scheidet,  hervortreten  und  den  Sinn  sozialökonomischen  Er- 
kenntnisstrebens erkennen  zu  lassen.  Die  objektive  Gültigkeit  alles 


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86 


Max  Weber, 


Erfahrungswissens  beruht  darauf  und  nur  darauf,  daß  die  gegebene 
Wirklichkeit  nach  Kategorien  geordnet  wird,  welche  in  einem  spe- 
zifischen Sinn  subjektiv,  nämlich  die  Voraussetzu  ng  unserer 
Erkenntnis  darstellend,  und  an  die  Voraussetzung  des  Wertes  der- 
jenigen Wahrheit  gebunden  sind,  die  das  Erfahrungswissen  allein  uns 
zu  geben  vermag.  Wem  diese  Wahrheit  nicht  wertvoll  ist,  —  und  der 
Glaube  an  den  Wert  wissenschaftlicher  Wahrheit  ist  Produkt  be- 
stimmter Kulturen  und  nichts  Naturgegebenes  —  dem  haben  wir  mit 
den  Mitteln  unserer  Wissenschaft  nichts  zu  bieten.  Freilich  wird  er 
vergeblich  nach  einer  anderen  Wahrheit  suchen,  die  ihm  die  Wissen- 
schaft in  demjenigen  ersetzt,  was  s  i  e  allein  leisten  kann :  Begriffe 
und  Urteile,  die  nicht  die  empirische  Wirklichkeit  sind,  auch  nicht 
sie  abbilden,  aber  sie  in  gültiger  Weise  denkend  ordnen  lassen. 
Auf  dem  Gebiet  der  empirischen  sozialen  Kulturwissenschaften  ist, 
so  sahen  wir,  die  Möglichkeit  sinnvoller  Erkenntnis  des  für  uns 
Wesentlichen  in  der  unendlichen  Fülle  des  Geschehens  gebunden  an 
die  unausgesetzte  Verwendung  von  Gesichtspunkten  spezifisch  be- 
sonderten Charakters,  welche  alle  in  letzter  Instanz  ausgerichtet 
sind  auf  Wertideen,  die  ihrerseits  zwar  empirisch  als  Elemente  alles 
sinnvollen  menschlichen  Handelns  konstatierbar  und  erlebbar,  nicht 
aber  aus  dem  empirischen  Stoff  als  geltend  begründbar  sind.  Die 
„Objektivität"  sozialwissenschaftlicher  Erkenntnis  hängt  vielmehr 
davon  ab,  daß  das  empirisch  Gegebene  zwar  stets  auf  jene  Wert- 
ideen, die  ihr  allein  Erkenntnis  w  e  r  t  verleihen,  ausgerichtet,  in  ihrer 
Bedeutung  aus  ihnen  verstanden,  dennoch  aber  niemals  zum 
Piedestal  für  den  empirisch  unmöglichen  Nachweis  ihrer  Geltung  ge- 
macht wird.  Und  der  uns  allen  in  irgend  einer  Form  innewohnende 
Glaube  an  die  überempirische  Geltung  letzter  und  höchster  Wert- 
ideen, an  denen  wir  den  Sinn  unseres  Daseins  verankern,  schließt  die 
unausgesetzte  Wandelbarkeit  der  konkreten  Gesichtspunkte,  unter 
denen  die  empirische  Wirklichkeit  Bedeutung  erhält,  nicht  etwa 
aus,  sondern  ein :  das  Leben  in  seiner  irrationalen  Wirklichkeit,  und 
sein  Gehalt  an  möglichen  Bedeutungen  sind  unausschöpfbar,  die 
konkrete  Gestaltung  der  Wertbeziehuug  bleibt  daher  fließend, 
dem  Wandel  unterworfen  in  die  dunkle  Zukunft  der  menschlichen 
Kultur  hinein.  Das  Licht,  welches  jene  höchsten  Wertideen  spenden, 
fällt  jeweilig  auf  einen  stets  wechselnden  endlichen  Teil  des  unge- 
heuren chaotischen  Stromes  von  Geschehnissen,  der  sich  durch  die 
Zeit  dahinwälzt.  — 

Das  alles  möge  nun  nicht  dahin  mißverstanden  werden,  daß 


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Die  „Objektivität"  sozial  wissenschaftlicher  und  sozialpolitischer  Erkenntnis.  87 

die  eigentliche  Aufgabe  der  Sozialwissenschaft  eine  stete  Hetzjagd 
nach  neuen  Gesichtspunkten  und  begrifflichen  Konstruktionen  sein 
solle.  Im  Gegenteil:  nichts  sollte  hier  schärfer  betont  werden  als 
der  Satz,  daß  der  Dienst  an  der  Erkenntnis  der  Kulturbedeutung 
konkreter  historischer  Zusammmenhänge  ausschließlich 
und  allein  das  letzte  Ziel  ist,  dem,  neben  anderen  Mitteln,  auch 
die  begriffsbildende  und  begriffskritische  Arbeit  dienen  will.  —  Es 
gibt,  um  mit  F.  Th.  Vischer  zu  reden,  auch  auf  unserem  Gebiete 
„Stoffhuber"  und  „Sinnhuber".  Der  tatsachengierige  Schlund  der 
ersteren  ist  nur  durch  Aktenmaterial,  statistische  Folianten  und 
Enqueten  zu  stopfen,  für  die  Feinheit  des  neuen  Gedankens  ist  er 
unempfindlich.  Die  Gourmandise  der  letzteren  verdirbt  sich  den 
Geschmack  an  den  Tatsachen  durch  immer  neue  Gedankendestillate. 
Jene  echte  Künstlerschaft,  wie  sie  z.  B.  unter  den  Historikern  Ranke 
in  so  grandiosem  Maße  besaß,  pflegt  sich  darin  gerade  zu  mani- 
festieren, daß  sie  durch  Beziehung  bekannter  Tatsachen  auf  b e • 
kannte  Gesichtspunkte  dennoch  ein  Neues  zu  schaffen  weiß. 

Alle  kulturwissenschaftliche  Arbeit  in  einer  Zeit  der  Speziali- 
sierung wird,  nachdem  sie  durch  bestimmte  Problemstellungen  einmal 
auf  einen  bestimmten  Stoff  hin  ausgerichtet  ist  und  sich  ihre  metho- 
dischen Prinzipien  geschaffen  hat,  die  Bearbeitung  dieses  Stoffes 
als  Selbstzweck  betrachten,  ohne  den  Erkenntniswert  der  einzelnen 
Tatsachen  stets  bewußt  an  den  letzten  Wertideen  zu  kontrollieren, 
ja  ohne  sich  ihrer  Verankerung  an  diesen  Wertideen  überhaupt  be- 
wußt zu  bleiben.  Und  es  ist  gut  so.  Aber  irgendwann  wechselt 
die  Farbe:  die  Bedeutung  der  unreflektiert  verwerteten  Gesichts- 
punkte wird  unsicher,  der  Weg  verliert  sich  in  die  Dämmerung. 
Das  Licht  der  großen  Kulturprobleme  ist  weiter  gezogen.  Dann 
rüstet  sich  auch  die  Wissenschaft,  ihren  Standort  und  ihren  Be- 
griffsapparat zu  wechseln  und  aus  der  Höhe  des  Gedankens  auf 
den  Strom  des  Geschehens  zu  blicken.  Sie  zieht  jenen  Ge- 
stirnen nach,  welche  allein  ihrer  Arbeit  Sinn  und  Richtung  zu 
weisen  vermögen: 

„  . . .  der  neue  Trieb  erwacht, 

Ich  eile  fort,  ihr  ew'ges  Licht  zu  trinken, 

Vor  mir  den  Tag  und  hinter  mir  die  Nacht, 

Den  Himmel  Uber  mir  und  unter  mir  die  Wellen." 


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Ammons  Gesellschaftstheorie. 

Von 

Prof.  FERDINAND  TÖNNIES, 

Eutin. 

(Nach  einem  Vortrage.) 

„Es  ist  dies  die  Lehre  des  Malthus,  in  den  meisten  Fällen  mit 
zehnfacher  Kraft  angenommen",  so  sagt  Darwin  in  einem  Vortrage, 
dessen  Entwurf  schon  1 839,  20  Jahre  vor  dem  Erscheinen  der  Ent- 
stehung der  Arten  skizziert  wurde,  indem  er  den  Satz  de  Candolle's 
anführt,  daß  die  Natur  einen  Zustand  des  Krieges  darstelle,  da 
ein  Organismus  mit  dem  anderen  oder  mit  der  umgebenden  Natur 
im  Kampfe  liege.  Es  ist  auch  sonst  bezeugt,  daß  dies  Element, 
das  er  zu  der  Lehre  vom  Ringen  um  die  Existenz  ausgestaltete,  in 
seiner  Theorie  den  Grundstock  gebildet  hat,  woran  sich  dann  die 
Lehrsätze  der  natürlichen  Zuchtwahl,  von  Vererbung  erworbener 
Fähigkeiten,  direkter  Wirkung  der  Lebensbedingungen,  korrelativer 
Abänderung,  und  endlich  von  der  geschlechtlichen  Auslese 
angesetzt  haben.  Wenn  daher  von  der  Übertragung  des  Darwi- 
nismus in  die  Sozial  Wissenschaft  die  Rede  ist,  so  handelt  es  sich, 
soweit  jenes  Hauptstück  (der  „Kampf  ums  Dasein")  in  Frage 
kommt,  um  eine  RückÜbertragung,  oder,  wenn  der  Ausdruck  ge- 
stattet wird,  um  die  Heimkehr  einer  Idee,  die  aus  Beobachtung 
speziell  menschlicher  Verhältnisse  gewonnen  —  es  mag  hier  nur 
im  Vorübergehen  auch  an  das  sprichwörtlich  gewordene  bellum 
omnium  in  omnes  erinnert  werden  —  von  einem  Ausfluge,  den  sie 
in  das  gesamte  Tier-  und  Pflanzenreich  gewagt  hat,  zu  ihrem  ur- 
sprünglichen Gebiete. 

In  Wirklichkeit  kommt  nun  aber  nicht  jenes  Hauptstück  bei 
den  besagten  Anwendungen  des  Darwinismus  in  erster  Linie  in 


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Amnions  Gesellschaftstheorie. 


89 


Frage,  sondern  vielmehr  diejenige  Ansicht,  die  mit  Recht  als  für 
Darwin  charakteristisch  gilt,  und  die  auch  seinem  so  einflußreichen 
Werke  den  Titel  gab:  Entstehung  der  Arten  auf  natürliche 
Zuchtwahl  —  by  natural  selection\  ein  Prinzip,  das  Darwin 
später,  nach  dem  Vorgange  Herbert  Spencers,  auch  das  Über- 
leben des  Passendsten,  der  am  meisten  geeigneten  Varietäten  ge- 
nannt hat. 

Soweit  es  sich  nun  dabei  um  etwas  handelt,  was  innerhalb  der 
Menschenwelt  der  Entstehung  der  Arten  entspricht,  insbesondere 
also  um  Entstehung  der  Rassen,  so  bleiben  wir  einem  rein  natur- 
wissenschaftlichen Problem  gegenüber,  das  freilich  auch  für  die 
Geschichte,  also  für  die  soziale  Entwicklung  der  Menschen,  eine 
hohe  Bedeutung  hat;  und  diesem  Problem  hat  Darwin  selber  ein 
umfangreiches  Werk  gewidmet,  worin  er  nun  die  übrigen  Faktoren 
als  unzulänglich  darstellt,  um  die  menschlichen  Varietäten  zu  er- 
klären, und  die  hauptsächliche  Wirkung  der  geschlechtlichen 
Zuchtwahl  zuschreibt.    In  demselben  Werke  beschäftigt  sich  Dar- 
win auch,  und  besonders  in  den  ersten  Kapiteln,  mit  der  mensch- 
lichen Kultur,  also  einem  soziologischen  Problem,  und  zwar  unter- 
scheidet er  hier  streng  die  Bedeutung,  die  den,  durch  natürliche 
Zuchtwahl,  wie  er  meint,  gesteigerten  intellektuellen  und  moralischen, 
insbesondere  den  sozialen  Eigenschaften  der  Menschen  für  den 
siegreichen  Fortschritt  der  Kulturvölker  zuzuschreiben  sei,  auf  der 
einen  Seite ;  und  dagegen  auf  der  anderen,  die  teils  günstige  teils 
ungünstige  Rückwirkung  der  Zivilisation  auf  den  natürlichen 
Prozeß  der  Zuchtwahl,  die  aber  auch  für  die  geschlechtliche  Zucht- 
wahl von  sehr  großer  Bedeutung  sei. 

Nach  Darwin  haben  hervorragende  Autoren  ganz  andere  und 
weiter  ausgedehnte  Anwendungen  der  Entwicklungslehre  auf  die 
Entwicklungsgeschichte  des  Menschentums  gewagt.  Sie  haben  das 
Gesetz  der  natürlichen  Auslese  auch  in  den  sozialen  Gebilden, 
den  Staaten  und  Reichen,  bewährt  zu  finden  gemeint.  Vermittelt 
wurde  dies  durch  die  Theorie,  daß  solche  soziale  Gebilde,  die  Ge- 
sellschaften oder  sozialen  Körper,  wie  man  zu  sagen  pflegte,  selber 
lebendigen  Wesen  gleichzuschätzen  seien,  daß  sie  als  Organismen 
oder  doch  als  den  Organismen  ähnliche  Superorganismen  betrachtet 
werden  sollten.  „Die  stärksten,  die  lebensfähigsten  Gesellschaften 
erhalten  sich"  —  wie  einleuchtend,  wie  ganz  in  Übereinstimmung  mit 
dem  Darwinismus  stellt  dieser  Satz  sich  dar !  Schade  daß  die  Ana- 
logie so  bald  versagt.    Zwar  wie  die  ganze  Gleichnisrede  in  bezug 


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Ferdinand  Tönnies, 


auf  soziale  „Körper"  hergebracht  ist,  so  erstreckt  sie  sich  auch  auf 
Fortpflanzung:  Mutterland,  Tochterstädte  usw.  Daß  aber  so,  durch 
natürliche  Vermehrung,  im  Konkurrenzkampfe  mit  den  weniger 
vermehrungsfähigen,  die  tüchtigsten,  geeignetsten  Typen  sozialer 
Gebilde  sich  erhalten  hätten,  diese  Betrachtung  hat  noch  niemand 
durchzuführen  unternommen.  Sie  müßte  auch  an  vielen  inneren 
Widerständen  scheitern,  vor  allem,  um  es  kurz  zu  sagen,  an  der 
Tatsache,  daß  die  sozialen  Gebilde  mindestens  ebenso  sehr,  und 
bei  steigender  Kultur  immer  mehr,  Kunstprodukten  wie  Naturpro- 
dukten gleichartig  sind,  und  daß  man  bei  Kunstprodukten  zwar 
auch  von  einem  Kampf  ums  Dasein,  aber  nur  sehr  uneigentlich 
von  Fortpflanzung  und  natürlicher  Vermehrung  reden  kann:  die 
Unähnlichkeiten  überwuchern  rasch  die  Ähnlichkeiten.  So  ist  denn 
auch  der  ganze  „Organicismus"  in  der  Soziologie  so  gut  wie  fallen 
gelassen,  wenn  es  auch  an  eifrigen  Verteidigern  ihm  noch  heute 
nicht  fehlt. 

Zu  diesen  Verteidigern  ist  Herr  Otto  Ammon  nicht  zu  rech- 
nen. Aber  der  Haupt-  und  Grundgedanke  seines  in  dritter  Auflage 
erschienenen  Buches  „Die  Gesellschaftsordnung  und  ihre  natürlichen 
Grundlagen", f)  ist  doch  wiederum  jener,  daß  die  natürliche  Auslese 
auch  die  sozialen  Gebilde  beherrsche,  oder  wie  er  es  ausdrückt 
(S.  27),  daß  vermöge  ihrer  die  kleinen  schwachen  und  schlecht- 
regierten Staatengebilde  durch  größere  stärkere  und  besser  geleitete 
„aufgesogen  werden"  (in  der  Natur  ist  bekanntlich  dies  Aufgesogen- 
werden keineswegs  allgemeine  Erscheinung,  sondern  der  erste 
Aspekt  den  sie  bietet,  ist  die  weitgehende  Divergenz  der  Charak- 
tere, und  gerade  nach  Darwin  ist  das  Aussterben  von  Arten 
durchaus  nicht  die  regelmäßige  Folge  des  Umstandes,  daß  .die  I  n  - 
dividuen  regelmäßig  von  den  Individuen  anderer  Arten  ge- 
fressen werden).  In  der  näheren  Ausführung  läßt  aber  Herr 
Ammon  es  nicht  bei  der  obigen  Hervorhebung  begünstigender  Merk- 
male (Größe,  Stärke,  gute  Regierung)  bewenden,  sondern  bestimmt 
diese  näher  dahin,  daß  „eine  staatlich  organisierte  Gemeinschaft  von 
Menschen  um  so  besser  den  Kampf  ums  Dasein  bestehen  werde,  je 
mehr  sie  der  Bedingung  entspricht,  daß  an  jedem  Platze  die  richtige 
Persönlichkeit  steht,  die  durch  ihre  Begabung  geeignet  ist,  den 
Platz  am  besten  auszufüllen"  (S.  29).  Dies  sei  „die  nutzbringendste 
Gestaltung  der  Gesellschaft".  Soll  das  heißen,  daß  ihr  gegenüber  die 


')  Jena.   Fischer  1900  VI  303  S. 


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Ammons  Gesellschaltsthcorie. 


91 


anderen  Momente  (Größe,  Stärke,  gute  Regierung)  bedeutungslos 
werden?  Dies  scheint  allerdings  die  Meinung  zu  sein  (vgl.  S.  34). 
Indessen  verweilt  die  neue  Gesellschaftslehre  bei  dieser  wichtigen 
Frage  kaum;  sie  will  vielmehr  schildern,  welche  Einrichtungen 
„wir"  besitzen,  um  den  richtigen  Mann  auf  den  richtigen  Platz  zu 
bringen  —  sie  will  unsere  Gesellschaftsordnung  beschreiben,  als 
ein  System  von  Einrichtungen,  das  jenem  Ideal  möglichst  nahe  komme, 
deren  Ergebnis  im  ganzen  ein  befriedigendes  sei  (S.  16).  Die  „Weis- 
heit" der  bestehenden  Gesellschaftsordnung  —  dies  ist  der  zweite 
Hauptsatz  —  bestehe  wesentlich  darin,  daß  sie  gewisse  Apparate, 
oder,  wie  gesagt  wird,  Mechanismen  der  Auslese  in  sich  ent- 
halte, darauf  abzielend,  durch  organische  Verbindung  von  Antrieb 
und  Hemmung  jedes  Individuum  an  die  passendste 
Stelle  zu  bringen,  und  jeden  Platz  mit  dem  passend- 
sten Individuum  zu  besetzen.  Antrieb  und  Hemmung:  denn 
teils  seien  diese  gesellschaftlichen  Einrichtungen  darauf  angelegt, 
das  Emporkommen  Berufener  zu  fördern,  teils  das  Durchdringen 
Untauglicher  oder  Unwürdiger  zu  verhindern.  Nach  beiden  Rich- 
tungen hält  Hr.  Ammon  vorzugsweise  die  Schulen  für  bedeutungs- 
voll, sodann  die  Prüfungen  aller  Art,  ferner  die  geschäftliche 
Konkurrenz,  gleichsam  als  Prüfung  durch  das  Publikum,  die 
öffentlichen  Preisausschreiben,  die  Konkurrenz  der  Arbeiter  unter- 
einander, als  Probe,  ob  sie  für  den  Unternehmer  brauchbar  sind 
oder  nicht;  nach  der  negativen  Seite  allein,  also  zur  Ausscheidung 
von  untauglichen  oder  gar  gemeinschädlichen  Individuen  seien  die 
Einrichtungen  der  Polizei  und  Strafrechtspflege,  sowie  gegen  Be- 
amte das  Disziplinarverfahren,  ebensolche  wohltätige  Auslese- 
Mechanismen.  Vermöge  aller  dieser  Einrichtungen  kommt  —  nach 
Herrn  Ammons  Behauptung  —  in  „den  meisten  Fällen"  der  richtige 
Mann  an  den  passenden  Platz  und  an  den  richtigen  Platz  der 
passende  Mann.  Höher  begabte  Individuen  seien  überhaupt  selten  — 
ganz  besonders  selten  in  den  unteren  Schichten ,  denn  —  dies  ist 
der  dritte  Hauptsatz  dieser  Lehre  —  die  gesellschaftliche 
Schichtung  entspricht  im  großen  und  ganzen  der 
Begabung,  freilich  nicht  einseitige,  sondern  harmonische  Be- 
gabungen kommen  empor,  diese  aber  auch  mit  ziemlicher  Sicher- 
heit, dafür  sorgen  eben  jene  Einrichtungen,  z.  B.  die  Schulen  durch 
Befreiungen  vom  Schulgeld,  durch  Stipendien  und  andere  Unter- 
stützungen, die  aus  altruistischer  Gesinnung  unbemittelten  Talenten 
zuteil  werden.  Da  also  der  unteren  Klasse  die  in  ihr  entstehenden 


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Ferdinand  Tönnics, 


Talente  fortwährend  entzogen  und  den  höheren  Ständen  zugeführt 
werden,  so  stellt  jene  —  die  untere  Klasse  —  nur  den  Bodensatz 
dar,  aus  dem  die  wertvollsten  Stoffe  herausdestilliert  sind.  Um  so 
weniger  ist  es  zu  verwundern,  daß  eben  die  Begabung  hier  sehr 
viel  seltener  die  Mittelmäßigkeit  überschreitet  als  in  den  oberen 
Ständen,  daß  sie  vielmehr  bei  einem  sehr  großen  Teile  unter  der 
Mitte  steht.  Eben  die  Absonderung  —  und  damit  kommen  wir  zu 
dem  vierten  und  letzten  Hauptsatze  —  die  Absonderung  dieser 
bevorzugten  Stände  aus  der  großen  Masse  der  Be- 
völkerung ist  eine  „Natureinrichtun  g",  die  bewirkt, 
daß  das  Zusammenpassende  zweier  Individuen  häufiger  vereinigt 
wird,  als  nach  den  bloßen  Gesetzen  der  Wahrscheinlichkeit  ge- 
schehen würde  —  die  „größte  Merkwürdigkeit",  nennt  dies  Herr 
Ammon,  „welche  die  Entwicklung  des  Gesellschaftslebens  hervor- 
gebracht hat"  (S.  65)  —  denn  sie  wirke  in  4  verschiedenen  Be- 
ziehungen vorteilhaft.  Diese  4  verschiedenen  Beziehungen  sind 
die  folgenden : 

1.  Die  Ständebildung  beschränkt  die  Panmixie  und  be- 
wirkt dadurch  die  viel  häufigere  Erzeugung  hochbegabter 
Individuen,  stellt  also  die  natürliche  Züchtung  beim 
Menschen  dar; 

2.  die  Absonderung  der  Kinder  der  bevorzugten  Stände  von 
der  großen  Masse  ermöglicht  eine  sorgfältigere  Er- 
ziehung; 

3.  die  bessere  Ernährung  und  die  sorgenlosere  Lebensweise 
der  den  bevorzugten  Ständen  angehörenden  Individuen 
wirken  steigernd  auf  die  Tätigkeit  der  Seelcnan- 
lagen; 

4.  die  günstigeren  Lebensbedingungen  der  höheren  Stände 
spornen  die  Angehörigen  der  unteren  Stände  an,  ihre 
besten  Kräfte  im  Wettbewerb  einzusetzen,  um  dieser 
günstigeren  Bedingungen  teilhaftig  zu  werden. 

Die  zurückschauende  Betrachtung  dieser  Einrichtungen,  worin 
er  zugleich  sich  selber  als  den  Entdecker  bewundert,  entlockt 
unserm  Autor  den  Ausruf:  „Welch  ein  Meisterstück  ist  diese  so 
schwer  angeklagte  Gesellschaftsordnung"  (S.  1 34).  Anderswo  spricht 
er  von  dem  Wunderbaren  dieser  Einrichtungen,  und  meint,  die  Ge- 
sellschaftsordnung wäre  wahrscheinlich  viel  weniger  gut  ausgefallen, 
wenn  wir  schwache  am  äußeren  Glanz  hängende  Menschen  mit 
unserer  unvollkommenen  Einsicht  sie  zu  schaffen  gehabt  hätten  und 


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Amnions  Gcsellschaftsthcorie. 


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wir  müßten  eigentlich  das  Kunstwerk  anstaunen,  „welches  so  ein- 
gerichtet ist,  daß  es  nicht  den  bloßen  Schein,  sondern  nur  die  volle, 
alle  Anlagengruppen  umfassende,  in  jeder  Lage  sich  bewährende 
Tüchtigkeit  durchdringen  läßt"  (S.  55).  Dann  heißt  es  freilich  auch 
wieder,  die  „Menschheit  habe  diese  Mechanismen  im  Laufe  langer 
Zeiten  geschaffen  (S.  40)  und  die  Köpfe  vieler  Tausende  von 
der  fernsten  Vergangenheit  bis  zur  Gegenwart  haben  daran  ge- 
arbeitet und  ihre  Erfahrungen  verwertet"  (S.  35).  Der  Mensch  habe 
sie  „instinktiv"  als  Lebensbedingungen  für  sich  und  seinesgleichen 
geschaffen  (S.  11). 

Zunächst  fragen  wir:  was  hat  diese  ganze  Doktrin,  was  hat  be- 
sonders jener  erste  Hauptsatz  mit  den  Darwinschen  Prinzipien  zu 
schaffen,  auf  die  sie  mit  vieler  Emphase  sich  beruft?  Ja,  das  ist 
im  höchsten  Grade  unklar,  und  man  fühlt  sich  versucht,  die  ganze 
Anknüpfung  an  diese  Prinzipien  für  einen  Zier  rat  zu  halten,  oder 
für  ein  farbiges  Gewand,  womit  der  Verfasser  uns  imponieren  will, 
indem  er  fortwährend  versichert,  nur  als  Naturforscher  und  zwar 
als  Biologe  könne  man  die  Gesellschaftsordnung  verstehen.  Er 
stellt  allerdings  das,  was  er  Auslese  nennt,  direkt  in  Parallele  zur 
Auslese  in  Darwins  Sinne,  und  läßt  es  nur  zweifelhaft,  ob  einzelne 
Arten  seiner  sozialen  Auslese  natürliche  oder  „methodische"  also 
bewußt  -  gewollte ,  künstliche,  oder  die  von  Darwin  den  Tier- 
züchtern früherer  Zeiten  zugeschriebene  „unbewußte"  Zuchtwahl 
seien  —  aber  den  Ausdruck  Zuchtwahl  vermeidet  er  nur  des- 
halb, weil  er,  auf  die  Menschen  angewandt,  viele  Leser  unangenehm 
berühre;  er  hält  sich  an  den  Ausdruck  „Auslese"  und  trotz  jener 
Unsicherheit  will  er  alle  seine  Auslesen  als  „natürliche"  begriffen 
haben.1)  Nun  ist  dies  eine  offensichtliche  Konfusion.  Gesetzt,  es 
verhielte  sich  so,  wie  Herr  Ammon  uns  vormacht,  daß  in  der 
gegenwärtigen  Gesellschaft  im  Deutschen  Reich  —  denn  diese  hat 
er  allein  im  Auge  —  seine  Auslesemechanismcn  fortwährend  mit 
dem  Erfolge  funktionierten,  den  richtigen  Menschen  an  den  richtigen 
Platz  zu  bringen,  also  die  besser  begabten  empor  zu  heben,  die 
Minderwertigen  zu  erniedrigen  —  hätte  diese  Wirkung  etwas  Er- 


')  Wer  daran  zweifelt,  werde  besonders  auf  S.  12  ff.  verwiesen,  wo  der  Verf. 
einräumt,  die  „Darwinsche  Theorie"  könne  uns  bei  näherer  Hetnichtung  bedenklich 
vorkommen,  weil  nicht  immer  der  geistig  Überlegene  und  sittlich  Tüchtige  es 
sei,  der  im  Wettbewerb  des  Lebens  den  Sieg  davontrage,  sondern  oft  der  Durch- 
triebenste, der  Rücksicht*-  und  Gewissenloseste. 


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Ferdinand  Tönnies, 


kleckliches  mit  den  Wirkungen  der  natürlichen  Auslese  ge- 
mein, die  er  selber  uns  ganz  richtig  dahin  bestimmt  (S.  4),  daß 
„die  kräftigsten  und  ihren  Lebensbedingungen  am  besten  an- 
gepaßten Individuen  mehr  Aussicht  haben,  erhalten  zu  werden 
und  ihre  Eigentümlichkeiten  fortzupflanzen,  als  die  schwächeren 
und  minder  gut  angepaßten,  die  somit  unter  gegebenen  Be- 
dingungen aussterben"  — ?  Hin  und  wieder  ist  es  der  Fall:  vom 
Erfolge  der  Tüchtigkeit  im  Geschäftsleben  mag  man  so  sprechen, 
und  anerkennen,  daß  der  Erfolgreiche  möglicherweise  für  das 
Familienleben  begünstigt  ist.  Aber  auch  wer  etwa  als  Theologe 
ein  gutes  Examen  macht,  wird  eher  eine  üppige  Pfarre  bekommen 
und  sich  früher  verheiraten,  also  insoweit  etwas  vermehrte  Chancen 
haben,  eine  große  Familie  aufzubringen ;  wer  dagegen  in  der  Blüte 
der  Jahre  zu  zehnjähriger  Zuchthausstrafe  verurteilt  wird,  ist  wenig- 
stens für  diese  Zeit  von  der  Fortpflanzung  ausgeschlossen.  Was 
die  Arbeiterklasse  betrifft,  so  findet  Herr  Amnion  seinen  segens- 
reich wirkenden  Mechanismus  der  Auslese  darin,  daß  der  Unter- 
nehmer „die  geschickten  und  fleißigen  Arbeiter  behalte,  die  un- 
brauchbaren fortschicke";  daß  bei  massenhaften  Entlassungen  in 
Zeiten  der  Krise  teils  die  jüngsten  Zuwächse,  teils  alte  und  kränk- 
liche Personen,  die  entweder  schon  hinlänglich  sich  fortgepflanzt 
haben  oder,  auch  wenn  sie  in  Arbeit  stehen,  sich  schwach  fort- 
pflanzen, abgestoßen  werden,  und  daß  die  Unternehmerpolitik  ge- 
bietet, vielmehr  auf  einen  „festen  Stamm"  von  Arbeitern  zu  halten, 
als  die  Tüchtigkeit  jedes  einzelnen,  der  etwa  zur  Verfügung  steht, 
zu  prüfen,  davon  weiß  unser  Sozialanthropologe  nichts;  aber  ge- 
setzt, er  hätte  recht,  so  wären  allerdings  die  Unbrauchbaren,  wenn 
auf  die  Landstraße  geworfen  und  einem  Vagabondenleben  preis- 
gegeben, den  Freuden  des  Familienlebens  gründlich  entzogen  und 
oft  auf  immer  dafür  verdorben.  In  diesen  Fällen  handelt  es  sich 
jawohl  nicht  darum,  jedem  seinen  bestimmten  Platz  innerhalb  einer 
gesellschaftlichen  Ordnung  zuzuweisen,  sondern  einige,  um  an 
das  Malthussche  Gleichnis  anzuknüpfen,  von  der  gedeckten  Tafel 
zurückzuweisen.  —  Im  übrigen  aber  haben  die  Wirkungen  der  Kon- 
kurrenz mit  den  Aussichten  auf  individuelle  und  generische  Er- 
haltung nur  wenig  zu  tun.  Die  untere  Klasse  ist  allerdings  einer 
sehr  viel  größeren  Sterblichkeit  ausgesetzt ;  sie  hat  aber  auch  am 
wenigsten  Grund,  ihren  Fortpflanzungstrieb  in  Schranken  zu  halten; 
sie  ist  gerade  aller  jener  Rücksichten  überhoben ,  die  die  Ehe  zu 
einer  Standessache  und  von  einer  gesicherten  Brotstelle  abhängig 


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Ammons  Gesellschaftstheorie. 


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machen ;  ganz  abzusehen  von  der  außerehelichen  Propagation.  Herr 
Ammon  selber  beschäftigt  sich  eingehend  mit  der  wie  er  meint 
„etwas  zu  starken  Vermehrung"  des  Proletariats. 

Und  es  ist  ja  auch  nicht  (nicht  immer,  muß  man  vor- 
sichtigerweisc  sagen)  seine  Meinung,  daß  jene  Auslesemechanismen 
die  von  ihm  sogenannten  Stände  immer  neu  produzieren,  sondern 
wir  müssen  ihn  so  verstehen,  daß  sie  hauptsächlich  innerhalb 
jedes  Standes  ihre  Wirkungen  üben.  Wer  aber  innerhalb  der 
oberen  Klassen  nach  hoher  Stellung  strebt  und  etwa  auch  dafür 
begabt  ist,  wird  gerade  genötigt  sein,  die  Eheschließung  aufzu- 
schieben, es  sei  denn,  daß  er  sie  als  ein  Mittel  seines  Strebens 
gebraucht,  was  freilich  nicht  selten  vorkommen  mag,  aber  auch 
leicht  Ehen  begründet,  die  aus  dem  selektorischen  Gesichtspunkte 
alles  eher  als  günstig  sind.  Vollends  wird  aber,  wer  aus  den  unteren 
Schichten  durch  eigene  Anstrengung  emporklimmt,  in  der  Regel 
später  zum  Heiraten  sich  entschließen,  als  wenn  er  in  seinem 
Stande  geblieben  wäre ;  nicht  selten  wird  gerade  ein  solcher  ehelos 
bleiben. 

Herr  Ammon  wirft  freilich  diese  Frage  gar  nicht  auf.  In  Wahr- 
heit ist  trotz  aller  Redensarten  von  naturwissenschaftlicher  Begrün- 
dung seine  Theorie  in  ganz  anderem  und  lediglich  über- 
tragenem Sinne  als  „darwinistische"  zu  verstehen,  in  einem  Sinne, 
der  der  „natürlichen  Zuchtwahl"  meilenferne  steht:  nämlich  in 
einem  sozialwissenschaftlichen  Sinne,  den  uns  jene  Worte  von  der 
instinktiven  Schöpfung  und  von  der  schaffenden  Arbeit  unzähliger 
Generationen  schon  erraten  lassen.  Nur  ist  seltsamerweise  der 
Unterschied  dieses  Sinnes  von  dem  anderen  dem  Autor  selber  nicht 
im  mindesten  klar  geworden,  ja  die  Verwischung  dieses  Unter- 
schiedes gehört  zu  den  Künsten  seines  Gefechtes.  Dieser  zweite 
Sinn  ist  aber  gar  nichts  anderes  als  das  Theorem  der  wohlbekannten 
historischen  Schule,  ein  Theorem,  das  hauptsächlich  in  bezug 
auf  das  Recht  und  die  politischen  Institutionen  zu  Anfang  des 
vorigen  Jahrhunderts  sich  geltend  machte,  später  —  freilich  mit 
veränderter  Wendung  —  auch  auf  die  Lehre  von  der  Volkswirt- 
schaft übertragen  wurde.  Ein  gewisser  Zusammenhang  mit  der  all- 
gemeinen Ansicht  des  organischen  Lebens  und  mit  Lehren, 
die  zu  den  Vorläufern  des  Darwinismus  gerechnet  werden,  ist  zwar 
von  Anfang  an  vorhanden  gewesen;  es  genügt  daran  zu  erinnern, 
daß  Savigny  unter  dem  Einflüsse  der  Schellingschen  Naturphilo- 
sophie stand.  Von  natürlicher  Zuchtwahl  ist  da  freilich  keine  Rede, 


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Ferdinand  Tönnies, 


wohl  aber  von  einer  Entwicklung  stillwirkender  Kräfte,  deren 
Ergebnis  allen  Gebilden  menschlicher  Vernunft  und  Willkür  über- 
legen sei  —  und  so  setzt  sich  diese  konservative  Lehre  dem 
durch  seinen  Zusammenhang  mit  den  Greueln  der  Revolution  in 
Verruf  gekommenen  Naturrecht  und  dem  rationalistischen  Liberalismus 
entgegen  —  bei  Savigny  zunächst  durch  seine  siegreiche  Attacke 
auf  die  verwegene  Neuerung  derer ,  die  ein  Allgemeines 
Bürgerliches  Gesetzbuch  für  Deutschland  einführen  wollten. 
Ganz  ähnlich  verhält  sich  Herr  Amnion  mit  seiner  konservativen 
Apologetik  zu  den  Neuerern ,  die  an  dem  historisch  gewordenen 
Verhältnis  der  Gesellschaftsklassen  zueinander  rütteln  wollen,  und 
die  da  wähnen,  daß  sich  in  einem  Lande  wie  Preußen  und  Baden 
etwa  für  die  leitenden  Stellen  in  Justiz  und  Verwaltung  ein  erheb- 
lich tüchtigeres  Personal  gewinnen  ließe,  wenn  die  Auswahl  weniger 
beschränkt  wäre,  wenn  erheblich  mehr  begabte  Leute  aus  den 
Schichten,  die  zum  akademischen  Studium  die  Mittel  nicht  auf- 
bringen können,  hervorgezogen  würden,  wenn  überhaupt  andere 
„Auslesemcchanismen"  neben  und  gegen  die  vorhandenen  in  Aktion 
träten.  Geklagt  wird  von  diesen  Neuerern,  daß  allzu  oft  die  minder- 
wertigen Söhne  der  Reichen  durch  Nachhilfestunden,  Lehrerpensio- 
natc,  Freundschaft  zwischen  Ellern  und  Lehrern  und  —  kraft  des 
Wartenkönnens  „sich  durchsitzen"  und  durch  Korpsbrüderschaften, 
Adelskliquen,  Nepotismus  befördert  werden.  Dagegen  will  Herr 
Ammon  uns  belehren:  diese  Ordnungen,  diese  Auslesemecha- 
nismen haben  sich  entwickelt,  sie  haben  einen  Kampf  um 
ihr  Dasein  und  damit  einen  Scheide-  und  Läuterungsprozeß 
durchgemacht,  in  dem  das  Zweckmäßige  sich  erhalten  hat,  ähn- 
lich wie  sich  zweckmäßige  Organe  des  Tierkörpers  und  an- 
gepaßte Arten  der  Organismen  erhalten  haben.  Es  handelt  sich 
also  lediglich  um  eine  Analogie  zu  den  biologischen  Tatsachen : 
eine  Anwendung  des  Darwinismus  verdient  diese  Erneuerung 
einer  mit  der  Romantik  nahe  zusammenhängenden  Lehrmeinung 
nicht  genannt  zu  werden,  sie  ist  vielmehr  das,  als  was  wir  sie  im 
Vorwege  charakterisiert  haben:  Übertragung  eines  Erklärungs- 
Prinz  i  p  e  s  aus  einem  Gebiete,  wo  es  induktiv  gefunden  wurde, 
in  ein  an  de  res  Gebiet,  wo  es  deduktiv  verwertet  wird.  Nehmen 
wir  nun  aber  dies  Erklärungsprinzip  wie  es  ist:  es 
kommt  darauf  hinaus,  daß  auch  in  menschlichen  Einrichtungen  das 
mehr  oder  minder  unbewußt  Gewordene  dem  durch  mensch- 
liches Klügeln  Erfundenen,  dem  Künstlichen  und  Gemachten 


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Ammons  Gesellschaftsthcoric. 


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überlegen  sei:  revolutionäre  Neuerungen  sind  ein  für  allemal  eine 
kindische  Dummheit,  die  auf  mangelnder  Einsicht  in  die  Natur- 
gesetze der  Gesellschaftsordnung  beruht.  ') 

Schade,  daß  die  Darwinsche  Lehre  selber,  die  diese  Ansicht 
stützen  soll,  schade,  daß  die  Lehre  des  Kopernikus,  die  Lehren  der 
Vesalius,  Harvey,  Lavoisier  ebensolche  revolutionäre  Neuerungen 
waren  und  sind.  Warum  nicht  auch  ihnen  entgegenhalten:  die 
ehrwürdigen  überlieferten  Anschauungen,  ausgebildet  und  bewährt 
im  Verlaufe  von  Jahrtausenden,  geläutert  im  Feuer  ketzerischer, 
heidnischer  und  schwärmerischer  Kritiken,  sind  teils  die  natürlichen, 
teils  sind  sie  als  übernatürlicher  Glaube  Stücke  eines  bewunderungs- 
würdigen Auslcsemechanismus;  es  ist  die  schärfste  Prüfung,  der 
ein  Mensch  unterworfen  werden  kann,  ob  er  willens  und  fähig  ist, 
seine  Vernunft  gefangen  zu  geben  unter  den  Gehorsam  gegen  die 
Kirche  und  gegen  seine  Vorgesetzten  überhaupt.  „Die  Umsturz- 
geister setzen  ihre  subjektiven  Meinungen  unter  dem  Namen  der 
Wissenschaft  dem  objektiven  und  gültigen  Inhalt  der  vom  Staate 
mehr  oder  weniger  unterstützten  und  für  den  Bestand  der  Gesell- 
schaft unentbehrlichen  Kirchcnlehre  frech  und  töricht  ent- 
gegen", so  wird  in  Herrn  Ammons  Sinne  dreist  ein  Bewunderer 
der  kirchlichen  Gesellschaftsordnung  sprechen.  Schade,  daß  Herr 
Ammon  nicht  auch  sein  heiliges  Prinzip  angewendet  hat  auf  die 
revolutionäre  Technik,  die  alle  historisch  gewordenen  Werk- 
zeuge und  Geräte,  alle  durch  Überlieferung  und  Erfahrung  be- 
währten Verkehrsmittel,  die  herkömmliche  Beschaffung  von  Licht, 
Feuer,  Wasser,  die  Methode  des  Ackerbaues  und  des  Handwerks, 
die  unser  ganzes  tägliches  Leben  so  von  Grund  aus  umgewälzt  und 
erneuert  haben.  Und  allerdings,  es  läßt  sich  sehr  vieles  mit  gutem 
Grunde  gegen  alle  diese  Neuerungen  sagen,  solange  sie  nicht  tief 
und  innig  assimiliert  worden  sind,  solange  der  Mensch  seinen 
eigenen  Produkten,  unfähig  sie  zu  lenken  und  zu  beherrschen, 
gegenübersteht,  sich  ihnen  sozial  nicht  hinlänglich  angepaßt  hat. 
Man  braucht  daher  an  dem  großen  besinnungslosen  Kulturrausch 
nicht  teilzunehmen,  man  braucht  in  die  Jubelhymnen  auf  die 
Triumphe  der  Wissenschaft  nicht  ohne  Vorbehalt  einzustimmen  — 
aber  sehen,  hören  und  fühlen  muß  man,  daß,  wie  Goethe  sagte,  als 


»)  Dieser  wirkliche  Sinn  der  Ammonschcn  Theorie,  im  Pexie  der  3.  Auflage 
verdunkelt,  tritt  um  so  heller  in  der  2.  S.  3—4,  und  vermutlich  auch  in  der  ersten. 
Auflage  (die  ich  nicht  kenne)  hervor. 

Archiv  für  Sozialwisiepjchaft  u.  Sozialpolitik.  I.    (A.  f.  so*.  G.  u.  St.  XIX.)  1.  7 


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Ferdinand  Tönnies, 


er  das  Nahen  dieses  neuen  Zeitalters  erkannte,  „die  Dampfmaschinen 
nicht  zu  dämpfen  sind"  und  daß  dies  ebensowenig  im  Sittlichen 
möglich  ist;  diese  gewaltigen  Neuerungen,  deren  Umfang  und  Trag- 
weite der  größte  Vertreter  deutscher  Bildung  nicht  einmal  ahnen 
konnte,  sind  nun  einmal  die  ungeheuren  Elemente,  auf  die 
gegenwärtig  nicht  mehr  bloß  „ein  junger  Mann  gesetzt  ist",  und 
die  „jeden  jungen  Mann  ermahnen  sollten"  —  wir  zitieren  immer 
noch  Goethe  —  „daß  ihm  das  Steuerruder  darum  in  die  Hand  ge- 
geben ist,  damit  er  nicht  dem  Spiele  der  Wellen  gehorche,  sondern 
den  Willen  seiner  Einsicht  walten  lasse".  Der  Wille  unserer  Ein- 
sicht wird  uns  immer  vor  besinnungslosem  Radikalismus  bewahren ; 
er  wird  sich  aber  auch  nach  der  Einsicht  richten  müssen,  daß  ein 
so  auf  allen  Gebieten  umwälzendes  Zeitalter  mit  einer  konservativen 
und  stabilen  Gesellschaftsordnung,  wie  wünschenswert  diese  an  sich 
auch  sein  möge,  sich  nicht  verträgt,  daß  sie  tatsächlich  fortwährend 
revolutionierend  darauf  gewirkt  hat  und  wirken  muß;  daß  ein 
solcher  Strom  sich  wohl  regulieren,  aber  nicht  zurückstauen  läßt. 

Was  hat  es  denn  aber  mit  den  gepriesenen  Auslesemecha- 
nismen auf  sich?  Wie  verhalten  sie  sich  zur  ebenso  gepriesenen 
„Absonderung  von  bevorzugten  .Ständen'  aus  der  großen  Masse 
der  Bevölkerung"  (S.  65)?  Herr  Ammon  setzt  voraus,  daß  „abge- 
schlossene Stände"  noch  vorhanden,  daß  sie  unausrottbar  seien,  ob- 
gleich sie  „den  meisten  unserer  Gebildeten,  und  auch  den  meisten 
Sozialpolitikern,  als  ein  trauriges  Überbleibsel  halbbarbarischer 
Zeiten  gelten".  Soweit  sie  vorhanden  waren,  und  ohne  Zweifel 
sozialen  Nutzen  gehabt  haben,  sind  sie  doch  wahrlich  nicht  durch 
Schulen  und  Examina  entstanden?  die  erblich  geschlossenen,  auf 
die  es  unserem  Theoretiker  doch  gerade  ankommt,  am  aller- 
wenigsten !  Wohl  könnte  man  sagen ,  daß  wesentlich  durch  diese 
„Auslesemechanismen"  der  katholische  Klerus  ergänzt  werde,  der 
aber  eben  nicht  ein  erblicher  Stand  und  nicht  „im  Sinne  Dar- 
wins gezüchtet"  ist;  der,  wie  es  scheint,  recht  wohl  gediehen  ist, 
und  noch  gedeiht,  ohne  daß  die  für  ihn  nötigen  intellektuellen 
und  moralischen  Anlagen  in  einer  gehobenen,  besitzenden  und 
durch  reichliche,  auch  qualitativ  bessere  Nahrung  (S.  89,  90),  durch 
Unterhaltungen  und  Zerstreuungen  (das.)  aus  der  Menge  herausge- 
hobenen Schicht  von  der  „Natur"  weislich  vorbereitet,  die  Chancen 
für  eine  glückliche  Kombination  (Kap.  16— 18)  durch  Inzucht 
günstiger  gestaltet  wären.  Die  ungeheuerliche  These  Ammons  ist 
ja,  daß  die  besitzenden  Klassen,  und  zwar,  wie  man  verstehen  muß, 


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Amnions  Gesell schaftsiheorie. 


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immer  und  schlechthin,  eine  Varietät  allseitig  besser  begabter, 
insbesondere  aber  durch  Verstand  und  Charakter  ausgezeichneter 
Menschen  darstellen,  eben  infolge  der  Verbindung  von  Auslese- 
mechanismen und  Inzucht !  Welcher  Mechanismus  bildet  denn  unter 
heutigen  sozialen  Bedingungen,  auf  die  doch  Herr  Ammon  vor- 
zugsweise, und  fast  ausschließlich  exemplifiziert,  diese  Varietät  der 
Herrenklasse?  „Im  gewerblichen  Leben",  so  lesen  wir,  „bestand 
vormals  auch  eine  Art  von  Prüfung,  das  Meisterstück".  „Seit  der 
Einfuhrung  der  Gewerbefreiheit  herrscht  ein  Wettbewerb,  bei  dem 
lediglich  die  Käufer  entscheiden.  Wer  sein  Geschäft  am  tüchtigsten 
betreibt,  kommt  vorwärts,  wer  nachlässig  und  träge  ist,  kommt  zu- 
rück" (S.  38).  Das  ist  alles,  was  Herr  Ammon  über  den  Unter- 
schied des  kapitalistischen  vom  Handwerkszeitalter  mitzuteilen  weiß. 
Die  Konkurrenz  bringe  die  geborenen  Organisatoren  ans 
Tageslicht!  Jede  Konkurrenz?  „Selbstverständlich"  nur  die  „mit 
redlichen  Mitteln"!  „Unlautere  Kniffe  sind  womöglich  auf  dem 
Wege  der  Gesetzgebung  zu  unterdrücken".  Die  Gewerbefreiheit 
darf  keine  „schrankenlose",  der  Wettbewerb  kein  „unlauterer" 
sein,  „sonst  werden  nicht  die  tüchtigsten,  sondern  die  frechsten  und 
rücksichtslosesten  Individuen  emporgehoben".  „Sind  womöglich", 
..darf"  „sonst"  —  wie  steht  es  aber  in  Wirklichkeit?  Da  hilft  un- 
serem Sozialanthropologen  ein  für  allemal  die  Rede  „im  großen  und 
ganzen"  und  die  Berufung  auf  seine  persönliche  Erfahrung  und 
Kenntnis,  seine  Ansicht,  seine  Eindrücke,  und  auf  die  Unnah- 
barkeit und  UnWahrscheinlichkeit  sozialdemokratischer  „An- 
sichten", die  er  dann  zur  Kontrastwirkung  in  möglichst  krassen 
Ausdrücken  wiedergibt.  „Auch  unter  den  Großindustriellen  habe 
ich  *  viele*1)  kennen  gelernt,  die  durch  bedeutende  Eigenschaften, 
namentlich  durch  organisatorisches  Talent  und  durch  Wissenskraft 
ihren  Platz  verdienten"  (S.  43).  Wer  möchte  da  widersprechen? 
Weniger  günstig  ist  sein  Urteil  über  „emporgekommene  Spekulanten 
und  Börsenjobber"  (S.  92).  „Denn  diese  ,Protzen'  verdanken  ihren 
Reichtum  *  häufig*  nur  ihrer  Skrupellosigkeit  und  dem  Mangel 
altruistischer  Gesinnung.  Sie  gehören  *  eigentlich  nicht*  zur  ge- 
bildeten Klasse,  werden  aber  durch  ihr  vordringliches  Gebahren 
von  den  Arbeitern  irrtümlich  mit  dieser  identifiziert,  und  ziehen  ihr 
die  ganze  Fülle  von  Haß  und  Neid  zu,  die  von  Rechts  wegen  jenen 


')  Die  in  Sternchen  stehenden  Worte  sind  im  Original  nicht  hervorgehobene, 
die  aber  der  Autor  hier  hervorheben  möchte. 

8» 


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ioo 


Ferdinand  Tonnics, 


allein  gebührt"  (S.  92).  An  anderer  Stelle  heißt  es  sogar  allgemein : 
„Es  ist...  nicht  immer  der  geistig  Überlegene  und  sittlich 
Tüchtige,  der  im  Wettbewerb  des  I^ebcns  den  Sieg  davonträgt, 
sondern  *oft*  der  Durchtriebenste,  der  Rücksichts-  und  Gewissen- 
loseste" (S.  12).  An  dieser  Stelle  gibt  es  überhaupt  immer  eine 
rückschrittliche  und  eine  fortschrittliche,  ungünstige  und  günstige 
Auslese  nebeneinander,  es  komme  nur  darauf  an,  welche  Art 
von  Auslese  den  überwiegenden  Erfolg  hat  (S.  14).  Warum 
ist  denn  weiterhin  nicht  von  den  Mechanismen  der  ungünstigen 
Auslese  und  von  den  Ursachen  des  Überwiegens  der  günstigen 
Auslese  die  Rede?  Das  wäre  ein  methodisch  fortschreitendes  Ver- 
fahren gewesen!  —  Herr  Ammon  „neigt"  aber  „zu  der  Ansicht, 
daß  die  meisten  wirklich  begabten  Söhne  der  unteren  Klassen 
vermöge  unserer  gesellschaftlichen  Einrichtungen  die  Gelegenheit 
haben  und  benutzen,  um  sich  den  gebührenden  Platz  zu  ver- 
schaffen" (S.  44).  Dafür  will  er  einen  „objektiven  Reweis"  bei- 
bringen :  „indem  ich  dartue,  daß  infolge  unbestrittener  Naturgesetze 
die  Zahl  der  höher  begabten  Individuen  im  Verhältnis  zu  der 
Masse  der  Bevölkerung  überhaupt  nur  eine  kleine  sein  kann, 
wonach  also  das  Zurückbleiben  einer  größeren  Menge  von  selbst 
ausgeschlossen  ist".  Der  „Beweis"  wird  mit  Hilfe  der  Kombina- 
tionslehre geführt.  Zu  diesem  Behuf  unterscheidet  Herr  Ammon 
3  Gruppen  von  Scclenanlagen  :  intellektuelle,  moralische  (diese  mit 
Ausschluß  der  altruistischen,  weil  deren  Wirkung  auf  das  Empor- 
kommen der  Individuen  .widerspruchsvoll'  sei),  wirtschaftliche;  dazu 
fügt  er  eine  Gruppe  „körperlicher"  Anlagen;  er  vergleicht  dann 
diese  Anlagegruppen  mit  Würfeln,  die  Stärkegrade  in  jeder  Gruppe 
mit  Würfelaugcn,  und  berechnet,  daß  die  höchste  und  die  nie- 
drigste Augensumme  am  seltensten,  die  mittlere  am  häufigsten 
vorkommen  muß.  Daraus  schließt  er  („auf  unseren  Gegenstand 
angewandt"  S.  52),  daß  auch  die  Zahl  der  Genies  und  der  Talente 
im  Vergleich  zur  Gesamtzahl  der  Menschen  naturgemäß  nur  klein 
sei,  ebenso  die  Zahl  der  Schwachbegabten  und  der  ganz  Stumpf- 
sinnigen, während  das  Mittelgut  an  Zahl  bei  weitem  vor- 
herrsche. Genies  und  Talente  sind  aber  bei  Herrn  Ammon  nicht 
etwa  die  Menschen  von  hoher  geistiger  Begabung,  sondern  nur 
solche,  bei  denen  die  Nummern  in  allen  4  Anlagegruppen  hoch 
sind.  Geistig  und  sittlich  hochstehende  Menschen,  die  aber  Mangel 
an  wirtschaftlichen  Anlagen  (Geschäftssinn,  organisatorisches  Talent, 
technisches  Geschick,  kluge  Berechnung,  Voraussicht,  Sparsamkeit) 


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Ammons  Gescllschaftstheoric. 


IOI 


und  schwache  körperliche  Anlagen  haben,  nennt  er  „Leute,  die 
unter  Umständen  den  Kindruck  von  äußerst  befähigten  Menschen 
machen,  die  sich  bloß  nicht  emporzubringen  wissen  und  als  „ver- 
bummelte" Talente  bzw.  „verkannte"  Genies  oder  „geknechtete" 
Biedermänner  enden".  „Dafür  macht  man  in  der  Regel  ungenügende 
Bildung,  widrige  äußere  Verhältnisse,  mit  Vorliebe  die  „herrschende 
Gesellschaftsordnung"  verantwortlich,  während  der  Mißerfolg  in  der 
Veranlagung  der  Individuen  selbst  begründet  ist  1"  Jeder  Zusatz 
würde  den  Eindruck  dieses  geistvollen  Paradoxons  trüben.  Man 
bemerke  wohl,  daß  hier  jede  Anlagengruppe  auf  gleiche  Linie  ge- 
stellt wird :  die  Nummer  Eins  auf  dem  vierten  die  Körperkräfte  dar- 
stellenden Würfel  nennt  er  ausdrücklich  einen  „Herkules"  —  das  wirk- 
lich emporkommende  und  dessen  würdige  Genie  muß  also  auch  her- 
kulische Körperkräfte  haben ! !  Sehen  wir  weiter.  „Das  Würfelspiel 
ist  höchst  wahrscheinlich  eine  *im  wesentlichen*  treue  Wiedergabe 
der  Vorgänge,  die  sich  vor  und  bei  der  Befruchtung  wirklich  ab- 
spielen" (S.  55).  In  Wirklichkeit  besteht  aber  jede  Gruppe  von 
Anlagen  selbst  wieder  aus  Kombinationen  von  Anlagen,  und  die 
Zahl  der  Stärkegrade  läßt  sich  beliebig  vermehren;  auch  wird 
innerhalb  jedes  Anlageelementes  der  höchste  und  niedrigste  Grad 
selten  vorkommen,  auch  hier  der  mittlere  Grad  die  Regel  sein. 
Alle  diese  Umstände  vermehren  das  Mittelgut;  die  Chancen  für 
das  Herkulesgcnie  sind  in  Wirklichkeit  noch  viel  geringer.  Hier 
wird  dann  das  Gaussische  Fehlergesetz  herangezogen,  dessen  sich 
Galton  bedient  hat,  um  die  Wahrscheinlichkeit  eminenter  Be- 
gabung abzuschätzen.  Galtons  Argument  ist,  daß  außerordentliche 
intellektuelle  Begabung,  wenn  mit  Eifer  und  mit  Arbeitskraft  ver- 
bunden, in  England  trotz  sozialer  Hemmungen  mit  ziemlicher 
Sicherheit  sich  durchsetzt  und  zu  Ruhm  gelangt;  und  umgekehrt, 
daß  sehr  hoher  Ruhm  nicht  ohne  sehr  hohe  Fähigkeiten  erreicht 
wird.  Er  braucht  dies  Argument  um  aus  Ruhm  auf  Begabung  zu 
schließen,  und  den  Beweis  der  Vererbung  geistiger  Qualitäten 
auf  die  Tatsache  zu  gründen,  daß  hervorragende  Leute  in  verschie- 
denen Gebieten,  besonders  aber  in  Literatur  und  Kunst,  meistens 
auch  hervorragende  Verwandte  haben.  Galtons  Methode  unterliegt 
sehr  schweren  Bedenken,  ja  ich  bin  überzeugt,  daß  sie  große  Fehler 
enthält;  aber  darauf  ist  hier  nicht  einzugehen.  Nach  der  Regel 
der  normalen  Abweichungen  von  einem  Durchschnitt  berechnet 
Galton,  daß  auf  eine  Million  gleichalteriger  Menschen  ein  ganz 
hervorragender  komme.     Herr  Ammon   meint,  auf  sein  Würfel- 


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102 


Ferdinand  Tönnies, 


gleichnis  gestützt,  es  erscheine  uns  als  *  wahrscheinlich*  (da  es  ge- 
wiß weit  mehr  einzelne  Anlagen  als  8  seien,  die  bei  einem  genialen 
Manne  zusammentreffen  müssen,  und  die  Zahl  der  Stärkegrade  mit 
6  gewiß  nicht  zu  hoch  angenommen  werde)  „daß  wir  nur  einen 
Menschen  auf  viele  Millionen  haben  sollten ,  bei  dem  sich  alle 
erforderlichen  Eigenschaften  zu  einem  Genie  vereinigen,  während 
wir  *nach  Galton*  schon  i  auf  i  Million,  also  bedeutend  mehr  haben". 
Es  folgt  dann  (bei  Ammon)  der  Absatz:  „Aus  der  Abweichung 
•der  Wirklichkeit*  von  der  theoretischen  Wahrscheinlichkeit,  läßt 
sich  folgern,  daß  irgendwelche  noch  nicht  in  Rechnung  gestellte 
Ursachen  vorhanden  sein  müssen,  die  das  Entstehen  von 
Talent  und  Genie  begünstigen"  (S.  64).  Und  hiermit  wird 
dann  die  „Natureinrichtung",  die  Absonderung  von  „Standen"  ein- 
geführt, die  das  unerwartet  häufige  Vorkommen  von  Genie  und 
dessen  „unaufhörlich  erfolgendes  Neuentstehen"  erklären  soll.  Man 
bemerke  wohl:  was  der  Herr  hier  „Wirklichkeit"  nennt,  und  was 
„nach  Galton"  sich  tatsächlich  findet,  ist  nichts  als  die  theo- 
retische Wahrscheinlichkeit  in  Galtons  Darstellung; 
Galton  hat  nicht  einmal  einen  Versuch  gemacht  zu  beweisen, 
daß  die  Erfahrung  damit  übereinstimme;  einen  solchen  Versuch 
macht  er  nur  mit  seinen  250  pro  Million  „Hervorragender",  zu 
denen  er  auf  folgendem  ziemlich  holperigem  Wege  gelangt :  er  fand 
in  einem  Nachschlagebuch  von  1865  2500  Namen  lebender  Männer 
von  Ruf,  die  Hälfte  Engländer;  darunter  sind  sehr  viele  erst  mit 
über  50  Jahren  berühmt  geworden;  er  vergleicht  daher  diese,  die 
er  in  der  Gesamtzahl  von  850  findet,  mit  der  über  50  jährigen 
männlichen  Einwohnerschaft  der  britischen  Inseln,  das  gibt  425 
pro  Million;  aber  nur  500  von  jenen  850  sind  Leute,  die  in  der 
literarischen  und  wissenschaftlichen  Gesellschaft  verkehren,  „in  ent- 
schiedener Weise  {dtcidedly)  bekannt":  (so  kommen  250  pro 
Million  heraus !  Die  nachher  dann  einfach  auf  alle  Lebensalter 
bezogen  werden.  Wobei  nachher  der  Ruhm  keineswegs  mit 
dem  Wohlbekanntsein  in  literarisch-wissenschaftlichen  Zirkeln  gleich- 
gesetzt wird.  Indessen  wir  dürfen  uns  nicht  bei  den  Fehlern 
Galtons,  der  jedenfalls  —  zu  seiner  Ehre  sei  es  gesagt  —  reine 
wissenschaftliche  Absichten  hat ,  aufhalten.  Ebensowenig  kann 
ich  an  dieser  Stelle  in  eine  positive  Darstellung  des  Problemes  ein- 
gehen. Genüge  es  zu  sagen,  daß  der  Satz  Galtons  (S.  41): 
„Soziale  Vorteile  haben  eine  enorme  Macht,  jemanden  in  die 
Stellung  eines  Staatsmannes  zu  bringen,  die  immerhin  so  bedeutend 


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Ammons  Gesellschaftstheoric. 


103 


ist,  daß  man  ihm  das  Beiwort  „hervorragend"  nicht  versagen  kann, 
obwohl  es  mehr  als  wahrscheinlich  ist,  daß  in  der  Wiege  ausge- 
tauscht, und  im  Dunkel  aufgewachsen,  er  gelebt  hätte  und  ge- 
storben wäre,  ohne  aus  dieser  niedrigen  Lebensphäre  emporzu- 
tauchen"  —  daß  dieser  Satz  eine  viel  weitere  Geltung  hat,  al.s 
Galton  meint,  der  übrigens  ausdrücklich  erklärt,  daß  er  nur  Be- 
rühmtheit und  nicht  „hohe  soziale  oder  offizielle  Stellung"  im  Auge 
habe.  Für  Herrn  Ammon  ist  beides  so  gut  wie  identisch.  Die 
..Gesellschaftsordnung"  belohnt  eben  jedes  Verdienst  durch  „Stellung" 
und  läßt  die  Verdienstlosen  durchfallen.  Den  vorsichtigen  Hilfs- 
satz Galtons  hat  Herr  Ammon  kritiklos  an  sich  gerafft  und  durch 
viel  Wind  zu  einem  scheinbaren  und  selbstgefälligen  Hinbildungen 
imponierenden  Theorem  aufgeblasen. 

Daß  soziale  Auslese  stattfindet,  ist  ganz  richtig.  Herr  Ammon 
hat  nicht  zuerst  die  Aufmerksamkeit  darauf  gelenkt,  aber  daß  er 
sie  darauf  gelenkt  hat,  werde  mit  Dank  anerkannt.  Wahl  und  Aus- 
scheidung bedecken  ein  unermeßliches  Feld  des  sozialen  Lebens; 
es  erstreckt  sich  sehr  viel  weiter,  als  Herr  Ammon  zu  ahnen,  oder 
bedacht  zu  haben  scheint.  Aneignung,  Behaltung,  Assimilation  der 
brauchbaren  —  Abstoßung  der  unbrauchbaren  Materie,  ist  das  Grund- 
gesetz alles  Lebens;  Unterscheidung  des  Nützlichen  und  Schädlichen, 
Freundlichen  und  Feindlichen,  Grundgesetz  alles  be  wußten  Lebens, 
daher  auch  des  bewußten  Zusammenlebens  jeder  menschlichen,  ja 
schon  jeder  tierischen  Horde  und  Verbindung.  Und  für  jede  Ge- 
meinschaft oder  Gesellschaft  der  Menschen  ist  es  eine  hohe 
Lebensfrage,  ihre  führenden  und  für  sie  denkenden  Kräfte, 
oder  wie  man  sagen  mag,  Organe  richtig  auszulesen.  Nicht  immer 
wird  dies  freilich  als  eine  Aufgabe  empfunden;  vielmehr  über- 
wiegen, auch  historisch,  die  Fälle,  wo  es  als  naturnotwendig,  als 
selbstverständlich  erscheint,  daß  die  einen  herrschen,  die  anderen 
gehorchen,  oder  um  es  höflicher  auszudrücken,  daß  die  einen  voran- 
gehen, die  anderen  folgen.  Die  beiden  großen  Familienregeln: 
das  Gebieten  der  Alten  über  die  Jungen  und  das  Gebieten  der 
Männer  über  die  Frauen  fuhren  sich  auf  die  allgemeine  Regel 
zurück :  das  Sorgen  der  Stärkeren  für  die  Schwächeren,  und  daraus 
sich  ergebende,  dadurch  mehr  oder  minder  bedingte  Herrschaft 
jener  Starken  und  Mächtigen,  die  in  den  Anfängen  eher  durch 
riesige  Körperkräfte  und  wilde  Tapferkeit  als  durch  Tugenden  des 
Verstandes  und  Gemütes  sich  hervortun.  Ihrem  Wesen  nach  nahe 
mit  jenen  Ursprüngen  verwandt    ist  alle  Herrschaft  kraft  Krb- 


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Ferdinand  Tönnics, 


rechtes,  die  sich  an  das  Alter,  und  wie  man  dann  leicht  glaubt, 
an  die  erbliche  Vortrefflichkeit  und  Kraft,  vorzugsweise  aber  an  die 
wie  immer  gewonnene  ökonomische  Macht  gewisser  Familien 
anhängt,  denen  ein  gläubiges  Volk  die  besondere  Gunst  und  Gnade 
der  Götter,  als  der  Allväter  und  machtvollsten  Wesen  zuzuschreiben 
geneigt  ist.  Aber  von  jeher  konkurriert  mit  solchem  Glauben  und 
solcher  Untertänigkeit  das  Verlangen  der  Menge,  besonders  wenn 
sie  aus  wehrhaften  Männern  besteht,  ihre  Hauptleute  selber  zu 
wählen;  dies  gilt  als  ein  natürlicher  und  gerechter  Anspruch  freier 
und  mündiger  Personen,  zumal  wenn  sie  als  Bürger  sich  selber 
als  Urheber  und  Träger  ihres  Gemeinwesens  fühlen.  Mit  jeder 
Wahlpraxis  kann  freilich  eine  tatsächliche  Vererbung  von  Befug- 
nissen zusammen  bestehen,  ja  sich  neu  daraus  entwickeln;  und  aus 
der  Tatsache  der  Erblichkeit  dann  wieder  ein  Erbrecht  entstehen. 
Im  allgemeinen  aber  macht  das  Prinzip  der  Wahl  auf  Kosten 
des  Erbrechtprinzips  sich  geltend  und  muß  um  so  mehr  an  dessen 
Stelle  treten,  je  mehr  der  Glaube  an  eine  übernatürliche  Sank- 
tion erblicher  Herrscherbefugnissc  schwindet,  und  andererseits,  je 
mehr  die  Vererbung  leiblicher  und  seelischer  V  o  r  z  ü  g  e  ihre  Kehr- 
seite fühlbar  macht:  als  Vererbung  der  Kraftlosigkeit,  des  Ilsters, 
der  Degeneration.  Die  zweckmäßige  Funktion  des  Wahlprinzips 
ist  aber  selber  an  viele  und  schwierige  Bedingungen  geknüpft.  Vor 
allen  Dingen  ist  sie  immer  in  gewisser  Weise  abhängig  von  den 
Qualitäten  der  Wähler.  Vorzugsweise  und  offenbar  sind  diese 
wichtig,  wenn  einzelne  Personen  die  Wählenden  und  Prüfenden  sind, 
und  hier  sind  große  Schwankungen  um  so  wahrscheinlicher;  wenn 
z.  B.  einem  Monarchen  die  Wahl  der  Staatsminister  zusteht,  so  ist 
es  wesentlich  von  der  Begabung,  Klugheit,  Wohlberatenheit  des 
Monarchen  abhängig,  ob  diese  wichtige  Wahl  gut  oder  schlecht 
ausfallt;  und  ähnlich  überall  bei  individuellen  Wahlen  und  Er- 
nennungen von  oben  her.  Anders  wenn  Wahlen  durch  Kollegien 
vollzogen  werden;  je  größer  das  Kollegium,  desto  eher  wird  die 
ausschlaggebende  Mehrheit  einen  Durchschnitt  der  Wähler- 
qualitäten darstellen;  es  werden  daher  vermutlich  sehr  weise  und 
sehr  törichte  Wahlen  gleich  unwahrscheinlich  werden.  Nun 
ist  ein  Wa  h  1  k  o  1 1  e  g  i  u  m  von  selber  gegeben,  wenn  irgend  eine 
Verbindung  —  ein  Verein,  eine  Genossenschaft  oder  welcher  andere 
Name  ihr  zukommen  möge  —  ihren  Vorstand,  ihre  Beamten 
und  Verwalter  wählt;  das  natürliche  Erfordernis  für  den  Wähler 
ist  hier,  daß  er  ein  Mitglied  der  Verbindung  sei,  in  einer  Stadt 


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Amnions  Gcsellschaftsthcoric. 


105 


z.B.  daß  er  das  Bürgerrecht  besitze.  Und  die  Wählerschaft  kann 
den  Erwählten  als  ihresgleichen,  als  ihren  Führer  oder  als  ihren 
Diener  betrachten  und  behandeln,  je  nach  ihren  Zwecken,  je  nach 
seinen  Funktionen,  aber  auch  je  nach  beiderseitigen  Qualitäten. 

Viele  Versuche  sind  in  Theorie  und  Praxis  gemacht  worden, 
die  Qualifikation  des  Wählers  in  politischen  Körperschaften 
zu  begrenzen,  und  dadurch  „bessere"  Wahlen  zu  sichern;  und  der 
dabei  zugrunde  liegende  Gedanke  war  zumeist  der,  daß  nach  der 
Größe  der  Beiträge  zur  öffentlichen  Kasse,  also  nach  den  Steuern, 
die  politischen  Rechte  abgemessen  werden  müßten.  Kein  Wunder, 
wenn  nun  die  Besitzlosen  dies  ungerecht  schelten,  da  sie  nämlich 
auch  nach  ihren  Kräften  beisteuern,  und  da  wahrscheinlich  ihr 
Scherflein,  zumal  wenn  die  Steuern  auf  Gegenstände  des  notwen- 
digen Lebensunterhaltes  gelegt  sind,  ein  viel  größeres  Opfer  be- 
deutet, als  die  Beiträge  des  Reichen;  und  zumal  wenn  die  Staats- 
verfassung ihn  (den  Armen)  nötigt,  mit  seinem  Leibe  und  seiner 
Wehrkraft  für  das  gemeinsame  Vaterland  einzustehen,  oder  gar  für 
die  besonderen  Interessen  der  Besitzenden  sein  Leben  aufs  Spiel 
zu  setzen.  Aber  —  wird  dann  eingewandt  —  dem  „gemeinen 
Manne"  fehlt  die  Intelligenz,  das  Verständnis  für  politische  Ange- 
legenheiten. Nun,  eben  darum  soll  er  ja  einen  Vertreter  wählen, 
von  dem  er  ein  besseres  Verständnis  erwartet;  „er  wird  aber  auch 
dies  nicht  beurteilen  können,  er  wird  sich  durch  die  Beredsamkeit 
des  Wahlkandidaten,  durch  Schlagwörter,  die  seinen  Leidenschaften 
oder  seiner  Eitelkeit  schmeicheln,  betören  lassen".  Diese  Gefahr 
ist  ohne  Zweifel  vorhanden;  aber  die  Gefahr  ist  schon  viel  geringer, 
daß  in  einer  großen  Menge  diese  Betörten  gerade  die  Mehrheit 
bilden  sollten,  und  wenn  die  Mehrheit  eine  törichte  Wahl  trifft, 
so  darf  man  erwarten,  daß  sie  den  Schaden  davon  spüren  und  durch 
Erfahrung  gewitzigt  werde;  handelt  es  sich  um  Wahlen  für  eine 
große  Körperschaft,  so  ist  schon  außerordentlich  unwahrscheinlich, 
daß  auch  nur  eine  erhebliche  Minderheit  schlechthin  törichter 
Wahlen  stattfindet,  vielmehr  werden  hier  wieder  die  besonders 
weisen  und  die  besonders  verkehrten  Wahlen  Extreme  auf  beiden 
Enden  bilden,  während  sich  die  große  Menge  um  ein  mittleres 
Maß  von  wählerischer  Einsicht  gruppiert.  Im  großen  und  ganzen 
wird  auch  hier  der  Wettbewerb  dafür  sorgen,  daß  ganz  einfaltige 
und  des  öffentlichen  Vertrauens  unwürdige  Personen  gar  nicht  wagen 
werden,  als  Wahlkandidaten  aufzutreten,  zumal  da  die  W'ahlen  doch 
nicht  völlig  wild  zu  geschehen  pflegen,  sondern  Komitees  und 


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io6 


Ferdinand  Tönnies, 


engere  Versammlungen  zunächst  die  Kandidaten  „aufstellen".  DaL> 
es  dabei  oft  nur  allzu  menschlich  hergeht,  daß  das  Gespenst  der 
Korruption  sich  nicht  selten  an  die  grünen  Tische  setzt,  ist  eine 
Sache  für  sich,  die  dem  moralischen  Werte  der  Wahlen  mehr  als 
dem  intellektuellen  Eintrag  tut  Übrigens  scheint  mir  eine  Kor- 
rektur demokratischer  Verfassungen  weit  mehr  in  bezug  auf  die 
Qualifikation  der  Wählbaren  als  auf  die  der  Wähler  not  zu  tun. 
Ich  bin  aber  nur  darum  hier  auf  politische  Wahlen  zu  reden  ge- 
kommen, weil  doch  auch  sie  ihrer  Idee  und  Absicht  nach  dazu  be- 
stimmt sind,  den  rechten  Mann  auf  den  rechten  Platz  zu 
bringen,  und  weil  Herr  Ammon,  so  sehr  er  die  Gesellschafts- 
ordnung herausstreicht,  der  er  es  auch  zuschreibt,  wenn  begabte 
und  brave  Leute  als  Beamte  Karriere  machen,  ebenso  sehr  die  im 
Deutschen  Reiche  gültige  Verfassung  und  Staatsordnung  mit 
Schimpf  bedeckt,  weil  das  allgemeine  Stimmrecht  —  so  sagt  er 
wörtlich  S.  147  —  darauf  abziele,  alle  hervorragenden  Persönlich- 
keiten möglichst  auszumerzen;  Deutschland  sei  dadurch  in  eine 
Lage  versetzt,  'bei  der  die  unteren  Klassen  vermöge  ihrer  großen 
Kopfzahl  fast  alle  Macht  besitzen  (man  höre!);  die  gewöhnlichsten 
Schreier  und  Schwätzer  seien  die  Bevorzugten  des  allgemeinen 
Stimmrechts;  im  Reichstage  werden  die  meisten  Reden  (Herr 
Ammon  wird  als  Mann  der  exakten  Wissenschaft  genau  gezählt 
haben)  nicht  zur  Sache,  sondern  mit  Rücksicht  auf  die  künftige 
Wahlagitation  zum  Fenster  hinaus  gehalten;  das  allgemeine  Wahl- 
recht sei  eine  antisoziale  Einrichtung,  insofern  als  es  die  natür- 
liche Gesellschaftsordnung  auf  den  Kopf  stelle.  —  Die  instinktive 
Weisheit  der  Jahrtausende  ist  also  mit  dieser  Einrichtung  auf 
einen  bedenklichen  Holzweg  geraten,  warum  aber  die  Staats- 
ordnung so  ungünstig  von  der  Gesellschaftsordnung  sich  unter- 
scheidet, das  sagt  uns  Herr  Ammon  nicht,  ja  er  m  e  r  k  t  gar  nicht 
einmal,  daß  er  die  eine  verherrlicht,  die  andere  heruntermacht;  er 
muß  sich  vorkommen,  wie  der  Schmeichler  im  Ballsaale,  der  einem 
Bekannten  ins  Ohr  flüstert:  mit  Bewunderung  betrachte  ich  die 
Schönheit  Ihrer  Frau  Gemahlin;  wie  herrlich  sticht  sie  ab  gegen 
das  Affengesicht  der  jungen  Dame,  die  neben  ihr  steht  —  wenn 
der  angeschmeichelte  Gatte  ihm  antwortet :  „Die  junge  Dame  ist 
meine  Tochter."  Denn  just  so  ist  das  Verhältnis :  Die  Staatsordnung 
ist  die  Tochter  der  Gesellschaftsordnung. 

Bei  dem  dritten  Hauptsatze  Ammons  will  ich  mich  nicht 
lange  aufhalten.   Herr  Ammon  glaubt  beweisen  zu  können,  daß  die 


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Amnions  Gescllschaftsthcorie. 


Verteilung  der  Begabungen  in  der  heutigen  Gesellschaft  in  der 
Verteilung  der  Einkommen  wie  sie  im  Königreich  Sachsen 
angetroffen  werde,  sich  spiegele.  Dieser  „Beweis"  ist  allerdings 
eine  höchst  merkwürdige  Leistung  und  verdient  eine  sehr  scharfe 
Beleuchtung.  Es  genügt  auch  nicht,  über  den  barocken  Einfall  sich 
lustig  zu  machen ;  denn  das  Absurdeste  findet  Beifall  und  Glauben, 
wenn  es  gewissen  mächtigen  Interessen  dient.  An  dieser  Stelle 
dürfen  wir  aber  uns  genügen  lassen,  diesen  wissenschaftlichen 
Unfug  —  ungern,  aber  mit  voller  Bewußtheit  müssen  wir  einen 
so  starken  Ausdruck  einsetzen  —  kurz  zu  charakterisieren.  Wir 
haben  selber  Bezug  genommen  auf  die  bekannte  Wahrscheinlich- 
keitsregel  der  Abweichung  vom  Mittel;  der  mehrfach  erwähnte 
Francis  Galton  beruft  sich  darauf,  daß  eine  große  Zahl  von 
Messungen  z.  B.  der  Körperlängen  in  einer  leidlich  homogenen  Be- 
völkerung die  große  Menge  der  Individuen,  nämlich  über  die  Hälfte 
um  den  Durchschnitt  nahe  gruppiert  zeige,  während  die  Ab- 
weichungen nach  oben  und  unten  ziemlich  symmetrische  Bildung 
zeigen,  so  daß  z.  B.  auf  I  Million  annähernd  gleich  viele  sehr 
Große  und  sehr  Kleine  kommen;  auf  dem  oberen  Ende  einige 
Riesen,  auf  dem  unteren  einige  Zwerge  und  so  in  gleichen  Ab- 
ständen auf  beiden  Seiten  annähernd  gleiche  relative  Mengen. 
Galton  hält  es  für  wahrscheinlich,  daß,  wenn  man  die  Begabungen 
messen  könnte,  sich  ein  ähnliches  Resultat,  eine  ähnliche  Symme- 
trie ergeben  würde.  Herr  Ammon  behauptet,  daß  die  wirklichen 
Messungen  des  Einkommens  im  Königreich  Sachsen,  wie  sie  in 
der  Besteuerung  sich  darstelle,  ebenfalls  einen  ähnlichen  Aufbau, 
wenigstens  teilweise  —  denn  er  ist  hier  sehr  genügsam  —  oder 
wie  er  sagt  und  zeichnet  —  eine  ähnliche  Kurve  aufweisen.  Er 
behandelt,  um  dies  darzutun,  die  Ergebnisse  der  Steuercinschätzung 
nach  einer  miserablen  Methode  —  aber  das  ist  Nebensache,  wir 
wollen  ihm  dennoch  zugeben,  daß  auch  die  versteuerten  Ein- 
kommen sich  in  ähnlicher  Weise  um  einen  Durchschnitt  gruppieren. 
Wenn  Galton  ein  Mann  des  Humbugs  wäre,  so  könnte  er  etwa 
gesagt  haben:  Seht  einmal  diese  wunderbare  Ordnung :  die  größten 
Riesen  sind  die  größten  Genies,  die  große  Menge  ist  von  mittel- 
mäßiger Größe  und  mittelmäßiger  Begabung,  die  Menschen  von 
kleinem  Wuchs  sind  auch  minderbegabt.  Die  Zwerge  sind  wahre 
Dummköpfe.  Genau  so  verfährt  nämlich  Herr  Ammon:  die  nach 
ihm  wirkliche  Kurve  der  Einkommensteuer  läuft  parallel  mit 
Galtons  schematischer  Kurve  der  Begabung  —  ergo  entsprechen 


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io8 


Ferdinand  Tönnics, 


die  beiden  so  einigermaßen  einander,  im  großen  und  ganzen  be- 
kommt jeder  das  Einkommen  auf  das  er  nach  seiner  Begabung 
Anspruch  hat.  —  Die  Dreistigkeit  und  die  Absurdität  verlaufen  auch 
in  parallelen  Kurven. 

Wir  kommen  nun  zum  vierten  Hauptsatze  Ammons:  zu  der 
wunderbaren  Einrichtung  der  Stände.  Das  Wesentliche  daran  ist  die 
angeblich  garantierte  Vererbung  höherer  intellektueller  und  mora- 
lischer Begabungen.  Die  oberen  Schichten  sind  die  gescheidtesten 
und  sittlich  besten;  weise  Einrichtung  der  Natur  —  oder  der  Ge- 
sellschaft, das  bedeutet  für  Herrn  Ammon  eins  und  dasselbe  — 
daß  sie  fast  nur  unter  sich  heiraten:  ergibt  eine  Reinkultur  von 
Talenten  und  Genies  und  edlen  Charakteren.  Wir  teilen  die  Mei- 
nung des  kritisierten  Autors,  daß  es  ebenso  natürlich,  wie  zweck- 
mäßig ist,  wenn  eine  Ehe  so  sehr  als  möglich  in  gemeinsamen  oder 
doch  ähnlichen  sozialen  Verhältnissen  wurzelt :  die  Ehe  ist ,  be- 
sonders für  die  bürgerliche  und  höhere  Klasse  so  sehr  eine  Familien- 
angelegenheit,  daß  das  Verständnis  zwischen  Ehegatten  weit 
mehr  durch  verschiedenartiges  Herkommen,  verschiedene  Lebens- 
gewohnheiten und  Anschauungen,  als  etwa  durch  verschiedene 
Sprachen  erschwert  wird.  Die  Harmonie  der  Eltern  ist  ein  sehr 
bedeutendes  Moment  für  die  Erziehung  der  Kinder;  diese  wird  da- 
her, auch  nach  unserer  Ansicht,  durch  erhebliche  Verschiedenheit 
des  „Standes"  gefährdet;  es  spielen  da  feine  psychologische 
Momente  hinein.  Daß  aber  die  angeborene  Begabung  der 
Kinder  durch  standesgemäße  Heiraten  bedingt  werde,  ist  eine  aus 
freier  Luft  gegriffene,  bodenlose  Behauptung  oder  vage  Vermutung 
des  Herrn  Ammon.  Sie  hat  für  intellektuelle  Begabungen 
einige  Wahrscheinlichkeit,  wenn  man  die  Vererbung  erworbener 
Eigenschaften  annimmt,  daß  also  eine  während  des  Lebens  ge- 
übte Anlage  eher  und  stärker  sich  vererbt;  dann  hätte  z.  B.  von 
zwei  gleich  musikalischen  Mädchen,  von  denen  die  eine  ein  braves 
Dienstmädchen,  die  andere  eine  ausgebildete  Konservatoristin 
wäre,  diese  weit  mehr  Chancen,  Mutter  eines  musikalischen  Talentes 
oder  gar  Genies  zu  werden,  als  jene.  Herr  Ammon  will  aber  aus- 
drücklich von  etwaiger  Vererbung  erworbener  Eigenschaften  ab- 
sehen, weil  diese  strittige  Frage  für  seine  Gcsellschaftsthcorie  „be- 
langlos" sei  (S.  8);  mit  Auslese  will  er  alles  machen.  Wenn  wir 
aber  die  Erfahrung  allein  befragen,  so  sprechen  zum  mindesten 
sehr  bedeutende  Instanzen  gegen  jene  Annahme,  daß  standesge- 
mäße Heiraten  besonders  günstig  für  die  Qualitäten  der  Nach- 


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Amnions  Gcsellschaftstheorie. 


IO9 


kommen  seien.  Aus  Ammons  Voraussetzung,  daß  die  unteren 
Klassen  nichts  als  einen  Bodensatz  und  also  so  etwas  wie  eine 
schlechte  Varietät  darstellen,  folgt  ja  allerdings,  daß  eine  Kreuzung 
mit  ihnen  für  die  höheren  Klassen  schlechte  Folgen  haben  muß. 
Nun  hat  Herr  Ammon  aber  noch  andere  Theorien,  auf  die  er  ein 
großes  Gewicht  legt,  wenn  er  auch  kaum  einen  Versuch  macht, 
sie  systematisch  mit  seinen  Hauptsätzen  zu  verknüpfen.  Erpicht 
auf  den  Begriff  der  Auslese  hat  er  auch  die  Lehre  des  im 
Jahre  1901  verstorbenen  Münchener  Gelehrten  Georg  Hansen 
vom  „Bevölkerungsstrom"  gierig  aufgegriffen  und  bei  sich  einge- 
heimst. Nach  dieser  Lehre  findet  eine  fortwährende  Erneuerung 
der  höheren  Klasse  in  den  Städten  statt,  durch  Nachschübe, 
die  zwar  von  unten  aufsteigen,  aber  doch  nicht  aus  der  unteren 
Klasse  kommen,  sondern  von  Leuten,  die  „in  einfachen,  gesunden 
Lebensverhältnissen  leben,  die  eine  überflüssige  Kinderzahl  erzeugen 
und  ihre  geistigen  Fähigkeiten  latent  auf  diese  vererben,  also  — 
Bauern"  sagt  Herr  Ammon  (S.  140).  „Sic  würden  ihrer  Bildung 
nach  zwar  zum  unteren  Stande  gehören,  wir  dürfen  sie  jedoch  mit 
den  Städtern  bezw.  Industriearbeitern  nicht  vermischen,  da  sie  einen 
besonderen  Stand  für  sich  ausmachen"  (S.  112).  „Der  Bauernstand 
hat  für  den  Ersatz  aller  übrigen  Stände  aufzukommen,  die  sich 
nicht  selbst  erhalten  können.  Der  Bauer  erfreut  sich  völlig  zuträg- 
licher Lebensbedingungen,  die  ihm  gestatten,  nicht  nur  selbst 
kräftig  zu  bleiben,  sondern  auch  eine  gesunde,  ausdauernde  und 
bildungsfähige  Nachkommenschaft  zu  erzielen"  (S.  129).  Darauf 
folgt  dann  ein  ganzes  Kapitel  über  das  Aussterben  der  höheren 
Stände,  und  es  heißt  darin,  wie  sonst  an  vielen  Stellen,  daß  sie 
den  Schädlichkeiten  erliegen,  die  mit  der  einseitigen  geistigen  Aus- 
bildung (S.  123)  und  der  sitzenden  Lebensweise  verbunden  sind. 
Innerhalb  von  3  bis  4  Generationen  ist  durchschnittlich  schon  „die 
Gesundheit  der  in  höhere  Stellungen  beförderten  Familien  auf- 
gebraucht", nachdem  schon  in  der  dritten  Generation  ein 
Rückgang  der  Begabung  stattgefunden  hat,  so  daß,  also  auf 
das  Schwinden  des  Talentes  bald  das  physische  Erlöschen 
zu  folgen  pflegt."  Ein  glänzendes  Zeugnis,  das  Herr  Ammon 
da  den  Wirkungen  der  Klasseninzucht  ausstellt;  während  er  sonst 
die  Ständebildung  als  eine  Einrichtung  gepriesen  hat,  welche  die 
Verbindung  von  Individuen  höherer  Begabungsklassen  begünstigt, 
also  auf  die  Erziehung  einer  begabteren  Varietät  hinwirkt  (S.  68 1 : 
„sie  (die  Ständebildung)  —  heißt  es  ferner  (S.  69)  —  setzt  das  Werk 


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I  IO 


Ferdinand  Tönnies, 


der  natürlichen  Auslese  beim  Menschen  fort,  und  begründet  eine 
natürliche  Züchtung  im  Sinne  Darwins"!  Von  den  Widersprüchen 
will  ich  ganz  absehen  und  sie  Herrn  Ammon  cum  ecuteris  zugute 
halten ;  aber  es  scheint  doch  nach  dieser  Lehre  jedenfalls  die  Gefahr 
sehr  groß  zu  sein,  in  den  absteigenden  Ast  der  höheren  Stände 
hinein  zu  heiraten,  und  die  Verbindung  mit  dem  Bauernstande,  der 
ja  ohnehin  die  Urmaterialien  und  die  latenten  Begabungen  enthält, 
wäre  ohne  Zweifel  das,  was  Herr  Ammon  aus  dem  Gesichtspunkte 
der  natürlichen  Züchtung  empfehlen  müßte.  —  Nun  kommt  aber 
noch  ein  dritter  Gesichtspunkt  hinzu,  bei  dem  Herr  Ammon  recht 
eigentlich  in  seinem  Elemente  ist,  nämlich  eine  anthropologische 
Rassentheorie.  In  Anlehnung  an  Gobineau  und  Lapouge  behauptet 
er  im  mittleren  Teile  seines  Buches  (und  kommt  dann  des  öfteren 
darauf  zurück),  daß  die  durch  seine  vielgepriesene  Gesellschafts- 
ordnung und  Ständebildung  garantierte  günstige  Zuchtwahl  gar  nicht 
oder  doch  nicht  überwiegend  stattfinde,  sondern  „die  Arier 
sind  die  Kulturträger  aller  Zeiten"  (S.  129)  und  das  arische  Ele- 
ment sei  „in  Zentraleuropa  seit  dem  Beginn  des  Mittelalters  im 
Schwinden  begriffen  —  er  nennt  das  ausdrücklich  eine  „rück- 
schrittliche Auslese"  (S.  132).  In  Deutschland  bilden  die  hoch- 
gewachsenen blauäugigen  blonden  Langköpfe  nur  noch  einen  win- 
zigen Bruchteil  der  Gesamtbevölkerung,  in  Baden  etwa  1,45%;  sie 
reichen  nicht  mal  mehr  aus  um  die  höheren  Stände  zu  füllen. 
„Die  germanischen  Elemente  sind  bei  uns  seit  dem  Beginn  des 
Mittelalters  [in  der  Chronologie  ist  Herr  Ammon  ganz  konsequent] 
in  der  schonungslosesten  Weise  aufgebraucht  worden,  während  die 
auf  der  Scholle  sitzenden  fremden  Volksbestandteile  sich  unge- 
stört vermehren  konnten;  darum  ragen  jene  nur  noch  in  einsamen 
Klippen  aus  der  brandenden  Flut  hervor.  Die  Tatsachen  dieser 
rückschrittlichen  Auslese  muß  man  sich  gegenwärtig  halten, 
um  den  psychologischen  Untergrund  zu  begreifen,  dem  die  Philo- 
sophie Friedrich  Nietzsches  entsprochen  ist."  Also  zuerst  und 
wesentlich  aus  sich  selber  (Ständcbildung  als  natürliche  Züchtung), 
nur  zur  Ergänzung  aus  den  unteren  Klassen,  insbesondere  aus  der 
Arbeiterklasse,  die  infolgedessen  den  „Bodensatz"  der  Unbe- 
gabten darstellt;  alsdann  aus  den  Bauern,  als  den  allein  sich  gesund 
erhaltenden,  erneuern  sich  die  herrlichen  oberen  Stände,  die  mit 
den  Talenten  und  Genies  identisch  sind;  und  endlich  —  gar  nicht; 
sondern  sie  bilden  eine  mehr  und  mehr  dahin  schwindende  höhere 
Rasse  von  besonderen  Schädeln,  besonderer  Haar-  und  Augen- 


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Aromons  Gesellscbaflsthcorie. 


III 


färbe:  —  Bauern  und  alle  unteren  Schichten  sind  dagegen  ein  rund- 
köpfiges  Pack,  körperlich  und  seelisch  anders  geartet.  —  O  quae 
eonfusio  rerum!  muß  man  hier  ausrufen,  und  des  Ausspruches  Bacos 
von  Verulam  sich  erinnern,  daß  die  Wahrheit  „leichter  aus  dem 
Irrtum  als  aus  der  Verwirrung  emportaucht". 

Denn  in  der  Tat  liegt  hier  noch  mehr  Verworrenheit  als  grobe 
Unrichtigkeit  vor.  In  jeder  seiner  Lehren  sind  Elemente  von 
Wahrheit  enthalten.  Und  die  schreckliche  Verworrenheit  des 
Systems  wird  durch  ein  hübsches  schriftstellerisches  Talent,  über 
das  der  Autor  verfügt,  nicht  ohne  Anmut  verhüllt.  Auch  besitzt 
er  offenbare  wissenschaftliche  Fähigkeiten,  die  nur  leider  jeder  Dis- 
ziplin entbehren.  Wir  halten  ihm  gerne  zugute,  daß  er  als  Natur- 
forscher von  der  sozialen  Entwicklung  nur  schwache  Erkenntnis 
gewonnen  hat;  daß  er  insbesondere  nicht  weiß,  wie  gerade  in  den 
fortschreitenden  Kulturländern  seit  vier  Jahrhunderten  die  „Gesell- 
schaftsordnung" ein  sehr  flüssiges,  und  nicht,  wie  er  die  heute  ob- 
waltende auffaßt,  ein  festes  Gebilde  ist.  Am  meisten  wird  ihm 
der  echte  theoretische  Sinn  beeinträchtigt  durch  die  fortlaufende 
apologetische  und  polemische  Absicht,  die  pamphletartige  Kritik 
der  „Sozialdemokratie",  die  in  einzelnen  Punkten  ganz  treffend  sein 
mag,  im  ganzen  durchaus  deplaciert  ist.  Es  ist  mehr  der  in  der 
Sozialdemokratie  steckende  Liberalismus,  worauf  er  ohne  es  selber 
zu  wissen  und  zu  merken,  loshaut,  als  der  Sozialismus,  der  die 
Negation  dieses  Liberalismus  ist;  jener  braucht  sich  nicht  getroffen 
zu  fühlen;  wird  vielmehr  seinerseits  auf  natürliche,  sowohl  als  auf 
soziale  Auslese  das  aller  entschiedenste  Gewicht  legen  müssen. 
Die  ganze  aristokratische  Theorie,  für  die  sich  Herr  Ammon  be- 
geistert, läßt  sich  —  das  ist  beinahe  von  selbst  verständlich  — 
weit  eher  zugunsten  der  alten  Aristokratie,  überhaupt  der  weit 
hinter  uns  liegenden  ständischen  Gesellschaftsordnung  verwerten, 
als,  wie  er  doch  vorzugsweise  will,  für  die  neue  Pseudoaristokratie, 
die  Plutokratie  und  ihre  Anhänge. 


(Der  Verfasser  beabsichtigt  in  einem  der  nächsten  Hefte,  im  Anschluß  an  die 
obige  Abhandlung,  einige  weitere  Ausführungen  zu  geben,  die  sich  mit  den  von 
Galton  vertretenen  Ansichten  beschäftigen  werden.) 


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112 


Die  britischen  Arbeiter  und  der  zollpolitische 

Imperialismus. 

Von 

EDUARD  BERNSTEIN. 

„Ein  großes  I.and  wie  Großbritannien,  ein  altes,  in  sich  ge- 
festigtes, praktisch  denkendes,  die  Dinge  geschäftsmäßig  betrach- 
tendes, überwiegend  Gewerbe  und  Handel  treibendes  Land,  ein  be- 
quem zwischen  dem  Osten  und  dem  Westen  gelegenes  Inselreich 
wird  plötzlich  aufgefordert,  seine  Zoll-  und  Handelspolitik  zu  ändern. 
Man  mutet  ihm  zu,  seine  Zölle  zu  revidieren,  seine  Verträge  zu- 
rechtzustutzen, von  seiner  Politik  der  geöffneten  Häfen  abzulassen, 
mit  der  freien  Zulassung  der  Tauschgüter  der  ganzen  Menschheit 
ein  Ende  zu  machen." 

Mit  diesen,  Kampf  anzeigenden  Worten  beginnt  ein  vom 
bekanntesten  der  britischen  Arbeiterführer,  John  Burns,  herrührender 
Aufsatz  als  erstes  Kapitel  einer  unter  dem  Titel  „die  Arbeit  und 
der  Zollschutz"  kürzlich  in  London  erschienenen  Sammelschrift.1) 
Ihr  Herausgeber,  Mr.  H.  W.  Massingham,  war  lange  Jahre  Chef- 
redakteur des  radikalen  Londoner  „Daily  Chronicle"  und  ist  zur  Zeit 
Redakteur  des  parlamentarischen  Teils  der  „Daily  News".  Das 
Buch  hat  eine  entschiedene  antiimperialistische  Tendenz.  Es  soll, 
sagt  sein  Herausgeber  im  Vorwort,  „vom  Standpunkt  der  Arbeiter- 
sache aus  ein  einfaches  aber  vollständiges  Netzwerk  von  Gründen 
gegen  Mr.  Chamberlains  Schutzzollpolitik  darbieten".  Neben  dem 
nahezu  neunzigjährigen  Veteranen  Holyoake,  dem  sehr  tüchtigen 
Sozialökonom  John  A.  Hobson  und  etlichen  anderen  namhaften 


')    Labour   and    Protection,    a   Serics  of  Studies,    cdiled   by  H.  W. 
Massingham.    London,  T.  Fisher  L'nwin. 


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Die  britischen  Arbeiter  und  der  zollpolitische  Imperialismus.  113 


Sozialpolitikern  nehmen  in  diesem  Buch  zwei  typische  Repräsen- 
tanten der  britischen  Arbeiterwelt  das  Wort.  John  Burns,  der 
Führer  des  großen  Hafenarbeiterausstandes  von  1889,  eröffnet  es 
mit  einer  Abhandlung  über  „die  politischen  Gefahren  der 
Schutzzöllnerei",  und  George  N.  Barnes ,  der  Generalsekretär 
des  großen  Maschinenbau- Arbeiterverbandes ,  gibt  ihm  mit  einem 
Aufsatz  über  den  „Schutzzoll  in  den  Stapelindustrien" 
den  geistigen  Abschluß. 

Gleich  Barnes  ist  auch  Burns  von  Hause  aus  Maschinenbauer, 
gleich  ihm  bezieht  er  von  den  Maschinenbauarbeitern  Englands 
seinen  Lebensunterhalt.  Der  große  Maschinenbauerverband  zahlt 
ihm  ein  Gehalt,  das  es  ihm  möglich  macht,  als  Abgeordneter  im 
Parlament  und  im  Londoner  Grafschaftsrat  zu  wirken.  Hätten  wir 
keine  andere  Quelle  der  Information  über  die  Stellung  der  britischen 
Arbeiter  zum  zollpolitischen  Imperialismus,  so  würde  uns  die  Tat- 
sache, daß  diese  zwei  Vertreter  der  organisierten  Arbeiter  einer  der 
wichtigsten  Industrien  sich  schroff  gegen  ihn  erklären,  schon  ge- 
nügende Auskunft  darüber  geben,  wie  die  große  Masse  derjenigen 
britischen  Arbeiter  über  ihn  denkt,  die  überhaupt  an  öffentlichen 
Angelegenheiten  Anteil  nehmen.  Es  gibt  namentlich  wohl  kaum 
einen  Arbeiterführer  im  heutigen  England,  der  im  allgemeinen  so 
sicher  das  Empfinden  des  Durchschnittsarbeiters  seines  Landes 
herauszufühlen  weiß,  wie  John  Burns. 

Indes  liegen  auch  über  die  Stellungnahme  anderer  Arbeiter- 
führer zu  dieser,  heute  in  England  im  Vordergrund  des  politischen 
Interesses  stehenden  Frage  authentische  Urkunden  zur  Genüge  vor. 
Kein  Vertreter  einer  namhaften  Arbeiterverbindung,  der  nicht  in 
der  einen  oder  anderen  Form  seine  Ansicht  über  sie  kundgegeben 
hätte.  Englands  Arbeiter  sind  politisch  bei  weitem  nicht  so  ein- 
heitlich organisiert,  wie  die  Deutschlands,  und  verfugen  über  nur 
wenige  eigene  Blätter.  Aber  dafiir  sind  die  auf  den  Absatz  in 
Arbeiterkreisen  berechneten  bürgerlichen  Tageszeitungen  stets  bei 
der  Hand,  in  der  Form  von  Interviews  etc.  bekanntzugeben,  wie 
der  und  jener  Führer  von  Ruf  über  die  gerade  auf  der  Tagesord- 
nung stehenden  Fragen  denkt.  Den  Rest  besorgen  Flugblätter,  Flug- 
schriften, Revue-Artikel,  Bücher. 

Soweit  es  den  Schreiber  dieses  möglich  war,  sich  die  ein- 
schlägige Arbeitcrliteratur  zu  verschaffen,  läßt  sie  sich  mit  ganz 
wenigen  Ausnahmen  als  den  Plänen  auf  Herstellung  eines  britischen 
Reichszollbundes  feindlich  bezeichnen.    Allerdings  in  verschiedenen 

Archiv  für  Soxtalwissenschaft  u.  Sozialpolitik.  1.    (A.  f.  soz.  G.  u.  St.  XIX.)  i.  8 


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114 


Eduard  Bernstein, 


Abtönungen.  Es  ist  nicht  immer  klar  zu  erfahren,  ob  die  Idee 
selbst  verworfen  wird,  oder  die  Gegnerschaft  nur  der  konkreten 
Form  gilt,  welche  sie  in  den  Plänen  des  bisherigen  Ministers 
Joseph  Chamberlain  angenommen  hat.  Bald  richten  sich  die  Äuße- 
rungen allgemein  gegen  die  Schutzzölle,  bald  werden  ganz  bestimmte 
Zölle,  insbesondere  die  auf  Lebensmittel  in  den  Vordergrund  ge- 
stellt, so  daß  die  Frage  offen  bleibt,  ob  nicht  die  betreffenden 
Manifestanten  sich  weniger  schroff  ablehnend  oder  gar  freundlich 
verhalten  würden,  wenn  es  sich  ausschließlich  um  Schutzzölle  auf 
Industrieprodukte  handeln  würde. 

Im  allgemeinen  ist  dagegen  jede  prinzipielle  Erklärung  gegen 
eine  Rückkehr  zum  System  der  Schutzzölle  als  eine  Absage  gegen 
die  Reichszollvereinsidee  zu  betrachten.  Denn  wie  es  schon  im 
Namen  ausgedrückt  liegt,  bedeutet  der  Reichszollverein  ein  System 
von  Reichszöllen,  ist  er  ohne  Zölle  ein  Messer  ohne  Klinge.  Der 
englische  Rcichszollvereinsgcdanke  stützt  sich  auf  das  Vorbild  des 
deutschen  Zollvereins,  und  zwar  so  sehr,  daß  selbst  das  deutsche 
Wort  als  technischer  Ausdruck  in  die  englische  Sprache  aufge- 
nommen worden  ist.  Man  findet  in  der  Fachliteratur  ebenso  oft, 
wenn  nicht  öfter,  den  Ausdruck  Imperial  Zollverein,  wie  den  Aus- 
druck Imperial  Customs  Union,  und  vielfach  werden,  einer  be- 
kannten Eigentümlichkeit  des  englischen  Sprachgeistes  entsprechend, 
die  beiden  Worte  abwechselnd  so  gebraucht,  daß  das  eine  für  das 
abstrakte  Prinzip,  das  andere  für  die  konkrete  Sache,  bzw.  den 
ganz  bestimmten  Zollverein  steht,  um  den  sich  jetzt  die  Debatte 
dreht.  So  lauten  die  Titel  von  drei  sozialistischen  Abhandlungen, 
die  sich  mit  der  Frage  befassen,  wie  folgt : 

Social  Demoer aey  and  the  Zollverein.  By  H.  W.  Lee  (Seere- 
tary  of  the  Social-Democratic  Federation).  London,  The  Twenticth 
Century  Press,  Limited. 

The  Chamberlain  Bubble.  Facts  about  the  Zollverein,  with  an 
alternative  Policy.  By  Philip  Snowdon  (Chairman  of  the  Inde- 
pendent  Labour  Party).  London,  The  Indepcndcnt  I^abour  Party 
Literature  Publication  Department. 

The  Zollverein  and  British  Industry.  By  J.  Ramsay  Mac- 
donald  (Member  of  the  London  County  Council).  London,  Grant 
Richards. 

Von  diesen  drei  Schriften  sind  die  ersten  zwei  Penny-Flug- 
schriften,  die  letzte  ein,  165  Druckseiten  kl.  8"  fassendes  Schilling- 
buch.   Wie  aus  ihren  Titeln  hervorgeht,  ist  der  Verfasser  der 


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Die  britischen  Arbeiter  und  der  roll  politische  Imperialismus. 


115 


ersten  ein  hervorragendes  Mitglied  des  sozialdemokratischen  Bundes, 
der  Verfasser  der  zweiten  Vorsitzender  der  —  sozialistischen  — 
Unabhängigen  Arbeiterpartei.  Auch  der  Verfasser  der  dritten  Schrift 
gehört  dieser  letzteren  Organisation  an,  ist  aber  außerdem  Sekretär 
der  Arbeitervertretungsliga,  einer  Verbindung  sozialistischer 
Vereine  und  Gewerkschaften,  die  als  solche  heute  mehr  als  eine 
Million  Arbeiter  vertritt.  Ihr  gehören  fast  alle  großen  Gewerkschaften 
Englands  an. 

Von  dieser  Liga  (Labour  Representation  League)  sind  eine 
ganze  Reihe  von  Flugblättern  gegen  die  Rückkehr  zum  Schutzzoll 
veröffentlicht  worden.  Das  Bemerkenswerteste  davon  ist  das  Flug- 
blatt Nr.  10,  das  an  die  Trade  Unionisten  von  Großbritannien  und 
Irland  gerichtet  ist  und  den  Titel  trägt:  United  Labour  Manifeste 
Ott  Tariffs  and  Labour  Conditions. 

Die  elf  Arbeitervertreter,  die  zur  Zeit  im  britischen  Parlament 
sitzen,  die  Mitglieder  des  parlamentarischen  Gewerkschaftskomitees, 
das  leitende  Komitee  des  allgemeinen  Gewerkschaftsbundes  und 
der  Vorstand  der  Arbeitervertretungsliga  selbst  haben  dies  Manifest 
unterzeichnet.  Im  ganzen  42  Personen,  von  denen  die  große  Mehr- 
heit an  der  Spitze  großer  Gewerkschaften  stehen.  Die  Bergarbeiter 
wie  die  größten  Zweige  der  Metallverarbeitungsindustrien,  die  Weber 
wie  die  Spinner,  die  Schuhmacher,  die  Gasarbeiter,  die  Hafenar- 
beiter, die  SchifTszimmerer,  die  Tischler  und  Zimmerleute,  die  Bau- 
und  Erdarbeiter  sind  in  den  Personen  ihrer  anerkannten  Führer 
hier  vertreten. 

Das  Manifest  hat  somit  auf  besondere  Berücksichtigung  An- 
spruch. Da  es  nicht  übermäßig  lang  ist,  sei  es  hier  im  Wortlaut 
wiedergegeben  : 

„An  die  Gewerkschaftler  von  Großbritannien  und  Irland. 

Nach  sechzig  Jahren  Freihandelspoliük  wird  das  Land  aufgefordert,  zum 
Schutzzoll  zurückzukehren,  und  einer  der  Hauptgründe,  der  zugunsten  des  Wechsels 
angeführt  wird,  ist,  daß  die  Arbeitsgelegenheit  durch  ihn  vermehrt  und  die  Löhne 
durch  ihn  werden  erhöht  werden.  Wenn  diese  Ergebnisse  die  Folgen  waren,  müßte 
jeder  Trade  Unionist  für  den  Schutzzoll  stimmen. 

Ist  der  Schutzzoll  ein  Heilmittel? 

Wir  haben  jedoch  die  Erfahrung  der  ganzen  gewerblichen  Welt  zum  Führer. 
Der  gegenwärtige  Stand  der  Geschäfte  bei  uns  ist  schlecht  —  das  Geschüft  ist  nach 
einem  Kriege  immer  schlecht  —  und  der  Ausblick  recht  trübe.  Aber  im  zollgc- 
schützten  Deutschland  sind  die  Nachfragen  der  Arbeitslosen  ebenso  drückend  wie 
hier,  und  im  zollgeschützten  Amerika  ist  die  Zahl  der  geschäftlichen  Zusammen- 

S 


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il6 


Eduard  Bernstein, 


brüche  im  Verhältnis  größer  als  im  freihändlerischcn  England.  Wir  ersehen  daraus, 
daß  unter  dem  Schutzzoll  Arbeitslosigkeit  und  schlechtes  Geschäft  mindestens  ebenso 
schwer  drücken,  als  wie  unter  dem  Freihandel. 

Verarmt  uns  die  Einfuhr? 

Auf  den  ersten  Blick  scheint  es,  als  ob  die  Menge  von  Gütern,  die  wir  vom 
Ausland  kaufen,  eine  Ursache  der  heimischen  Beschäftigungslosigkeit  sei.  Ohne 
Zweifel  leiden  einige  Gewerbe  unter  der  freien  Zufuhr.  Aber  diese  Frage  darf  nicht 
vom  Gesichtspunkt  enger  Lokal-  oder  Berufsinteressen  betrachtet  werden.  Die 
Gewerbe,  die  von  der  freien  Zufuhr  gelitten  haben,  sind  solche,  die  unter  den 
britischen  Bedingungen  nicht  wirtschaftlich  betrieben  werden  können.  Sic  können 
nur  dadurch  gedeihen,  daß  sie  die  Lohnarbeiter  in  anderen  Gewerben  ärmer  machen. 
Stellt  man  den  ganzen  Betrag  unserer  Nationalwirtschaft  in  Rechnung,  so  kann  nicht 
gesagt  werden,  daß  dieser  Betrag  durch  den  Zollschutz  erhöht  werden  würde,  denn 
wir  zahlen  für  unsere  Einfuhr  mit  den  Diensten,  die  wir  dem  Ausland  leisten.  Hörten 
wir  auf  zu  kaufen,  so  würden  wir  aufhören  zu  verkaufen.  Infolgedessen  würden  die 
kleinen  örtlichen  Vorteile,  die  der  Zollschutz  etwa  herbeiführte,  durch  den  Schaden, 
den  er  der  Nationalwirtschaft  als  Ganzem  zufügte,  mehr  als  aufgewogen  werden. 

Wir  müssen  unseren  Gcwcrbfleiß  mit  anderen  teilen. 

Es  ist  richtig,  daß  Deutschland,  Amerika  und  die  anderen  Industrieländer  mehr 
fabrizieren  als  ehedem.  Wir  haben  einen  großen  Vorsprung  vor  ihnen  gehabt,  aber 
keine  Politik,  die  von  uns  ausgeht,  kann  Deutschland  verhindern,  seine  Kohlen-  und 
Erzlager  zu  verarbeiten,  oder  Amerika  daran  hindern,  die  Baumwollerzeugnisse  seiner 
Südstaaten  in  Fabrikate  zu  verwandeln.  Großbritannien  muß  sich  darein  finden,  den 
Welthandel  mit  seinen  Konkurrenten  zu  teilen,  denn  es  kann  ihn  nicht  länger  mono- 
polisieren. 

Es  muß  daher  unsere  Politik  sein,  mit  unserem  Reichtum  hauszuhalten,  und 
es  muß  alles  beseitigt  werden,  was  die  Lasten  unserer  gewerblichen  und  arbeits- 
tätigen Klassen  erhöht. 

Was  der  Zollschutz  tun  wird. 

Wenn  nationale  Wirtschaftlichkeit  und  Leistungsfähigkeit  unsere  beste  Politik 
ist,  so  ist  der  Zollschutz  doppelt  zu  verurteilen,  denn  seine  unmittelbarsten  und 
sichersten  Wirkungen  werden  dahin  gehen : 

1.  Die  BodencingcntUmcr  in  den  Stand  zu  setzen,  ihre  Renten  zu  steigern. 

2.  Die  Anhäufung  des  Kapitals  in  wenigen  Händen  zu  fördern,  so  daß  Trusts 
die  Preise  und  Arbeitsbedingungen  diktieren  werden,  und  damit 

3.  die  Fähigkeit  der  Gewerkschaften,  die  Verhältnisse  der  Lohnarbeiter  zu 
verbessern,  einzuschränken. 

Wir  sind  mehr  wie  bloß  Freihändler. 

Wir  betrachten  jedoch  den  Freihandel  in  keiner  Weise  als  eine  Lösung  des 
Problems  der  Armut.  Er  ist  ein  gesundes  Wirtschaftsprinzip,  und  darum  treten  wir 
in  der  gegenwärtigen  Krisis  für  ihn  ein.    Er  ist,  so  weit  er  geht,  richtig. 


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Die  britischen  Arbeiter  und  der  zolipolitischc  Imperialismus. 


117 


Der  Freihandel  hat  uns  in  den  Stand  gesetzt,  Nationalrcichtum  anzuhäufen. 
Eine  Politik  der  Arbeit  muß  nunmehr  den  Freihandel  ergänzen,  um  uns  in  den 
Stand  zu  setzen,  diesen  Reichtum  in  gerechter  Weise  zu  verteilen. 

Wir  müssen  unsere  Belastungen  abwerfen. 

Die  Last  des  Grundherrentums,  das  niederdrückende  Gewicht  von  Grubcn- 
renten  und  Bergregalen,  die  unbilligen  Differenzierungen  und  Erpressungen  in  den 
Tarifen  unserer  Eisenbahnen  machen  es  nicht  nur  der  britischen  Industrie  schwerer, 
der  fremden  Konkurrenz  zu  begegnen,  sondern  mehren  auch  die  Schwierigkeiten 
der  Lohnarbeiter,  sich  einen  ordentlichen  Lebensunterhalt  zu  erkämpfen. 

Insofern  daher  die  gegenwärtige  Schutzzollagitation  die  Aufmerksamkeit  auf 
die  Lasten  lenkt,  die  die  britische  Industrie  zu  tragen  hat,  sind  wir  Mr.  Chambcrlain 
dankbar.  Der  Feldzug  der  Schutzzöllncr  sollte  der  Anlaß  werden  zum  Triumph 
rincs  Programms  der  Sache  der  Arbeit. 

Wir  verteidigen  nicht  nur,  wir  greifen  an. 

Die  Arbeiterpartei  verlangt  ein  besseres  Unterrichtswesen,  eine  wirksamere  An- 
wendung der  Wissenschaft  im  Gewerbe,  besser  ausgerüstete  Staatsämter  für  Arbcitcr- 
und  Gewcrbeangelcgcnheiten  und,  vor  allem,  progressive  Besteuerung  der  Renten 
wie  der  nicht  erarbeiteten  und  übermäßigen  Einkommen,  so  daß  die  Gesamtheit  den 
Reichtum,  den  sie  geschaffen,  genießen  und  diesen  Reichtum  zur  Verringerung  der 
Last  von  Steuern  und  Abgaben  benutzen  kann,  die  heute  das  berechtigte  Gewerbe 
bedrücken.  Wir  sind  ferner  der  Ansicht,  daß  angesichts  der  hohen  Eisenbahnfrachten, 
die  den  britischen  Produzenten  abverlangt  werden,  die  Frage  der  Nationalisierung 
der  Eisenbahnen  unverzüglich  in  Angriff  genommen  werden  sollte. 

Diese  positiven  Vorschläge  bieten  wir  als  Antwort  dar  auf  Mr.  Chamberlains 
Mahnrufe,  daß  wir  unsere  Schritte  zurücklenkcn  und  den  Beistand  einer  Steuerpolitik 
suchen  mochten,  die  wir  bereits  versucht  haben  und  die  weder  unser  Gewerbsleben 
vor  Verlusten  schützte,  noch  unser  Volk  vor  dem  Verhungern  bewahrte.  Wir  richten 
an  die  Arbeiter  des  Landes  den  dringenden  Mahnruf,  uns  in  einem  Feldzug  zu 
unterstützen ,  der  den  gewerbstätigen  Klassen  durch  Steigerung  der  nationalen 
Leistungskraft  heben  und  ihnen  durch  wesentliche  Herabsetzung  der  Produktions- 
kosten Vorteil  bringen  wird.  Großbritannien  steht  nicht  vor  seinem  Ende  ;  es  beugt 
sich  unter  zu  schweren  Lasten.  Der  britische  Arbeiter  brauchte  nie  Hunger  zu  leiden, 
wenn  seine  Arbeit  nicht  dazu  aufgewendet  würde,  müßige  Klassen  in  Luxus  zu  er- 
halten. Lasset  unseren  Ruf  sein :  Vermehrt  die  Arbeitervertretung  im  Parlament  und 
liefert  euch,  nutzlose  /.asten  zu  tragen." 

Was  an  diesem  Manifest  besonders  auffällt,  ist  die  Tonart,  in 
der  in  ihm  die  Frage  der  Weltkonkurrenz  behandelt  wird.  Das 
Stück,  das  die  Überschrift  trägt:  „Wir  müssen  unseren  Gewerbflcili 
mit  anderen  teilen",  ist  in  sich  schon  eine  Ablehnung  jedes  chau- 
vinistischen Imperialismus.  Die  besten  Seiten  der  alten  Freihandels- 
doktrin, die  Zurückweisung  partikularistischer  Interessen,  die  Weit- 
herzigkeit in  der  Beurteilung  des  Wettbewerbs  und  der  Rechte 


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118 


Eduard  Bernstein, 


anderer  Nationen,  kommen  in  schöner  Weise  hier  zum  Ausdruck. 
Man  hört  aus  seinen  Zeilen  deutlich  das  Motto  der  Cobden  und 
Bright  heraus :  „Friede,  Einschränkung  und  Reform." 

Mit  kräftigeren  Akzenten  noch,  als  es  in  diesem  Manifest  ge- 
schieht, stellt  John  Burns  in  dem  Eingangs  zitierten  Aufsatz  die 
Tatsache  fest,  daß  die  Tage  von  Englands  industrieller  Macht- 
stellung vorüber  sind.  Bedenkt  man,  daß  Burns  als  Parlamentarier 
doch  schließlich  von  Wählern  abhängt,  die  noch  stark  von  Vorur- 
teilen aller  Art  befangen  sind,  so  kann  man  nicht  umhin,  den 
moralischen  Mut  zu  bewundern,  der  diesen  Volkstribunen  sich 
folgendermaßen  äußern  läßt: 

„Daß  Britannien  nicht  länger  die  Werkstatt  der  Welt  ist, 
stimmt,  und  es  wäre  Wahnsinn,  zu  erwarten,  daß  es  dies  noch 
bliebe.  Es  ist  physisch  unmöglich,  daß  diese  Position  erhalten 
bleibt.  Es  ist  ebenso  unwünschbar  wie  es  unzweckmäßig  wäre. 
Leute,  die  dies  als  Ideal  aufstellen,  vergegenwärtigen  sich  nicht,  daß 
die  Welt  für  einige  andere  Zwecke  da  ist,  als  für  die  Ausbeutung 
fremder  Nationen  durch  britische  Fabrikbesitzer  und  Grundherren, 
die  Armeen  von  Leuten  in  eintönigen  Arbeiten  beschäftigen.  Die 
Arbeit  ist  ein  wichtiges,  aber  nicht  das  einzige  Element  des  indi- 
viduellen und  nationalen  Lebens.  England  hat  mehr  als  den 
ihm  gerechterweise  zukommenden  Anteil  an  der 
Weltindustrie,  und  der  Jammer  ist,  daß  ein  so  großer  Teil 
von  Produkten  seiner  Energien  für  Kriegszwecke  verschwendet 
wird,  wenn  er  nicht  im  Trunk  oder  Glücksspiel,  in  Wetten  und 
Luxus  verwüstet  wird.  Eine  Nation,  die  jährlich  180000000  Pfund 
Sterling  für  Spirituosen,  70000000  Pfund  für  den  Krieg  und 
50000000  Pfund  für  Pferderennen  und  Wetten  ausgibt,  braucht 
nicht  die  Nahrungsmittel  ihrer  ärmeren  Bevölkerung  zu  besteuern 
und  den  billigen  Zucker  des  Auslandes  auszuschließen,  weil  sie  ein 
paar  Millionen  Mehreinnahmen  für  den  Staat  braucht  oder  den 
Kolonien  helfen  will.  Hier,  in  den  drei  Abteilungen  ihrer  Ver- 
wüstungsausgaben: Trunk,  Krieg,  Glücksspiel  —  liegt  der  ganze 
Betrag  ihres  Ausfuhrhandels  mit  den  Kolonien  und  der  übrigen 
Welt.  Hier  ist  ein  wahrer  Spielraum  für  Ökonomie.  Im  Bereiche 
dieser  angeschwollenen  Zahlen  liegen  die  Mittel  für  Alterspensionen, 
Ausdehnung  des  Gewerbes,  Verminderung  der  Lasten,  Vermehrung 
der  Gesundheit,  Kraft  und  Fähigkeit  für  alle  Klassen  des  Gemein- 
wesens. Sicherlich  muß  es  uns  mit  Beunruhigung  erfüllen ,  wenn 
wir  Mr.  Arthur  Sherwell,  diesen  sachkundigen  Schriftsteller,  feststellen 


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Die  britischen  Arbeiter  und  der  zollpolitische  Imperialismus. 


sehen,  daß  im  Juni  1903  in  Edinburg  von  405  000  Arbeitsstunden, 
die  4250  Arbeiter  in  einer  typischen  schottischen  Industrie  im 
Laufe  zweier  Wochen  hätten  arbeiten  sollen,  100  650  Stunden  oder 
25  Proz.  durch  abwendbare  Ursachen  verloren  gingen,  und  daß 
der  größere  Teil  dieses  Zeitverlustes  Folge  von 
Unmäßigkeit  war.  Nicht  die  Knechte  unserer  zollpolitischen 
Gestirne,  unsere  eigenen  Knechte  sind  wir."  (Political  Dangers  of 
Protection  in  Labour  and  Protection,  p.  33,  34.) 

Ähnlich  wie  das  Manifest  der  Arbeitervertretungsliga  sind  auch 
die  Abhandlungen  der  beiden  Mitglieder  der  Unabhängigen  Arbeiter- 
partei streng  freihändlerisch  gehalten,  selbstverständlich  ohne  des- 
halb manchesterlich  zu  sein.  Einen  etwas  anderen  Ton  schlägt 
die  Schrift  des  Sekretärs  des  Sozialdemokratischen  Bundes,  sowie 
ein  von  diesem  Bunde  herausgegebenes  Manifest  über  die  zoll- 
politischen  Debatten  an.  In  beiden  Schriftstücken  wird  zwar  der 
Chamberlainsche  Vorschlag  abfällig  besprochen,  aber  fast  heftiger 
noch  als  dieser  wird  der  „kapitalistische  Freihandel"  kritisiert;  die 
Verwirklichung  des  wahren  Freihandels  werde  erst  der  Sozialismus 
bringen.  Die  Arbeiter  werden  aufgefordert,  in  dem  gegenwärtigen 
Kampfe  zwischen  Schutzzöllnern  und  Freihändlern  keine  Partei 
zu  nehmen,  sondern  sich  der  Sozialdemokratie  zuzuwenden. 

„Aber  wenn  die  Arbeiter  recht  handeln,"  heißt  es  in  der 
Schrift  von  H.  W.  Lee,  „auf  jeden  Vorschlag,  der  eine  Steuer 
auf  die  Xahrungsmittelzufuhr  im  Interesse  der  Grundherren  da- 
heim oder  der  kolonialen  Fabrikanten  jenseits  des  Ozeans  bedeutet, 
mit  Verdacht  zu  schauen,  so  haben  sie  sogar  noch  mehr  Grund, 
den  Scheingründen  der  kapitalistischen  Freihändler  zu  mißtrauen. 
Mr.  Balfour  war  durchaus  richtig  beschlagen,  als  er  im  Haus  der 
Gemeinen  erklärte,  daß  „die  Position  dieser  Inseln  heute  eine  völlig 
andere  ist,  als  im  Jahre  1846  und  den  darauffolgenden  Jahren,  und 
wie  sie  die  führenden  Freihändler  jener  Zeit  voraussahen!"  Wir 
brauchen  uns  nur  die  Äußerungen  der  hervorragenden  Freihändler 
aus  der  Zeit  der  Antikornzollbewegung  zu  betrachten,  um  zu  sehen, 
wie  ihre  Vorhersagen  durch  die  späteren  Ereignisse  von  Grund  aus 
Lügen  gestraft  worden  sind."  Es  wird  dann  ausgeführt,  wie  die 
Freihandelsanwälte  eine  Ära  des  Friedens  und  Wohlstandes,  des 
Schwindens  der  Gegensätze  zwischen  den  Nationen  angekündigt 
hätten,  wie  aber  kein  I^and  seitdem  mehr  Kriege  geführt  habe,  als 
wie  das  freihändlerische  England,  wie  dieses  das  einzige  Frei- 
handelsland geblieben  sei,  und  wie  heftig  Cobden  und  die  alten 


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120 


Eduard  Bernstein, 


Freihändler  gegen  die  Gewerkschaften  Stellung  genommen  hätten. 
So  dächten  auch  heute  noch  die  Kapitalisten  über  die  Ge- 
werkschaften, wenn  auch  viele  von  ihnen,  besonders  wo  es  sich 
um  den  Stimmenfang  handelt,  anders  sprächen.  Schließlich  schreibt 
der  Verfasser: 

„Die  Sozialdemokraten  können  daher  in  der  gegenwärtigen 
Kontroverse  keine  Partei  ergreifen.  Die  Debatte  über  Freihandel 
und  Schutzzoll  sind  reine  Schlachten  zwischen  den  Papierdrachen 
und  den  Krähen.  Gleichviel  welche  Seite  Siegerin  bleiben  wird, 
so  werden  die  Arbeiter  von  dem  Ergebnis  keinen  Vorteil  haben. 
Ihre  ökonomische  Lage  als  Lohnsklaven  der  kapitalistischen  Klasse 
wird  ungeändert  bleiben.  Die  Zollvereinsvorschläge  enthalten  je- 
doch mehr  als  die  Idee,  unsere  Zollpolitik  zu  ändern.  Hinter  ihnen 
lauert  die  Großmannssucht  des  Imperialismus.  Wir  sollen  das 
Band  mit  unseren  Kolonien  nicht  nur  für  Handclszwecke  enger 
knüpfen,  sondern,  wenn  nötig,  Schulter  an  Schulter  „gegen  die 
ganze  Welt"  zusammenstehen.  Es  ist  diese  Seite  des  Zollvereins, 
die  wir  mit  Wucht  zur  selben  Zeit  bekämpfen  müssen,  wo  wir  die 
Redensarten  der  Freihändler  bloßstellen.  Wenn,  wie  dies  möglich 
ist,  der  Zollschutz  in  einer  gemäßigten  Gestalt  nicht  zu  umgehen 
ist,  so  wollen  wir  zusehen,  daß  die  Interessen  der  Arbeiter,  soweit 
dies  in  unserer  Macht  liegt,  dadurch  gewahrt  werden,  daß  wir  sie 
nach  besten  Kräften  dazu  erziehen,  die  Bedeutung  der  Zolltarif- 
jongliererei  für  sie  nach  ihrem  wahren  Wert  abzuschätzen"  (S.  10 
u.  S.  14). 

Ähnlich,  nur  schärfer  im  Ton,  äußert  sich  das  Manifest  des 
Sozialdemokratischen  Bundes.  Verschiedene  Wendungen  darin 
lassen  mit  ziemlicher  Sicherheit  darauf  schließen ,  daß  es  den 
geistigen  Leiter  des  Bundes,  Mr.  H.  M.  Hyndman ,  zum  Verfasser 
hat.  Hyndman  hat  sich  aber  in  früheren  Jahren  häufig  selbst  im 
Organ  des  Bundes  für  Einführung  gewisser  Kampf-  oder  Kompen- 
sationszölle ausgesprochen.  Nur  wenn  er  inzwischen  von  dieser 
Ansicht  abgekommen  wäre,  könnte  man  von  ihm  eine  unbedingte 
Verwerfung  der  Chamberlainschen  Vorschläge  erwarten.  Sie  ist 
aber  so  wenig  in  dem  Manifest  zu  finden,  wie  in  der  Broschüre 
seines,  um  den  Sozialdemokratischen  Bund  höchst  verdienten  Schülers 
und  Kollegen  Lee.  Die  Richtigkeit  der  Chamberlainschen  Zahlen 
wird  als  zweifelhaft  hingestellt  und  über  die  Winzigkeit  des  Vor- 
teils gespottet,  den  für  die  Arbeiter  Chamberlains  Vorschlag  be- 
deute, als  Ausgleich  für  die  einzuführenden  Zölle  auf  Weizen  und 


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Die  britischen  Arbeiter  und  der  zollpolitische  Imperialismus.  121 


andere  Erzeugnisse  der  Landwirtschaft  die  bestehenden  Finanz- 
steuern auf  Tee,  Zucker  etc.  zu  ermäßigen.  Auch  wird  darauf 
hingewiesen,  daß  Schutzzölle  für  die  Erzeugnisse  gewisser  Industrien 
anderen  Industrien  von  Nachteil  sein  können.  Aber  über  diese 
Anzweiflung  des  Nutzens  der  spezifischen  Schutzzollvorschläge 
Chamberlains  geht  das  Manifest  nicht  hinaus.  Auf  der  anderen 
Seite  schreibt  es  bezüglich  des  Freihandels: 

„Aber,  Mitbürger,  wenngleich  wir  euch  crmahnen,  euch  nicht  von  schutz- 
/öllnerischen  Vorschlägen  irreführen  zu  lassen,  die  nur  das  notwendige  ökonomische 
Scitenstück  des  politischen  Jingoismus  und  Imperialismus  sind,  fordern  wir  euch  auch  auf, 
euch  nicht  von  kapitalistischen  Freihändlern  beschwatzen  zu  lassen.  Sie  sind,  wie 
die  Schutzzöllner,  ein  Flügel  der  Kapitalistenklasse  und  daher  eure  Feinde.  Erinnert 
euch,  daß  es  Sir  Henry  Campbcll-Bannerman,  Freihändler  und  Führer  der  liberalen 
Partei,  ist,  der  erklärt  hat,  daß  auf  diesen  Inseln  zwölf  Millionen  Leute  an  der 

Grenze  des  Verhungern s 

stehen.  Stimmt  daher  ein  Juchhe  an  über  die  Segnungen  des  Freihandels  !  Erinnert 
euch  auch,  daß  unser  „wunderbarer  Wohlstand",  von  dem  die  Freihändler  so  wohl- 
gefällig schwatzen,  nur  aufgetischt  worden  ist,  um  ihn  ihren  zollpolitischen  Gegnern 
entgegenzuhalten.  Bevor  die  Möglichkeit  eines  Übergangs  vom  Freihandel  zum 
Zollschutz  zur  Debatte  stand,  haben  diejenigen,  die  jetzt  über  unsere  wundervollen 
Handelszahlen  entzückt  sind,  davon  gesprochen,  daß  wir  infolge  der  Politik  der 
Regierung  überall  schlecht  fahren.  Die  Berichte  des  Gcwcrbeamts,  die  von  euren 
Lohnsätzen  und  Arbeitsbedingungen  in  den  letzten  Jahren  handeln,  zeigen,  daß  ihr 
wenigstens  nicht  viel  von  diesem  wundervollen  Wohlstand  abbekommen  habt.  Er- 
innert euch  ferner,  daß  die  klassischen  Freihändler  zu  euren  schlimmsten  Feinden 
gehörten.  So  auch  ihre  heutigen  Schüler.  Jene  waren  logischerweise  Gegner  jeder 
Gewerkschaftsverbindung  oder  Schutzgesetzgebung,  die  eurem  Interesse  galt,  weil  sie 
jene  individuelle  Freiheit  des  Kontrakts  beschränkte,  die  für  sie  die  Möglichkeit  be- 
deutete, eure  Arbeitskraft  wie  jede  andere  Ware  so  billig  zu  kaufen,  wie  sie  sie 
nur  irgend  bekommen  konnten.    Für  jene  Schule  ist  der  Konsument  alles  — 

der  Produzent  nichts. 

Eine  sehr  bequeme  und  angenehme  Theorie  für  die  Reichen  und  Wohlhabenden, 
die  nahezu  alles  konsumieren  und  nichts  produzieren  !  Aber  ihr,  die  ihr  alles 
produziert  und  nur  einen  kleinen  Teil  des  von  euch  produzierten  Reichtums  konsu- 
miert —  paßt  es  euch,  nur  als  ^Konsumenten  betrachtet  zu  werden? 

Mitbürger,  seid  vor  beiden  Formen  des  zollpolitischen  Schwindels  auf  der  Hut." 

Wenn  in  diesen  beiden  Schriftstücken  die  Wage  mehr  infolge 
von  stärkerer  Verneinung  des  Freihandels  als  infolge  einer  ausge- 
sprochenen Bejahung  des  Schutzzolls  sich  diesem  zuneigt,  so  finden 
wir  dagegen  eine  unverhohlene  Parteinahme  für  den  Schutzzoll  in 
dem  sozialistischen  Wochenblatt  „  The  Clarion",    das  der  Schrift - 


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122 


Eduard  Hernstein, 


steller  Robert  Blatchford  herausgibt  und  das  eine  starke  Verbreitung 
in  ganz  England  besitzt.  Blatchford,  dessen  in  mehr  als  einer 
Million  Exemplaren  verbreitete  sozialistische  Propagandaschrift 
„Merry  England"  auch  in  deutscher  Sprache  erschienen  ist,  hat 
seine  Stellung  in  den  drei  Nummern  des  „Clarion"  vom  9.,  n.  und 
30.  Oktober  1903  dargelegt.  Natürlich  fordert  auch  er  die  Arbeiter 
auf,  weder  Freihändler  noch  Schutzzöllner  sondern  Sozialisten  zu 
wählen,  und  ebenso  erklärt  er  die  Besteuerung  der  Rente,  die  Er- 
höhung der  Einkommensteuer,  die  Nationalisierung  und  Kommu- 
nalisierung verschiedener  Produktionszweige  und  eine  Reihe  ähn- 
licher Maßregeln  für  notwendiger  und  dem  Volke  viel  nützlicher, 
als  es  der  Schutzzoll  sei.  Aber  er  behandelt  das  Problem  des  letz- 
teren in  einer  Weise,  die  dem  Arbeiter,  der  zwischen  Freihandel 
und  Schutzzoll  zu  entscheiden  hat,  sagt:  wenn  die  Wahl  getroffen 
werden  muß,  so  greife  zum  Schutzzoll.  Sein  Ausgangspunkt  ist 
dabei  ebenfalls  die  Gegenüberstellung  von  Konsumenten-  und  Pro- 
duzenteninteresse. Da  die  Arbeiter  alle  mehr  Produzenten  als 
Konsumenten,  die  besitzenden  Klassen  aber  überwiegend  Nicht- 
produzenten  sind,  so  müsse  eine  Zollpolitik,  die  die  Konsumenten 
zugunsten  der  Produzenten  belastet,  notwendigerweise  vorteilhafter 
für  die  Arbeiter  sein. 

Es  wird  dies  in  der  Nummer  vom  16.  Oktober  an  einem  Bei- 
spiel erörtert,  das  stark  an  Bastiats  bekannte  Fibeln  erinnert. 
Hutmacher  Smith  und  Schuhmacher  Jones  verkaufen  gegenseitig 
aneinander  Hut  und  Schuhe.  Eine  Preissteigerung  dieser  Waren 
um  den  gleichen  Prozentsatz  läßt  Smith  und  Jones  stets  ebenso 
daran,  wie  sie  vorher  waren.  Aber  nun  kommt  ein  Lord  Blank 
mit  Frau ,  zwei  Söhnen  und  zwölf  Personen  Bedienung  hinzu ,  die 
sämtlich  ebenfalls  Hüte  und  Schuhe  brauchen.  Steigen  jetzt  die 
Preise  beider  Produkte,  so  hat  zwar  Smith  für  seine  Schuhe  und 
Jones  für  seinen  Hut  so  und  so  viel  Prozente  mehr  zu  zahlen  als 
vorher,  aber  jeder  von  ihnen  verdient  von  Lord  Blank  das  16  fache, 
hat  also  einen  Nettogewinn  von  1 5  mal  mehr  als  der  Preis- 
aufschlag. 

„Nimm  nun  an,"  fährt  die  Deduktion  fort,  ,,dcr  Nichtproduzcnt  sei  ein  Grund- 
herr. Er  produziert  nichts,  aber  erhebt  Bodenrente.  Er  kann  jedoch  seine  Boden- 
rente nicht  erhöhen,  weil  sein  Pächter  nicht  in  der  Lage  ist,  mehr  Pacht  zu  zahlen. 
Aber  er  kann  billige  Hüte  und  Schuhe  von  Amerika  oder  Deutschland  kaufen. 
Natürlich  kann  er  das.  Dies  der  Vorteil  des  Freihandels  für  den  Konsumenten. 
Würde  nun  eine  Steuer  auf  im  Ausland  verfertigte  Hüte  und  Schuhe  gelegt,  so 


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Die  britischen  Arbeiter  und  der  zollpolitischc  Imperialismus. 


123 


würde  Lord  Plank  den  englischen  Preis  zu  zahlen  haben.  Dies  scheint  mir  darauf 
hinzudeuten,  daß  gewisse  Arten  von  Zollschutz  fUr  den  Produzenten  von  Vorteil  sein 
mögen.  Und  der  Produzent  ist  der  Arbeiter."  —  „Natürlich,"  geht  es  weiter, 
, «würden  in  allen  Fällen  des  Zollschutzes  die  nichtproduzierenden  Konsumenten  — 
BLmk  u.  Co.  —  alles  aufbieten,  auf  ihren  alten  Modus  zu  kommen.  Aber  der  Produzent 
würde  notwendigerweise  der  Stärkere  sein,  und  ich  glaube,  daß  dies  hauptsächlich 
der  Grund  ist,  warum  der  amerikanische  Arbeiter  besser  daran  ist,  wie  der  englische 
Arbeiter.  Er  bat  mehr  zu  zahlen,  aber  er  wird  höher  bezahlt,  und  die  Rilanz  ist 
zu  seinen  Gunsten.  Das  Gewerkschaftswesen  heißt  Schutz.  Es  ist  Schutz  der  Arbeit, 
Arbeit  aber  ist  alles,  was  der  Arbeiter  zu  verkaufen  hat,  so  daß  das  Gewerkschafts- 
wesen der  Schutz  seiner  einzigen  Ware  ist." 

..Wenn  der  deutsche  Arbeiter  um  niedrigeren  Lohn  arbeitet,  als  der  Engländer, 
und  die  deutschen  Erzeugnisse  in  England  verkauft  werden,  ist  es  nicht  genau  das- 
selbe ,    als   wenn   der  Deutsche  nach   England   käme  und  in  Kattenbuden  ')  zu 
niedrigeren  als  die  Gewerkschaftslöhne  arbeitete?    Kommerziell  gesprochen,  liegt 
es   im  Interesse  des  britischen  Arbeiters,  den  Nichtproduzenten  aufs  Eis  zu  setzen. 
Die  Nichtproduzenten  nehmen  mehr  als  die  Hälfte  des  von  den  Produzenten  er- 
zeugten Reichtums  vorweg.    Je  höher  die  Preise  der  Waren,  die  der  Produzent  ver- 
kauft, um  so  weniger  bekommt  der  Nichtproduzent  und  um  so  mehr  bekommt  der 
Produzent.    Natürlich  wird  das  Problem  durch  den  Umstand  sehr  verwickelt,  daß 
viele  britische  Produzenten  ihre  Produkte  auf  ausländischen  Märkten  veräußern.  Und 
die  Manchcstcrschule  behauptet,  daß  unsere  Hoffnung  in  diesem  Auslandshandel 
liegt.    Aber  die  Hoffnung  der  Arbeiter  scheint  mir  ganz  und  gar  nicht  im  Auslands- 
bandcl  zu  liegen.    Sic  liegt  in  der  Verhinderung  der  Tatsache,  daß  jährlich  etliche 
600  Millionen  Pfund  Sterling  von  Personen  angeeignet  werden,  die  nicht  arbeiten." 

Der  Verfasser  veranschaulicht  dies  an  dem  Bilde  eines  Lancashirer 
Webers,  der  wegen  schlechten  Geschäftsgangs  auf  Halbzeit  gesetzt 
ist,  während  der  Landarbeiter  Williams  sich  selbst,  Frau  und  Kinder 
nicht  genügend  kleiden  kann,  weil  die  an  Lord  Blank  zu  zahlende 
Pacht  zu  hoch  ist.  Der  Weber  würde  mehr  Arbeit  haben ,  wenn 
das  Geld,  das  Lord  Blank  in  ausländischen  Hotels  ausgibt,  an  den 
Landarbeiter  ginge.  „Unsere  Arbeiter  haben  so  wenig  für  andere 
Arbeiter  auszugeben,  weil  sie  so  viel  an  Müßiggänger  zu  zahlen 
haben.  Gebt  den  Arbeitern ,  was  sie  produzieren,  —  was  sie  ver- 
dienen —  und  sie  würden  bald  von  fremden  Märkten  unab- 
hängig sein"  . .  . 

So  Blatchford.  Man  erinnert  sich  vielleicht,  wie  Rodbertus  ein 
Bastiatisches  Beispiel  von  ähnlicher  Simplizität  wie  das  obige  vom 
Hutmacher    und    Schuhmacher   mit    dem    Hinweis    darauf  zer- 


')  Technischer  Ausdruck  für  Werkstätten,  die  von  Nichtgewcrkschaftlcrn  be- 
setzt sind. 


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124 


Eduard  Bernstein, 


trümmerte,  daß  heute  nicht  der  Arbeiter  das  Produkt  austauscht, 
sondern  der  Fabrikant,  der  dem  Arbeiter  bloß  einen  Lohn  zahlt. 
Derselbe  Einwand  ist  Blatchford,  wie  er  im  „Clarion"  vom  30.  Ok- 
tober schreibt,  von  Lesern  aus  der  Arbeiterklasse  vorgehalten 
worden.  Er  sucht  ihnen  damit  zu  begegnen,  daß  er  erklärt,  aller- 
dings habe  der  Fabrikant  zunächst  die  größere  Einnahme,  aber  der 
Arbeiter  habe  doch  mehr  Arbeitsgelegenheit,  infolgedessen  weniger 
Lohnverlust  und  die  Möglichkeit,  sich  Lohnerhöhung  zu  erkämpfen. 
Bei  alledem  werde  freilich  der  Löwenanteil  dem  Fabrikanten  und 
der  kapitalistischen  Klasse  verbleiben.  Aber  dagegen  helfen  nur  die 
von  den  Sozialisten  verfochtenen  Maßnahmen,  bei  denen  es  sich 
um  die  Rettung  von  viel  größeren  Beträgen  für  die  Arbeiter  handle, 
als  ihnen  die  von  Chamberlain  versprochene  Ausdehnung  des 
Handelsverkehrs  mit  den  Kolonien  bringen  könne.  Das  wird 
dann  in  recht  geschickter  Darstellung  näher  ausgeführt,  die  wir 
hier  übergehen  müssen. 

Wie  geschickt  der  Beweis  aber  auch  geführt  wird,  und  wie 
eindrucksvoll  dem  englischen  Arbeiter  auch  in  den  Flugschriften 
des  Sozialdemokratischen  Bundes  vorgehalten  wird,  daß  mit  Ver- 
wirklichung des  Sozialismus  die  Frage  von  Freihandel  und  Schutz- 
zoll durch  Herstellung  eines  wahrhaft  freien  Güteraustausches  zwischen 
den  Nationen  erst  ihre  befriedigende  Lösung  finden  werde,  so 
helfen  diese  Hinweise  ihm  nicht  über  die  Notwendigkeit  hinweg, 
zu  der  Frage,  wie  sie  zurzeit  konkret  vorliegt,  Stellung  zu  nehmen. 
Bei  ihm  ruht  das  Schwergewicht  der  Bestimmung  darüber,  wie  die 
Frage,  die  Chamberlain  der  Nation  unterbreitet  hat,  entschieden 
werden  soll.  Denn  wenn  England  auch  nicht  das  allgemeine  Wahl- 
recht hat,  so  bilden  doch  die  Arbeiter  heute  die  übergroße  Mehr- 
heit seiner  Wählerschaft.  Chamberlain  selbst  hat  in  seinen  Reden 
sich  wiederholt  direkt  an  die  Arbeiterklasse  gewendet,  von  den 
Flugblättern,  die  seine  Ideen  propagieren,  richten  sich  ein  großer 
Teil  an  die  Adresse  der  Arbeiter,  dasselbe  gilt  von  den  Flug- 
blättern der  verschiedenen  bürgerlichen  Organisationen,  die  für 
Festhalten  am  Freihandel  kämpfen:  den  Cobdcnklub,  die  liberale 
Partei,  die  unionistische  Liga  für  freie  Nahrungsmittelzufuhr.  Der 
Arbeiter  kann  sich  dieser  Bewegung  gegenüber  nicht  die  Ohren  mit 
Watte  verstopfen  und  sagen:  „Nichts  von  alledem,  ich  will  den 
Sozialismus."  Wieviel  Vertreter  seiner  Klasse  er  bei  der  nächsten 
allgemeinen  Wahl  auch  ins  Parlament  entsenden  mag,  sie  werden 
i^enau  ebenso  sich  darüber  schlüssig  zu  machen  haben,  ob  es  beim 


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Die  britischen  Arbeiter  und  der  zollpolitische  Imperialismus. 


I25 


Freihandel  verbleiben  oder  irgend  welche  Schutzzollpolitik  aufge- 
nommen werden  soll,  wie  es  das  kleine  Häuflein  von  Arbeiterabge- 
ordneten getan  hat,  die  jetzt  im  Parlament  sitzen.  Vergleichen  wir 
unter  diesem  Gesichtspunkt  die  vorgeführten  Stimmen  über  die 
handelspolitische  Frage,  so  kann  es  keinem  Zweifel  unterliegen, 
daß  der  Arbeiter,  der  die  Argumentierung  des  „Clarion"  für  zu- 
treffend erachtet,  gegebenenfalls  für  Chamberlains  Zollpläne  eintreten 
würde,  genau  so  wie  derjenige  Arbeiter  sie  bekämpfen  wird,  der 
sich  die  Argumente  des  Arbeitervertretungskomitees  und  der  mit 
ihm  verkündeten  Vereine  zu  eigen  macht.  Fraglich  könnte  nur  die 
Haltung  der  im  Gefolge  des  Sozialdemokratischen  Bundes  mar- 
schierenden Arbeiter  sein. 

Der  Sozialdemokratische  Bund  vertritt  in  der  heutigen  soziali- 
stischen Bewegung  Englands  die  marxistische  Lehre,  oder  er  meint 
sie  zu  vertreten,  denn  in  der  Praxis  hatte  sein  Marxismus  häufig 
einen  Stich  ins  Sektiererische.  Sonst  wäre  es  unbegreiflich,  wie  er 
zu  einer  so  brennenden  Frage  des  politischen  Lebens  Englands 
nichts  Triftigeres  zu  sagen  fand,  als  die  zitierten  und  andere,  die 
gleiche  Argumentation  atmenden  Sätze.  Die  Masse  der  heutigen 
bürgerlichen  Freihändler  Englands  denken  in  vielen  Punkten  weit 
weniger  manchesterlich,  als  wie  zu  seiner  Zeit  Cobden.  Aber  selbst 
wenn  sie  in  jeder  Hinsicht  ganz  ebenso  dächten,  wie  die  alte 
Manchesterschule,  wäre  die  Frage,  ob  heute  eine  freihändlerische 
Handelspolitik  für  England  angemessener  ist  als  eine  schutzzöllne- 
rische  Handelspolitik  dadurch  selbstverständlich  in  keiner  Weise 
präjudiziell.  Über  eine  Signatur  der  Klassengegensätze  und  den 
Hinweis  auf  den  Zukunftsstaat  kommt  jedoch  das  Manifest  des 
Bundes  nicht  hinaus.  Ein  wissenschaftliches  Kriterium  dafür,  welche 
Handelspolitik  die  Arbeiterklasse  heute  zu  vertreten  hat,  enthält 
weder  es  noch  die  Leesche  Broschüre.  Beiden  fehlt  die  umfassende 
Auffassung  der  Volkswirtschaft  als  ein  Ganzes,  die  im  Manifest  des 
Arbeitervertreterkomitees  und  der  Gewerkschaften  zum  mindesten 
prinzipiell  vertreten  ist.  Der  Leser  dieses  letzteren  weiß  denn  auch 
sofort,  wo  seine  Stellung  in  der  Zollkontroverse  zu  sein  hat.  Wer 
die  Grundgedanken  dieses  Manifests  akzeptiert,  wird  unbedingt  für 
Beibehaltung  des  Freihandels  stimmen. 

Nun  hat  das  Arbeitervertretungskomitee  nebst  seinen  Mitunter- 
zeichnern unverhältnismäßig  viel  mehr  Personen  hinter  sich,  als  der 
Sozialdemokratische  Bund  und  das  „Clarion".  Die  Zahl  der  ein- 
geschriebenen Mitglieder  des  Sozialdemokratischen  Bundes  über- 


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126 


Eduard  Bernstein, 


steigt  kaum  die  Ziffer  15000.  Indes  reicht  sein  Einfluß  dank  der 
außerordentlichen  Rührigkeit  seiner  Mitglieder  bedeutend  weiter. 
Man  kann  das  Gefolge  des  Vereins  ruhig  auf  das  Sechs-  bis  Acht- 
fache seiner  zahlenden  Mitglieder  ansetzen.  Hinter  dem  „Clarion" 
stehen  nur  eine  Anzahl  kleiner  Propagandaklubs,  aber  sein  Leser- 
kreis ist  bedeutend  größer  als  der  der  übrigen  sozialistischen  Organe ; 
es  hat  über  50000  Auflage.  Da  jedoch  bei  weitem  nicht  alle 
Leser  des  „Clarion"  auf  dessen  spezifische  Ansichten  eingeschworen 
sind,  sehr  viele  Leute  das  Blatt  vielmehr  nur  lesen,  weil  es  mit 
großem  literarischem  Talent  geschrieben  ist,  kann  sein  Einfluß  in 
der  vorliegenden  Frage  unter  keinen  Umständen  höher  angesetzt 
werden  als  der  des  Sozialdemokratischen  Bundes.  Das  machte  zu- 
sammen gegen  200000  Personen  aus.  Die  Organisationen,  die 
hinter  dem  Manifest  der  Arbeitervertretungsliga  stehen,  umfassen 
aber  über  1  300000  Personen,  und  wenn  auch  der  politische  Ein- 
fluß der  Gewerkschaftsführer  auf  die  Mitglieder  ihrer  Organisationen 
gewöhnlich  kein  so  starker  ist,  wie  der  der  Führer  politischer  Ver- 
bände auf  die  ihren,  so  kann  man  in  diesem  Falle  doch  eine  leb- 
haftere Ideengemeinschaft  zwischen  Führern  und  Geführten  voraus- 
setzen. Hat  doch  auch  der  Allgemeine  Trade  Unions-Kon- 
greß, der  Anfang  September  1903  in  Leicester  tagte  und  von 
460  Deligierten  beschickt  war,  nach  längerer  Debatte  mit  er- 
drückender Mehrheit  —  nur  zwei  Hände  erhoben  sich  bei  der 
Gegenprobe  —  folgender  Resolution  zugestimmt: 

„Der  Kongreß  verurteilt  entschieden  den  von  Mr.  Chambcrlain  vorgeschlagenen 
Wechsel  unserer  gegenwärtigen  Handelspolitik  als  für  die  besten  Interessen  des 
Volkes  dieses  Landes  höchst  unheilvoll  und  gefährlich;  er  verpflichtet  sich  hierdurch 
und  legt  es  allen  anderen  Arbeiterorganisationen  ans  Herz,  alles  aufzubieten,  um 
die  Erwirkung  einer  solchen  Veränderung  zu  verhindern." 

Nach  alledem  kann  es  keinem  Zweifel  unterstchen,  daß  wir  die 
Masse  der  organisierten  Arbeiter  Englands,  die  große  Mehrheit  der 
klassenbewußten  Arbeiterschaft  auf  der  Seite  der  Gegner  der  Reichs- 
zollverbandsidee  zu  suchen  haben. 

II. 

Daß  gerade  die  englischen  Gewerkschaftler  den  Zollschutz  und 
den  Reichszollverband  so  entschieden  ablehnen,  dürfte  manchen  auf 
den  ersten  Blick  überraschen.  Eher  noch  wie  bei  den  erklärten 
Sozialisten,  von  denen  man  eine  größere  theoretische  Schulung  er- 
warten kann,  hätte  man  gerade  bei  ihnen  eine  gewisse  natürliche 


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Die  britischen  Arbeiter  und  der  zollpolitische  Imperialismus. 


127 


Geneigtheit  voraussetzen  mögen,  auf  die  Argumente  der  Schutz- 
zöllner einzugehen.  Gerade  dem  Gewerkschaftler,  wie  man  ihn  sich 
gemeinhin  vorstellt,  hätten  die  Hinweise,  daß  zwischen  dem  ge- 
werkschaftlichen Arbeiterschutz  und  dem  zollpolitischen  Produktions- 
schutz eine  innere  Verwandtschaft  bestehe,  am  ehesten  einleuchten 
müssen.  Und  diese  Hinweise,  die  indirekt  in  den  Manifesten  des 
Sozialdemokratischen  Bundes  und  direkt  in  den  Artikeln  des  „Clarion" 
zum  Ausdruck  kommen,  kehren  in  allen  Variationen  auch  in  der 
Presse  und  den  Flugschriften  wieder,  welche  die  Pläne  Chamber- 
lains  oder  sonst  den  Schutzzoll  propagieren.  „Kein  Gewerkschaftler," 
schrieb  die  unionistische  „Pall  Mall  Gazette"  im  Oktober,  „kann  sich 
dem  folgenden  Dilemma  entziehen :  reichliche  Löhne,  kurze  Arbeits- 
zeit, Fabrikinspektion  und  Unfallentschädigung  —  all  das  meint 
Erhöhung  der  Herstellungskosten  des  fertigen  Produktes,  wenn 
aber  freie  Einfuhr  die  Regel  und  der  billigste  Artikel  der  Gewinner 
sein  soll,  so  müssen  die  Löhne  unvermeidlich  auf  das  Niveau  der 
Konkurrenz  herunterreguliert  werden."  Chamberlain  selbst  hat  sein 
Möglichstes  aufgeboten,  sein  Reichszollprojekt  den  Arbeitern  mund- 
gerecht zu  machen.  In  dieser  Hinsicht  zeigt  seine  Agitation  un- 
leugbar Züge,  die  sie  vorteilhaft  von  der  Agitation  unterscheidet, 
wie  sie  in  Deutschland  seinerzeit  und  selbst  heute  noch  von  An- 
wälten der  Zollerhöhungen  entfaltet  wird.  England  ist  die  Heimat 
des  Cant,  aber  den  Cant,  daß  das  Ausland  die  vorgeschlagenen 
Getreidezölle  zahlen  werde,  hat  Chamberlain  den  britischen  Arbeitern 
nicht  aufgetischt.  Er  hat  ihnen  von  vornherein  zugegeben,  daß  der 
Weizenzoll  und  die  übrigen  Zölle  auf  Landwirtschaftsprodukte  ihre 
Nahrungsmittel  verteuern  werden.  „Wenn  ihr  den  Kolonien  einen 
Vorzug  geben  wollt,"  erklärte  er  am  28.  Mai  1903  im  Haus  der 
Gemeinen,  so  „müßt  ihr  die  Nahrungsmittel  besteuern.  Aber,"  setzte 
er,  figurativ  die  Arbeiter  anredend  hinzu,  „für  das,  was  ich  euch  ab- 
verlange, will  ich  euch  mehr  zurückgeben  . .  .  Meine  Vorschläge  sollen 
die  Kosten  des  Lebensunterhalts  des  Arbeiters  oder  irgend  einer 
Familie  in  diesem  Lande  auch  nicht  um  einen  Heller  erhöhen." 
Hier  die  Gegenüberstellung  der  Belastungen  in  Form  von  Schutz- 
zöllen und  der  Entlastungen  in  Form  von  Ermäßigung  der  Finanz- 
zölle und  indirekten  Steuern,  die  Chamberlain  vorschlug: 

Belastungen.  Entlastungen. 

2  sh  pro  Quarter  (=  etwas  über  Ermäßigung  des  Teezolles  um 
8  Schilling  pro  Tonne)  Zoll  auf  ein  Viertel  des  jetzigen  Satzes 
Weizen,  den  von  den  Kolonien      von  6  d  pro  Pfund. 


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12« 


Eduard  Hernstein, 


Belastungen.  Entlastungen. 

kommenden  Weizen   a  u  s  g  e  -  Ermäßigung  der  Zuckersteuer  auf 

nommen.  die  Hälfte  des  jetzigen  Satzes 

Ein  entsprechender  Mehlzoll.  von       d  pro  Pfund. 

5  prozentiger      Einfuhrzoll     auf  Entsprechende   Ermäßigung  der 

Fleisch ,  wieder  die  Kolonien     Abgaben  auf  Kaffee  und  Kakao. 

ausgenommen.  Ermäßigung    der    Zollsätze  für 

5  prozentiger     Einfuhrzoll      auf     Wein   und   Früchte  von  den 

Milchwirtschaftsprodukte.  \  Kolonien. 

Außerdem  sollte  auf  Industrieartikel,  alle  Rohmaterialien  aus- 
genommen, ein  Zoll  von  10  Prozent  des  Wertes  gelegt  werden. 

Auf  Grund  bekannter  Arbeiterhaushalte  rechnete  Chamberlain 
aus,  daß,  soweit  Nahrungs-  und  Genußmittel  in  Betracht  kämen, 
der  städtische  Arbeiter  bei  diesem  Plane  etwa  91/»  Farthings,  der 
Landarbeiter  etwa  7A/2  Farthings  pro  Woche  noch  gewinnen 
würden. 

Man  wird  gestehen  müssen,  daß  wohl  kaum  jemals  in  der  Ge- 
schichte ein  Schutzzollplan  der  Arbeiterwelt  in  bestechenderer  Ge- 
stalt vorgelegt  wurde,  als  dieser.  Fehlte  ihm  doch  auch  nicht  das 
Patrimonium  der  Enterbten.  Aus  den  Erträgen  der  Zölle  sollen 
die  Mittel  für  die  lang  erstrebte  Durchfuhrung  allgemeiner  Alters- 
pensionen für  die  arbeitende  Klasse  gewonnen  werden. 
Ferner  lockte  die  Aussicht,  durch  Zollnachlässe  günstige  Zollverträge 
mit  anderen  Ländern  zu  erwirken,  die  sich  jetzt  England  immer 
mehr  verschließen.  Dazu  der  an  das  Gefühlsmoment  appellierende 
Gedanke  der  Erwirkung  eines  engeren  Zusammenschlusses  zwischen 
dem  Mutterland  und  den  Kolonien  —  kurz,  alles  so  geeignet,  den 
von  der  Weltkonkurrenz  arg  bedrängten  englischen  Arbeiter  für 
sich  einzunehmen,  daß  man  sich  wirklich  nicht  wundern  kann, 
wenn  selbst  Sozialisten  dem  Plan  sympathische  Seiten  abgewannen. 
Eher  muß  es,  wie  gesagt,  überraschen,  daß  er  auf  so  starke  Gegner- 
schaft gerade  in  gewerkschaftlichen  Arbeiterkreisen  gestoßen  ist. 

Es  ist  ja  doch  unleugbar,  daß  Englands  Industrie  heute  hart 
zu  kämpfen  hat..  Die  Flugblätter  des  Bundes  für  Zolltarifreform  — 
Tariff  Reform  League  —  führen  dies  in  wirksamster  Weise  dem 
britischen  Publikum  vor  Augen,  indem  sie  den  Ziffern,  die  den 
Rückgang  bestimmter  britischer  Industrien  veranschaulichen,  das 
Wachstum  der  betreffenden  Industrien  in  den  Ländern  mit  Zoll- 
schutz zahlenmäßig  gegenüberstellen.    Allerdings  bleiben  ihnen  die 


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Die  britischen  Arbeiter  und  der  zollpolitische  Imperialismus. 


129 


Freihandelsgruppen  die  Antwort  nicht  schuldig.  Es  wird  in  den 
Flugblättern  der  beiden  Lager  ein  Kampf  geführt,  der  einer  be- 
sonderen Charakteristik  wert  wäre.  Da  veröffentlicht  die  Unio- 
nistische Liga  für  Zollfreiheit  der  Nahrungsmittel  (Unionist  Free 
Food  League)  unter  dem  Titel  „der  Professor  und  der  Arbeiter" 
eine  Unterhaltung  zwischen  einem  Professor  und  einem  Arbeiter, 
worin  der  Professor  dem  Arbeiter  einige  recht  populäre  Sätze  über 
den  Nutzen  des  Freihandels  beibringt.  Flugs  antwortet  das  Birming- 
hamer Zolltaritkomitee  mit  einem  Gegenflugblatte  „Der  Arbeiter 
und  der  Lehrassistent",  worin  ein  junger  Lehrassistent  dem  Arbeiter, 
den  der  Professor  eben  verlassen,  auseinandersetzt,  daß  dieser  zwar 
ein  herzensguter  Kerl,  aber  ein  eingetrockneter  Doktrinär  sei,  der 
die  Zeichen  der  Zeit  nicht  mehr  zu  lesen  verstehe.  Ihrerseits 
suchen  die  freihändlerischen  Flugblätter  wiederum  dem  Arbeiter 
klar  zu  machen,  daß  bei  Chamberlains  Zollvorschlag  der  britische 
Konsument  nicht  nur  nichts  gewinnt,  sondern  noch  verliert.  Nicht 
immer  ist  ihre  Beweisführung  da  die  bessere.  Wenn  sie  z.  B.  ihre 
Berechnung  auf  die  Ziffern  von  Englands  Gesamtkonsum  stützen, 
so  wird  dabei  die  Tatsache  verdunkelt,  daß  England  —  soweit  ist 
die  Gegenüberstellung  Blatchfords  am  Platze  —  eine  unverhältnis- 
mäßig zahlreiche  und  wachsende  Klasse  von  Nurkonsumenten  und 
deren  Anhang  zählt.  Auch  darin  machen  sich  die  freihändlerischen 
Blätter  die  Sache  zu  leicht  oder  gebrauchen  sie  Argumente,  denen 
gegenüber  die  Arbeiter  Grund  zu  einem  gewissen  Mißtrauen  haben, 
wenn  sie  die  zunehmende  Einfuhr  Englands  kurzerhand  als  einen 
Beweis  für  den  wachsenden  Wohlstand  der  Nation  ins  Feld  fuhren. 
Denn  der  Arbeiter  kommt  im  Angesicht  von  alledem  doch  um  die 
Frage  nicht  herum,  ob  seine  Arbeitsgelegenheit  zu-  oder  abnimmt. 
Wie  steht  es  mit  ihr,  von  der  es  heute  abhängt,  in  welchem  Maße 
der  Arbeiter  am  nationalen  Konsum  Anteil  nimmt? 

In  dieser  Hinsicht  bietet  das  vom  britischen  Gewerbe-  und 
Handelsamt  veröffentlichte  Blaubuch  über  die  britische  und  aus- 
ländische Industrie-  und  Handelsentwicklung  einige  sehr  be- 
merkenswerte Zahlen  dar.  Das  Blaubuch  ist  speziell  im  Hinblick 
auf  die  Zolldebatten  zusammengestellt  worden.1)  Auf  S.  362  fr. 
führt  es  die  Bewegung  der  Berufstätigen  von  fünfzehn  wichtigen 


')  Sein  englischer  Titel  ist:  British  and  Foreign  Trade  and  Industry, 
Memoranda,  Statistical  Tables  and  Charts  prepared  in  the  Board  of  Trade.  London 
1903,  Eyre  &  Spottiswoodc.    495  S.  fol. 

Archiv  für  Soiialwissen»chaft  u.  Sozialpolitik.  I.    (A.  f.  so*.  G.  u.  St.  XIX.)  t.  9 


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130 


Eduard  Bernstein, 


Gewerbegruppen  vor,  wie  sie  sich  in  England  und  Wales1)  zwischen 
1851  und  1901  in  den  zehnjährigen  Perioden  der  Volkszählungen  voll- 
zogen hat.  Auf  den  ersten  Blick  erscheinen  diese  Zahlen  wohl  ge- 
eignet, den  Engländer  nachdenklich  zu  stimmen. 

Drei  Gewerbszweige  zeigen  lur  1 85 1  einen  ununterbrochenen 
Rückgang  der  Beschäftigungsziffer:  es  sind  dies  die 
Landwirtschaft,  die  Leinen-  und  die  Seidenindustrie. 
Hier  die  Zahlen  für  das  Ausgangsjahr  185 1  und  die  Jahre  der  beiden 
letzten  Volkszählungen: 


1851 

1891 

1901 

I  Landwirtschaft 

1  904687 

1099572 

988340 

Leinenindustrie 

27421 

8531 

4956 

Seidenindustrie 

130723 

52027 

39035 

Zu  diesen  drei  Schmerzenskindern  gehört  eigentlich  auch  noch 
die  Stickerei,  bei  der  die  entsprechenden  Ziffern 

61726  34949  39439 

waren.  Sie  zeigt  zwar  gerade  im  Jahrzehnt  1891  auf  1901  wieder 
einen  Aufschwung,  doch  bleibt  dieser  hinter  dem  Prozentsatz 
der  in  der  gleichen  Zeit  vor  sich  gegangenen,  sich  auf  rund 
12  Proz.  belaufenden  Bevölkerungszunahme  beträchtlich  zurück, 
so  daß  hier  jedenfalls  ein  nennenswerter  relativer  Rückgang 
vorliegt. 

Eine  schwankende  Entwicklung  zeigen  die  Zahlen  für  die 
Wollcnindustrie  und  dieSchuh-undStiefelfabrikation. 
Sie  lauten: 

Wollenindustrie  255  750  258356  236006 

Schuh-  und  Stiefelfabrikation     243935  248789  251  143 

Die  Schuh-  und  Stiefelfabrikation  gehört  in  diese  Rubrik, 
weil  die  Zahl  ihrer  Beschäftigten  1861  auf  255  791  gestiegen  war, 
dann  erheblich  zurückging  und  sich  erst  in  den  letzten  Jahrzehnten 
wieder  gehoben  hat.  Auch  hier  bleibt  aber  der  Aufstieg  von  1891 
auf  1901  hinter  dem  Bevölkerungszuwachs  relativ  bedeutend  zurück. 

Ein  Produktionszweig  zeigt  bis  1891  einen  ununterbrochenen 
Aufschwung,  im  letzten  Jahrzehnt  aber  einen  Rückgang:  die  Baum- 
wollindustrie.   Ihre  Zahlen  sind: 

414998  605755        582 119 


')  Für  Schottland  und  Irland  waren  die  Ergebnisse  der  Gewcrbezählung  von 
1901  noch  nicht  vollständig  ausgearbeitet. 


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Die  britischen  Arbeiter  und  der  zollpolitische  Imperialismus.  1 3  I 

In  den  anderen  neun  Produktionszweigen  hat  sich  die  Ziffer 
der  Beschäftigten  bestandig  zunehmend  entwickelt: 


Baugewerbe  

398756 

701 284 

945875 

Kohlengewinnung  .... 

193  I11 

519144 

648944 

Eisen-  und  Stahlindustrie     .  . 

95350 

202  406 

216022 

Maschinenindustrie  u.  Schiffbau 

80528 

292  239 

? 

139219 

208720 

259292 

Buchdruck  und  Buchbinderei  . 

32  995 

121913 

M9  793 

Möbelfabrikation  

47958 

101  345 

121  531 

Steingut-  und  Glaswaren.    .  . 

465*4 

82  760 

92550 

Für  die  Maschinen-  und  Schiffbauindustrie  ist  bei  der  Zählung 
von  1901  eine  Klassifikation  in  Anwendung  gekommen,  die  von  der 
des  Jahres  1891  so  erheblich  abweicht,  daß  es  dem  Gewerbeamt 
unmöglich  erschien,  die  gewonnenen  Zahlen  für  den  Vergleich  in 
die  Tabelle  einzusetzen,  doch  ist  eine  beträchtliche  Zunahme  außer 
Zweifel.  Bei  den  anderen  Industrien  wurden  die  Unterschiede  im 
Zahl ungs verfahren  auf  Grund  sorgfältiger  Berechnungen  gebührend 
in  Abzug  gebracht. 

Zieht  man  die  Zahlen  der  14  Industriegruppen  zusammen,  für 
die  die  Ergebnisse  der  Zählungen  von  1891  und  1901  vollständig 
vorliegen,  so  erhält  man  als  Gesamtziffer  der  Beschäftigten  für  1891 
4245550,  für  1901  4  572  151  Personen.  Bei  einem  Bevölkerungs- 
zuwachs von  12  Proz.  müßte  die  letztere  Ziffer  aber  4750016 
lauten.  Es  ist  also  ein  relativer  Rückgang  der  Beschäf- 
tigten eingetreten,  der  sich  auf  rund  178000  beläuft. 

Den  größten,  den  Prozentsatz  des  Bevölkerungszuwachses  weit 
übersteigenden  Zuwachs  an  Beschäftigten  weisen  das  Baugewerbe 
und  die  Industrie  der  Kohlengewinnung  auf.  Das  erstere,  das 
seine  Beschäftigten  um  über  30  Proz.  steigen  sah,  kommt  für  den 
internationalen  Handel  nicht  in  Betracht.  Es  ist,  unter  dem  Ge- 
sichtspunkt des  Welthandels  betrachtet,  unproduktiv.  Die  Kohlen- 
gewinnung bedeutet  Verminderung  eines  zurzeit  noch  unersetz- 
lichen Kapitals  an  Naturschätzen  für  Produktionszwecke,  und  da 
obendrein  England  immer  mehr  Kohle  an  das  Ausland  abgibt  — 
es  exportierte  1880  für  8,37,  1890  für  19,02,  1900  aber  für  38,62 
Millionen  Pfund  Sterling  Kohle  —  so  ist  es  zweifelhaft,  ob  man  hier 
die  große  Zunahme  der  Ziffer  der  Beschäftigten  als  volkswirt- 
schaftlich sonderlich  günstig  betrachten  kann.  Zusammen  belicf 
sich  der  Zuwachs  der  Beschäftigten  für  Baugewerbe  und  Kohlen- 
industrie auf  374  391.    Der  Gesamtzuwachs  für  die  14  Industrien 

9* 


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132 


Eduard  Bernstein, 


war  aber  nur  326601.  Es  stellt  sich  also,  wenn  man  Kohlen-  und 
Baugewerbe  in  Abzug  bringt,  für  die  restlichen  !2  Industrien  ins- 
gesamt ein  Verlust  von  nahe  50000  heraus,  das  heißt  ein  rela- 
tiver und  absoluter  Rückgang! 

Der  bekannte  englische  Statistiker  Holt  Scholing,  der  dies  auf 
Grund  einer  etwas  anderen  Berechnung  in  der  „Fortnightly  Review" 
feststellt,  kommt  daher  zu  sehr  pessimistischen  Schlüssen  hinsicht- 
lich der  industriellen  Situation  Englands  und  läßt  seinen  Artikel  in 
einen  unmißverständlichen  Ruf  nach  Schutzzöllen  auslaufen.  In- 
des sind  seine  Folgerungen  als  sehr  voreilige  zu  bezeichnen. 

Zunächst  brauchte  Mr.  Scholing  nur  die  Zahlen  der  zweiten 
Abteilung  des  betreffenden  Abschnitts  des  Blaubuchs  näher  zu 
betrachten,  um  dahinter  zu  kommen,  daß  der  Rückgang  oder  das 
Zurückbleiben  der  Beschäftigten  in  den  beiden  großen  Zweigen  der 
englischen  Textilindustrie  zum  größten  Teil  auf  Abnahme  der 
Kinderarbeit  beruht.  Zwischen  1891  und  1901  hat  in  der 
englischen  Textilindustrie  infolge  verschiedener  Kinderschutzgesctze 
eine  erhebliche  Einschränkung  der  Kinderarbeit  stattgefunden,  die 
nun  in  den  obigen  Zahlen  stark  zum  Ausdruck  kommt.  Die  zweite 
Abteilung  des  Abschnittes  trennt  die  Beschäftigten  nach  dem 
Geschlecht  und  unterscheidet  die  Altersgruppen  unter  20  Jahre  und 
20  Jahre  und  darüber.  Sie  zeigt  für  das  letzte  Jahrzehnt  folgende 
Bewegung  der  beschäftigten  Personen: 

Baumwolle. 

1891  1901 

Personen  unter  20  Jahren     ....       242370  198872       —  43  49S 

Personen  von  20  Jahren  und  darüber      363385  383247       -f-  19862 

Wolle  und  Kammgarn. 

Personen  unter  20  Jahren     ....        96962  75  107        —  218;; 

Personen  von  20  Jahren  und  darüber       161394  1 60  999       —  395 

In  der  Wollenindustrie  ist  der  Rückgang  der  erwachsenen  Ar- 
beiter ganz  geringfügig,  in  der  Baumwollindustrie  hat  ihre  Zahl  so- 
gar nicht  unerheblich  zugenommen.  Für  den  Sozialpolitiker  von 
Interesse  ist  dabei  außerdem,  daß  in  beiden  Industrien  die  Zahlen 
der  erwachsenen  weiblichen  Arbeiter  im  Verhältnis  zu  der 
der  erwachsenen  männlichen  Arbeiter  einen  kleinen  Rückgang 
aufweisen.  Es  bleibt  zu  untersuchen,  ob  das  Fernbleiben  der 
Kinder  aus  der  Fabrik  nicht  auch  die  Mütter  stärker  an  das 
Haus  fesselt. 


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Die  britischen  Arbeiter  und  der  zollpolitisch  c  Imperialismus. 


133 


Auch  in  anderen  Industrien  ist  der  Rückgang  oder  das  relative 
Zurückbleiben  der  Beschäftigten  zum  größten  Teil  der  Beschränkung 
der  Kinderarbeit  zuzuschreiben. 

Ist  die  Gesamtzahl  der  beschäftigten  Personen  so  noch  kein 
untrüglicher  Gradmesser  für  den  Höhestand  der  Produktion,  so  gilt 
das  gleiche  von  einem  anderen  Faktor,  auf  den  bei  Untersuchungen 
dieser  Art  gern  zurückgegriffen  wird:  die  Menge  des  verarbeiteten 
Rohmaterials.  Englands  Verbrauch  an  Rohbaumwolle  und 
Rohwolle  weist  im  letzten  Jahrzehnt  nicht  unbedeutende  Schwan- 
kungen auf.  Das  Jahr  1898  stellt  mit  568  Millionen  Pfund  für 
Wolle,  das  Jahr  1899  mit  15,7  Millionen  Zentner  für  Baumwolle 
den  Höhepunkt  des  Verbrauchs,  bzw.  der  Verarbeitung  dar.  Seit- 
dem hat  ein  merkbarer  Rückgang  eingesetzt.  Der  Verbrauch  an 
Baumwolle  war  im  Durchschnitt  der  drei  Jahre  1900  1902  14,6 
Millionen  Zentner,  der  an  Wolle  512,3  Millionen  Pfund.  So- 
weit ein  Verlust  von  etwa  7  Proz.  für  Baumwolle  und  10  Proz. 
für  Wolle. 

Was  hier  jedoch  außer  Betracht  gelassen  ist,  ist  die  Frage  der 
Qualität.  „Es  ist  wahr,"  schreibt  John  Burns  in  einem  Artikel 
„I^abour  and  Free  Trade",  der  im  Novemberheft  1903  der  „Inde- 
pendent  Review"  erschien ,  hinsichtlich  der  englischen  Wollenin- 
dustrie, „die  Zahl  der  beschäftigten  Personen  und  die  Ausfuhr 
billiger  Wollenstofle  sind  etwas  zurückgegangen.  Aber  die  Pro- 
duktion hat  sich  besonders  in  der  Qualität  wesentlich  gehoben." 
Ähnlich  mag  es  in  der  Baumwollindustrie  stehen;  es  ist  bekannt, 
daß  England  in  bezug  auf  die  Produktion  der  feinsten  Garne  noch 
immer  seinen  Konkurrenten  bedeutend  voran  ist.  Im  übrigen  aber 
sind  einsichtige  Engländer  längst  überzeugt,  daß  Lancashirc  für  ge- 
wisse Baumwollartikel  schrittweise  von  seinen  bisherigen  Absatz- 
gebieten verdrängt  werden  wird,  und  daß  es  sich  im  wesentlichen 
nur  darum  handelt,  diesen  Entwicklungsprozeß  nicht  verheerender, 
den  Verlust  nicht  umfassender  werden  zu  lassen,  als  es  die  Natur 
der  Sache  unumgänglich  macht. 

Die  englische  Baumwollindustrie  hat  einen  hohen  Grad  der 
Vervollkommnung  erreicht,  ihre  Arbeiter  sind  geübter  und  besser 
bezahlt  als  die  Baumwollarbeiter  anderer  Länder,  die  Vereinigten 
Staaten  ausgenommen.  Indes  kommen  doch  verschiedene  Länder 
England  immer  näher,  so  daß  jedes  Experiment,  das  seine  Aus- 
fuhrbedingungen in  Mitleidenschaft  ziehen  könnte,  hier  doppelt  über- 
legt werden  muß.    Daher  die  entschiedene  Opposition  gerade  der 


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134 


Eduard  Bernstein, 


Textilarbeiter  Lancashires  gegen  Chamberlains  Vorschlag.  Keine 
Arbeiterkategorie  Englands  ist  besser  über  die  Weltmarktsbc- 
dingungen  ihrer  Industrie  unterrichtet,  keine  weniger  abgeneigt, 
diesen  Bedingungen  Rechnung  zu  tragen,  wie  die  Textilarbeiter 
lancashires.  Es  sei  nur  an  ihre  Parteinahme  für  die  Doppel- 
währungsagitation erinnert,  sowie  an  ihren  Widerstand  gegen  jedes 
zu  radikale  Vorgehen  in  der  Beschränkung  der  Kinderarbeit.  Hier- 
her gehört  auch  die,  sich  in  namhaften  Geldbeiträgen  manifestierende 
Teilnahme,  die  sie  den  Bestrebungen  englischer  Kolonialpolitiker 
auf  Ausbreitung  der  Baumwollkultur  in  Afrika  entgegenbringen. 
Eine  doktrinäre  Gegnerschaft  gegen  kolonialpolitische  Maßnahmen 
kann  man  bei  ihnen  zuletzt  voraussetzen.  Wenn  sie  also  gleich 
ihren  Fabrikanten,  und  gemeinsam  mit  diesen,  sich  schroff 
gegen  den  Reichszollverband  erklärt  haben ,  so  ist  das  nur  zu  er- 
klären, daß  sie  sich  der  Gefahren  eines  solchen  für  ihre  Industrie, 
seiner  volkswirtschaftlichen  Schattenseiten  voll  bewußt  sind. 

Es  handelt  sich  bei  dieser  Industrie  heute  nahezu  um  eine 
Million  Arbeiter;  denn  zu  den  eigentlichen  Textilarbeitern  kommen 
noch  große  Kategorien  von  Arbeitern  in  allen  möglichen  Neben- 
gewerben und  Hilfsbeschäftigungen.  Der  jährliche  Wert  der  Aus- 
fuhr Englands  an  Baumwollprodukten  beläuft  sich  auf  73  Millionen 
Pfund  Sterling.  Nur  für  29  Millionen  gehen  davon  nach  britischen 
Kolonien  und  Besitzungen ,  und  nur  für  2  1 Millionen  Pfund  Ster- 
ling nach  denjenigen  britischen  Kolonien  (Canada,  Victoria  etc.),  die 
heute  gegen  England  Schutzzölle  erheben.  Um  der  Ausfuhr  nach 
diesen  Kolonien  willen  die  Gefahr  heraufbeschwören,  daß  andere 
Länder  als  Gegenmaßregel  Englands  Einfuhr  noch  mehr  erschweren 
als  bisher,  wäre  in  der  Tat  ein  mehr  als  wagehalsiges  Spiel.  „Die 
Profite"  —  schreibt  Geo.  N.  Barnes  in  dem  Artikel  „Der  Schutz- 
zoll und  die  englischen  Stapelindustrien"  von  der  Textilindustrie 
Lancashires  —  „sind  in  ihrer  Art  niedrig;  Sachkundige  aus  beiden 
Lagern  (d.  h.  Fabrikanten  und  Arbeiter)  versichern  mir,  daß  sie 
nach  den  Abzügen  für  Abnutzungen,  Steuern  etc.  5  Proz.  eines 
Kapitals  von  nahezu  hundert  Millionen  Pfund  nicht  sehr  über- 
steigen. Es  ist  daher  ziemlich  klar,  daß  hier  kein  Spielraum  für 
Experimente  mit  jenen  unerprobten  zollpolitischen  Projekten  ist,  die 
ein  Einschrumpfen  der  Auslandsmärkte  zur  Folge  haben  können  und 
eine  Steigerung  der  Kosten  der  Lebenshaltung  sicher  zur  Folge 
haben  würden".  Ein  etwaiges  Steigen  der  Geldlöhne  würde  „ein 
Sinken  der  Profite,  eine  schrittweise  sich  vollziehende  Abnahme  der 


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Die  britischen  Arbeiter  und  der  zollpolitische  Imperialismus.  135 


Industrie  und  eine  Verminderung  unserer  Konkurrenzfähigkeit  so- 
wohl auf  dem  heimischen  Markt  wie  auf  dem  Auslandsmarkt 
zur  Folge  haben"  (Labour  and  Protection  p.  249/250).  Barnes 
ist  Gewerkschaftsführer  und  erklärter  Sozialist.  Es  ist  unter  diesen 
Umständen  interessant  zu  sehen,  wie  er  einen  gewissen  Profitsatz 
als  eine  der  Bedingungen  für  den  Fortbestand  der  Industrie 
aufzählt. 

An  einer  anderen  Stelle  seines  Artikels  behandelt  Burnes  unter 
der  Sammelrubrik  der  Eisen-  und  Stahlindustrien  auch  seine  Spczial- 
Ljewerbe,  die  Maschinenbauindustrie.  Er  hebt  die  Tatsache  hervor, 
daß  der  Wert  von  Englands  Ausfuhr  an  Maschinen  und  Maschinen- 
teilen von  10  Millionen  Pfund  Sterling  im  Jahre  1880  auf  19  Millionen 
im  Jahre  1900  gestiegen  sei,  und  schätzt  die  Zahl  der  im  Maschinen- 
und  Schiffbau  beschäftigten  Arbeiter  auf  „mindestens  600000  bis 
700  000".  Danach  müßten  wir  in  die  obige  Ziffer  für  die  Zu- 
nahme der  Arbeiterschaft  von  1891  bis  1901  noch  ein  Plus  von 
etlichen  hunderttausend  Arbeitern  einsetzen,  womit  der  scheinbare 
relative  Fehlbetrag  in  der  Gesamtzahl  der  beschäftigten  Arbeiter 
beglichen,  wenn  nicht  in  einen  Überschuß  verwandelt  wäre. 

Indes  geben  die  fünfzehn  Industriegruppen  immer  nur  ein 
Teilbild  der  industriellen  Entwicklung  Englands,  das  durch  die  un- 
zähligen kleinen  und  mittleren  Verarbeitungsgewerbe,  die  hier  nicht 
berücksichtigt  wurden,  vollständig  verändert  werden  kann.  Den 
ruinierten  Industrien,  von  denen  die  Schutzzollflugblätter  erzählen, 
mögen  emporgekommene  Industrien  mit  weit  mehr  Arbeitern 
gegenüberstehen,  und  ehe  darüber  keine  erschöpfenden  Zahlen  vor- 
liegen, sind  alle  Bemerkungen  über  Englands  industriellen  Rück- 
gang rein  konjektureil.  Eines  der  bezeichnendsten  Merkmale  des 
modernen  Industrialismus  sind  die  fortgesetzten  Verschiebungen  der 
Produktionsabteilungen.  Alte  Produktionszweige  verschwinden,  ganz 
neue  kommen  auf.  Die  Elektrizitätsgewerbe,  hinsichtlich  deren 
England  u.  a.  infolge  seiner  mangelhaften  Patentgesetzgebung  lange 
Zeit  im  Rückstand  war,  haben  in  den  letzten  Jahren  einen  großen 
Aufschwung  genommen  und  sicher  mehr  Arbeiter  absorbiert,  als 
etwa  durch  den  Rückgang  der  Handschuhfabrikation  außer  Arbeit 
gekommen  sind.   Solcher  Beispiele  ließen  sich  noch  viele  anführen. 

Es  würde  den  Rahmen  dieses  Artikels  überschreiten,  wollten 
wir  an  der  Hand  der  tatsächlich  zurückgegangenen  Industrien  Eng- 
lands den  Ursachen  ihres  Rückganges  eingehender  erörtern.  Es  ist 
allgemein  zugegeben,  daß  in  sehr  vielen  Fällen  der  Konservatismus 


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F.duard  Bernstein, 


der  Unternehmer  den  Rückgang  verursacht  hat,  in  Einzelfällen  mag 
auch  eine  falsche  Gewerkschaftspolitik  dazu  beigetragen  haben.  Daß 
in  dieser  Hinsicht  gemachte  Fehler  wieder  gut  gemacht  werden 
können,  lehrt  die  Geschichte  der  englischen  Schuhwarenfabrikation. 
Das  gleiche  versichert  ein  Artikel  des  englischen  Hüttenbesitzers 
Mr.  Hugh  Bell  im  Oktoberheft  1903  der  „Independent  Review'4  an  der 
Hand  der  Geschichte  der  englischen  Stahl-  undEisenindustrie. 
Der  genannte  Großindustrielle,  der  es  wie  wenige  verstanden  hat, 
sich  mit  den  organisierten  Arbeitern  seiner  Industrie  gut  zu  stellen, 
weist  den  schutzzöllnerischen  Segen  weit  von  sich  ab.  Nachdem 
er  geschildert  hat,  wie  seine  Industrie  oft  am  Boden  gelegen,  sich 
aber  immer  wieder  erholt  hat,  und  jetzt  stärker  dasteht  als  je,  erklärt 
er  es  für  den  größten  Hohn,  ihr  als  Waffe  gegen  eine  Einfuhr  von 
„bloß"  15  Millionen  Pfund  Sterling  im  Wert  einen  Schutzzoll  dar- 
zubieten. „Ruft  das  Gewerbe  nach  solchen  Heilmitteln,  dann  ist  es 
besser,  den  Kampf  von  vornherein  aufzugeben.  Dann  mögen  die 
Hochöfen  erkalten,  die  Gruben  verfallen,  die  Arbeiter  in  besser  ge- 
deihende Iündcr  auswandern  und  mag  die  freundliche  Natur  mit 
einem  Tuch  von  gefälligem  Grün  die  unschönen  Schlacken  häufen  be- 
decken, die  jetzt  Zeugnis  vom  Leben  einer  großen  Industrie  ablegen." 

Stellen  wir  dieser  Unternehmerstimme  eine  Arbeiterstimme 
gegenüber :  „Wir  wissen  nur  zu  wohl,"  schreibt  der  „Labour  Leader", 
das  Organ  der  unabhängigen  Arbeiterpartei,  in  Antwort  auf  den 
weiter  oben  zitierten  Artikel  der  „Pall  Mall  Gazette",  „daß  unsere 
Arbeitskameraden  auf  dem  Festland  unterbezahlt  sind.  Aber  es 
würde  weder  ihnen  noch  uns  helfen,  die  Gelegenheiten  für  den  Aus- 
tausch der  Arbeitsprodukte  zu  mindern.  Es  würde  das  Übel  nur 
verschlimmern."  Und  der  Sekretär  des  Arbeitervertretungsbundes, 
J.  Ramsey  Macdonald,  Parlamentskandidat  der  Arbeiterpartei  für 
Leicester,  dem  Sitz  einer  der  notleidenden  Industrien  (Stickerei), 
erklärt  in  seiner  Schrift  „The  Zollverein  and  British  Industry", 
durch  Schutzzölle  könne  man  bestenfalls  einige  wenige  verkommende 
Industrien  auf  Kosten  gedeihender  Industrien  künstlich  wieder  be- 
leben und  erhalten.  „Es  würde  genau  so  sein,  als  wollten  wir  ge- 
flissentlich die  Zahl  der  Millionäre  in  unserer  Mitte  vermehren,  um 
die  Nachfrage  nach  Lakaien,  Dienstpersonal  und  Gärtnern  zu 
steigern,  und  uns  einbilden,  damit  das  Gewerbe  zu  beleben.  Für 
ein  oder  zwei  Jahre  würde  die  Beschäftigungsziffcr  möglicherweise 
befriedigend  lauten,  aber  die  industrielle  Lage  des  Landes  würde  in 
Wirklichkeit  dadurch  geschwächt  werden"  (S.  118). 


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Die  britischen  Arbeiter  und  der  zoll  politische  Imperialismus. 


137 


Die  Schrift  Macdonalds  legt  die  Schwierigkeiten  und  Verkehrt- 
heiten des  Reichszollvereinplans  in  ausgezeichneter  Weise  bloß. 
Man  kann  es  verstehen,  wie  die  Idee  dieses  Plans  im  Laufe  der 
Jahre  aufkommen  und  sich  ausbreiten  konnte.  Die  schutzzöllnerische 
Reaktion  auf  dem  Festland  Europas  und  in  den  Vereinigten  Staaten, 
die  wachsende  Konkurrenz  der  dort  emporblühenden  Industrien,  die 
oft  unberechtigten  Feindseligkeiten,  denen  England  gerade  auf 
seiten  derjenigen  Länder  begegnen  mußte,  denen  es  den  besten 
Markt  darbietet,  dies  und  ein  gewisser  sentimentaler  Chauvinismus 
haben  viel  dazu  beigetragen,  die  oft  schon  erörterte,  aber  immer 
wieder  fallen  gelassene  Idee  des  zollpolitischen  Zusammenschlusses 
der  englischen  Kolonien  mit  dem  Mutterlande  wieder  zu  beleben. 
Und  ein  sentimentales  Ereignis,  das  60jährige  Regierungsjubiläum 
der  Königin  Viktoria,  brachte  plötzlich  eine  Maßregel,  die  diese 
Idee  scheinbar  der  endlichen  Verwirklichung  näher  führen  mußte : 
die  Herabsetzung  der  kanadischen  Einfuhrzölle  für  Produkte  aus 
dem  Mutterlande. 

Gerade  diese  Maßregel  hat  aber  mit  der  Zeit  die  Klippen 
deutlicher  zutage  treten  lassen,  denen  der  Plan  gegebenenfalls  das 
britische  Kolonialreich  entgegentreiben  würde.  Canada  ist  in  der 
Tat  diejenige  britische  Kolonie,  die  bei  dem  Plan  in  erster  Reihe 
in  Betracht  käme.  Denn  die  nächst  volkreiche,  Australien,  findet  für 
ihren  Hauptausfuhrartikel,  Wolle,  in  der  ganzen  Welt  einen  offenen 
Markt,  und  hat  eine  starke  Schutzzollpartei,  der  dort  die  sehr  ein- 
flußreiche Arbeiterschaft,  soweit  Industriezölle  in  Betracht  kommen, 
energisch  'zur  Seite  steht.  Selbst  wenn  es  zustande  käme,  würde 
ein  Zollbündnis  Englands  mit  Australien  nur  eine  sehr  prekäre  Exi- 
stenz führen.  Ihm  fehlt  auf  der  Seite  Australiens  die  Grundlage 
eines  starken  materiellen  Interesses  an  einer  weiteren  Öffnung  der 
Tore  für  englische  Industrieprodukte.  Aber  auch  das  Interesse 
Canadas  an  einem  Zollbündnis  mit  England  ist  mehr  als  zweifel- 
hafter Natur.  Canada  hat  nicht  minder  seine  rührige  Schutzzoll- 
partei, die  schon  wiederholt  am  Ruder  war  und  jederzeit  wieder  ans 
Ruder  kommen  kann.  Außerdem  gravitieren  starke  Teile  seiner 
Bevölkerung  mehr  nach  den  benachbarten  Vereinigten  Staaten,  wie 
nach  England  hin  —  ein  Verhältnis,  das  sich  immer  mehr  steigern 
wird,  je  weniger  England  in  der  I^ge  ist,  Canada  mit  Einwanderern 
zu  versorgen,  und  je  mehr  —  wie  in  den  letzten  Jahren  —  die 
Einwanderung  von  den  Vereinigten  Staaten  nach  Canada  zunimmt. 
Der  Personenverkehr  Canadas  mit  den  Vereinigten  Staaten  ist  ein 


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Kd  uard  Bernstein, 


viel  lebhafterer  als  der  mit  England,  und  der  Güterverkehr  mit  den 
ersteren  hat  im  letzten  Geschäftsjahr  (1902/ 1903)  ebenfalls  den  mit 
England  überstiegen :  er  belief  sich  auf  206  Millionen,  der  mit  Eng- 
land nur  auf  184  Millionen  Dollars.  Ein  canadisch-englisches  Zoll- 
bündnis müßte  daher,  wenn  es  überhaupt  eine  wirtschaftspolitische 
Bedeutung  haben  sollte,  seine  Spitze  vornehmlich  gegen  die  Ver- 
einigten Staaten  richten,  die  landwirtschaftlich  Canadas,  industriell 
immer  mehr  Englands  Konkurrenten  sind.  Es  ist  nicht  anzunehmen, 
daß  die  Vereinigten  Staaten  dies  ruhig  mitansehen  würden,  Zoll- 
konflikte würden  sich  einstellen,  deren  Ergebnis  sehr  wahrscheinlich 
eine  intensive  Stärkung  der  Agitation  für  den  Anschluß  Canadas 
an  die  Vereinigten  Staaten  sein  würde.  Wenn  von  dieser  Agitation 
jetzt  nicht  viel  zu  spüren  ist,  so  gerade  deshalb,  weil  Canada 
heute  politisch  wie  zollpolitisch  vollständiges  Selbstbestimmungs- 
recht genießt,  vom  Mutterlande  mehr  empfangt,  als  es  ihm  gibt.  In 
einen  Zollbund  eingetreten,  würde  es  auch  in  die  unausbleiblichen 
Zollkämpfe  dieses  Bundes  hineingerissen  werden.  Endlose  Reibungen, 
heftige  Agitationen  der  dabei  geschädigten  Kreise  —  und  ohne 
Schädigung  von  Interessen  geht  es  bei  Zollkämpfen  nicht  ab  — 
wären  die  unvermeidliche  Folge. 

Mit  diesem  Zukunftsbild  vor  Augen,  von  der  Erkenntnis  durch- 
drungen, daß  die  Schutzzöllnerei  niemals  da  stehen  bleibt,  wo  sie 
anfängt,  sondern  daß  es  bei  ihr  auch  heißt:  mit  dem  Kleinen  fängt 
man  an,  mit  dem  Großen  hört  man  auf,  haben  die  erfahrensten 
Elemente  der  englischen  Arbeiterbewegung  dem  zollpolitischen  Im- 
perialismus den  Krieg  erklärt.  Sie  sind  sich  der  Tatsache  wohl  be- 
wußt, daß  der  Freihandel  seine  großen  Probleme  hat,  daß  er  Eng- 
land heute  vor  Schwierigkeiten  stellt,  die  es  in  früheren  Jahrzehnten 
nicht  entfernt  gekannt,  noch  geahnt  hat.  Aber  sie  wissen  auch, 
daß  der  Schutzzoll  diese  Schwierigkeiten  nicht  vermindern,  sondern 
vermehren  würde.  Unter  einem  Gesichtspunkt  könnte  selbst  der 
Verfechter  des  Prinzips  des  freien  Austausches  zwischen  den  Nationen 
den  Sieg  der  Chamberlainschcn  Pläne  wünschen.  Nämlich  wenn 
man  hoffen  dürfte,  daß  der  Übergang  Englands  zum  Schutzzoll  als 
Vollendung  der  Schutzzollreaktion  auch  zugleich  ihr  Ende  einläuten, 
daß  in  dem  Moment,  wo  der  letzte  bisher  freihändlerische  Groß- 
staat in  den  Ring  der  Schutzzolländer  eintritt,  dieser  Ring  von 
innen  heraus  zum  Platzen  gebracht,  das  System  an  seinen  eigenen 
Übertreibungen  zugrunde  gehen  werde.  Indes  ist  die  Spekulation, 
die  von  der  Steigerung  des  Verkehrten  den  Sieg  des  Richtigen  er- 


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Die  britischen  Arbeiter  und  der  zollpolitischc  Imperialismus. 


139 


hofft,  schon  häufig  bitter  enttäuscht  worden.    Wenn  England  uner- 
schüttert  das  Prinzip  des  freien  Verkehrs  aufrecht  erhält,  und  wenn 
es  sich  zeigt,  daß  gerade  die  Blüte  seiner  industriellen  Arbeiter- 
schaft es  ist,  die  es  darin  stützt,  so  kann  das  auf  die  übrige  Welt 
seine  erzieherische  Wirkung  nicht  verfehlen.   England  hat  der  Welt 
im   letzten  Jahrzehnt  mancherlei  Enttäuschungen  bereitet.  Aber 
wenn  es  in  den  Tagen,  da  die  Manie  der  Wettbauten  von  Zoll- 
schranken grassiert,  der  Verlockung  widersteht,  nun  auch  seiner- 
seits mit  dem  Bau  von  Zollmauern  zu  beginnen,  wird  man  ihm 
manches  verzeihen  können.    Selbst  die  Advokaten  des  Zollschutzes 
bestreiten,  soweit  sie  ökonomisch  denken,  diesem  den  Titel  eines 
bloßen  pis  aller  nicht.    Um  so  wünschenswerter,  daß  der  Gegen- 
wart das  Beispiel  des  Besseren  erhalten  bleibt,  dem  die  Zukunft 
gehört.    Und  um  so  erhebender,  wenn  für  die  Erhaltung  dieses  Bei- 
spiels gerade  die  Klasse  eintritt,  die  in  den  ihr  von  der  Geschichte 
anferlegten  Bedürfnissen  und  Strebungen  die  Zukunft  der  Mensch- 
heit vertritt. ') 

')  Nachdem  das  Vorstehende  in  Druck  gegangen,  ist  auch  ein  Penny-Traktat 
de*  Vereins  der  Fabianer  über  die  zollpolitischc  Frage  erschienen:  „Fabianism 
and  tht  Fiscal  question.  An  alternative  Poliey."  Es  ist  reich  an  guten  Bemerkungen 
über  den  Freihandel  und  den  Schutzzoll,  nimmt  aber,  wie  das  Manifest  des  Sozial- 
demokratischen Hundes,  keine  sehr  entschiedene  Stellung  zur  Streitfrage  selbst,  son- 
dern entwickelt  nur  ein  Programm  ökonomischer  etc.  Reformen,  das  nach  Ansicht 
der  Verfasser  ein  Aufgeben  der  jetzigen  Freihandclspolitik  Englands  entbehrlich 
machen  würde. 


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HO 


Die  irische  Agrarfrage. 

I.  Das  heutige  Irland. 
Von 

Dr.  M.  J.  BONN, 

Krankfurt  a.  M. 

L 

735  Jahre  sind  heute  seit  dem  Beginn  der  englischen  Koloni- 
sationstätigkeit in  Irland  verflossen.  Während  die  englische  Kolo- 
nisationspolitik im  großen  ganzen  in  allen  Erdteilen  erfolgreich  ge- 
wesen ist,  weiß  jeder  Zeitungsleser,  daß  Irland  auch  heute  noch 
nicht  mit  ihren  Ergebnissen  zufrieden  ist.  Mit  Ausnahme  der 
nordöstlichen  Teile  Ulsters  hat  sich  Irland  immer  noch  nicht  mit 
der  englischen  Herrschaft  ausgesöhnt.  Ulster  ist  im  wesentlichen 
Kolonistenland.  Wenn  man,  was  in  gewissem  Sinne  berechtigt 
ist,  annimmt,  daß  die  Kolonistenbevölkerung  der  protestantischen 
Religion,  die  Eingeborenenbevölkerung  der  katholischen  angehört, 
so  zeigt  sich  in  Ulster  ein  leises  Überwiegen  des  Protestantismus 
und  damit  des  Kolonistenelements,  indem  dort  auf  IOOO  Einwohner 
nur  442  Katholiken  kommen.  Das  protestantische  Ulster  ist  im 
großen  ganzen  von  dem  Irland  des  irischen  Problems  getrennt  zu 
betrachten.  Mit  seiner  nüchternen,  harten,  arbeitsamen  Bevölkerung, 
die  vor  allem  nach  Belfast  gravitiert,  ist  es  ein  I^ind  von  moderner 
industrieller  und  sozialer  Struktur.  Es  wird  mit  seinem  intensiven 
Wirtschaftsleben,  das  es  in  Landwirtschaft  wie  in  Industrie  auf- 
weist, keinem,  der  es  je  gesehen  hat,  als  irdisches  Paradies  er- 
scheinen; in  den  Hungerbergen  Connaughts,  wo  ein  Volk  von 
Lotusessern  langsam  ausstirbt,  weil  der  Lotus  dort  nur  kümmer- 
lich gedeiht,  ist  die  Annäherung  an  ein  solches  weit  größer. 
Aber  LTlstcr  ist  ein  modernes  Land  mit  modernen  Problemen,  die 


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Die  irische  Agrarfrage. 


I4I 


von  denen  anderer  westeuropäischer  Länder  nicht  übermäßig  ver- 
schieden sind. 

Mit  Ausnahme  Ulsters  ist  Irland  noch  heute  anti-englisch. 
Von  103  Abgeordneten,  die  es  ins  Reichsparlament  nach  London 
sendet,  sind  immer  über  80  Nationalisten,  die  es  als  ihre 
Aufgabe  betrachten,  jeder  englischen  Regierung  Schwierigkeiten 
zu  machen,  alle  englischen  Fragen  ohne  Rücksicht  auf  ihre 
innere  Bedeutung  nur  vom  Standpunkt  irischer  Interessen  zu  be- 
urteilen, und  sich  den  englischen  Parteien  nur  anzugliedern,  wenn 
dafür  greifbare  Vorteile  für  Irland  zu  erlangen  sind.  Sie  jubeln  in 
systematischer  Weise  jedem  Feinde  zu,  der  England  im  Auslande 
entsteht,  sie  feiern  den  Patrotismus  einer  Kaffernhorde,  die  ein  paar 
britische  Kolonisten  überfallt,  sie  suchen  das  englische  Parlament 
von  Zeit  zu  Zeit  arbeitsunfähig  zu  machen  und  in  den  Augen  der 
Welt  zu  diskreditieren,  indem  sie  geschickt  arrangierte  Sturmszenen 
hervorrufen.  Alle  diese  Dinge  sind  nicht  so  ernst,  wie  sie  manch- 
mal erscheinen;  denn  es  steckt  ein  guter  Teil  Theaterspielerei  in 
solchen  Demonstrationen.  Wenn  die  Kaffernhorde,  der  Irlands  Ver- 
treter erst  kürzlich  zujubelten,  schließlich  besiegt  wird,  so  ist  es 
wahrscheinlich  durch  Regimenter  geschehen,  deren  Rekruten  auf 
der  grünen  Insel  angeworben  sind.  Die  parlamentarischen  Gewalt- 
szenen  sind  notwendig,  um  den  unversöhnlichen  Elementen  der 
irischen  Partei  einen  Beweis  von  der  Lebenskraft  der  parlamenta- 
rischen Fraktion  zu  geben,  wie  um  die  amerikanischen  Iren  von 
Zeit  zu  Zeit  zu  neuen  Geldspenden  zu  veranlassen.  Wenn  ein 
englischer  Souverän  nach  Irland  kommt  und  dabei  die  religiös- 
nationalen Vorurteile  der  Bevölkerung  schont,  kann  er,  trotz  dem 
Geschrei  der  Unversöhnlichen,  auf  einen  recht  befriedigenden  Em- 
pfang zählen,  ohne  daß  damit  allerdings  eine  Lösung  der  irischen 
Frage  erfolgt  wäre. 

Die  politischen  Methoden,  mit  denen  England  seine  von  weißer 
Bevölkerung  bewohnten  Gebietsteile  zu  verwalten  pflegt,  sind  in  Ir- 
land nur  teilweise  zur  Anwendung  gekommen.  Nicht  nur,  daß  Irland 
keine  eigene  Legislative  besitzt,  auch  die  demokratische  Lokalvcrwal- 
tung,  die  allein  eine  Teilnahme  der  Bevölkerung  verbürgt,  ist  erst  durch 
die  Parlamentsakte  von  1898  eingeführt  worden.  Dabei  ist  die  Rolle, 
die  die  Zentralverwaltung  in  Irland  spielt  —  sie  ist  in  Dublin  Castle 
ansässig  und  wird  daher  als  „The  Castle"  bezeichnet  —  unendlich 
wichtiger,  als  dies  in  Schottland  oder  England  der  Fall  ist.  Die 
Kosten  für  Justiz,  Polizei,  innere  Verwaltung  betrugen : 


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I42 


M.  J.  H  o  n  n , 


in  England  und  Wales  mit 
30  Mill.  Kinwohncrn: 

1,4  Millionen  £. 


in  Schottland  mit 
4,1  Mill.  Einwohnern: 

0,219  Millionen  £. 


4,6  Mill.  Einwohnern: 
2,025  Millionen  £. l) 


in  Irland  mit 


Die  Verwaltung  Irlands  liegt  zum  großen  Teil  in  den  Händen 
der  Royal  Irish  Constabulary,  einer  vorzüglich  organisierten  kleinen 
Armee,  die  der  Zentralverwaltung  untersteht.  Der  Mannschafts- 
bestand der  Royal  Irish  Constabulary  betrug  im  Durchschnitt  der 
Jahre  1876  bis  1895  ca.  I2  0OO  Mann,  die  Kosten  waren  1,4  Mil- 
lionen £.  *)  Stärke  und  Organisation  dieser  Constabulary,  wie  auch 
die  Kostspieligkeit  der  irischen  Verwaltung  beweisen,  daß  die  englische 
Regierung  in  Irland  das  Gefühl  völliger  Sicherheit  nicht  kennt.  Sie 
regiert  durch  die  Polizei  und  macht  sich  sonst  eigentlich  nur  durch 
reisende  Inspektoren  der  verschiedenen  Departements  bemerklich. 
Eine  Anzahl  der  traditionellen  englischen  Institutionen  funktioniert 
nicht  eben  glänzend.  Der  Richter,  dessen  Unparteilichkeit  in  Eng- 
land über  jeden  Zweifel  erhaben  ist,  wird  in  Irland  meist  aus  den 
politischen  Anhängern  der  Regierung  ernannt  und  genießt  selten  — 
ob  mit  Recht  oder  Unrecht,  will  ich  nicht  entscheiden  —  den  Ruf 
strenger  Unparteilichkeit.  Dafür  machen  sich  die  Geschworenen,  die 
aus  der  Bevölkerung  gewählt  werden,  beinahe  systematisch  ein  Ver- 
gnügen daraus,  politische  oder  scheinbar  politische  Verbrecher,  die 
zweifellos  schuldig  sind,  frei  zu  sprechen,  wodurch  die  Regierung  oft 
veranlaßt  wurde,  die  Zusammensetzung  der  Geschworenengerichte 
zu  beeinflussen.  Eine  Anzahl  Verbrechen,  die  den  zivilisierten  Staaten 
West-Europas  so  gut  wie  unbekannt  sind,  finden  in  Irland  in  jedem 
Jahre  statt.  Es  sind  dies  Agrarverbrechen ,  die  von  Drohbriefen 
und  Einschüchterung,  von  grausamen  Viehverstümmelungen  und 
Brandstiftungen,  bis  zu  Boykottierungen  und  Mordtaten  von  geradezu 
bestialischer  Wildheit  rangieren.  Solcher  Verbrechen  gab  es  in  den 
Jahren  1844  bis  1890  nicht  weniger  als  35  534-  1894  waren  es  276, 
1893  261,  1902  253.*)  Die  Gefahr  einer  planmäßigen  irischen  Re- 
volution, die  dann  einmal  stattfinden  soll,  wenn  England  in  politi- 
schen Verwickelungen  begriffen  ist,  darf  man  sehr  gering  anschlagen. 
Der  Transvaalkrieg  schien  die  von  irischen  Patrioten  so  oft  und 
heiß  ersehnte  Gelegenheit  endlich  zu  bringen;  daß  sie  nicht  benutzt 
werden  würde,  mußte  jedem  von  vornherein  klar  sein,  da  der 

')  Financial  Relation  Commission  I.,  p.  413. 
a)  Financial  Relations  IL,  237. 
*)  Thoms  OfTficial  dircetnry. 


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I 


Die  irische  Agrarfrage. 


143 


Abstand  zwischen  Wort  und  Tat  in  Irland  größer  zu  sein  pflegt, 
als  in  weniger  interessanten  Ländern.  Dagegen  sind  vereinzelte 
Ausbrüche  nie  unmöglich,  obwohl  die  letzten  Jahre  ruhig  ver- 
laufen sind.  In  allen  irischen  Städten  findet  sich  ein  gewisser 
Bodensatz  unversöhnlicher  nationalistischer  Revolutionäre,  denen  Dy- 
namit im  Dienste  der  Nationalitätsidee  angebracht  erscheinen  mag. 
Eine  gewisse  Neigung  zu  Ungesetzlichkeiten,  eben  weil  sie  Unge- 
setzlichkeiten sind,  lebt  im  irischen  Volke  und  zeigt  deutlich  den 
politischen  Mißerfolg,  den  England  in  Irland  erzielt  hat  und  den 
vielleicht  nichts  besser  illustriert,  als  die  Tatsache,  daß  England 
nicht  den  Mut  gehabt  hat,  die  englische  Milizverfassung  nach  Ir- 
land zu  übertragen.  Es  hieße  eine  Geschichte  der  englischen  Ko- 
lonisation in  Irland  schreiben,  wenn  ich  die  Frage  hier  aufwerfen 
wollte,  warum  die  englische  Kolonisation  in  Irland  kein  Erfolg 
gewesen  ist.  Daß  dies  der  Fall  war,  spricht  sich  auch  in  anderen 
Tatsachen  aus. 


Während  der  Kolonisationsepoche  war  es  eines  der  Hauptziele 
Englands  gewesen,  Irland  dem  Protestantismus  zu  gewinnen.  Ein 
Blick  auf  die  Statistik  beweist,  wie  erfolglos  dieses  Beginnen  ge- 
wesen ist.  Die  irische  Bevölkerung  beträgt  heute  4458775.  Den 
verschiedenen  nicht-katholischen  Religionen,  wie  der  anglikanischen 
Hochkirche,  den  Presbyterianern,  den  Methodisten  usw.  gehören  da- 
von 11 50  114  an.  3308661  sind  Katholiken,  was  einem  Satz  von 
74,21  Proz.  entspricht.  Seit  der  Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts  hat 
sich  das  Verhältnis  zwischen  Katholiken  und  Nichtkatholiken  etwas 
zugunsten  der  letzteren  verschoben.    Die  Katholiken  waren 


der  Bevölkerung.  Diese  langsame  Abnahme  ist  nicht  etwa  durch 
Zunahme  der  anderen  Konfessionen  entstanden,  sie  erfolgte  viel- 
mehr aus  der  stärkeren  Abnahme  der  Katholiken,  nicht  etwa  durch 
Konversionen,  sondern  durch  Abwanderung.  Die  Hoffnung,  daß 
ein  namhafter  Bruchteil  der  irischen  Bevölkerung  durch  die  Kolo- 
nisation dem  Protestantismus  gewonnen  würde,  ist  in  jeder  Be- 
ziehung enttäuscht  worden.  Man  kann  ohne  starke  Übertreibung 
sagen,  daß  mit  geringen  Ausnahmen  alle  Nichtkatholiken  von  Kolo- 
nisten abstammen. 


II. 


1861 
77,69  Proz. 


1881 
76,54  Proz. 


74,21  Proz. 


IQOl 


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144 


M.  J.  Bonn, 


Etwas  erfolgreicher  ist  die  englische  Regierung  in  der  Ab- 
schaffung irischer  Sitten  und  Gebräuche,  vor  allem  in  der  Zer- 
störung der  irischen  Sprache  gewesen.    Es  verstanden  irisch : 

Personen      Proz.  der  Be-      Es  verstanden  nur 
völkerung  irisch:  Personen 

1881  949932=  18,2  64167 

1891  680245  =  14,5  38  192 

1901  641142^=  14,4  20953 

Hier  zeigt  sich  also  ein  starker  Rückgang  der  irischen  Sprache. 
In  den  letzten  Jahren  hat  unter  der  Führung  der  „Gaelischen  Liga" 
eine  Bewegung  begonnen,  die  sich  die  Wiederbelebung  altkeltischer 
Sitten  und  Gebräuche,  vor  allem  von  Sprache  und  Litteratur  zur 
Aufgabe  macht.  Die  englische  Regierung  hat  derselben  keinen 
Widerstand  geleistet,  sogar  den  Gaelischen  Unterricht  in  den  Schulen 
geduldet.  Sie  hat  wohl  eingesehen,  daß  eine  äußerliche  Assimilierung 
einer  fremdstammlichen  Bevölkerung  ohne  großen  Wert  ist  und 
daß,  solange  der  Ire  sich  staatlich  nicht  mit  dem  britischen  Reiche 
verwachsen  fühlt,  der  Gebrauch  der  englischen  Sprache  keine  Ga- 
rantie gibt.  Der  Imperialismus,  wie  er  von  Englands  besten  Geistern 
aufgefaßt  wird,  entspricht  diesem  Vorgehen.  Er  bedeutet  nicht  eine 
chauvinistische  Betonung  des  Nationalgefuhls ;  er  setzt  sich  vielmehr 
das  Ziel,  eine  Anzahl  politisch  verbundener  Völker,  die  einem  Staats- 
ganzen angehören,  so  in  ihrer  Eigenart  zu  fordern  und  zu  ent- 
wickeln, daß  sie  einem  staatlichen  Ziele  zustrebend,  einander  er- 
gänzen. 

England  wollte  Irland  nicht  nur  äußerlich  anglisieren,  es  wollte 
auch  in  Irland  Zustände  schaffen ,  die  eine  gesunde  wirtschaftliche 
Entwicklung  ermöglichen  sollten.  Soweit  die  allgemeine  Erziehung 
geht,  die  England  Irland  angedeihen  ließ,  sind  die  Ergebnisse  nicht 
glänzend,  wenngleich  wesentliche  Fortschritte  festzustellen  sind. 
Wenn  man  untersucht,  wieviel  Prozent  der  über  5  Jahre  alten 
Bevölkerung  Irlands  weder  lesen  noch  schreiben  konnte,  so  findet 
man,  daß  dies  im  Jahre 

1841  1861  1881  1901 

53  Proz.  39  Proz.  25  Proz.  14  Proz.  waren. 

In  einzelnen  Landesteilen  und  in  einzelnen  Bevölkerungsgruppen 
waren  die  Dinge  noch  schlimmer.  In  Connaught  waren  21  Proz. 
Analphabeten.    Die  gesamte  katholische  Bevölkerung  Irlands  wies 


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Die  irische  Agrarfrage. 


145 


einen  Prozentsatz  von  16,4  auf,  die  katholische  Bevölkerung  der 
Grafschaft  Donegal  gar  einen  solchen  von  31  Proz.1) 

Das  Bild  der  irischen  Entwicklung  wird  noch  trüber,  wenn  wir 
einen  Blick  auf  die  Bevölkerungsstatistik  werfen.  1841  stellte  der 
Census  die  irische  Bevölkerung  auf  8  1 75 1 24  Seelen  fest.  Der  Census 
von  1901  weist  eine  Bevölkerung  von  4458773  auf;  es  hat  also 
eine  Bevölkerungsabnahme  von  3716349  stattgefunden.  Ich  will 
hier  nicht  auf  die  Geschichte  der  irischen  Emigration,  noch  auf 
ihre  Ursachen  eingehen.  Es  genüge  zu  erwähnen,  daß  von  1851  bis 
19°1  3  735  725  Individuen  ausgewandert  sind.  Trotz  einer  der- 
artigen Bevölkerungsabnahme,  trotzdem  Irland  mit  97  Köpfen  pro 
Quadratmeile  (englisch)  heute  alles  eher  als  ein  dichtbevölkertes 
Land  ist,  dauert  die  Abwanderung  fort.    Sie  betrug  im  Jahre 

1900  1901 

45228  39618  Köpfe. 

56,4  Proz.  dieser  Auswanderer  standen  im  Alter  von  15  bis  25  Jahren, 
24,1  Proz.  im  Alter  von  25  bis  35  Jahren.  Von  16927  Personen 
zwischen  20  und  25  Jahren  waren  nur  44  Männer  und  201  Frauen 
verheiratet.  Es  ist  die  erwerbsfähige,  unternehmungslustige  Jugend, 
die  abwandert,  um  sich  in  dem  größeren  Irland,  das  sie  in  den 
Vereinigten  Staaten  vorfindet,  Erwerbsgelegenheit  zu  verschaffen. 
Die  meisten  gehen  als  ungelernte  Arbeiter  hinaus.  Unter  18  343 
Männern  waren  außer  658  Farmern  13359  Arbeiter;  unter  21527 
Frauen  werden  15  638  als  servants  bezeichnet.*) 

Auch  die  Gliederung  der  in  der  Heimat  zurückgebliebenen  Be- 
völkerung weist  keine  Züge  ökonomischer  Jugendkraft  auf.  Es  be- 
trägt auf  je  100000  die  Zahl  der  unter  20  Jahre  alten  40952,  die 
der  20  bis  55  Jahre  alten  44789,  die  der  über  55  Jahre  alten 
14259.  Dieser  Altersaufbau  ist  dem  der  französischen  Bevölkerung 
nicht  unähnlich;  er  weist  eine  geringe  Besetzung  der  Jugendklassen 
(303  per  1000  bis  15  jährige  in  Irland,  in  Frankreich  262,  dagegen 
in  Deutschland  351)  und  eine  starke  Besetzung  der  über  60jährigen 
[Irland  105  auf  iooo,  Frankreich  125,  Deutschland  dagegen  nur  80)  auf. 

')  Wie  der  Census,  dem  alle  diese  Ziffern  entnommen  sind,  mit  Recht  be- 
merkt, lassen  sich  irgend  welche  Schlüsse  auf  die  Qualität  der  den  verschiedenen 
Bekenntnissen  angehörigen  Bevölkerung  hieraus  nicht  ziehen.  Die  blofle  Tatsache, 
daß  die  Katholiken  die  Majorität  bilden  und  auch  die  Mehrheit  der  armen  Be- 
völkerung umfassen,  erklärt  diese  Ziffern  vollkomm'en. 

*)  Emigration  Statistics  1901.    Die  irische  Auswanderung  ist  eingehend  erörtert 
Ix-i  Karl  Ratbgen  ,, Englische  Auswanderung  und  Auswanderungspolitik". 
Archiv  fiir  Sozialwisseiuchaft  u.  Sozialpolitik.  I.    (A.  f.  *o*.  G.  u.  St.  XIX).  1.  IO 


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146 


M.  J.  Bonn, 


Wenn  wir  die  Geburten  und  Todesfälle  betrachten,  so  ergibt 
sich  auf  IOOO  der  Bevölkerung  eine  Geburtsziffer  von  23,0,  der 
18,2  Todesfälle  gegenüberstehen.  Auf  100  976  Geburten  kamen  im 
letzten  Jahre  79  116  Todesfälle.  Dieses  scheinbar  nicht  ungünstige 
Ergebnis  verliert  aber  an  Bedeutung,  wenn  wir  die  Zahl  der  Ehen 
betrachten.  Es  befanden  sich  1901  1  049413  Frauen  in  gebär- 
fähigem Alter  (15—45)  in  Irland,  hiervon  waren  nur  341  258 
verheiratet,  im  ganzen  32,5  Proz.  Diese  Zahl  der  verheirateten 
Frauen  im  Verhältnis  zu  den  heiratsfähigen  nimmt  dauernd  ab.1) 
Nur  in  den  zurückgebliebenen  Gegenden  Connaughts  herrscht  eine 
stärkere  Ehefrequenz.  Auf  100  über  25  Jahre  alte  Frauen  kommen 
in  Mayo  nur  33,3  unverheiratete,  in  der  Grafschaft  Dublin  dagegen 
etwa  52,2,  also  mehr  als  die  Hälfte.  Da  uneheliche  Geburten ,  vor 
allem  in  den  katholischen  Teilen  Irlands  keine  Rolle  spielen,  so 
ergibt  sich  schon  aus  diesen  Zahlen  die  langsame  natürliche  Zu- 
nahme der  Bevölkerung. 

„Estimated  by  the  number  of  married  women  of  thc  child- 
bearing  age  the  natural  increase  of  population  in  Ireland  is  at 
present  very  small",  sagt  der  Census.  Das  Bild,  das  man  sich 
früher  von  Irland  machte,  als  einem  Lande  mit  frühen  Heiraten, 
die  von  zahllosen  Kindern  gefolgt  sind,  ist  seit  langem  nicht  mehr 
richtig.  Man  kann  ohne  starke  Übertreibung  sagen,  daß  ein  großer 
Teil  der  heiratsfähigen  und  heiratslustigen  Bevölkerung  alle  Jahre 
Irland  verläßt,  um  sich  jenseits  des  Ozeans  einen  Herd  zu  gründen. 
Weit  wahrer  als  die  Vorstellung  einer  kaninchenhaft  sich  ver- 
mehrenden Race  ist  heute  das  Wort  George  Moores:  „Nothing 
thrives  in  Ireland,  but  the  celibate." 

hl 

Irland  ist  ein  armes  Land.  Wer  je  durch  die  endlosen  Berg- 
öden Connaugths  gewandert  ist,  wer  je  die  schmutzigen  slums  einer 
irischen  Stadt  gesehen  hat,  in  denen  sich  modernes  Proletariat  ohne 
moderne  Industrieentwicklung  vorfindet,  hat  kaum  das  Bedürfnis, 
Zahlen  für  seine  Eindrücke  aufzusuchen.  Die  Statistik  bestätigt  in- 
deß  seine  Vorstellungen.  Nach  einer  Berechnung  Gififens,  die  der 
Commission  on  Financial  Relations  vorgelegt  und  im  gewissen 
Sinne  zur  Grundlage  der  Ausführung  derselben  gemacht  wurde, 


')  Census  22. 


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Die  irische  Agrarfrage. 


147 


darf  man  das  Einkommen  Irlands  zu  63  bis  76  Millionen  £  rechnen.1) 
Das  ergäbe  also  bei  einer  Bevölkerung  von  4  */s  Millionen  Menschen 
etwa  ein  Durchschnittseinkommen  von  15 — 16  £.  So  gering  dieses 
Durchschnittseinkommen  von  M.  300  auch  erscheint,  das  für  die 
westlichen  Teile  sich  wesentlich  niedriger  stellen  dürfte,  so  ist  es 
bereits  das  Ergebnis  eines  allerdings  langsamen  Wachstums.  Die 
Veranlagungen  zur  Einkommensteuer  („net  assessments")  betrugen: 

1854        1864        1874        1884  1894 

21,33  23  27,08         27,062        27,3s  1  Millionen  £.*) 

Die  Einkommensteuer  ist  ein  etwas  trügerischer  Maßstab,  da  sie 
nur  auf  Einkommen  über  160  £  fällt  und  Irlands  zahlreichste  Ein- 
kommen sich  zweifellos  unter  dieser  Grenze  befinden.  Aber  andere 
Ziffern,  wie  die  Zunahme  des  Viehbestandes,  die  Einlagen  der 
Sparkassen  und  Banken,  auch  wohl  der  Eisenbahnverkehr  zeigen 
einen  gewissen  Fortschritt.  Die  Einlagen  der  Sparkassen  be- 
trugen : 

1870  1880  1890  1894 

2,7  3.7  5.7  6,97  Millionen  £. 3) 

Irgend  welche  weitgehende  Schlüsse  sind  hieraus  kaum  zu  ziehen, 
außer,  daß  die  Armut  Irlands  heute  etwas  weniger  groß  ist,  als  vor 
Jahrzehnten.  Ein  gewisses  fortschrittliches  Regen  zeigt  sich  an 
manchen  Stellen.  So  betrug  z.  B.  das  Kapital  der  Aktienge- 
sellschaften 

1880  1890  »89495 

11,5  19.5  25.48  Millionen  £.*) 

Solche  Ziffern  zeigen  die  Richtung,  in  der  die  irische  Volkswirt- 
schaft sich  bewegt;  sie  sagen  wenig  über  ihren  heutigen  Zustand. 

Im  irischen  Census  wird  eine  detaillierte  Darstellung  der 
Wohnungsverhältnisse  gegeben.  Die  Häuser  werden  in  4  Klassen 
eingeteilt  Die  unterste  (vierte)  Klasse  sind  einfensterige,  einzimmerige 
Lehmhütten  (mud  cabins);  die  dritte  Klasse  wird  von  Hütten  ge- 
bildet, die  I — 4  Räume  und  ebensoviel  Fenster  besitzen;  die 
zweite  Klasse  sind  anständige  Farmhäuser  mit  4 — 9  Zimmern  und 
Fenstern;  die  oberste  Klasse  sind  wirklich  gute  Häuser.  Wenn 

')  Final  Report  of  the  Royal  Commission  on  Uic  Financial  Rotations  between 
Great  Britain  und  Ireland  p.  174  ff. 

-)  Financial  Kelations  Report,  p.  58. 
3)  Financial  Relations  Report,  p.  207. 
*)  Ib.  p.  207. 

10* 


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I48  M.  J.  Bonn, 

wir  diese  Einteilung  annehmen,  so  ergeben  sich  folgende  Ziffern: 
Es  gehörten  an: 

In  der  Stadt:      Auf  dem  Lande:  überhaupt: 
der  4.  Klassen         539  Häuser  9374  Häuser  9873  Häuser 

„    3-      ».  22  268     .»  229338      »  251606  „ 

„        2.  II  171  792  „  349662  „  52M54  M 

„I.  36  525  »-  38700  .,  75225  „ 

Wenn  man  berücksichtigt,  daß  vielfach  mehr  als  eine  Familie  das 
betreffende  Haus  bewohnt  und  nicht  die  Häuser,  sondern  die 
Wohnungsverhältnisse  klassifiziert,  so  ergibt  sich  folgendes  Bild: 

Es  lebten  in  Auf  dem  In  der 

Wohnungsverhältnissen  Lande :  Stadt  • 

der  4.  Klasse  U  869  Familien  29354  Familien 

11    3-  " 

234380      „  53618 

„    2.     „  348763  164322 

37  733  30217 

Die  irische  Lehmhütte  mit  ihrem  buckeligen  Strohdach,  das  an 
Stelle  eines  Schornsteins  ein  Loch  hat,  deren  Fenster,  wenn  über- 
haupt vorhanden,  nicht  geöffnet  werden  kann,  deren  Boden  die 
bloße  Erde  ist,  deren  Einrichtung  ein  paar  Bretter  sind,  die  als 
Bett  dienen  und  ein  paar  andere  Bretter,  die  auf  die  Bezeichnung 
Schrank  Anspruch  machen,  ist  die  primitivste  Behausung,  die  man 
sich  vorstellen  kann.  Sie  hat  häufig  keine  richtige  Feuerstelle;  an 
der  einen  Wand,  auf  dem  bloßen  Boden,  wird  der  Torf  in  Flammen 
gesetzt  Die  einzige  Ventilation  erfolgt  durch  die  Tür  und  durch 
das  Loch  im  Strohdach.  Ein  paar  Hockerchen  und  ein  Gestell,  auf 
dem  zerbrochene  Tassen  stehen,  vervollständigen  die  Einrichtung. 
Häufig  teilen  Kuh  und  Kalb,  Schwein  und  Hühner  die  Behausung  mit 
dem  Inhaber.  Solcher  Wohnungen  weist  Irland  10  000  auf.  Aber 
auch  die  Häuser  der  dritten  Klasse,  die  oft  aus  losem  Stein  gefugt 
sind,  durch  Abteilungen  in  mehrere  Räume  zerfallen  und  meist 
zwei  Türen  haben,  die  je  nach  der  Windrichtung  geschlossen 
werden  können,  verraten  in  ihrer  Mehrheit  einen  so  tiefen  Grad  von 
Komfort,  wie  er  wohl  bei  keinem  westeuropäischen  Volke  existiert. 
Die  nackte  Erde  als  Boden  dürfte  sich  bei  den  meisten  derselben 
vorfinden.  Der  irische  Standard  of  life  ist  ein  außerordentlich 
niedriger,  daher  sind  alle  derartige  äußere  Anzeichen  der  Armut 
in  gewissem  Sinne  irreführend.  Der  Ire  ist  häufig  nicht  so  arm, 
wie  man  aus  seiner  Art  zu  leben  schließen  könnte.  Die  Fähigkeit, 


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Die  irische  Agrarfrage. 


149 


unter  elenden  Lebensbedingungen  zu  existieren,  auf  Böden  sein  Da- 
sein zu  fristen  und  sich  fortzuflanzen ,  wo  eine  mitteleuropäische 
Ziege  verhungern  müßte,  hat  zweifellos  das  irische  Volk  während 
der  langen  Periode  der  Verachtung  und  Unterdrückung  erhalten. 
Sie  ist  es  aber  auch,  die  eine  wirtschaftliche  Erhebung  und  Fort- 
entwicklung heute  so  unendlich  schwer  macht.  Ein  Volk,  das  mit 
etwas  Milch  und  Kartoffel,  mit  Tabak,  ein  bischen  Schnaps  und 
starkem  aber  schlechtem  Tee  zufrieden  ist,  liefert  nicht  die  Ele- 
mente, die  die  moderne  industrielle  Welt  verlangt. 

Ungefähr  V»  der  irischen  Bevölkerung,  im  ganzen  1436  071, 
lebt  in  Städten;  davon  in  neun  Boroughs  (das  sind  Städte,  die 
Abgeordnete  ins  Parlament  wählen)  892  463.  Während  die  Gesamt- 
bevölkerung seit  1891  um  einige  Tausend  zurückgegangen  ist,  ist 
die  Stadtbevölkerung  um  139670  gewachsen.  Wenn  man  die 
städtische  Bevölkerung  auf  die  religiösen  Verhältnisse  hin  unter- 
sucht, so  ergibt  sich,  daß  in  den  Boroughs  59,5  Proz.  Katholiken 
sind,  in  den  übrigen  towns  62,6  Proz.  Es  ist  also  das  Verhältnis 
der  Katholiken  zu  den  Protestanten  in  den  Städten  ein  ungünstigeres 
als  auf  dem  flachen  Lande,  da  der  Durchschnitt  für  ganz  Irland 
74  Proz.  beträgt.  In  gewissem  Sinne  ist  daher  das  Ziel  der  alten 
englischen  Politik,  die  Städte  protestantisch  zu  erhalten,  erreicht 
worden.  Neben  Dublin  und  Belfast  machen  nur  etwa  ein  halbes 
Dutzend  Städte  einen  wirklich  städtischen  Eindruck.  Der  Rest 
besteht,  außer  in  Ulster,  aus  dorfahnlichen  Häuseragglomera- 
tionen, die  Marktzentren,  Verwaltungszentren  und  —  das  wichtigste 
nicht  zu  vergessen  —  Trinkzentren  der  agrarischen  Distrikte  sind. 
Viele  dieser  kleinen  irischen  Städte  sind  das  niederdrückendste, 
was  man  in  Westeuropa  sehen  kann.  Das  Elend  des  flachen 
Landes  wird  wenigstens  durch  die  Empfindung  der  Weite  gemildert. 
Hier  säumen  die  schmutzigen  Hütten,  eng  aneinander  gestellt,  ver- 
wahrloste Straßen,  denen  ein  paar  mehrstöckige  Häuser  vergebens 
städtischen  Charakter  zu  verleihen  suchen.  Eine  städtische  Ge- 
sellschaft mit  Kulturinteresscn  ist  kaum  vorhanden.  Die  Geist- 
lichen der  verschiedenen  Konfessionen,  ein  paar  Beamte,  ein  oder 
der  andere  Landagent,  der  Verwalter  der  Bankfiliale,  ein  Arzt,  ein 
Anwalt,  das  ist  alles,  was  an  kulturbringenden  Elementen  vorhanden 
ist;  vielleicht  ist  noch  ein  Kloster  in  der  Nähe  und  eine  oder  die 
andere,  nicht  übermäßig  geistfördernde  Gymnasialschule.  Die  Ge- 
rechtigkeit verlangt  indes  das  Zugeständnis,  daß  die  armen  Quar- 
tiere der  großen  Stadt  mit  ihren  fensterlosen,  verwahrlosten  Häusern, 


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M.  J.  Bonn, 


auf  deren  äußerer  Steintreppe  sämtliche  Bewohner  tagsüber  nicht 
eben  stillschweigend  zu  sitzen  pflegen,  an  Verkommenheit  und  ekel- 
erregendem Schmutz  den  kleinen  Städten  mindestens  ebenbürtig 
sind.  Der  Rest  der  Bevölkerung  wohnt  teils  in  dorfahnlichen  Sied- 
lungen, die  sich  nur  durch  Abwesenheit  der  Selbstverwaltung  von 
den  Städten  unterscheiden,  teils  in  durcheinandergewürfelten  Weilern 
und  in  einsamen,  auf  Mooren  und  Berghalden  gelegenen  Hütten. 
Je  dünner  die  Bevölkerung  wird,  desto  einsamer  wird  Irland,  desto 
öder  und  stiller  das  Leben  dieses  lebensfrohen  Volkes. 

IV. 

Die  Berufsstatistik  teilt  die  irische  Bevölkerung  in  6  Klassen 
ein.  Die  erste  Klasse  umfaßt  die  freien  Berufe  etc.  mit  131 035 
Individuen.  Zu  ihr  zählen  Ärzte,  Advokaten,  Beamte  etc.  Die 
zweite  Klasse  enthält  häusliche  Dienste,  Gesinde  etc.,  sie  zählt 
2 19 41 8  Individuen;  die  dritte  Klasse  umfaßt  die  kaufmännischen 
Berufe  mit  97889  Individuen;  Ackerbau  mit  879062  Individuen 
bildet  die  vierte,  Industrie  mit  639,413  die  fünfte  Klasse.  Der  sechsten 
Klasse  endlich,  mit  2494658,  gehören  die  nicht  näher  bestimmten 
Berufe  und  vor  allem  die  großen  Massen  der  nicht  beruflich  Tätigen  an. 
Sehr  viel  volkswirtschaftlich  Wertvolles  läßt  sich  aus  dem  irischen 
Census  nicht  ersehen;  er  gibt  vielmehr  eine  Sammlung  volkswirt- 
schaftlicher Einzeltatsachen  als  ein  systematisch  durchdachtes  Ganze 
des  irischen  Wirtschaftslebens.  Auf  den  ersten  Blick  scheinen  die 
kaufmännischen  und  die  industriellen  Klassen  fast  ebenso  stark 
ins  Gewicht  zu  fallen,  wie  die  Ackerbau  treibende  Klasse.  Aber 
einmal  sind  dieser  letzteren  noch  etwa  115  540  im  allgemeinen  als 
„labourers"  bezeichnete  Individuen  zuzuzählen.  Dann  aber  sind  die 
irischen  Industrien,  um  die  es  sich  handelt,  meist  Kleinindustrien 
mit  geringem  Kapital,  oder  solche,  die  lokalen  Bedürfnissen  dienen, 
wie  Baugewerbe ,  Bekleidungsgewerbe  etc.  .  .  .  Die  wichtigste  In- 
dustrie dürfte  das  Verkehrsgewerbe  sein,  das  im  ganzen  58  566  An- 
gestellte zählt. ')  In  erster  Linie  kommen  hier  die  Eisenbahnen. 
Irland  ist  ein  Land  der  Privatbahnen ;  es  gibt  etwa  30  Privatgesell- 
schaften, deren  Netz  ca.  3214  engl.  Meilen  lang  ist.  Ihr  arbeitendes 


')  Für  das  Folgende:  Ircland,  Industrial  and  Agricultural  cd.  by  W.  V.  Coync 
p.  73  fr.  and  Railway  Statistics ;  auch  der  Onsus  Report  ist  hier,  wie  an  anderen 
Stellen,  benutzt  worden. 


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Die  irische  Agrarfrage. 


Kapital  betrug  im  Jahre  1902  etwa  40  Millionen  £.  Der  Überschuß 
der  Einnahmen  über  die  Kosten  war  1,58  Millionen  £,  was  also 
knapp  eine  Verzinsung  von  4  Proz.  ergibt.  Die  irischen  Eisen- 
bahnen sind  im  wesentlichen  Passagierbeförderungsbahnen.  Von 
den  Roherträgen  brachten  die  Passagiere  2  Millionen  £  ein, 

Waren  im  allgemeinen  Vieh  Mineralien 

1238000^  330000  £  219700  ,f 

Wahrend  in  England  einer  Einnahme  aus  Warentransport  von  57 
Millionen  £  eine  solche  aus  Passagiertransport  von  33,4  Millionen  £ 
gegenübersteht,  ist  das  Verhältnis  für  Irland  wie  1,787  zu  2,098 
Millionen.1)  Die  Frachten  in  Irland  sind  hoch,  weit  höher  als  in 
England.  Während  im  Jahre  1890  die  Beförderung  per  Tonne 
22,75  I>roz-  teurer  war  als  in  England,  ist  sie  im  Jahre  1900  auf 
37,14  Proz.  gestiegen. 

Der  Landtransport  auf  Straßen  etc.  beschäftigt  18985  Personen, 
die  Schiffahrt  in  ihren  verschiedenen  Zweigen  15252. 

Die  größte  irische  Industrie  ist  die  Textilindustrie,  vor  allem 
die  Leinenindustrie  Ulsters,  die  in  der  Tat  eine  Weltindustrie  ist.  Im 
Jahre  1899  existierten  51  Spinnereien  oder  Spinnereigesellschaften 
mit  838  582  Spindeln.  Die  Zahl  der  mechanischen  Webstühle  be- 
trug 32  245.  Der  Export  aller  Sorten  Leinen  aus  dem  Vereinigten 
Königreich  wurde  1901  auf  5  Millionen  £  geschätzt  (Sir  R.  Lloyd 
Patterson  auf  der  Cork  Industrial  Conference  p.  38,  47,  48).  Die 
Zahl  der  Angestellten  betrug  77465,  von  denen  809  in  der  Baum- 
wollindustrie tätig  waren.  Außer  diesen  waren  noch  etwa  30000 
in  Bleichereibetrieben  beschäftigt.  —  Die  Wollindustrie  dagegen 
trägt  wesentlich  den  Charakter  einer  Lokalindustrie.  Das  Spinnen 
geschieht  zum  großen  Teil  in  den  Hütten,  während  114  kleinere 
Lohnwebereien  mit  3323  Arbeitern  bestehen.  -)  Im  ganzen  be- 
schäftigt die  Wollindustrie  5348  Individuen.  Die  Zahl  aller  in  der 
Textilindustrie  Beschäftigten  ist  109  588.  Sonst  weist  die  Be- 
kleidungsindustrie, die  Schneider,  Schuster,  Hutmacher  umfaßt,  die 
größte  Zahl  der  industriell  Tätigen  auf.  Mit  Ausnahme  einiger 
Schuhfabriken  ist  die  Wäscheindustrie  um  Londonderry,  die  etwa 
80000  Individuen  beschäftigt :5),  die  einzige  Industrie  dieser  Gruppe, 


l)  In  der  englischen  Ziffer  sind  keinerlei  Einnahmen  aus  Gepäck-  und  Briefpost 
eingeschlossen. 

»)  Ircland  401. 
*t  Irrland  418. 


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152 


M.  J.  Bonn, 


die  Großbetriebe  enthält.  Sie  ist  jedoch  zum  großen  Teil  noch 
als  Verlagsindustrie  organisiert. 

Der  Bergbau  ist  unbedeutend.  Der  Kohlenbau  fördert  wenig 
mehr  als  iooooo  tons.  Der  Wert  aller  Bergprodukte  beträgt 
ca.  250000  £\  die  im  Bergbau  Angestellten  zählen  ca.  6386  Köpfe. 
Die  Fischerei  beschäftigt  1 1 000  Individuen. 

Außerdem  sind  noch  drei  irische  Industrien  von  Weltruf  zu 
erwähnen;  die  Bierbrauerei,  die  Whiskeybrennerei  und  die  großen 
Schiffsbauwerften  von  Belfast.  Die  39  Bierbrauereien  Irlands  pro- 
duzierten im  Jahre  1901  über  3  Millionen  Barrels,  von  denen  ca. 
2  Millionen  im  Inlande  konsumiert  wurden.1)  Alle  Betriebe  werden 
durch  die  Guiness'sche  Brauerei  überragt,  deren  Jahresgewinn  in 
den  letzten  Jahren  auf  ca.  800000  £  kam.  Die  30  Whiskey- 
brennereien ereugten  im  Jahre  1901  142  Millionen  Gallonen,  von 
denen  etwa  4  V2  Millionen  im  Inlande  konsumiert  wurden.2)  Neben 
diesen  Großbetrieben  besteht  noch  in  vielen  Bauernhütten  des 
Westens  eine  heimlich  betriebene,  unerlaubte  Brennerei,  wo  der 
sogenannte  „Potheen"  hergestellt  wird,  der  dem  irischen  Whiskey- 
trinker der  Schwierigkeit  des  Erwerbes  wie  der  Gefahr  und  der 
Ungesetzlichkeit  der  Produktion  wegen  besonders  lieb  ist.  Nicht 
weniger  als  1404  der  hierzu  verwandten  Blasen,  („stills")  wurden 
1902  von  der  Polizei  beschlagnahmt. 

Die  Alkoholindustric  beschäftigt  zwar  nur  5400  Angestellte, 
bietet  aber  einer  großen  Anzahl  Krämern  und  Wirten  lohnende 
Erwerbsgelegenheit.  Man  zählt  in  Irland  30  572  Krämer  (general 
shopkeepers)  deren  Erfolg  im  Wirtschaftsleben  ohne  eine  Schank- 
lizenz  häufig  zweifelhaft  wäre.  25  206  Schanklizenzen  waren  1902 
ausgegeben.8)  Der  Kampf  um  die  Licenzcn  bildet  ein  Moment  im 
irischen  Leben,  das  viel  wichtiger  und  viel  bedeutungsvoller  ist, 
als  die  politischen  Theaterkämpfe,  die  die  Spalten  der  Zeitungen 
füllen.  Mehr  und  mehr  wird  die  Macht  der  Wirte  im  poli- 
tischen Leben  Irlands  fühlbar.  Sie  sind  in  dem  kapitalarmen 
Lande  die  Kapitalistenklasse  und  üben  als  solche  einen  starken 
Einfluß  aus. 

Die  letzte  große  Industrie  —  und  sie  ist  eine  Industrie  von 
Weltruf  —  sind  die  großen  Schiffsbauwerften  Belfasts,  vor  allem  die 

l)  Ircland  459  fi'. 

*)  Ircland  499. 

')  Thom's  Official  Directory. 


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Die  irische  Agrarfrage. 


153 


von  Harland  &  Wolf,  die  ungefähr  9006  Arbeiter  beschäftigen.  Im 
Jahre  1900  betrug  deren  Produktion  93316  Bruttotonnen.  Die 
Bedeutung  dieser  Industrie  für  Belfast  liegt,  abgesehen  von  allem 
anderen  auch  darin,  daß  sie  eine  Ergänzung  der  Textilindustrie 
bildet;  die  weibliche  Bevölkerung  arbeitet  in  den  Spinnereien,  die 
Männer  auf  den  Werften. 

Wenn  man  alle  diese  Zahlen  betrachtet,  so  kann  man  kaum 
sagen,  daß  Irland  den  Eindruck  eines  industriellen  Landes  mache; 
im  wesentlichen  ist  es  ein  Agrarland  und  wird,  mit  Ausnahme  der 
Ostküste,  auf  absehbare  Zeit  ein  Agrarland  bleiben. 

V. 

Irlands  Bodenfläche  beträgt  20350000  acres.  Davon  neh- 
men ein : 

Korn,  Kübcn,    Weide  und  vorübergehende  Sumpf,  Ödland 

Kartoffel             Weide,    Heu  von  Brache    Wald  usw.      Wasser  usw. 

usw.               dauernden  Weiden  Berg 

3,3  Mill.  acres          12,2  0,0095        °»3°3        4,807  6  Mill.  acres. 

Schon  diese  Ziffern  zeigen,  daß  Irland  ein  Weideland  ist.  Die  mit 
gesäetem  Gras  bedeckte  Fläche  ist  1,2278  Millionen  acres;  dazu 
kommen  11,665  Millionen  acres  ewige  Weide,  zusammen  12,893 
Millionen  acres,  also  mehr  als  2/a  des  gesamten  urbaren  I-andes. 
Irland  ist  demgemäß  ein  Land  der  Viehzucht.  Es  betrug  der 
Viehbestand  : 

1861  1902 

Milchkühe  1,525  Millionen  Stück  1,510  Millionen  Stück 

2-  und  mehrjährige  Rinder  0,8466       „  „  1,77         „  „ 

I  jährige  Rinder  0,5855       „  „  1,67 

unter  I  Jahr  0,521  4       „  „  1,126 

der  ganze  Rindviehbestand  3471  700  Stück  4782000  Stück. 

Vergleicht  man  diese  Ziffern,  so  ergibt  sich  eine  Abnahme  der 
Milchkühe  um  2,2  Proz.,  eine  Zunahme  der  Rinder  unter  1  Jahr  um 
116  Proz.,  eine  Zunahme  des  gesamten  Rindviehbestandes,  mit  Aus- 
nahme der  Kühe,  um  69,8  Proz.  und  eine  Zunahme  des  gesamten 
Viehbestandes  um  37,7  Proz.  Diese  Zahlen  beweisen,  daß  Irland 
sich  mehr  und  mehr  von  einem  milchproduzierenden  zu  einem 
fleischproduzierenden  Lande  entwickelt.1)  Der  sonstige  Viehbestand 
beträgt: 

»)  Agricultural  Statistics  p.  XII  ff. 


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154 


M.  J.  Bonn, 


Schafe,  (die  an       Schweine       Pferde       Esel       Ziegen  Geflügel 
Zahl  abnehmen) 

4,2  Mill.  1,35  Mill.       565000    239000    312000    ca.  18  Mill.  Stück. 

Der  Export  von  Vieh  nach  England  im  Durchschnitt  dreier  Jahre 
erreichte : 

Rindvieh 

782466  Stück  oder  13,8  Proz. 

des  gesamten  Bestandes;  wenn  man  die  Kühe  ausschließt,  etwa 
25  Proz. 

Schafe  Schweine 
920000  oder  19,3  Proz.;       650000  oder  48,9  Proz.  der  Bestandes 

Der  Wert  dieser  Viehausfuhr  betrug: 

Rinder  Schafe  Schweine  Im  ganzen 

II  Mill.  1,3  Mill.  1,35  Mill.  13,74  Mill.  £*) 

Der  Gesamtwert  des  Viehbestandes  wird   zwischen  42  Millionen 
und  71  Millionen  £  geschätzt,  der  der  Pferde  auf  12  V2  Millionen.2) 
Ein  anderes  Bild  ergibt  der  irische  Ackerbau.   Es  sind  bestellt: 

mit  Cerealien       mit  Wurzelgewächsen         mit  Wiesen 

1,307  1,070  2,168  Mill.  acres; 

zusammen  4,507  Millionen  acres.    Davon  entfallen  auf: 

Hafer    Weizen    Gerste    Flachs    Rüben    Mangeln    Kartoffel  Wiesen 

1,082     0,044      0,168     0,050     0,289      0.077        0,629       2.168  Mill.  acres. 

Der  Wert  der  Ernte  beträgt  im  Durchschnitt  33  Millionen  £. 
Davon  entfallen  auf 

Heuernte  Hafcrcrntc  Kartoffelernte 

13  Mill.  £.  6  Mill.  £.  8  Mill.  £. 

Diese  drei  wichtigsten  Ernten  ergeben  27  Millionen  £  (alles 
nach  den  Agricultural  Statistics  von  1902).  Auch  diese  Zahlen 
zeigen,  daß  Irland  ein  Weideland  mit  geringem  Ackerbau  und 
extensiver  Technik  ist.8)    Im  ganzen  waren  876000  Individuen  im 


»)  Thom  635. 
»)  Thom  738. 

s)  Dank  der  außerordentlichen  Fruchtbarkeil  der  in  Anbau  genommenen  Boden, 
sind  die  Ergebnisse  der  einzelnen  Ernten  wesentlich  größer  als  in  England.  Das 
durchschnittliche  Ernteergebnis  der  Jahre  1893' 1902  betrug 


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Die  irische  Agrarfrage. 


155 


Ackerbau  beschäftigt,  von  denen  ungefähr  140 000  (Männer  und 
Frauen)  als  Arbeiter  und  Kätner  bezeichnet  werden ,  85  000  als 
Hausgesinde  (indoors),  außerdem  wird  man  der  landwirtschaftlichen 
Bevölkerung  noch  einen  Teil  der  181  000  allgemein  als  Arbeiter 
bezeichneten  Individuen  zurechnen  müssen. 

Irland  ist  ein  Land  der  ewigen  Weide.  Schon  die  Tatsache, 
daß  aus  15  Millionen  acres  Kulturland  nur  350000  acres  mit 
Rüben  bestellt  sind,  beweist,  wie  wenig  eine  intensive  Fruchtfolge 
in  Irland  statt  hat.  Da  eine  dichtere  Bevölkerung  ohne  Ackerbau 
nicht  möglich  ist,  ein  intensiver  Ackerbau  ohne  Rüben  kaum 
stattfinden  kann,  so  ist  die  irische  Frage  in  letzter  Linie  ein 
„Rübenproblem".  Zwei  Drittel  des  Landes  berührt  niemals  der 
Pflug  noch  die  Hacke.  Viele  Landesteile,  vor  allem  die  Graf- 
schaften Kildare,  Meath  und  Dublin,  sind  nichts  anderes, 
als  eine  von  dichtem,  fast  blaugrün  schimmerndem  Grase  be- 
wachsene Graswüste,  die  durch  Hecken  und  Gräben  in  Felder  ein- 
geteilt ist.  Man  sieht  kaum  ein  menschliches  Wesen,  denn  das 
Vieh  weidet  ohne  Hirten  auf  den  eingehegten  Feldern,  in  deren 
Mitte  ein  einsamer  Pfahl  oder  Stein,  an  dem  die  Tiere  sich  reiben 
können,  das  einzige  Anzeichen  menschlicher  Tätigkeit  ist.  Da- 
zwischen liegen  Hunderte  und  Tausende  verfallener  Hütten  zerstreut, 
Behausungen,  in  denen  früher  Menschen  gelebt  haben.  Die  be- 
wohnten Häuser  sind  seit  1 85 1  von  1  146223  auf  858158  im 
Jahre  1901  gefallen,  eine  Abnahme  von  188065  Häusern.  Es  sind 
diese  weiten  „grazing  ranches",  die  Irland  zu  einem  Lande  des  großen 
Schweigens  gemacht  haben. 

Klima  und  Boden  begünstigen  die  Weidewirtschaft.  So  teilt 
man  z.  B.  die  Böden  ein  in: 

1.  Fettweiden, 

2.  Talweiden  für  Molkereibetriebe, 

3.  magere  Tal  weiden, 


in  England  in  Irland 

Weizen  per  acre  30,52  bushels  32,21  bushels 

Hafer      „      „  40,36       „  4447 

Gerste     ,,      „  32.62       „  39,23 

Heu  von  ewigen  Weiden   22,62  cwts  46,51  cwts 

Dagegen  Kartoffeln  5,96  tons  3,87  tons. 

Die  Kartoffel  ist  die  Frucht  des  armen  Mannes  und  wird  daher  von  den  schlechten 
Roden  gewonnen  (Statistics  1903]. 


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'56 


M.  J.  Bonn, 


4.  Bergweiden, 

5.  Moore  und  Oedländereien.1) 

Mit  Ausnahme  der  gröbsten  Böden  Ulsters  begrast  sich  das 
Land,  sobald  man  es  dem  Ackerbau  entzieht,  von  selbst.  Auch  das 
Klima  mit  seiner  ebenmäßigen  Feuchtigkeit,  der  geringen  Kälte  im 
Winter  und  der  geringen  Wärme  im  Sommer,  begünstigt  die  Weide- 
wirtschaft und  ist  dem  Ackerbau  nicht  gerade  zuträglich.  Außer 
diesen  physischen  Gründen  haben  eine  Menge  anderer  Momente 
mitgewirkt,  Irland  zu  einem  Weideland  zu  machen.  Man  behauptet, 
der  Fall  der  Kornzölle  (1846)  habe  Irland  aus  einem  Acker- 
baulande in  ein  Weideland  verwandelt.  Es  ist  nicht  meine  Ab- 
sicht, diese  Frage  hier  zu  erörtern,  doch  kann  man  mit  ziem- 
licher Bestimmtheit  sagen,  daß  keine  Getreidezölle  von  einigermaßen 
erträglicher  Höhe  den  großen  Fall  der  Getreidepreise  in  den  80  er 
Jahren  hätten  aufhalten  können.  Bis  dahin  waren  es  nicht  sowohl 
fallende  Kornpreise,  als  steigende  Fleischpreise  gewesen,  die  das 
Aufblühen  der  Viehzucht  in  Irland  verursachten.  Überdies  sind 
die  Iren  zu  allen  Zeiten  ein  viehzüchtendes  Volk  gewesen,  das  vom 
Ackerbau  wenig  verstand  und  seine  Neigung  ausschließlich  der 
Viehzucht  zuwandte.  Die  dichte  Bevölkerung  in  der  ersten  Hälfte 
des  19.  Jahrhunderts  zwang  sie  zum  Ackerbau,  den  hohe  Korn- 
preise erleichterten,  aber  die  Ackerbautechnik  war  so  primitiv,  daß 
sie  die  Fruchtbarkeit  des  Bodens  vielfach  beeinträchtigte.  Bei 
kleinen  Pachtstellen  herrschte  meist  Brandwirtschaft,  die  in  über- 
triebener und  unsachgemäßer  Weise  geübt  wurde  und  den  Boden 
auf  Jahre  hinaus  verarmte.  Noch  heute  sieht  man  oft  auf 
ärmeren  Weiden  die  Spuren  früherer  Felder,  in  den  etwa  meter- 


')  Coyne,  Ircland  29  ff.  (Viele  Angaben  dieses  Aufsatzes  sind  diesem  vor- 
züglichen Buche  entnommen,  dessen  Verfasser  bis  vor  kurzem  an  der  Spitze  der 
statistischen  Abteilung  des  irischen  Ackerbauministeriums  gestanden  hat.  Ein  früher 
Tod  hat  ihn  aus  einer  segensreichen  Tätigkeit  gerissen.  Unter  seinen  Händen  sind 
die  statistischen  Veröffentlichungen  des  Ackcrbauministerums  zu  einer  wissenschaft- 
lich durchdachten,  praktisch  brauchbaren  Informationsquelle  geworden.  Coyne  ist 
einer  der  wenigen  Irländer  gewesen,  die  eine  wissenschaftliche  Bildung  zur  Behand- 
lung praktischer  Kragen  mit  gebracht  haben.  Die  Statistiken,  die  aus  seinem  De- 
partement stammen,  sind  die  einzigen,  die  in  wirklich  wissenschaftlicher  Weise  Ant- 
wort auf  Fragen  geben  und  nicht  bloß  eine  Zusammenstellung  von  Zahlen  enthalten, 
die  gerade  so  gut  zur  Irreführung,  wie  zur  Erleuchtung  der  öffentlichen  Meinung 
dienen  können.  Sehr  viele  schwierige  Probleme  meiner  irischen  Studien  wären  ohne 
seine  Hilfe  und  seinen  Rat  nie  lösbar  gewesen.) 


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Die  irische  Agrarfrage. 


157 


breiten  Resten  von  Beeten  („lazy  beds");  der  kümmerliche  Gras- 
wuchs, der  hier  herrscht,  zeigt  wie  sehr  der  Boden  zerstört  wor- 
den ist.1) 

Irland  ist  nicht  nur  ein  Land  der  Viehzucht,  es  ist  ein 
Land  der  extensiven  Wirtschaft.  Von  12  Millionen  acres,  die 
unter  Gras  stehen,  wird  nur  von  2  Millionen  Heu  geschnitten. 
Der  Anbau  von  Futterpflanzen ,  Klee ,  Rüben  etc.  ist  sehr 
gering.  Das  Vieh  befindet  sich  meist  Sommer  und  Winter  im 
Freien,  obwohl  es  im  Winter  oft  durch  Kälte  an  Gewicht  ver- 
liert. Das  Jungvieh,  das  im  Herbst  etwa  6-8  £  per  Stück  wert 
ist,  besitzt  im  Frühjahr  manchmal  nur  einen  Wert  von  20 — 30  sh.s) 
Nur  die  Kühe  werden  in  Ställen  untergebracht.  Im  Westen 
finden  sie  sich  oft  in  den  Hütten  der  Besitzer.  „Die  Kuh  heizt 
gut",  ist  ein  altes  irisches  Wort.  Die  irische  Weidewirtschaft 
besteht  im  großen  ganzen  darin,  daß  der  Himmel  die  Sonne 
scheinen  und  den  Regen  fallen  läßt,  der  Mensch  das  Vieh  auf  die 
Weide  sendet  und  sich  im  übrigen  nicht  um  dasselbe  bekümmert. 
Selbst  Böden,  die  beim  Bau  von  Futterpflanzen  einen  vierfachen 
Ertrag  geben  würden,  werden  einfach  beweidet. 

Man  kann  die  folgenden  Richtungen  der  Wirtschaft  unter- 
scheiden : 

Die  Molkereiwirtschaft.  Das  hauptsächlichste  Produkt,  das 
verkauft  wird,  ist,  abgesehen  von  lokalem  Milchverkauf,  die  Butter. 
Die  Molkereiwirtschaft  findet  sich  vor  allem  in  den  Weidegraf- 
schaften Munsters,  nämlich  in  Cork,  Limerick,  Tipperary,  aber  auch 
in  Ulster.  Die  Buttererzeugung  wird  heute  großenteils  in  Dampf- 
betrieben vorgenommen,  deren  Zahl  584  war  und  deren  Produktion 
beinahe  469000  cwts.  betrug.  Darunter  waren  1900  236  genossen- 
schaftliche Molkereien  mit  26477  Mitgliedern.  Sie  produzierten 
15 '  ,  Millionen  lbs.  Butter  im  Werte  von  703,826  Pfd.  Sterling. 
Durch  die  Genossenschaftsbewegung  hat  das  Molkereiwesen  einen 
großen  Aufschwung  genommen.  Da  indessen  Stallfütterung  und 
der  sie  bedingende  Futterbau  nur  in  geringem  Maße  existiert,  so 
ist  die  Produktion  an  Butter  im  Winter,  wo  die  Preise  am  höchsten 
sind,  nicht  so  bedeutend,  als  sie  wohl  sein  könnte. 

Die  Wirtschaften,  die  sich  der  Fleischproduktion  widmen, 
kann  man  in  drei  Klassen  einteilen:  1.  die  Wirtschaften,  welche 


')  Ireland  29  ff. 

*)  Journal  of  the  Department  of  Agriculturc,  September  1903  p.  16. 


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158 


M.  J.  Bonn, 


Kälber  züchten  und  sie  entweder  bald  weiterverkaufen,  oder  sie 
bis  zu  ihrer  Veräußerung  als  Jungvieh  futtern.  Manchmal  sind  diese 
Wirtschaften  gleichzeitig  nicht  unbeträchtliche  Butterproduzenten; 
sie  finden  sich  vielfach  auf  den  westlichen  Farmen,  deren  kleine 
Besitzer  diesem  Betrieb  obliegen. 

Die  Wirte  der  zweiten  Klasse  kaufen  Jungvieh  und  lassen  es 
so  lange  grasen,  bis  es  fast  marktreif  ist.  Das  nennt  man  „cattle 
storing"  (Halbmastvieh).  Auch  sie  finden  sich  vielfach  in  den  wesent- 
lichen Grafschaften.  Ein  großer  Teil  der  so  gefütterten  Tiere  wird 
nach  England  und  Schottland  geliefert,  um  dort  in  kurzer  Zeit 
durch  rationelle  Fütterung  für  den  Markt  reif  zu  werden.  1901 
wurden  344954  Stück  Halbmastvieh  exportiert.1) 

Die  letzte  Klasse  sind  die  Mastviehzüchter,  deren  Sitz  die 
üppigen  Weidegrafschaften  Meath,  Dublin  und  Kildare  sind,  die 
Halbmastvieh  kaufen,  es  auf  ihren  weiten  „ranches"  in  verhältnis- 
mäßig kurzer  Zeit  marktreif  machen  und  so  nach  Dublin  und  auf  den 
englischen  Markt  als  Mastvieh  senden.  1901  wurden  261  690  Stück 
Mastvieh  exportiert.2) 

Zwischen  diesen  drei  Formen  der  Viehzucht  besteht  ein  inniger 
ökonomischer  Zusammenhang.  Wenn  heute  die  weiten  cattle  ranches 
von  Meath  aufgepflügt  und  dem  Ackerbau  übergeben  würden, 
so  wäre  wahrscheinlich  eine  ökonomische  Krise  im  Westen  die 
Folge,  weil  die  Jungvieh-  und  Magerviehzüchter  den  gewohnten 
Markt  verlieren  müßten.  Die  Viehzucht  ist  in  gewissem  Sinne 
die  nationale  Industrie  Irlands.  Sie  ist  mit  Ausnahme  des  Auf- 
ziehens von  Kälbern  eigentlich  ein  Spekulationsgeschäft.  Man  kauft 
ein  Stück  Vieh  billig,  läßt  es  so  und  so  lange  weiden  und 
verkauft  es  in  möglichst  kurzer  Zeit  zu  einem  höheren  Preise 
weiter.  Nicht  nur  der  professionelle  Viehzüchter  und  der  pro- 
fessionelle Landwirt  widmen  sich  diesem  Geschäft;  in  Meath 
pflegen  die  Bedienten  ihre  Löhne  in  Vieh  anzulegen,  dasselbe 
auf  den  Weiden  der  Herren  gegen  geringen  Entgelt  grasen  zu 
lassen  und  so  aus  dieser  Viehspekulation  einen  kleinen  Nebenge- 
winn zu  erzielen.  Die  guten  Weiden  des  Westens  sind  oft  für 
11  Monate  an  den  Dorfkräiner,  den  Solicitor  oder  den  Arzt  ver- 
pachtet, ja  selbst  der  Geistliche  verschmäht  es  zuweilen  nicht,  auf 
diese  Weise  sein  kärgliches  Einkommen  zu  vermehren.    Ein  guter 


')  Journal  1903.  September,  p.  17;  Ireland  p.  322. 
")  Ircland  322. 


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Die  irische  Agrarfrage. 


159 


Teil  dieser  Unternehmungen  wird  mit  Kredit  betrieben.  Es  ist 
mehr  als  wahrscheinlich,  daß  der  größte  Teil  der  in  den  irischen 
Banken  lagernden  Depositen,  soweit  sie  nicht  nach  England  gehen 
oder  von  städtischen  Interessenten  benutzt  werden,  in  der  Vieh- 
spekulation Verwendung  findet  Wenn  irische  Patrioten  davon 
reden,  die  Iren  seien  ein  Volk  von  geborenen  Ackerbauern,  so 
meinen  sie  damit  eigentlich  Viehspekulanten.  Schon  die  Tatsache, 
daß  auf  543649  Inhaber  von  Farmstellen  616  701  Viehbesitzer 
kommen,  deutet  nach  dieser  Richtung  hin. 

Der  fünfte  Typus  sind  die  Ackerbau  wirtschaften ,  die  sich  vor 
allen  Dingen  in  King's  County,  Queens  County,  Wexford,  Carlow 
und  besonders  stark  in  Ulster,  mit  Ausnahme  der  Counties  Fer- 
managh  und  Ca  van  finden.1)  Ulster  weist  einmal  ein  härteres 
Klima  auf  als  der  Rest  des  Landes,  dann  aber  besitzt  es  weit 
weniger  fruchtbare  Weiden,  die  sich  nicht  von  selbst  begrasen  und 
auf  denen  der  Mensch  das  seine  tun  muß,  wenn  er  Ernten 
zeitigen  will.  Außerdem  ist  es  von  einer  tüchtigen,  energischen 
Bevölkerung,  zum  Teil  schottischen  Ursprungs,  bewohnt,  die  aus 
ihrer  schottischen  Heimat  die  Kenntnis  des  Ackerbaues  bereits 
mitbrachte  und  sich  nicht  erst  aus  dem  Zustand  des  Nomadentums 
entwickeln  mußte.  Hier  wird  neben  Flachsbau  besonders  Haferbau 
betrieben.  Die  Gerste,  das  Rohprodukt  für  die  nationale  Industrien 
Whiskey  und  Stout,  wird  in  beträchtlichem  Maße  in  Tipperary  und 
Wexford  angebaut,  doch  ist  ständig  eine  Gersteneinfuhr  notwendig, 
da  die  Brauer  über  die  mangelnde  Uniformität  der  irischen  Gerste 
zu  klagen  haben. 

Die  fünf  erwähnten  Wirtschaftstypen  kommen  häufig  nicht  rein 
vor.  Je  mehr  die  Weidewirtschaft  mit  Trockenfütterung  verbunden 
ist,  desto  mehr  wird  ihr  Typus  nach  der  Seite  des  Ackerbaues 
hin  modifiziert.  In  der  Grafschaft  Roscommon  und  an  anderen 
Orten  nehmen  Schafweiden  die  Stelle  der  Rindviehweiden  ein. 
Schweine  und  Ferkelzucht  kommt  fast  überall  hinzu.  Der  Westen 
produziert  zahlreiches,  wenn  auch  selten  vorzügliches  Geflügel. 
Überall  findet  sich  ein  Kartoffelfeld,  das  in  der  Fruchtfolge 
häufig  mit  Hafer  wechselt  und  zur  Ernährung  des  Inhabers 
bestimmt  ist.  Die  Bedeutung  der  Kartoffel  für  die  Ernährung  der 
Bevölkerung  ist  gegen  früher  stark  zurückgetreten;  sie  ist  aber 
auch  heute  noch  von  großer  Wichtigkeit.    Ein  gutes  Jahr  ermög- 


l)  Coync  307. 


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i6o 


M.  J.  Honn, 


licht  nicht  nur  verhältnismäßig  reichhaltige  Lebensweise,  es  gestattet 
auch  Aufzucht  und  Verkauf  von  Schweinen,  während  ein  schlechtes 
Jahr  vielfach  Hungersnot  bedeutet.  Neben  der  Kartoffel  spielt 
Kuhmilch  in  der  Ernährung  eine  große  Rolle. 

Als  sechsten  Typus  kann  man  vielleicht  gewisse  Wirtschaften, 
vor  allem  des  Westens  aufführen,  die  man  als  Eigenwirtschaften 
bezeichnen  kann.  Eine  Eigenwirtschaft  im  strengsten  Sinne  des 
Wortes  ist  in  einem  Lande,  wo  Pächter  Rente  zahlen  müssen, 
nicht  möglich.  Der  Pächter  muß  dort  für  den  Verkauf  produzieren. 
Auf  vielen  Wirtschaften  des  Westens  aber  produziert  die  Bevölkerung 
nur  Hafer,  Kartoffeln,  Milch  etc.  auf  ihrer  Stelle.  Die  Wolle  der 
Bergschafe  wird  gesponnen  und  zur  Bekleidung  verwandt.  Die  ge- 
geringfügigen Ueberschüsse,  die  sich  so  erzielen  lassen,  werden  ver- 
kauft, reichen  aber  nicht  zur  Bezahlung  der  Rente  aus.  Die  Rente 
wird  daher  vielfach  durch  Nebenerwerb  bezahlt,  durch  Fischerei, 
durch  Wanderarbeit,  durch  industrielle  Tätigkeit  etc.,  so  daß  man 
in  gewissem  Sinne  sagen  kann,  aus  der  Farm  werden  nur  die 
wirtschaftlichen  Bedürfnisse  der  Familie  gedeckt. 

VI. 

Irland  ist  ein  Land  des  extensiven  Betriebes  und  gleichzeitig  ein 
Land  kleiner  Wirtschaften.    Es  betrug  die  Größe  der  Pachtstellen: 


Größe 

Zahl  der 

Zahl  der 

Gesamt- 

Inhaber 

Stellen 

fläche4) 

Unter  I  acre 

73  35* 

74607 

37304  acres 

I  —  5  acrcs 

56233 

62  864 

188592 

5-»5  - 

137  365 

«54437 

1  544370 

15~30  „ 

120740 

»33984 

3014640 

30-50  » 

67  722 

74240 

2  9(16600 

50 — IOO  „ 

54314 

57  568 

4317600 

100—200  „ 

22867 

23041 

3456  150 

200—500  „ 

8856 

8147 

2815450 

500  und  mehr  acres  2200 

1  521 

1  917019 

»' 

Zusammen : 

543649 

590409 

20350725  acres.4) 

diesen  Zahlen 

ergibt 

sich ,  daß 

543649  Wirte  S 

Pachtstellen  inne  haben,  das  heißt  also,  fast  50000  Wirte  haben 
Doppelstellen. 3) 

')  Die  Angaben  über  die  Gesamtfläche  beruhen  auf  Schätzung. 
*)  Agricultural  Statistics  1902  XXVI. 

*)  Ib.  p.  XXVI  Note.     Wenn  wir  bei  den  größeren  Stellen  mehr  Wirte  als 
Stellen  finden,  so  erklärt  sich  das  aus  gewissen  statistischen  üoppclzählungcn. 


Die  irische  Agrarfrage. 


161 


Eine  Menge  der  Stellen  unter  I  acre  sind  nur  Kartoffelgärten 
städtischer  Arbeiter  etc.,  selbst  unter  den  5  acre-Farmen  dürfte 
sich  eine  Menge  solcher  finden.     Von  5 — 30  acres  haben  wir 
258  105  Inhaber,  die  47,5  Proz.  aller  Wirte  ausmachen;  von  1 — 30 
acres  310000  Wirte  oder  57,8  Proz.;  die  Gesamtfläche,  die  diese 
47,5  Proz.  inne  haben,  ist  22,4  Proz.  des  irischen  Bodens,  57,8  Proz. 
haben  nur  23,3  Proz.  der  Oberfläche  Irlands  inne,  d.  h.  mit  anderen 
Worten,  über  75  Proz.  der  Oberfläche  Irlands  sind  in  der  Hand  von 
größeren  Betrieben,  von  Betrieben  über  30  acres.    Wenn  man  be- 
denkt, daß  sich  die  kleinen  Farmen  zum  großen  Teil  auf  schlechten 
Böden  befinden,  so  sieht  man  leicht,  daß  der  kleine  irische  Pächter 
nicht  auf  Rosen  gebettet  ist.    Verhältnismäßig  günstig  sind  die 
Dinge  im  Xorden.    Dort  sind  die  Stellen  allerdings  klein,  in 
Armagh  sind  fast  70  Proz.  derselben  zwischen  5 — 10  acres,  aber 
die  entwickelte  Technik,  wie  der  industrielle  Charakter  des  Landes 
macht  diese  Kleinheit  unbedenklich.1)    Die  Zahl  und  Größe  der 
Pachtstellen  hat  sich  seit  dem  Jahre  1841,  dem  letzten  Census  vor 
der  irischen  Hungersnot,  sehr  geändert.    Es  betrug  die  Zahl  der 
Farmen  von: 


1—5  acres 

5 — 15  acres 

15—30  acres 

30  acres  u.  mehr 

:84t 

3» 5 436 

44,9% 

355  799 

36,6% 

79342 

»1,5% 

48625  7,0% 

1851 

88083 

15,5» 

19t  854 

33.6  „ 

14UH 

24,8  „ 

149000    26,1  „ 

1871 

74809 

13,7  ,, 

"7I383 

3«,5., 

138647 

25,5 ,. 

I593°3  29,3,, 

1S9I 

63464 

12,3  n 

156  661 

3<>,3 ,, 

133947 

25,9,, 

162940  31,5,, 

1901 

62855 

12,2  n 

154418 

29,9 ., 

134  091 

26,0  „ 

164483  31,9,, 

Seit  1841  nahmen  ab: 

die  Stellen  von  l— 5  acres  um  247581 

 5-1$  „  98381 

die  Totalabnahme  betrug  also  345962. 

Dagegen  nahmen  zu  : 

die  Stellen  von  15 — 30  acres  um  54749 
„   über  30    „      „  115458 

die  Totalzunahmc  betrug  also       270  207. 

Wenn  wir  die  Abnahme  der  kleinen  Stellen  mit  der  Zunahme 
der  großen  Stellen  zusammenfassen,  so  ergibt  sich  eine  Gesamt- 
abnahme aller  Stellen   um   175355;  sie  sind  von  692202  auf 

')  Agricultural  Statistics  34. 
Archiv  für  Sotialwiuenichaft  u.  Sozialpolitik.  I.    (A.  f.  $01.  G.  u.  St.  XIX.)  i.  11 


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162 


M.  J.  Bonn, 


515847  gefallen.  81,5  Proz.  aller  Stellen  waren  im  Jahre  1841  unter 
15  acres;  im  Jahre  1891  waren  es  nur  noch  42,1  Proz.  Es  hat 
also  eine  wesentliche  Verminderung  der  kleinen  Stellen  und  eine 
wesentliche  Vermehrung  der  großen  Stellen  stattgefunden.  Diese 
Bewegung  war  am  stärksten  in  Connaught.  Dort  haben  die 
Farmen 


Die  große  Zahl  der  kleinen  Stellen,  die  sich  noch  erhalten  hat, 
beweist,  daß  die  verschwundenen  Stellen  nicht  benutzt  wurden,  um 
kleine  Stellen  auf  Mittelstellen  zu  erhöhen,  sie  wurden  vielmehr  zu 
großen  Farmen  zusammengeschweißt.  So  erklärt  sich  die  Tatsache, 
daß  sich  eine  große  Zahl  der  irischen  Pächter  heute  in  weitaus 
günstigerer  Lebenslage  befindet,  als  in  den  Jahren  vor  der  Hungers- 
not, daß  sich  aber  die  Verhältnisse  der  noch  vorhandenen  kleinen 
Stellcnbesitzer  nicht  wesentlich  verbessert  haben. 

Bloße  Flächen  haben  nur  für  den  eine  Bedeutung,  der  sich  aus 
eigener  Vorstellung  eine  Anschauung  irischer  Zustände  gebildet  hat. 
Man  kann  dem  Umfange  nach  riesige  Pachtstellen  in  Connaught 
finden,  auf  denen  der  Armut  des  Bodens  halber  kaum  ein  paar 
jämmerliche  Bergschafe  zu  existieren  vermögen.  Als  Beispiele 
mögen  die  folgenden  Ziffern  dienen:  In  dem  Armenverband  von 
Belmullet  sind  nur  19,5  Proz.  der  Bodenoberfläche  von  Ackerbau 
und  Weide  in  Anspruch  genommen; 


Wenn  man  nur  auf  die  Ausdehnung  achtet,  dann  scheint 
Ulster  das  Land  der  kleinen  Stellen  zu  sein.  Unter  187  974  Wirten 
finden  sich  94601,  also  gerade  die  Hälfte,  deren  Stellen  nicht 
über  15  aercs  betragen,  beide  Male  die  Stellen  unter  1  acre  einge- 
rechnet. Nach  dem  Steuerwerte  dagegen  sind  aus  168  272  Stellen 
nur  35  370  nicht  über  4  Von  diesen  kommen  etwa  die  Hälfte, 
nämlich  14  91 2  auf  die  Grafschaft  Donegal,  deren  Struktur  den 
westlichen  Grafschaften  ähnelt. 


über  30  aercs  zugenommen  um  427,7  Proz. 


dagegen  in  Ulster  nur  „    361,5  „ 

in  Munster  „    245,3  „ 

in  Lcinstcr  „  119,4 


33,6  Proz. 
30,8  „ 
3«-9 


')  Ireland  3 1 7. 

*)  Final  Report  on  Local  Taxation.    Appendix  p.  34. 


Die  irische  Agrarfrage. 


Daher  ergibt  sich  ein  deutlicheres  Bild,  wenn  man  die  Stellen 
nach  dem  Ertragswert  gruppiert,  wie  er  in  der  Steuerveranlagung 
zum  Vorschein  kommt.    Es  hatten 


Wert 

Zahl  der 

Prozent 

Gesamtfläche 

Stellen 

der  Stellen 

bis  4  £ 

134  183 

27,4 

1,36  Millioncn[acres 

über 

4  —  15  M 

201  309 

41,1 

4J6 

11  11 

»5-30  » 

78044 

15.9 

3,41 

ii  11 

■ 

30-50  „ 

35  794 

7,3 

2.36 

11  m 

" 

50  „ 

40972 

8,3 

6,83 

11  11 

zusammen 

490  182 

100 

18,72  Millionen  acres. 

Aus  dieser  Tabelle  ergibt  sich,  daß  68,5  Proz.  aller  Stellen,  die 
über  einen  Wert  von  15  £  nicht  hinausgehen,  6,12  Millionen  acres, 
also  V,  der  gesamten  Kulturoberfläche  einnehmen.  2,3  aller  Stellen 
sind  daher  auf  V's  des  Landes  vorhanden.  15,6  Proz.  aller  Stellen 
gehen  über  30  £  hinaus ;  sie  nehmen  9,2  Millionen  acres  oder  fast 
50  Proz.  der  Gesamtoberfläche  ein.  Das  Überwiegen  der  gering- 
wertigen Stellen  ist  am  stärksten  im  Westen.  In  Connaught  waren 
aus  109359  Stellen  41439  im  Werte  bis  4  £,  in  Mayo  von  32732 
15867.  Diese  15867  Stellen  nahmen  214000  acres  der  mehr 
als  eine  Million  acres  umfassenden  Grafschaft  Mayo  ein.  Die 
ca.  700  Stellen  über  50  £  bedeckten  allein  eine  Fläche  von  beinahe 
250000  acres. 

Wenn  man  bedenkt,  daß  der  Jahreswert,  wie  ihn  die  Steuer- 
veranlagung enthält,  auf  Grund  hoher  Produktenpreise  festgesetzt 
wurde,  so  wird  das  Bild  der  Armut,  das  sich  aus  der  Zahl  der  kleinen 
Stellen  ergibt,  verschärft.1)  Man  kann  annehmen,  daß  alle  Stellen 
unter  4  £  und  ein  großer  Teil  der  Stellen  bis  15  £  unwirtschaft- 
liche Stellen  (uneconomic  holdings)  sind.  Wenn  man  die  Größe  der 
Stellen  und  ihren  Wert  kombiniert,  so  kann  man  wohl  folgern,  daß 
200000  irische  Pachtstellen  unwirtschaftlich  sind.  Das  heißt,  mit 
der  gegebenen  Technik,  dem  vorhandenen  Kapitalvermögen,  den 
bestehenden  Marktverhältnissen  sind  ca.  200000  irische  Farmen  zu 
klein,  um  selbst  bei  dem  niedrigen  irischen  Standard  of  life  die  darauf 
wohnende  Familie  zu  erhalten,  ihr  Nahrung,  Kleidung,  Erziehung 
und  Beschäftigung  zu  geben.-) 

Die  schlimmsten  dieser  Defizitwirtschaften,  wie  ich  sie  an  an- 


')  Final  Report  on  local  Taxation  p.  1. 
*)  Journal  Dezember  1903  p.  99. 

II» 


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164 


M.  J.  Bonn, 


derer  Stelle  genannt  habe,  befinden  sich  in  den  sogenannten  „con- 
gested  districts".  Irland  zerfallt  für  Zwecke  der  Lokalverwaltung 
in  159  unions  (Verbände).  Diese  unions  werden  zu  Wahlzwecken 
in  „electoral  divisions"  eingeteilt,  deren  ganz  Irland  3751  zählt. 
Durch  Section  36  des  Land  Acts  von  1891  wurde  der  Congested 
Districts  Board  geschaffen,  eine  Behörde,  die  die  dauernde  Hebung 
der  westlichen  zurückgebliebenen  Distrikte  fördern  soll  und  zu 
diesem  Zwecke  55000  £  jährlicher  Einnahmen  erhielt.1)  Die  Di- 
strikte, die  ihr  unterstehen,  sind  nach  folgender  Regel  ausgewählt 
worden:  Wo  mehr  als  2oProz.  der  Bevölkerung  einer  union  in  elec- 
toral divisions  leben,  deren  Steuerertrag  auf  den  Kopf  der  Bevöl- 
kerung weniger  als  30  sh.  ergibt,  werden  diese  electoral  divisions 
zu  sogenannten  „congested  district  counties"  erklärt.  Solche  electoral 
divisions  finden  sich  in  den  Grafschaften  Donegal,  Sligo,  Leitrim, 
Roscommon,  Cläre,  Mayo,  Galway,  Cork  (West  Riding),  Kerry. 
Im  ganzen  sind  dies  9  Grafschaften,  mit  insgesamt  1264  electoral 
divisions.  Von  diesen  sind  835  nicht  „congested",  429  „congested". 
Die  Gesamtveranlagung  dieser  429  im  Jahre  1891  ausgeschiedenen 
Distrikte  betrug  1901  577034  £,  die  Bevölkerung  5057235  der 
Steuerwert  per  Kopf  betrug  daher  1  £  2  sh.  9  d.  8) 

Diese  Ausscheidung  besonderer  Distrikte  als  congested  districts 
ist  selbstverständlich  eine  willkürliche.  Es  können  in  einer  union 
electoral  divisions  vorhanden  sein,  deren  Zustand  schlimmer  ist  als 
der  der  congested  districts,  nur  daß  diese  divisions  nicht  20  Proz. 
der  union-Bevölkerung  bilden.  Solche  Distrikte  finden  sich  in  der 
Tat  auch  vielfach;  die  congested  districts  enthalten  daher  nur  das 
Minimum  der  auf  unwirtschaftlichen  Stellen  lebenden  irischen  Be- 
völkerung. Den  Kern  einer  derartigen  Defizitfarm  bildet  immer  ein 
Kartoffelgarten,  dessen  Größe  mit  der  Zahl  der  in  der  Familie  vor- 
handenen Mäuler  wechselt.  Er  liefert  den  Hauptbestand  der  Nahrung ; 
die  event.  Uberschüsse  werden  zur  Schweinemast  verwandt  Die 
Kartoffel  wird  in  sogenannten  „lazy  beds"  angebaut,  in  breiten 
durch  tiefe  Gräben  voneinander  geschiedenen  Beeten.  In  dem 
feuchten  Lande  dienen  diese  Furchen  gleichzeitig  der  Entwässerung, 
hauptsächlich  wo  der  Kartoffelgarten  sich  auf  Torfgrund  befindet. 
Früher  wurden  die  Knollen  einfach  auf  die  Beete  gelegt  und  Erde 
aus  der  Furche  darüber  geschaufelt;  jetzt  werden  sie  in  die  Erde 


J)  Ircland  258. 

*)  Congested  District  s  Board  Report  1903  Appendix  XXV.  &  XXVI. 


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Die  irische  Agrarfrage. 


eingesetzt  Die  Wirtschaft  ist  häufig  Spatenwirtschaft,  da  die 
Felder «  zum  Gebrauch  des  Pfluges  zu  klein  und  zu  steinig  sind, 
der  Wirt  außerdem  selten  das  für  einen  Pflug  nötige  Kapital  be- 
sitzt Auf  die  Kartoffel  folgt  meist  Hafer  in  der  Fruchtfolge,  der 
seinerseits  wieder  der  Kartoffel  Platz  macht,  eine  Reihenfolge,  die 
in  unermüdlicher  Abwechslung  so  lange  weitergeht,  als  der  Garten 
noch  Ernten  gibt  Wenn  das  Land  ganz  erschöpft  ist  dann  bricht 
man  ein  anderes  Stück  Weide  auf,  was  man  der  Unbequemlichkeit 
halber  bisher  vermieden  hat;  das  erschöpfte  Land  wird  liegen  ge- 
lassen und  begrast  sich  von  selbst 

Das  nicht  für  Kartoffel-  und  Haferbau  benutzte  Land  ist  Weide, 
zum  Teil  Talweide,  zum  Teil  auch  Bergweide,  die  dann  manchmal 
von  einer  Anzahl  Pächter  gemeinsam  benutzt  wird.  Die  Tragkraft 
dieser  Weiden  wird  festgesetzt,  und  zwar  in  der  Rechnungseinheit 
der  „sums".  Eine  „sum"  ist  das  Weiderecht  einer  bestimmten  Anzahl 
Vieh;  ob  sich  dasselbe  aus  Kühen  oder  aus  Gänsen,  aus  Schafen 
oder  Eseln  zusammensetzt,  steht  im  Belieben  des  einzelnen  Wirtes, 
da  zwischen  den  verschiedenen  Viehsorten  ein  festes  Umrechnungs- 
verhältnis besteht,  so  daß  jeder  Wirt  seinen  Viehbestand  nach  diesen 
Sätzen  zusammenstellen  kann.  In  der  Wirtschaft  wird  nicht  viel 
Dung  produziert,  da  eine  eigentliche  Stallfütterung  kaum  besteht. 
Man  benutzt  daher  außer  künstlichen  Düngemitteln  Seesand,  Seetang, 
öfter  auch  Torferde.  An  der  See  ist  der  Tang  das  hauptsächliche 
Düngemittel.  Das  Anrecht  auf  denselben  ist  ein  wesentlicher  Be- 
standteil der  meisten  Farmen.  Die  Feuerungsmittel  werden  durch 
Torfstechen  gewonnen;  die  Moore  Irlands  sind  so  reichhaltig,  daß 
nur  in  verhältnismäßig  wenigen,  unglücklich  gelegenen  Gegenden 
hieran  Mangel  ist  Die  Bevölkerung  lebt  von  Oktober  bis  Mai  im 
wesentlichen  von  Kartoffeln,  Milch  und  Thee  Sie  verkauft  Kälber 
und  Jungvieh,  Schweine  und  Geflügel.  Das  Vieh  ist  häufig  deterioriert, 
da  die  besten  Stücke  verkauft  und  die  schlechtesten  zur  Zucht  zurück- 
behalten werden.  Die  Weiden  sind  durch  mangelhafte  Sorgfalt,  durch 
Cbcrstellung  mit  Tieren  häufig  sehr  arm;  viele  von  ihnen  können 
nur  dem  genügsamen  schottischen  Bergschafe  zur  Nahrung  dienen. 
Von  Mai  bis  Oktober,  wenn  die  alte  Kartoffelernte  aufgebraucht 
ist,  lebt  man  von  amerikanischem  Mehl,  zum  Teil  auch  von 
Maismehl,  das  nicht  nur  Nahrungsmittel  ist,  sondern  auch  als 
wichtigster  Futterstoff  in  der  Wirtschaft  verwandt  wird.  Hafer 
wird  teils  als  Haferbrei  genossen,  teils  an  das  Vieh  verfüttert.  Wenn 
die  Bevölkerung  ihren  dürftigen  Speisezettel  mit  Speck  ergänzt, 


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M.  J.  Bonn, 


so  ist  dies  die  schlechteste  amerikanische  Sorte.  Der  von  den 
eigenen  Schweinen  herrührende  gute  irische  Speck  ist  viel  zu  teuer. 
Das  Ergebnis  des  Viehverkaufes,  wie  der  sonstige  Geldertrag  der 
Farm  reicht  nicht  aus,  die  Rente  zu  bezahlen,  die  Steuern  zu  ent- 
richten, dem  Priester  die  üblichen  Abgaben  zu  liefern  und  alle 
notwendigen  Geldausgaben  zu  bestreiten.  Ein  Nebenerwerb  ist 
durchaus  nötig.    Solcher  Nebenerwerb  ist 

(i)  die  Arbeit  auf  benachbarten  Farmen,  die  indes,  da  der  ganze 
Westen  ein  Weideland  ist,  nicht  häufig  verlangt  wird;  nur  auf  den 
Besitzungen  der  reichsten  Landlords  findet  eine  regelmäßige  Nach- 
frage nach  Arbeit  statt.  Weit  wichtiger  ist  (2)  die  Wanderarbeit 
der  Erntearbeiter  in  England.  Nach  der  Regierungsstatistik  gingen 
im  Jahre  1903  17566  Wanderarbeiter  oder  3,9°/00  der  irischen  Be- 
völkerung nach  England,  die  meist  aus  Connaught,  vor  allem  aus 
Mayo  stammten.  Unter  13  530  ConnaughtLeuten  waren  9266  Mayo- 
Leute.  Ca.  80  Proz.  dieser  Wanderarbeiter  sind  Söhne  und  Ver- 
wandte von  Landbesitzern ,  nicht  selbst  Landbesitzer ,  die  übrigen 
20  Proz.  sind  Landbesitzer.  Aus  Connaught  waren  nicht  weniger 
als  300  Besitzer  abgewandert,  deren  Pachtstellen  über  20  acres  be- 
trugen. Die  Eisenbahnstatistiken  weisen  eine  größere  Zahl  Wander- 
arbeiter auf,  nämlich  24021,  da  aber  hier  eine  Anzahl  Doppelreisen 
von  Leuten  inbegriffen  sind,  die  zweimal  im  Jahre  nach  England 
gehen,  so  ist  diese  Angabe  zu  hoch.  Neben  der  Wanderung  nach 
England  findet  eine  schwer  zu  schätzende  Binnenwanderung  aus 
den  nördlichen  Grafschaften  nach  Ulster  statt.  Wenn  man  im 
Sommer  in  eines  der  Hauptgebiete  der  Wanderarbeiter  kommt, 
z.  B.  nach  Achill  Island,  so  findet  man  kaum  einen  arbeitsfähigen 
Mann  in  den  großen  Dörfern. 

Eine  dritte  Quelle  des  Nebenerwerbs  ist  die  Fischerei,  die  vor 
allem  durch  die  Tätigkeit  des  Congcsted  Districts  Board  einen  be- 
trächtlichen Aufschwung  genommen  hat.  Als  vierte  kann  man  die 
Kclpbrennerei  erwähnen,  die  Herstellung  von  Jod  und  Kali  aus 
Seetang,  die  früher  der  ganzen  Westküste  lohnende  Arbeit  gewährte. 
Sie  hat  die  dichten  Siedlungen  hervorgerufen,  die  wir  noch  längs 
der  Westküste  finden,  ist  aber  heute  durch  die  Entwicklung  in  der 
Chemie  eine  im  Rückgang  befindliche  Industrie. 

Als  fünfte  Art  des  Nebenerwerbs  kommt  die  Hausindustrie  in 
Betracht,  vor  allen  Dingen  die  Spinnerei  und  Weberei  von  „home- 
spuns",  die  besonders  in  den  Bergdörfern  von  Donegal  blüht.  Auf 
den  Märkten  von  Ardara  und  Carrick  werden  häufig  für  700  £  Stoffe 


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Die  irische  Agrarfrage. 


167 


verkauft.1)  Die  letzte  und  sicher  nicht  unbeträchtlichste  Hilfsquelle, 
die  den  Inhabern  der  Defizitwirtschaften  zu  Gebote  steht,  sind  die 
Geldsendungen  ihrer  nach  Amerika  ausgewanderten  Verwandten. 
Ohne  solche  Hilfsmittel  befanden  sie  sich  immer  auf  der  schmalen 
Kante ,  die  bloßes  Existieren  von  Hungersnot  trennt.  Von  Zeit 
zu  Zeit  bricht  eine  Hungersnot  aus,  wenn  die  Kartoffeln  mißraten 
und  das  jährliche  Geld-Einkommen  nicht  nur  für  die  Monate  Mai 
bis  Oktober,  sondern  bereits  für  den  vorhergehenden  Winter  aus« 
reichen  muß. 

Der  hier  geschilderte  Typus  der  Defizitwirtschaft  ist  nicht  auf 
die  congested  district's  beschränkt;  vielfach  finden  sich  einzelne 
Gruppen  solcher  Wirtschaften  in  anderen,  im  übrigen  recht  blühen- 
den Landesteilen.  Man  kann  sicher  150000  bis  200000  solcher 
und  ähnlicher  Farmen  in  Irland  annehmen.  Ursprünglich  war  ganz 
Irland  von  kleinen  Farmen  bedeckt;  sie  sind  heute  auf  1/3  bis  die 
Hälfte  der  irischen  Pachtstellen  beschränkt.  Die  Inhaber  dieser 
Farm  betrachten  ihre  Stelle  nicht  als  Wirtschaftsbetrieb;  sie 
brauchen  Torf,  Wohnung,  Kartoffeln  und  Milch  und  sind  bereit, 
dafür  eine  Rente  zu  zahlen,  die  aus  dem  Verkauf  der  Farmprodukte 
nicht  bestritten  werden  kann.  Solange  sie  diese  Rente  auf  irgend 
eine  Weise  durch  Nebenerwerb  beschaffen  können ,  ist  es  ihnen 
ganz  einerlei,  wo  sie  herkommt.  Ein  eigentlicher  Ackerbau  liegt 
ihnen  vollkommen  fern.  2  oder  3  Tage  im  Frühjahr  genügen  zur 
Bestellung  der  Felder;  etwas  Aufmerksamkeit  im  Sommer  ist  nötig, 
um  die  hungrigen  Schafe  fernzuhalten;  ein  paar  Tage  im  Herbst 
sind  ausreichend,  um  die  Kartoffeln  zu  hacken  und  den  Hafer  zu 
ernten.  Das  Ideal  dieser  Bevölkerung  ist  zwar  eine  Vergrößerung 
ihrer  Stellen,  sie  haben  aber  nicht  die  Absicht,  den  Pflug  über  die 
Felder  zu  führen.  Sie  hoffen  vielmehr,  dann  als  verhältnismäßig 
große  Viehzüchter  in  Vieh  zu  spekulieren. 

Eine  feste  Grenze  zwischen  unwirtschaftlichen  und  wirtschaft- 
lichen Stellen  läßt  sich  kaum  ziehen;  sie  liegt  im  allgemeinen 
zwischen  20  und  40  acres,  daher  denn  die  Schaffung  solcher 
Farmen,  die  Ausdehnung  der  kleinen  Stellen  auf  diese  Größe,  ein 
politisches  Feldgeschrei  geworden  ist.  Die  Defizitwirtschaften  sind 
wirtschaftlich  Arbeiterstellen,  deren  Inhaber  keine  Arbeitsgelegenheit 
finden,  oder  technisch  Weidewirtschaften,  deren  Inhaber  weder  Vieh 
noch  ausreichende  Weide  besitzen.  Auch  auf  den  anderen  Pachtstellen 


')  Irclantl  396, 


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i68 


M.  J.  Bonn, 


Irlands  ist  der  Kern  der  Wirtschaft,  der  im  Kartoffelgarten  besteht, 
nicht  viel  verschieden  von  den  Defizitwirtschaften,  nur  daß  der 
Boden  dort  besser  ist,  mehr  oder  minder  ausreichende  Weide  sich 
um  den  Kartoffelgarten  schließt,  daß  etwas  Kapital,  etwas  Energie 
und  Technik  vorhanden  sind.  Eine  gewisse  Tendenz  zur  Ver- 
mehrung der  Defizitwirtschaften  ist  zweifellos  vorhanden.  Gerade 
weil  die  Besitzer  der  ärmsten  Stellen  diese  nicht  als  Wirtschaftsbetrieb 
auffassen,  sind  sie  leicht  geneigt,  sie  unter  ihre  Kinder  zu  verteilen 
oder  event.  in  Afterpacht  zu  vergeben.  Die  Farm  soll  nur  möglichst 
viele  Köpfe  mit  Kartoffeln,  Milch  und  Wohnung  versehen,  nicht 
aber  einen  bestimmten  Wirtschaftsbetrieb  ermöglichen.  Die  Gesetz- 
gebung hat  der  Zersplitterung  der  Farmen  große  Schwierigkeiten 
in  den  Weg  gelegt;  sie  ist  auf  den  großen  Farmen,  deren  Wirte 
allmählich  nach  ökonomischen  Grundsätzen  verfahren,  nicht  ganz 
vergeblich  gewesen;  auf  den  Defizitfarmen  wird  diese  Tendenz  zur 
Zersplitterung  noch  lange  anhalten.1) 

Die  I^andwirtschaft  ist  also  die  Hauptindustrie  Irlands.  Sie 
bewegt  sich  zum  großen  Teil  in  falschen  Betriebsformen;  ihre 
Betriebsrichtung  ist  extensiv,  ihre  Technik  ist  mangelhaft.  Das 
Geld  des  Farmers  liegt  auf  der  Bank,  nicht  in  seiner  Wirtschaft. 
Ein  genauer  Kenner  der  irischen  Landwirtschaft  faßt  sein  Urteil  in 
die  folgenden  Worte  zusammen: 

„A  preponderance  of  uneconomic  holdings,  the  want  of  working 
capital  or  of  an  inducement  to  invest  in  the  improvement  of  land ; 
the  want  of  proper  housing  for  the  farmer  and  his  family  or  for 
his  stock;  a  large  and  steady  increase  in  the  area  of  second  class 
pasture,  which  would  yield  four  times  morc  wealth  if  well  tilled ;  the 
complacent  satisfaction  with  the  present  system  which  relegates 
Ireland  to  the  position  of  a  ranche  to  supply  störe  stock  for  British 
farmers  to  fatten;  a  too  prevalent  practice  of  selling  the  best  and 
breeding  from  inferior  stock;  the  almost  complete  loss  in  certain 
districts  of  the  art  of  tillage;  the  want  of  a  regulär  system  of  ro- 
tations;  the  aversion  from  doing  more  than  the  minimum  to  clean 
the  land;  the  want  of  pride  in  the  Performance  of  farm  work  and 
in  the  arrangements  about  the  homestead;  the  tendency  to  put  off 
plowing,  sowing  and  harvesting  until  the  last  moment;  the  small 
value  that  is  put  upon  time;  the  want  of  recognition  of  the  fact 
that  the  best  and  produetive  manure  that  goes  into  the  land  is 


')  Fry  Commisson  Nr.  25055;  8737;  28 791. 


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Die  irische  Agrarfrage. 


169 


labour;  all  these  and  other  causes  combine  to  make  and  to  keep 
Irish  farming  backward."1) 

VII. 

Irland  ist  auch  heute  noch  ein  Land  des  Großgrundbesitzes. 
Das  Eigentumsrecht  der  gegenwärtigen  Besitzer  geht  in  den  meisten 
Fällen  auf  Eroberung  zurück.  In  vier  Perioden  sind  englische  Er- 
oberer in  Irland  eingewandert.  Das  erste  Mal,  1169,  waren  es 
normannisch-wallisische  Conquistadoren,  dann  folgte  unter  Elisabeth 
die  Kolonisation  von  Munster,  unter  Jakob  I.  die  von  Ulster,  wo 
die  Grundlage  der  heutigen  schottisch-englischen  Kolonie  in  Ulster 
gelegt  wurde.  Eine  weitere  umfangreiche  Kolonisationstätigkeit  fand 
während  der  Regierung  Cromwells  statt,  die  aber  im  Zeitalter  der 
Restauration  zum  Stillstand  kam.  Die  vierte  und  letzte  Besitz- 
ergreifung irischer  Ländereien  durch  Eroberung  erfolgte  nach  der 
zweiten,  der  „glorreichen"  Revolution.  Bei  all  diesen  Siedlungs- 
unternehmungen suchte  man  nicht  nur  große  Besitzer,  sondern 
auch  kleine  Bauern  und  Arbeiter  anzusetzen,  ein  Ziel,  das  nur  in 
Ulster  durch  die  „plantation  of  Ulster"  teilweise  erreicht  wurde. 
Die  heutigen  Grundbesitzer  Irlands  sind  zum  großen  Teil  die  Nach- 
kommen jener  Kolonisten,  die  vom  König  resp.  der  Republik  mit 
dem  eroberten  Lande  belehnt  wurden. 

Die  große  Hungersnot  der  Jahre  1845 — 51  machte  einen  Teil 
der  Grundbesitzer,  deren  wirtschaftliche  Lage  schon  vorher  er- 
schüttert worden  war,  bankrott.  In  dem  sogenannten  „eneumbered 
Estates  Court"  und  später  dem  „landed  Estates  Court"  wfurde  eine 
Art  Liquidationsgerichtshof  zur  Veräußerung  bankrotter  Güter  ge- 
schaffen. 10034  Güter  im  Werte  von  54  Millionen  £  wurden 
1849  bis  1880  durch  diesen  Gerichtshof  verkauft,  meist  zum  20  bis 
25  fachen  Preise  des  Jahresertrages.  Viele  kleine  irische  Kapitalisten, 
wie  Krämer  und  Wirte,  aber  auch  große  Versicherungsgesellschaften 
waren  unter  den  Neuerwerbern,  denen  ein  absoluter  Eigentumstitel 
zugesprochen  wurde.2) 

Es  lohnt  sich  nicht,  auf  die  Grundbesitzverteilung  in  Irland 
einzugehen,  wie  diese,  allerdings  in  sehr  unvollkommener  Weise,  im 
Irischen  „Doomsday  book"  von  1876  zutage  tritt,  da  diese  Besitz- 


')  Dezember  1903  Journal  198. 

*)  The  Irish  Landlord  and  his  accustrs,  p.  507. 


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170 


M.  J.  Bonn, 


Ordnung  im  Vergehen  begriffen  ist.  Es  sei  nur  darauf  hingewiesen, 
daß  sich  damals  ungefähr  die  Hälfte  des  Landes  in  der  Hand  von 
etwa  700  Personen  befand. 

Man  kann  die  heutigen  irischen  Eigentümer  in  drei  Klassen 
einteilen:  die  großen  Grundbesitzer,  die  auf  englischen  Gütern 
wohnen  und  nur  Renten  aus  Irland  beziehen.  Diese  sind  natur- 
gemäß absentees,  die  sich  nur  wenige  Monate  in  Irland  auf- 
halten. Da  sie  aber  meist  äußerst  wohlhabend  sind  und  über  vor- 
zügliche Agenten  verfügen ,  so  sticht  der  Zustand  ihrer  Güter  nicht 
unvorteilhaft  von  dem  der  Ansässigen  ab.  Die  zweite  Klasse  bilden 
die  großen,  in  Irland  ansässigen  Besitzer,  die  bei  einem  hohen 
Nominaleinkommen  häufig  alles  eher  als  reiche  Leute  sind.  Zur 
dritten  Klasse  gehört  der  ortsansässige,  kleine  Besitzer,  der  durch 
seine  wirtschaftlich  schlechte  Lage  und  die  Kürzung  seiner  Renten 
zur  dauernden  Anwesenheit  in  Irland  gezwungen  ist.  Eine  vierte 
Klasse  von  Eigentümern  bilden  die  80000,  unter  den  Landakten 
geschaffenen  Bauerneigentümer,  die  jedoch  in  anderem  Zusammen- 
hange zu  erörtern  sein  werden.  — 

Das  irische  Eigentum  weist  drei  wichtige  Merkmale  auf.  Es 
ist  einmal  in  vielen  Fällen  geteiltes  Eigentum.  Die  ursprünglich 
Belehnten  verpachteten  ihr  Land  durch  äußerst  langfristige  Pacht- 
verträge, häufig  auch  gegen  ewige  Rente  an  einen  Mittelmann;  sie 
sind  daher  heute  nur  Rentempfänger,  während  die  eigentlichen 
Rechte  und  Funktionen  des  Eigentums  dem  Mittelmann  zustehen. 
In  dieser  Stellung  befindet  sich  u.  a.  Trinity  College,  die  große 
protestantische  Universität  Irlands. 

Der  zweite  wesentliche  Punkt  ist,  daß  bei  weitem  die  Mehr- 
zahl der  irischen  Güter  mehr  oder  minder  fideikommissarisch  (durch 
entails)  gebunden  sind.  Der  jeweilige  Inhaber  ist  nur  lebensläng- 
licher Nutznießer,  nicht  aber  Eigentümer.  Der  über  die  Nutznießung 
hinausgehende  Teil  des  Eigentums  gehört  seinen  Söhnen,  resp. 
anderen  durch  die  Familicnstiftung  bestimmten  Erben.  Aus  dieser 
Beschränkung  ergab  sich  früher  die  Unfähigkeit,  langjährige  Pacht- 
verträge zu  gewähren.  Es  war  auch  unmöglich ,  das  Gut  zu  ver- 
äußern, da  nur  die  Treuhänder  des  Erben,  nicht  aber  der  Inhaber 
selbst,  eine  solche  Veräußerung  vornehmen  konnten.  Der  „scttled 
estates  act"  vom  Jahre  1882  ermöglicht  dem  Inhaber  den  Verkauf 
des  Gutes,  doch  muß  er  den  Erlös  in  der  gleichen  gebundenen 
Weise,  in  Form  pupillarsicherer  Wertpapiere  anlegen.  Da  diese 
Papiere  in  England  höchstens  3 — 31/.  Proz.  Zinsen  geben,  so  be- 


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Die  irische  Agrarfrage. 


I7I 


deutet  ein  Verkauf  immer  eine  Beschränkung  auf  einen  Zinsgenuß 
von  3*  2  Proz. 

Das  dritte  und  wichtigste  Moment  ist  die  Verschuldung  vieler 
irischen  Güter.  Jahrzehntelang  haben  die  Inhaber  über  ihre  Mittel 
gelebt;  sie  haben  Rentrückständc ,  die  nicht  einziehbar  waren, 
als  Aktiva  weitergeführt,  sie  haben,  da  Einzelerbrecht  bestand,  die 
jüngeren  Söhne  und  Töchter  mit  lebenslänglichen  Renten  abgefunden. 
Das  Resultat  war  eine  starke  Belastung  der  Güter  mit  Hypotheken. 
Diese  Hypotheken  sind  teils  im  Besitz  von  Familienmitgliedern, 
teils  aber  auch  von  Versicherungsgesellschaften,  Advokaten  u.  a.  Die 
großen  irischen  Korporationen,  vor  allem  die  kirchlichen  Ge- 
nossenschaften, haben  einen  ansehnlichen  Teil  ihres  Kapitalvermögens 
in  solchen  „mortgages"  angelegt.  Die  ersten  mortgages  sind  meist 
vorzügliche  Anlagen,  da  sie  absolut  sicher  sind.  Da  aber  ein  Pfand- 
briefwesen, wie  überhaupt  ein  mobilisiertes  Hypothekenwesen  nicht 
besteht,  so  ist  ein  Markt  für  solche  mortgages  nicht  vorhanden  und 
der  Zinsfuß  sehr  hoch;  5 — 6  Proz.  sind  durchaus  keine  Seltenheit. 
Die  Belastung  eines  Einkommens  von  1S00  £  mit  einer  Rente  von 
600  £,  kann  als  niedrige  betrachtet  werden.  Wenn  nun  ein  Preis- 
fall eintrat  und  die  Pachtrenten  um  33  Proz.  reduziert  wurden,  blieben 
natürlich  die  Hypothekenzinsen  ungeschmälert  bestehen.  Das  Ge- 
samteinkommen sank  also  von  1800  £  auf  1200  £.  Das  be- 
deutete bei  gleichbleibender  Schuldenlast  eine  Reduktion  des  Rein- 
einkommens um  50  Proz.  Schuldentilgung  und  Schuldenkonversion 
wurde  daher  oftmals  von  bedrängten  irischen  Grundbesitzern  ver- 
langt. Dieselben  sind  aber  niemals  imstande  gewesen,  eine  diesem 
Zweck  dienende  finanzielle  Organisation  zu  schaffen,  obwohl  eine 
Reduktion  des  Zinsfußes  von  5  Proz.  auf  3  Proz.  eine  Verpflichtung 
von  600  £  auf  360  £  ermäßigt  hätte. 

Die  Vorfahren  der  heutigen  Grundbesitzer  waren  in  Irland  in  der 
Absicht  angesiedelt  worden,  die  Eingeborenen,  die  sich  recht  primitiver 
wirtschaftlicher  Zustände  erfreuten,  zu  zivilisieren.  Man  kann  nicht 
sagen,  daß  sie  diese  Aufgabe  erfüllt  haben.  Die  Tausende  kleiner 
Karmer,  die  sich  auf  irischen  Gütern  befanden,  hätten  gewaltige 
Kapitalaufwendungen  nötig  gemacht,  wenn  der  Grundbesitzer 
jedem  von  ihnen  eine  voll  equipierte  Farm  hätte  geben  wollen. 
Der  Besitzer  besaß  selten  das  hierzu  nötige  Kapital.  So  fiel  die 
Kquipierung  der  Farm  dem  Pächter  zur  I^st,  der  dieselbe  in  tech- 
nisch allerdings  nicht  vollkommener  Weise  ausführte.  Der  Grund- 
herr erhob  Rente  vom  Land;  der  Pächter  setzte  dem  Lande  alles 


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M.  J.  Bonn,  Die  irische  Agrarfrage. 


Kapital  zu,  was  zur  Urbarmachung  nötig  war.  Auf  diese  Weise 
entstand  eine  Art  geteilten  Eigentums,  „dual  ownership",  die  all- 
mählich auch  vom  Gesetz  anerkannt  wurde. 

Im  großen  ganzen  ist  der  Großgrundbesitz  in  Irland  kein  Wirt- 
schaftsbetrieb.  Zwar  findet  sich  fast  überall  eine  mehr  oder  minder 
große  Domäne  mit  Park,  Garten  und  Gutswirtschaft  (Home  Farm), 
aber  das  Herrenhaus  war  im  besten  Falle  ein  starkes  Konsumzentrum 
und  nie  der  Kern  einer  großen,  das  ganze  Gut  umfassenden  Wirt- 
schaft. Die  Verwaltung  des  Gutes  liegt  meist  in  den  Händen  eines 
Agenten,  der  den  Verkehr  mit  den  Pächtern  betreibt,  die  Renten 
einfordert  und  die  ganze  finanzielle  Verwaltung  des  Gutes  führt,  in 
der  er  häufig  durch  den  Familienanwalt  kontrolliert  wird.  Der 
Verkehr  mit  den  Pächtern  ist  bei  der  großen  Zahl  derselben  schon 
eine  beträchtliche  Aufgabe.  Auf  einem  Gute,  das  der  congested 
districts  board  neulich  erstand,  befinden  sich  über  40c»  kleine 
Pächter.  Der  Agent  erhält  in  der  Regel  5  Proz.  des  Rentertrages 
für  seine  Mühewaltung.  Da  sich  die  meisten  Agenten  nicht  auf 
die  Verwaltung  eines  Gutes  beschränken,  so  kann  auch  für  kleine 
Güter  ein  Verwalter  gefunden  werden.  Die  Zahl  der  irischen  Agenten 
dürfte  auf  etwa  400  anzugeben  sein. 

Die  Bedeutung  des  Agenten  für  die  irische  Wirtschaft  kann  nicht 
überschätzt  werden.  Es  hängt  schließlich  von  seinem  Takt  und  seinen 
geschäftlichen  Fähigkeiten  ab,  ob  der  Besitzer  in  Frieden  oder 
Unfrieden  mit  seinen  Pächtern  leben  wird,  denn  Irland  ist  ein  Land, 
wo  mit  Prinzipien  nichts  auszurichten  ist,  wo  aber  persönliche  Ge- 
schicklichkeit alles  bedeutet  Die  Agenten  gehören  der  als  „gentleman" 
bezeichneten  Klasse  an.  Unter  ihnen  steht  als  Gehilfe  der  bailirT, 
während  die  home  farm  vom  Stewart  verwaltet  wird. 

Es  ist  nicht  meine  Absicht,  eine  eingehende  Charakteristik  des 
irischen  Grundbesitzers  zu  geben :  wahrscheinlich  dürfte  diese  Klasse 
ebenso  gemischt  sein,  wie  die  meisten  andern  menschlichen  Berufe. 
Sie  hat  aber  vielleicht  an  den  Sünden  ihrer  unbrauchbaren  Mitglieder 
schwerer  zu  tragen  gehabt  als  andere  soziale  Gruppen.  Sie  hat  sich 
im  Sport  wie  im  Kriege  ausgezeichnet,  sie  hat  sich  auch  in  der 
englischen  Kolonialverwaltung  genügend  bewährt.  Sie  besitzt,  was 
die  Formen  des  gesellschaftlichen  Lebens  betrifft,  Lebhaftigkeit, 
Anmut  und  natürliche  Veranlagung  in  hohem  Maße,  sie  hat  aber 
ihre  politischen  und  wirtschaftlichen  Aufgaben  nur  mangelhaft  erfüllt 
und  während  der  großen  Agrarrevolution,  die  ihren  Sturz  verursachte, 
weder  eine  Politik  noch  einen  Führer  hervorgebracht. 

________  (Kometiung  im  nächsten  Heft.) 


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173 


GESETZGEBUNG. 

Der  Entwurf  eines  preußischen  Wohnungsgesetzes, 
seine  Vorgeschichte  und  seine  Bedeutung. 

Von 

RUDOLF  EBERSTADT. 

(Mit  drei  Plänen.) 

I.  Zur  Vorgeschichte  des  Entwurfs. 

Von  der  alten  Baupolitik  der  preußischen  Könige  trennt  uns 
ein  weiter  Abstand  des  Rechts  und  der  Anschauungen.  Es  war 
Sache  der  historischen  Forschung,  den  vielfach  unterbrochenen  Weg 
zu  zeigen,  auf  dem  die  Entwicklung  unseres  deutschen  Städtebaus 
sich  vollzogen  hat.  Mit  wenigen  Worten  sei  an  diese  ältere  Zeit 
hier  erinnert. 

Große  und  schwierige  Aufgaben  des  Städtebaus ')  treten 
regelmäßig  dann  hervor,  wenn  durch  das  Zusammenwirken  poli- 
tischer, rechtlicher  und  ökonomischer  Faktoren  eine  Neugestaltung 
herbeigeführt  wird,  die  in  einseitiger  Weise  die  städtische  Ent- 
wicklung begünstigt  oder  vorwärts  treibt.  Eine  solche  Periode 
des  gesteigerten  und  schnellen  Wachstums  der  Städte  pflegt  ein 
selbständiges  und  ihr  eigentümliches  System  des  Städtebaus  auszu- 
bilden, das  in  seinen  rechtlichen,  technischen  und  wirtschaftlichen 
Grundlagen  einen  scharf  ausgesprochenen  Charakter  trägt  In 
Deutschland  bezeichnet  der  Aufschwung  der  Städte  im  zwölften 

l)  Als  Städtebau  im  technischen  Sinne  wird  die  Gesamtheit  aller  Maßnahmen 
bezeichnet,  die  sich  auf  die  städtische  Bauweise,  die  Stadtanlagc  und  den  städtischen 
Häuserbau  bezichen.  Die  Behandlung  des  Städtebaus  schließt,  was  kaum  der 
Hervorhebung  bedarf,  die  der  Grundlagen  des  Wohnungswesens  mit  ein. 


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«74 


Gesetzgebung. 


und  dreizehnten  Jahrhundert,  der  mit  der  Gewinnung  der  städtischen 
Freiheit  einsetzt,  den  Beginn  der  ersten  selbständigen  Periode  un- 
seres Städtebaus.  Das  gewaltige  und  rasche  Anwachsen  der  Städte, 
das  erst  in  unserer  eigenen  Zeit  sein  Gegenstück  gefunden  hat, 
führte  im  zwölften  und  dreizehnten  Jahrhundert  zu  Stadterweite- 
rungen größten  Stils.  Durch  die  weiträumige  Anlage  der  Städte, 
durch  Hereinziehung  weiter  Flächen  unbebauten  Geländes  wurde 
für  die  Bebauung  ein  Raum  geschafTen,  der  zum  Teil  auf  Jahr- 
hunderte hinaus  für  die  städtische  Ausdehnung  ausreichte.1) 

Dieser  ersten  Periode  verdanken  wir  eine  Reihe  von  grund- 
legenden und  noch  in  der  Gegenwart  fortwirkenden  Schöpfungen 
des  Städtebaus,  nämlich  i.  die  Methode  der  Parzellierung  des 
städtischen  Bodens  (Bodenaufteilung);  2.  die  Einrichtungen  für  den 
Immobiliarverkchr  und  die  Kapitalisierung  des  Bodens ;  und  3.  eine 
Gruppe  von  Rechtssätzen  über  die  städtische  Bauverwaltung  und 
Baupolizei.  Das  Ergebnis  läßt  sich  kurz  dahin  zusammenfassen, 
daß  zunächst  in  der  Bodenaufteilung  genaue  Scheidungen  nach 
Zweck  und  Bedürfnis  sowohl  für  die  Straßen  (Verkehrsstraßen, 
Wohnstraßen,  Aufteilungsstraßen)  wie  für  die  Hausformen  ge- 
schaffen wurden.  Hierbei  wurde  eine  selbständige  Form  des  Klein- 
wohnungsgebäudes entwickelt ;  es  ist  das  bürgerliche  Kleinhaus,  das 
bis  auf  unsere  Zeit  die  vorherrschende  Hausform  in  Deutschland 
gewesen  ist  und  in  den  Städten  des  deutschen  Nordwestens  noch 
heute  überwiegt.  —  Die  Einrichtungen  für  den  Immobiliarverkehr, 
aus  denen  sich  unser  Grundbuchwesen  entwickelt  hat,  beruhten 
auf  der  damals  eingeführten  deutschrechtlichen  Scheidung  von  Boden 
und  Bauwerk;  die  Kapitalaufwendung  für  das  Bauwerk  wurde  ge- 
trennt von  dem  nackten  Recht  am  Boden.  2)  Die  produktive  Auf- 
wendung von  Kapital  und  Arbeit  und  das  Besitzrecht  am  Baugrund 
durften  sich  nicht  verschmelzen.  —  In  der  Verwaltung  des  Bau- 
wesens endlich  wurde  eine  Reihe  von  Rechtssätzen  aufgestellt, 
die  —  wie  das  Recht  an  unbebauten  Plätzen  —  bis  zum  Ende  des 
achtzehnten  Jahrhunderts  in  Geltung  geblieben  sind,  während  die 
Rechtssätze  über  die  Baupolizei  sich  ohne  Unterbrechung  bis  in 


')  Zu  den  größten  Stadterweiterungen  des  zwölften  Jahrhunderts  zählten  die 
von  Köln  und  Magdeburg;  die  damals  gezogene  Umwallung  hat  bis  1 880  bezw. 
1872  bestanden.    Auch  die  neu  gegründeten  Slädtc  waren  weiträumig  angelegt. 

*)  In  ähnlicher  Weise,  wie  dies  heute,  jedoch  unter  veränderten  Voraussetzungen, 
das  Erbbaurecht  anstrebt. 


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Rudolf  Eberstadt,  Entwurf  eines  preußischen  Wohnungsgesetzes.  175 


die  Gegenwart  fortentwickelt  haben. ')  Die  städtische  Verwaltung 
hat  in  dieser  ersten  Periode  unverwüstliche  und  unvergängliche 
Einrichtungen  geschaffen. 

Mit  dem  Ende  des  sechzehnten  Jahrhunderts  ist  die  Blütezeit 
unserer  Städte  vorüber.  Auf  die  letzte  und  glänzendste  Entwicklung 
des  sechzehnten  Jahrhunderts  folgt  der  traurige  Verfall  während 
des  dreißigjährigen  Krieges.  Um  die  Mitte  des  siebzehnten  Jahr- 
hunderts waren  der  Wohlstand  und  die  Kraft  der  Städte  vernichtet. 
Wenn  das  ganze  Land  unter  den  Verwüstungen  des  Krieges  und 
ihren  Nachwirkungen  unsagbar  gelitten  hatte,  so  waren  doch  die 
Zustände  in  den  Städten  weitaus  die  schlimmsten ;  denn  ihr  Handel, 
ihre  Gewerbe,  ihre  Nahrung,  waren  ebenso  tief  herabgekommen 
wie  die  Zahl  ihrer  Bewohner  gesunken  war.  Den  Städten  aufzu- 
helfen, war  am  schwierigsten;  und  dieser  Aufgabe  hatten  sich  nun 
die  Landesfürsten  zu  unterziehen,  die  ihre  Territorien  wieder 
emporbringen  wollten. 

Diesen  Zusammenhang  müssen  wir  uns  gegenwärtig  halten, 
wenn  wir  erklären  wollen,  daß  nunmehr  in  Deutschland  eine  neue 
Periode  des  Städtebaus  beginnen  mußte;  es  ist  die  des  landesfürst- 
lichen Städtebaus,  verbunden  mit  einer  systematischen  Baupolitik. 
War  die  erste  Periode  unseres  deutschen  Städtebaus  getragen  von 
dem  selbständigen  Aufblühen  der  Städte,  so  war  die  zweite  Periode 
herbeigeführt  durch  die  Arbeit  der  Landesfürsten  für  die  Wieder- 
aufrichtung der  verarmten  und  zurückgekommenen  Städte.  Unter 
den  deutschen  Territorien  ragt  Brandenburg-Preußen  durch  seine 
umfassende  Tätigkeit  für  die  Städte  weit  hervor,  und  hier  liegt  der 
Ausgangspunkt  für  die  Entwicklung  einer  preußischen  Baupolitik. 

Die  landesfürstliche  Tätigkeit  im  Städtebau  beginnt  in 
Brandenburg-Preußen  in  der  zweiten  Hälfte  des  siebzehnten  Jahr- 
hunderts unter  Kurfürst  Friedrich  Wilhelm.  Die  seitdem  ausge- 
bildete Baupolitik  ist  indes  nur  zu  verstehen,  wenn  wir  sie  als 
einen  Teil  der  allgemeinen  Verwaltungspolitik  auffassen,  die  in 
Preußen  durch  die  Verkettung  verschiedener  Umstände  gerade  an 
die  Begünstigung  der  Städte  geknüpft  war.  Ein  Hauptmittel  für 
die  Kräftigung  und  Hebung  des  Landes  bildete,  der  merkantilisti- 
schen  Auffassung  entsprechend,  die  Förderung  des  Gewerbewesens; 
das  Gewerbe  aber  hatte  von  alters  her  in  der  Hauptsache  seinen 

')  Vgl.  meine  „Rheinischen  Wohnverhältnisse  und  ihre  Bedeutung  für  das 
Wohnungswesen  in  Deutschland."    Jena  1903.    S.  3  ff.  und  105. 


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176 


Gesetzgebung. 


Sitz  in  den  Städten  und  wurde  seit  1680  geradezu  auf  die  Städte 
beschränkt. l)  Durch  die  verschärfte  städtische  Konzentrierung  der 
Industrie  wurde  eine  Menge  Handwerker  vom  platten  Lande  in  die 
Städte  getrieben.  In  hohem  Maße  wurde  dann  das  Anwachsen  der 
Städte  verstärkt  durch  die  segensreiche  preußische  Bevölkerungs- 
politik und  die  Begünstigung  der  Einwanderung,  deren  mächtiger 
Strom,  soweit  es  sich  um  Gewerbetreibende  handelte,  zumeist  nach 
den  Städten  gelenkt  wurde.  Eine  ganze  Reihe  von  Maßnahmen 
trat  unter  Friedrich  Wilhelm  I.  und  Friedrich  dem  Großen  hinzu, 
die  dieser  kombinierten  Förderung  von  städtischem  Wesen  und 
gewerblicher  Tätigkeit  dienten  2) ;  durch  Freiheiten,  Privilegien  und 
Unterstützungen  wurden  immer  neue  Scharen  gewerbtätiger  Ein- 
wanderer in  die  Städte  gezogen. 

Hand  in  Hand  mit  dieser  energischen  städtefördernden  Politik 
ging  nun,  als  ihre  geradezu  selbstverständliche  Folge,  die  umfassende 
Bautätigkeit  und  Baupolitik,  die  mit  steigendem  Eifer  durchgeführt 
wurde.  Das  achtzehnte  Jahrhundert  bezeichnet  für  Preußen  den 
Höhepunkt  der  landesfürstlichen  Bautätigkeit;  ganze  Stadtteile  und 
Städte  wurden  damals  planmäßig  und  systematisch  neu  angelegt. 
Die  bisher  in  der  Literatur  herrschende  Ansicht  jedoch,  daß  es  sich 
bei  dieser  Baupolitik  Friedrich  Wilhelms  I.  und  Friedrichs  des 
Großen  um  Rechtsneuerungen  und  willkürliche  Eingriffe  des  Ab- 
solutismus handelt,  ist  ganz  irrtümlich.  Das  preußische  Königtum 
hat  hier,  wie  auf  anderen  Gebieten  der  Verwaltung,  zunächst  fran- 
zösische Einrichtungen  und  Vorbilder  übernommen ;  im  übrigen  aber 
wurde  das  alte  kommunal-ständische,  beim  Niedergang  der  Städte 
in  Verfall  geratene  Baurecht  neu  belebt  und  ausgenutzt.  In  der 
Hauptsache  beruhte  die  landesfürstliche  Baupolitik  auf  der  Aus- 


*)  Den  äußeren  Anlaö  hierzu  bot  die  von  dem  Großen  Kurfürsten  eingeführte 
Accise,  ein  System  direkter  und  indirekter  Abgaben,  die  ausschließlich  in  den  Städten, 
nicht  aber  auf  dem  flachen  Lande  erhoben  wurden.  Im  steuerpolitischen  Interesse 
wurden  deshalb  auf  dem  Lande  in  der  Hauptsache  nur  die  notwendigen  Gewerbe 
(die  sog.  fünf  Landhandwerke)  zugelassen.  Die  alten  ländlichen  Handwerkerstcllen 
wurden  katastriert,  und  im  übrigen  wurde  das  Gewerbe  fast  ausschließlich  in  die 
Städte  verwiesen.  Vgl.  Schmoller,  Umrisse  und  Untersuchungen  zur  Vcrfassungs-, 
Vcrwaltungs-  und  Wirtschaftsgeschichte,  Leipzig  1898,  S.  157  und  öfter  a.  a.  O. 

*)  Vgl.  u.  a.  das  Statut  Friedrich  Wilhelm  I.  von  17 18,  wegen  der  in  den 
Städten  erwünschten  Handwerker;  den  Zuwandernden  wurden  große  Privilegien 
gewährt  und  Mcilengcldcr  für  die  Zureisc  gezahlt.  Schmoller  a.  a.  O.  S.  380  f.; 
Kurt  v.  Kohrscheidt,  Vom  Zunftzwang  zur  Gewcrbefrcihcit.  Berlin  1898.  S.  53. 


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Rudolf  Eber  Stadt,  Entwurf  eines  preußischen  Wohnungsgesetzes.  177 

Übung  von  Berechtigungen,  die  unsere  deutschen  Stadtverwaltungen 
selber  während  des  Mittelalters  geschaffen  hatten  und  die,  nach 
dem  Verfall  der  städtischen  Verwaltungen,  nunmehr  auf  eine  rein 
staatliche  Grundlage  gestellt  wurden.1) 

Die  landesfürstliche  Bautätigkeit  hat  tiefgreifende  Neuerungen 
in  der  Stadtanlage  und  im  Wohnungswesen  eingeführt;  sie  brachte 
uns  vor  allem  die  schematische  Richtung  im  Städtebau,  die  dem 
herrschenden  Geschmack,  dem  Geiste  des  Absolutismus  und  der 
zeitgenössischen  Theorie  des  Städtebaus  entsprach.  Die  sozial- 
politische Vorsorge  zeigte  sich  andererseits  in  der  Parzellierung  des 
Baulandes,  bei  der  immer  die  Rücksicht  auf  die  Schaffung  kleiner 
Grundstücke  und  mittlerer  Bürgerhäuser  vorwaltete. 

Mit  dem  Ablauf  des  achtzehnten  Jahrhunderts  war  die  Periode 
der  landesfurstlichen  Baupolitik  zu  Ende;  ihre  Wirkung  auf  die 
Technik  des  Städtebaus  in  Preußen  ist  eine  äußerst  nachhaltige 
geblieben;  ihre  Grundsätze  dagegen  konnten  in  das  neue  Staats- 
wesen nicht  unverändert  übernommen  werden.  Das  neunzehnte 
Jahrhundert  hat  eine  besondere  Politik  des  Städtebaus  zunächst 
nicht  gekannt.  Für  die  Handhabung  der  Bauverwaltung  durch  die 
zentralen  und  örtlichen  Behörden  waren  in  der  Hauptsache  maß- 
gebend die  Vorschriften  des  allgemeinen  Landrechts  und  der 
Städteordnung,  sowie  die  Bestimmungen  über  die  Organisation  und 
Zuständigkeit  der  Behörden.  -)  Seit  dem  Erlaß  des  Gesetzes  über 
die  Polizeiverwaltung  vom  II.  März  1850  gründeten  sich  die  für 
die  verschiedenen  Landesteile  ergangenen  Baupolizeiverordnungen 
auf  den  §  6  Ziffer  b,  g  und  i  des  genannten  Gesetzes.  Die  von 
den  Ortspolizeibehörden  wahrgenommenen  Interessen  betrafen  vor- 
zugsweise die  Fürsorge  bei  Bauausführungen  und  die  Bedürfnisse 
des  Verkehrs.  Auf  der  Grundlage  des  erwähnten  Paragraphen  des 
Polizeiverwaltungsgesetzes  beruht  ferner  die  außerordentlich  wich- 
tige Befugnis  der  Polizeibehörden  zur  Aufstellung  von  Bebauungs- 
plänen.*) 


>)  S.  Rheinische  Wohnverhältnisse.    S.  4  und  102. 

'•)  Vgl.  L.  v.  Rönne,  Die  Baupolizei  des  preußischen  Staates.  Berlin  1846 
und  öfter. 

*)  Mit  Bezug  auf  die  Bezeichnungen  Bebauungsplan  und  Bauordnung  seien  hier 
folgende  Bemerkungen  eingeschaltet.    Unter  dem  Bebauungsplan  (Stadtbauplan)  ver- 
steht man  die  Gesamtheit  derjenigen  Festsetzungen,  die  sich  auf  die  Aufteilung 
«ics  städtischen  Bodens  durch  Straßenanlagcn,  öffentliche  Plätze  usw.  beziehen.  Durch 
Archiv  für  Sotialwiisenschaft  «1.  Sozialpolitik.  I.    (A.  f.  soz.  G.  u.  St.  XIX.)  1.  12 


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i;8 


Gesetzgebung. 


In  den  sechziger  Jahren  des  abgelaufenen  Jahrhunderts  beginnt 
die  dritte  Periode  des  Städtebaues,  die  der  Gegenwart.  Die 
Städte  treten  wiederum  in  einen  Abschnitt  mächtigen  Wachstums, 
der  herbeigeführt  wurde  durch  die  nationalen  Kriege,  die  politi- 
schen, technischen  und  wirtschaftlichen  Umwälzungen.  Die  Be- 
völkerung stieg  rasch  und  in  immer  stärkerem  Maße;  die  Boden- 
werte  erhöhten  sich  sprungweise;  Kapital  und  Kredit  wandten  sich 
in  den  größten  Summen  dem  Boden  zu.  Es  waren  gewaltige  Auf- 
gaben, die  dem  Städtebau  jetzt  gestellt  wurden.  Die  preußische 
Regierung  nahm  frühzeitig  Anlaß,  sich  durch  gesetzgeberische  Maß- 
nahmen mit  der  neuen  Entwicklung  zu  beschäftigen.  Diese  Maß- 
nahmen bilden  einen  äußerst  interessanten  Teil  der  jüngsten  preußi- 
schen Verwaltungsgesetzgebung ;  ich  will  versuchen,  ihn  hier  erst- 
malig in  knappen  Zügen  su  schildern. 

Es  ist  bezeichnenderweise  die  Grundlage  des  gesamten  Städte- 
baus, die  Behandlung  des  Bebauungsplans,  die  die  preußische  Re- 
gierung in  dieser  neuen  Periode  zunächst  in  Angriff  nahm.  Schon 
in  den  Jahren  1865  und  1866  wurde  der  Versuch  gemacht,  ein- 
zelne mit  der  Aufstellung  von  Bebauungsplänen  zusammenhängende 
Materien  zu  regeln;  doch  gelang  es  nicht,  eine  Verständigung  im 
Abgeordnetenhause  herbeizuführen.  In  den  Jahren  1873 — 74  ge- 
gelangten die  Städtebaufragen  wiederum  an  den  Landtag.  Ein  An- 
trag auf  Vorlegung  einer  Normalbauordnung  für  die  Städte  des 
ganzen  Königreichs  wurde  abgelehnt;  dagegen  faßte  das  Abge- 
ordnetenhaus den  Beschluß,  die  Regierung  aufzufordern,  eine  gesetz- 
liche Regelung  der  mit  dem  Bebauungsplan  zusammenhängenden 
Fragen  eintreten  zu  lassen.  Bereits  zu  Beginn  des  folgenden  Jahres 
legte  die  Regierung  den  entsprechenden  Gesetzentwurf  vor;  es  ist 
das  Gesetz  betr.  die  Anlegung  und  Bebauung  von  Straßen  und 
Plätzen  in  Städten  und  ländlichen  Ortschaften,  meist  zitiert  unter 
der  Bezeichnung  Baufluchtliniengesetz,  das  nach  wesentlichen  Ab- 
änderungen am  2.  Juli  1875  die  königliche  Sanktion  erhielt. 

Das  Baufluchtliniengesetz  reiht  sich  würdig  jenen  großen  Ge- 

den  Bebauungsplan  wird  also  festgelegt:  die  Straßenbreite  und  damit  die  regelmäßig 
an  die  Straflenbrcite  gebundene  Bebauungshöhe  (Stockwerkzahl)  der  Häuser; 
die  Abmessungen  der  Baublöcke  und  der  Grundstücke,  und  damit  die  Form  des 
Häuserbaues.  —  Die  Bauordnung  dagegen  behandelt  die  Anforderungen  an  die 
Errichtung  der  Gebäude ;  sie  gibt  Vorschriften  über  die  Flächen-  und  Höhenausnutzung, 
Standfestigkeit,  Feuersicherheit,  Bauausführung. 


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Rudolf  Eberstadt,  Entwurf  eines  preußischen  WohnungsgcscUes.  j 

setzen  an,  die  durch  freigebige  Ausstattung  mit  öffentlichen  Rechten 
eine  leistungsfähige  Selbstverwaltung  in  Preußen  schaffen 
wollen.  Man  wird  sogar  sagen  dürfen,  daß  kaum  ein  zweites  Gesetz 
Befugnisse  von  so  weittragender  ökonomischer  Bedeutung  in  die 
Hand  der  Selbstverwaltungsbehörden  gelegt  hat,  wie  das  Gesetz 
vom  2.  Juli  1875.  Unter  seiner  Herrschaft  vollzog  sich  jetzt  die 
Entwicklung  der  Bodenwerte  und  der  Bodenverhältnisse  in  den 
Städten. 

Die  grundlegende  Bestimmung  des  Baufluchtliniengesetzes  geht 
dahin,  daß  die  Befugnis  zur  Aufstellung  von  Bebauungsplänen  im 
wesentlichen  vom  Staat  den  Selbstverwaltungsbehörden  übergeben 
wird.  Während  die  Regierung  bis  dahin  das  Recht  für 
sich  in  Anspruch  genommen  hat,  die  Aufstellung  von 
Bebauungsplänen  selbständig  anzuordnen  und  durch 
die  Polizeibehörden  zur  Ausführung  bringen  zu 
lassen,  soll  die  Aufstellung  von  Bebauungsplänen 
fortan  der  Regel  nach  der  freien  Initiative  der  Ge- 
meinden überlassen  bleiben:  mit  diesen  Worten  kennzeichnet 
die  Begründung  des  Gesetzentwurfs  den  Wert  des  Rechts,  das  jetzt 
den  Gemeinden  anvertraut  wurde.  Nur  wenige  Vorbehalte  wurden 
von  der  Regierung  gemacht,  und  auch  diese  haben  sich  in  der 
Praxis  als  bedeutungslos  erwiesen. 

Alle  Vorausetzungen  rechtlicher  und  ökonomischer  Art  waren 
nunmehr  gegeben,  um  den  Städten  eine  richtige  Bodenpolitik  zu 
ermöglichen  und  die  Bodenentwicklung  dem  Gemeininteresse  gemäß 
zu  gestalten.  Was  dagegen  tatsächlich  geschaffen  wurde,  ist  be- 
kannt genug  und  bedarf  nicht  der  näheren  Darlegung.  Der  weite 
Komplex  von  verwaltungsmäßigen  Maßnahmen,  den  wir  unter  der 
städtischen  Bodenpolitik  verstehen,  hat  in  den  meisten  preußischen 
Großstädten  einer  kleinen  Minderheit  außerordentliche  Vorteile  ge- 
bracht, für  die  Gesamtbevölkerung  dagegen  schlechte  Zustände 
herbeigeführt,  wobei  die  politischen  und  wirtschaftlichen  Schäden 
unendlich  schwerer  wiegen,  als  die  zunächst  am  meisten  beachteten 
hygienischen  Nachteile.  Im  Interesse  unseres  gesamten  politischen 
und  öffentlichen  Lebens  ist  es  nicht  genug  zu  beklagen,  daß  die 
Selbstverwaltung  auf  diesem  wichtigsten  Gebiet  versagt  hat  und 
daß  unter  ihrer  Geschäftsführung  die  heute  herrschenden  traurigen 
Bodenverhältnisse  in  den  meisten  preußischen  Großstädten  ent- 
standen sind.  — 

Als  seit  den  achtziger  Jahren  des  vergangenen  Jahrhunderts  die 

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Gesetzgebung. 


Mißstände  im  städtischen  Wohnungswesen  immer  schärfer  hervor- 
traten, suchte  die  preußische  Regierung  zunächst  durch  Maßnahmen 
der  Baupolizei  direkt  oder  indirekt  auf  die  Gestaltung  der  Wohn- 
verhältnisse einzuwirken.  Hier  waren  es  insbesondere  die  Hygie- 
niker  des  Städtebaues  und  die  ihnen  nahestehenden  Kreise,  die  die 
Bewegung  in  Fluß  brachten.  Durch  hervorragende  Autoritäten 
wurde  die  Behandlung  der  Bauordnungen  wissenschaftlich  vertieft 
und  zu  einem  der  wichtigsten  Zweige  des  Städtebaus  ausgestaltet. 
Akademische  Lehrer,  Techniker,  Verwaltungsbeamte  arbeiteten  zu- 
sammen, um  durch  Anwendung  abgestufter  baupolizeilicher  Be- 
stimmungen auf  die  Entwicklung  der  Bodenverhältnisse  einzuwirken. 
Der  Erfolg  war  in  den  einzelnen  Städten,  insbesondere  bei  recht- 
zeitigem Vorgehen,  ein  äußerst  günstiger,  wenn  auch  kein  aus- 
reichender, da  es  nicht  möglich  war,  die  fehlerhaften  Grund- 
lagen des  Bebauungsplanes  einseitig  im  Wege  der  Baupolizei  zu 
korrigieren. 

Erst  als  in  den  neunziger  Jahren  die  Anschauung  sich  Bahn  brach, 
daß  es  sich  in  der  Wohnungsfrage  in  erster  Linie  um  ein  Problem  der 
inneren  Verwaltung  handele,  wurde  auch  die  Stellung  der  Re- 
gierung eine  andere.  Schon  im  Jahre  1893  wurde  durch  eine  Äuße- 
rung des  Finanzministers  v.  Miquel  bekannt,  daß  ein  Wohnungs- 
gesetz in  Ausarbeitung  sei.  Aber  man  kam  über  Entwürfe  und  Vor- 
arbeiten nicht  hinaus.  Das  Interesse  der  Verwaltungsbeamten  und  der 
Regierungskreise  wurde  inzwischen  immer  lebhafter  und  trat  in  ein- 
zelnen wohnungspolitischen  Maßnahmen  hervor.  Unter  diesen  ist 
die  bedeutendste  das  Gesetz  vom  13.  August  1895,  durch  das  zur 
Verbesserung  der  Wohnungsverhältnisse  der  Arbeiter  und  Beamten 
in  Staatsbetrieben  eine  Summe  von  5  Millionen  Mark  —  inzwischen 
durch  Nachträge  auf  59  Millionen  erhöht  —  zur  Verfügung  gestellt 
wurde.  Daß  die  Regierung  den  Wohnungszuständen  eine  gesteigerte 
Aufmerksamkeit  zuwandte,  war  hiermit  erwiesen. 

Immerhin  aber  wußte  man  noch  nicht,  wie  die  grundsätzliche 
Stellung  der  preußischen  Regierung  zur  Wohnungsreform  sei.  Da 
erschien  am  19.  März  1901,  der  Öffentlichkeit  unerwartet,  der  Mini- 
sterialerlaß „wegen  der  zur  Verbesserung  der  Wohnungsverhältnisse 
zunächst  zu  ergreifenden  Maßnahmen".1)  Der  Erlaß  war  an  alle 
Regierungspräsidenten  der  Monarchie  gerichtet ;  er  kennzeichnet  sich 


')  Veröffentlicht  im  deutschen  Reichs-  und  Künigl.  Preuß.  Staatsanzeiger  vom 
4.  April  1901. 


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Rudolf  Eberstadt,  Entwurf  eines  preußischen  Wohnungsgeset/es.  jgj 


als  eine  bemerkenswerte  .Kundgebung.  Die  Form  war  eine  pro- 
grammatische; ein  Aktionsprogramm  wurde  aufgestellt  und  be- 
stimmte Anweisungen  zum  praktischen  Handeln  wurden  gegeben. 

Der  Ministerialerlaß  wird  in  der  Geschichte  der  preußischen 
Wohnungsreform  dauernd  eine  Stelle  behalten;  sein  Inhalt  —  er 
zerfällt  in  eine  Einleitung  und  in  vier  Artikel  —  verleiht  ihm  im 
übrigen  eine  hervorragende  praktische  Bedeutung.  Die  Einleitung 
geht  davon  aus,  daß  die  Wohnungsverhältnisse  Bedenken  erregen 
sowohl  in  gesundheitlicher  als  insbesondere  in  sozialer  und  sitt- 
licher Beziehung.  Nicht  hervorgehoben  sind  also  die  politischen 
und  die  wirtschaftlichen  Interessen,  die  mindestens  die  gleiche  Be- 
rücksichtigung erfordern.  Die  Einleitung  sagt  weiter,  daß  „ein  durch- 
greifender Erfolg  in  den  Wohnverhältnissen  sich  nur  durch  ein  um- 
fassendes gesetzliches  Vorgehen  auf  den  verschiedenen  in  Frage 
kommenden  Verwaltungsgebieten  erreichen  lassen  wird".  Doch 
wünscht  der  Erlaß,  daß  schon  vor  den  in  Vorbereitung  befindlichen 
Änderungen  der  Gesetzgebung,  im  Verwaltungswege  alle  geeigneten 
und  durchfuhrbaren  Maßnahmen  getroffen  werden. 

Artikel  I  verweist  auf  das  obenerwähnte  Gesetz  vom  13.  August 
1895  und  dessen  Nachträge,  über  die  Bereitstellung  von  Geldmitteln 
zum  Wohnungsbau  für  die  Arbeiter  der  Staatsbetriebe.  Es  soll 
nun  auf  die  Gemeinden  hingewirkt  werden,  daß  sie  ebenfalls  für 
die  Wohnverhältnisse  ihrer  Arbeiter  und  Beamten  Vorsorge  treffen, 
entweder  durch  kommunalen  Eigenbau  von  Kleinwohnungen  oder 
durch  Förderung  von  Beamten-Baugenossenschaften.  Artikel  2  be- 
schäftigt sich  dann  mit  der  Herstellung  kleiner  und  mittlerer  Woh- 
nungen für  die  Gesamtbevölkerung  (also  nicht  für  den  Beamten- 
stand). Der  Kleinwohnungsbau  soll  allgemein  gefördert  werden 
durch  Erleichterungen  für  die  Bauunternehmer,  insbesondere  durch 
Nachlaß  oder  Ermäßigung  der  Straßenkosten,  der  Kanalisations- 
kosten, der  Prüfungsgebühren  der  Baugesuchc,  durch  Beihilfen  in 
der  Erlangung  des  erforderlichen  Realkredits.  Artikel  3  erörtert 
kurz  die  Verkehrsmittel  zur  Erleichterung  des  Verkehrs  mit  den 
Außenbezirken.  Der  vierte  Artikel  behandelt  die  kommunale  Boden- 
politik, der  mit  Recht  eine  durchgreifende  Bedeutung  für  die  bessere 
Gestaltung  der  Wohnungsverhältnisse  zugeschrieben  wird.  Zunächst 
empfiehlt  der  Ministerialerlaß  eine  Vermehrung  des  städtischen 
Grundbesitzes  in  Gemeinden  mit  rasch  wachsender  Bevölkerung; 
auf  dem  Gebiet  der  Stadterweiterung  soll  die  Gemeinde  selber 
Grund  und  Boden  erwerben. 


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182 


Gesetzgebung. 


Die  unmittelbare  Wirkung  des  Ministerialerlasses  ist  eine  sehr 
weitgehende  und  günstige  gewesen.  Die  Baugenossenschafts- 
bewegung nahm  einen  lebhaften  Aufschwung,  wenn  es  auch  immer 
noch  nicht  gelungen  ist,  den  Widerstand  einzelner,  durch  Sonder- 
interessen beherrschten  Gemeindevertretungen  zu  überwinden.  Neue 
Vereinigungen  zur  Förderung  des  Arbeiterwohnungswesens  wurden 
gegründet;  in  die  ganze  Wohnungsreform  kam  ein  frischer,  leben- 
diger Zug,  nachdem  jetzt  der  feste  Wille  der  Regierung  bekannt 
und  die  Teilnahme  derselben  gesichert  war. 

Zweimal  war  in  dem  Ministerialerlaß  die  Einbringung  eines 
Wohnungsgesetzes  als  bald  bevorstehend  bezeichnet  worden.  Im 
Jahre  1902  gelang  es  zunächst  ein  Spezialgesetz,  das  früher  ge- 
scheitert war,  unter  Dach  und  Fach  zu  bringen;  es  ist  das  Gesetz 
über  die  Umlegung  von  Grundstücken,  bekannt  unter  dem  Namen 
der  lex  Adickes,  mit  einem  zunächst  auf  Frankfurt  a.  M.  beschränkten 
Geltungsbereich.  Inzwischen  waren  die  schwierigen  Vorarbeiten 
für  das  Wohnungsgesetz  selber  zu  Ende  gefuhrt  worden.  Im  Mai 
des  Jahres  1903  wurde  amtlich  bekannt  gegeben,  daß  der  erwartete 
Entwurf  eines  Wohnungsgesetzes  fertiggestellt  sei.  Zugleich  wurden 
nähere  Mitteilungen  über  den  wesentlichen  Inhalt  des  Entwurfs  der 
Öffentlichkeit  übergeben. ') 

II.  Der  Inhalt  des  Entwurfs. 

Ich  habe  versucht,  die  wenig  bekannte  Entwicklung  der  preußischen 
Gesetzgebung  über  den  Städtebau  im  Zusammenhang  zu  schildern, 
da  sich  nur  hierdurch  ein  richtiger  Standpunkt  für  die  Beurteilung 
des  neuen  Entwurfs  gewinnen  läßt.  Auch  für  das  gesetzgeberische 
Vorgehen  und  Handeln  ist  nicht  so  sehr  das  Augenblicksbild,  als 
vielmehr  der  geschichtlich  überlieferte  Zustand  entscheidend.  Uber- 
blicken wir  die  Entwicklung  der  Gesetzgebung,  so  ist  es  klar,  daß 
der  neue  W'ohnungsgesctzentwurf  nicht  mehr  aus  dem  Vollen  geben 
konnte,  sondern  daß  er  durch  vorhandene  Verhältnisse  gebunden 
war.  Wir  können  nunmehr  vier  Gebiete  unterscheiden,  deren  Be- 
handlung der  Gesetzentwurf  unternimmt:  1.  Bebauungsplan  und 
Straßenbau,  2.  Bauordnung,  3.  Kleinwohnungsbau,  4.  Wohnungs- 
hygiene. 

')  Vgl.  den  Abdruck  in  der  Kölnischen  Zeitung  und  in  der  Zeitschrift  für 
Wohnungswesen.  Der  Wortlaut  des  Entwurfs  selber  ist  noch  nicht  veröffentlicht 
worden. 


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Rudolf  Eberstadt,  Entwurf  eines  preußischen  Wohnungsgesetzes.  i 


i.  Für  die  Bestimmungen  über  den  Bebauungsplan  und 
den  Straßenbau  war  der  Ausgangspunkt  von  selbst  gegeben;  die 
neuen  Bestimmungen  stellen  sich  naturgemäßer  Weise  dar  als  eine 
Ergänzung  und  Abänderung  des  oben  S.  178  erwähnten  Bauflucht- 
liniengesetzes von  1875.  Der  Bebauungsplan  ist  von  grundlegender 
Bedeutung  für  die  städtische  Entwicklung;  durch  ihn  wird  die  Auf- 
teilung des  städtischen  Bodens  bestimmt.  Ich  kann  mit  Bezug  hier- 
auf nur  einige  wenige  Momente  an  dieser  Stelle  hervorheben.  Die 
Bodenaufteilung  wird  in  erster  Linie  bewirkt  durch  das  Straßen- 
system, durch  die  Breite,  durch  die  Zahl  und  durch  den  Abstand 
der  einzelnen  Straßen.  Werden  die  Straßen  beispielsweise  nur  in 
einem  Abstand  angelegt,  der  200  Meter  von  Straße  zu  Straße  be- 
trägt, so  entstehen  Grundstücke,  die  eine  Tiefe  von  je  100  Metern 
haben ;  diese  können  nur  durch  Massenmietshäuser  mit  Hofwohnungen 
bebaut  werden.  Wird  jede  Straße  schablonenmäßig  22  Meter  breit 
bemessen,  so  werden  die  Mäuser  allgemein  22  Meter  =  fünf  Ge- 
schosse hoch  gebaut  und  der  Preis  des  Bodens  erhöht  sich  ent- 
sprechend dem  Werte  der  fünffachen  Uberbauung.  Diese  Par- 
zellierungsweise hat  ferner  die  notwendige  Wirkung,  daß  die  Zahl 
der  Grundstücke  außer  allem  Verhältnis  zu  der  Zahl  der  Bevölke- 
rung gebracht,  der  Monopolwert  des  Bodens  gesteigert  und  ein 
Stand  von  nur  nominellen  Hausbesitzern  gebildet  wird.  Eine  Un- 
zahl von  weiteren  zwingenden  Folgen  für  die  Preisbildung  der  Boden- 
werte und  der  Wohnungsmieten,  für  die  politischen  und  wirtschaft- 
lichen Verhältnisse  der  städtischen  Bevölkerung,  für  die  Wohnungs- 
produktion und  die  Wohnungszustände  knüpft  sich  an  die  Parzellierung. 
—  Die  der  vorerwähnten  entgegengesetzte  Bodenparzellicrung 
besteht  darin,  daß  die  Straßen  in  unterschiedlichen  Abmessungen  an- 
gelegt werden;  z.  B.  in  einem  Abstand  von  50 — 90  Metern  und  in 
einer  Breite  von  9 — 12  Metern  für  Wohnzwecke.  Es  entstehen 
alsdann  Grundstücke  von  25 — 45  Metern  Tiefe,  die  mit  2  bis  3 
Wohngeschossen  bebaut  werden.  Die  nächsten  Folgen  sind: 
niedrige  (nicht  künstlich  getriebene)  Bodenpreise,  Differenzierung 
der  Bodenwerte  für  den  Kleinwohnungsbau,  realer  Hausbesitz  und 
bessere  Wohnungen.  Die  Wirkungen  der  beiden  Parzellierungs- 
formen habe  ich  in  den  im  Anhang  beigefügten  Skizzen  veran- 
schaulicht. 

In  der  Mehrzahl  der  deutschen  Großstädte  sind  nun  die  Be- 
bauungspläne in  der  Weise  gehandhabt  worden,  daß  durch  Straßen- 


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Gesetzgebung. 


anläge  und  Parzellierung  die  schlimmste  Boden-  und  Häuser- 
spekulation zur  Herrschaft  gebracht  wurde.  An  dieser  Stelle  greift 
der  Gesetzentwurf  ein,  und  zwar  mit  einer  seiner  wichtigsten  Be- 
stimmungen. Der  Gesetzentwurf  schreibt  vor,  daß  bei  der  Auf- 
teilung des  Baugeländes  das  Wohnungsbedürfnis  berücksichtigt 
werde  und  daß  für  Wohnungszwecke  Straßen  von  geringer  Breite  und 
Baublöcke  von  geringer  Tiefe  geschaffen  werden  sollen.  Mit  dieser 
Bestimmung  —  sagt  der  Entwurf  —  soll  dem  Gebrauch  entgegen- 
getreten werden,  vorwiegend  tiefe  Baublöcke  bei  wenigen  über- 
mäßig breiten  Straßen  vorzusehen,  wodurch  das  Bestreben  gefordert 
wird,  durch  Errichtung  großer  Massenmietshäuser  die  Preise  der 
Grundstücke  in  die  Höhe  zu  treiben.  — 

Von  großer  Bedeutung  für  das  Wohnungswesen  ist  die  recht- 
zeitige und  ausgiebige  Bereitstellung  neuen  Baulandes,  dessen 
Aufschließung  durch  Anlage  von  Straßen  erfolgen  muß.  Auch  hier 
bringt  der  Gesetzentwurf  eine  wesentliche  und  notwendige  Neuerung. 
Hinsichtlich  des  Straßenbaus  sollen  die  Ortsbehörden  die  Befugnis 
erhalten,  mit  Rücksicht  auf  das  Wohnungsbedürfnis  die  Fertig- 
stellung von  Straßen  und  Straßenteilen  zu  verlangen.  Damit  wäre 
ein  schwerer  Mißstand  beseitigt,  der  darin  besteht,  daß  heute  viel- 
fach mit  der  Straßenaufschließung  ganz  zurückgehalten  oder  nur  das- 
jenige Gelände  aufgeschlossen  wird,  an  dem  gewisse  Grund- 
besitzer ein  Interesse  haben. 

2.  Die  zweite  Gruppe  von  Maßnahmen  bezieht  sich  auf  die 
Baupolizeiordnungen.  Der  Gesetzentwurf  will  für  die  Befugnis  der 
Baupolizeibehörden,  durch  Bauordnungen  die  Ausnutzung  der  einzelnen 
Grundstücke  zu  regeln,  eine  feste  Grundlage  geben.  Nach  dem  Ent- 
würfe kann  durch  die  Bauordnungen  insbesondere  geregelt  werden : 
die  Abstufung  der  baulichen  Ausnutzbarkeit  der  Grundstücke  nach 
Zonen  oder  Bezirken  (Beschränkungen  der  Ausnutzbarkeit  des  Grund 
und  Bodens  hinsichtlich  der  bebaubaren  Fläche  und  der  Stockwerk- 
zahl); die  Ausscheidung  besonderer,  von  den  Wohnstraßen  und 
Wohnvierteln  getrennter  Straßen  und  Viertel  für  die  Errichtung 
von  Anlagen,  die  durch  Lärm,  Rauch  und  durch  die  Art  des  Be- 
triebes Belästigungen  der  Wohnbevölkerung  herbeiführen  (Fabrik- 
und  Industrieviertel). 

3.  Die  dritte  Materie  betrifft  die  unmittelbare  Förderung  des 
Baues  von  Kleinwohnungen.  Hier  handelt  es  sich  darum,  die  be- 
sonderen Bedürfnisse  des  Kleinwohnungswesens  zu  berücksichtigen 
und  durch  praktische  Maßnahmen  die  notwendige  Steigerung  in 


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Rudolf  Eberstadt,  Entwurf  eines  preuöischen  Wohnungsgesetzes,      j g 5 

der  Produktion  von  Kleinwohnungen  herbeizuführen.  Für  den  Klein - 
Wohnungsbau  sollen  deshalb  gewisse  Begünstigungen  gewährt  werden 
hinsichtlich  der  Kanalisationsbeiträge,  des  Wasserbezugs,  der  Bau- 
polizeigebühren und  der  Besteuerung.  Die  entsprechenden  Abgaben 
sollen  nur  zu  einem  Teil  —  höchstens  zu  drei  Vierteln  —  er- 
hoben werden,  wenn  sie  solche  Wohnungen  belasten,  die  nach 
ihrer  Anlage  den  minder  bemittelten  Familien  dienen.  Als  solche 
Wohnbauten  sind  anzusehen  die  Gebäude  der  gemeinnützigen  Bau- 
vereinigungen,  d.  h.  solcher  Vereinigungen,  bei  denen  satzungs- 
gemäß der  zu  verteilende  Jahresgewinn  auf  4°/0  beschränkt  ist. 

Dieser  Grundsatz  erfahrt  nun  weiterhin  eine  ebenso  berechtigte 
wie  erwünschte  Ausdehnung.  Die  gleichen  Begünstigungen  in  der 
Abgabenberechnung  sollen  gewährt  werden  für  die  Wohngebäude 
der  Arbeiter  und  Handwerker,  die  von  den  Besitzern  selbst 
und  höchstens  noch  zwei  Familien  gleichen  Standes  bewohnt  werden. 
Hierdurch  erleichtert  der  Entwurf  in  einer  glücklich  gewählten  Kom- 
bination zugleich  den  Eigenbau  und  die  Herstellung  kleiner 
Mi  ets  wo h  n  u  n ge n.  Obne  Zweifel  wird  hiermit  ebensosehr  auf 
die  Besserung  der  Grundbesitzverhältnisse  wie  auf  die  des  Klein- 
wohnungswesens hingewirkt.  Eine  praktische  Bedeutung  kann  diese 
sozialpolitisch  äußerst  wichtige  Bestimmung  allerdings  erst  dann 
haben,  wenn  durch  die  unter  Ziffer  1  erwähnten  Maßnahmen  (An- 
lage von  Straßen  mit  kleineren  Baublöcken  und  entsprechend 
billigeren  Bodenpreisen)  die  Möglichkeit  zur  Schaffung  der  ent- 
sprechenden Grundstücke  gegeben  ist. 

4.  Die  vierte  Gruppe  von  Vorschriften  endlich  enthält  die 
hygienischen  Bestimmungen ;  sie  handeln  von  der  Wohnungsaufsicht, 
von  der  Festsetzung  eines  Mindestluftraums,  vom  Schlafstellenwesen 
und  den  dazu  gehörigen  Materien.  Für  Gemeinden  mit  100 000  und 
mehr  Einwohnern  soll  zur  Handhabung  der  Aufsicht  ein  Wohnungs- 
amt errichtet  werden. 

Der  preußische  Wohnungsgesetzentwurf  stellt  sich  durch  diese 
teils  neuen,  teils  ergänzenden  Bestimmungen  als  eine  bedeutsame 
Verwaltungsmaßnahme  dar,  die  unter  richtiger  Anpassung  an  die 
gegebenen  Verhältnisse,  die  Möglichkeit  für  eine  gesunde  und 
sozialpolitisch  notwendige  Fortentwicklung  des  städtischen  Wohnungs- 
wesens zu  schaffen  sucht.  Inwiefern  der  Entwurf  den  Anforderungen 
an  die  Reform  der  städtischen  Boden-  und  Wohnungspolitik  ent- 
spricht soll  im  folgenden  erörtert  werden. 


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Gesetzgebung. 


III.  Die  Ziele  der  Wohnungsreform. 

Drei  hauptsächliche  Ziele  hat  sich  die  Bearbeitung  der  städti- 
schen Bodenverhältnisse  zu  setzen:  die  sozialpolitisch  richtige  Auf- 
teilung des  Bodens,  die  wirtschaftsgemäße  Ordnung  des  Realkredits, 
die  Handlungsfreiheit  der  Selbstverwaltung.  Bodenaufteilung, 
Realkredit,  Selbstverwaltung  —  das  sind  die  drei  Richt- 
punkte, nach  denen  sich  die  gewaltige  und  vielverzweigte  Arbeit 
der  städtischen  Bodenpolitik  zu  bewegen  hat.  Prüfen  wir  nun  den 
preußischen  Entwurf  darauf,  ob  er  für  diese  drei  Gebiete  das  Er- 
forderliche leistet. 

Hinsichtlich  der  Bodenaufteilung  vertritt  der  Entwurf  die 
Anschauungen,  die  in  der  Fachwissenschaft  heute,  ich  darf  sagen, 
ohne  Ausnahme  anerkannt  sind.  Im  Anschluß  an  die  kurzen 
Erörterungen  oben  S.  183  kann  ich  mich  hier  auf  den  Hinweis 
beschränken,  daß  die  Bodenaufteilung  entscheidend  ist  für  die 
politische,  wirtschaftliche  und  soziale  Entwicklung  des  städtischen 
Wesens.')  Die  Mittel,  die  der  Entwurf  vorschlägt,  um  auf 
diesem  Gebiet  den  krassen  Schäden  des  Spekulationsbesitzes 
entgegenzutreten ,  sind  die  richtigen.  Die  Interessen  der  Ge- 
meinde, der  Gesamtbevölkerung  und  des  soliden  Grundbesitzes 
stimmen  hier  überein.  —  Zu  erwähnen  bleibt  noch,  daß  in 
dieser  Frage  auch  in  der  Stellung  der  (gewerbsmäßigen)  Haus- 
besitzer eine  erfreuliche  und  überraschende  Wendung  eingetreten 
ist  In  einem  von  dem  Zentralverband  der  Haus-  und  Grund- 
besitzervercine  Deutschlands  herausgegebenen  Veröffentlichung  (Ver- 
fasser A.  Grävell)  wird  in  entschiedenster  Weise  und  in  den  schärf- 
sten Ausdrücken  der  spekulative  Hausbesitz  und  die  ihn  begünsti- 
gende Bodenparzellierung  bekämpft  und  als  der  Verderb  eines 
selbständigen  und  soliden  Hausbesitzerstandes  bezeichnet.  Als  die 
auch  im  Interesse  des  Hausbesitzerstandes  zu  verlangende  Haus- 
form wird  gefordert  das  Bürgerhaus,  das  in  der  genannten  Schrift 
definiert  wird  als  ein  bürgerliches  Miethaus  für  vier  bis  sechs,  im 
Höchstfalle  für  acht  Familien.2) 

Mit  welchen  Mitteln  und  in  welcher  Entwicklung  die  Boden- 
und  Häuserspekulation  sich  in  Deutschland,  insbesondere  in  Preußen, 

')  Vgl.  noch  meine  Rheinischen  Wohnverhältnisse  S.  10 1. 
•)  Vgl.  die  Anzeige  des  Grävcllschen  Buches  in  Schmollers  Jahrbuch  Bd.  26 
Heft  3  S.   1333  ff. 


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Rudolf  Eberstadt,  Entwurf  eines  preußischen  Wohnungsgesetzes.  187 

herausgebildet  hat,  ist  an  dieser  Stelle  nicht  zu  schildern.  Hervor- 
zuheben ist  indes,  daß  auch  heute  die  Form  des  realen  Haus- 
besitzes mit  ihren  günstigen  Folgen  für  das  Wohnungswesen  noch 
in  einem  großen  Teile  Deutschlands  vorherrscht;  es  ist  dies  der 
Fall  in  dem  westlichen  und  nordwestlichen  Gebiet,  das  abgegrenzt 
wird  durch  eine  etwa  von  Bremen  bis  Koblenz  gezogene  Linie  und 
dessen  Mittelpunkt  das  Rheinland  mit  den  Städten  Elberfeld,  Düssel- 
dorf und  Krefeld  bildet.  Hier  hat  sich  unsere  alte  deutsche  Bau- 
weise ohne  Eingriffe  und  Unterbrechungen  bis  zur  Gegenwart  fort- 
entwickelt und  die  Bauformen  geschaffen,  die  für  die  Bearbeitung 
unseres  Wohnungswesens  allgemein  als  Vorbild  dienen  können. 
Das  Studium  der  Rheinischen  und  Bremer  Wohnverhältnisse  zeigt, 
daß  sich  nur  durch  Ausbildung  selbständiger  Formen  für  den  Klein- 
wohnungsbau günstige  Wohnungszustände  erzielen  lassen.  Als  der 
leistungsfähigste  Typus  ist  wohl  das  Vierfamilienhaus  zu  bezeichnen, 
das  in  rasch  anwachsenden  Großstädten  Kleinwohnungen  in  ge- 
nügender Zahl  und  guter  Beschaffenheit  zu  liefern  vermag. 

Hinsichtlich  des  Realkredits  sucht  der  Entwurf  nur  indirekt 
einzuwirken,  indem  er  Begünstigungen  vorsieht  einerseits  für  die 
gemeinnützige  Bautätigkeit,  andererseits  —  was  besonders  wertvoll 
—  für  das  kleine  Arbeitermiethaus.  Hierdurch  wird  die  Bautätig- 
keit in  zwei  bedeutsamen  Richtungen  —  dir  die  Baugenossen- 
schaften und  für  den  Bau  von  Dreifamilienhäusern  —  erleichtert. 
Eine  allgemeine  Regelung  des  Realkredits  wird  jedoch  in  dem  Ent- 
wurf nicht  angebahnt,  obwohl  zu  einem  gesetzgeberischen  Vorgehen 
auf  diesem  Gebiet  eine  unabweisbare  Notwendigkeit  vorliegt. 

Die  grundlegende  Bedeutung,  die  unseren  Institutionen 
des  Realkredits  für  die  Bodenentwicklung  zukommt,  ist  erst 
neuerdings  hervorgehoben  worden.  Die  Gestaltung  unserer  Boden- 
verhältnisse hängt  in  hohem  Maße  ab  von  den  öffentlichen  Einrich- 
tungen für  die  Belastung  des  Bodens,  für  das  Grundbuchwesen  und 
das  Hypothekenwesen.  Die  in  Deutschland  hier  herrschenden  Zu- 
stände zeigen  zunächst  äußerlich  betrachtet  einen  auffalligen  Wider- 
spruch. Das  Kapital  fließt  jahraus  jahrein  in  ungezählten  Mengen 
dem  Boden  zu;  zugleich  aber  ist  die  Klage  allgemein,  daß  für  pro- 
duktive Zwecke  Kapital  schwierig  und  in  unzureichender  Weise  er- 
hältlich ist.  Das  Baugewerbe  ist  allgemein  abhängig  von  den 
spekulativen  Interessen  des  Bodenbesitzers,  der  in  der  Frage  der 
Kapitalbeschaffung  die  ausschlaggebende  Stelle  inne  hat.    Für  den 


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Gesetzgebung. 


privaten  gemeinnützigen  Wohnungsbau  müssen  wir  uns  das  Geld  mit 
den  größten  Schwierigkeiten  beschaffen.  Der  Staat  endlich  muß  jähr- 
lich öffentliche  Gelder  hergeben,  um  nur  die  Tätigkeit  der  Beamten- 
Baugenossenschaften  zu  ermöglichen.  Auf  der  andern  Seite  aber 
wird  durch  unsere  Volkswirtschaft  jedes  Jahr  die  gewaltige  Summe 
von  vier  Milliarden  für  die  Kapitalisierung  des  Bodens  tatsächlich 
aufgebracht.  Auf  der  einen  Seite  Übersättigung;  auf  der  anderen 
Seite  Kapitalschwicrigkeit  und  Mangel.  —  Soweit  für  diese  Entwick- 
lung verwaltunjjsrechtliche  Ursachen  in  Frage  kommen,  liegen  sie  in 
unsern  Einrichtungen  für  die  Kapitalisierung  des  Bodens,  für  das 
Grundbuch-  und  Hypotheken wesen.  Unsere  grundbuchlichen  Ein- 
richtungen —  nach  der  formalen  Seite  die  vollendetsten  in  irgend 
einem  Lande  der  Welt  —  leisten  nach  der  materiellen  Seite  das 
Gegenteil  dessen,  was  sie  leisten  sollen ;  sie  dienen  der  Spekulation 
und  der  unproduktiven  Kapitalverwendung,  während  das  Produktiv- 
kapital zurückgesetzt  wird. 

Wie  die  preußische  Gesetzgebung  über  Wohnungswesen  und 
Städtebau,  so  hat  auch  die  Hypothekengesetzgebung  ihre  Geschichte, 
ohne  deren  Kenntnis  die  heutigen  Zustände  nicht  verständlich  sind. 
Eine  genauere  Darstellung  in  dem  vorliegenden  Zusammenhange  zu 
geben,  ist  nicht  möglich ;  doch  möchte  ich  meinen  an  anderer  Stelle 
veröffentlichten  Untersuchungen  hier  noch  einiges  hinzufügen. 

Unsere  Einrichtungen  für  das  Grundbuch-  und  Hypotheken- 
wesen sind  deutschrechtlich.  Sie  entstammen  der  ersten  Periode 
unseres  Städtebaus,  die  die  deutschen  Einrichtungen  für  die  Kapi- 
talisierung des  Bodens  geschaffen  hat  (s.  oben  S.  1 74).  Der  leitende 
Grundsatz  des  deutschen  Rechts  aber  war:  rechtliche  Trennung  von 
Boden  und  Bauwerk.  Die  Werte,  die  Kapital  und  Arbeit  schufen, 
durften  sich  nicht  vereinigen  mit  dem  Recht  des  Bodenbesitzers. 
Hierdurch  wurden  Kapital  und  Arbeit  in  ununterbrochenem  Strom 
dem  Boden  zugeführt  und  in  einer  kapitalarmen  Wirtschaft  wurde 
die  intensivste  Bodenkultur  ermöglicht.1)  Mit  dem  Eindringen  des 
römischen  Rechts  gelangte  allmählich  die  der  deutschen  entgegen- 
gesetzte römische  Auffassung  zur  Geltung:  superficies  solo  cedit; 
was  auf  dem  Boden  steht,  wächst  dem  Boden  zu.  Auch  auf  anderen 
Gebieten  des  Immobiliarvcrkehrs  drangen  seit  dem  sechzehnten 
Jahrhundert  die  römischrechtlichen  Auffassungen  durch;  sie  führten 
indes  zu  unhaltbaren  Zuständen  im  Realkredit.    In  Preußen  kmff 

')  Rheinisrhr  Wohnverhältnisse  S.  105  f. 


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Rudolf  Ebcrstadl,  Entwurf  eines  preußischen  Wolinungsgcsctzes.      1 89 


man  deshalb  unter  Friedrich  I.  und  Friedrich  Wilhelm  I.  auf  die 
Einrichtungen  der  deutschen  Grundbücher  zurück,  deren  Anlage 
durch  eine  Reihe  von  Edikten  geregelt  wurde.  Nach  der  Durch- 
führung der  Justizreform  Friedrichs  des  Großen  wurde  am  20.  De- 
zember 1783  eine  neue  Hypothekenordnung  eingeführt,  deren  Vor- 
trefflichkeit  allgemein  anerkannt  war,  und  die  in  ihren  Grundzügen 
im  wesentlichen  unverändert  bis  zum  Jahre  1872  bestanden  hat. 

Der  neue,  für  uns  bemerkenswerteste  Abschnitt  in  der  Ent- 
wicklung des  Bodenkredits  beginnt  mit  der  Grundbuchordnung  vom 
3.  Mai  1872.  Ihr  ausgesprochenes  —  und  berechtigtes  —  Ziel 
war,  den  Realkredit  der  Beweglichkeit  des  Kapitals 
anzupassen.  Das  Studium  der  Landtags  vorlagen,  Berichte  und 
Verhandlungen  über  diese  in  die  wirtschaftlichen  Verhältnisse  tief 
eingreifende  Maßnahme  bietet  noch  heute  ein  hervorragendes 
Interesse.  Die  Reform  des  Hypothekenwesens  wurde  damals  von 
der  Landwirtschaft  fast  in  noch  höherem  Maße  gefordert,  als  von 
den  Städten.  Man  glaubte  durch  Erleichterung  des  Hypotheken- 
verkehrs und  der  Bodenbelastung  eine  stärkere  Zufuhr  des  Pro- 
duktivkapitals zu  erreichen.  Den  Fehler,  in  den  man  dabei  ver- 
fiel, bestand  darin,  daß  man  das  staatliche  Grundbuch  unter- 
schiedslos für  jede  Bodenbelastung  zur  Verfügung  stellte,  gleich- 
viel ob  die  Beträge  aus  produktiven  Aufwendungen  oder  aus  un- 
produktiven Ansprüchen  herrührten. 

Das  hieraus  folgende  Ergebnis  der  preußischen  Grundbuchreform 
wird  von  den  juristischen  Praktikern  in  der  Formel  zusammengefaßt: 
je  besser  das  Grundbuch,  je  höher  die  Verschuldung. 
Mir  scheint  indes,  eine  solche  Folge  liegt  durchaus  nicht  in  der 
Natur  der  grundbuchlichen  Einrichtungen.  Im  Gegenteil,  die  bessere 
Anlage  des  Grundbuchs  muß  eigentlich  zu  einer  verhältnismäßig 
niedrigeren  Verschuldung  führen ,  wenn  die  Grundgedanken,  auf 
denen  die  Institution  beruht,  berücksichtigt  werden.  Das  ist  aber 
hier  nicht  geschehen.  Die  preußische  Grundbuchreform  von  1872 
beseitigte  jede  Beschränkung  in  der  Eintragung  von  Hypotheken, 
ohne  Rücksicht  auf  das  Produktivkapital,  das  man  eigentlich  heran- 
ziehen wollte  und,  was  vielleicht  noch  schlimmer  ist,  ohne  Rücksicht 
auf  die  ungeheure  wirtschaftliche  und  soziale  Wirkung  der  öffentlich- 
rechtlichen  grundbuchlichen  Einrichtungen.  Ich  habe  diese  Ver- 
hältnisse und  ihre  Folgen  an  anderer  Stelle  genauer  untersucht ') ; 

')  Der  deutsche  Kapitalmarkt,  S.  219  fr. 


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i9o 


Gesetzgebung. 


hier  möchte  ich  nur  einen  bemerkenswerten  Ausspruch  verzeichnen, 
der  von  dem  Abgeordneten  Reichensperger  (Olpe)  während 
der  Verhandlungen  über  die  Grundbuchordnung  von  1872  getan 
wurde:  „Das  kann  man  freilich  machen,  das  heißt  aber  Aufgeben 
alles  materiellen  Rechtsprinzips,  —  es  heißt,  die  Idee,  die 
in  allen  Gesetzgebungen  ihren  Ausdruck  gefunden  hat,  ver- 
leugnen, —  es  heißt,  das  System  des  Wechselrechts  generali- 
sieren". 

Die  Auffassung  ist  richtig;  aber  der  Vergleich  mit  dem 
Wechselrecht  trifft  nicht  zu,  da  er  gerade  den  Hauptunterschied 
nicht  hervorhebt.  Der  Staat  hat  keinerlei  Einrichtungen  ge- 
schaffen, um  die  Valuta  eines  Wechsels  zu  garantieren;  der 
Staat  übernimmt  keinerlei  Bürgschaft,  daß  der  Wert,  den  der 
Akzeptant  zu  zahlen  verspricht,  überhaupt  irgendwie  vorhanden 
ist.  Anders  dagegen  bei  den  grundbuchlichen  Einrichtungen.  Hier 
schützt  der  Staat  den  Rang  und  das  Objekt  der  grundbuch- 
lichen Forderung;  aber  er  gibt  jetzt  diese  Garantie  ohne  jede 
Prüfung  des  zugrunde  liegenden  Rechtsgeschäfts.  Darin  liegt  ge- 
wiß eine  Anomalie.  Man  wird  kein  zweites  Gebiet  zu  nennen 
wissen,  auf  dem  der  Staat  Einrichtungen  von  größter  Trag- 
weite geschaffen  hat,  um  die  Sicherheit  einer  Forderung  zu  ver- 
bürgen, deren  Ursprung  er  weder  kennt  noch  prüft.  Heute  ge- 
währt der  Staat  das  folgenschwere  Recht  der  grundbuchlichen 
Sicherheit  ohne  Rücksicht  auf  das  Rechtsgeschäft,  das  der  hypothe- 
karischen Forderung  zugrunde  liegt.  In  diesen  Formen  vollzieht 
sich  eine  der  vornehmsten  Äußerungen  staatlicher  Tätigkeit  in 
unserem  Wirtschaftsleben. 

Für  den  städtischen  Bodenkredit  entsteht  hier  einer  der 
schwersten  Mißstände,  der  sich  nur  beseitigen  läßt  durch  die  Trennung 
der  Hypotheken  in  Meliorationshypotheken  und  einfache  Boden- 
schulden. Die  grundbuchliche  Belastung  des  Bodens  für  produk- 
tive und  Kulturzwecke  muß  durchaus  getrennt  bleiben  von  der  Be- 
lastung für  unproduktive  und  sterile  Zwecke.  Unser  heutiges  Grund- 
buchsystem gibt  in  einer  Weise,  wie  dies  in  keinem  andern  Lande 
bekannt  ist,  der  Spekulation  die  Verfügung  über  die  Entwicklung 
der  Bodenwertc.  Unter  den  gegenwärtigen  Verhältnissen  dient  der 
durch  die  Bebauung  und  Bodenkultur  geschaffene  Wert  in  erster 
Linie  dazu,  den  rein  spekulativen  Forderungen  Konsistenz  zu 
verleihen  und  sie  realisierbar  zu  machen;  ermöglicht  wird  dies 
durch   die  Verschmelzung   von   Spekulationsgewinn   und  produk- 


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Rudolf  Eberstadt,  Entwurf  eines  preußischen  Wohnungsgesctzes.      | g \ 


tiver  Aufwendung  bei  der  hypothekarischen  Belastung  der  Grund- 
stücke. *) 

Eine  grundsätzliche  Regelung  der  Hypothekengesetzgebung 
ist  Reichssache.*)  Indes  könnte  Preußen  auch,  nach  den  Be- 
stimmungen des  Einführungsgesetzes  zum  Bürgerlichen  Gesetzbuch, 
selbständig  vorgehen,  wozu  der  Wohnungsgesetzentwurf  den  ge- 
gebenen Anlaß  bietet. 

Es  ist  bekannt  und  offenkundig,  daß  der  von  den  Hypotheken- 
banken erhältliche  Bodenkredit  versagt  sowohl  für  den  gemein- 
nützigen Wohnungsbau  wie  auch  allgemein  für  den  nichtspeku- 
lativen Klein  Wohnungsbau.  Gerade  für  das  Wohnungsbedürfnis  der 
Kreise,  auf  die  sich  der  neue  Wohnungsgesetzentwurf  bezieht,  fehlt 
es  an  zureichendem  Realkredit. 3)  Gegen  den  Wert  und  die 
Leistungen  unserer  Hypothekenbanken  soll  damit  nichts  gesagt 
werden;  die  Banken  sind  indes  durch  ihren  ganzen  Apparat  mit 
dem  spekulativen  Bodengeschäft  eng  verknüpft  und  auf  die  hieraus 
hervorgehenden  Gewinne  und  Verdienste  zugeschnitten.  Die  ein- 
fache Form  des  Realkredits,  dessen  das  Klein  Wohnungswesen  be- 
darf, ist  nicht  Sache  unserer  Hypothekenbanken.  Wir  brauchen 
neben  unseren  Hypothekenbanken  reine  Realkreditinstitute,  die  nach 
geschäftlichen  Grundsätzen,  aber  doch  mit  einem  wesentlich  ein- 
facheren Apparat  einen  billigen  Realkredit  für  den  städtischen 
Häuserbau  vermitteln  und  auf  die  Tilgung  der  Bodenschulden  hin- 
wirken sollen.  Das  Großherzogtum  Hessen  hat  zu  diesem  Zweck 
durch  die  treffliche  wirtschaftspolitische  Gesetzgebung  des  Jahres 
1902  eine  Hypothekenbank  mit  staatlichen  und  öffentlichen  Mitteln 
ins  Leben  gerufen.4)    Für  die   preußischen   Verhältnisse  müßte 

l)  Wegen  der  Einzelheiten  s.  meinen  Kapitalmarkt  S.  264.  —  Vgl.  hierzu  eine 
jüngst  veröffentlichte  Studie  von  Carl  Joh.  Euchs  (Zeitschrift  für  Wohnungswesen 
10.  Febr.  19x14  S.  Ii 3),  die  in  anregender  Weise  die  von  mir  behandelten  Fragen 
einer  kritischen  Erörterung  unterzieht.  Die  in  meinen  Schriften  aufgestellte  Scheidung 
lautet  indeß :  Meliorationshypothek  und  einfache  Bodcnschuld  ;  nicht  Spekulations- 
hypothek, wie  in  der  Überschrift  des  F.schen  Artikels  gesagt  ist. 

*)  Es  wäre  erfreulich,  wenn  der  Verein  Reichswohngesetz  dieser  Frage 
seine  Tätigkeit  widmen  wollte. 

•)  Vgl.  M.  Brandts,  Soziale  Praxis  XI.  Jahrgang  1901,  S.  138.  Zahlreiche 
Belege  für  die  hier  behandelten  Verhältnisse  gibt  die  von  Prof.  Alb  recht  heraus- 
gegebene Zeitschrift  für  Wohnungswesen  im  einzelnen. 

*)  Vgl.  Ministerialrat  Braun,  Die  wirtschaftspolitische  Gesetzgebung  des  Groli- 
herzogtums  Hessen  im  Jahre  1902.  Darrnstadt  1902,  und  meine  Anzeige  Preuß. 
Jahrbücher  1903.  Bd.  in,  Heft  1,  S.  142. 


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192 


Gesetzgebung. 


eine  solche  Anstalt  auf  breiterer  Grundlage  und  ohne  oder  doch 
ohne  größere  Beanspruchung  öffentlicher  Gelder  errichtet  werden. 
Der  gegebene,  nach  der  bestehenden  Gesetzgebung  gangbare  Weg 
wäre  die  Schaffung  eines  öffentlichen  Hypothekeninstituts  mit  dem 
Vorrecht  —  das  eigentlich  das  gemeine  Recht  sein  müßte  —  der 
sog.  Meliorationsdarlehen;  d.  i.  der  Darlehen,  die  für  die  Besserung 
eines  Grundstücks  gegeben  werden. 

Durch  Artikel  118  des  Einführungsgesetzes  zum  B.G.B,  wird 
der  Landesgesetzgebung  das  Recht  vorbehalten,  zugunsten  von 
Meliorationsdarlehen  einen  grundbuchlichen  Vorrang  zu  schaffen. 
Dieser  Vorrang  kann  gewährt  werden  einer  öffentlichen 
Anstalt  wegen  eines  zur  Verbesserung  des  belasteten  Grundstücks 
gegebenen  Darlehens.1)  Die  Errichtung  eines  solchen  Instituts,  das 
die  Förderung  des  Kleinwohnungsbaus  allgemein  zum  Ziele  nimmt, 
ist  an  sich  notwendig.  Doch  könnten  für  die  Ausstattung  des  In- 
stituts in  Preußen  nicht  lediglich  oder  auch  nur  vorzugsweise  öffent- 
liche Mittel  in  Frage  kommen.  Einer  solchen  Anstalt  würde  vielmehr, 
bei  Verleihung  des  Vorrechts  der  Meliorationsdarlehen,  Privatkapital 
reichlich  zufließen;  sie  würde  dem  privaten  und  genossenschaft- 
lichen Klcinwohnungsbau  den  erforderlichen  Realkredit  billig  liefern ; 
sie  würde  (gleich  der  hessischen  Anstalt)  nur  Amortisationsdarlehen 
geben  und  dadurch  auf  die  Entschuldung  hinwirken,  während  heute 
die  Schuldentilgung  von  den  gewerbsmäßigen  Hausbesitzern  grund- 
sätzlich *)  abgelehnt  und  der  Boden  mit  einer  steigenden  und  untilg- 
baren Verschuldung  belastet  wird. 

An  dritter  Stelle  haben  wir  die  Beziehungen  zur  Selbst- 
verwaltung zu  betrachten  und  ich  möchte  vorweg  bemerken, 
daß  mir  die  Wirkung  des  Entwurfs  auf  die  kommunale  Selbstver- 


')  Der  Artikel  118  Einiges.  B.G.B,  lautet  wörtlich:  „Unberührt  bleiben  die 
landesgesetzlichen  Vorschriften,  welche  einer  Geldrentc,  Hypothek,  Grundschuld  oder 
Kentonschuld,  die  dem  Staate  oder  einer  üflentlichcn  Anstalt  wegen  eines  zur  Ver- 
besserung des  belasteten  Grundstücks  gewährten  Darlehns  zusteht,  den  Vorrang  vor 
anderen  Belastungen  des  Grundstücks  einräumen."  In  den  Wirkungen  der  Ver- 
besserung besteht  kein  grundsätzlicher  Unterschied  zwischen  ländlichen  und  städtischen 
Grundstücken.  Der  leitende  Gesichtspunkt  ist,  daß  durch  die  Bodenbesserung  eine 
Wertsteigerung  des  Grundstücks  bewirkt  wird,  so  daß  der  zurücktretende  Gläubiger 
keine  Einbuße  an  seiner  Sicherheit  erleidet,  während  zugleich  durch  Amortisation 
für  die  Abtragung  der  Meliorationshypothek  gesorgt  wird. 

*)  S.  meinen  Kapitalmarkt  S.  256  f. 


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Rudolf  Ellerstadt,  Entwurf  eines  prculiischt-n  NVohnungsgcsi'tzcs.  193 


waltung  als  die  wichtigste  und  bedeutsamste  von  allen  erscheint. 
Die  wesentliche  Frage  geht  dahin,  ob  der  Entwurf  die  Wirkung 
hat,  die  Aktionsfähigkeit  der  Selbstverwaltung  zu  stärken  oder 
zu  schwächen. 

Die  Grundlage  der  staatlichen  Zustände  sind  immer  und  überall 
die  kommunalen.  Für  Preußen  liegt  eines  der  ernstesten  Probleme 
darin,  daß  es  nicht  gelungen  ist,  die  kommunale  Selbstverwaltung 
mit  der  Staatsvenvaltung  organisch  zu  verschmelzen.  Daß  die  Schuld 
den  Staat  trifft,  wird  niemand  behaupten  können,  der  die  Entwick- 
lung verfolgt  hat.  Seit  dem  Erlaß  der  Steinschen  Städteordnung 
bis  zu  der  letzten  Behördenorganisation  hat  der  Staat  nicht  aufge- 
hört, der  Selbstverwaltung  Befugnisse  zu  übertragen  und  ihr  Ge- 
biete zuzuweisen,  auf  denen  sie  ihre  Tätigkeit  entfalten  konnte. 
Vielleicht  auf  keinem  zweiten  Gebiet  aber  ist  dies  in  solchem  Umfang 
geschehen,  wie  im  Wohnungswesen  und  Städtebau.  Das  Bauflucht- 
liniengesetz von  1875  darf  man  wohl  als  eine  „magna  Charta  liber- 
tatum"  bezeichnen,  die  der  Selbstverwaltung  die  Herrschaft  über 
den  gesamten  Städtebau  übertrug;  und  dieser  Freibrief  ist  den 
Städten  —  anders  wie  einst  die  Steinsche  Städteordnung  —  in  der 
günstigsten  Zeit  übergeben  worden,  in  einer  Periode  unvergleich- 
lichen städtischen  Wachstums  bei  fortwährendem  Steigen  der  Be- 
völkerungszahl, der  Grundrente,  der  Produktivität,  der  Steuerkraft  in 
den  Städten.  Trotz  der  Gunst  aller  dieser  Momente  ist  in  den 
meisten  unserer  Großstädte  eine  nach  der  politischen,  sozialen  und 
wirtschaftlichen  Seite  gleich  schlechte  Bodenentwicklung  herbei- 
geführt worden. 

Der  größte  Schaden  für  die  Selbstverwaltung  ist  die  vorbehalt- 
lose Überlassung  von  Befugnissen,  die  große  ökonomische  Werte 
und  Vorteile  in  sich  schließen.  Keine  Selbstverwaltung  ist  im- 
stande, sich  dann  auf  die  Dauer  intakt  und  aktionsfähig  zu  halten. 
Die  Vertreter  und  die  Mitglieder  der  Selbstverwaltung  haben  häufig 
genug,  insbesondere  im  Städtebau,  Interessen,  die  nicht  gleichbe- 
deutend sind  mit  denen  der  Gesamtheit  und  noch  weniger  mit  den 
Anforderungen  einer  vorbauenden ,  auf  die  künftige  EntNvicklung 
gerichteten  Politik.  Hier  bedarf  es  unbedingt  einer  Behörde,  die 
außerhalb  des  Drucks  der  wirtschaftlichen  Interessen  steht.  Das 
war  der  Standpunkt,  der  bei  den  Verhandlungen  über  das  Bauflucht- 
liniengesetz im  Jahre  1875  von  den  Regierungsvertretern  Minister 
Dr.  Achenbach  und  Geh.  Reg. -Rat  (gegemvärtig  Unterstaats- 
sekretär) Dr.  Schulz  —  dem  die  Ausarbeitung  des  Gesetzes  in 

Archiv  für  Soria!  wi^enscliaft  u.  Sozialpolitik.  I.    *A.  f.  «<•*.  G.  u.  St.  XIX.»  i.  «3 


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194 


Gesetzgebung. 


erster  Reihe  oblag  —  konsequent  und  mit  richtiger  Voraussicht 
eingenommen  wurde. 

Ihre  Anschauungen  fanden  an  einer  der  wesentlichsten  Stellen 
die  Unterstützung  eines  Abgeordneten,  der  in  der  Selbstverwaltung 
in  hervorragender  Weise  tätig  war.  Die  Worte  dieses  Mannes  ver- 
dienen um  so  mehr  der  Vergessenheit  entrissen  zu  werden,  als  sie 
in  ursprünglicher  Frische  wie  für  die  Gegenwart  gesprochen  er- 
scheinen : 

„Anders  liegt  die  Sache,  meine  Herren,  wenn  man 
eine  Staatsbehörde  hat,  welche  gegenüber  der  in  dem 
einzelnen  Falle  interessierten  Gemeinde  angerufen  werden  kann 
auch  von  jedem  einzelnen,  an  welche  sich  auch  der  einzelne  wenden 
kann,  um  sie  aufmerksam  zu  machen:  Hier  ist  der  Fehler,  er  muß 
korrigiert  werden,  sieh  einmal  nach  und  wenn  es  der  Fall  ist,  dann 
schlage  du  die  Wege  ein,  die  notwendig  sind.  Dann  haben  wir 
eine  gewisse  Garantie  gegen  unberechtigte  Forderungen  und  wenn 
man  furchtet,  daß  die  Behörde  geneigt  sei,  zu  weit  zu  gehen,  so 
haben  wir  einen  weiteren  Schutz  darin,  daß  die  Behörde  nicht 
durch  ihr  Resolut  die  Sache  erledigen  kann,  sondern  daß  dieselbe 
auf  den  Weg  der  ordentlichen  Instanzen  verwiesen  wird. 

Ich  begreife,  meine  Herren,  daß  die  Auffassung  in  diesem  Hause 
viele  Widersacher  findet,  aber  ich  begreife  es  nur  aus 
Gründen  des  Gefühls  und  nicht  aus  Gründen  des  Ver- 
standes. Sie  haben  alle  unter  der  Polizeiwirtschaft  der  Vergangen- 
heit mehr  oder  weniger  zu  leiden  gehabt.  Sie  stellen  sich  die 
Polizei  vor  als  eine  Einrichtung,  welche  eben  nur  dazu  berufen  ist, 
die  Menschen  zu  quälen  und  die  Gemeinden  zu  beunruhigen.  Ja, 
meine  Herren,  wenn  dieses  der  Zustand  wäre,  der  dauernd  herbei- 
geführt werden  sollte,  so  würde  ich  allerdings,  was  ich  neulich  die 
Gemeindet yrannei1)  nannte,  vorziehen  dieser  Polizeiwirtschaft. 
Aber,  meine  Herren,  ich  verstehe  in  der  Tat  nicht,  wie  man  sich 
so  anstellen  kann,  als  müsse  dieses  Wesen  fortbestehen,  als  müsse 
bei  einer  weiter  geordneten  Entwicklung  unserer  Verhältnisse  die 
Polizei  ewig  in  der  Situation  des  Peinigers,  und  nicht  vielmehr  in 
der  Situation  des  Helfers  sein." 

Man  wird  heute  vielleicht  nicht  gleich  erraten,  wer  diese  be- 
deutsamen Worte  in  einem  entscheidenden  Augenblick  gesprochen 

')  Der  Redner  hatte  den  Ausdruck  kurz  zuvor  mit  deutlicher  Atiwendung  auf 
Berlin  gebraucht. 


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Rudolf  Hb  er  Stadt,  Entwurf  eines  preußischen  Wohnungsgesclzcs.  195 

hat ;  es  war  kein  anderer  als  Rudolf  Virchow,  der  hier  den 
Beweis  lieferte,  daß  er  sich  nicht  durch  die  Parteischablone  binden 
ließ ;  seine  Gegner  waren  unter  den  eigenen  Parteigenossen,  die  eine 
unfähige  und  beschränkte  Politik  mit  dem  Schlagwort  Selbstverwal- 
tung zu  decken  suchten.  Virchow  war  kühn  genug,  ihnen  das  Wort 
entgegenzurufen:  die  Kommunaltyrannei  könne  schlimmer  sein  als 
die  Polizeityrannei. l)  —  Doch  Virchow  tat  in  dieser  Sache  noch 
weit  mehr.  Es  scheint  nicht  bekannt  zu  sein  —  wenigstens  habe 
ich  weder  in  dem  Wohnungsgesetzentwurf  noch  an  anderer  Stelle 
eine  Andeutung  darüber  gefunden  —  daß  auf  Virchows  Anregung 
die  Bestimmung  aufgenommen  bezw.  schärfer  gefaßt  wurde,  die  jetzt 
wieder  in  dem  neuen  Entwurf  eine  hervorragende  Rolle  spielt;  es 
ist  die  Vorschrift,  die  den  Begriff  des  öffentlichen  Interesses 
in  §  1  Absatz  1  und  2  des  Baufluchtliniengesetzes  hineinbringt  und 
seine  Wahrnehmung  der  Ortspolizeibehörde  überträgt. '-') 

Diese  Erinnerungen  dürften  für  die  Gegenwart  nicht  ohne  be- 
sonderen Wert  sein;  denn  die  alte  Konstellation  scheint  sich  zu 
wiederholen.  Die  Regierung  will  den  Begriff  des  wahrzunehmen- 
den öffentlichen  Interesses  im  Städtebau  weiter  fassen  und  das 
Wohnungsbedürfnis  mit  einschließen.  Diese  Ausdehnung  erfolgt  mit 
der  naturgemäßen  und  ausgesprochenen  Absicht,  die  Tätigkeit  und 
Aktionsfähigkeit  der  Selbstverwaltung  zu  erweitern;  wo  die 
Selbstverwaltung  aber  versagt,  soll  sie  —  ganz  wie  nach  dem 
Virchowschen  Antrage  —  durch  die  Aufsichtsbehörde  zum  Handeln 
angewiesen  werden.  Eine  Erfahrung  von  dreißig  Jahren  hat  uns 
darüber  belehrt,  daß  eine  solche  Vorschrift  unumgänglich  notwendig 


')  Noch  ein  zweiter  Ausspruch  Virchows  verdient  hervorgehoben  zu  werden: 
„So  weit  gehe  ich  nicht  in  der  Forderung  der  Autonomie  der  Ge- 
meinden, datt  ich  der  Meinung  wäre,  man  müfitc  jede  Gemeinde 
machen  lassen,  was  ihr  gefällt." 

*)  Bezüglich  der  Verhandlungen  über  §  I  verweise  ich  auf  die  Stenograph.  Berichte 
und  Anlagen  des  Jahres  1875  und  erwähne  noch  folgende  Einzelheit:  Virchow 
hatte  den  Antrag  gestellt,  die  Ortspolizeibchörde  solle  das  Recht  erhalten,  im  öffent- 
lichen Interesse  die  Feststellung  von  Baufluchtlinien  anzuregen.  Den  Aus- 
druck „anregen"  hatte  Virchow,  nach  seiner  späteren  Erklärung,  gewählt  im  An- 
schluti  an  die  Terminologie  der  Regierungsvorlage.  Der  Antrag  Virchow  wurde 
dann  durch  die  Vereinbarung  verschiedener  Parteien,  nämlich  der  nationalliberalen, 
der  Fortschrittspartei  und  der  Neukonservativen  in  veränderter  Fassung,  als  Antrag 
Tiedemann  eingebracht,  wobei  u.  a.  statt  „anregen"  der  Ausdruck  „verlangen"  ge- 
setzt wurde.    In  dieser  Form  ist  der  Antrag  in  das  Gesetz  übergegangen. 

13* 


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ig6 


(JeseUgrbung. 


ist,  und  zwar  im  Interesse  der  Selbstverwaltung,  um  deren  Organe 
von  dem  Bleigewicht  der  Sonderinteressen  zu  befreien  und  ihnen 
die  nötige  Bewegungsfreiheit  zu  geben.  Wiederum  aber  hat  es 
den  Anschein,  als  ob  das  Schlagwort  Selbstverwaltung  dazu  dienen 
sollte,  um  die  Untätigkeit  und  die  gemeinschädlichen  Interessen  zu 
decken. 

Es  scheint,  daß  man  von  gewisser  Seite  den  Kindruck  er- 
wecken will,  als  ob  die  Bestimmung  des  neuen  Gesetzentwurfs,  die 
den  Begriff  des  wahrzunehmenden  öffentlichen  Interesses  auf  das 
Wohnungsbedürfnis  ausdehnt,  schlechthin  eine  Beschränkung  der 
Selbstverwaltung  enthalte.  Das  Gegenteil  ist  der  Fall.  Die  Vor- 
schrift des  Entwurfs  gibt  einer  tüchtigen  Verwaltung  erst  die  Mög- 
lichkeit, die  Grundlagen  der  städtischen  Entwicklung  in  sach- 
gemäßer Weise  zu  ordnen.  Andererseits  wird  damit  auch  die  Hand- 
habe geschaffen,  um  jenes  verwerfliche  Gemisch  von  Untätigkeit 
und  Sonderinteresse  zu  beseitigen,  das  Virchow  als  „Gemeinde- 
lyrannei"  bezeichnete.  Nach  jeder  Richtung  wird  der  Entwurf  die 
Selbstverwaltung  aktionsfahiger  und  freier  gestalten,  und  sie  in 
Stand  setzen,  die  städtische  Bodenpolitik  und  damit  das  gesamte 
städtische  Wesen  in  richtige  Bahnen  zu  leiten.  Es  ist  erfreulich, 
daß  auch  jetzt  wieder  aus  Selbstverwaltungskreisen  sich  gewichtige 
Stimmen  vernehmen  lassen,  die  sich  dieser  Auffassung  anschließen. 
In  einem  bemerkenswerten  Aufsatz  hat  neuerdings  Dr.  Hugo 
Preuß  die  städtische  Bodenpolitik  einer  eingehenden  Besprechung 
unterzogen,  um  mit  Entschiedenheit  für  eine  Reform  der  städtischen 
Verwaltungstätigkeit  einzutreten.1)  Eine  solche  Reform  ist  not- 
wendig, und  zwar  in  erster  Linie  zur  Stärkung  und  Festigung  der 
Selbstverwaltung. 

Fraglich  dürfte  es  erscheinen,  ob  die  von  dem  Entwurf  ge- 
wählte Fassung  —  der  Ausdruck  „Wohnungsbedürfnis"  —  sich  als 
ganz  zutreffend  und  ausreichend  erweisen  wird;  der  Ausdruck  ist 
zu  vieldeutig.  Bei  den  Mißständen  in  unserem  Städtebau  handelt 
es  sich  nicht  um  das  Wohnungsbedürfnis  ganz  allgemein,  sondern 
um  die  schlechte  Form  der  Wohnungsproduktion.  Der  Gesetz- 
entwurf selbst  will  nach  seinen  eigenen  Angaben  die  städtische 
Bodenpolitik  an  dieser  Stelle  nur  insofern  beeinflussen,  als  die 
Bodenparzellicrung  eine  verfehlte  und  gemeinschädlichc  ist  (oben 


')  Bodenpolitik  und  Selbstverwaltung,  Frankfurter  Zeitung  vom  22.  und 
23.  August  1903,  Nr.  232  und  233. 


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Rudolf  F. hcrstadt,  Entwurf  eines  preußischen  Wohnungsgesetzes. 


S.  184».  Es  dürfte  sich  also  eine  präzisere  Bezeichnung  empfehlen, 
die  klar  zum  Ausdruck  bringt,  daß  —  gemäß  den  obigen  Erörte- 
rungen über  die  Bedeutung  der  Bodenaufteilung  —  die  städtische 
Bodenpolitik  verpflichtet  ist,  die  politisch  und  wirtschaftlich  ge- 
eignete Form  der  Wohnungsherstellung  zum  Ziele  zu  nehmen. 


Die  vorstehenden  Ausführungen  haben  sich  bestrebt,  in  der 
preußischen  Wohnungsgesetzgebung  die  geschichtlichen  Zusammen- 
hänge, deren  der  Entwurf  selber  nicht  gedacht  hat,  genauer  hervor- 
zuheben. Der  neue  Gesetzentwurf  bildet  nur  ein  Glied  in  dieser 
langen  Entwicklung;  durch  sie  werden  die  Grundlagen  hergestellt, 
auf  denen  sich  das  weitere  Handeln  des  Staates  bewegen  kann. 
Bei  den  geschichtlichen  Darlegungen  mußte  ich  weit  zurückgreifen 
in  die  älteren  Zeiten,  die  unsere  Einrichtungen  des  Städtebaus  be- 
gründet haben.  Die  administrativen  Schöpfungen  des  Mittelalters 
wie  die  der  landesfürstlichen  Bautätigkeit  bestehen  noch  in  der 
Gegenwart  ungeschwächt  fort,  allerdings  in  veränderten  Formen 
und  mit  ganz  anderen  Wirkungen;  doch  gerade  deshalb  ist  es  not- 
wendig, sie  in  ihrer  ursprünglichen  Bedeutung  kennen  zu  lernen. 
Auch  hier  bildet  das  Zurückgehen  auf  die  Quellen  die  Vorbedingung 
für  jede  Reform. 

Indes  fast  noch  größeren  Nachdruck  möchte  ich  auf  diejenigen 
Erörterungen  legen,  die  den  Vorgängen  aus  den  siebziger  Jahren 
des  abgelaufenen  Jahrhunderts  gewidmet  sind,  und  die  auf  die  da- 
malige Neuordnung  der  Gesetzgebung  hingewiesen  haben.  In  den 
siebziger  Jahren  sind  die  Gesetze  und  Organisationen  für  den  städti- 
schen Boden  geschaffen  worden,  unter  denen  wir  heute  leben ;  ihre 
Wirkung  aber  —  ich  erinnere  nur  an  den  Realkredit  —  ist  eine 
ganz  andere  geworden,  als  man  damals  beabsichtigte  und  erwartete. 
Doch  auch  diese  Periode  gehört  für  uns  heute  der  Vergangenheit 
an;  wir  dürfen  und  müssen  sie  als  Geschichte  betrachten  und 
ihre  Ergebnisse  objektiv  prüfen.  Aus  denselben  Ursachen  und  mit 
den  gleichen  wissenschaftlichen  Mitteln,  wie  wir  die  Institutionen 
der  älteren  Zeit  studieren,  müssen  wir  heute  die  Gesetzgebung  der 
siebziger  Jahre  untersuchen,  über  deren  fehlerhafte  Wirkung  uns 
eine  hinreichende  Erfahrung  belehrt  hat.  Die  Entwicklung  von 
drei  Jahrzehnten  hat  hier  Zustände  hervorgebracht,  die  dem  Staat 
ebenso  wie  der  Gemeinde  zum  Schaden  gereichen. 

Die  Folgen  der  heutigen  Gestaltung  unserer  städtischen  Bodcn- 


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198 


Gesetzgebung. 


Verhältnisse  sind  unendlich  viel  schlimmer  als  allgemein  anerkannt 
und  zugegeben  wird.  Mit  einigen  hygienischen  Bedenken  sind  die 
traurigen  Mißstände  in  unseren  Städten  nicht  gekennzeichnet.  Die 
Aufgabe,  die  unserer  Zeit  in  der  Reform  der  städtischen  Bodenver- 
hältnisse erwächst,  ist  eine  gewaltige;  doch  daß  sie  gelöst  wird, 
ist  sicher,  wenn  Staat  und  Selbstverwaltung  auf  der  Grundlage  fort- 
arbeiten, die  für  die  preußische  Gesetzgebung  von  altersher  ge- 
golten hat ;  es  ist  die  überlieferte  Pflicht  und  das  historische  Recht. 

Anhang. 

Die  beifolgenden  Zeichnungen  sollen  im  Anschluß  an  die  Dar- 
legung (oben  S.  183)  die  Bedeutung  der  Bodenaufteilung  nach  ver- 
schiedenen Systemen  veranschaulichen.  Fig.  1  zeigt  die  Berliner 
Parzellierung.  Die  Baublöcke  sind  150  bis  200  m  tief,  300  bis 
350  m  lang. 

(Sicht*  Fig.  I  auf  S.  199.) 

Die  einzelnen  Grundstücke  haben  eine  Tiefe  von  70 — 80  m,  sie 
müssen  durch  zweifache,  z.  T.  dreifache  Hinterhausbebauung  (Hof- 
wohnungen) ausgenutzt  werden.  Von  den  Wohnungen  liegt  nur  ein 
geringer  Teil  nach  den  übermäßig  (221/2,  26  m  und  34  m)  breiten 
Straßen,  die  lediglich  dem  Vorteil  der  Bodenspekulation  dienen ;  die 
Mehrzahl  der  Wohnungen  befindet  sich  auf  den  Höfen.  —  Aus 
dieser  Parzellierung  des  Bodens  folgt  weiter  der  ungünstige  H  a  u  s  - 
gr  und  riß,  der  für  die  Kleinwohnung  vollständig  untauglich  ist. 
Die  Kleinwohnung  (Stube  und  Küche;  Stube,  Kammer,  Küche) 
kann  niemals  zu  einer  den  Begriff  der  „Wohnung"  entsprechenden 
Anlage  ausgestaltet  werden;  sie  bleibt  immer  ein  undifferenziertes 
Teilstück  einer  Kaserne.  Eine  Querlüftung,  die  hier  aus  sanitären 
Gründen  besonders  notwendig  wäre,  herzustellen,  ist  in  diesen 
Wohnungen  unmöglich.  Ein  neueres  Gebäude  in  den  Berliner 
Arbeitervierteln  enthält  40  bis  50  Wohnungen  bezw.  Haushaltungen. 

Die  nächste  Folge  der  Berliner  Bodenaufteilung  ist  die  Be- 
seitigung des  realen  und  die  Schaffung  des  nominellen  Hausbesitzes. 
Einer  Bevölkerung  von  1888848  Bewohnern  stehen  18500  Haus- 
besitzer gegenüber,  das  ist  knapp  ein  Prozent  der  Bevölkerung. 
Doch  auch  diese  wenigen  Hausbesitzer  sind  nur  dem  Namen  nach 
Besitzer,  die  durchschnittlich  mit  etwa  10  °/0  Anzahlung  des  oft  nur  fik- 
tiven Wertes  an  ihren  Grundstücken  beteiligt  sind  und  sich  in 
prekärster  Abhängigkeit  vom  Hypothekenmarkt  befinden.    Auf  die 


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Rudolf  E  b  e  r  s  t  a  d  t ,  Entwurf  eines  preußischen  Wohnungsgesetzes. 


Strasse 

i  i  i  i  i — i—  I  r~ 

i.   Berliner  Parzellierung.  1:2000. 


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200 


Gesetzgebung. 


weitverzweigten  Wirkungen  dieses  Systems  für  die  Bodenpreis- 
bildung, für  die  PIntwicklung  der  Mietwerte,  für  das  Anwachsen  und 
Festhaltender  Bodenverschuldung  soll  hier  nicht  eingegangen  werden; 
auch  die  Folgen  für  die  politischen  und  wirtschaftlichen  Verhält- 
nisse bedürfen  kaum  der  Hervorhebung. 

Aus  Fig.  2  (Entwurf  von  Landesbaurat  Prof.  G  o  e  c  k  e)  ergibt 


2.  Projekt  zur  verbesserten  Aufteilung  von  Berliner  Kaublöcken. 

I  :  3000. l) 

Verfasser:  Th.  Goecke;  vgl.   l'reuß.  Jahrbücher  Bd.  75  Heft  1  S.  85;  Deutsche 
Vicrtcljahrschr.  für  öffcntl.  Gesundheitspflege  Bd.  27  Heft  I. 

sich,  wie  die  Schäden  der  Berliner  Parzellierung  sich  beseitigen  lassen 
unter  Beibehaltung  der  Grundlinien  des  Berliner  Bebauungsplans 


»)  Der  Maßstab  der  Fig.  2  ist  um  ein  Drittel  k  1  e  i  n  e  r  als  der  der  Figg. 
1  und  3. 


Rudolf  Eberstadt,  Entwurf  eines  preußischen  Wohnungsgeselzcs.  201 


und  der  alten  Berliner  Bauweise  für  Vordergebäude.  Eine  Er- 
läuterung der  Zeichnung  ist  kaum  erforderlich.  Die  äußeren  Straßen- 
breiten der  Baublöcke  bleiben  unverändert;  nach  dem  Innern  des 
Blocks  vermindern  sich  allmählich  die  Straßenbreiten  und  bewirken 
hier  eine  Aufteilung  des  Geländes  zu  Wohnstraßen  und  Wohn- 
gebäuden. 


3.   Bremer  Pa  r  /.  e  1 1  i  e  r  u  n  g  (Arbeiterviertel).    I  :  2000. 


202 


Gesetzgebung. 


Fig.  3  zeigt  die  in  Bremen  übliche  Parzellierung  für  Arbeiter- 
viertel, die  gegenüber  Fig.  i  eine  vollständig  verschiedene  Ge- 
staltung des  Wohnungswesens  bewirkt.  Die  Blocktiefe  beträgt  36  m, 
die  Tiefe  des  einzelnen  Grundstücks  18  m.  Die  Verteilung  des 
Straßenlandes  wie  des  Baulandes  wird  hierdurch  eine  ganz  andere 
und  in  jeder  Weise  vorteilhaftere  als  bei  Fig.  1.  Es  entstehen 
Grundstücke  für  den  realen  Hausbesitz.  Die  Häuser  sind  meist  für 
2 — 3  Familien  eingerichtet.  — 

Zu  erwähnen  ist  ferner  die  Parzellierung  der  rheinischen 
Industriestädte,  wie  sie  z.  B.  in  Elberfeld  angewandt  wird. 
Die  Baublöcke  haben  hier  regelmäßig  eine  Tiefe  von  40  bis  50  m. 
die  Grundstücke  20 — 25  m.  Auch  hier  ist  eine  selbständige  Form 
des  Kleinwohnungsgebäudes  entwickelt  worden,  die  als  vorbildlich 
gelten  kann.  Die  Arbeiterwohnhäuser  enthalten  meist  4  bis  6  Klein- 
wohnungen. Die  Wohnungsanlagen  im  einzelnen  dürfen  unter  die 
besten  Typen  der  städtischen  Kleinwohnung  —  und  nicht  blos  in 
Deutschland  —  gerechnet  werden.  Wegen  der  Einzelheiten  und 
der  Hausgrundrisse  vgl.  meine  rheinischen  Wohnverhält- 
nisse (Jena  1903). 


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203 


Die  Entwicklung  zum  Zehnstundentage. 

Von 

Prof.  Dr.  STEPHAN  BAUER 

in  Basel. 

Die  Regelung  der  gewerblichen  Arbeitszeit  hat  drei  Stadien 
durchlaufen:  die  Periode  der  theoretischen,  grundsätzlichen  Er- 
örterung: die  Periode  der  staatlichen  Experimente  auf  Grund  der 
in  einigen  wenigen  Betrieben  gemachten  Erfahrungen;  endlich  ist 
in  unserer  Zeit  das  Ergebnis  der  Kürzung  der  Arbeitszeit  durch 
große  Industriestaaten  den  Bestrebungen  anderer  Staaten  zugute 
gekommen. 

Es  wäre  indessen  töricht  anzunehmen,  daß  hier  ein  Fall 
blinder  Nachahmung  vorliege.  Die  Bewegung  zu  gunsten  kürzerer 
Arbeitszeit  läuft  einfach  der  Entwicklung  einer  intensiveren  Betriebs- 
technik von  Westen  nach  Osten  parallel ;  und  dieser  Verlauf,  dieser 
Synchronismus  der  ökonomischen  Erscheinungen,  wird  immer  rascher 
hergestellt  Der  Umstand,  daß  viele  Großbetriebe  noch  vor  der 
gesetzlichen  Regelung  kürzere  Arbeitszeiten  einfuhren,  weist  auf 
das  Vorhandensein  dieser,  von  den  Arbeiterverbänden  nur  ihrer 
Hemmungen  rascher  befreiten  natürlichen  Bewegung  hin. 

Die  größere  Intensivität  des  Betriebes  hat  in  allen  Ländern  ein 
stärkeres  Ruhebedürfnis  der  Arbeiter  zur  Folge.  Darüber,  wie  seine  ge- 
setzliche Befriedigung  zu  erfolgen  habe,  besitzen  die  Staaten  des  euro- 
päischen Kontinents  die  unparteiischste,  am  wenigsten  im  Banne  der 
Partei  oder  des  einseitig  beobachtenden  Praktikers  stehende  Auskunfts- 
quelle an  den  Berichten  der  Gewerbeinspektoren.  Auf  Grund  dieser 
und  anderer  amtlicher  Quellen  kann  die  Wirkung  des  Zehnstunden- 
tages und  des  freien  Samstagnachmittages  erstens  an  einem  I^andc 
beobachtet  werden,  in  welchem  diese  seit  mehr  als  einem  Menschen- 


204 


Gesetzgebung. 


alter  eingeführt  sind;  zweitens  lassen  sich  in  einem  anderen  I^ndc 
die  Wirkungen  des  Überganges  vom  Elf-  zum  Zehnstundentage 
verfolgen;  drittens  läßt  sich  ermessen,  inwieweit  die  Kürzung  der 
Arbeitszeit  auf  zehn  Stunden  in  Ländern  erfolgt  ist,  die  gesetzlich 
noch  eine  längere  Arbeitszeit  als  Maximum  verordnet  haben. 

Aus  diesen  viele  Millionen  von  Betrieben  und  Arbeitern  um- 
fassenden Beobachtungen,  lassen  sich  Schlüsse  über  die  vorteil- 
hafteste Art  der  Regelung  ziehen. 

I.  Zehn-  und  Neunstundentag  in  Großbritannien. 

In  Großbritannien  regelte  bis  zum  Jahre  1844  die  Fabrikgesetz- 
gebung überhaupt  nur  die  Arbeit  der  Kinder  und  Jugendlichen. 
Dennoch  war  es  den  Bemühungen  der  Gewerkvereine  des  Londoner 
Baugewerbes  schon  1834,  jenen  der  Londoner  Maschinenindustrie 
schon  1836  gelungen,  den  Zehnstundentag  für  die  Erwachsenen 
faktisch  durchzufuhren.  Die  Bewegung  griff  in  den  Industriestädten 
so  stark  um  sich,  daß  das  Zehnstundengesetz  von  1847  nichts 
anderes  bedeutete  als  die  Ausdehnung  eines  faktisch  in  anderen 
Gewerben  bereits  bestehenden  zehnstündigen  Arbeitstages  auf  die 
Textilindustrie.  Da  diese  im  Jahre  1847  unter  dem  Einflüsse  der 
Krise  vielfach  weniger  als  zehn  Stunden  arbeitete,  gelangte  das  so 
lange  umstrittene  Gesetz  ohne  Schwierigkeiten  zur  Annahme. 

Der  freie  Sonnabendnachmittag  begann  für  die  Baugewerbe 
faktisch  bereits  1847  um  4  L'hr,  1861  in  London  um  2  Uhr.  Diese 
Einteilung  wird  wieder  durch  das  Gesetz  von  1874  auf  die  Textil- 
industrie ausgedehnt,  und  durch  das  Gesetz  von  1901  der  Sams- 
tagschluß um  12  Uhr  erreicht.1) 

Immer  bedurfte  es  also  in  England  der  Nachhilfe  der  Gesetz- 
gebung, um  in  der  Textilindustrie  eine  ebensokurze  Arbeitszeit  wie 
in  anderen  Gewerben  herbeizuführen.  Die  Motive  aber,  welche  zur 
gesetzlichen  Kürzung  der  Arbeitszeit  in  der  Textilindustrie  führten, 
sind  am  besten  in  den  Berichten  zweier  Arzte  an  die  Regierung 
im  Jahre  1873  niedergelegt  worden  (Report  to  the  Local  Govern- 
ment Board  on  proposed  changes  in  hours  and  ages  of  employ- 
ment  in  textile  factories,  by  I.  H.  Bridges,  M.  D.  and  T.  Holmes. 
London  1873,  Textile  Manufactures).    Der  Bericht  hatte  die  Richtig- 

'1  Sidney  and  Beatrice  Webb,  Industrial  Dcmocracy.  New  edilion,  I0O2 
chap.  VI  (The  normal  day)  S.  352  n.  I. 


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Stephan  Hauer,  Die  Kntwicklung  zum  Zehnstundcniagr. 


keit  der  Behauptungen  der  Arbeiterverbände  zu  untersuchen,  daß 
in  TcxtUfabriken  i.  zehneinhalb  Stunden  monotoner  ständiger  Arbeit, 
selbst  unter  den  hygienisch  zulässigsten  Bedingungen  an  die  Ge- 
sundheit jugendlicher  Personen  im  Alter  von  13  bis  18  Jahren  und 
von  Frauen  jeden  Alters  zu  große  Ansprüche  stellen.  Und  diese 
Klage  sei  besonders  stark  laut  geworden,  seitdem  in  so  vielen  Be- 
trieben, in  welchen  Männer  tätig  sind,  die  neunstündige  Arbeitszeit 
eingeführt  wurde;  2.  daß  seit  Erlaß  des  Zehnstundengesetzes  von 
1847  in  dreifacher  Hinsicht  an  die  Arbeitsleistung  größere  Anfor- 
derungen gestellt  wurden :  a)  jeder  Arbeiter  hat  mehr  Maschinen 
zu  bedienen ;  b)  diese  Maschinen  werden  in  rascheren  Gang  gesetzt ; 
c)  der  Usus,  den  Aufsehern  und  Werkmeistern  eine  Prämie  auf  die 
Quantität  der  Arbeit  auszusetzen,  bewirke,  daß  die  Anstrengung 
ständiger  und  drückender  geworden  sei,  als  vorher;  3.  daß  eine 
übergroße  Kindersterblichkeit  die  Folge  der  Vernachlässigung  der 
Kinder  durch  ihre  Mütter  sei,  die  in  den  Fabriken  arbeiten  müssen. 

Die  Berichterstatter  konstatieren  nun,  daß  seit  vierzig  Jahren 
die  Zahl  der  Spindeln,  die  ein  Arbeiter  zu  bedienen  habe,  in  den 
Baumwollspinnereien  sich  verdoppelt  und  vervierfacht  habe;  daß  an 
Stelle  von  1700—1800  Ein-  und  Ausfahrten  binnen  12  Stunden 
gegenwärtig  2 161  Fahrten  in  io1/«  Stunden  bewerkstelligt  werden; 
daß  an  Stelle  der  Bedienung  eines  Webstuhles  jene  von  drei  bis 
vier  Stühlen  getreten  sei,  und  daß  die  Schußzahl  in  der  Minute,  die 
im  Jahre  1833  noch  90—112  betrug,  jetzt  sich  auf  175—180  be- 
laufe. Obwohl  in  der  Wollindustrie  günstigere  Verhältnisse  kon- 
statiert wurden,  fand  man  doch,  daß  in  Huddersfield  die  Sterblich- 
keit der  14— 15  jährigen  Frauen  10,09  per  Tausend,  also  mehr  als 
in  anderen  Industriedistrikten  betrage;  in  den  Kammgarncentren 
Bradford,  Halifax,  Keighley  betrug  sie  sogar  10,48,  11,35  "nd  1 1,97 
gegen  den  Landesdurchschnitt  von  8,66.  Die  Ärzte  von  Bradford 
erklärten  sich  für  eine  längstens  91  „  stündige  Arbeitszeit  für  Frauen, 
für  ihren  Ausschluß  während  der  Schwangerschaft  und  zehn  Monate 
nach  der  Niederkunft  aus  der  Fabrik.  Aus  einer  Enquete,  welche 
10  000  Kinder  in  Fabrikdistrikten  umfaßte,  wurde  ferner  ihre  höhere 
Sterblichkeit,  ihre  Vernachlässigung  in  bezug  auf  Nahrung  und  Rein- 
lichkeit, das  häufige  Vorkommen  von  Plattfuß  und  Zahnkaries  kon- 
statiert. Die  Kindersterblichkeit  war  in  Lancashire  und  Cheshire 
höher  als  in  London  und  erreichte  in  Preston  29  Proz.  Sie  war  in 
den  Jahren  der  Baum  wollsperre  infolge  der  Massenentlassungen  der 
Arbeiterinnen,  die  nunmehr  ihre  Kinder  besser  pflegten,  gesunken. 


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206 


Gesetzgebung. 


Eine  genaue  Untersuchung  der  Ursachen  dieser  Vernachlässi- 
gung der  Kinder  führt  die  Berichterstatter  zum  Schluß,  daß  falls 
selbst  eine  Verkürzung  der  Arbeitslöhne  bei  weiterer  Kürzung  der 
Arbeitszeit  um  10  Proz.  einträte,  die  gewonnenen  6  Stunden  der 
Muße  die  Lebenskraft  und  Leistungsfähigkeit  der  Frauen  und  Kinder 
erheblich  stärken  würden.  Es  wird  von  ihnen  empfohlen,  diese 
Kürzung  dazu  zu  benützen,  den  Beginn  des  Arbeitstages  später  als 
bisher,  also  nach  der  Frühstückszeit  anzusetzen.  Ferner  sollen 
Wöchnerinnen  entweder  nur  zur  Halbzeitarbeit  verwendet  oder  gänz- 
lich von  der  Fabrikarbeit  ausgeschlossen  werden. 

Die  Reduktion  der  zehnstündigen  effektiven  Arbeitszeit  auf 
91  2  Stunden  an  allen  Werktagen  mit  Ausnahme  des  Sonnabends 
scheiterte  zunächst  (1873).  Als  Kompensation  wurde  vom  kon- 
servativen Kabinet  Croß  die  Dauer  der  Pausen  von  1 1  8  auf  2  Stunden 
erweitert  (Factories  (Health  and  Women)  Act  1874).  Da  die 
Stundeneinteilung  des  Arbeitstages  (6  Uhr  morgens  bis  6  Uhr  abends) 
dieselbe  blieb,  bedeutete  dies  eine  Kürzung  von  !/3  Stunde  per 
Wochentag  und  eine  Stunde  weniger  am  Samstag.  Im  ganzen  be- 
trug nunmehr  die  gesetzliche  Arbeitszeit  der  Frauen  in  Textil- 
fabriken  56'/.,  Stunden.  Durch  das  Gesetz  von  1901  ist  die  Arbeits- 
zeit an  Samstagen  in  Textilfabriken  um  eine  weitere  Stunde  für 
über  eine  Million  Textilarbeiter  verkürzt  worden  (Report  on  changes 
in  rates  of  wages  and  hours  of  labour  in  the  U.  K.  in  1902,  Board 
of  Trade  1903  p.  XVIII,  XXXII).  Es  ist  somit  die  Ncunstunden- 
tagswoche  (an  Wochentagen  zehn,  Samstags  5".,  Stunden)  beinahe 
erreicht. 

Da  nun  außerdem  schon  das  Gesetz  von  1874  die  Erteilung 
von  Überstunden  an  Kinder,  jugendliche  Personen  und  Frauen  in 
Textilfabriken  ausgeschlossen  hatte,  kann  in  Hinkunft  nur  durch 
eine  faktische  Verkürzung  der  Arbeitszeit  unter  die  Zehn-  bezw. 
Neunstundengrenze  des  Gesetzes  der  Arbeitstag  elastisch  gestaltet 
werden. 

In  der  Tat  berichtet  das  britische  Arbeitsamt  für  das  Jahr  1902 
—  also  ein  Jahr  nach  dem  Inkrafttreten  des  neuen  Gesetzes  —  daß 
der  gesetzliche  Maximalarbcitstag  wohl  in  der  Baum-  und  Schaf- 
wollwarenindustrie  voll  ausgenützt  werde,  daß  aber  in  der  Leinen- 
und  Juteindustrie  von  Dundee  und  Umgebung  gewöhnlich  nur 
55  Stunden  per  Woche  gearbeitet  werden  (a.  a.  O.  P.  XXXI). 


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Stephan  Bauer,  Die  Entwicklung  zum  Zehnstundentage. 


II.  Der  Übergang  zum  Zehnstundentage  in 

Frankreich. 

Das  Dekret  vom  24.  März  1848,  welches  in  Paris  den  Arbeits- 
tag gesetzlich  auf  zehn,  in  der  Provinz  auf  elf  Stunden  fixierte, 
wurde  durch  das  für  erwachsene  männliche  Arbeiter  noch  geltende 
Gesetz  vom  9.  September  1848  aufgehoben  und  durch  dieses  ohne 
Unterschied  des  Alters  ein  zwölfstündiger  Maximalarbeitstag  einge- 
führt. Das  Gesetz  bezieht  sich  nur  auf  motorische  Betriebe,  sowie 
auf  solche  nichtmotorische  Betriebe,  die  mindestens  20  erwachsene 
männliche  Arbeiter  beschäftigen.  Erst  das  Gesetz  vom  19.  Mai 
1874  hat  in  Frankreich  die  Keime  zu  einem  intensiveren  Arbeite- 
rinnenschutze  gelegt.  Den  Arbeiterinnen  wird  bis  zum  21.  Lebens- 
jahre die  Nacht-  und  Sonntagsarbeit  verboten;  ihnen  sowie  den  er- 
wachsenen Frauen  wird  die  Arbeit  unter  Tage  in  Bergwerken  unter- 
sagt. Dagegen  blieb  die  Dauer  der  täglichen  Arbeitszeit  für  beide 
Geschlechter  auf  zwölf  Stunden  fixiert. 

Erst  das  Gesetz  vom  2.  November  1892  hat  hierin  Wandel  ge- 
schaffen; bis  zum  16.  Lebensjahre  wird  für  Kinder  beiderlei  Ge- 
schlechts die  Arbeitszeit  auf  zehn  Stunden  eingeschränkt ;  die  effek- 
tive Arbeitszeit  der  Arbeiter  und  Arbeiterinnen  vom  16.— 18.  Lebens- 
jahre darf  60  Stunden  in  der  Woche  nicht  übersteigen  und  es  darf 
hiebei  die  tägliche  Höchstarbeitszeit  von  elf  Stunden  nicht  über- 
schritten werden. 

Die  Arbeiterinnen  im  Alter  von  weniger  als  18  Jahren  und 
die  Arbeiterfrauen  dürfen  nicht  zu  einer  längeren  als  elfstündigen 
effektiven  täglichen  Arbeitszeit  venvendet  werden. 

Die  genannten  Arbeitsstunden  müssen  von  einer  oder  mehreren 
Pausen  unterbrochen  sein,  deren  Gesamtdauer  nicht  weniger  als 
eine  Stunde  betragen  darf,  und  während  welcher  die  Arbeit  unter- 
sagt ist  (Art.  3). 

Zugleich  wurde  das  Verbot  der  Nachtarbeit  auf  Frauen  jedes 
Alters  ausgedehnt  (Art  4). 

Über  die  Wirkungen  des  neuen  Gesetzes  äußert  sich  der  Rapport 
sur  l'application  pendant  Tanne  1897  des  Lois  reglementant  le  tra- 
vail  der  Commission  superieure  du  travail  wie  folgt: 

„Man  kann  im  allgemeinen  versichern,  daß  diese  Arbeitszeit  von 
1 1  Stunden  sich  ausbreitet,  ohne  daß  die  Produktion  dadurch  irgend 
eine  Einbuße  erlitten  hätte,  dank  der  Verbesserung  der  Produktions- 
technik sowie  der  Organisation  der  Arbeit.    So  ist  in  den  Woll- 


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2o8 


Gesetzgebung. 


.  Spinnereien  von  Amiens  und  einigen  Spinnereien  von  Roubaix  und 
Tourcoing  den  Gewerbeinspektoren  von  den  Unternehmern  ver- 
sichert worden,  daß  die  Produktion  ihrer  Fabriken  so  zu  sagen  gar 
nicht  abgenommen  habe.  In  den  Seidenspinnereien,  wo  die  Ein- 
richtung vollständig  umgeändert  worden  ist,  verzeichnet  man  sogar 
eine  Produktionszunahme.  Manche  Unternehmer,  darunter  sehr  be- 
deutende, anerkennen  sogar,  daß  die  gegenwärtige  Produktion  zu 
groß  sei,  denn  es  bleibe  bei  der  Inventur  ein  beträchtlicher  unge- 
räumter  I^agerbestand,  der  auf  die  Preise  schwer  drücke.  Um  den 
Gefahren  der  Uberproduktion  zu  begegnen,  hat  bereits  eine  Anzahl 
von  Baumwollspinnereien  die  Arbeitszeit  reduziert,  so  zwar  daß  in 
den  Spinnereien  nunmehr  66  an  Stelle  von  72  Stunden  gearbeitet 
wird  .  .  .  Ein  Verband,  der  sich  unter  dem  Namen  Syndicat  Co- 
tonnier  de  l'Est  konstituiert  hat,  hat  versucht,  alle  seine  Mitglieder 
zu  diesem  Vorgehen  zu  bewegen.  Grundsätzlich  waren  auch  alle 
Interessenten  einverstanden,  aber  über  Mittel  und  Wege  der  Aus- 
führung ergab  sich  kein  Einverständnis.  Die  einen  wollten  1 1 
Stunden  durch  6  Tage  arbeiten,  um  die  66  Stunden  Arbeit  in  der 
Woche  zu  erhalten ;  die  anderen  wollten  1 2  Stunden  an  den  ersten 
5  Tagen  und  nur  6  Stunden  am  Samstag  arbeiten  um  zu  dem- 
selben Ergebnisse  zu  gelangen.  Die  letzteren  hoben  hervor,  daß 
wenn  man  dem  ersteren  Vorschlage  folgen  würde,  die  Arbeiter  sich 
daran  derart  gewöhnen  würden,  daß  im  gegebenen  Augenblick, 
wenn  die  Produktion  forciert  werden  müßte,  die  einmal  aufgegebene 
zwölfstündige  Arbeitszeit  nicht  wieder  aufgenommen  werden  könnte." 

In  den  nächsten  zwei  Jahren  kreuzten  sich  zwei  Strömungen ; 
die  eine  wünschte  einen  einheitlichen  elfstündigen  Arbeitstag  für 
Männer  und  Frauen,  somit  die  Reduktion  der  gesetzlichen  Arbeits- 
zeit der  erwachsenen  Männer  um  eine  Stunde.  Da  aber  zugleich 
das  Gesetz  vom  Jahre  1892  den  Arbeiterinnen  unter  18  Jahren  eine 
zehnstündige  Arbeitszeit  vorgeschrieben  hatte,  wurde  das  Gesetz 
vielfach  umgangen,  um  einen  einheitlichen  Arbeitstag  herbeizuführen. 
Der  Handclsminister  Herr  Millerand  lud  unter  solchen  Bedingungen 
die  Inspektoren  ein,  nunmehr  gegen  die  Uberschreitungen  des  Ge- 
setzes energisch  vorzugehen.  Die  Zahl  dieser  Überschreitungen, 
welche  im  Jahre  1898  1002  betragen  hatte,  betrug  inbezug  auf  die 
Arbeitszeit  im  folgenden  Jahre  21 19.  Ein  Drittel  dieser  Uber- 
schreitungen entfiel  auf  die  Textilindustrie. 

Unter  diesen  Verhältnissen  ergab  sich  das  Bedürfnis  einer  einheit- 
lichen Gestaltung  des  Arbeitstages.  Es  lag  im  Interesse  der  Hygiene 


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Stephan  Bauer,  Die  Entwicklung  zum  Zehnstundentage. 


wie  des  sozialen  Fortschrittes,  vor  der  Ausgleichung  der  Arbeitszeit 
der  Männer  und  der  Frauen  an  die  Kürzung  des  Arbeitstages  der 
Frauen  auf  zehn  Stunden  zu  schreiten  und  somit  diesen  auf  die 
gleiche  Dauer  wie  den  der  Jugendlichen  zu  bringen.  Die  Zahl  der 
Gewerbebetriebe,  in  welchen  Kinder,  Jugendliche  und  Frauen  be- 
schäftigt waren,  betrug  im  Jahre  1899:  53,3  °/0  aller  309675  Betriebe 
mit  1068542  Arbeitern  und  umfaßte  39,35%  der  Gesamtarbeiter- 
schaft (2715569).    Diesen  Postulaten  entsprach  das  Gesetz  vom 

30.  März  1900.  Das  Gesetz,  das  am  31.  März  1900  promulgiert 
wurde,  amendiert  die  Gesetze  von  1848  und  1892  und  bezweckt 
die  Herbeiführung  gleichartiger  Arbeitszeit  für  Jugendliche  und 
Frauen  nach  Anbahnung  einer  Ubergangsperiode.  Es  führt  für 
jugendliche  Arbeiter  beiderlei  Geschlechts  und  für  Frauen  eine  effek- 
tive Arbeitszeit  von  11   Stunden  sofort,  von   io^a  Stunden  vom 

31.  März  1902  und  von  10  Stunden  vom  31.  März  1904  angefangen 
ein.  Die  Ruhepausen,  welche  zusammen  mindestens  eine  Stunde 
betragen  sollen,  müssen  für  alle  geschützten  Personen  gleichzeitig 
fallen,  ausgenommen  in  ununterbrochenen  Betrieben  und  in  Berg- 
werken oder  Brüchen.  Dieselbe  Zeiteinteilung  betrifft  die  bisher 
durch  das  Gesetz  vom  9.  und  14.  September  1848  geregelte  Maximal- 
arbeitszeit erwachsener  Männer  soweit  diese  in  denselben  Lokalen 
mit  den  von  den  andern  Gesetzen  geschützten  Personen  beschäftigt 
werden. 

Der  Zehnstundentag  tritt  in  Frankreich  erst  am  31.  März  1904 
in  Kraft  und  erst  aus  den  im  August  1905  erscheinenden  Inspektions- 
berichten dieses  Jahres  wird  über  seinen  Vollzug  und  seine  Wir- 
kungen näherer  Aufschluß  zu  erhalten  sein.  Die  Berichte  aus  den 
Jahren  1900 — 1903  enthalten  indessen  eine  Fülle  von  Beobachtungen 
über  die  Vorgänge  der  Übergangszeit.  Sie  lassen  sich  übersichtlich 
etwa  in  folgender  Weise  zusammenfassen :  Zunächst  suchten  einige 
Unternehmer  die  Kürzung  der  Frauenarbeit  auf  11  Stunden  durch 
Anspannung  der  Männer  über  das  gesetzliche  Ausmaß  von  12 
Stunden  wettzumachen.  Daher  sinken  im  Jahre  1900  die  Uber- 
tretungen  der  Vorschriften  des  Gesetzes  von  1892  um  ein  Viertel 
gegen  1899,  dagegen  steigt  die  Zahl  der  Übertretungen  des  Ge- 
setzes von  1848  auf  892  gegen  226  des  Vorjahres.  Die  Ziffer  der 
Übertretungen  des  Frauenschutzgesetzes  steigt  aber  im  Jahre  1901 
auf  4572,  jener  des  Gesetzes  von  1848  auf  2914.  Es  beginnt 
ein  Sturmlauf  gegen  das  Gesetz. 

Dieser  Widerstand  rührt  vor  allem  von   den  Kleinbetrieben 

Archiv  für  Soiialwissenschaft  u.  Sozialpolitik.  I.    (A.  f.  soz.  G.  u.  St.  XIX.)  i.  14 


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210 


Gesetzgebung. 


her.  Sie  entließen  womöglich  Kinder  und  Jugendliche,  um  mit  un- 
geschütztem Personal  zu  arbeiten.  In  der  Bonneterie  und  Schuh- 
warenerzeugung brachen  einige  Streiks  im  Jahre  1900  aus.  Im 
Jahre  1901  wird  bereits  der  Übergang  einiger  derartiger  Betriebe 
zum  Verlagssystem ,  zur  ungeschützten  Heimarbeit  gemeldet.  Der 
Rechtszustand  in  den  Kleinbetrieben  war  nunmehr  in  der  Tat 
kein  glücklicher.  In  einem  nichtmotorischen  Betrieb  konnten  19 
erwachsene  männliche  Arbeiter  auch  über  12  Stunden  täglich 
arbeiten,  in  motorischen  Betrieben  durfte  z.  B.  mit  drei  erwachsenen 
Arbeitern  nicht  länger  als  durch  12  Stunden  gearbeitet  werden.  Es 
wurde  direkt  geklagt,  daß  die  Beschränkung  des  Gesetzes  von  1848 
auf  motorische  Betriebe,  sowie  auf  nichtmotorische  mit  mindestens 
20  Arbeitern  die  Folge  habe,  daß  eine  Reihe  von  Kleinbetrieben 
sich  nicht  der  Vorteile  der  elektrischen  Kraftübertragung  bedienen 
wolle. 

In  den  Großbetrieben  fand  man  sich  vorerst  mit  dem  Gesetze 
leichter  ab.  Zwar  verlangten  einige  Industrielle  große  Erleichte- 
rungen bei  Erteilung  von  Überstunden,  da  solche  Freiheit  auch  in 
den  Konkurrenzländern  herrsche.  Indessen  zeigten  sich  die  vorteil- 
haften Wirkungen  des  Gesetzes  in  vielen  Etablissements.  In  den 
meisten  war  kein  Produktionsausfall  zu  bezeichnen ;  in  Kommen  und 
Gehen  der  Arbeiter  war  größere  Regelmäßigkeit  zu  verzeichnen. 
Die  kurzen  Vor-  und  Nachmittagspausen  wurden  beseitigt;  dadurch 
wurde  der  Besuch  der  Kneipen  in  der  Umgebung  der  Fabriken 
unterdrückt,  und  die  Präsenzzeit  der  Arbeiter  in  der  Fabrik  ver- 
ringert. Produktionsausfalle  verzeichnen  nur:  eine  Kämmerei,  die 
Tag  und  Nacht  arbeitete  in  der  Höhe  von  1/„4,  bei  bloßem  Tag- 
betrieb von  */, ;  ebenso  eine  Wollspinnerei  in  Tourcoing.  Eine 
andere  Spinnerei  verzeichnet  1900  einen  Ausfall  von  5  °'0,  hat  aber 
die  frühere  Höhe  der  Produktion  im  Jahre  1901  wieder  erreicht. 
Die  Einstellung  neuer  amerikanischer  Maschinen  und  die  Einfuhrung 
des  Stunden-  und  Stücklohnsatzes  trägt  hierzu  wesentlich  bei.  Einige 
Unternehmungen,  insbesondere  Schappespinnereien ,  gehen  ohne 
Einbuße  schon  1901  zum  Zehnstundentag  über. 

Mit  dem  30.  März  1902  beginnt  der  zweite  Abschnitt  der 
Übergangsperiode,  die  Kürzung  des  Arbeitstages  auf  io'/»  Stunden. 
Man  zählte  in  diesem  Jahre  weniger  Übertretungen  als  im  Vorjahre : 
3198  gegen  die  Frauenschutz-,  2087  gegen  die  Männerschutzvor- 
schriften.  Die  Ursache  der  Abnahme  ist  jedoch  in  den  kassation.s- 
gcrichtlichen  Entscheidungen  vom  30.  November  und  28.  Dezember 


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Stephan  Bauer,  Die  Entwicklung  zum  Zehnstundentage.  211 

1901  zu  suchen;  diese  erklären,  daß  auf  erwachsene  Männer,  die 
mit  Frauen  oder  Kindern  arbeiten,  die  kürzere  Arbeitszeit  und  die 
Vorschrift  des  gleichen  Einfalls  der  Pausen  nur  innerhalb  derselben 
Betriebslokale  gelten,  nicht  innerhalb  derselben  Fabrik.  Es  bedarf 
nur  eines  Bretterverschlages  der  die  beiden  Kategorien  trennt,  um 
die  Anwendung  des  Gesetzes  hintanzuhalten.  Diese  Entscheidungen 
erschwerten  den  Vollzug  und  die  Kontrolle. 

Die  Kürzung  auf  io1/,  Stunden  bewog  in  viel  stärkerem  Maße 
als  vorher  die  kleinen  Betriebe,  Lehrlinge  zu  entlassen.  Die  Zahl 
der  Betriebe,  welche  nur  männliche  erwachsene  Arbeiter  beschäftigte, 
stieg  von  142845  auf  148569.  Wenn  von  zwei  gleichartigen  Werk- 
stätten einer  Stadt  die  eine  gemischtes  Personal,  die  andere  nur  er- 
wachsene männliche  Arbeiter  beschäftigte,  so  strömte  dieser  letzteren 
auch  das  männliche  Personal  der  kürzer  arbeitenden  Betriebe  zu, 
das  ein  größeres  Einkommen  zu  verdienen  suchte.  Daher  wünschten 
nunmehr  die  Kleinbetriebe  einen  einheitlichen  Arbeitstag  für  Be- 
triebe aller  Art. 

In  den  Großbetrieben  bleiben  die  Wirkungen  ungleichartige: 
Von  5  Spinnereien  wird  ein  Produktionsausfall  von  2 — 5  °/0  ge- 
meldet; 2  Spinnereien  haben  infolge  schnelleren  Ganges  keine  Ein- 
buße zu  verzeichnen.  Metallwarenfabriken,  die  seit  längerer  Zeit 
schon  den  Zehnstundentag  eingeführt  haben,  z.  B.  das  Familistere 
in  Guise,  erzeugen  ebensoviel  als  gleichartige  Anlagen  bei  10 Va 
Stunden. 

Der  letzte  Versuch,  das  Inkrafttreten  des  Zehnstundentages 
hintanzuhalten,  bestand  in  einer  Bewegung  für  die  Regelung  der 
Zahl  der  Arbeitsstunden  auf  60  Stunden  in  der  Woche  mit  freiem 
Samstagnachmittag;  es  konnte  je  nach  Belieben  in  diesem  Falle  an 
einzelnen  Tagen  mehr  oder  weniger  als  10  oder  1 1  Stunden  gearbeitet 
werden.  Die  Einrichtung  des  freien  Samstagnachmittags  war  von 
einigen  Fabriken  im  Interesse  der  entfernt  wohnenden  Arbeiterinnen, 
dann  aus  humanitären  Gründen  im  Distrikt  von  Roanne,  endlich 
seitens  einiger  in  Frankreich  angesiedelten  Unternehmungen 
englischen,  amerikanischen  und  niederländischen  Ursprungs  getroffen 
worden.  Im  ganzen  wurde  der  Samsta^frühschluß  in  450  Betrieben 
mit  einem  Gesamtpersonal  von  35824  Arbeitern,  wovon  21214 
Arbeiterinnen,  durchgeführt.  Die  Handelskammer  von  Beifort  machte 
sich  zur  Wortführerin  dieser  Strömung.1) 

Man  vergleiche  auch:   La  Rcglemcntation  hebdomadairc  de   la  durce  du 
Travail,    le  repos   du   Samcdi.    Kapports  presentos  par  MM.     Ivan  Stroh  1  et 

14* 


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212 


Gesetzgebung. 


Die  Freigebung  des  Samstagnachmittags  ermöglicht  den  ge- 
werblichen Arbeitern  ihre  Einkäufe  an  diesem  Tage  zu  besorgen. 
Dadurch  wird  die  Möglichkeit  voller  Sonntagsruhe  für  das  kauf- 
männische Personal  gesichert  Man  hat  daher  in  Frankreich  die 
Strömung  für  den  freien  Sonntagnachmittag  willkommen  geheißen, 
ohne  jedoch  im  geringsten  auf  eine  Modifikation  des  Gesetzes  vom 
30.  März  1900  einzugehen. 

III.  Das  System  der  Sechzigstunden woch  e  in  den 

Vereinigten  Staaten. 

Anläßlich  der  Einfuhrung  des  Zehnstundentages  ist  auch  außer- 
halb Frankreichs  aus  Unternehmerkreisen  für  eine  elastischere  Ge- 
staltung der  Arbeitszeit  Propaganda  gemacht  worden.  Personen, 
die  sonst  sich  etwas  derauf  zugute  tun,  „Praktiker"  zu  sein,  haben 
sogar  vorgeschlagen,  es  möge  der  Staat  jedem  Betriebsinhaber 
3000  Stunden  für  jeden  Arbeiter  im  Jahre  gutschreiben ;  erst  wenn 
dieses  Konto  erschöpft  wäre,  dürfte  der  Staat  dem  Arbeitgeber 
keine  Überstunden  gewähren.  Die  Frage  ist:  Wer  soll  das  kon- 
trollieren ? 

Daß  aber  die  Unmöglichkeit  solcher  Kontrolle  schon  dann  vor- 
handen ist,  wenn  die  Arbeitszeit  auf  60  Stunden  per  Woche,  ja 
selbst,  wenn  sie  nur  auf  10  Stunden  per  Tag  ohne  Angabe  ihres 
Beginnes  und  Schlusses  festgesetzt  wird,  das  zeigt  ganz  klar  die 
Schutzgesetzgebung  der  Vereinigten  Staaten. 

Zum  Vorbilde  für  die  Gesetzgebung  der  Einzelstaaten  wurde 
hier  die  Gesetzgebung  von  Massach ussetts. l)  Es  ist  technisch  von 
Interesse,  die  Entwicklung  der  Verbotsbestimmungen  seit  1842  zu 
betrachten : 

1842,  c.  60,  §  3.  Kinder  unter  12  Jahren  sollen  nicht  über  10 
Stunden  per  Tag  in  Manufakturen  beschäftigt  werden. 

1866,  c.  273,  §  3.  Kein  Kind  unter  14  Jahren  soll  länger  als 
8  Stunden  täglich  in  irgend  einem  Gewerbebetriebe  be- 
schäftigt werden. 

Dieses  Gesetz  wird  schon  im  nächsten  Jahre  aufgehoben,  und 
ch.  285  §  2,  1867  bestimmt: 

Fagnot.  Association  nationale  frangaisc  pour  la  protection  legale  des  Travaillcurs. 
Paris,  Alcan,  1903. 

')  Sarah  S.  Whittclscy,  Massachusetts  Labor  Legislation,  Philadelphia, 
American  Acadcray  of  pol.  and  soc.  sc.  1901. 


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Stephan  Bauer,  Die  Entwicklung  zum  Zehnstundentagc.  213 


„Kein  Kind  unter  1 5  Jahren  soll  durch  mehr  als  60 
Stunden  in  einer  Woche  beschäftigt  werden." 

Diese  Entrechtung  der  Arbeiter  hatte  die  Bildung  von  Arbeiter- 
verbänden zur  Folge,  von  welchen  der  mächtigste,  die  Knechte  des 
St.  Crispin,  im  Jahre  1869  in-  und  außerhalb  des  Einzelstaates  gegen 
100000  Mitglieder  umfaßte. *)  Die  Furcht  vor  den  Wahlen  bewog 
dann  die  Gesetzgeber,  zunächst  eine  besondere  Behörde  zur  Unter- 
suchung der  Arbeitsdauer  und  der  Arbeitslöhne  zu  schaffen,  aus 
welcher  das  erste  arbeitsstatistische  Amt  hervorgegangen  ist.  So- 
dann kam  es  zum  Kompromißgesetze  von  1874,  c.  221.  Es  lautet 
nicht  viel  anders  als  der  Text  der  geltenden  Bestimmungen,  der 
nur  durch  c.  357  im  Jahre  1892  eine  Veränderung  erfahren  hat:  an 
die  von  60  wurden  58  Stunden  per  Woche  gesetzt.  Gegen- 

wärtig ist  das  Gesetz  vom  3.  Juni  1902  (ch.  435  der  Gesetze  von 
1902  s.  24)  in  Kraft.    Es  lautet: 

„Kein  Kind  unter  18  Jahren  und  keine  Frau  soll  bei  der  Arbeit 
in  einem  Werkstatt-  oder  motorischen  Betriebe  länger  als  durch 
10  Stunden  täglich  beschäftigt  werden,  außer  in  den  weiter  unten 
angegebenen  Fällen,  —  es  sei  denn,  daß  eine  andere  Stundenein- 
teilung lediglich  den  Zweck  hat,  die  Arbeitszeit  an  einem  anderen 
Wochentage  abzukürzen ;  und  in  keinem  Falle  sollen  die  Arbeits- 
stunden die  Zahl  von  58  in  einer  Woche  überschreiten.  Jeder  Be- 
triebsinhaber hat  an  auffalliger  Stelle  in  jedem  Arbeitsraume,  wo 
solche  Arbeiter  beschäftigt  werden,  eine  gedruckte  Anzeige  auszu- 
hängen, in  welcher  die  Zahl  der  Arbeitsstunden  an  jedem  Wochen- 
tage, die  Stunden,  an  welchen  die  Arbeit  und  die  Mahlzeitpausen  be- 
ginnen und  enden,  ausgewiesen  werden .. .  Vorgedruckte  Formulare 
für  solche  Aushänge  werden  von  der  Polizei  nach  Genehmigung 
durch  den  Generalanwalt  ausgehändigt.  Die  Beschäftigung  solcher 
Personen  zu  anderen  als  den  im  gedruckten  Aushange  angegebenen 
Zeiten  gilt  als  Verletzung  des  Gesetzes,  es  sei  denn,  daß  diese 
Überschreitung  erfolgte,  um  die  Zeit  einzubringen,  die  infolge  Still- 
standes der  Maschine  verloren  ging,  bei  welcher  die  betreffende 
Person  beschäftigt  war  oder  von  deren  Gang  ihre  Tätigkeit  abhing ; 
aber  kein  Stillstand  der  Maschine  von  weniger  als  30  ununter- 
brochenen Minuten  soll  solche  Überzeitarbeit  rechtfertigen,  noch  sie 
überhaupt  bewilligt  werden,  bevor  ein  schriftlicher  Bericht  über 
Tag  und  Stunde  des  Vorfalls  und  seiner  Dauer  dem  Chef  der  Be- 

')  K.  E.  Kly,  The  labor  movement  in  America  1890.    S.  67. 


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214 


Gesetzgebung. 


zirkspolizei  oder  einem  Inspektor  der  Fabriken  und  öffentlichen 
Gebäude  übermittelt  worden  ist." 

Fast  denselben  Wortlaut  hat  die  geltende  Gesetzgebung  der 
Staaten  Maine  (1887,  ch.  139  s.  1),  Connecticut  (1888,  s.  1745), 
New  Hampshire  (1891,  ch.  180  s.  20),  Rhode-Island  (ch.  973  s.  22 
vom  4.  April  1902)  und  Louisiana  (act  no.  49,  24.  Juli  1902); 
in  Illinois  wird  dieser  Schutz  auf  jugendliche  Personen  beschränkt, 
ebenso  in  Kalifornien,  Michigan,  Indiana,  Maryland,  Minne- 
sota und  Ohio;  in  Pennsylvanien  wird  Frauen  und  Jugendlichen 
zwölfstündige  tägliche  Arbeitszeit  gestattet,  wenn  nur  die  Wochen- 
arbeitszeit 60  Stunden  nicht  übersteigt  (Ges.  no.  206  vom  29.  Mai 
1901). 

Im  Staate  New  York,  dessen  Gesetzgebung  bis  1903  sich  gleich- 
falls an  jene  von  Massachusetts  anlehnte,  fand  man,  daß  von  646  827 
Arbeitern  im  Jahre  1901  nur  38  Proz.  bis  57  Stunden,  60,1  Proz. 
durch  58 — 63  Stunden  in  der  Woche  arbeiteten  und  1,9  Proz.  mehr 
als  63  Stunden. l)  Indessen  ist  die  Erkenntnis  der  Nachteile  des 
Systems  der  Sechzigstundenwoche  in  New  York  in  letzter  Zeit  klar 
zutage  getreten.  Das  Gesetz  vom  15.  April  1903  verlangt  einen 
bestimmten  Stundenplan  und  betrachtet  prima  facie  die  bloße  Prä- 
senz von  Personen,  die  nicht  als  zu  gleicher  Zeit  arbeitend  den  Ar- 
beitsinspektoren angemeldet  sind,  als  Übertretung.  Zur  völligen  Be- 
seitigung des  Sechzigstundensystems  hat  man  sich  hier  trotz  aller 
schlechten  Erfahrungen  nicht  entschlossen. 

Über  das  Gesetz  von  Massachusetts  hinaus  sind  nur  New  Jersey, 
Nebraska  und  Wisconsin  gegangen.  New  Jersey  hat  das  System 
der  wochenweisen  Bestimmung  der  Arbeitszeit  fast  beseitigt.  Das 
Gesetz  vom  23.  März  1892  lautet  hier: 

„§  1.  Daß  vom  6.  Juli  1892  angefangen  55  Stunden  in  irgend 
einer  Fabrik,  Werkstatt  oder  anderen  Warenerzeugungsstätten  das 
Wochenwerk  bilden  sollen ;  und  die  Perioden  der  Verwendung  sollen 
von  7  Uhr  vormittags  bis  12  Uhr  mittags,  und  von  1  Uhr  nach- 
mittags bis  6  Uhr  abends  an  jedem  Werktage  außer  Sonnabends 
dauern,  an  welch  letzterem  Tage  die  Beschäftigung  von  7  Uhr 
morgens  bis  12  Uhr  mittags  dauern  soll. 

§  2.  Daß  keine  Person  unter  18  Jahren  und  keine  Frau  über 
diesem  Alter  in  irgend  einer  Fabrik,  Werkstatt  oder  Erzeugungs- 


')  XrwYork  State  Departement  ol  Labor.    First  annual  Report  of  tlic  Com- 
mtssioncr  of  Labor.    Albany  1902,  p.  116. 


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Stephan  Bauer,  Die  Entwicklung  zum  Zehnstundentage. 


215 


statte  außer  in  den  erwähnten  Verwendungsperioden  beschäftigt 
werden  soll"  (folgen  zwei  Ausnahmen  für  Obstkonserven  und  Glas- 
fabriken). 

Dieses  Gesetz  ist  das  einzige,  das  den  britischen  Gesetzen  ver- 
gleichbar ist.  Jenes  von  Nebraska  vom  22.  April  1901  kommt  ihm 
am  nächsten. '  ) 

Den  unzulänglichen  Gesetzen  ist  auch  die  Inspektion  nicht  ge- 
wachsen ;  *-')  in  zehn  Staaten  ist  sie  von  der  Arbeitsstatistik  entlastet 
worden,  aber  nur  in  Massachusetts  mit  seinen  36  Inspektoren  gilt  sie 
als  ausreichend.  New  York  hat  38  Inspektoren;  eine  sachverständige 
Zeugin,  Fräulein  von  Grafifenried,  erklärt  die  doppelte  Zahl  für  die 
Stadt  New  York  allein  für  nicht  ausreichend.8)  New  Jersey  hat  erst 
neuestens  (Ges.  vom  24.  April  1902)  sein  Inspektionspersonal  ver- 
mehrt. 

Wo  arbeitsstatistische  Amter  die  Inspektion  versehen,  versagt 
sie  völlig.  So  wurde  zum  Beispiel  in  Kalifornien  für  Arbeiter  im 
Alter  von  weniger  als  18  Jahren  durch  Gesetz  vom  23.  März  1901 
die  Vierundfunfzigstundenwoche  (Neunstundentag)  eingeführt.  Hierzu 
bemerkt  sofort  das  Arbeitsamt:  „Ein  Gesetz  dieser  Art  im  ganzen 
Umfange  des  Staates  durchzusetzen  ist  ein  riesiges  Unternehmen, 
das  in  vollem  Maße  von  diesem  Bureau  mit  seinen  beschränkten 
Kräften  und  Mitteln  nie  bewältigt  werden  wird." 4)  Ebenso  tröstet 
man  sich  über  die  Übertretungen  des  Zehnstundengesetzes  in  Con- 
necticut damit,  „daß  das  Gesetz  doch  immerhin  ein  wertvoller  Aus- 
druck der  Anschauungen  der  Bürger  über  die  lange  Arbeitszeit  der 
Frauen  und  Kinder  sei!"0) 

Wisconsin  hat  durch  Gesetz  die  Arbeitszeit  der  Frauen  auf 
acht  Stunden  täglich  eingeschränkt  (1899,  ch.  83,  s.  1728).  Eine 
Erhebung  des  Arbeitsamtes  über  die  faktische  Arbeitszeit  von 
769  Fabrikarbeiterinnen  ergab,  daß  nur  2,86  Proz.  die  gesetzlichen 
8  Stunden  arbeitete,  dagegen  76,59  Proz.  durch  10  und  5,59  Proz. 


l)  Kighth  biennial  Report  of  the  Bureau  of  Labor  1901— 2.  Lincoln,  1902,  p.  2. 

*)  Vgl.  Willoughy,  Bulletin  of  the  Dep.  of  Labour,  1897  p.  550  und  dessen 
Kssais  sur  la  legislation  ouvrierc  aux  Ktats  Unis,  Paris  1903,  p.  69  ff. 

*)  Report  ot  the  Induslrial  Commission.  Washington  1901.  Vol.  VII.  227—232 
XIV.  p.  LX. 

4)  Tenth  biennial  report  of  the  Bureau  of  Labor  Statistics  1901—2.  Sacramento 
1902  p.  40. 

»)  Fifth  Annual  Report  of  the  Bureau  of  Labor  Statistics.    1890  p.  14. 


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216 


Gesetzgebung. 


mehr  als  io  Stunden.  Das  Gesetz  wird  so  allgemein  gebrochen, 
daß  es  faktisch  toter  Buchstabe  geblieben  ist1) 

Unparteiische  Beobachter  finden  ferner  allerlei  Mißstände  der 
älteren  europäischen  Textilindustrie  in  bezug  auf  die  Arbeitszeit  in 
den  Vereinigten  Staaten  wiederauftauchen:  so  das  „Abknappen" 
von  io  Minuten,  in  den  Südstaaten  die  Nachtarbeit  der  Kinder.2) 

So  unendlich  viel  Neues  demnach  auch  die  Vereinigten  Staaten 
in  bezug  auf  die  Organisation  der  Kapitalwirtschaft,  in  bezug  auf 
Ökonomie  und  Technik  der  alten  Welt  zu  bieten  vermögen ,  so 
unterliegt  es  gar  keinem  Zweifel,  und  kein  einsichtiger  amerikani- 
scher Staatsmann  verkennt  dies,  daß  in  bezug  auf  den  staatlichen 
Schutz  der  Arbeit  und  ihres  Ertrages  hier  noch  unendlich  viel  nach- 
zuholen ist.  Das  gerühmte  elastische  System  des  Arbeiterschutzes 
in  den  Vereinigten  Staaten,  das  in  Amerika  selbst  sichtlich  an 
Boden  verliert,  ist  nichts  weiter  als  eine  vorübergehende  Konzession 
an  die  Pioniere  des  Industrialismus.  Als  sozialpolitisches  Vorbild 
kann  ein  so  wirkungsloses  System  des  Schutzes  nicht  gelten. 

IV.  Die  Einführung  des  zehnstündigen  Maximal- 
arbeit stages  in  den  Ländern  des  gesetzlichen 

Elfstundentages. 

Es  erhebt  sich  nunmehr  die  Frage,  ob  diejenigen  Industrie- 
staaten, welche  noch  den  gesetzlichen  Elfstundentag  besitzen,  für  die 
Annahme  des  Zchnstundentages  gerüstet  sind.  Diese  Frage  läßt 
sich  auf  Grund  des  vorliegenden  amtlichen  Materials  dahin  beant- 
worten, daß  in  den  maßgebenden  Industrieländern  des  Kontinents 
diese  Abkürzung  auf  nationalem  Wege  zwar  durchaus  möglich  ist, 
aber  namentlich  mit  Rücksicht  auf  die  besonderen  Verhältnisse  der 
Textilindustrie  nach  vorhergängiger  internationaler  Verständigung 
noch  leichter  und  rascher  zu  erzielen  wäre. 

Die  folgenden  Angaben  sollen  diese  Behauptung  erhärten: 
Im  Deutschen  Reiche   erklärt  der  neueste  Bericht  der 
sächsischen  Aufsichtsbeamten  für  das  Jahr  1902 :  „Die  volle  Ausnützung 
der  für  die  Arbeiterinnen  festgesetzten  täglichen  Maximalarbeitszeit 

')  Tenth  Biennial  Report  of  the  Bureau  of  Labor  and  Industrial  Statistus  ot' 
Wisconsin.    Madison  1902,  p.  670. 

*)  Man  vergleiche  die  trefflich™  Schriften  von  Ch.  B.  Spahr,  American 
Working  l'coplc  1901  p.  43;  T.  M.  Young,  The  American  Cotton  Industry,  1902, 
p.  44,  72,  94,  112,  und  I.  and  M.  Van  Vorst,  The  Woman  who  teils.  1903. 


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Stephan  Bauer,  Die  Entwicklung  zum  Zehnstundentage.  217 

ist  fast  nur  noch  in  der  Textilindustrie  üblich.  In  den  übrigen 
Gewerbegruppen  werden  die  Arbeiterinnen  selten  länger  als  zehn 
Stunden  beschäftigt"  (Jahresberichte  der  Gewerbeaufsichtsbeamten 
und  Bergbehörden  für  das  Jahr  1902  Bd.  II.  3,  18,  S.  24,  314—315 
ebenso  Bd.  I.  1,  267.  „Nur  in  den  Betrieben  der  Textilindustrie 
und  in  den  Fabriken  zur  Herstellung  der  Lüdenscheider  Metallwaren 
wurde  die  zulässige  Beschäftigungsdauer  voll  ausgenützt".) 

Aber  auch  hier  ist  die  Möglichkeit  einer  kürzeren  Arbeitszeit 
außer  Frage;  so  erklärt  der  Aufsichtsbeamte  für  Breslau:  „So 
mancherlei  Bedenken  im  Jahre  1899  zu  erheben  waren,  als  es  sich 
um  Prüfung  der  Frage  handelte,  welche  Wirkungen  die  unmittel- 
bare Beseitigung  der  verheirateten  Arbeiterinnen  aus  der  Fabrik 
haben  würde,  so  wenig  sprechen  jetzt  gegen  die  Festsetzung  der 
zehnstündigen  Arbeitszeit.  Aus  freiem  Antrieb  hat  die  Firma 
Chr.  Dierig  in  Langenbielau,  wohl  eine  der  bedeutendsten  Anlagen 
der  Textilindustrie,  die  zehnstündige  Arbeitszeit  eingeführt,  nachdem 
sich  herausgestellt  hatte,  daß  die  Produktionshöhe  in  diesen  zehn 
Stunden  nicht  hinter  derjenigen  der  früheren  zehneinhalbstündigen 
Betriebsdauer  zurückblieb."  (A.  a.  O.  Bd.  I.  1,  S.  113.)  Dieselben 
Erfahrungen  machte  man  bei  einer  Reduktion  der  Arbeitszeit  von 
U  auf  91/2  Stunden  in  einer  Leinengarnweberei  in  Freiberg  (Bd,  II. 
5,  S.  177),  in  den  Trikotfabriken  Württembergs  (Bd.  II.  4,  S.  45)  und 
in  einer  hessischen  Fabrik  (Bd.  C.  III.  S.  6,  50).  Ja  aus  Liegnitz  wird 
berichtet:  In  mehreren  Textilfabriken  wurde  im  Frühjahr  vorüber- 
gehend die  Arbeitszeit  um  zwei  bis  drei  Stunden  verkürzt.  Ein 
Unternehmer  erreichte  durch  diese  Maßnahme  jedoch  nicht  die 
beabsichtigte  Einschränkung  der  Erzeugnisse.  Die  Arbeiterinnen, 
welche  im  Akkord  beschäftigt  wurden,  leisteten,  wie  der  Gewerbe- 
treibende versicherte,  in  acht  Stunden  ebensoviel,  wie  bisher  in 
zehn  Stunden.  Um  die  Produktionseinschränkung  herbeizufuhren, 
sah  er  sich  deshalb  veranlaßt,  Arbeiterinnen  zu  kündigen."  In  der 
Oberpfalz  ist  ein  Textilbetrieb  dauernd  zum  zehnstündigen  Arbeits- 
tage übergegangen  (Bd.  III.  2,  S.  74).  Zugleich  bemerkt  man  das 
Bestreben  der  Arbeiter  die  Arbeitszeit  durch  Einschränken  der 
Pausen  mehr  zusammenzudrängen  (Köln  Bd.  I.  1,  S.  348),  und  zwar, 
wie  anderwärts  konstatiert  wird,  um  sich  der  Familie  und  Haus- 
und Gartenarbeiten  mehr  widmen  zu  können  (Bd.  II.  3.  S.  183).  Selbst 
im  Handwerk  macht  sich  mehr  und  mehr  das  Bestreben  geltend, 
die  Arbeitszeit  auf  zehn  oder  doch  elf  Stunden  herabzusetzen  und 
geregelte  Pausen  einzuführen  (Bd.  II.  4,  S.  75).    Die  Überschreitung 


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2l8 


Gesetzgebung. 


der  elfstündigen  Arbeitszeit  findet  sich  nicht  in  der  großen  Export- 
industrie: „mehr  als  clfstündige  Arbeitszeit  fand  sich  fast  ausschließ- 
lich nur  in  den  Werkstätten  der  Wäsche  und  Kleiderkonfektion." 
(Mittelfranken  Bd.  II.  2,  S.  115.  Bremen  Bd.  III,  34,  S.  5.)  Anderer- 
seits fehlt  es  nicht  an  Beispielen  der  Reduktion  der  zehnstündigen 
auf  eine  neuneinhalbstiindige,  unter  Fortzahlung  des  Lohnes  für  zehn 
Stunden  und  ohne  Nachteil  für  die  Produktion.  (Großfirmen  der 
Pforzheimer  Schmuckwarenindustrie.  Bd.  II.  5,  S.  25.) 

Der  Einfluß  des  gesetzlichen  Minimalarbeitstages  der  Frauen 
auf  jenen  der  Männer  ist,  wie  aus  dem  Unterelsaß  berichtet  wird, 
während  der  seit  1892  abgelaufenen  10  Jahre  nicht  so  allgemein  und 
so  groß  gewesen,  wie  vielleicht  erwartet  wurde.  Das  männliche 
Personal  arbeitet  in  42  Proz.  der  Spinnereien  und  in  45  Proz.  der 
Webereien  länger  als  1 1  Stunden  (Bd.  III.  26,  S.  6.  8). 

Die  Ergebnisse  einer  amtlichen  Erhebung  der  preußischen  Ge- 
werbeaufsichtsbeamten über  die  Dauer  der  täglichen  Arbeitszeit  der 
erwachsenen  Arbeiterinnen  in  geschützten  Betrieben  und  über 
Zweckmäßigkeit  und  Durchführbarkeit  einer  weiteren  Herabsetzung 
der  gegenwärtig  zulässigen  Dauer  ihrer  Arbeitszeit  mögen  hier 
noch  kurz  ihren  Platz  finden. 

Eine  Zusammenstellung  der  Angaben  für  die  einzelnen  Re- 
gierungsbezirke zeigt,  daß  im  ganzen  Königreiche  Preußen  in 
21  751  Betrieben  mit  385820  erwachsenen  Arbeiterinnen  71,3  Proz. 
der  Betriebe  mit  61,8  Proz.  der  Arbeiterinnen  am  1.  Oktober  1902 
bis  zehn  Stunden  arbeiteten.  Die  zehn  östlichen  Regierungsbezirke 
und  Provinzen  (mit  Ausschluß  Schleswigs)  bleiben  teilweise  unter 
diesem  Durchschnitte :  zum  Neun-  bis  Zehnstundenbetriebe  sind  hier 
in  der  Textilindustrie  43,3  Proz.  der  Betriebe  mit  30,4  Proz.  der  Ar- 
beiterinnen übergegangen;  im  Westen  betragen  die  entsprechenden 
Ziffern  494  und  46,2  Proz.  Dem  entspricht  es  auch,  daß  von  den  28 
Aufsichtsbeamten  sich  nur  vier  (Ostpreußen,  Westpreußen,  Pommern, 
Oppeln)  gegen  die  weitere  Kürzung  der  Arbeitszeit  aussprechen,  zwei 
andere  sie  nur  mit  gewissen  Einschränkungen  billigen  (Frankfurt  a.  O. 
und  Posen),  während  alle  übrigen  Inspektoren  sie  befürworten  und  der 
Aufsichtsbeamte  für  Breslau  ausdrücklich  betont:  „ein  so  günstiger 
Zeitpunkt  für  die  Herabsetzung  der  Arbeitszeit  wie  der  gegen- 
wärtige dürfte  später  so  bald  nicht  wiederkommen."  1 ) 

')  Arbeitszeit  der  Arbeiterinnen  über  16  Jahre  in  Fabriken  und  diesen  gleich- 
gestellten Anlagen  nach  den  Krhebungen  der  königlich  preußischen  Gewerbeaufsichts- 
beamten und  Bergbehörden  im  Jahre  1902.   Amtliche  Ausgabe.   Herlin  1903,  S.  IOI. 


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Stephan  Bauer,  Die  Entwicklung  zum  Zehnstundentage. 


219 


Es  geht  hieraus  hervor,  das  1.  eine  weitere  Kürzung  der  Ar- 
beitszeit für  Frauen  nur  das  Fazit  aus  der  natürlichen  Einschränkung 
zöge  und  daß  2.  gegenwärtig  dadurch  die  Stellung  der  deutschen 
Großindustrie  auf  dem  Weltmarkte  den  Hauptkonkurrenten  gegen- 
über (Großbritannien,  Frankreich)  keine  Einbuße  erleiden  würde. 
Es  bleibt  nur  die  industrielle  Konkurrenz  Belgiens  und  Italiens  in 
Frage,  soweit  die  Ungleichheit  der  Arbeiterschutzgesetze  in  Betracht 
gezogen  wird.  Es  wird  in  der  Tat  hie  und  da  solche  Konkurrenz 
von  der  rheinischen  Textilindustrie  und  von  der  schweizerischen 
Seidenindustrie  unter  Hinweis  auf  die  ungleiche  Belastung  der  In- 
dustrie beklagt. 

Insoweit  sich  die  Behauptung  ungleicher  Belastung  auf  die 
Arbeiterversicherung  bezieht,  ist  sie  infolge  der  Einführung  der 
obligatorischen  Unfallversicherung  auch  in  Belgien  von  1904  ange- 
fangen nahezu  hinfällig.  Dagegen  besteht  für  das  Deutsche  Reich  und 
Oesterreich,  ebenso  wie  für  Großbritannien  und  Frankreich,  Belgien 
gegenüber  auf  dem  Gebiete  des  Arbeiterschutzes  allerdings  eine 
Differenz,  die  mit  Rücksicht  auf  den  überwiegend  exportindustriellen 
Charakter  Belgiens  von  den  Unternehmern  dieses  Landes  als  eine 
Art  Kompensation  für  den  unzulänglichen  inneren  Absatz  in  An- 
spruch genommen  wird. 

Es  liegt  nun,  ganz  ähnlich  wie  bei  der  Frage  der  Abschaffung 
der  Exportprämien  auf  Zucker,  ein  internationales  Interesse  vor,  die 
Absatzbedingungen  auf  dem  Weltmarkte  auszugleichen  und  zu  ver- 
hüten, daß  der  ausländische  Konsument  auf  Kosten  der  Arbeitskraft 
billiger  versorgt  und  dadurch  der  Widerstand  konkurrierender  In- 
dustrieller gegen  den  Arbeiterschutz  erhöht  werde.  Für  jeden  Staat 
ist  das  Interesse  der  Staatskasse  und  der  Steuerträger,  auf  deren 
Kosten  Exportprämien  gezahlt  wurden,  auch  volkswirtschaftlich  kein 
höheres,  als  das  Interesse  an  der  Erhaltung  der  Leistungsfähigkeit 
der  Arbeiter.  Es  ergibt  sich  daraus  ungezwungen  die  Folgerung, 
daß,  wenn  durch  internationalen  Vertrag  die  Prämie,  welche  durch 
künstliche  Verteuerung  des  Zuckers  im  Inlande  die  Konsumenten 
der  zuckerproduzierenden  Länder  schädigte,  aufgehoben  werden 
konnte,  nicht  minder  Begünstigungen,  die  eigentlich  versteckte 
Prämien  zuungunsten  der  Produzenten  vorstellen,  auf  gleiche  Weise 
beseitigt  werden  sollen.  Diese  Auffassung  dürfte  umso  zutreffender 
sein,  da  aus  den  Kreisen  der  königlich  belgischen  Verwaltung  selbst 
die  Klage  erhoben  wird,  daß  in  einzelnen  Textilzentren,  wo  die  un- 
geschützten Arbeiter  12  Stunden  arbeiten,  und  die  geschützten  nur 


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220 


Gesetzgebung. 


1 1 7«  Stunden  arbeiten  sollten,  sich  zahlreiche  kleine  Überschreitungen 
ereigneten.  Andererseits  hat  z.  B.  im  Aufsichtsbezirk  Courtrai  eine 
mechanische  Weberei  den  zehnstündigen  Betrieb  eingeführt  Die 
Nachteile  der  bestehenden  Gesetzgebung  Belgiens  werden  von  der 
Gewerbeinspektion  offen  zugestanden  und  ihre  Revision,  namentlich 
ihre  einheitlichere  Gestaltung  fast  von  allen  Inspektoren  gewünscht. 
(Rapports  annuels  de  l'inspection  du  travail.  8me  Anne"  1902.  S.  169, 
165,  251,  105,  6,  78,  102,  198;  ebenso  im  Rapport  1900,  S.  144.) 

In  Osterreich  (Reichsratsländer)  betrug  im  Jahre  1900  die 
Zahl  der  gewerblichen  Anlagen,  welche  weniger  als  1 1  Stunden 
arbeiteten  53,3,  in  der  Schweiz  1901 :  53  Proz.  aller  geschützten 
Betriebe.  Die  Zunahme  dieser  kürzere  Arbeitzeit  arbeitenden  Etablisse- 
ments ist  nicht  etwa  durch  die  herrschende  Krise  hervorgerufen 
worden,  sondern  seit  einem  Jahrzehnt  eine  konstante.  Hier  wie 
dort,  wie  im  Deutschen  Reiche  ist  es  die  Textilindustrie,  welche 
die  elfstündige  Arbeitszeit  voll  auszunützen  strebt,  aber  in  den 
Hauptzentren  bereits  zum  Zehnstundentage  überwiegend  überge- 
gangen ist.  So  sind  es  von  400  Textilbetrieben  des  Reichenberger 
Aufsichtsbezirkes  nur  196  die  noch  den  Elfstundentag  im  Jahre  1901 
voll  ausnützten;  177  waren  zum  Zehnstundentage  übergegangen, 
7  Betriebe  zum  10  V4  und  10  Betriebe  zum  io1,'.,  stündigen  Arbeits- 
tage. (Bericht  der  k.  k.  Gewerbeinspektoren  über  ihre  Amtstätig- 
keit im  Jahre  1901,  1902,  S.  246.) 

In  der  Schweiz  herrscht  der  Elfstundentag  noch  für  61  Proz. 
der  Arbeiter  in  der  Textilindustrie.  Erst  ein  Viertel  der  Betriebe 
hat  kürzere  Arbeitszeit  eingeführt. 

Die  Konkurrenz  Ital  iens  fallt  wesentlich  nur  für  die  schweize- 
rische Spinnerei  in  die  VVagschale.  Amtlichen  Mitteilungen  ist  zu  ent- 
nehmen, daß  die  Arbeitszeit  in  der  italienischen  Spinnerei  10 — Ii1/», 
hie  und  da  12  Stunden  beträgt;  es  ist  aber  zu  bemerken,  daß  das 
neue  Gesetz  über  die  Frauen  und  Kinder  diese  Ziffern  beträchtlich 
herabdrücken  wird,  da  das  weibliche  Personal,  das  fast  95  °/0  der  Ge- 
samtarbeiterschaft dieses  Industriezweiges  beträgt,  zur  überwiegenden 
Mehrheit  aus  minderjährigen  Arbeiterinnen  besteht,  für  die  der  Elf- 
stundentag vorgeschrieben  ist.  In  der  Seidenweberei  Italiens  ist  für 
die  Mehrheit  der  Betriebe  der  Arbeitstag  kürzer  und  beträgt  zwischen 
10  und  1 1  Stunden.  Die  offiziellen  Angaben  dürften  wohl  jeden 
Zweifel  darüber,  ob  die  schweizerische  Scidenindustric  auch  bei 
kürzerer  Arbeitszeit  konkurrenzfähig  bleibe,  verstummen  lassen.  Da- 
gegen nützt  die  Baumwollspinnerei  der  Schweiz  wie  in  den  meisten 


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Stephan  Bauer,  Die  Entwicklung  zum  Zehnstundenta^c.  221 

festländischen  Konkurrenzländern,  die  nicht  gesetzlich  den  Zehn- 
stundentag eingeführt  haben,  überwiegend  (in  89  von  90  Betrieben 
mit  10476  Arbeitern,  wovon  über  die  Hälfte  Frauen)  den  Elfctunden- 
tag  aus.  Nur  zwei  Betriebe  mit  Iii  Arbeitern  haben  kürzere 
Arbeitszeiten  eingeführt.  (Schweiz.  Fabrikstatistik  vom  5.  Juni  1901, 
Bern  1902,  S.  127.) 

In  den  Niederlanden  betrug  im  Jahre  1899  in  45,8  und  im 
Jahre  1900  in  47,4  Proz.  der  Betriebe  die  Arbeitszeit  der  geschützten 
Personen  weniger  als  zehn  Stunden.  Die  Textilindustrie  ist  hier 
unbedeutend,  immerhin  stiegen  hier  die  Ziffern  der  Betriebe  mit 
zehnstündiger  Arbeitszeit  von  26  Proz.  auf  38  Proz.  Es  ist  zu  bemerken, 
daß  die  niederländische  Gesetzgebung  alle  gewerblichen  Betriebe 
dem  Arbeiterschutze  unterwirft,  daß  daher  diese  Verhältniszahlen 
als  ungemein  günstige  zu  betrachten  sind,  zumal  auch  die  Steige- 
rung der  Zahl  der  Zehnstundenbetriebe  im  Laufe  der  Jahre  eine 
beträchtliche  ist.  (Verslagen  van  de  Inspecteurs  van  den  Arbeit  in 
het  Koningrijk  der  Niederlande  over  1899  en  1900,  Tweede  Bündel 
S.  11 56 — 57). 

Am  weitesten  ist  der  Zehnstundentag  in  Dänemark  fort- 
geschritten, wo  1895  erst  56,6  Proz.  1902  schon  92  Proz.  der  Be- 
triebe und  95,4 Proz.  der  Arbeiter  weniger  als  11  Stunden  arbeiteten. 
(Beretning  om  Arbcijds-Virksomhed  og  Fabriktilsynet  1902 — 03. 
S.  39.)    Die  Textilindustrie  spielt  hier  keine  Rolle. 

V.  Schlußfolgerungen. 

In  der  vorstehenden  Darstellung  des  gegenwärtigen  Standes 
der  faktischen  und  der  gesetzlichen  Arbeitszeit  gelangt  ein  eigen- 
artiger Gegensatz  zwischen  der  Gesetzgebung  der  Festlandstaaten 
und  Großbritanniens  zum  Ausdruck.  Hier  ist  die  Arbeit  in  der 
Textilindustrie  auch  durch  Gesetz  auf  ein  kürzeres  als  auf  das  in 
den  übrigen  Industriezweigen  gestattete  Höchstausmaß  von  10 
Stunden  eingeschränkt ;  selbst  Überstundenarbeit  ist  hier  den  Jugend- 
lichen und  Frauen  untersagt.  Dagegen  nützt  die  festländische 
Textilindustrie  die  gesetzliche  Elfstundenarbeit  voll  aus,  und  der 
größte  Anteil  der  Übertretungen  auch  dieser  Vorschriften  entfällt 
auf  die  Textilindustrie  und  auf  die  Kleiderkonfektion. 

Dieser  Zustand  entsprach  noch  vor  etwa  20  Jahren  der  Vor- 
zugsstellung der  britischen  Textilindustrie.  Sie  besaß  nicht  allein 
im  Mutterlande  und  in  den  Kolonien  sondern  auch  auf  dem  Fest- 


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Gesetzgebung. 


lande  die  kaufkräftigste  Kundschaft.  Sie  konnte  dem  zollgeschützten 
Kontinent  daher  die  Erzeugung  minderwertiger  Ware,  die  auch  bei 
rückständiger  Produktionstechnik  lohnend  blieb,  ja  technisch  zum 
Teil  nur  im  Handbetrieb  durchgeführt  werden  konnte,  überlassen. 
Für  einen  bedeutenden  Teil  der  britischen  Textilindustrie  kam  hinzu, 
daß  von  ihr  die  Mode  die  Parole  erhielt.  Der  zeitliche  Vorsprung, 
den  dadurch  die  britische  Industrie  dem  Kontinente  gegenüber  bei 
der  Versorgung  des  Weltmarktes  genoß,  kam  auch  ihren  Arbeitern 
zugute.  Diese  Vorteile  Großbritanniens  schwinden  in  dem  Maße, 
in  welchem  die  Nachfrage  nach  besserer  Textilware  auf  dem  Konti- 
nent steigt.  Daß  dies  infolge  des  Steigens  der  Löhne  zum  großen 
Teile  der  Fall  ist,  daß  daher  aueji  hier  die  Spezialisierung  der  In- 
dustrie fortschreitet,  bezweifelt  gegenwärtig  kein  Kenner  der  Ver- 
hältnisse. Ein  Vergleich  der  rheinischen  und  süddeutschen  Textil- 
industrie, die  zum  großen  Teile  faktisch  zum  Zehnstundentage  überge- 
gangen ist,  mit  jener  der  östlicher  gelegenen  Textildistrikte  bestätigt 
diese  Auffassung.  Damit  entfällt  aber  der  Anlaß,  die  Ausnahme- 
stellung des  britischen  Arbeiters  in  bezug  auf  die  Kürze  der  Arbeits- 
zeit als  naturnotwendig  zu  betrachten.  Insofern  ein  solcher  Vorteil 
in  der  Modewarenindustrie  besteht,  würde  er  durch  den  Unterschied 
zwischen  Neun-  und  Zehnstundentag  mehr  als  hinlänglich  berück- 
sichtigt. 

Wird  nun  die  Kürzung  der  Arbeitszeit  auf  10  Stunden  für 
spruchreif  erklärt,  so  bleibt  noch  die  Präge  offen,  ob  sie  männliche 
und  weibliche  Arbeiter,  Klein-  und  Großbetriebe  gleichmäßig  treffen 
soll.  Hierfür  ist  nun  das  französische  Experiment  überaus  lehr- 
reich. Die  bedeutendsten  Schwierigkeiten  erwuchsen  der  so  behut- 
samen Einführung  des  zehnstündigen  Arbeitstages  aus  der  Ungleich- 
artigkeit  der  Regelung  für  Männer  und  Frauen,  für  motorisch  und 
nicht  motorisch  betriebene  Werkstätten.  Aus  den  Beobachtungen 
der  drei  Jahre  1900 — 1902  läßt  sich  der  Schluß  ziehen,  daß  die 
ungeschützten  Kleinbetriebe  auf  Kosten  der  Arbeitskraft  den  ge- 
schützten Betrieben  Konkurrenz  machen;  daß  ihre  Ausnahmsstellung 
die  Einführung  des  motorischen  Betriebes  verzögert;  daß  die  Lehr- 
lingsausbildung unter  diesem  Zustande  wesentlich  leidet  und  daß 
so  eine  gewerblich  höchst  unerwünschte  Rückständigkeit  die  Folge 
ist.  Die  Auslegung  der  Gerichte  aber,  welche  in  motorischen  Be- 
trieben die  zwölfstündige  Arbeit  erwachsenen  Männern  gestattet, 
sobald  nur  eine  äußerliche  Trennung  vom  geschützten  Personal 
stattgefunden  hat,  erschwert  ganz  wesentlich  den  Vollzug  auch  für 


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Stephan  Bauer.  Die  Entwicklung  zum  Zchnstundcnlagc. 


223 


die  vom  Gesetzgeber  geschützten  Personen.  „Quel  etrange  et  in- 
coheVent  tableau  präsente  aujourd'hui  en  cette  matiere  la  legislation 
francaise  interpretec  par  les  tribunaux  et  les  circulaires  administra- 
tives!" ruft  mit  Recht  unter  solchen  Verhältnissen  Professor  Jay.  *  > 
(La  Protection  legale  des  Travailleurs,  Paris  1904  p.  83). 

Bekanntlich  gehen  nun  selbst  in  Großbritannien  die  Bestrebungen 
der  Gewerkvereine  dahin,  den  Arbeitstag  erwachsener  Männer  ge- 
setzlich einzuschränken,  wie  es  bereits  in  Österreich,  in  der  Schweiz 
und  in  Neuseeland  der  Fall  ist.-)  Diese  einheitliche  Gestaltung, 
deren  Fehlen  am  schwersten  in  Belgien  empfunden  wird,  ist  aber 
nicht  nur  aus  den  allerdings  allergcwichtigsten  volkhygienischen 
und  kulturellen  Motiven  zu  wünschen.  Es  sprechen  auch  ganz  be- 
stimmte wirtschaftliche  Gründe  für  ein  solches  Vorgehen.  Gerade 
in  der  Textilindustrie,  welche  dem  Gesetzgeber  des  Kontinents  die 
größten  Schwierigkeiten  bereitet,  liegt  die  Möglichkeit  periodischer 
Überproduktion  außerordentlich  nahe.  Spekulativen  Vorgängen  auf 
dem  Rohstofifmarkte,  jähen  Absatzstockungen  und  Modeschwan- 
kungen, ja  selbst  Witterungseinflüssen  ist  die  Textilindustrie  wohl 
mehr  als  jede  andere  Industrie  unterworfen.  Der  Schutz  des  heimi- 
schen Marktes  durch  Zölle  ist  solchen  Störungen  gegenüber  wir- 
kungslos und  erhöht  nur  die  Schwierigkeiten  der  Abstoßung  von 
Lagerbeständen.  Eine  Kartellierung  ist  nur  in  beschränktem  Maß- 
stabe und  vor  allem  für  die  Erzeuger  der  Halbfabrikate  und  die 
Hilfsgewerbe  in  Zeiten  der  Überproduktion  durchführbar.  Unter 
solchen  Verhältnissen  würde  eine  gleichförmige  gesetzliche  Reduk- 
tion der  Arbeitszeit  gerade  in  der  Textilindustrie  aller  Konkurrenz- 
länder eine  feste  Grundlage  für  wcitcrgchcndere  rationelle  Betriebs- 
einschränkungen in  Zeiten  der  Krise  bilden;  in  den  folgenden 
Zeiten  des  Aufschwunges  könnte  diese  gesetzliche  Arbeitszeit 
wieder  voll  ausgenützt  und  nach  Maßgabe  der  Steigerung  der  Pro- 
duktionstechnik in  späteren  Zeitläuften  die  gesetzliche  Schranke 
wieder  höher  gerückt  werden.  Es  sind  also  gerade  die  besonderen 
Verhältnisse  der  Textilindustrie,  die  eine  einheitliche  Kürzung  der 
Arbeitszeit  nicht  nur  sozialpolitisch,  sondern  auch  im  industrie- 
politischen Interesse  als  wünschenswert  betrachten  lassen. 

M  La  Protection  legale  des  Travailleurs,  1'aris  1904  p.  83. 
?)  Wcbb  u.  a.  O.  S.  339. 


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224 


LITERATUR. 

Der  bibliographische  und  literarisch-kritische  Apparat 

der  Sozialwissenschaften. 

„Nachdem  die  Policey-Cameral-Oeconomie-Handlungs-  und  Manufactur- 
Wissenschaften  zu  unseren  Zeiten  in  sehr  großes  Ansehen  gekommen 
sind;  mehret  sich  die  Anzahl  derer  darinn  an  das  Licht  trettenden 
Schrifften  von  Tag  zu  Tag  sehr  starck:  Allein  die  wenigste  derer  Per- 
sonen, welchen  zu  lieb  sie  geschrieben  sind,  besitzen  eine  große  Bücher- 
Kenntniß;  die  meisten  wissen  also  auch  nicht  einmal,  daß  dieses  oder 
jenes  heraus  ist. 

Bey  denen  in  immer  größerer  Menge  zum  Vorschein  kommenden 
sogenannten  Journalen  findet  sich  über  dieses  noch  der  beschwerliche 
Umstand,  daß  selbige  aus  lauter  kleinen  Abhandlungen  bestehen ;  deren 
sich,  wenn  ein  solches  Werk  anfangt  viele  Bände  groß  zu  werden,  auch 
das  glücklichste  Gedächtnis  nicht  zu  allen  Zeiten  erinnern  kan." 

Also  begründete  der  Verfasser  der  ersten  mir  bekannten  Bibliographie 
der  Sozialwissenschaften  (der  unten  genauer  angegebenen  „Bibliothec") 
Johann  Jacob  Moser  vor  nunmehr  anderthalb  Jahrhunderten  sein 
gewiß  verdienstliches  Unternehmen.  Und  daß  das,  was  vor  150  Jahren 
eine  für  die  Wissenschaft  willkommene  Leistung  war,  heute,  nachdem 
die  nationalökonomische  Literatur  ins  Unermeßliche  angewachsen  ist, 
ein  dringendes  Bedürfnis  für  den  Betrieb  der  Wissenschaft  bedeutet, 
empfindet  jeder,  der  unter  der  Fülle  des  Stoffs  zu  leiden  hat,  als  etwas 
Selbstverständliches.  Wir  werden  heute  von  dieser  stofflichen  Ueber- 
fülle  so  gequält,  daß  wir  unausgesetzt  auf  Mittel  und  Wege  sinnen,  wie 
wir  des  Stoffes  Herr  zu  werden  vermögen.  Inhaltlich  versuchen  wir  es 
mit  Hülfe  der  wissenschaftlichen  Synthese,  äußerlich  durch  die  Zusammen- 
fassung der  zahlreichen  Einzelschriften  in  der  Bibliographie.  Unsere 
Zeit  wird  deshalb  ebenso  durch  die  wachsende  Anzahl  sozialwissenschaft- 
licher Bibliographien  wie  durch  die  starke  Tendenz  zu  theoretischer 


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Der  bibliographische  und  literarisch-kritische  Apparat  der  Sozialwisscnschaften.  225 

Meisterung  des  Stoffs  charakterisiert.  Seit  zehn  oder  fünfzehn  Jahren 
sind  auf  unserm  Wissensgebiete  ebensoviel  Bibliographien  erschienen  wie 
in  den  voraufgehenden  anderthalb  Jahrhunderten. 

Wenn  trotzdem  die  sozialwissenschaftliche  Forschung  sich  des  Hilfs- 
mittels der  Bibliographie  nicht  in  einem  wünschenswerten  Maße  bedient, 
wenn  die  Bibliographie  längst  nicht  die  Rolle  in  unserem  wissenschaft- 
lichen Betriebe  spielt,  wie  etwa  auf  dem  Gebiete  der  Naturwissenschaften 
oder  der  Geschichte,  so  liegt  der  Grund  dafür  zum  Teil  in  dem  un- 
fertigen Charakter  unserer  Wissenschaft,  in  der  jeder  gern  „von  vorn" 
anfangt  unter  Mißachtung  dessen,  was  vor  ihm  geleistet  worden  ist,  zum 
anderen  Teil  aber  auch  in  der  Eigenart  der  bibliographischen  Hilfs- 
mittel selbst.  Erstens  sind  diese  in  ihrer  großen  Mehrzahl  so  zerstreut 
und  so  versteckt,  daß  viele  sie  gar  nicht  kennen;  zweitens  sind  die 
meisten  von  ihnen  derart  abgefaßt,  daß  ihr  Gebrauch  sehr  erschwert  wird. 

Deshalb  benutze  ich  gern  die  Gelegenheit,  die  mir  die  Anzeige 
einiger  Neuerscheinungen  bibliographischen  Inhalts  bietet,  um  einen  Über- 
blick zu  geben  über  das,  was  die  Sozialwissenschaften  überhaupt  an 
bibliographisch-literarischen  Hilfsmitteln  besitzen.  Ich  gehe  dabei  von 
der  doppelten  Absicht  aus:  die  vorhandenen  Publikationen  zum  be- 
quemen Gebrauch  übersichtlich  zusammenzustellen,  aber  auch  sie  auf 
ihre  Verwendbarkeit  hin  zu  prüfen  und  einige  Gesichtspunkte  für  ihre 
zweckmäßige  Weiterführung  aufzustellen. 


A.  Allgemeine  Bibliographien. 

Jede  Wissenschaft  profitiert  naturgemäß  von  denjenigen  Werken, 
die  eine  Zusammenstellung  aller  literarischen  Erscheinungen,  also  auch 
derjenigen  der  besonderen  Wissenschaft  sich  zur  Aufgabe  machen.  Ich 
sehe  jedoch  von  einer  Aufzählung  dieser  allgemein  -  bibliographischen 
Werke  ab  und  verweise  den  Leser  auf  das  vollständige  Verzeichnis  bei 

1.  H.  Stein,   Manuel  de   bibliographie    generale.    Paris  1898. 
p.  1—42. 

Da  jedes  Kulturland  ihrer  mindestens  eins,  die  meisten  aber  ihrer 
mehrere  besitzen,  so  geht  ihre  Zahl  in  die  Hunderte,  wie  der  Raum 
schon  erkennen  läßt,  den  ihre  Aufzählung  beansprucht :  42  Seiten  1  In 
dieser  Riesenhaftigkeit  des  Apparates  liegt  nun  auch  die  Schwierigkeit 
für  den  Gelehrten  begründet,  ihn  für  seine  Forschungszwecke  zu  nützen. 
Nur  die  ganz  großen  Bibliotheken  haben  alle  Werke  beieinander  und 
immer  wird  es  der  Vcrmittclung  der  Bibliotheksverwaltung  bedürfen,  um 
ohne  allzugroßen  Zeitaufwand  diesen  Apparat  in  Anspruch  zu  nehmen. 
Immerhin  wird  man  nie  ganz  auf  ihn  verzichten  wollen,  da  er  einst- 
weilen die  immerhin  vollständigste  Bibliographie  darstellt,  die  wir  besitzen. 

Archiv  für  Sorialwissenschaft  u.  Sozialpolitik.  I.    (A.  f.  »01.  G.  u.  St.  XIX.)  1.  15 


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226 


Literatur. 


Diese  allgemeinen  Bibliographien  unterscheiden  sich  in  ihrer  Benutzbar- 
keit  je  nach  dem  Grade  von  Spezialisierung  und  Übersichtlichkeit,  die 
das  Sachregister  aufweist.  Am  vollkommensten  sind  wohl  in  dieser 
Hinsicht 

für  Deutschland: 

2.  K.  Georgs  Schlagwort-Katalog.  3.  (und  einstweilen  letzter)  Band 

1893—1897.    Hannover  1900/1901,  1975  S. 

für  Frankreich: 

3.  Catalogue  generale  de  la  Librairie  francaise.  Sachkataloge  in  Vol. 

7>  8»  **>  *3- 

Eine  wesentliche  Vervollkommnung  hat  der  allgemein-bibliographische 
Apparat,  der  früher  nur  die  im  Buchhandel  erscheinenden  selbständigen 
Schriften  enthielt,  durch  die  Zeitschriftenbibliographien  erfahren,  wie  sie 
jetzt  Deutschland  und  Frankreich  besitzen: 

4.  Bibliographie  der  deutschen  Zeitschriften -Literatur 

mit  Einschluß  von  Sammelwerken  und  Zeitungsbeilagen.  Seit 
1896.    Jetzt  jährlich  2  Bände.  Leipzig. 

5.  Repertoire  bibliographique  des  principales  revues 

fran^aises;  red.  par  D.  JordelL    Seit  1897.  Paris. 

B.  Sozialwissenschaftliche  Bibliographien. 

I.  Nichtperiodische  Publikationen. 

1.  Literaturnachweise,  wie  sie  fast  jede  wissenschaftliche 
Arbeit  enthält,  wachsen  sich  oft  zu  wirklichen  Bibliographien  aus.  Wes- 
halb denn  ihrer  hier  an  erster  Stelle  wenigstens  im  Vorbeigehen  Er- 
wähnung getan  werden  mag.  Man  denke  an  die  Lehrbücher  von  Roscher, 
Ad.  Wagner  u.  a.  Vor  allem  wird  der  ausführliche  Literaturnachweis 
in  der  lexikographischen  Darstellung  gepflegt :  die  verschiedenen  „Hand- 
wörterbücher" unserer  Wissenschaft,  in  erster  Linie  das  deutsche, 
kommen  deshalb  als  bibliographische  Hilfsmittel  wesentlich  in  Betracht. 

2.  Bibliothekskataloge  sind  in  einzelnen  Fällen  willkommene 
Nachschlagewerke  geworden.  Wir  besitzen  jetzt  ein  Verzeichnis  der 
wichtigeren  gedruckten  Kataloge  aller  Länder,  nach  Städten  geordnet: 
Nr.  1  dieser  Übersicht  pag.  711 — 768. 

Unter  den  für  unsere  Wissenschaft  in  Betracht  kommenden  Bibliotheks- 
katalogen ragen  hervor  :  die  Kataloge  der  Gehe-Stiftung,  der  Reichsgerichts- 
bibliothek, derHamburgerKommerzbibliothek,  der  Bibliothek  des  preußischen 
statistischen  Büreaus,  des  preußischen  Abgeordnetenhauses,  vor  allem  aber 
des  Deutschen  Reichstages.  Dieser  Katalog,  der  jetzt  mit  den  Zugangs- 
katalogen (bis  1902)  9  stattliche  Bände  umfaßt,  ist  dank  der  Reich- 


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Der  bibliographische  und  literarisch-kritische  Apparat  der  Sozialwissenschaften.  227 

haJtigkeit  seines  Inhalts  ebenso  wie  dank  der  außerordentlich  detaillierten 
Disposition  als  eines  unserer  wichtigsten  bibliographischen  Hilfsmittel  an- 
zusehen. 

3.  Buchhändlerkataloge,  namentlich  Antiquariatskataloge  ent- 
halten oft  genug  reiche  Bibliographien.  Was  an  Literaturübersichten 
und  zwar  meist  in  bester  Ordnung  Kataloge  von  Harding  in  London, 
Macmillan  &  Bowes  in  Cambridge,  Rostand  in  Paris,  Nijhoff  im  Haag, 
Prager,  Calvary  in  Berlin,  Lorentz,  Harrassowitz  in  Leipzig,  Baer  in 
Frankfurt  a.  M.,  Hoepli  in  Mailand,  Claussen  in  Turin  u.  v.  a.  bringen, 
enthält  manches  Mal  mehr  als  die  besten  Bibliographien,  die  wir  über 
den  Gegenstand  besitzen.  Deshalb  ist  auch  ein  regelmäßiges  Studium 
der  Antiquarkataloge  ein  gutes  Mittel,  um  sich  eine  umfassende  Literatur- 
kenntnis zu  verschaffen.  Es  ist  kein  Zufall,  daß  unsere  besten  Literatur- 
kenner bekannte  Bibliophilen  sind. 

4.  Bibliographien, 
a)  allgemeine. 

6.  Joh.  Jac.  Mosers  gesammelte  und  zu  gemeinnützigem  Gebrauch 

eingerichtete  Bibliothec  von  Oeconomischen  -  Cameral  -  Policey- 
Handlungs  -  Manufactur  -  Mechanischen  und  Bergwerks-Gesetzen 
Schrifften  und  kleinen  Abhandlungen.    Ulm  1758. 

7.  Joh.  Heinr.  Ludw.  Bergius  Cameralisten-Bibliothek  oder  voll- 

ständiges Verzeichnis  derjenigen  Bücher,  Schriften  und  Abhand- 
lungen, welche  von  dem  Oeconomie-Policey-Finanz-  und  Cameral- 
wesen  und  verschiedenen  andern  damit  verbundenen  Wissen- 
schaften handeln  .  .  .  Nürnberg  1762. 

8.  Catalogue  d'une  Bibliotheque  d'Economie  Politique  formet  pour 

le  travail  du  Nouveau  Dictionnaire  de  Commerce  in  dem  „Pro- 
spectus"  dieses  Dict.  de  Comm.    Paris  1769. 

9.  Carl  Gottl.  Rössig,  Die  neue  Litteratur  der  Policey  und 

Cameralistik,  vorzüglich  vom  Jahre  1762  bis  1802.  2  Teile. 
Chemnitz  1802. 

10.  Joh.  Sam.  Ersch,  Literatur  der  Jurisprudenz  und  Politik,  mit 
Einschluß  der  Cameral-Wissenschaften  seit  der  Mitte  des  18.  Jahr- 
hunderts bis  auf  die  neueste  Zeit.  Neue  fortgesetzte  Ausgabe 
von  Joh.  Christ.  Koppe.  Leipzig  1823. 
iL  J.  R.  Mac  Culloch,  The  Literature  of  political  Economy: 
a  classifted  catalogue  of  select  publications  in  the  different  de- 
partements  of  that  science  with  historical,  critical  and  bio- 
graphical  notices.    London  1845. 

12.  Joh.  M.  Presburg,   Bibliographie  voor  Staats-  Regts-  en  Ad- 

ministratieve  Wetenschappen,  Staatshuishoudkunde,  Statistiek  en 
Armen wesen.    Deel  I.    Leyden  1852. 

13.  Ad.  Soetbeer,  Literaturnachweis  der  politischen  Ökonomie  für 

15* 


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228 


Literatur. 


1840 — 1852  (in  der  Übersetzung  von  J.  St.  Mills  Grundsätzen 
der  politischen  Ökonomie  Bd.  II.   Hamburg  1852,  S.  461 — 510). 

14.  Robert  von  Mohl,  Die  Geschichte  und  Literatur  der  Staats- 

Wissenschaften.  In  Monographien  dargestellt.  3  Bände.  Erlangen 
1855 — 58.  (Band  III,  S.  733 — 832  enthält  das  Literaturregister.) 

15.  R.  R.  ßowker  and  George  lies,  The  readers  guide  in  econo- 

mical,  social  and  political  science.    New  York.  1892. 

16.  Otto  Mühlbrecht,  Wegweiser  durch  die  neuere  Litteratur  der 

Rechts-   und  Staatswissenschaften.    Für  die  Praxis  bearbeitet, 
2.  umgearbeitete  und  vermehrte  Auflage.   Berlin  1893.  Band  II, 
enthaltend  die  Literatur  der  Jahre  1893 — 1900  nebst  Nachträgen 
und  Ergänzungen  zu  Band  I  (die  Literatur  bis  1892).  Berlin  1901. 
Puttkammer  und  Mühlbrecht 
Von  diesen  sozial-  oder  staatswissenschaftlichen  Bibliographien  all- 
gemeinsten Charakters  kommen  heute  für  wissenschaftliche  Zwecke  wohl 
nur  noch  die  unter  Nr.  n,  14  und  16  genannten  in  Frage.   Wenn  auch 
die  Bücher  von  Mac  Culloch  (Nr.  11)  und  Mohl  (Nr.  14)  heute 
nach  einem  halben  Jahrhundert  noch  immer  schätzenswerte  Nachschlage- 
werke geblieben  sind,  so  verdanken  sie  dies  der  glücklichen  Form,  in 
der  sie  den  Stoff  darbieten.  Sie  stellen  den  Typus  der  beschreiben- 
den oder  literarischen  Bibliographie  dar,  den  ich  als  den 
für  die  wissenschaftliche  Forschung  angenehmsten  ansprechen  möchte 
und  von  dem  ich  wünschte,  daß  er  in  Zukunft  noch  mehr  zur  Geltung 
käme.    Außer  in  den  genannten  beiden  Werken  von  Mac  Culloch  und 
Mohl  begegnen  wir  ihm  unter  den  sozialwissenschaftlichen  Spezialbiblio- 
graphien  noch  bei  Nettlau  (Nr.  22),  Soetbeer  (Nr.  66). 

Werden  einige  Bemerkungen  literar-  oder  wirtschafts-historischen  und 
kritischen  Inhalts  den  aufgezählten  Büchertiteln  hinzugefügt,  so  bedeutet  für 
den  Leser  die  Bibliographie  wirklich  einen  „Wegweiser",  was  in  diesem  Sinne 
eine  reine  Bibliographie  wie  die  von  Otto  Mühlbrecht  (Nr.  16)  nicht  ist. 
Immerhin  kann  uns  diese  fleißige  Zusammenstellung  vieler  Büchertitel 
in  übersichtlicher  Gruppierung,  zumal  sie  in  ihrer  Art  die  einzige  ist, 
wertvolle  Dienste  leisten.  Sie  will  keine  vollständige  Bibliographie  sein 
und  ist  es  nicht.  Deshalb  ist  sie  nicht  sowohl  für  den  Spezialforscher 
als  für  denjenigen  von  Nutzen,  der  sich  über  eine  Materie  etwas  genauer 
informieren  will,  also  für  den  „Praktiker",  an  den  der  verdienstvolle  Heraus- 
geber nach  den  Angaben  auf  dem  Titel  wohl  auch  in  erster  Linie  ge- 
dacht hat.  Für  den  Fall  einer  Neuauflage  möchte  ich  dem  Verfasser 
dringend  raten,  den  Autoren  die  Vornamen  beizufügen.  Das  Fehlen  der 
Vornamen  wird  namentlich  auch  unter  den  ßibliotheksbeamten  als  ein 
großer  Ubelstand  empfunden.  Der  fühlbarste  Mangel  des  Mühlbrechtschen 
„Wegweiser"  ist  freilich  noch  ein  anderer,  der  auch  in  einer  Neuauflage 
der  ganzen  Natur  des  Buches  nach  sich  schwer  wird  beseitigen  lassen: 
das  Fehlen  der  Zeitschriftenliteratur. 


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Der  bibliographische  und  literarisch-kritische  Apparat  der  Sozialwisscnschaften.  229 


b)  spezielle. 

Die  Schwierigkeit,  das  gesamte  Gebiet  der  Sozial-(Staats-)wissen- 
schaften  bibliographisch  zu  umfassen  und  der  Wunsch,  möglichst  voll- 
ständige Übersichten  zu  geben,  mußte  frühzeitig  den  Gedanken  der 
Spezialisierung  nahelegen.  Man  hatte  zwei  Möglichkeiten,  den  Stoff  zu 
sichten:  die  Gruppierung  nach  Ländern  (ev.  noch  Zeitepochen)  und  die 
nach  Fächern  (Materien).    Beide  Wege  sind  betreten. 

a)  nach  Ländern  geordnete  Bibliographien. 

Deutschland: 

17.  Bibliotheca   juridica.     Handbuch    der   gesamten  neueren 

juridischen  und  staatswissenschaftlichen  Literatur.  Eine  Zu- 
sammenstellung aller  auf  dem  Gebiete  der  Rechts-  und  Staats- 
wissenschaften seit  1849  m  Deutschland  und  den  benachbarten 
Staaten  erschienenen  Schriften.  1.  Band.  Die  Jahre  1849  bis 
Mitte  1867  umfassend,  bearbeitet  von  Wuttig.  Leipzig  1867. 
2.  Band.  Die  Jahre  1867  bis  Mitte  1876  umfassend  bearbeitet 
von  Roßberg.    Leipzig  1877. 

18.  Erscheinungen  (Die)   des   deutschen  Buchhandels  auf  dem 

Gebiete  der  Staats-  und  Rechtswissenschaften,  Politik,  Statistik 
und  Nationalökonomie,  des  Finanz-  und  Bankwesens,  sowie  des 
Kirchenrechts  und  der  Kirchenpolitik.  Von  der  Gründung  des 
Deutschen  Kaiserreichs  bis  Ende  1881.    Berlin  1882. 

Niederlande : 

19.  Et.  L a s p e y  r e s ,  Bibliographie  der  volkswirtschaftlichen  Schriften 

(nämlich  der  Niederlande  im  17.  und  1 8.  Jahrhundert).  Zweiter 
Teil  der  „Geschichte  der  volkswirtschaftlichen  Anschauungen 
der  Niederländer  und  ihrer  Literatur  zur  Zeit  der  Republik." 
Leipzig  1863. 

Italien  : 

20.  An  gel  o  Bertolini,  Saggio  di  bibliografia  economica  italiana 

(1870 — 1890).    Roma  1895. 

Spanien : 

21.  Manuel  Torres  Campos,  Bibliografia  espanola  contemporanea 

del  derecho  y  de  la  politica  (1881  — 1896).    Madrid  1898. 

Sind  derartige  nationale  Bibliographien  systematisch  geordnet  wie 
z.  B.  diejenige  Bertolinis  (Nr.  20),  so  können  sie  gute  Dienste 
leisten..  Aber  doch  in  einem  sehr  beschränkten  Umfange.  Es  mag 
wichtig  sein,  die  wissenschaftlichen  Leistungen  eines  Landes  zu  über- 
schauen, um  dessen  geistigen  Entwicklungsgang  zu  verfolgen:  für  die 
wissenschaftliche  Forschung,  die  keine  Landesgrenzen  kennt,  bedeutet 


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230 


Literatur. 


die  Beschränkung  auf  eine  nationale  Literatur  eine  Minderung  des  Wertes 
einer  Bibliographie  bis  zur  Unbrauchbarkeit,  zumal  wenn  die  Übersicht 
nur  die  selbständigen  Bücher  umfaßt,  also  die  Zeitschriftenaufsätze  aus- 
schließt, wie  Nr.  17,  18,  19  und  noch  dazu  rein  chronologisch  geordnet 
ist  wie  Nr.  19.  Deshalb  ist  dieser  Typus  auch  wenig  beliebt.  Vielmehr 
sucht  man  mit  Recht  des  Stoffes  dadurch  Herr  zu  werden,  daß  man 
ihn  nach  Fächern  (Materien)  ordnet.  So  entsteht  der  wichtigste  Typus 
der  modernen  Bibliographie,  nämlich 

ß)  nach  Materien  geordnete  Bibliographien. 

Vorbemerkung.  Damit  die  Ubersicht  nicht  allzu  umfangreich 
werde,  habe  ich  nicht  berücksichtigt:  die  Bibliographien  ausschließlich 
oder  vorwiegend  technologischen  Inhalts  (über  Bergbau,  „Handels- 
wissenschaft" „Gewerbekunde"  usw.)  also  auch  nicht  die  zahlreichen  Ver- 
treter des  bekannten  Typus  der  Bibliotheca  georgica.  Einige  erläuternde 
Bemerkungen  mache  ich  am  Schlüsse  der  Zusammenstellung,  die  ich  der 
Übersichtlichkeit  wegen  nicht  durch  Hinzufügungen  unterbrechen  will 

Anarchismus : 

22.  M.  Nettlau,   Bibliographie   de  l'anarchie.     Bibliotheque  des 

„Temps  nouveaux".    Annee  1897.    Nr.  7.    Bruxelles  et  Paris. 

Arbeiterfrage:  siehe  Sozialpolitik. 
Arbeitslohn:  siehe  Nr.  152,  153. 

Armenwesen  (einschließlich  Wohltätigkeit,  Vagabondage  usw.). 

23.  F.  M.  Eden,  The  State  of  the  Poor.    3  Vol.    London  1797. 

Appendix. 

24.  J.  B.  Ri  stelhueber,  Wegweiser  zur  Literatur  der  Waisenpflege, 

des  Volkserziehungswesens,  der  Armenftirsorge,  des  Bettlerwesens 
und  der  Gefängniskunde.    2  Bände.    Cöln  1831 — 1840. 

25.  Compte-rendu  du  Congres  international  d'assistance  publique 

tenu  ä  Paris.    Paris  1889.    Bibliographie  in  Vol.  II. 

26.  Cam.  Granier,  Essai  de  bibliographie  charitable.    Paris  1891. 

27.  Luigi  Cossa,  Saggio  di  bibliografia  delle  opere  economiche 

italiane  anteriori  al  1849  sulla  teoria  della  beneficenza.  Giornale 
degli  Economisti.  1892. 

28.  und  28a.  E.  Muensterberg,   Bibliographie  des  Armenwesens. 

Bibliographie  charitable  (Schriften  der  Centraistelle  für  Arbeiter- 
wohlfahrtseinrichtungen, Abteilung  für  Armenpflege  und  Wohl- 
tätigkeit.) Berlin,  Carl  Heymanns  Verlag,  1900.  1.  Nachtrag  1902. 

Auswanderung : 

29.  Jul.  Fried r.  Sachse,  Literature  on  german  emigration.  Pennsyl- 

vania German  Society.  Proceedings  and  addresses.  Vol.  7. 
1898. 


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Der  bibliographische  und  literarisch-kritische  Apparat  der  Sozial  Wissenschaften.    23 1 

Bankwesen : 

30.  F.  Ferrara,  Bibliografia  delle  opere  sui  banchi.   Biblioteca  dell' 

Economista.    Ser.  II.  Vol  VI.    Torino  1857. 

31.  Bibliothek    der    schweizerischen    Landeskunde:  Bankwesen, 

Handelsstatistik,  Versicherungswesen.   Zusammengestellt  von  W. 
.Speiser,  T.  Geering  und  J.  J.  Kummer.     Bern  1893. 
Vgl.  auch  die  unter  „Geldwesen"  aufgerührten  Bibliographien. 

Bevölkerungswesen : 

32.  P.  Lippert  im  Anhang  zu  Band  VI  der  I.  Abteilung  des  Hand- 

und  Lehrbuchs  der  Staatswissenschaften ;  begründet  von  K. 
Frankenstein,  herausgegeben  von  Max  von  Heckel 
Leipzig  1898. 

Eisenbahnen:  siehe  Verkehrswesen. 
Finanzwissenschaft : 

33.  C.  K 1  e  t  k  e ,  Literatur  über  das  Finanzwesen  des  Deutschen  Reichs 

und  der  deutschen  Bundesstaaten.  II.  Abteilung.  Literatur  über 
das  Finanzwesen  des  preußischen  Staats.  3.  vielfach  vermehrte 
und  verbesserte  Auflage.    Berlin  1876. 

34.  A.  P.  Soubbotin,  Obzor  literatury  po    voprosu   o  priamom 

oblojenii  i  pochlinakl.  St.  Petersburg  1879. 

35.  C.  Karataev,  Bibliografiia  finansow  usw.  (17 14 — 1879).  St.  Peters- 

burg. 1880. 

36.  V.  Niccoli,  Bibliografia  dell'  estimo  ordinario  in  Italia  fino  al 

1856.    Verona-Padua  1889. 

37.  Luigi  Cossa,  Saggio  bibliografico  sulla  scienza  delle  finanze  in 

Italia  prima  del  1894.    Giorn.  degli  Econ.  1892. 

38.  idem,  Teoria  generale  delle  finanze.    Saggio  bibliografico.    1.  c. 

1895. 

39.  idem,  La  Teoria  del  credito  pubblico.  Saggio  bibliografico.  1.  c. 

1896. 

40.  R.  Stourm,  Bibliographie  historique  des  finances  de  la France  au 

XVm  siecle.    Paris  1895. 

41.  K.  Franken  stein  im  Anhang  zu  Band  I.  der  II.  Abteilung  des 

unter  Nr.  32  zitierten  Handbuchs.    1894.  (Allgemeines). 

42.  Derselbe,  ebenda  Band  II  (Steuern  im  allgemeinen)  1895. 
42a.  Derselbe,  ebenda  Band  III  (Steuern  im  besonderen)  1895. 

43.  Ellen  M.  Sawyer,  Bibliography  of  works  on  taxation.  Special 

Bulletin  of  the  State  Library  of  Massachusetts.    January  1897. 

44.  Bibliography  of  taxation.    Indiana  State  Library  Bulletin. 

March  1898. 

45.  P.  Lippert,  in  dem  Nr.  32  zitierten  Handbuch  Band  IV.  (Öffent- 

licher Haushalt,  Budget,  Finanzverwaltung)  1898. 


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232 


Literatur. 


46.  Luigi  Cossa,   Saggio    bibliografico  sulla  teona  dell'  imposta. 

Giorn.  degli  Econ.  1899. 

47.  Henri  Stein,  Bibliographie  de  l'impdt  iur  le  revenu.  Besancon 

1900.    (Bibliographe  moderne  1900  p.  264—291.) 

48.  Check  listof  foreign  governement  documents  on  finance.  New 

York,  Bull,  of  the  Publ.  Library.  1901. 

49.  Ernest  L.  Bogart  &  William  A.  Rawles,  Trial  bibliography 

and  outline  of  lectures  on  the  financial  history  of  the  Un. 
States.  Oberlin  (O.),  1901. 

50.  A.  Moli  na,  Ensayo  bibliografico  chileno  sobre  hacienda  publica. 

Santiago  de  Chile  1901. 

51.  Gustav  Sodoff sky,   Bibliographie  der  Immobilien-  und  Ge- 

bäudebesteuerung sowie  Beiträge  zur  Bibliographie  verwandter 
Fragen.    St.  Petersburg.  1901. 

52.  Josef  Stammhammer,   Bibliographie  der  Finanzwissenschaft. 

Jena,  Gustav  Fischer.  1903. 

Frauenfrage : 

53.  Arthur  L.  Jellinek,  Bibliographie  der  Frauenfrage.  Dokumente 

der  Frau.    Band  2.    15.  Nov.  1899. 

54.  Bibliography  of  Women's  Question.    English  women's 

Review  1899. 

55.  H.  J.  M  e  h  1  e  r ,  La  femme  et  lc  fdminisme.  Collection  de  livres, 

pöriodiques  etc.  sur  la  condition  sociale  de  la  femme  et  le 
mouvement  feministe,  faisant  partie  de  la  bibliotheque  de  M. 
et  Mme  C.  V.  Gerritsen  ä  Amsterdam.  Paris.  1900.  40. 
1 6  — |—  240  -\-  104  p. 

56.  Verzeichnis  der  auf  dem  Gebiete  der  Frauenfrage  während  der 

Jahre  1851 — 1901  in  Deutschland  erschienenen  Schriften. 
Herausgegeben  vom  deutsch-evangelischen  Frauenbunde  (Vor- 
wort von  Paula  Müller)  Hannover  1903. 

Geldwesen:    Über   die   älteren  vorwiegend   numismatischen  Biblio- 
graphien siehe : 

57.  C.  Meng  er,  Artikel  „Geld"  im  Handwörterbuch  der  Staatswissen- 

schaften.   2.  Aufl.  Band  4.    Jena  1900. 

58.  F.  Ferrara,  Bibliografia  delle  opere  sulla  moneta.  Biblioteca 

dell'  Economista,    Ser.  II.  Vol.  VI.  Torino.  1857. 

59.  Documents  of  the  International  Monetary  Conference  of  1878. 

Washington  1878.    (Von  Dana  Horton). 

60.  AI.  Del  Mar,  History  of  the  Precious  Metals.    London  1880. 

61.  Bela  Foldes,  Literatur  zur  Frage  über  Ursachen  und  Wirkungen 

des  Agios.  Jahrbücher  für  Nat.-Ükon.  N.  F.  Band  4.  Jena  1882. 

62.  W.  S.  Jevons  im  Appendix  zu  seinen  Investigations  in  Currency 

and  Finance.    I  i  568 — 1882).    London  1884. 


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Der  bibliographische  und  literarisch-kritische  Apparat  der  Sozialwisscnsehaftcn.  233 

63.  J.  L.  Laughlin,  Mills  Principles  of  political  economy.  Boston 

1885.    Bibl.  des  Bimetallismus  p.  635 — 659. 

64.  AI.  Del  Mar,  Money  and  Civilization.    London  1886. 

65.  Luigi  Cossa,  Saggio  di  Bibliografia  delle  opere  economiche 

italiane  sulla  moneta  e  sul  credito  anteriori  al  1849.  Giorn. 
degli  Econ.  1892. 

66.  Ad.  Soetbeer,  Literaturnachweis  über  Geld-  und  Münzwesen, 

insbesondere  über  den  Währungsstreit,  187 1 — 1891.  Mit  ge- 
schichtlichen und  statistischen  Erläuterungen.    Berlin  1892. 

67.  P.  Lippe  rt  im  Anhang  zu  Band  VIII.  der  I.  Abt.  des  unter 

Nr.  32  genannten  Handbuchs  (Bibliographie  der  Jahre  1892 
bis  1902).    Leipzig  1903. 

Geschichte  der  nationalökonomischen  Theorien: 

68.  F.  Ferrara,  Bibliografia  Fisiocratica  (Biblioteca  degli  Economisti. 

Prima  Serie.   Vol.  L    Torino  1850). 

69.  BtHa  Weiß,  Bibliographie  zur  Geschichte  der  Nationalökonomie 

Pesth,  187 1. 

70.  Luigi  Cossa,   Saggio    bibliografico  sulla  storia   delle  teorie 

economiche  in  Italia.    Giorn.  degli  Econ.  1892. 
7L  P.  Lippert  im  Anhang  zu  Band  II  der  I.  Abteilung  des  unter 
Nr.  32  genannten  Handbuchs. 

Getreidehandelspolitik :  siehe  Handel. 
Gewerkvereine;  siehe  Sozialpolitik. 
Grundrente:  siehe  Nr.  152,  153. 
Handel  und  Handelspolitik. 

72.  Julius   Graf  von   Soden,  Die  annonarische  Gesetzgebung. 

Nürnberg  1828.  Das  4.  Buch  enthält  die  „annonarische  Bibliothek". 

73.  W.   Roscher,    Über  Kornhandel.     3.  Ausgabe.   Stuttgart  und 

Tübingen.  1852.  Die  dritte  Beilage  enthält  die  „Literatur  des 
Kornhandels". 

74.  L.  Cossa,  Saggio  bibliografica  sulle  teorie  annonarie  in  Italia 

prima  del  1849.    Giornale  degli  Economisti.  1893. 

75.  P.   Lippert   im  Anhang  zu  Band  XVI  der  I.  Abteilung  des 

unter  Nr.  32  genannten  Handbuchs.    Leipzig  1900. 

76.  A.  P.  C.  Gri  ffi  en,  A  list  of  books  with  reference  te  periodicals 

on  mercantile  marine  subsidies.    Washington  1900. 
Vgl.  auch  Nr.  31. 

Handwerkerzünfte : 

77.  G.  Gonetta,  Bibliografia   statutaria  delle  corporazioni  d'arti  e 

mestieri  d'Italia  con  saggio  di  bibliografia  estera.    Roma  1891. 

78.  Giovanni  Bresciano,  Biblioteca  statutaria  delle  corporazioni 

romane  di  arti  e  mestieri.  Rivista  delle  Biblioteche  1897.  1900. 


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234 


Literatur. 


Kapitalzins:  siehe  Nr.  152,  153. 
Kartelle:  siehe  Trusts. 
Kolonialwesen : 

79.  J.  C.  Hooykaas,  Repertorium  op  de  Koloniale  litteratuur  etc. 

(Holländische  Literatur  über  holländische  Kolonien  von  1595 
bis  1865)  2.  Vol.    Amsterdam  1877.  1880. 

80.  Kolonialliteratur  des  Deutschen  Reichs  der  letzten  1  o  Jahre. 

Nürnberg  1891. 

81.  M.  Brose,  Die  deutsche  koloniale  Literatur  von  1884  bis  1895. 

Berlin  1897. 

82.  Zamboni  Fil.,  Gli  Ezzelini,  Dante  e  gli  schiavi.    Nuova  edi- 

zione.  Firenze  1897.  pag.  479—490:  „Bibliografia  ragionata 
e  notizie  di  opere  sulla  schiavitü  nel  mondo  in  ogni  epoca." 

83.  Indice  alfabetico-analitico  per  autore  e  per  soggetto  di 

tutti  gli  articoli  pubblicati  nei  bollettini  sociali  dal  1877  al 
dicembre  1897  della  Societa  di  esplorazione  commerciale  in 
Africa.    Milano  1898. 

84.  A.  P.  C.  Griffin,  List  of  books  with  reference  of  periodicals 

relating  to  the  theory  of  colonization,  governement  of  depen- 
dencies,  protectorates  and  related  topics.    Washington.  1900. 

85.  Henry  C.  Morris,  The  history  of  colonization  from  the  earliest 

times  to  the  present  day.  2  Vol.  New  York  1900.  Vol.  II. 
Pag-  3 2  5— 3°  5  Bibliography. 

86.  A.  Hart  mann,  Repertorium   op    de   litteratuur  betreffend  de 

Nederlandsche  Kolonien  in  Oost-  en  West-Indie,  voor  zoover 
zy  verspreid  is  in  tydschriften  en  mengelwerken.  Ferste  vervolg: 
1894 — 1900.    's  Gravenhage,  1901. 

87.  Mary  Stoughton  Locke,  Antislavery  in  America,  from  the 

introduetion  of  African  slaves  to  the  prohibttion  of  the  slave 
trade,  1619 — 1808.    Boston,  1901.    Bibl.  p.  166 — 231. 

88.  Bibliography  of  colonies  and  colonization.    Prepared  by  the 

Library   of  Congress.     Monthly   summary   oi  commerce  and 
finance  of  the  U.  S.  A.   No.  4.  1901. 
8g.  Pierre  Decharme,  La  colonisation  allemande.  Bibliotheque 
de  bibliographies  critiques  publiee  par  la  societee  des  e'tudes 
historiques.    Paris,  s.  a. 

90.  Ch.  Saglio,  La  colonisation  francaise  en  Indo-Chine.  ibidem. 

91.  Marcel  Ruedel,  La  colonisation  francaise  en  Tunisie.  ibidem. 

92.  M.  Ruedel,  Les  grandes  compagnies  de  colonisation  en  France 

au  XIX.  siecle.  ibidem. 

93.  M.  Dubois,  Les  systemes  coloniaux  anglais.  ibidem. 

Kommunale  Sozialpolitik:  siehe  Sozialpolitik  insbes.  Nr.  123. 


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Der  bibliographische  und  literarisch-kritische  Apparat  der  Sozialwissenschaften.  235 

Maschinenproplcm : 

94.  L.   Cossa,  Saggio  bibliografico  sulla  teoria  economica  delle 

machine.    Giornale  degli  Economisti.  1900. 

Sklaverei:  siehe  Kolonialwesen. 

Sozialismus  und  soziale  Bewegung: 

95.  H.    Fournel,   Bibliographie   Saint  -  Simonienne   (1802— 1832). 

Paris  1833. 

96.  Wegweiser  auf  dem  Gebiete  der  sozial  demokratischen  Literatur 

Deutschlands.    3.  verm.  Aufl.    Leipzig  1849. 
gj.  Journal  des  Journaux  de  la  Commune.    Table  resumd  de  la 
Presse  quotidienne  de  19  mars  —    24.  mai  1871.     2  Vol. 
Paris  1872. 

98.  R.  Meyer,  Die  neueste  Literatur  zur  sozialen  Frage.     1.  und 

2.  Abteilung.    Berlin  1873. 

99.  Derselbe,  Der  Emanzipationskampf  des  4.  Standes.  1 .  Band  1874 

(Kap.  8:  Die  soziale  Presse  deutscher  Sprache). 

IOO.  O.  Gracklauer,  Verzeichnis  von  Schriften  aus  dem  Gebiete  der 
Sozialwissenschaften.  Sozialdemokratie,  Commune,  Internationale, 
bürgerliche  Gesellschaft,  Parteien,  Presse  und  Arbeiterwesen. 
Systematisch  zusammengestellt  in  21  Rubriken.    Leipzig  1878. 

xoi.  G.  Adler,  Die  Geschichte  der  ersten  sozialpolitischen  Arbeiter- 
bewegung in  Deutschland.  Breslau  1885.  Im  Anhang:  Die 
deutsche  sozialistische  Literatur  zur  Zeit  der  ersten  Arbeiter- 
bewegung. 

102.  T.  E.  Brown,  Studies  in  modern  socialism  and  labour  problems. 

New  York  1886.    Bibliographie  auf  Seite  234 — 268. 

103.  O.  A  t  z  r  o  1 1 ,  Sozialdemokratische  Druckschriften  und  Vereine  ver- 

boten auf  Grund  des  Reichsgesetzes  gegen  die  gemeingefähr- 
lichen Bestrebungen  der  Sozialdemokratie  vom  21.  Oktober 
1878.  Im  amtlichen  Auftrage  bearbeitet.  Berlin,  Carl  Heymanns 
Verlag,  1886.   Nachtrag  1888. 

104.  G.  Canestrelli,  Bibliografia  degli  scritti  di G.  Mazzini.  Roma  1892. 
105  u.  105a.  Jos.  Stammhammer,  Bibliographie  des  Sozialismus  und 

Kommunismus.  Jena,  Gustav  Fischer,  1893.  —  Band  II.  Nachträge 
und  Ergänzungen  bis  Ende  des  Jahres  1898.    Ebenda  1900. 

106.  H.  Lux,  Etienne  Cabet  und  der  ikarische  Kommunismus.  Stut- 

gart  1894. 

107.  Deutscher,   La  bibliographie  du  socialisme  beige.    App.  zu 

J.  Destrde  et  E.  Vandervelde,  Le  socialisme  en  Belgique 
Paris  1898. 

108.  P.  Lippert  im  Anhang  zu  Band  III  der  I.  Abteilung  des  unter 

Nr.  32  genannten  Handbuchs. 

109.  Anton  Menger,  The  right  to  the  whole  produce  of  labour  .  . 


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236 


Literatur. 


W'ith    an    introduction   and  bibliography   (of  the  English 
socialist  school)  by  H.  S.  Fox  well    New  York  1899. 
110.  W.  Sombart,  Sozialismus  und  soziale  Bewegung  im  1 9.  Jahr- 
hundert.   Von  der  3.  Auflage  (1900)  an:  Führer  durch  die 
sozialistische  Literatur. 

Sozialpolitik  (Arbeiterfrage) : 

in.  H.  Blanc,  Bibliographie  des  corporations  ouvrieres  avant  1789. 
Paris  1885. 

112.  L.  Cossa,  La  partecipazione  degli  operai  al  profitto.  Saggio 

bibliografico.    Giornale  degli  Economisti  1894. 

113.  Rob.  Alex.  Peddie,  List  of  Publications  on  Trade  Unionism 

and  Combinations  of  Workmen.  App.  zu  Sidney  and  Bea- 
trice W  e  b  b ,  The  History  of  Trade  Unionism.  London  1894. 

114.  Supplement  zu  der  in  der  vorigen  Nummer  (113)  genannten 

Bibliographie  in  dem  Werke  derselben  Verfasser  „Industrial 
Democracy."  London  1897. 
n.5.  Bibliographie  des  Gewerkvereinswesens,  eine  Zu- 
sammenarbeitung der  Nr.  113  und  114  in  der  deutschen  Über- 
setzung des  Nr.  114  genannten  Werkes  (von  C.  Hugo)  Stuttgart 
1898.  2.  Band.  Mit  Schlagwortverzeichnis,  das  im  Original  fehlt. 

116.  K.  Frankenstein,  Bibliographie  des  Arbeiterversicherungswesens 

im  Deutschen  Reich.    Leipzig  1895. 

117.  Derselbe  im  Anhang  zu  Band  XIV.  der  I.  Abteilung  des  Nr.  32. 

genannten  Handbuchs. 

118.  J  o  s.  S  ta  m  m  h  a  m  m  e  r ,  Bibliographie  der  Sozial -Politik.  Jena,  Gustav 

Fischer,  1896. 

119.  List  of  Bookson  Social  Reform.  Boston  (Mass.)  Monthly  Bulletin  1898. 

120.  Helen  Marot.  A  Handbook  of  labor  literature:  being  a  classified 

list  of  the  more  important  books  and  pamphlets  in  the  english 
language.    Philadelphia.  1899. 

121.  E.  Gauger,  Essai  de  bibliographie.    Securite  des  ateliers  et 

accidents  du  travail.    Corbeil.  1899. 

122.  Leon  Losseau,  De  la  röparation  des  accidents  du  travail: 

bibliographie  des  travaux  de  langue  fran<;aise.    Bruxelles  1899. 

123.  Rob.  C.  Brooks,  A  Bibliography  of  municipal  Problems  and 

City  Conditions.  New  York  und  London  1901  ;  erschien  auch  in 
der  Zeitschrift:  Municipal  AfTairs.    New  York.    Vol.  V. 

124.  A.  Delaire,  Frederic  Le  Play.    Bibliotheque  de  bibliographies 

critiques  publice  par  la  societe  des  etudes  historiques.  Paris  s.  a. 

Städtewesen : 

125.  R.  C.  Brooks,  Bibliography  of  cities  and  towns.  Indianopolis 

(Ind.)  1898. 
Siehe  auch  Nr.  123 


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Der  bibliographische  und  literarisch-kritische  Apparat  der  Sozialwissenschaften.  237 


Statistik: 

126.  C.  Thurmanni,  Bibliotheca  Statistica  etc.    Halae  1701. 

127.  J.  G.  Meusel,  Litteratur  der  Statistik.    1790 — 1797.  Neue  Aus- 

gabe 2  Bände,  Leipzig  1806/7. 

128.  P.  F.  Heuschling,  Bibliographie  historique  de  la  Statistique  en 

AUemagne.    Bruxelles  1845. 
X29.  idem,    Bibliographie    historique  de   la  statistique  en  France. 
Bruxelles  1851. 

130.  R.  Boeck,  Allgemeine  Übersicht  der  Veröffentlichungen  aus  der 

administrativen  Statistik  der  verschiedenen  Staaten.  Berlin  1856. 

131.  Bibliografia  statistica  italiana  compilata  per  occasione  della 

IX.  Sessione  del  Congresso  internazionale  di  Statistica.  Roma  1876. 

132.  L.  Bodio,  Saggio  bibliografico  della  statistica  italiana.    3a  ed. 

Roma  1893. 

133.  Check  list  of  works  on  the  vital  statistics  of  New  York  City. 

New  York,  Bulletins  of  the  Public  Library.  1901. 

Theoretische  Nationalökonomie  im  allgemeinen.  (Systeme,  Lehr- 
bücher usw.) 

134.  L.  Cossa,  Saggio  di  bibliografia  dei  trattati  e  compendi  d'eco- 

nomia  politica  scritti  da  italiani.  Giornale  degli  Economisti 
1891.  1893. 

135.  T.   Mar  teil  o,   Dizionario   bibliografico   deU'Kconomia  politica 

(per  ordiue  cronologico)  I.  Trattati  generali.   Bologna  1893. 

136.  K.  Frankenstein,  im  Anhang  zu  Band  I  der  I.  Abteilung  des 

•  unter  Nr.  32  genannten  Handbuchs  in  der  I.  Auflage.  Leipzig  1893. 

137.  Derselbe  im  Anhang  zu  Band  IV  der  I.  Abteilung  desselben 

Handbuchs.  t 

138.  L.  Cossa,  Saggio  bibliografico  sui  trattati  e  compendi  di  economia 

politica  nelle  nazionalita  minori  (Spagna,  Portogallo  e  Brasile, 
Paesi  Bassi,  Danimarca,  Norvegia,  Svezia  e  Finlandia,  Stati  Uniti 
delf  America  settentrionale,  Polonia,  Principati  Danubiani  e 
Turchia,  Ungheria).    Giornale  degli  Economisti  1895. 

139.  idem,  Saggio  bibliografico  sui  trattati  e  compendi  inglesi  d'economia 

politica.  1.  c.  Agosto  1895. 

140.  idem,    Saggio  bibliografico    sui   trattati  e   compendi  francesi 

d'economia  politica.  1.  c.  Settembre  1895. 
14L  idem,  Saggio  bibliografico  sui  trattati  e  compendi  tedeschi  d'eco- 
nomia politica.  1.  c.  Ottobre  1895. 

142.  Aug.  Cour  not,  Researches  into  the  matheraatical  principles  of 

the  theory  of  wealth.  New  York.  1898.  Bibliography  by 
Irving  Fischer. 

Trusts : 

143.  Rcfercnce  list  on  Trusts.    San  Francisco  1900. 


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238 


Literatur. 


144.  Fanny  Borden,  Monopols  and  Trust  in  America  1895.  1899. 

Albany  New  York  State  Library  (Bull.  67.)  1901. 

145.  A.  P.  C.  Griffen,  A  List  of Books  (with  References  to  Periodicals) 

relating  to  Trusts.  2.  ed.  Washington  1902  (enthält  wesentlich 
nur  amerikanische  Literatur). 

Unternehmer  und  Unternehmergewinn:  siehe  Nr.  152.  153. 
Verkehrswesen : 

146.  Catalogue  des  pubücations  parues  sur  la  navigation  inte"rieure. 

Paris  1892. 

147.  K.  Frankenstein  im  Anhang  zu  Band  VII  der  I.  Abteilung  des 

unter  Nr.  32  genannten  Handbuchs.    (Gesamtes  Verkehrswesen.) 

148.  A.  Sichler,  Schweizerische  Eisenbahnliteratur  1 830 — 1 90 1 .  (Bib- 

liographie der  schweizerischen  Landeskunde.)    Bern  1902. 

Versicherungswesen : 

149.  O.  Gracklauer,  Verzeichnis  der  Schriften  über  Versicherungs- 

wesen 1857 — 1882.    Leipzig  1882. 

150.  P.  Lippert  im  Anhang  zu  Band  XVII  der  I.  Abteilung  des  unter 

Nr.  32  genannten  Handbuchs.  1894. 

151.  Henry  E.  Hess,  A  catalogue  of  the  library  of  the  Insurance 

association  of  Boston.    Boston  1899. 

Verteilung  des  Reichtums: 

152.  Luigi  Gossa,  La  distribuzione  delle  ricchezze.  Saggio  bibliografico. 

Giomale  degli  Economisti.  Settembre  1894  (La  distribuzione 
in  generale.  —  D  reddito.  —  L'interesse.  —  II  profitto.  —  La 
rendita.  —  II  salario.) 

153.  P.  Lippert  im  Anhang  zu  Band  V  der  I.  Abteilung  des  unter 

Nr.  32  genannten  Handbuchs.  1896.  1.  Allgemeines.  — 
2.  Verteilung  der  Güter.  —  3.  Grundrente.  —  4.  Arbeitslohn 
(in  16  Unterabteilungen).  —  5.  Zins  und  Wucher.  —  6.  Unter- 
nehmer und  Unternehmergewinn. 

Werttheorie 

154.  Luigi  Cossa,  Saggio  bibliografico  sulla  teoria  del  valore.  Gior- 

nale  degli  Economisti.    Gennaio  1895. 

Wirtsch  aftskrisen : 

155.  Edward  Jones,  Economic  crises.    New  York  1900.  Contains 

a  21  pages  bibliography. 

156.  Literatur  über  die  deutsche  Wirtschaftskrisis  der  Jahre  1 900  ff. 

in  den  Schriften  des  Ver.  für  Soc.-Pol.  Band  105.  Leipzig  1903. 

Wohnungsfrage : 

157.  Compte-rendu  du  congres  international  des  habitations  ä  bon 

marche.  Paris  1889.    Enthält  eine  von  A.  Raffalowich  und 


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Der  bibliographische  und  literarisch-kritische  Apparat  der  Sozialwissenschaften.  239 

A.  Roulliet  zusammengestellte  Bibliographie  auf  Seite  203 
bis  232. 

158.  Müller  et  Cache ux,  Les  habitations  ouvrieres  en  tout  pays. 
Paris  1889. 


Eine  Bibliographie  wird  für  wissenschaftliche  Zwecke  um  so  besser 
zu  verwenden  sein,  je  zuverlässiger,  je  vollständiger,  je  übersichtlicher 
sie  ist.  Prüfen  wir  die  soeben  aufgezählten  sozial  wissenschaftlichen  Spezial- 
bibliographien  darauf  hin,  ob  und  in  welchem  Umfange  sie  die  An- 
forderungen erfüllen,  die  an  eine  gute  Bibliographie  zu  stellen  sind  — 
Zuverlässigkeit,  Vollständigkeit,  Übersichtlichkeit  — ,  so  glaube  ich,  werden 
wir  unter  den  „reinen"  Bibliographien  die  Palme  den  Cossa-  Biblio- 
graphien zuerkennen  müssen.  Sie  sind  soweit  ich  sie  nachgeprüft  habe 
zuverlässig;  sie  sind  wenigstens  annähernd  vollständig;  sie  sind  aber  auch 
leicht  benutzbar,  weil  reich  gegliedert  oder  stark  spezialisiert  Es  ist 
einleuchtend,  daß  eine  Bibliographie  über  das  Maschinenproblem  (Nr.  94) 
oder  die  Werttheorie  (Nr.  154)  das  Problem  so  eng  faßt,  daß  wirklich  nur 
noch  engstens  zusammengehörige  Arbeiten  zusammenstehen,  die  man  nur 
noch  chronologisch  anzuordnen  braucht,  wie  es  bei  Cossa  geschieht, 
um  den  höchsten  Grad  von  Übersichtlichkeit  zu  erreichen.  Wo  das  Thema 
etwas  weiter  gefaßt  ist  (Geschichte  der  nationalökonomischen  Theorien 
in  Italien  Nr.  70,  Verteilung  des  Reichtums  Nr.  152)  ist  dann  doch  der 
Stoff  so  reich  gegliedert,  daß  man  rasch  die  Schriften  über  eine  Spezial- 
materie  überblicken  kann. 

Den  Cossa-Bibliographien  verwandt  sind  die  von  Frankenstein 
und  L  i  p  p  e  r  t.  Sie  weisen  dieselbe  Zuverlässigkeit,  dieselbe  Übersicht- 
lichkeit auf,  nur  mit  der  Vollständigkeit  haperts.  Namentlich  in  den 
späteren  Bibliographien  ist  an  Raum  gespart  und  ihr  Verfasser  (P.  L  i  p  p  e  r  t) 
hat  nur  einen  Teil  seines  Materials  verwerten  können.  Es  ist  das  sehr  zu 
bedauern  und  diese  Sparsamkeit  vom  Standpunkt  des  Verlegers  aus  schwer 
zu  verstehen.  Geben  doch  die  ausführlichen  Bibliographien  vielen  der 
Bände  dieses  unglücklichen  „Hand-  und  Lehrbuchs"  erst  einigen  Wert. 
Der  fehlende  Raum  könnte  in  den  meisten  Fällen  ruhig  auf  Kosten  des 
Textes  beschafft  werden. 

Auch  die  Muensterbergschen  Bibliographien  (Nr.  28,  28a)  sind 
musterhaft. 

Ein  sehr  großer  Teil  der  Bibliographien  ist  wertlos  wegen  ihrer 
Unvollständigkeit.  Es  sind  Gelegenheitsbibliographien  und  man  braucht 
darüber  nicht  viel  Aufhebens  zu  machen.  Dagegen  verdient  es  aus- 
drücklich hervorgehoben  zu  werden,  daß  auch  fleißige  und  gewissenhafte 
Bibliographien,  auf  die  vielleicht  die  Arbeit  viele  Jahre  verwandt  worden 
ist,  doch  wegen  ihrer  Unvollständigkeit  nur  einen  geringen  Wert  haben, 
weil   die  Verfasser   den  unverzeihlichen  Fehler  begingen,  die  Zeit- 


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240 


Literatur. 


schriftenliteratur  unberücksichtigt  zu  lassen.  Das  gilt  z.  B.  von 
der  neuesten  Bibliographie  zur  Frauen  frage  (Nr.  56).  Sie  ist,  was 
die  selbständigen  Schriften  anlangt,  recht  reichhaltig  und  zuverlässig, 
auch  leidlich  geordnet,  aber  eben  ganz  und  gar  lückenhaft,  weil  die 
Zeitschriftenaufsätze  fehlen.  Es  ist  zu  wünschen,  daß  diese  empfindliche 
Lücke  in  einer  zweiten  Auflage  ausgefüllt  werde. 

Auf  der  andern  Seite  finden  wir  Bibliographien,  die  an  Zuverlässigkeit 
und  Vollständigkeit  nichts  oder  wenig  zu  wünschen  übrig  lassen  und  die 
sich  doch  um  den  besten  Erfolg  bringen,  weil  ihnen  die  Übersichtlichkeit 
fehlt.  Das  ist  der  Typus  Stammhammer.  Ich  habe  mich  in  diesem 
„Archiv"  schon  zweimal  (in  Band  7  und  10  der  ersten  Folge)  mit  den  Stamm- 
hammer-Bibliographien beschäftigt  und  verweise  auf  das,  was  ich  dort 
gesagt  habe.  Wenn  ich  früher  die  Unvollständigkeit  seiner  Bibliographie 
des  Sozialismus  und  Kommunismus  (Nr.  105)  rügte,  so  muß  ich  jetzt 
feststellen,  daß  dieser  Übelstand  durch  das  Erscheinen  des  Ergänzungs- 
bandes (Nr.  105  a)  zum  guten  Teil  beseitigt  ist.  Was  ich  jedoch  Stamm- 
hammer vor  allem  zum  Vorwurf  machte,  war  die  wenig  übersichtliche 
Anordnung  des  Stoffes,  die  in  Nr.  105.  105  a  und  Nr.  1 18  die  alphabetische 
ist  mit  Hinzufügung  eines  Schlagwortregisters  am  Schlüsse.  Was  uns  St. 
in  diesen  Bibliographien  bietet,  ist  also  nichts  weiter  als  ein  gedruckter 
Zettelkatalog  und  ich  bleibe  dabei,  daß  ein  Zettelkatalog  trotz  Schlag- 
wortverzeichnis für  wissenschaftliche  Zwecke  fast  unbrauchbar  ist.  Wenn 
St.  jetzt  in  der  Vorrede  zu  Nr.  52  sein  Verfahren  damit  motiviert,  daß 
die  alphabetische  Anordnung  am  besten  geeignet  sei,  „einen  Überblick 
über  die  Gesamttätigkeit  jedes  einzelnen  Schriftstellers  zu  gewinnen",  so 
hat  dieses  Argument  vielleicht  einige  Beweiskraft  bei  der  Bibliographie 
des  Sozialismus.  Obwohl  auch  hier,  wie  ich  früher  dargelegt  habe,  die 
Gruppierung  der  Autoren  mindestens  nach  Ländern  und  Zeitepochen 
jenen  „Überblick"  nicht  erschwert,  sondern  wesentlich  erleichtert  haben 
würde.  Das  bestätigt  jetzt  die  N  e  1 1 1  a  u  sehe  Bibliographie  des  Anarchismus 
(Nr.  22).  Ganz  und  gar  nicht  trifft  diese  Erwägung  für  das  Gebiet  der 
Sozialpolitik  zu.  Hier  interessiert  es  keinen  Menschen  einen  „Überblick" 
über  die  71  aufgeführten  Schriften  Victor  Böhmens  oder  irgend 
eines  anderen  Autors  zu  gewinnen,  sondern  jedermann  verlangt  nach 
einem  Überblick  über  die  Literatur  einer  Spezialfrage.  Und  diesen 
verschafft  uns  auch  das  Schlagwortverzeichnis  nicht.  Wer  mag  die  hundert 
Schriften  nachschlagen,  die  über  „Gewerbeverhältnisse  in  Deutschland" 
handeln,  wenn  er  Aufschluß  über  eine  ganz  bestimmte  Spezialliteratur 
wünscht  ?  Mein  Urteil  lautete  gerade  über  die  Bibliographie  der  Sozial- 
politik bei  ihrem  Erscheinen  günstiger.  Heute,  nachdem  ich  sie  selbst 
8  Jahre  lang  benutzt  habe  und  sie  auf  ihre  Brauchbarkeit  hin  viele  Male 
geprüft  habe,  muß  ich  sagen :  gerade  die  „Bibliographie  der  Sozialpolitik", 
dieses  Riesenwerk  eines  Sammlers,  dessen  Bücherkenntnis  und  Gewissen- 
haftigkeit nicht  hoch  genug  gerühmt  werden  können,  ist  für  die  Wissen- 


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Der  bibliographische  und  literarisch-kritische  Apparat  der  Sozialwissenschaftcn.     24 1 


schaft  fast  ohne  Bedeutung  geblieben,  weil  sie  in  der  Anlage  verfehlt 
ist.    Das  hat  endlich  ihr  Verfasser  selbst  wohl  eingesehen,  denn  sein 
neuestes  Werk,  die  „Bibliographie  der  Finanzwissenschaft"  (Nr.  52)  bricht 
mit  seinem  alten  System  und  ordnet  den  Stoff  nach  Materien.  Diese 
Bibliographie  bedeutet  deshalb  einen  großen  Fortschritt  über  die  früheren 
hinaus.    Aber  es  ist  zu  bedauern,  daß  Stammhammer  auf  halbem 
Wege  stehen   geblieben  ist :  er  hat  sich  nämlich  zu  einer  wirklich 
systematischen  Gliederung  nicht  entschließen  können,  sondern  stellt  die 
einzelnen  Schriften  nach  alphabetisch  geordneten  Schlagworten  zusammen : 
Abgaben  (Allgemein  —  Geschichte),  Abschoß,  Abzuggeld,   Accise  (All- 
gemein, Abschaffung,  Geschichte,  Verminderung,  Belgien,  Brandenburg, 
England  usw.),  Aktienbesteuerung,  Aktiengesellschaften,  Adelsstand,  Ämter- 
verkauf, Aflfichierungsstempel,  Agiogewinn,  Aktensteuer  usw.  Beigefügt 
sind  dann:   1.  ein  Länder-  und  Städteregister;   2.  das  Autorenregister. 
Was  ich  gegen  diese  halbsystematische  Anordnung  einzuwenden  habe, 
ist  dieses:  daß  die  Auffindung  der  Spezialliteratur  immer  noch  erschwert 
ist.    Die  Stichwörter,  unter  denen  die  Schriften  verzeichnet  stehen,  sind 
vielfach  willkürlich  gewählt,   weil  sie  vielleicht  zufallig  sich  im  Titel 
finden    und  derjenige,    der    sich    über  die   Literatur  eines  Spezial- 
gebiets unterrichten  will,    kennt   vielleicht  das  Schlagwort  gar  nicht, 
unter  dem  er  suchen  müßte.    Auch  zerreißt  die  alphabetische  Anord- 
nung zusammengehörige  Literatur  und  erschwert  dadurch  abermals  den 
Uberblick.    Das  alphabetische  Stichwortverzeichnis  ist  vortrefflich,  aber 
es  sollte  nur  subsidiär  sein  und  ebenso  wie  das  Länder-  und  Städteregister 
im  Anhang   der    systematisch    geordneten  Bibliographie 
beigefügt  werden.    Diese  selbst  aber  muß  den  Kern  des  Buches  bilden. 
Hoffentlich  überzeugt  sich  Stamrahammer  noch  völlig  von  der  Richtig- 
keit dieser  Auffassung  und  beschenkt  uns  in  Zukunft  mit  Bibliographien, 
deren  wissenschaftlicher  Wert  nicht  hinter  der  gewaltigen  Arbeitsleistung 
zurück  bleibt,  die  jede  der  Stammharamer-Bibliographien  darstellt.  Ich 
würde  es  vor  allem  begrüßen,  wenn  uns  die  zweite  Auflage  der  Biblio- 
graphie  der  Sozialpolitik    schon  in    dieser  vollkommenen  Form  ent- 
gegenträte. 

Einen  eigenartigen  und  mir  besonders  sympathischen  Typus  bilden 
die  Bibliographien  Nett  laus  (Nr.  22)  und  Soetbeers  (Nr.  66), 
denen  die  „Bibliographies  critiques"  verwandt  sind.  Ich  bezeichnete 
ihn  als  die  literarische  Bibliographie.  Nett  lau,  der  den  Stoff, 
wie  es  sich  gehört,  nach  Ländern,  Epochen  und  Richtungen  gliedert, 
leitet  jedes  Kapitel  mit  einer  kurzen  orientierenden  Übersicht  ein  und 
tagt  auch  vielen  einzelnen  Schriften  erläuternde  Bemerkungen  hinzu. 
Soetbeer,  der  nur  Zeitepochen  unterscheidet,  die  er  aber  selbst  ge- 
bildet hat  nach  inneren  Gründen,  stellt  vor  jedem  Kapitel  das  gesetz- 
geberische und  statistische  Material  zusammen  und  charackterisiert  die 
Epoche  in  wenigen  markanten  Zügen.     Dadurch  gewinnen   die  nun 

Archiv  fur  Soiiatwisseiuchaft  u.  Sozialpolitik.  I.    (A.  f.  so/..  G.  u.  St.  XIX.)  i.  l6 


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242 


Literatur. 


folgenden  Bücher-  und  Aufsatztitel  wenigstens  einiges  Leben.  Die  Biblio- 
graphies  critiques  enthalten  bei  den  wichtigeren  Erscheinungen  einen 
kurzen  Inhaltsvermerk. 

Im  großen  Ganzen  wird  unser  Urteil  über  die  Beschaffenheit  des 
der  Sozialwissenschaft  zur  Verfügung  stehenden  spezialbibliographischen 
Materials  nicht  sehr  günstig  lauten  können.  Das  Bild,  das  uns  unsere 
bibliographische  Literatur  heute  gewährt,  ist  im  höchsten  Grade  un- 
harmonisch, buntscheckig,  zerfahren.  Es  ist  dem  Zufall  preisgegeben, 
o  b  ein  Liebhaber  sich  gerade  mit  der  Sammlung  einer  bestimmten  Lite- 
ratur befaßt,  ebenso  wie  es  der  Willkür  des  einzelnen  Sammlers  über- 
lassen bleibt,  in  welcher  Form  er  den  Stoff  darbieten  will.  Was  aber 
an  mehr  oder  weniger  brauchbaren  Bibliographien  existiert,  ist  zer- 
splittert in  eine  Unzahl  von  Schriften,  die  nur  ganz  wenige  Forscher  und 
selbst  nicht  alle  öffentlichen  Bibliotheken  beieinander  haben  können, 
auch  wenn  sie  sie  kennen. 

Das  Postulat  für  die  Zukunft  muß  lauten:  Organisation!  Zentrali- 
sation !  Wenn  irgendwo  im  Gebiete  der  Wissenschaften  der  arbeitsteilig- 
kooperative Großbetrieb  am  Platze  ist,  so  doch  ganz  gewiß  für  biblio- 
graphische Arbeiten.  Es  müßten  von  irgend  einer  Stelle  aus  ein  Paar 
Dutzend  Gelehrte  oder  Bibliothekare  angewiesen  werden,  nach  einem 
bestimmten  Plane  eine  Biblioteca  economica  universalis  anzufertigen,  die 
zwar  in  Hunderte  und  Tausende  von  Einzelbibliographien  sich  auflösen 
könnte,  aber  innerlich  in  dem  einheitlichen  Systeme,  äußerlich  in  der 
Einheit  des  Publikationsorgans  ihren  Zusammenhalt  fände.  Andere 
Wissenschaften  besitzen  solche  Bibliographien  schon.  Und  das  inter- 
nationale bibliographische  Institut  scheint  sich  zu  jener  Zentrale  zu  ent- 
wickeln.   Vgl.  Nr.  174,  176  ff. 

II.  Die  periodischen  Publikationen. 

1.  Bibliographien  in  Zeitschriften  etc. 

Eine  große  Anzahl  von  Zeitschriften  pflegt  die  Bibliographie.  Ich 
führe  die  wichtigsten  auf: 

a)  allgemeinen  Inhalts: 

159.  The  American  Journal  of  Socio  logy,  seit  1S95.  Bringt 

mehr  eine  Auswahl  als  eine  vollständige  Bibliographie,  aber  gut 
gegliedert,  auch  die  Zeitschriftenaufsätze. 

160.  Jahrbücher  für  Nationalökonomie  und  Statistik  seit  1863. 

Die  Bibliographie  der  „Jahrbücher",  die  sich  auf  alle  Zweige  der 
Sozialwisscnschaft  erstreckt,  ist  wohl  die  vollständigste  der  periodisch  er- 
scheinender Literaturübersichten,  die  wir  besitzen.  Umsomehr  ist  es  zu 
bedauern,  daß  sie  ähnlich  wie  die  Stammhammerschen  Bibliographien 
sich  durch  Fehler  in  der  Anlage  um  einen  guten  Teil  des  Erfolges 


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Der  bibliographische  und  literarisch-kritische  Apparat  der  Sozialwissenschaften.  2 


bringt.  Auch  sie  entbehrt  der  Übersichtlichkeit.  Seit  vielen  Jahren 
werden  die  aufgeführten  Büchertitel  in  dieselben  1 3  Rubriken  eingeordnet 
und  verschwinden  hier  für  die  Mehrzahl  aller  Leser  für  immer.  Schon 
vor  Jahren  habe  ich  diese  ungefüge  Gliederung  („Jahrbücher  für  National- 
ökonomie" usw.  III.  F.  Bd.  VT  S.  933/34)  getadelt  und  den  Wunsch  ge- 
äußert, es  möchte  den  Anforderungen  der  fortschreitenden  Wissenschaft 
entsprechend  der  Stoff  reicher  gegliedert  werden.  Es  bleibt  aber  beim 
alten.  Was  in  aller  Welt  soll  man  mit  solchen  Sammelrubriken  wie 
„Gewerbewesen",  „Soziale  Frage",  anfangen  ?  Dazu  kommt  noch  ein  sehr 
empfindlicher  zweiter  Übelstand:  die  Zeitschriftenliteratur  ist  überhaupt 
nicht  nach  Materien  eingeteilt,  wird  vielmehr  in  bloßen  Inhaltangaben 
der  Zeitschriften  gebracht,  üas  heißt  denn  doch  an  die  Geduld  des 
Lesers  zu  hohe  Anforderungen  stellen,  wenn  man  von  ihm  verlangt,  er 
solle  um  irgend  einer  ganz  speziellen  Literatur  willen,  die  er  für  einen 
bestimmten  Zweck  braucht,  tagelang  sich  durch  den  Wust  von  Tausenden 
von  Zeitschriftenaufsätzen  hindurcharbeiten.  So  wie  die  Bibliographie  der 
„Jahrbücher"  jetzt  abgefaßt  ist,  stiftet  sie  für  die  Wissenschaft  nur  sehr 
geringen  Nutzen,  zumal  sie  in  ihrer  jetzigen  Anordnung  für  eine  Rück- 
schau über  einen  längeren  Zeitraum  überhaupt  nicht  in  Betracht  kommt. 

161.  Richard  Calw  er,  Handel  und  Wandel.    Jahrgang  1901  und 

1902.  Fortgesetzt  u.  d.  T.  Das  Wirtschaftsjahr  1902.  Erster 
Teil  Handel  und  Wandel  in  Deutschland.  Berlin  und  Jena. 
Enthält  kurze  bibliographische  Übersichten,  die  für  die  Spezial- 
literatur  einzelner  Gewerbe  nicht  ohne  Wert  sind. 

b)  Spezialbibliographien . 

Die  übrigen  Zeitschriften,  die  besondere  Bibliographien  publizieren, 
pflegen  nur  einzelne  Zweige  der  Literatur: 

Arbeiterfrage,  „Sozialpolitik" : 

162.  Der   Arbeiterfreund,    Zeitschrift    für    die  Arbeiterfrage. 

Herausgeg.  von  V.  Böhmer t.    Seit  1863.  Berlin. 

163.  Bulletin     des     Internationalen     Arbeitsamts.  Re- 

digiert von  St.  Bauer.  Seit  1902.  Jena. 
Beide  Organe  enthalten  ganz  ausgezeichnete  Bibliographien,  die 
ebensosehr  durch  die  Reichhaltigkeit  der  berücksichtigten  Literatur  wie 
durch  die  vortreffliche  Gliederung  des  Stoffs  hervorragen.  Die  Biblio- 
graphie des  „Arbeiterfreunds"  steckt  den  Rahmen  etwas  weiter:  sie  um- 
faßt auch  Sozialismus,  Handwerkerfrage  usw.,  die  des  Bulletin  beschränkt 
sich  auf  die  Lohnarbeiterfrage,  ist  aber  dafür  von  einer  wohl  kaum  zu 
übertreffenden  Vollständigkeit :  in  jeder  Hinsicht  das  Muster  einer  Spezial- 
bibliographie. 

164.  Bulletin  de  la  partieipation  aux  benefices,  public  par  la  Socie"te 
pour  l'etude  pratique  de  la  partieipation  du  personnel  dans  les 
benefices.  Paris. 

i(>* 


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244 


Literatur. 


Finanzwesen : 

165.  Finanzarchiv.  Herausgeg.  von  G.  Schanz.  Seit  1884.  Stutt- 

gart. Enthält  ungegliederte  Jahresübersichten  über  die  Finanz- 
literatur. 

Kolonialwesen : 

166.  Beiträge  zur  Kolonialpolitik  und  Kolonial  Wirtschaft.  In  Sonder- 

heften veröffentlicht  M.  Brose  ausführliche  Jahresübersichten, 
im  Anschluß  an  Nr.  81. 

Statistik : 

167.  Allgemeines  Statistisches   Archiv.    Herausgegeb.  von 

G.  von  Mayr.    Seit  1889.  Tübingen. 

168.  Bulletin  de  l'institut  international  de  Statistique.  Seit  1 888.  Rome. 

Reiche,  nach  lindern  und  innerhalb  der  Länder  nach  Materien  ge- 
ordnete Übersichten  der  statistischen  Literatur. 

Verkehrswesen : 

169.  Archiv  für  Eisenbahnwesen.    Herausgegeben  vom  preuß. 

Ministerium  für  öffentliche  Arbeiten.    Seit  1879.  Berlin. 

Wirtschaftsgeschichte : 

170.  Zeitschrift  für  Sozial-  und  Wirtschaftsgeschichte.  1893 — 1900. 

Jetzt  wieder  begonnen  unter  dem  Titel :  Vierteljahrsschrift 
für  Soz,  und  Wirtschaftsgesch.  Herausgeg.  von  St.  Bauer, 
L.  M.  Hartmann,  G.  v.  Below.    Seit  1903.  Leipzig. 

Bringt  abwechselnd  die  Bibliographien  der  wirtschaftsgeschichtlichen 
Literatur  der  einzelnen  Länder. 

2.  Selbständige  Bibliographien. 

Lassen  wir  diejenigen  Bibliographien,  die  heute  ihr  Erscheinen  ein- 
gestellt haben,  unberücksichtigt,  so  besitzen  wir  meines  Wissens  nur 
folgende  periodische  SpezialÜbersichten  der  sozialwissenschaftlichen  Literatur, 
von  denen  die  Nr.  171  bis  173  merkantilischen  Zwecken  ihr  Dasein 
verdanken : 

171.  Allgemeine  Bibliographie  der  Staats-  und  Rechts- 

wissenschaften. Übersicht  der  auf  diesen  Gebieten  im 
deutschen  und  ausländischen  Buchhandel  neu  erschienen  Litteratur. 
Herausgeber  Otto  Mühlbrecht.  Jährlich  6  Doppelnummern. 
XXXVI.  Jahrgang  1903.    Berlin,  Puttkammer  u.  Mühlbrecht. 

Bringt  eine  ziemlich  vollständige  Übersicht,  nach  Ländern  geordnet. 
Da  jede  Gliederung  nach  Materien  fehlt,  die  staatswissenschaftliche 
Literatur  aus  dem  Wust  der  rechtswissenschaftlichen  Literatur  heraus- 
gesucht werden  muß,  die  Zeitschriftenliteratur  nicht  herangezogen  ist,  so 
ist  die  Benutzbarkeit  für  wissenschaftliche  Zwecke  der  immerhin  ihre 


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Der  bibliographische  und  litcrarisch-krilischc  Apparat  der  Sozial  Wissenschaften.  245 

Dienste  als  einzige  ihrer  Art  (in  dieser  Vollständigkeit)  versehenden 
Bibliographie  in  doch  recht  enge  Schranken  gebunden. 

172.  Bericht  über  Neue  Erscheinungen  und  Antiquaria  aus  dem 

Gesamtgebiete  der  Rechts-  und  Staatswissenschaften.  Heraus- 
geber R.  L.  Prag  er.    Jährlich  4  Nummern.    Seit  1886. 

Der  Bericht  enthält  nur  eine  Auswahl  selbständiger  Schriften,  die 
in  alphabetischer  Ordnung  ohne  weitere  Gliederung  mitgeteilt  werden. 
Mängel  dieselben  wie  bei  Nr.  171. 

173.  Deutsche  Bibliographie  der  Arbeiter-Versorgung. 
Ein  vierteljährliches  Verzeichnis  aller  auf  dem  Gesamtgebiete  der 
Arbeiter-Wohlfahrtspflege  in  Deutschland  erschienenen  Schriften. 
Seit  1900.    Berlin,  A.  Troschel. 

Bringt  auch  nur  im  Buchhandel  erschienene  Schriften,  ist  aber  reich- 
haltig und  hinreichend  gegliedert  (in  15  Abteilungen),  deshalb  nicht 
ohne  Wert. 

174.  Bibliographia  economica  universalis.  Repertoire 
bibliographique  annuel  des  travaux  rel.  aux  sciences  economiques 
et  sociales,  public  par  Jules  Mandellö.  i*reannee:  Travaux 
de  l'annee  1902,  rediges  par  Ervin  Szab6.  Bruxelles:  In- 
stitut International  de  Bibliographie  (1903.)   (XXI  170)  8°. 

(Bibliographia  Universalis.  Publication  cooperative  de  l  lnstitut 
International  de  Bibliographie.    Contribution  n°  39.) 

Dieser  soeben  (Anfang  des  Jahres  1904)  ausgegebene  Band  macht 
in  gewissem  Sinne  Epoche  auf  dem  Gebiete  der  sozialwissenschaftlichen 
Bibliographie.  Er  bringt  zum  ersten  Male  eine  systematisch  geordnete, 
reich  gegliederte  Übersicht  über  die  Gesamtliteratur  der  politischen 
Ökonomie  eines  Jahres,  einschließlich  der  Zeitschriftenaufsätze  und  mit 
der  Aussicht  auf  regelmäßige  Fortsetzungen.  Diese  Erscheinung  ist  also 
mit  Freuden  zu  begrüßen.  Zwar  ist  sie  keineswegs  frei  von  Mängeln. 
Da  aber  der  Verfasser  in  der  Vorrede  diese  Mängel  selbst  anerkennt  — 
der  Hauptmangel  ist  die  ungenügende  Berücksichtigung  der  Zeitschriften- 
literatur, für  die  nur  42  Zeitschriften  herangezogen  sind  —  und  uns  ihre 
Beseitigung  für  die  Zukunft  in  Aussicht  stellt,  so  soll  hier  von  einer  ein- 
gehenden Kritik  abgesehen  werden.  Auch  in  eine  Diskussion  über  die 
Vorzüge  und  Nachteile  der  Deweyschen  Dezimalklassifikation,  die  bei 
der  Anordnung  des  Stoffes  zur  Anwendung  gelangt  ist,  will  ich  mich 
heute  nicht  einlassen.  Ich  halte  dieses  System  nicht  für  ein  Hindernis 
auf  dem  Wege  zu  einer  wissenschaftlich  einwandfreien  Bibliographie  und 
will  deshalb  mit  dem  Verfasser  hoffen,  daß  sich  das  neue  Jahrbuch 
wirklich  zu  einem  vollkommenen  und  wohlgeordneten  Repertorium  unserer 
Literatur  auswächst.  Dann  kann  es  ftir  die  Zukunft  in  der  Tat  das 
Zentralorgan  werden,  in  dem  alle  Einzelbibliographien  aufgehen  und  das 
mit  seinen  regelmäßigen  Fortsetzungen  (bei  dem  billigen  Preise  von  5  Mk.) 


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246 


Literatur. 


einen  für  jeden  Gelehrten  leicht  zugänglichen  Hilfsapparat  bildet,  der  alle 
anderen  bibliographischen  Nachschlagewerke  von  dem  Jahre  1902  an 
überflüssig  macht.  Das  Jahrbuch  würde  dann,  mit  seinen  regelmäßig 
erscheinenden  Bänden,  jene  nach  dem  Stande  des  Jahres  1902  oder 
vielleicht  1905  (wenn  wir  annehmen,  daß  das  Jahrbuch  so  lange  braucht, 
um  sich  auszuwachsen)  aufzunehmende  Gesamtinventur  der  ökonomischen 
Literatur,  von  der  ich  vorhin  sprach,  fortzusetzen  bestimmt  sein. 

Aber  eines  wird  das  neue  Jahrbuch  nie  zu  leisten  vermögen:  die 
rasche  Orientierung  über  die  laufende  Literatur,  die  wir  doch  nicht  gern 
entbehren  möchten.  Auch  wenn  es  in  Zukunft,  wie  in  Aussicht  steht, 
früher  als  das  erste  Mal  erscheint,  so  werden  doch  immer  ein-  bis  andert- 
halb Jahre  vergehen,  bis  man  den  Stand  der  neuesten  Literatur  zu  über- 
blicken vermag.  Deshalb  müssen  dem  Jahrbuch  ergänzend  zur  Seite 
treten  regelmäßig  in  kurzen  Abständen  von  höchstens  1  Monat,  lieber 
noch  von  14  Tagen  erscheinende  bibliographische  Übersichten.  Es  ist 
wünschenswert,  daß  diese  Übersichten  nicht  im  Anschluß  an  eine  Zeit- 
schrift erscheinen,  sondern  gesondert.  Nicht  nur  um  sie  den  einzelnen 
leichter  zugänglich,  sondern  auch  um  sie  übersichtlicher  zu  machen, 
was  geschieht,  wenn  man  ihre  Sammlung  in  einzelnen  selbständigen 
Heften  ermöglicht.  Daß  die  Bibliographie  die  Zeitschriftenliteratur 
mitumfassen  und  wohl  gegliedert  sein  müßte,  ist  selbstverständlich. 
Eine  solche  Literaturübersicht  ist  unlängst  für  die  Naturwissenschaften 
geschaffen  worden,  allerdings  unter  Beschränkung  auf  die  deutsche 
Literatur  in  der 

175.  Bibliographie  der  deutschen  naturwissenschaftlichen  Literatur. 

Herausgegeben  im  Auftrage  des  Reichsamts  des  Innern  vom 
Deutschen  Bureau  der  Internationalen  Bibliographie  in  Berlin.  Jena. 

Die  Bibliographie,  von  der  augenblicklich  (Februar  1 904)  der  vierte 
Band  im  Erscheinen  begriffen  ist,  kommt  etwa  alle  10  Tage  in  Gestalt 
eines  Doppelheftes  von  4  Bogen  Umfang  heraus,  bildet  also  jährlich  einen 
Band  von  120  Bogen.  Sie  ist  außerordentlich  reich  gegliedert.  Die 
Gebiete  wechseln  von  Heft  zu  Heft.  Etwas  ähnliches  muß  für  die 
Sozialwissenschaften  ebenfalls  eingerichtet  werden  und  zwar  wenn  irgend 
tunlich  für  die  sozialwissenschaftliche  Litteratur  aller  J.änder.  Wie  sich 
dann  dieses  Bulletin  mit  dem  Jahrbuch  auseinandersetzt,  ist  eine  rein 
technische  Frage,  wenn,  wie  zu  hoffen  steht,  beide  Unternehmungen  in 
einer  Hand  ruhen. 

Ein  bibliographisches  Bulletin  für  die  Sozialwissenschaften,  ähnlich 
wie  ich  es  mir  denke,  hat  schon  eine  Zeitlang  bestanden.  Und  zwar 
als  Publikation  eben  des  Institut  international  de  Bibliographie,  das  da- 
mals noch  Office  international  hieß.    Ich  meine  die  folgenden  Werke: 

176.  Catalogue  des  ouvrages  de  sociologie,  publie  eu  Annexe  de 

la  Revue  sociale  et  politique  depuis  1892. 


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Der  bibliographische  und  litrrarisch-krilische  Apparat  der  Sozialwisscnschaften.  247 

177.  Sommaire  möthodique  des  traites,  monographies  et  revues 

de  Sociologie,  public  sous  la  direction,  de  MM.  H.  Lafontaine 
et  P.  Otlet.  Bruxelles  1894.    lre  Annee.   3  Doppelnummern. 

178.  Bibliographia  sociologica.    Sociologie  et  Droit.  Som- 

maire methodique  des  Traites  et  des  Revues  dresse ...  par 
MM.  H.  La  Fontaine  et  P.OtleL  Bruxelles  1895.  $e  annee 
(weil  als  Fortsetzung  des  unter  Nr.  176  genannten,  für  die 
Rechtswissenschaft  1891  begonnenen  Catalogue  gedacht).  4  nu- 
meros  par  an. 

Es  ist  dringend  zu  wünschen,  daß  diese  Publikation  wieder  auf- 
genommen werde. 

Aber  ich  bin  noch  immer  nicht  am  Ende  meiner  Wünsche:  In- 
ventarium,  Jahrbuch,  Bulletin  würden  den  Bedarf  an  rein  bibliographischen 
Hilfsmitteln  vollauf  befriedigen.  Daneben  brauchen  wir  aber  dringend 
„Wegweiser"  durch  die  sozialwissenschaftliche  Literatur,  wie  sie  allein 
uns  die  resumierend-kritischen  Literaturberichte  gewähren 
können. 

C.  Literaturberichte. 

Dem  Bedürfnis  nach  regelmäßigen  Berichten  über  den  Gang  und 
Stand  der  Literatur,  das  jede  Wissenschaft  hat,  verdanken  wir  die  in 
allen  Ländern  erscheinenden  „literarischen  Zentralblätter",  deren  wir  in 
Deutschland  bekanntlich  mehrere  besitzen.  Sie  haben  heute,  nachdem 
die  Literatur  in  allen  Zweigen  der  Wissenschaft  ins  Unermeßliche  ange- 
wachsen ist,  die  Bedeutung  verloren,  die  sie  ehemals  hatten.  Sie  können 
rein  quantitativ  nicht  jedem  Fache  gleichmäßig  Genüge  sein.  Die  Folge 
ist  gewesen,  daß  sie  einzelne  Fächer  (Theologie,  Philologie)  reichlich 
ausstatten,  während  andere  Glieder  der  Lfaiversitas  literarum  in  ihnen 
atrophieren.  Dahin  gehören  alle  Naturwissenschaften,  für  die  jene 
„Zentralblätter1'  kaum  noch  existieren;  dahin  gehören  auch  die  Sozial- 
wissenschaften. Während  nun  aber  die  Vertreter  der  Naturwissenschaften 
die  Konsequenz  gezogen  und  sich  eine  Fülle  eigener  Literaturblätter  ge- 
schaffen haben,  sitzen  wir  jetzt  völlig  auf  dem  Trockenen. 

Meines  Wissens  besteht  für  die  gesamte  sozialwissenschaftliche 
Literatur  im  Augenblick  nur  ein  einziges,  selbständiges  Organ,  das 
sind  die 

179.  Notes  critiques  —  Sciences  sociales   —   Bulletin  biblio- 

graphique   paraissant  tous    les  mois  (aoüt  et   septembre  ex- 
ceptes).    Seit  1900.    Paris.    Societe  nouvelle  de  Librairie  et 
d'Edition  (Librairie  Georges  Bellais). 
Die  „N.  Cr."  sind  in  diesem  „Archiv"  bereits  besprochen  worden 
(Erste  Folge  Bd.  16,  S.  547).    Dem  Urteil,  das  Dr.  Braun  damals  über 
sie  gefällt  hat,  kann  ich  mich  in  jeder  Hinsicht  anschließen :  Die  „N.  Cr." 


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248 


Literatur. 


sind  ein  vortrefflich  redigiertes  Literaturblatt.  Trotzdem  sind  sie  für 
die  Bedürfnisse  unserer  Wissenschaft  durchaus  unzureichend:  sie  sind 
zu  dürftig.  Sie  wären  schon  eine  schmale  Kost,  selbst  wenn  alles,  was 
sie  uns  vorsetzen,  „Sozialwissenschaft"  im  deutschen  Sinne  wäre.  Nun 
wird  aber  das  Blatt  im  Sinne  der  franzosischen  Soziologenschule  redigiert, 
die  sich  um  E.  Dürkheim  schart  und  ist  infolgedessen  überwiegend 
mit  Dingen  angefüllt,  die  wir  in  einer  sozialwissenschaftlichen  Rundschau 
nicht  suchen.  Die  Rubriken  sind :  I.  Sociologie  en  göneral.  II.  Ethno- 
graphie. Folklore.  III.  Sciences  des  religions.  IV.  Science  du  droit  et 
des  moeurs.  V.  Science  economique.  VI.  Etudes  divers.  A.  Questions 
morales  et  religieuses.  B.  Questions  politiques  et  sociales.  C.  Socialisme. 
In  den  Rubriken  I  bis  VI  werden  gepflegt :  „toutes  les  diseiplines 
d'ordre  sociologique" ;  in  den  Rubriken  A  bis  C  sollen  die  Schriften 
„d'ordre  pratique  et  tendancieux"  besprochen  werden.  (Vgl.  die  Be- 
merkungen Francois  Simiands  „Sur  le  plan  des  N.  Cr."  in  Nr.  21 
(N,,e  Serie)  Janvier  1903).  Man  sieht  schon  aus  dieser  Einteilung,  daß 
für  die  „Sciences  öconomiques"  nur  ein  bescheidenes  Plätzchen  in 
dieser  dem  Umfang  nach  schon  recht  bescheidenen  Zeitschrift  verbleibt. 
Zieht  man  noch  in  Betracht,  daß  die  Anzeigen  der  einzelnen  Werke, 
die  wirklich  zur  Besprechung  gelangen,  viel  zu  lang  sind,  so  kommt 
man  tatsächlich  zu  dem  Ergebnis,  daß  jedenfalls  für  die  nationalöko- 
nomische Literatur  die  N.  Cr.  rein  quantitativ  versagen. 

Und  doch:  die  andern  Länder  haben  nicht  einmal  das!  Das 
einzige  deutsche  Organ,  das  überhaupt  eine  „kritische  Bibliographie", 
wenn  auch  nur  auf  einem  beschränkten  Gebiete  bringt,  sind  die 

180.  Dokumente  des  Sozialismus.  Herausgegeben  von  Ed. 
Bernstein.  Berlin  und  Stuttgart.  Seit  1902.  Jährlich 
12  Hefte. 

Die  „Dokumente"  sind  zweifellos  ein  in  ihrer  Art  sehr  verdienst- 
liches Unternehmen.  Aber  dem  Bedürfnis  nach  einer  sozialwissenschaft- 
lichen Rundschau  können  sie  naturgemäß  nicht  abhelfen.  Die  „Kritische 
Bibliographie",  die  eine  ihrer  vier  Rubriken  bildet,  ist  eine  Kr.  B. 
„des  Sozialismus",  die  nur  gelegentlich  auf  andere  Gebiete  hinübergreift. 
Und  dann  muß  man  immer  noch  bei  einer  fremden  Zeitschrift  zu  Gaste 
gehn,  um  sich  auch  nur  diese  beschränkte  Literaturübersicht  zu  ver- 
schaffen (jährlich  kommen  etwa  2—300  Werke  zur  Anzeige). 

Zu  selbständigen  Literaturblättern  unseres  Faches  hat  man  soviel 
ich  sehe  in  Deutschland  nur  zweimal  einen  Anlauf  genommen. 

181.  Kritische  Übersicht  der  neuesten  Literatur  in  dem  ge- 

samten Gebiete  der  Staatswissenschaften.    In  Verbindung  mit 

mehreren    gelehrten  Männern    herausgegeben  von  K.  H.  L. 

Pölitz.    2.  Bände.  Leipzig  1835. 

182.  Der    Beobachter  der    sozialen   Literatur.  Biblio- 


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Der  bibliographische  und  literarisch-kritische  Apparat  der  Sozialwissenschaftcn.  249 

graphische  und  kritische  Monatsrevue   für   die  Literatur  der 
Sozialwissenschaften  und  der  Propaganda  pro  und  contra  Sozia- 
lismus. Red.  J.  Franz  und  Carl  Moor.    1.  Jahrgang  1877/78. 
Zürich.    12  Nummern. 
Beide  Publikationen  können  heute  nicht  mehr  als  Muster  dienen; 
sie  sind  nur  Dokumente  des  guten  Willens.    Aber  an  Vorbildern  fehlt 
es  gewiß  nicht.    Allein  die  Naturwissenschaften  bieten  deren  ein  halbes 
Dutzend  dar.    Das  Blatt  müßte  wöchentlich  oder  alle   14  Tage  er- 
scheinen im  Umfange  von  3—4  Bogen  und  in  ganz  knappen  Berichten 
von  wenigen  Zeilen  die  selbstverändlich  in  einer  reich  gegliederten  Syste- 
matik wohlgeordneten  Neuerscheinungen  aus  dem  Gesamtgebiete  der 
Sozialwissenschaft  (im  deutschen  Sinne)  aller  Länder  zur  Kenntnis  bringen. 
Ob  es  daneben  auch  noch  bibliographische  Übersichten  veröffentlichen 
sollte,  würde  davon  abhängen,  in  welchem  Umfange  unser  rein  biblio- 
graphisches Bedürfnis  schon  befriedigt  wäre.    Daß  uns  aber  ein  solches 
„Zentralblatt  für  die  sozial  Wissenschaft  liehe  Literatur" 
wie  das  liebe  Brot  fehlt,  das  möchte  ich   noch  einmal  ausdrücklich 
ausgesprochen  haben. 

Nun  gibt  es  aber  noch  einen  andern  Typ  von  Literaturberichten  als 
den,  von  dem  bisher  die  Rede  war.  Das  sind  die  literarischen  Jahr- 
bücher, deren  aber  für  unser  Fach  wiederum  nur  Frankreich  eines  be- 
sitzt, in  Gestalt  der 

183.  L'annee  sociologique,  publiee  sous  la  direction  de  Emile 

Dürkheim.    Paris.    Seit  1897. 

Dieses  ausgezeichnete  Jahrbuch  wird  in  diesem  „Archiv"  noch  von 
Ferdinand  Tönnies  eingehend  gewürdigt  werden.  Ich  verzichte 
deshalb  hier  darauf,  es  näher  zu  kennzeichnen  und  begnüge  mich  mit 
dem  Hinweise,  daß  es  zu  den  Notes  critiques  (Nr.  179)  in  enger  Be- 
ziehung steht.  Es  behandelt  im  wesentlichen  dieselben  Materien  wie 
diese,  hat  zum  großen  Teil  dieselben  Mitarbeiter  wie  diese  und  bildet 
innerlich  mit  diesen  insofern  eine  Einheit,  als  in  ihm  diejenigen  Werke 
ausführlich  und  in  streng  wissenschaftlichem  Sinne  besprochen  werden, 
die  als  besonders  wertvoll  betrachtet  und  deshalb  in  den  „Notes  critiques" 
nur  genannt  aber  nicht  rezensiert  werden. 

Das  einzige,  was  wir  in  Deutschland  der  „Annee  sociologique"  zur 
Seite  zu  stellen  haben,  sind  die  in  ihrer  Art  auch  vortrefflichen 

184.  Jahresberichte   der  Geschichtswissenschaft.  Herausgegeben 

im  Auftrage  der  Historischen  Gesellschaft  zu  Berlin.  Seit  1878. 

In  ihnen  werden  auch  sozialwissenschaftliche  Werke,  die  für  die  Historiker 
von  Interesse  sein  könnten,  angezeigt.  Aber  es  ist  selbstverständlich, 
daß  unser  Fach  nur  sehr  geringe  Berücksichtigung  findet  und  daß  die 
„Jahresberichte"  ein  „Jahrbuch  der  Sozialwissenschaft"  nicht  zu  ersetzen 
vermögen. 


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Literatur. 


Zum  Schlüsse  möchte  ich  noch  die  Frage  aufwerfen:  welches  denn 
nun  die  Aufgaben  der  wissenschaftlichen  Fachzeit- 
schriften gegenüber  der  Literatur  seien  r 

Da  meine  ich  denn,  daß  sie  in  erster  Linie  die  gründliche  Einzelkritik 
zu  pflegen  haben,  auf  der  einen  Seite  der  guten,  auf  der  andern  der  gefähr- 
lichen Werke.  Daneben  werden  aber  auch  die  wissenschaftlichen  Organe 
sich  der  Verpflichtung  nicht  entziehen  können,  ihre  Leser  durch  zusammen- 
fassende Übersichten  über  einzelne  Zweige  der  Literatur  zu  orientieren.  Wie 
es  sich  der  Begründer  der  „Jahrbücher  für  Nationalökonomie  und  Statistik", 
Bruno  Hildebrand,  vorgenommen  hatte,  als  er  im  Vorwort  zum 
ersten  Bande  jener  Zeitschrift  (1863)  ankündigte,  es  solle  bei  der 
Anzeige  der  Literatur  „als  Regel  eine  gruppenweise  Behandlung  gelten, 
bei  welcher  die  sämtlichen  neueren  Leistungen  über  eine  bestimmte 
wissenschaftliche  Frage  unter  Anknüpfung  an  die  früheren  Bearbeitungen 
des  Gegenstandes  zur  gemeinsamen  kritischen  Würdigung  gelangen." 
Und  in  der  Tat  enthalten  die  älteren  Jahrgänge  der  „Jahrbücher"  eine 
ganze  Reihe  derartiger  „Übersichten".  Wie  die  Leser  dieses  „Archivs" 
aus  dessen  Prospekt  wissen,  beabsichtigen  die  neuen  Herausgeber,  diesen 
Typus  der  literarischen  Kritik  in  dieser  Zeitschrift  wieder  zu  Ehren  zu 
bringen.  Worauf  es  bei  solchen  Kollektivbesprechungen  vor  allem  an- 
kommt, ist  die  zweckmäßige  Zusammenfassung  der  gemeinsam  zur  An- 
zeige gelangenden  Werke,  wie  sie  allein  durch  eine  richtige  wissenschaft- 
liche Fragestellung  ermöglicht  wird.  Bringt  man  diejenigen  Publikationen 
in  einem  Bericht  zusammen,  die  über  ein  gerade  die  Wissenschaft  be- 
schäftigendes Problem  Licht  zu  verbreiten  imstande  sind,  so  dient  die 
literarische  Kritik,  auch  wenn  die  rezensierten  Schriften  gar  nicht  von 
hervorragender  Bedeutung  sind,  in  eminentem  Maße  der  wissenschaft- 
lichen Erkenntnis.  Ob  die  Herausgeber  imstande  sein  werden,  diesen 
besonders  schwierigen  Teil  ihres  Programms  zur  Ausführung  zu  bringen, 
muß  die  Zukunft  lehren. 

WERNER  SOMBART 


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251 


Zur  Genealogie  der  Angriffe  auf  das  Eigentum. 

Glaser,  Friedrich,  Dr.  Die  franziskanische  Bnvegung.  Ein  Bei- 
trag zur  Geschichte  sozialer  Reformideen  im  Mittelalter. 
Stuttgart  1903.  Münchener  Volkswirtschaftliche  Studien, 
herausgegeben  von  Lujo  Brentano  und  Walther  Lötz. 
59.  Stück. 

Kein  Stammbaum,  der  älter  wäre  als  der  der  Angriffe  gegen  das 
Eigentum.  Ich  denke  dabei  nicht  an  die  kommunistischen  Ausführungen, 
die  bei  einzelnen  griechischen  Philosophen  sich  finden.  Sie  sind  auf 
die  Ausbildung  der  neueren  kommunistischen  Lehren  nicht  ohne  Einfluß 
geblieben;  aber  sie  waren  dies  weniger  unmittelbar,  als  insofern  sie  die 
christlichen  Anschauungen  in  der  Zeit  der  Kirchenväter  beeinflußt  haben. 
Diese  sind  es,  von  denen  die  kommunistischen  Ideen  in  ununterbrochener 
Linie  in  die  Neuzeit  hinübcrlaufen.  Ihre  Grundgedanken  wirkten  auch 
dann  noch  nach,  nachdem  die  Angreifer  den  christlichen  Boden  ver- 
lassen hatten.  Damit  geht  der  Stammbaum  dieser  Angriffe  zurück  auf 
das  ehrwürdigste  Element  unserer  Kultur,  die  Bibel. 

Nach  der  Auffassung  des  alten  Testaments  gab  es  nur  einen  Eigen- 
tümer :  Jehovah.  Dieser  hatte  jeder  Familie  den  ihr  gebührenden  Anteil 
am  Lande  verliehen.  In  jedem  Jubeljahre  sollte  das  Land  aufs  neue 
gleichmäßig  verteilt  und  so  der  auf  die  Ebenmäßigkeit  des  Besitzes  und 
Gleichheit  des  Rechts  begründete  normale  Zustand  des  Reichs  wieder- 
hergestellt werden.  Wie  es  sich  mit  dieser  Vorschrift  verhalten  haben 
mag,  —  ob  wir  es  hier  mit  einer  Theorie  zu  tun  haben,  mittels  deren  man 
den  periodischen  Wiederverteilungen  des  Landes,  die  zu  Anfang  der 
Entwicklung  des  jüdischen  Volkes  wie  zu  Anfang  der  Entwicklung  anderer 
Völker  etwa  stattfanden,  eine  tiefere  Begründung  zu  geben  versuchte, 
oder  ob  diese  Vorschrift,  wie  andere  behaupten,  niemals  zu  praktischer 
Ausführung  kam,  —  jedenfalls  vermochte  sie  es  nicht  zu  hindern,  daß  bei 
den  Juden  eine  periodische  Neuverteilung  des  Bodens  nicht  stattfand, 


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252 


Literatur. 


sobald  sie  den  Wirtschaftsverhältnissen  nicht  entsprach.  Immerhin  blieb 
die  Vorstellung,  daß  Gott  der  einzige  Eigentümer  sei,  daß  die  einzelnen 
alles,  was  sie  besitzen,  nicht  zu  freiem  Eigentum,  sondern  nur  zur  Nutz- 
nießung besitzen.  Für  diese  ihnen  überlassene  Nutznießung  mußten  die 
einzelnen  sowohl  den  Leviten  als  auch  den  Armen  bestimmte  Anteile 
an  allem  Gute,  an  beweglichem  wie  an  unbeweglichem,  abgeben.  Die 
Armen  hatten  an  den  Ertrag  eines  bestimmten  Teiles  des  Feldes,  der 
Ackerecke,  an  die  Nachlese,  den  Armenzehent  und  an  Almosen  das- 
selbe Recht  wie  der  sogen.  Eigentümer  an  das  Seine.  Das  mosaische 
Recht  sah  im  Almosen  ein  Mittel  zur  Wiederherstellung  der  durch  die 
Verteilung  des  allen  gehörigen  Eigentums  unter  die  einzelnen  zeitigen 
Nutznießer  gestörten  normalen  Ordnung. 

Bereits  das  alte  Testament  betrachtet  also  die  Existenz  hilfloser 
Armen  als  die  Folge  des  Bestehens  eines  Privatrechts  an  den  Produktions- 
mitteln und  sucht  nach  einer  entsprechenden  Abhilfe.  Es  ist  dies  wohl 
zu  beachten.  Wir  werden  sehen,  wie  dieses  Korrelatverhältnis  der  Ge- 
danke ist,  welcher  alle  sozialen  Reformer  der  Folgezeit  bis  in  unsere 
Tage  beherrscht,  gleichviel  ob  sie  die  Fürsorge  für  die  durch  das  Be- 
stehen des  Eigentums  hervorgerufenen  Armen  den  Eigentümern  als  Pflicht 
auferlegen  oder  mit  Rücksicht  auf  die  Not  der  durch  das  Sondereigen- 
tum vom  Genuß  des  allen  Gegebenen  Ausgeschlossenen  das  Eigentum 
an  den  Produktionsmitteln  beseitigen  wollen.  Wir  werden  diesem  Ge- 
danken im  Evangelium,  bei  den  Kirchenvätern,  bei  den  im  Mittelalter 
für  das  „arme  Leben"  Begeisterten,  beim  heiligen  Franziskus,  bei  Wycli- 
fiten  und  Hussiten,  bei  den  kommunistischen  Sekten  des  16.  und 
17.  Jahrhunderts,  wie  bei  den  Neuerern  des  18.  und  19.  Jahrhunderts 
begegnen. 

Außerdem  ergab  sich  aus  der  Eigcntumslehre  des  alten  Testaments 
das  unbedingte  Verbot  jedes  rücksichtslosen  Strebens  nach  Erwerb  und 
Gewinn.  Das  Ansammeln  von  „viel  Gold  und  Silber"  wird  darin  aus- 
drücklich verboten,  und  das  Zinsnehmen  vom  Volksgenossen  wird  gerade 
unter  Hinweis  darauf,  daß  alles  Eigentum  nur  eine  Gabe  Gottes  sei, 
untersagt. 

Die  alttestamentarische  Auffassung  vom  Eigentum  ist  auch  die  prin- 
zipielle Auffassung  des  Christentums  bis  zur  Reformation,  und,  wo  die 
Welt  auch  nach  derselben  katholisch  blieb,  bis  nahe  an  unsere  Tage. 
Aber  allerdings  ist  es  nur  die  prinzipielle  Auffassung  des  Christentums 
geblieben,  und,  wehe  denen,  welche  sie  im  Leben  verwirklichen  wollten. 
Sie  wurden,  seit  die  Kirche  Staatsanstalt  geworden  ist,  grausam  verfolgt. 
Die  christliche  Lehre  aber  hat  sich  mit  den  Notwendigkeiten  des  wirk- 
lichen Lebens  schrittweise  soweit  verständigt,  daß  die  Lehre  ihrer  heutigen 
autoritativsten  Interpreten  mit  der  altchristlichen  Lehre  nahezu  in  Wider- 
spruch steht. 

Christus  hat  die  Verachtung  der  irdischen  Güter  gelehrt  und  wieder- 


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Lujo  Brentano,  Zur  Genealogie  der  Angriffe  auf  das  Kigcntum.  253 

holt  und  eindringlich  betont,  wie  schwierig,  wenn  nicht  unmöglich,  es 
dem  Reichen  sei,  das  Himmelreich  zu  erlangen.  „Ihr  könnt  nicht  Gott 
dienen  und  dem  Mammon"  heißt  es  Matth.  VI.  „Sorget  nicht  für  euer 
Leben,  was  ihr  essen  und  trinken  werdet ;  auch  nicht  für  euren  Leib, 
was  ihr  anziehen  werdet.  Nach  solchem  allem  trachten  die  Heiden; 
Trachtet  am  ersten  nach  dem  Reiche  Gottes  und  nach  seiner  Gerechtigkeit, 
so  wird  euch  solches  alles  zufallen",  und  von  noch  folgenschwererer  Be- 
deutung war  das  von  Jesu  dem  reichen  Jüngling  gesagte  Wort:  „Willst 
du  vollkommen  sein,  so  gehe  hin  und  verkaufe,  was  du  hast,  und  gib 
es  den  Armen." 

Damit  war  das  Eigentum  nicht  verneint;  man  kann  sogar  sagen, 
es  war  damit  anerkannt.  Allein  es  war  doch  nur  als  eine  Tatsache 
anerkannt,  und  zwar  als  eine  Tatsache,  welche  der  Erlangung  des  Reiches 
Gottes  und  seiner  Gerechtigkeit  hinderlich  sei,  und  von  der  man  sich 
befreien  müsse,  um  vollkommen  zu  werden.  Zur  Vollkommenheit  gehört 
also,  daß  man  das  Seine  beiträgt  zur  Wiederherstellung  des  Idealzustandes, 
wie  er  vor  der  Entstehung  des  Eigentums  bestanden  hat,  indem  man 
sein  Eigentum  den  Armen  zuwendet. 

So  haben  die  ersten  Christen  diese  Lehren  aufgefaßt,  wie  die 
Apostelgeschichte  zeigt.  Allein,  wie  schon  Luther  hervorgehoben,  forderten 
sie  nicht,  daß  die  Güter  anderer  gemein  würden,  sondern  freiwillig  legten 
sie  ihre  eigenen  Güter  zusammen,  und  nur  die  Lüge  derjenigen,  welche 
Sondereigentum  zurückbehielten,  während  sie,  um  den  Schein  des  Strebens 
nach  Vollkommenheit  zu  erwecken,  angeblich  ihre  Güter  hingaben,  wurde 
in  dem  Falle  von  Ananias  und  Saphira  mit  dem  Tode  bestraft.  Immer- 
hin aber  bildete  sich  auf  Grund  der  in  Christi  Worten  enthaltenen  Auf- 
forderung zur  Weltflucht  eine  gesellschaftsfeindliche  Anschauung  unter 
den  Christen  und  Gliedern  der  Kirche,  und  gegen  die  durch  diese  Ent- 
sagung hervorgerufene  I^ebensweise  richteten  sich  heftige  Angriffe  der 
Heiden.  Die  Christen  erschienen  diesen  als  Anarchisten,  was  Apologien 
hervorrief,  in  denen  die  Christen  gegen  die  ihnen  gemachten  Vorwürfe 
verteidigt  wurden;  darin  wurde  dann  manches  abgeschwächt,  was  man 
da,  wo  man  zu  Christen  redete,  diesen  selbst  predigte.  Außerdem  klang 
die  Lehre  Christi  den  Reichen  von  Anfang  an  hart.  Wie  der  Jüngling 
im  Evangelium  gingen  viele  betrübt  fort  und  verzweifelten  an  ihrem 
Seelenheil.  Dies  führte  zur  schärferen  Ausbildung  einer  bereits  von 
Christus  (Matth.  XIX,  6  ff.)  gemachten  Unterscheidung  zwischen  Gebot 
und  Rat:  Die  Entsagung  galt  nicht  als  ein  für  alle  gültiges  Gebot, 
wohl  aber  als  Rat,  der  denen  gegeben  wurde,  die  nach  Vollkommenheit 
strebten ,  und  Clemens  von  Alexandrien  bemühte  sich  in  der  Schrift 
„Welcher  Reiche  wird  das  Heil  finden  ?"  den  entmutigten  Reichen  zu 
zeigen,  daß  ihnen  das  Erbe  des  Himmels  nicht  völlig  abgeschnitten  sei. 

So  lange  das  Christentum  sich  in  ganz  überwiegendem  Maße  aus 
den  unteren  und  untersten  Volksklassen  rekrutierte,  und  dies  war  in  den 


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Literatur. 


ersten  Jahrhunderten  der  Fall,  stand  die  rigorose  Auffassung  über  das 
Verhältnis  von  Heiligkeit  zum  Reichtum  im  Vordergrund.  Sie  wider- 
sprach der  natürlichen  Stellung  der  Menschen  zu  den  irdischen  Gütern. 
„Difficile,  durum  et  contra  naturam"  nannte  sie  selbst  der  asketische 
Hieronymus.  Mit  diesem  Widerspruch  hängt  zusammen,  daß  schon  vor  der 
Zeit  Konstantins  die  weltlichen  Gelüste  auch  unter  den  Christen  die  Ober- 
hand gewannen,  sobald  diese,  wie  in  der  Zeit  von  Commodus  bis  zu 
Decius,  staatlicherseits  geduldet  wurden.  Ganz  besonders  aber  machte 
der  Konflikt  zwischen  Lehre  und  Leben  sich  in  einer  veränderten  Haltung 
der  Christen  geltend,  seit  das  Christentum  vom  Staate  anerkannt  wurde. 
Damit  fand  eine  doppelte  Änderung  im  Christentum  statt.  Man  schätzt 
die  Christen  im  Römerreich  z.  Z.  Konstantins  auf  ungefähr  ein  Drittel 
der  damaligen  Bevölkerung;  nachdem  das  Christentum  Staatsreligion  ge- 
worden, traten  ihm  ziemlich  schnell  auch  die  übrigen  bei,  die  nicht  aus 
innerem  Antrieb,  sondern  aus  weltlichen  Motiven  dazu  veranlaßt  wurden; 
damit  trat  jene  die  Verachtung  der  irdischen  Güter  lehrende  Richtung 
von  selbst  in  den  Hintergrund.  Sodann  wurde  die  Kirche  mit  ihrer 
Verstaatlichung  aus  einer  staatsgefährlichen  Religion  eine  Stütze  der  staat- 
lichen Ordnung.  Die  eigentums-  und  reichtumsfeindlichen  Lehren  aber 
vertrugen  sich  nicht  mit  der  bestehenden  Staats-  und  Gesellschaftsordnung, 
und  gar  bald  zeigte  sich  dies  auch  darin,  daß  die  Kirche  eben  als  ein 
Träger  dieser  allenthalben  der  reichste  Eigentümer  wurde.  Allein  damit 
verschwand  die  alte  Auffassung  nicht  aus  der  I/ehre;  sie  wurde  nur  nicht 
beachtet,  weder  von  den  Trägern  der  kirchlichen  Gewalt,  noch  von  der 
Mehrheit  der  Christen ;  ja  bald  kam  die  Zeit,  wo  sie  dazu  nutzbar  gemacht 
wurde,  gerade  den  irdischen  Reichtum  der  kirchlichen  Gewalten  zu  mehren 
Gerade  an  diese  Entwicklung  und  den  mit  ihr  hervortretenden  Wider- 
spruch zwischen  Lehre  und  Wirklichkeit  knüpft  sich  die  Entstehung  der 
kommunistischen  Bestrebungen  des  Mittelalters,  welche  das  Verbindungs- 
glied zwischen  denen  des  Altertums  und  denen  der  Neuzeit  bilden. 

Zunächst  über  die  Fortdauer  der  alten  Auffassung  in  der  Lehre. 
„Omnes  divitiae",  schreibt  noch  der  heilige  Hieronymus,  „de  iniquitate 
descendunt,  et  nisi  alter  perdiderit,  alter  non  potest  invenire.  ünde  et 
illa  vulgata  sententia  mihi  videtur  esse  verissima:  dives  aut  iniquus  aut 
iniqui  haeres."  Daher  denn  denen,  welche  nach  Vollkommenheit  streben, 
aufs  nachdrücklichste  ans  Herz  gelegt  wird,  die  Welt  zu  fliehen  und  dem 
Besitz  zu  entsagen.  Nur  denen,  die  auf  die  höchste  Stufe  der  Voll- 
kommenheit verzichten,  soll  gestattet  sein,  irdische  Güter  zu  besitzen, 
nämlich  den  Laien;  aber  auch  ihnen  nicht  zu  beliebigem  Gebrauche. 
Und  nun  begegnen  wir  bei  den  Kirchenvätern  nicht  zu  verkennenden 
Anklängen  an  die  Lehren  verschiedener  griechischer  Philosophen,  die 
mit  der  jüdisch-christlichen  Eigcntumslehre  zu  einem  Ganzen  verbunden 
werden.  Im  Stande  der  Natur  gab  es  kein  Eigentum.  Von  Natur  war 
allen  alles  gemein.    Erst  die  Ursurpation  einzelner  hat  ein  Privatrecht 


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Lujo  Brentano,  Zur  Genealogie  der  Angriffe  auf  das  Eigentum. 


hervorgerufen.  Daher  auch  der  Laie  mit  dem  Seinen  nicht  machen  darf, 
was  er  will.  Nur  das  Notwendigste  darf  ein  jeder  von  dem  Seinen  auf 
sich  verwenden;  aller  Überschuß  hat  zu  gemeinsamem  Gebrauche  zu 
dienen.  „Dem  Hungrigen,"  ruft  der  heilige  Basilius,  „gehört  das  Brot, 
das  du  behältst,  dem  Nackten  der  Mantel,  den  du  bewahrst,  dem  Un- 
beschuhten der  Schuh,  der  bei  dir  modert,  dem  Dürftigen  das  Silber,  das 
du  vergraben  hältst.  Daher  tust  du  so  vielen  Menschen  unrecht,  so 
vielen  du  geben  könntest."  Gerade  der  wesentlichste  Ausfluß  des  Eigen- 
tums, der  freie  Gebrauch,  den  es  gestattet,  erscheint  somit  nach  der 
Lehre  der  Kirchenväter  dem  Inhaber  zugunsten  derer,  die  nichts  haben, 
entzogen. 

Wurde  der  Laie,  der  Eigentümer  war,  so  zu  einem  bloßen  Verwalter 
mit  vorgeschriebener  Art  der  Nutznießung  degradiert,  so  waren  die  Vor- 
schriften für  die  Geistlichen  begreiflich  weit  strenger.  Ihnen,  welche 
Gott  auserwählt  hat,  die  anderen  zur  Tugend  zu  leiten,  wird  die  Sorge 
für  irdische  Dinge  aufs  strengste  verboten.  Um  aus  dem  Abschnitte 
des  Decretum  Gratiani  „Clericos  nihil  possidere  multis  auetoritatibus 
jubetur"  nur  zwei  nicht  pseudoisidorische  Belege  anzuführen:  „Wer  den 
Herrn  besitzt  und  mit  dem  Propheten  spricht:  „Der  Herr  ist  mein  Anteil", 
darf  außer  dem  Herrn  nichts  besitzen",  schreibt  Hieronymus,  und  Am- 
brosius sagt  in  gleicher  Weise:  „Der  dessen  Anteil  Gott  ist,  soll  sich 
um  nichts  kümmern  außer  um  Gott,  damit  er  in  dieser  Sorge  durch 
kein  anderes  Geschäft  behindert  werde."  Auch  beruft  sich  Augustinus 
auf  den  Bericht  im  4.  Kapitel  der  Apostelgeschichte  über  das  Leben 
der  ersten  Christen,  in  dem  alles  gemeinsam  gewesen  sei,  um  die  Güter- 
gemeinschaft als  den  idealen  Zustand  hinzustellen,  nach  dessen  Verwirk- 
lichung zum  mindesten  die  Kleriker  streben  sollten. 

Das  war  eine  Rückkehr  zu  der  Vorschrift  des  Apostels  Paulus 
„Nemo  militans  Deo  implicat  se  negotiis  saecularibus."  Daß  dieser 
Satz  nicht  den  Erwerb  durch  Hände  Arbeit,  um  den  Lebensunterhalt  zu 
gewinnen,  ausschloß,  hat  Paulus  damit  gezeigt,  daß  er  selbst  Weber  war, 
um  das  zum  Leben  Unentbehrliche  sich  zu  erarbeiten.  Allein  unter 
den  früheren  Verhältnissen  war  es  auch  unvermeidlich  gewesen,  daß  Geist- 
liche, um  ihren  Lebensunterhalt  zu  gewinnen,  Handel  trieben.  Tertullian 
hat  vergeblich  dagegen  geeifert.  Wir  wissen  sogar  aus  Cyprians  Schrift 
„über  die  Gefallenen",  daß  selbst  Bischöfe  mit  Handelsgeschäften  sich 
abgaben.  ,,Sie  verließen  ihren  Stuhl,  entfernten  sich  von  ihrer  Gemeinde, 
schweiften  in  fremden  Sprengein  umher  und  haschten  auf  Märkten  nach 
einträglichem  Handel,  und  während  die  Brüder  in  der  Kirche  hungerten, 
wollten  sie  Geld  im  Überflüsse  besitzen,  rissen  durch  hinterlistige  Ränke 
Grundstücke  an  sich  und  vermehrten  den  Gewinn,  Zinsen  auf  Zinsen 
häufend."  Das  war  freilich  in  direktem  Widerspruch  zu  den  Evangelien 
und  zu  den  Worten  des  Paulus.  Dagegen  denn  auch  der  Eifer  des 
heiligen  Cyprian.    Allein  soweit  die  Geistlichen  dabei  nur  nicht  ihren 


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Literatur. 


Sprengel  verließen,  hat  ihnen  das  Konzil  von  Elvira  um  das  Jahr  300 
dann  ausdrücklich  Handel  zu  treiben  erlaubt,  und  nach  der  Verstaat- 
lichung des  Christentums,  hat  eine  Konstitution  des  Kaisers  Konstantius 
aus  dem  Jahre  343  den  Geistlichen,  welche,  um  ihre  Nahrung  damit  zu 
erwerben,  Handel  trieben,  sogar  Privilegien  verliehen,  und  zwei  weitere 
Konstitutionen  der  folgenden  Regierungen  aus  dem  Jahre  353  und  357 
haben  diese  Privilegien  noch  erweitert,  da  es  gewiß  sei,  daß  die  Geistlichen 
allen  aus  solchem  Handel  erzielten  Gewinn  den  Armen  zuwendeten. 
Man  beachte  auch  hier  wieder  die  Verbindung  von  Genehmigung  von 
Eigentumserwerb  und  Unterstützungspflicht  gegenüber  den  Armen. 

Indes  die  Grenze  zwischen  dem  Zuschlage  zum  Einkaufspreise,  der 
nur  in  dem  Maße  stattfindet,  als  zum  Lebensunterhalt  des  Händlers  nötig 
ist,  und  dem,  welcher  zu  Gewinn  und  Bereicherung  führt,  scheint  nicht 
inne  gehalten  worden  zu  sein;  und  ebensowenig  scheint  die  Annahme 
der  kaiserlichen  Konstitutionen,  daß  die  Geistlichen  allen  aus  dem  Handel 
erzielten  Gewinn  den  Armen  zuwendeten,  der  Wahrheit  entsprochen  zu 
haben.    Daher  denn  Hieronymus  an  Nepotianus  schrieb:  „Negotiatorem 
clericum,  et  ex  inope  divitern,  ex  ignobili  gloriosum,  quasi  quandam  pestem 
fuge."  Er  ist  dafür,  daß  der,  der  dem  Altare  dient,  „unterhalten  werde  von 
den  Opfergaben  des  Altars  und,  mit  Lebensunterhalt  und  Kleidung  zu- 
frieden, arm  dem  armen  Kreuze  folge."    Der  Geistliche  soll  also  nach 
dem  heiligen  Hieronymus  nicht  zu  den  unterstützungsprlichtigen  Eigen- 
tümern, sondern  zu  den  zu  unterstützenden  Armen  gehören.  Dieselbe 
Auffassung  finden  wir  bei  Ambrosius  und  seinem  großen  Schüler  Augustinus, 
und  nun  begegnen  wir  einer  Unterscheidung,  die  als  die  erste  Betonung 
von  Eigentümlichkeiten  des  kapitalistischen  Betriebs  auch  für  die  Ge- 
schichte des  entstehenden  Kapitalismus  Interesse  hat.    Es  soll  nämlich 
den  Geistlichen  fortan  nur  mehr  Handwerk  und  Landwirtschaft,  nicht 
aber  Handel  zu  treiben  gestattet  sein.    „Denn  etwas  anderes  ist  es,  freien 
Geistes  körperlich  zu  arbeiten,  wie  dies  der  Handwerker  zu  tun  vermag, 
sofern  er  nicht  betrügerisch  und  geizig  und  voll  Gier  nach  Besitztümern 
ist,  etwas  anderes,  den  Geist  mit  der  Sorge,  ohne  körperliche  Arbeit 
Geld  anzuhäufen,  zu  erfüllen,  wie  dies  die  Kaufleute,  Verwalter  und 
Großpächter  tun;  denn  voll  Sorge  leiten  sie  ihr  Geschäft,  aber  arbeiten 
nicht  mit  den  Händen;  daher  ihr  Geist  von  dem  Gedanken,  zu  erwerben, 
in  Beschlag  genommen  ist."   Es  ist  dann  nur  eine  Paraphrase  dieser  Worte 
des  Augustinus,  wenn  die  Synode  von  Karthago  vom  Jahre  397  ver- 
ordnet :  „Ut  episcopi  et  presbyteri  et  diaconi  vel  clerici  non  sint  conduetores 
neque  procuratores  privatorum  neque  ullo  turpi  vel  inhonesto  negotio 
victum  quaerant,  quia  respicere  debeant  scriptum  esse:  nemo  militans 
Deo  implicat  se  negotiis  saecularibus."    Also  den  Betrieb  eines  Hand- 
werks oder  die  Bestellung  eines  agellus  soll  den  Geistüchen  erlaubt  sein ; 
nicht  dagegen  die  kapitalistischen  Erwerbsarten  jener  Zeit:  Conductio, 
die  (iroßpacht  von  Latifundien,  procuratio  privatorum,  die  finanzielle 


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Lujo  Brentano,  Zur  Genealogie  der  Angriffe  auf  das  Eigentum.  257 

Verwaltung  derselben,  wo  sie  in  eigener  Regie  betrieben  wurden, 
turpe  vel  inhonestum  negotium,  der  Handel,  der  auf  Gewinn  ausgeht. 
Diese  Zusammenstellung  bleibt  in  einer  ganzen  Anzahl  späterer  Synodal- 
beschlüsse. 

Wie  aber  stand  es  in  der  Wirklichkeit?  Die  christliche  Lehre  be- 
trachtete den  Eigentümer  nur  als  einen  Verwalter;  der  derzeitige  Inhaber 
eines  Vermögens  sollte  jeden  Überschuß  über  das  zum  Leben  Unent- 
behrliche den  Dürftigen  zuwenden;  in  welcher  Weise  diese  Spenden  in 
den  beiden  ersten  Jahrhunderten  zugunsten  der  Armen  verwaltet  wurden, 
ist  dunkel;  aber  seit  dem  3.  Jahrhundert  war  es  der  Bischof,  dem  die 
milden  Gaben  der  Gläubigen  abgeliefert  wurden.  So  entstand  das  Kirchen- 
vermögen als  Patrimonium  pauperum.  Allein  der  Bischof  war  keinem 
anderen  als  Gott  für  seine  Verwaltung  Rechenschaft  schuldig,  und  so 
wurde  die  weltflüchtige  Eigentumslehre  des  Christentums  die  Ursache 
der  schreiendsten  Verweltlichung  der  Kirche.  Während  nur  das  Not- 
wendigste auf  den  Unterhalt  des  Klerus  und  zu  Kulturzwecken  verwendet 
und  lieber  die  heiligen  Gefäße  verkauft  als  die  Armen  in  Not  gelassen 
werden  sollten,  begann  ein  luxuriöses  Leben  der  Kleriker  und  eine  Pracht 
im  Kultus,  welche  den  Anteil  der  Armen  am  Kirchengut  mehr  und  mehr 
minderte,  bis,  um  den  Armen  überhaupt  einen  Anteil  zu  retten,  bestimmt 
wurde,  daß  ein  Viertel  des  Kirchengutes  der  Bischof,  ein  anderes  Viertel 
der  Klerus  erhalten,  ein  drittes  Kultuszwecken  dienen  und  das  letzte 
Viertel  den  Armen  verbleiben  solle.  So  entstand  auf  Grund  der  Lehre 
von  der  Entsagung  ein  Kirchenvermögen  als  Patrimonium  pauperum,  aus 
diesem  eine  quarta  pauperum,  und  in  den  folgenden  Jahrhunderten  geht 
den  Armen  auch  dieses  verloren.  „Das  kirchliche  Bewußtsein,  daß  das 
Kirchenvermögen  Armenvermögen  sei,  verlor  sich  gänzlich",  schreibt 
Ratzinger.  Die  Kirche  erinnerte  sich  dessen  nur  mehr,  wenn  es  galt, 
ihr  Vermögen  gegen  die  Eingriffe  räuberischer  Fürsten  zu  verteidigen 
oder  fromme  Schenkungen  zur  Mehrung  desselben  zu  veranlassen. 

Man  muß  diese  Kausalzusammenhänge  sich  stets  vergegenwärtigen, 
um  zu  begreifen,  warum  die  kommunistischen  Bestrebungen  des  Mittel- 
alters einerseits  an  die  kirchliche  Lehre  anknüpfen,  andererseits  in  erster 
Linie  gegen  die  Kirche  sich  richten.  Die  erste  gegen  diese  gerichtete 
Bewegung,  die  an  die  christliche  Eigentumslehre  anknüpft,  finden  wir 
bereits  zu  Ende  des  3.  Jahrhunderts. 

Die  Armut,  als  sie  von  der  Kirche  verlassen  wurde,  flüchtete  sich 
zunächst  in  das  Mönchtum.  Schon  i.  J.  270  hatte  das  Evangelium  vom 
reichen  Jüngling  (Matth.  XDC)  den  reichen  Oberägypter  Antonius  ver- 
anlaßt, sein  Vermögen  unter  die  Armen  zu  verteilen  und  selbst  in  die 
Wüste  zu  ziehen.  Gegen  Ende  des  3.  Jahrhunderts  ergriff  der  Gedanke, 
das  christlich  vollkommene  Leben  zu  verwirklichen,  eine  große  Anzahl 
und  veranlaßte  sie,  dem  Antonius  nachzufolgen.  Die  Historiker  des 
Mönchtums  sprechen  von  einer  Massenflucht  in  die  Wüste,  die  dort  zur 

Archir  für  Soii»lirU$en»chaft  u.  Soiialpolitik.  I.    (A.  f.  »01.  G.  u.  St.  XIX.)  1.        1 7 


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Literatur. 


Gründung  zahlreicher  Eremitenkolonien  den  Anlaß  gegeben.  Von  hier 
aus  verbreiteten  sich  die  Klöster  über  die  christlichen  Länder  des  Orients 
und,  seit  den  siebenziger  Jahren  des  4.  Jahrhunderts,  auch  des  Occidents. 
Dorthin  flüchtete  nun,  wer  es  mit  der  christlichen  Lehre  ernst  nahm. 
Wer  in  ein  solches  Kloster  eintrat,  mußte  sein  Eigentum  aufgeben 
und  durfte  nichts  ins  Kloster  mitbringen.  Angesichts  der  steigenden 
Verweltlichung  der  Kirche  war  nunmehr  der  Mönch  der  wahre  Christ. 
Auch  übten  die  Mönche  eine  scharfe  Kritik  an  der  Weltkirche.  Allein 
nunmehr  eine  Wiederholung  dessen,  was  mit  der  Anerkennung  des  Christen- 
tums als  Staatreligion  eingetreten  war.  Trotz  allen  gegen  sie  gerichteten 
Tadels  suchte  die  Kirche  das  Mönchtum ;  war  dieses  doch  gewissermaßen 
ein  Sicherheitsventil,  durch  welches  der  überschüssige  Religionseifer  be- 
sonders kräftiger  Individuen,  ohne  die  bestehende  kirchliche  Organisation 
zu  erschüttern,  entweichen  konnte  ;  bald  gestaltete  sich  das  Verhältnis 
zwischen  Mönchtum  und  Weltkirche  freundlich;  der  Klerus  wurde  ver- 
möncht,  die  Mönche  wurden  klerikalisiert ;  wie  Konstantin  die  Kirche,  so  hat 
dann  Justinian  das  Mönchtum  verstaatlicht ;  und  wie  vorher  die  Kirche,  so 
verweltlichen  nunmehr  die  Klöster.  Es  zeigte  sich  eben  auch  hier  als- 
bald der  Widerspruch  zwischen  der  natürlichen  Stellung  des  Menschen 
zu  den  irdischen  Gütern  und  der  geforderten  Entsagung.  Der  einzelne, 
der  ins  Kloster  eintrat,  entsagte  zwar  allem  persönlichen  Eigentum,  aber 
nur,  um  den  Genuß  alles  dessen,  was  das  Eigentum  geben  kann,  in 
gesteigertem  Maße  als  Mitglied  der  klösterlichen  Gemeinschaft  wieder  zu 
erhalten.  Und  diese  Genüsse  wuchsen,  als  die  Klöster  gar  noch  als  d  i  e 
Armen  Christi  angesehen  und  infolge  der  den  Reichen  anempfohlenen 
Zuwendungen  an  die  Armen  sehr  reich  wurden.  Die  Folge  war :  in  den 
Klöstern  lebten  die,  welche  der  Welt  und  ihren  Freuden  entsagt  hatten, 
in  Üppigkeit,  während  die  Dürftigen  in  der  Welt  bittere  Not  litten. 
Daher  die  fortwährenden  Anläufe  glaubensstarker  Individuen,  die  Mönchs- 
orden zu  erneuern ;  aber  stets  war  ihre  Wirkung  von  kurzer  Dauer ; 
worauf  wieder  neue  Anläufe,  sie  zu  ihrem  Anfang  zurückzuführen,  mit 
gleich  kurzlebigem  Erfolge  stattfanden. 

Allein  im  Volke  starb  deshalb  das  Verlangen  nach  Rückkehr  zum 
christlichen  Ideale  nicht  aus.  Sehr  begreiflich !  Die  Kirche  war  es,  die 
dem  Volke  jener  Tage  die  einzige  geistige  Nahrung  bot,  und  trotz  ihrer 
fortschreitenden  Verweltlichung  hielt  sie  in  ihrer  Lehre  an  der  altchristlichen 
Auffassung  fest.  Nach  wie  vor  eiferte  sie  gegen  das  Streben  nach  dem 
größtmöglichen  Gewinn;  nach  wie  vor  predigte  sie  die  Entsagung  als 
Ideal.  In  der  Wirklichkeit  wurde  sie  freilich  als  Folge  der  von  anderen 
geübten  Entsagung  der  größte  Eigentümer  und,  wie  der  schon  erwähnte 
Verfall  der  kirchlichen  Armenpflege  zeigt,  verwaltete  sie  selbst  ihr  Eigen- 
tum keineswegs  in  Befolgung  ihrer  Eigentumslehre.  Angesichts  dieses 
Widerspruchs  zwischen  Lehre  und  Leben  entstanden  nun  Reformbe- 
wegungen  unter  den  Laien;  das  volkstümliche  Ideal  einer  sozialen  Reform 


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Lujo  Brentano,  Zur  Genealogie  der  Angriffe  auf  das  Eigentum. 


wurde  die  Verwirklichung  des  Gedankens  vom  „armen  Leben".  Da 
diese  Bewegungen  sich  naturgemäß  in  erster  Linie  gegen  die  Kirche 
richteten,  welche  von  der  Nachfolge  Christi  soweit  sich  entfernt  hatte, 
suchte  diese  sie  mit  Gewalt  zu  ersticken.  Diejenigen,  welche  die  christ- 
liche Welt  in  Übereinstimmung  mit  dem  Evangelium  zu  organisieren 
bestrebt  waren,  wurden  verfolgt,  exkommuniziert  und  verbrannt. 

Die  frühesten  hierhergehörigen  Reformbewegungen  haben  Hundes- 
hagen (Ausgewählte  kleinere  Schriften  und  Abhandlungen,  Gotha  1874  I 
35  ff.)  und  Dollinger  (Beiträge  zur  Sektengeschichte  des  Mittelalters, 
München  1890)  erzählt.  Dr.  Friedrich  Glaser  hat  in  seiner  eingangs 
genannten  Schrift  die  franziskanische  Bewegung  zum  Gegenstand  einer 
Darstellung  gemacht,  bei  der  ich  etwas  länger  verweilen  möchte.  Denn  die 
franziskanische  Bewegung  bedeutet  den  letzten  Versuch  von  sozialrefor- 
matorischen  Bestrebungen  innerhalb  der  katholischen  Kirche  auf  Grund 
der  evangelischen  Lehre. 

Glaser  beginnt  mit  einer  Schilderung  der  reformatorischen  Be- 
strebungen Arnolds  von  Brescia  und  der  von  ihm  hervorgerufenen  Be- 
wegung. Wenn  die  Nachfolge  Christi,  so  lehrte  Arnold,  die  Geistlichkeit 
zur  Armut  verpflichtet,  so  bedeutet  der  weltliche  Besitz  der  Kirche  ihren 
Abfall  vom  Evangelium.  Wie  können  Papst  und  Kardinäle  mit  Petrus 
sagen:  siehe,  wir  haben  alles  verlassen  und  folgen  dir  nach?  oder: 
Silber  und  Gold  besitzen  wir  nicht  1  Die  Anschauungen  Arnolds  griffen 
reißend  um  sich.  Die  Not  des  Volkes  war  groß.  Zahlreiche  Bettler- 
scharen durchzogen  das  Land,  und  zu  diesen  Vaganten  gehörten  nicht 
wenige  Studenten  und  arme  Kleriker.  Das  Evangelium  (Matth.  XIX) 
vom  reichen  Jüngling  kannten  sie  gut,  und  die  sich  daran  knüpfenden 
Lehren  der  Väter  hatten  sie  auf  der  Schule  gehört.  Nicht  minder  aber 
kannten  sie  das  ihnen  widersprechende  Leben  der  Beherrscher  der  Kirche. 
In  beißenden  Spottliedern  brachten  sie  dem  Volke  diesen  Widerspruch 
zum  Bewußtsein.  Liest  man,  was  Glaser  daraus  anführt,  so  glaubt  man 
einen  Simplizissimus  des  12.  Jahrhunderts  zu  lesen.  Dem  damals  in 
seiner  ersten  Ausbreitung  befindlichen  kapitalistischen  Geiste  gegenüber 
wird  die  Lehre  Jesu  vom  ungerechten  Mammon  wieder  Volksideal.  Und 
wenn  Arnolds  Wirken  zur  Entstehung  einer  Reihe  von  Organisations- 
versuchen der  Nichtbesitzenden  zur  Ausbreitung  dieser  Ideen  den  Anstoß 
gab,  so  war  es  Joachim  v.  Floris,  der  für  viele  kommende  Generationen 
allen  diesen  Bestrebungen  das  ihren  Ideen  entsprechende  Ziel  setzte. 
Er  entwarf  phantastische  Bilder  eines  glücklichen  Zukunftsstaates,  des 
tausendjährigen  Reiches.  Alsdann  wird  völlige  Besitzlosigkeit  herrschen; 
an  die  Stelle  des  tätigen  Lebens  wird  die  Ruhe  des  Beschauens  treten; 
das  heilige  Jerusalem  kommt  vom  Himmel  danieder;  und  zwar  wird 
diese  höchste  Stufe  gesellschaftlicher  Entwicklung,  wo  ewiger  Friede 
herrscht,  wo  es  weder  Eigentum  noch  Knechtschaft  gibt,  und  wo  Milch 
und  Honig  fließt,  eingeleitet  werden  durch  einen  besitzlosen  Mönchs- 

17* 


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2ÖO 


Literatur. 


orden.  Damit  schien  der  Orden  des  heiligen  Franziskus,  als  er  bald 
darauf  in  die  Erscheinung  trat,  prophezeit. 

Es  ist  begreiflich,  daß  diese  Bestrebungen  zur  Verwirklichung  des  „armen 
Lebens"  in  den  Teilen  Europas  den  fruchtbarsten  Nährboden  fanden,  in 
denen  die  beginnende  kapitalistische  Entwicklung  am  vorgeschrittensten 
war.  Es  waren  dies  Oberitalien  und  die  Provence.  Hier  waren  sowohl 
die  sozialen  Gegensätze  als  auch  die  Widersprüche  zwischen  der  christ- 
lichen Lehre  und  dem  christlichen  Leben  am  größten.  Daher  dort  „die 
lombardischen  Armen",  hier  die  Waldenser.  Alle  diese  Bewegungen 
sehen  ihren  Hauptzweck  in  der  Bekämpfung  der  verweltlichten  Kirche: 
Sie  werden  daher  von  der  Kirche  mit  allen  Waffen,  welche  ihr  die 
Welt  an  die  Hand  gab,  bekämpft. 

Anders  Franziskus  von  Assisi.  Er  predigt  die  Verachtung  des 
Reichtums  nicht  der  Kirche,  sondern  der  Welt  überhaupt.  Wie  Christus 
vom  reichen  Jüngling  verlangt  er  Preisgabe  des  Besitzes  und  Verteilung 
desselben  an  die  Armen.  Dabei  aber  ein  bemerkenswerter  Zug:  ent- 
sprechend der  um  sich  greifenden  kapitalistischen  Entwicklung  ist  es  der 
Geldbesitz,  der  mehr  als  aller  andere  Besitz  dem  Hasse  des  Heiligen 
begegnet.  Sehr  begreiflich;  denn  im  Gelde  ließen  sich  die  Besitztümer 
anhäufen,  wie  dies  bei  keiner  Besitzform  früher  der  Fall  gewesen.  Daher 
predigt  Franziskus  besonders  eindringlich  die  Verachtung  des  Geldes  und 
die  Verwerflichkeit  des  Strebens  nach  Gewinn.  Wer  ihm  folgt,  soll 
fürder  kein  Geld  annehmen,  in  Armut  leben,  arbeiten,  aber  nur  gegen 
Nahrung,  nicht  gegen  Geld,  und  findet  er  keine  Arbeit,  so  soll  er  das 
Nötige  sich  erbetteln.  Aber  kein  Aufhäufen  des  überflüssigen  in  Sorge 
für  den  morgigen  Tag.  Alles,  was  er  über  die  bare  Lebensnotdurft  er- 
hält, soll  den  Armen  gehören.  Und  um  die  Klippen  zu  vermeiden,  an 
denen  das  Mönchswesen  bisher  gescheitert,  unternahm  es  Franziskus,  das 
Armutsideal  nicht  bloß  für  den  einzelnen  Mönch,  sondern  auch  für  die 
Kloster-  und  Ordensgemeinschaft  zu  verwirklichen :  auch  die  Gemeinschaft 
der  Mönche,  das  Kloster,  der  Orden  soll  eigentumsunfähig  sein.  Bettel- 
arm im  wahren  Sinne  des  Wortes  sollen  die  Brüder,  auf  den  Ertrag 
ihrer  Arbeit  und  auf  Liebesgaben  für  ihren  Unterhalt  angewiesen,  in 
Entsagung  und  Demut  allein  der  Liebe  und  dem  Dienste  anderer  leben. 
Dabei  war  Franziskus  durchaus  keine  polemische  Natur.  Im  Gegenteile 
ermahnte  er  seine  Genossen,  „daß  sie  keinen  Menschen  verurteilten,  noch 
jene  verachteten,  welche  köstlich  leben  und  in  Pracht  und  Überfluß  ge- 
kleidet sind;  denn  Gott  ist  unser  und  ihr  Herr  und  kann  sie  zu  sich 
rufen  und  rechtfertigen". 

Im  Jahre  1210  trat  Franziskus  vor  Innocenz  III.  und  legte  ihm 
seine  Regel  zur  Bestätigung  vor,  und  der  Papst,  der  allen  gegen  die 
verweltlichte  Kirche  gerichteten  Bestrebungen  zur  Verwirklichung  des 
armen  Lebens  mit  allen  Mitteln  der  Gewalt  entgegengetreten,  erkennt 
die  gegen  die  Welt   im  ganzen  gerichtete  Reformbewegung  an  und 


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Lujo  Brentano,  Zur  Genealogie  der  Angriffe  auf  das  Eigentum.      26 1 


gliedert  sie  ein  in  die  kirchliche  Organisation.  Das  war  eine  Handlung 
würdig  Konstantins,  als  er  das  Christentum  zur  Staatsreligion  machte, 
und  Justinians,  als  er  das  Mönchswesen  verstaatlichte.  Es  wurde  damit 
der  Reformbewegung  jede  gegen  die  Kirche  gerichtete  Spitze  abge- 
brochen. Es  war  damit  für  alle,  welche  sich  für  ein  Leben  entsprechend 
dem  Evangelium  begeisterten,  die  Möglichkeit  der  Realisierbarkeit  dieses 
Ideals  und  zwar  innerhalb  der  Kirche  bewiesen.  Die  Kirche  selbst 
erhielt  die  Kontrole  über  diese  Bestrebungen,  um  sie  entsprechend  ihren 
Wünschen  zu  beeinflussen,  ja  man  konnte  die  Begeisterung,  welche  diese 
Verwirklichung  des  Volksideals  vom  armen  Leben  bei  den  Gläubigen 
erwecken  mußte,  zu  weiterer  Steigerung  von  Reichtum  und  Macht  der 
kirchlichen  Organisation  gebrauchen. 

War  die  Anerkennung  statt  der  Bekämpfung  der  Bestrebungen  des 
heiligen  Franziskus,  die  Welt  zum  christlichen  Leben  zurückzuführen,  im 
Interesse  der  bestehenden  kirchlichen  Organisation,  so  doch  nicht  in 
dem  der  Verwirklichung  des  franziskanischen  Ideals. 

Schon  bei  Lebzeiten  des  Franziskus  sollte  sich  der  dem  Papste 
eingeräumte  Einfluß  auf  seine  Schöpfung  sehr  zu  seinem  Schmerze  geltend 
machen.  Arbeiten  im  Dienste  anderer  kam  außer  Übung;  die  Haupt- 
erwerbsquclle  wurde  der  Bettel;  aus  dem  Bettlergewand  machte  die 
Kirche  eine  Uniform.  Zunächst  blieben  Besitzlosigkeit,  Armut  und 
das  Verbot  von  Annahme  von  Geld.  Aber  selbst  die  Besitzlosigkeit  er- 
litt alsbald  Einschränkungen.  Franziskus  hatte  seinen  Brüdern  feste 
Wohnsitze  verboten.  Als  er  erfuhr,  daß  sie  in  Bologna  ein  Gebäude 
bewohnten,  welches  man  das  Haus  der  Brüder  nannte,  befahl  er  es  zu 
räumen,  und  beruhigte  sich  erst,  als  der  seinem  Orden  als  Protektor  ge- 
stellte Kardinal  erklärte,  das  Haus  stehe  nicht  im  Eigenturn  der  Brüder, 
sondern  nur  in  ihrer  Nutznießung.  So  begann  schon  bei  seinen  Leb- 
zeiten sein  Prinzip,  daß  auch  die  Gemeinschaft  nicht  eigentumsfähig  sein 
solle,  umgangen  zu  werden.  In  seinem  kurz  vor  seinem  Tode  verfaßten 
Testamente  vermag  man  aus  der  nachdrücklichen  Betonung  der  früheren 
Armut  und  namentlich  der  Verpflichtung  zur  Arbeit  deutlich  den  Pro- 
test gegen  alle  diese  Wandlungen  herauszulesen.  Er  verlangte  darin 
wörtliche  Erfüllung  der  Regel  ohne  künstliche  Wegdeutung,  und  verbot 
die  Annahme  von  Privilegien  seitens  der  Kurie. 

Man  versetzte  Franziskus  zwar  unter  die  Heiligen,  aber  über  seinen 
letzten  Willen  schritt  man  hinweg.  Der  Orden  erhielt  eine  Menge  päpst- 
licher Privilegien.  Bereits  1230  wird  die  Verbindlichkeit  des  Testaments 
aufgehoben ;  das  Verbot  der  Geldannahme  wird  gemildert ;  das  Gebot 
der  Besitzlosigkeit  wird  zunächst  noch  aufrecht  erhalten.  Allein  bereits 
1 245  wird  auch  dieses  in  seiner  Wirkung  aufgehoben,  indem  man  be- 
stimmte, daß  das  Eigentum  am  Besitz  der  Brüder  der  römischen  Kirche 
zustehen  solle,  der  Gebrauch  den  Brüdern.  Schnell  haben  die  Franziskaner 
unter  dem  Schutz  dieser  Deutung  nun  Schätze  gesammelt  und  Paläste  errichtet. 


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262 


Literatur. 


Dieses  rasche  Preisgeben  der  wesentlichen  Züge  der  franziskani- 
schen Ordensregel  ist  um  so  beachtenswerter  als  gleichzeitig  ein  Wandel 
in  der  kirchlichen  Eigentumslehre  stattfand.  Unter  dem  Einfluß  der  neu 
bekannt  gewordenen  Ethik  und  Politik  des  Aristoteles  bewirkte  Thomas 
von  Aquin  eine  große  Annäherung  der  kirchlichen  Lehre  ans  Leben. 
Der  Grundgedanke  der  Auffassung  der  Kirchenväter  wird  von  ihm  aller- 
dings prinzipiell  festgehalten.  Das  Eigentum  steht  nach  wie  vor  allein 
bei  Gott;  aber  den  Menschen  ist  der  Gebrauch  gegeben.  Aber  während 
die  Kirchenväter  lehren,  daß  nach  natürlichem  Rechte  alle  Güter  ge- 
mein seien,  und  im  Privateigentum  nur  ein  notwendiges  Übel  erblicken, 
sucht  Thomas  ihre  extremen  Aussprüche  milder  zu  deuten ;  auch  heiße, 
wenn  man  sage,  daß  von  Natur  alle  Dinge  gemein  seien,  dies  nicht,  daß 
das  Naturrecht  das  Privateigentum  verbiete,  sondern  nur  daß  dieses  durch 
die  menschliche  Vernunft  dem  Naturrecht  hinzugefügt  sei.  Als  Gründe, 
warum  das  positive  Gesetz  das  Eigentum  eingeführt  habe,  bezeichnet 
Thomas  den  gemeinen  Nutzen,  das  individuelle  Interesse  und  das  Inter- 
esse der  Sache  selbst. 

Nun  ist  klar,  wenn  man  alle  Rechte,  welche  das  Eigentum  verleiht, 
einem  anderen  als  dem  Eigentümer  zuspricht,  macht  man  das  Eigentum 
zu  einem  inhaltlosen  Schemen,  denjenigen  dagegen,  welcher  jene  Rechte 
ausüben  darf,  tatsächlich  zum  Eigentümer.  Das  gilt  sowohl  für  die 
Eigentumslehre  des  Thomas  als  auch  für  jene  Wandlung  der  franziskani- 
schen Ordensregel,  wonach  den  Franziskanern  Besitz  unter  Zuschreibung 
des  Eigentumsrechts  an  die  römische  Kirche  eingeräumt  wurde.  Diese 
Distinktionen  vermochten  daher  die  überkommenen  Anschauungen  weder 
im  Volke  noch  bei  den  Eifrigeren  unter  den  Franziskanern  zu  verdrängen. 
Ich  will  hier  nicht  die  Geschichte  der  Bewegungen  wiederholen,  welche 
nunmehr  sowohl  innerhalb  des  Franziskanerordens  als  auch  außerhalb 
desselben  in  der  Welt  stattfanden,  um  das  arme  Leben  in  der  Nachfolge 
Christi  zu  verwirklichen.  Glaser  hat  sie  im  einzelnen  erzählt.  Im  Fran- 
ziskanerorden sind  es  zunächst  Antonius  von  Padua,  Alexander  von  Haies, 
Bonaventura,  welche  der  rasch  fortschreitenden  Verweltlichung  des  Ordens 
Einhalt  zu  gebieten  versuchen;  völlig  vergeblich;  die  Instinkte  der 
menschlichen  Natur  sind  stärker  als  das  Vermächtnis  des  heiligen  Fran- 
ziskus und  siegen  über  die  Forderungen  der  Askese.  Die  Brüder,  welche 
aus  der  Zeit  des  Franziskus  noch  überleben,  werden,  wenn  sie  demon- 
strieren, verfolgt;  einem  Bruder,  der  sich  auf  das  Testament  des  Heiligen 
beruft,  wird  dieses  auf  dem  Kopfe  verbrannt;  selbst  der  heilige  Bona- 
ventura vergleicht  seine  Brüder  mit  Räubern.  Die  Bewegungen  zur 
Verwirklichung  des  armen  Lebens  in  der  Welt  aber  werden  mit  blutiger 
Gewalt  unterdrückt;  die  Saccati  in  der  Provence  werden  aufgelöst, 
Segarelli  in  Oberitalien  wird  verbrannt,  Dulcinus  von  Novara  unter  grau- 
samen Foltern  getötet.  Und  ein  Franziskaner,  Fra  Salimbene,  ist  es,  der 
uns  über  alle  diese  Grausamkeiten  in  einem  Tone  berichtet,  der  mehr  als 


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Lujo  Brentano,  Zur  Genealogie  der  Angriffe  auf  das  Eigentum.  263 

alles  beweist,  wie  völlig  in  kürzester  Zeit  der  Geist  des  liebenswürdigen 
Heiligen  von  seinen  Jüngern  gewichen  war. 

Von  allen  war  er  allerdings  noch  nicht  gewichen.  Indes  möge 
man  bei  Glaser  selbst  die  Einzelheiten  nachlesen  des  nun  entbrennenden 
Kampfes  der  Spiritualen,  der  Fratricellen  und  Beghinen  gegen  die  Ver- 
weltlichung des  Ordens  wie  der  Kirche,  welche  Hand  in  Hand  mit 
dem  in  der  Welt  fortschreitenden  Kapitalismus  fortschritt,  eines  Kampfes, 
der  sich  innerhalb  wie  außerhalb  des  Franziskanerordens  abspielte.  Die 
ausgezeichnetsten  Ordensbrüder,  darunter  der  begeisterte  Sänger  der 
Armut  Jacopone  da  Todi,  werden  wegen  ihrer  nicht  zu  erschütternden 
Anhänglichkeit  an  das  franziskanische  Ideal  jahrelang  im  Gefängnis  ge- 
halten; andere  werden  gemartert,  ja  selbst  nach  ihrem  Tode  sucht  man 
noch  einen  Makel  auf  sie  zu  werfen,  indem  man,  wie  bei  Olivi,  ihre 
Gebeine  ausgräbt  und  ihre  Gräber  zerstört;  wieder  andere,  die  sich  beim 
Papste  über  die  Nichtbeobachtung  der  evangelischen  Armut  beklagen, 
werden  der  Inquisition  übergeben,  vier  darunter  werden  verbrannt,  ein 
anderer  wird  eingemauert,  ein  anderer  in  Stock  und  eiserne  Fesseln  ge- 
schlossen; und  doch  bestand  ihrer  aller  Verbrechen  nur  darin,  daß  sie 
gepredigt,  die  Regel  des  Franziskus  sei  identisch  mit  dem  Evangelium 
Christi.  Nicht  anders  ergeht  es  den  außerhalb  des  Franziskanerordens 
auftretenden  Fraticellen  und  Beghinen.  Besonders  verdient  hervorgehoben 
zu  werden  der  132 1  in  Narbonne  ausgefochtene  Streit  über  die  Armut 
Christi.  Ein  Beghine  wurde  angeklagt,  weil  er  behauptet,  daß  Christus 
und  die  Apostel  weder  gemeinsam  noch  für  sich  Eigentum  besessen 
hätten ;  einer  der  Richter  tritt  auf  die  Seite  des  Angeklagten ;  die  Frage 
wird  zu  einem  Streite  zwischen  Dominikanern  und  Franziskanern.  Die 
Dominikaner,  um  die  Vorstellung  zu  verbreiten,  daß  Christus  Eigentum 
besessen  habe,  lassen  ihn  abbilden,  wie  er  gerade  einer  Geldbüchse  Geld 
entnimmt,  ja  sogar  mit  der  einen  Hand  ans  Kreuz  geheftet,  mit  der 
anderen  Geld  in  die  am  Gürtel  hängende  Tasche  steckte.  Die  Franzis- 
kaner dagegen  sprachen  sich  1322  dahin  aus,  daß  die  Armut  und  Besitz- 
losigkeit Christi  katholische  und  rechtgläubige  Lehre  sei.  Eine  Reihe 
von  Gutachten  spricht  sich  gegen  die  Armut  Christi  aus.  Der  Papst 
Johann  XXII.  schließt  sich  diesen  an.  Dem  Franziskanerorden  aber  ver- 
leiht er  das  Eigentum  an  seinen  Gütern,  das  bisher  der  Kirche  zustand ; 
die  Unterscheidung  zwischen  Eigentum  und  Nießbrauch  sei  eine  Fiktion, 
und  der  Verzicht  auf  den  Besitz  trage  nichts  zur  Vollkommenheit  bei. 
Damit  war  auch  der  letzte  Rest  des  Unterschieds  zwischen  der  Besitz- 
losigkeit der  Franziskaner  und  der  anderer  Ordensmönche  beseitigt.  Der 
Streit  aber  dauerte  fort  und  die  Scheiterhaufen  rauchten  weiter. 

Alvarus  Pelagius,  der  Beichtvater  desselben  Papstes  Johann  XXII.,  schrieb 
noch  1332  (De  planctu  ecclesie  I  art.  41  lit.  G  &  H.  Lugd.  167 1)  wie  die 
Kirchenväter  geschrieben:  Iure  nature  communis  est  possessio  et  com- 
munis omnium  possessio,  und  wenn  einst  Petrus  von  sich  gesagt  habe,  daß 


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264 


Literatur. 


er  weder  Gold  noch  Silber  besitze,  so  müsse  ein  Prälat  heute  das  Gegen- 
teil von  sich  sagen.  Sein  Beichtkind  aber  gab  das  Evangelium  vom 
reichen  Jüngling  preis,  als  das  wirkliche  Leben  der  Kirche  mit  ihm  in 
Widerspruch  trat;  und  im  Franziskanerorden  schritt  die  Verweltlichung 
nun  unaufhaltsam  fort.  Der  Bettelorden  des  heiligen  Franziskus  wurde 
zu  einer  Organisation  des  Bettels  zum  Nutzen  der  Kirche.  Allein  so 
sehr  es  die  Verwandlung  des  in  der  Kirche  organisierten  Christentums 
in  eine  weltliche  Organisation  mit  sich  brachte,  daß  jede  zur  Verwirk- 
lichung der  Nachfolge  Christi  ihr  eingegliederte  Organisation  alsbald  mit 
verweltlichte,  die  Lehre  des  Evangeliums  erzeugte  immer  wieder  neue 
Bekenner.  In  den  Lehren  Wyclifs  treten  uns  deutliche  Anklänge  an  die 
Lehren  der  Kirchenväter  entgegen,  und  richtete  er  seine  Pfeile  auch  in 
erster  Linie  gegen  den  größten  damaligen  Eigentümer,  die  verweltlichte 
Kirche,  so  gingen  seine  Anhänger  doch  weiter.  Der  Priester  John  Ball 
predigte,  es  werde  in  England  nie  gut  werden,  solange  es  keine  Güter- 
gemeinschaft, und  solange  es  leibeigene  Bauern  und  Herren  gebe.  Und 
endete  die  durch  diese  Lehren  hervorgerufene  Bewegung  mit  einer 
Niederlage  in  England,  so  sollten  sie  doch  bald  darauf  in  Böhmen 
eine  hussitische  Auferstehung  erfahren. 

Allen  den  bisher  vorgeführten  kommunistischen  Bewegungen  war 
eines  gemein.  So  sehr  sie  sich  in  erster  Linie  gegen  die  Kirche  rich- 
teten, so  standen  sie  in  der  Lehre  vom  Eigentum  doch  im  Prinzip 
auf  dem  gleichen  Boden  wie  diese.  Hat  doch  noch  der  sogenannte 
letzte  Scholastiker,  der  1495  gestorbene  Gabriel  Biel,  geschrieben: 
Lege  naturae  omnia  sunt  omnibus  communia  .  .  .  Iure  humano  dicitur 
haec  domus  mea:  haec  villa  mea:  hic  servus  meus  est  .  .  .  Tolle  jura 
imperatoris;  et  quis  audet  dicere,  haec  villa  mea  est  .  .  .  Per  jura 
regia  possidentur  possessiones.  Eben  weil  die  hier  erwähnten  Bewegungen 
auf  dem  gleichen  prinzipiellen  Boden  wie  die  kirchliche  Lehre  standen, 
hatten  sie  sich  gegen  die  Kirche  in  erster  Linie  gewendet.  Diese  er- 
schien ihnen  in  erster  Linie  verpflichtet,  das  in  Matth.  XIX  gesetzte 
Ideal  zu  verwirklichen;  sie  war  am  meisten  von  ihm  abgewichen.  Alle 
diese  Bewegungen  wurzelten  also  auf  einem  asketischen  Gedanken.  Es 
war  eine  Art  negativen  Kommunismus,  den  sie  erstrebten,  eine  Gemein- 
samkeit des  Besitzes  auf  Grundlage  des  Verzichts  auf  das  Überflüssige, 
um  mittelst  desselben  die  Dürftigen  über  die  Not  zu  erheben.  Das 
änderte  sich  mit  der  Reformation.  Sie  lehrte,  daß  der  Mensch  in  die 
Welt  gesetzt  sei,  nicht  damit  er  die  Welt  fliehe,  sondern  damit  er  in 
der  Welt  Gott  diene;  damit  trat  sie  in  Widerspruch  mit  der  bis  dahin 
empfohlenen  Lossagimg  von  allem  Irdischen;  das  Eigentum  an  irdischen 
Gütern,  das  Streben  nach  ihrem  Erwerb  und  nach  dem  Reichtum,  sowie 
der  Handel,  erschienen,  weil  naturgemäß,  nunmehr  als  Bestandteile  der 
von  Gott  gewollten  Ordnung.  Damit  änderte  sich  auch  der  Charakter 
der  kommunistischen  Bestrebungen.    An  die  Stelle  eines  auf  Gedanken 


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Lujo  Brentano,  Zur  Genealogie  der  Angriffe  auf  das  Eigentum. 


der  Askese  beruhenden  negativen  Kommunismus  tritt  fortan  ein  auf  der 
Weltfreudigkeit  beruhender  positiver  Kommunismus.  Nicht  mehr  Verwirk- 
lichung des  armen  Lebens  erscheint  als  das  Ziel,  sondern  Gemeinsamkeit 
des  Genießens  der  sich  bietenden  und  zu  mehrenden  irdischen  Güter. 

Der  prinzipielle  Bruch  mit  der  alten  Eigentumslehre  erfolgt  mit 
Luther.  Während  die  christliche  Lehre  im  Anschluß  an  die  Auffassung 
des  alten  Testaments  von  den  Kirchenvätern  bis  zu  Gabriel  Biel  den 
Kommunismus  immer  als  den  dem  natürlichen  und  göttlichen  Rechte 
entsprechenden  Zustand  betrachtet  hatte  und  das  Eigentum  nur  als  ein 
infolge  der  Schwäche  der  menschlichen  Natur  notwendiges  Übel,  ist 
Luther  ein  entschiedener  Gegner  des  Kommunismus.  Die  Anziehung 
des  alten  Testaments  lehnt  er  ab  unter  Hinweis  auf  den  Gegensatz  des 
alten  Testaments  zum  neuen.  Dagegen  beruft  er  sich  auch  fürs  alte 
Testament  auf  Abraham,  der  selbst  sehr  reich  an  Vieh,  Silber  und  Gold 
und  doch  sehr  gottselig  gewesen,  und  fürs  neue  auf  Christus,  der  selbst 
Eigentum  besessen  habe.  Ein  gleich  entschiedener  Verteidiger  des 
Privateigentums  ist  Calvin.  Dabei  war  unter  dem  Einfluß  der  fort- 
schreitenden wirtschaftlichen  Entwicklung  im  15.  Jahrhundert  in  den 
kontinentalen  Ländern  nördlich  der  Alpen  das  römische  Recht  rezipiert 
worden  mit  seiner  Auffassung  vom  Eigentum  als  dem  jus  utendi  et 
abutendi. 

Was  war  die  Folge?  Unter  dem  Druck  der  wirtschaftlichen  Ent- 
wicklung gelangt  nun  in  den  reformierten  Ländern,  auch  wenn  sie  das 
römische  Recht  nicht  rezipieren,  unter  dem  Einfluß  der  reformierten 
Lehre,  in  den  katholischen  Ländern  unter  dem  Einfluß  der  Rezeption 
des  römischen  Rechts  eine  neue  Auffassung  vom  Eigentum  zur  Geltung : 
die  Auffassung  vom  Eigentum  als  subjektives  Recht.  In  der  Lehre  der 
katholischen  Theologen  und  ihrer  Geistesverwandten  aber  bleibt  nach 
wie  vor  die  alte  Auffassung,  daß  nach  dem  Naturrecht  der  allein  nor- 
male Zustand  der  Kommunismus  sei,  daß  das  Eigentum  nichts  weiter 
sei  als  eine  infolge  des  Sündenfalls  notwendig  gewordene  Konzession  an 
der  Schwäche  der  menschlichen  Natur.  So  z.  B.  bei  Pascal,  Bossuet. 
Der  Jesuit  Bourdaloue,  der  berühmte  Kanzelredner  des  1 7.  Jahrhunderts, 
wiederholt  in  seinen  Predigten  über  den  Reichtum  und  über  das  Almosen 
unter  starken  Anklängen  an  die  Reden  eines  Basilius,  Ambrosius,  Chryso- 
stomus  deren  Lehren  über  das  Eigentum. 

Welches  aber  ist  die  weitere  Entwicklung? 

In  den  reformierten  Ländern  entstehen  im  Gegensatz  zu  der  zur 
Herrschaft  gelangenden  Auffassung  des  Eigentums  als  eines  subjektiven 
Rechtes  kommunistische  Sekten,  wie  die  Wiedertäufer,  die  Diggers,  die 
Huterischen  Brüder.  Namentlich  in  England  erschien  im  17.  Jahrhundert 
eine  Anzahl  Broschüren,  welche  alle  davon  ausgehen,  daß  von  Natur 
allen  alles  gemein  sei.  Indem  das  Sondereigentum  entstand,  wurden  die 
Nichtbesitzenden  die  Sklaven  des  Eigentümers.    Dem  Staate  wird  zu- 


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266 


Literatur. 


gemutet,  in  der  einen  oder  anderen  Weise  die  Produktion  und  Verteilung 
der  Güter  in  die  Hand  zu  nehmen.  Wie  bei  den  Kirchenvätern  der 
Eigentümer  nur  der  Verwalter  seines  Gutes  im  Interesse  der  Armen 
sein  soll,  so  erscheint  in  allen  diesen  Schriften  das  Wohlergehen  der 
Armen  als  der  Maßstab  bei  Beurteilung  sowohl  des  politischen,  als  auch 
des  sozialen  und  wirtschaftlichen  Zustands  des  Landes.  Unter  den  hier- 
hergehörigen  Schriftstellern  sind  zu  nennen  Hartlib,  der  Holländer  Peter 
Cornelius,  Gerard  Winstanley,  alles  Quäker.  Im  Jahre  1696  veröffent- 
lichte John  Bellers  seine  „Proposais  for  raising  a  College  of  industry  of 
all  useful  trades  and  husbandry,  with  profit  for  the  rieh,  a  plentiful 
living  for  the  poor,  and  a  good  education  for  youth ;  which  will  be  advantage 
to  the  government  by  the  increase  of  the  people  and  their  riches",  eine 
Schrift  mit  Gedanken  ähnlich  denen  des  genannten  Peter  Cornelius 
und  denen  Robert  Owens.  1775  wirft  Thomas  Spence  die  Frage  auf, 
ob  alle  Mitglieder  der  Gesellschaft  alle  Vorteile  genießen,  die  sie  infolge 
ihres  natürlichen  und  gleichen  Rechtes  auf  Land  und  Freiheit  zu  ver- 
langen berechtigt  sind,  und  beantwortet  die  Frage  mit  Nein.  Wenige 
Jahre  später  tritt  Professor  Ogilvie  in  Aberdeen  ein  für  Verstaatlichung 
des  Bodens.  Dasselbe  verlangt  Godwin  in  seiner  Political  Justice  und 
1817  verlangt  Robert  Owen  die  Reorganisation  der  Gesellschaft  auf 
genossenschaftlicher  Grundlage.  Damit  sind  wir  bei  der  modernen 
sozialistischen  Bewegung  in  England  angelangt,  welche  über  Gray, 
Thompson,  Hodgskin,  Edmonds,  Bray  zu  Karl  Marx  führt 

In  den  katholischen  Ländern,  wo,  wie  bemerkt,  zunächst  noch  die 
alte  katholische  Auffassung  vom  Eigentum  von  den  Theologen  aufrecht 
erhalten  wird,  ist  die  Entwicklung  nicht  anders.  Diese  Auffassung  genügt 
hier,  solange  die  Menschen  wirklich  katholisch  denken.  Wie  aber, 
wenn  dies  aufhört?  Die  alte  Auffassung  vom  Kommunismus  als  dem 
allein  dem  Naturrechte  entsprechenden  Zustande  bleibt,  aber  die  Recht- 
fertigung des  Eigentums  als  Notwendigkeit  infolge  des  Sündenfalls 
fällt.  Folglich  hier  die  heftigsten  theoretischen  Angriffe  auf  das  Eigentum 
und  Versuche,  den  Kommunismus  theoretisch  zu  begründen.  Das  Eigentum 
wird  als  Quelle  aller  ökonomischen  Ungleichheit  und  sittlichen  Ver- 
worfenheit und  politischen  Mißstände  hingestellt.  Charakteristisch,  daß 
alle,  von  denen  diese  Angriffe  ausgehen,  selbst  entweder  Geistliche  ge- 
wesen sind  oder  doch  eine  theologische  Bildung  durchgemacht  haben, 
und  vom  Christentum  abgefallen.  So  der  Abbe  Morelly,  der  Abb£  Mably, 
der  Pfarrer  Jean  Mcslier.  Es  ist  der  Kirchenvater,  der  den  Priesterrock 
abgestreift.  Der  alte  Radikalismus  ist  geblieben,  der  christliche  Kompromiß 
mit  der  Wirklichkeit  fiel.  Darauf  dann  auch  andere  wie  Brissot  Babeuf 
sucht  die  neue  Idee  im  Leben  zu  verwirklichen.  Darauf  St.  Simon, 
Fourier,  Proudhon,  Cabet,  Considerant  bis  zu  den  heutigen  französischen 
Sozialdemokraten,  die  sich  zu  Marx  bekennen. 

Als  in  der  Zeit  nach  der  Reformation  die  moderne  Wissenschaft 


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Lujo  Brentano,  Zur  Genealogie  der  Angriffe  auf  das  Eigentum. 


aufkam,  empfand  sie  das  Bedürfnis  nach  einer  Rechtfertigung  des  Eigen- 
tums als  eines  subjektiven  Rechts;  sie  fand  sie  zunächst  in  der  sei  es 
durch  einen  Urvertrag,  sei  es  durch  Befehl  des  Gesetzgebers,  dem  ein- 
zelnen übertragenen  Befugnis.  So  Grotius;  ursprünglich  war  nach  ihm 
Alles  gemein;  das  Sondereigentum  entstand  auf  Grund  ausdrücklichen 
oder  stillschweigenden  Vertrags,  ausdrücklich,  wo  man  die  Güter,  die 
ehedem  gemein  waren,  teilte,  stillschweigend,  wo  man  okkupierte.  Der 
Grund,  warum  die  Menschen  auf  die  ursprüngliche  Gütergemeinschaft 
verzichteten,  und  zwar  zuerst  an  Mobilien,  dann  an  Immobilien,  war 
einmal,  daß  sie  sich  nicht  länger  mit  einfachen  Bedürfnissen  zufrieden 
gaben,  denn  um  besser  zu  leben  benötigt  man  der  Arbeit,  die  der  Eine 
auf  dieses,  der  andere  auf  jenes  verwandte ;  und  sodann  der  Mangel  an 
Billigkeit  und  Eintracht,  infolge  deren  man  keine  gerechte  Gleichheit 
weder  in  der  Arbeit  (Produktion)  noch  im  Verbrauche  des  Ertrags  (Ver- 
teilung) bewahrt  haben  würde.  Der  Grund  der  Anerkennung  eines 
Sondereigentums  war  also  die  Rücksicht  auf  seine  Wirkungen.  So  ferner 
Hobbes.  Das  Eigentum  entsteht  ihm  infolge  des  Willens  des  Gesetz- 
gebers, da  ohne  seine  Anerkennung  ewiger  Krieg  herrschen  würde.  So 
weiter  Wolf,  Pufendorf,  Montesquieu,  Bentham.  Nach  ihnen  allen  wurzelt 
das  Eigentum  nicht  im  Naturrecht,  sondern  im  Willen  des  Gesetzgebers 
wie  nach  der  alten  kirchlichen  Lehre.  Dabei  findet  sich  auch  der  Hin- 
weis auf  die  Notwendigkeit,  Streitigkeiten  zu  verhüten,  den  Hobbes  als 
Motiv  des  Gesetzgebers  in  den  Vordergrund  stellt,  schon  bei  Aristoteles 
und  nach  ihm  bei  Thomas  v.  Aquin.  Freilich  war  damit  nur  die  Not- 
wendigkeit des  Bestehens  einer  bestimmten  Ordnung  hinsichtlich  des  Ge- 
nusses der  Güter  dargetan,  nicht  aber,  daß  diese  Ordnung  in  der  Aner- 
kennung eines  Eigentums  Privater  bestehen  müsse. 

Diese  Begründung  hat  erst  John  Locke  zu  geben  versucht  Seine 
I>ehre  ist  die  erste,  wonach  das  Eigentum  nicht  als  Einrichtung  der 
positiven  Gesetzgebung,  sondern  des  Naturrechts  erscheint.  Locke  sieht 
Ursprung  und  Rechtfertigung  des  Eigentums  in  der  Arbeit.  Jeder  hat 
Eigentum  an  seiner  Person;  an  dieses  hat  niemand  ein  Recht  außer 
ihm;  die  Arbeit  seines  Körpers  und  das  Werk  seiner  Hände  gehören 
ihm  eigentümlich.  Was  immer  also  der  Mensch  aus  dem  Zustand,  in 
welchen  es  von  der  Natur  versetzt  und  in  dem  es  von  ihr  gelassen  ist, 
entfernt,  damit  hat  er  seine  Arbeit  verbunden  und  etwas  hinzugefügt, 
was  sein  eigen  ist  und  wodurch  es  somit  sein  Eigentum  wird.  Dadurch 
daß  er  es  aus  dem  Zustand  der  Gemeinsamkeit,  in  welchen  es  die  Natur 
versetzt  hat,  entfernt  hat,  ist  ihm  durch  seine  Arbeit  etwas  beigefügt 
worden,  was  das  gemeinsame  Recht  anderer  Menschen  ausschließt:  denn 
da  diese  Arbeit  das  unzweifelhafte  Eigentum  des  Arbeiters  ist,  so  kann 
niemand  ein  Anrecht  an  dem  haben,  mit  dem  diese  Arbeit  verbunden 
ist,  wenigstens  da,  wo  genug  davon  da  und  ebenso  Gutes  für  den  Gemein 
besitz  anderer  gelassen  ist. 


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26S 


Literatur. 


Ähnlich  auch  die  Physiokraten.  Freiheit  und  Eigentum  waren  nach 
Quesnay  schon  vor  der  Gesellschaft  vorhanden.  Das  Eigentum  erscheint 
ihm  als  berechtigt  als  Ergebnis  der  Arbeit.  Das  Eigentum  also  ein 
Naturrecht.  Es  beruht  auf  der  absoluten  Gerechtigkeit,  welche  der 
Willkür  und  Wandelbarkeit  der  Gesetzgebung  entzogen  ist.  So  ferner 
noch  viele  andere,  wie  M.  Mendelssohn,  Charles  Comte,  Adolphe  Thiers. 

Allein  die  Gegner  des  Eigentums  wurden  durch  diese  Beweisführung 
nicht  überzeugt.  Sie  hatten  es  nicht  schwer,  nachzuweisen,  daß  für  die 
große  Masse  des  bestehenden  Eigentums  die  als  Entstehungsursache  an- 
genommene Voraussetzung  nicht  zutrifft  Nicht  aus  der  Arbeit  des  der- 
maligen  Eigentümers  oder  dessen  Rechtsvorgängers,  sondern  aus  ange- 
eigneter fremder  Arbeit  sei  es  entstanden.  Daher  denn  Hieronymus  mit 
Recht  sage :  Omnes  divitiae  ab  iniquitate  descendunt . . .  dives  aut  iniquus 
aut  iniqui  haeres.  Nirgends  seien  in  Europa  die  Spuren  der  mittel- 
alterlichen Vermögensverteilung,  wie  sie  sowohl  das  Ergebnis  der  Feudal- 
wie  der  Kirchenverfassung  seien,  verschwunden.  Noch  heute  entständen 
die  großen  Vermögen  weniger  durch  eigene  Arbeit  der  Inhaber  als  viel- 
mehr durch  Werterhöhung  und  Spekulation.  Auch  das  nicht  durch 
Arbeit  entstandene  Eigentum  aber  werde  geschützt.  Die  modernen 
Sozialisten  haben  daher  den  Gedanken  eines  auf  Arbeit  beruhenden 
Eigentums  als  Postulat,  nicht  aber  als  Rechtfertigung  des  bestehenden 
Eigentums  aufgenommen.  Rodbertus  hat  die  Rechtfertigung  des  Eigen- 
tums aus  der  Arbeit  eine  Theorie  des  bösen  Gewissens  genannt.  Arbeits- 
eigentum sei  ein  Ziel  der  Zukunft,  entspreche  aber  nicht  der  Gegenwart. 

Es  war  dann  eigentlich  nur  die  Hervorkehrung  einer  anderen  Seite 
der  Auffassung  Lockes,  wenn  andere  eine  naturrechtliche  Basis  für  das 
Eigentum  darin  sahen,  indem  sie  es  als  natürliche  Erweiterung  der  Per- 
sönlichkeit hinstellten.  Auch  finden  sich  hierfür  bereits  Ansätze  bei  den 
Physiokraten.  So  ferner  Kant,  Hegel  und  seine  Schule.  Darauf  ant- 
worteten die  Nichteigentümer :  auch  wir  bedürfen  der  äußeren  Dinge  zum 
vollen  Auswirken  unserer  Persönlichkeit.  Voraussetzung  dafür,  daß  das 
Eigentum  in  dieser  Weise  gerechtfertigt  werden  könne,  ist,  daß  jeder 
die  Möglichkeit  habe,  zur  Aufrechterhaltung  seiner  Persönlichkeit  sich 
Eigentum  zu  erarbeiten.  Diese  Voraussetzung,  von  der  auch  Locke  aus- 
geht, trifft  nicht  mehr  zu.  Daher  Uniwandlung  und  Erweiterung  des 
Eigentums,  so  daß  es  für  jeden  Menschen  seine  natürliche  und  not- 
wendige Ausdehnung  in  Bezug  auf  diese  Dinge,  das  unerläßliche  Werk- 
zeug des  Lebens  und  der  Entwicklung  wird.  Aus  der  Apanage  einer 
gewissen  Anzahl  Menschen  soll  es  das  Erbteil  Aller  werden. 

Dann  kam  Stahl  und  zeigte  abermals  eine  neue  Seite  der  Grund- 
idee Lockes.  Eigentum  sei  Stoff  für  die  Offenbarung  der  Individualität 
des  Menschen,  aber  nicht  bloß  dies,  sondern  auch  für  die  Erfüllung 
seiner  sittlichen  Pflichten,  besonders  gegen  sich  und  seine  Familie.  Eigen- 
tum sei  also  nicht  bloß  ein  Mittel  der  Selbstsucht,  sondern  auch  der 


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Lujo  Brentano,  Zur  Genealogie  der  Angriffe  auf  das  F.igentum. 


Pflichterfüllung.  In  seiner  1864  erschienenen  Schrift  „Die  Arbeiterfrage 
und  das  Christentum"  hat  Freiherr  von  Ketteier,  Bischof  von  Mainz,  diese 
Auffassung  Stahls  in  merkwürdiger  Weise  mit  der  der  Kirchenväter  ver- 
quickt, um  mit  Rücksicht  auf  die  von  diesen  den  Reichen  gepredigte 
Unterstützung  der  Armen  das  Postulat  staatlicher  Subvention  von  Pro- 
duktivgenossenschaften abzulehnen :  durch  eine  von  Majoritäten  dekretierte 
Staatshilfe  werde  dem  Reichen  die  Möglichkeit  genommen,  seine  Pflicht 
gegenüber  seinem  armen  Mitbruder  zu  erfüllen.  Dies  ist  eine  Recht- 
fertigung des  Eigentums  vom  Standpunkte  des  Aristokraten.  Der  Nicht- 
eigentümer dagegen  erklärte,  auch  er  habe  das  Bedürfnis  nach  Offen- 
barung seiner  Individualität  sowie  Pflichten  gegen  sich  und  andere.  Er 
könne  sich  nicht  dazu  verstehen,  durch  das  Eigentum  anderer  in  Not 
versetzt  und  gehalten  zu  werden,  um  diesen  Eigentümern  als  Himmels- 
leiter zu  dienen,  indem  er  ihnen  Gelegenheit  gebe,  an  ihm,  dem  not- 
leidenden Nichteigentümer,  die  Pflichten  des  Eigentums  zu  erfüllen.  Er 
ziehe  es  vor,  in  der  Lage  zu  sein,  es  nicht  nötig  zu  haben,  daß  andere 
Pflichten  gegen  ihn  erfüllten,  und  imstande  zu  sein,  selbst  seinen 
Pflichten  gegen  sich  nachzukommen. 

Adolph  Thiers  endlich,  der  im  übrigen  ein  Anhänger  der  Arbeits- 
theorie war,  suchte  diese  naturrechtliche  Begründung  noch  durch  einen 
Erfahrungsbeweis  zu  verstärken,  indem  er  die  völlig  unhaltbare  Behaup- 
tung aufstellte,  der  eigentumslose  Zustand  sei  gegen  die  Natur,  indem 
es  niemals  einen  Zustand  ohne  Eigentum  gegeben  habe;  ein  solcher  sei 
unmöglich. 

Das  historisch  Merkwürdigste  haben  wir  dann  unter  dem  Pontifikate 
Leos  XIII.  erlebt :  in  der  Enzyklika  De  conditione  opificum  „Rerum  no- 
varurn  semel  excitata  cupidine"  vom  15.  Mai  1891  hat  der  Papst  alle  die  vor- 
stehenden naturrechtlichen  Begründungen  des  Eigentums  gewissermaßen 
enzyklopädisch  zusammengefaßt.  Es  war  dies  eine  große  Neuerung. 
Die  Kirchenväter  haben  aufs  energischste  bestritten,  daß  das  Eigentum 
im  Naturrecht  begründet  sei;  es  sei  erst  durch  Akt  der  positiven  Gesetz- 
gebung entstanden.  Das  kanonische  Recht  hat  dieselbe  Auffassung  mit 
Nachdruck  vertreten.  Selbst  Thomas  v.  Aquin  hat  daran  festgehalten, 
daß  die  Teilung  der  Güter  nicht  auf  Naturrecht,  sondern  auf  positivem 
Gesetze  beruhe  und  nur  betont,  das  Privateigentum  widerspreche  nicht 
dem  Naturrecht,  sondern  sei  durch  die  menschliche  Vernunft  dem  Natur- 
recht hinzugefügt.  Und  noch  jahrhundertelang  nach  dem  heiligen 
Thomas  haben  die  größten  Lehrer  der  katholischen  Kirche  sogar  die 
Lehre  eines  Basilius,  Gregor  v.  Nazianz,  Ambrosius,  Augustinus,  Hierony- 
mus, Chrysostomus,  häufig  unter  Gebrauch  von  deren  eigenen  Worten, 
wiederholt.  In  Gegensatz  hierzu  hat  Leo  XIII.  in  der  gedachten  Enzyklika 
erklärt:  Merito  universitas  generis  humani,  dissentientibus  paueorum 
opinionibus  nihil  admodum  mota,  studioseque  naturam  intuens,  in  ipsius 
lege  naturae  fundamentum  reperit  partitionis  bonorum, 


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270 


Literatur. 


possessionesque  privatas,  ut  quae  cum  hominum  natura  pacatoque 
et  tranquillo  convictu  maxime  congruant,  omni  um  saeculorum  non  con- 
secravit.  Leges  autem  civiles,  quae,  cum  justae  sunt,  virtutem  suam  ab 
ipsa  naturali  lege  ducunt,  id  jus,  dequo  loquimur,  confirmant  ac  vi  etiam 
adhibenda  tuentur.  Dies  ist  eine  völlige  Umkehr  der  mehr  als  tausend- 
jährigen kirchlichen  Lehre.  Bisher  ging  diese  dahin,  daß  gemäß  dem  Natur- 
recht  allen  alles  gemein  sei  und  die  Teilung  der  Güter  in  Sondereigen- 
tum lediglich  auf  positivem  Gesetze  beruhe;  Leo  XIII.  sagt,  daß  sie  auf 
Naturrecht  beruhe  und  daß  das  positive  Gesetz,  indem  es  sie  mit 
Zwangsgewalt  schütze,  lediglich  das  Gebot  des  Naturrechts  zur  Geltung 
bringe.  Während  Clemens  von  Alexandrien  (Paedagog.  II  c.  1 2  Migne, 
Patr.  graeca  VIII,  543)  schrieb:  „Gott  hat  uns  das  Recht  des  Genusses 
gegeben,  aber  nur  bis  zur  Grenze  der  Notwendigkeit  und  seinem  Willen 
nach  muß  der  Genuß  gemeinsam  sein.  Eis  ist  nicht  in  der  Ordnung, 
daß  einer  im  Überfluß  sitzt,  während  mehrere  darben",  und  Ambrosius 
(De  off.  ministr.  I  c.  28  Migne,  Patr.  lat.  XVI,  67):  „Natura  omnia 
omnibus  in  commune  profudit.  Sic  enim  Deus  generari  jussit  omnia, 
ut  partus  omnibus  communis  esset,  et  terra  foret  omnium  quaedam  com- 
munio  possessio.  Natura  igitur  jus  commune  generavit,  usurpatio  jus 
fecit  privatum",  bekämpft  Leo  XIII.  die  Sozialisten,  welche  „sollicitata 
egentium  in  locupletes  invidia,  evertere  privatas  bonorum  possessiones 
contendunt  oportere,  earumque  loco  communia  universis  singulorum  bona 
facere",  mit  den  Worten :  „remediura  proponunt  cum  justitia  aperte  pugnans, 
quia  possidere  res  privatim  ut  suas,  jus  est  homini  a  natura  da- 
t  u  m."  Während  der  heilige  Basilius  wütend  über  den  herzieht,  der  da 
sagt:  „Wem  tue  ich  unrecht,  wenn  ich  das  Meinige  behalte?"  und  ihn 
als  einen  Räuber  hinstellt,  der,  nachdem  er  einen  Platz  eingenommen 
hat,  alle  später  Kommenden  wegdrängt,  behauptend,  daß  das,  was  allen 
zum  Gebrauche  gemeinsam  offen  steht,  ihm  besonders  angehöre,  be- 
zeichnet Leo  XIII.  umgekehrt  die  als  Räuber  „qui  usum  quidem  soli, 
variosque  praediorum  fruetus  homini  privato  concedunt:  ut  possideri  ab 
eo  et  domino  vel  solum,  in  quo  aedifieavit,  vel  praedium  quod  exeoluit, 
plane  jus  esse  negant."  Ja,  während  Basilius  den  einen  Dieb  nennt,  „der 
den  Nackten  nicht  bekleidet,  obgleich  er  es  tun  kann"  und  ausruft: 
„Dem  Hungrigen  gehört  das  Brot,  das  du  behältst,  dem  Nackten  der 
Mantel,  den  du  bewahrst,  dem  Unbeschuhten  der  Schuh,  der  bei  dir 
modert,  dem  Dürftigen  das  Silber,  das  du  vergraben  hältst.  Daher  tust 
du  so  vielen  Menschen  unrecht,  so  vielen  du  geben  könntest",  und 
Hieronymus  schreibt:  „Wenn  du  mehr  hast,  als  dir  zur  Nahrung  und 
Kleidung  nötig  ist,  so  gib  es  weg  und  für  so  viel  erachte  dich  als 
Schuldner",  sagt  die  Enzyklika :  „Nemo  jubetur  . .  .  tradere  aliis  quo  ipse 
egeat  ad  id  servandum  quod  personae  conveniat,  quodque  deceat:  nullus 
enim  inconvenienter  vivere  debet." 

Indes    wo   bin   ich    angelangt:    Ich    wollte    eine    Anzeige  der 


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Lujo  Brentano,  Zur  Genealogie  der  Angriffe  auf  das  Eigentum.      27 1 

Schrift  Glasers  schreiben  und  der  von  ihm  behandelten  Bewegung  ihre 
Stellung  in  der  Entwicklung  der  Anschauungen  über  das  Eigentum  an- 
weisen und  bin  darüber  zu  einer  Abhandlung  über  die  Entwicklung  der 
Angriffe  auf  das  Eigentum,  die  Stellung,  welche  die  kirchliche  Lehre  in 
dieser  Entwicklung  einnimmt,  und  die  Wandlung,  welche  diese  kirchliche 
Lehre  erfahren  hat,  gekommen.  Dabei  sei  bemerkt,  daß  sowohl  Glaser 
wie  auch  ich  selbst  keinerlei  Tadel  gegen  die  Kirche  wegen  dieser 
Wandlung  auszusprechen  beabsichtigen.  Wir  finden  sie  völlig  in  der 
Natur  der  Dinge  begründet.  Nur  erheischt  es  die  wissenschaftliche 
Wahrhaftigkeit,  daß  diese  Wandlung  gegenüber  der  Behauptung  einer 
Unwandelbarkeit  in  der  kirchlichen  Lehre  festgestellt  werde.  Leo  XIII. 
war  ein  eifriger  Verehrer  des  Thomas  v.  Aquin.  Er  hat  ihn  auch  in 
seiner  Enzyklika  wiederholt  zitiert.  Allein  wenn  er  sich  als  seinen  Schüler 
bekennt,  so  ist  er  dies  nicht,  indem  er  dessen  Eigentumslehre  wieder- 
gibt, denn  die  Eigentumslehre  Leos  XIII.  ist  weit  moderner  als  die 
des  Thomas;  sie  verhält  sich  zu  dieser,  wie  die  thomistische  sich  etwa 
zu  der  der  Kirchenväter  verhält.  Leo  XIII.  ist  der  Schüler  des  Thomas 
vielmehr  eben  in  der  Art  und  Weise,  wie  er  gleich  diesem  seine 
Eigenturaslehre  mit  den  vorgeschritteneren  wirtschaftlichen  Verhältnissen 
in  Einklang  zu  bringen  bemüht  ist.  Glaser  ist  bei  allem  dem  Fleiße, 
den  er  dem  Studium  der  franziskanischen  Bewegung  gewidmet  hat,  doch 
stets  bereit,  die  weltliche  Haltung  der  Kirche  ihr  gegenüber  zu  ent- 
schuldigen- vielleicht,  daß  er  hier  und  da  sogar  zu  viel  entschuldigt. 
Was  das  Eigentum  angeht,  so  scheint  er  dessen  Rechtfertigung  nicht 
in  den  Gründen  zu  sehen,  welche  seit  Locke,  wie  eben  dargelegt  wurde, 
für  dasselbe  geltend  gemacht  worden  sind,  und  die  alle  an  dem  Fehler 
leiden,  daß  sie  das  Eigentum  zwar  in  den  Augen  derjenigen,  die  etwas 
besitzen,  zu  rechtfertigen  vermögen,  auf  die  Nichtbesitzenden  aber  völlig 
eindrucklos  bleiben.  Er  scheint  sie  vielmehr  in  dem  zu  sehen,  worin 
bereits  Grotius  die  Berechtigung  für  jene  Anerkennung  erblickt,  welche 
das  Eigentum  nach  seiner  Meinung  im  Urvertrag,  sei  es  ausdrücklich, 
sei  es  stillschweigend,  gefunden  habe,  nämlich  in  seinen  Wirkungen, 
und  zwar  in  seinen  Wirkungen  nicht  für  die  einzelnen,  sondern  für  die 
Gesamtheit.  Diese  Wirkungen  des  Eigentums,  und  zwar  seine  wirt- 
schaftlichen, gesellschaftlichen  und  staatlichen,  zu  erörtern,  würde  diese 
Anzeige  aber  noch  ungebührlicher  ausdehnen,  als  dies  schon  geschehen  ist. 

LUJO  BRENTANO. 


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273 


Der  Zusammenbruch 
der  kapitalistischen  Wirtschaftsordnung  im  Lichte 
der  nationalökonomischen  Theorie. 

Von 

MICHAEL  TUGAN-BARANOWSKY. 

L 

Vom  Standpunkte  der  materialistischen  Geschichtsauffassung 
wird  die  gesamte  soziale  Entwicklung  durch  die  wirtschaftliche  be- 
stimmt. Es  ist  nicht  das  Bewußtsein  der  Menschen,  das  soziale 
Revolutionen  hervorruft,  sondern  die  Widersprüche  des  materiellen 
Lebens,  die  Konflikte  zwischen  gesellschaftlichen  Produktivkräften 
und  Produktionsverhältnissen.  Um  die  Notwendigkeit  des  Zusammen- 
bruchs der  kapitalistischen  Wirtschaftsweise  und  die  Unvermeidlich- 
keit ihrer  Umwandlung  in  die  sozialistische  nachzuweisen,  dazu  ist 
vor  allem  erforderlich,  einen  strengen  Beweis  zu  liefern  für  die 
ökonomische  Unmöglichkeit  des  Fortbestehens  des  Kapitalismus 
auf  einer  bestimmten  Stufe.  Ist  einmal  eine  solche  Unmöglichkeit 
festgestellt,  so  ist  damit  die  Notwendigkeit  der  Verwandlung  des 
Kapitalismus  in  sein  Gegenteil  bewiesen  und  der  Sozialismus  aus 
dem  Reiche  der  Utopie  in  das  der  Wissenschaft  glücklich  hinüber- 
gefiihrt. 

Das  war  der  ganz  natürliche  Gedankengang  von  Marx  und 
Engels,  indem  sie  vom  Standpunkte  ihrer  geschichtsphilosophischen 
Ansichten  ihre  sozialistischen  Uberzeugungen  zu  begründen  suchten. 
Die  rein  ökonomische  Unmöglichkeit  des  Fortbestehens  des  Kapita- 
lismus an  den  Tag  zu  legen  —  das  müßte  für  sie  die  Hauptsache 
sein.  Denn  widerspricht  etwa  das  weitere  Bestehen  des  Kapita- 
lismus nicht  den  Gesetzen  der  Wirtschaftsentwicklung,  sondern 

Archiv  für  Soiialwittenschaft  u.  Sozialpolitik.  I.    (A.  f.  soi.  G.  u.  St.  XIX.)  *.  i8 


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274 


Michael  Tugan  •  Baran o ws k y, 


unserem  moralischen  Bewußtsein  oder  den  bewußten  Interessen  der 
Volksmassen,  so  ist  damit  der  streng  materialistische  Beweis  der 
Notwendigkeit  des  Sozialismus  nicht  geliefert,  da  vom  Standpunkte 
des  historischen  Materialismus  nicht  die  Moral  und  nicht  die  In- 
teressen der  Mehrzahl  der  Bevölkerung,  sondern  die  Entwicklung 
der  Produktivkräfte  und  die  auf  ihr  beruhende  Entwicklung  der  Wirt- 
schaftsweise den  sozialen  Lebensprozeß  bestimmt  Wird  der  Schwer- 
punkt der  ganzen  Argumentation  aus  dem  Gebiete  der  Ökonomie 
in  das  des  Bewußtseins  übertragen,  so  wird  damit  der  materia- 
listischen Geschichtsauffassung  zwar  nicht  Abbruch  getan,  da  diese 
den  Einfluß  der  bewußten  Motive  auf  den  Lauf  der  Geschichte 
nicht  leugnet,  aber  allerdings  die  Bedeutung  derjenigen  Momente 
betont,  welche  diese  Auffassung  als  abgeleitete,  sekundäre  betrachtet. 
Wenn  also  Kautsky  die  Berechtigung  seiner  sozialistischen  Erwar- 
tungen vor  allem  darin  erblickt,  daß  das  Proletariat  „an  Zahl, 
Geschlossenheit,  Intelligenz,  Selbstbewußtsein,  politischer  Reife" *) 
zunimmt,  so  gerät  er  damit  nicht  in  direkten  Widerspruch  mit  der 
materialistischen  Geschichtsauffassung ;  doch  entspräche  es  viel  mehr 
dem  Geiste  derselben,  würde  der  Nachdruck  nicht  auf  Selbstbewußt- 
sein des  Proletariats,  sondern  auf  elementare,  unbewußte  Gesetze  der 
Entwicklung  des  Kapitalismus  gelegt.  So  sagt  Engels :  „Marx  hat  nie 
seine  kommunistischen  Forderungen  hierauf  (sc.  daß  die  Aneignung 
der  unbezahlten  Arbeit  unserem  sittlichen  Gefühl  widerspricht)  be- 
gründet, sondern  auf  den  notwendigen,  sich  vor  unseren  Augen 
täglich  mehr  und  mehr  vollziehenden  Zusammenbruch  der  kapita- 
listischen Produktionsweise".  *)  Ob  die  Bemerkung  von  Engels  richtig 
ist,  können  wir  dahingestellt  sein  lassen.  Ich  betone  nur,  daß  man, 
nach  der  Meinung  von  Engels,  die  sozialistischen  Forderungen 
durch  den  Nachweis  des  sich  vollziehenden  Zusammenbruchs  der 
kapitalistischen  Produktionsweise  begründen  soll. 

Ist  es  aber  Marx  und  Engels,  und  überhaupt  dem  Marxismus, 
gelungen,  eine  solche  Begründung  des  Sozialismus  zu  geben? 
Allerdings  steht  es  fest,  daß  diese  beiden  großen  Sozialisten  viele 
Versuche  gemacht  haben,  etwas  derartiges  zu  leisten.  Schälen 
wir  aus  den  zahlreichen  bezüglichen  Ausführungen  von  Marx 
und  Engels  den  theoretischen  Kern  heraus,  so  gelangen  wir 
nicht  zu  einer,  sondern  zu  zwei  theoretischen  Konstruktionen,  die 


*)  Bernstein  und  das  sozialdemokratische  Programm.   S.  48. 

■)  Das  Elend  der  Philosophie.  1885.  Vorwort  von  Engels.  S.  X. 


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Der  Zusammenbruch  der  kapitalistischen  Wirtschaftsordnung  usw. 


in  gewissem  Zusammenhange  miteinander  stehen,  aber  auch  selb- 
ständige Elemente  besitzen  und  darum  nicht  als  unzertrennliches 
Ganze  betrachtet  werden  können.  Die  eine  von  diesen  Konstruk- 
tionen mag  man  als  Theorie  des  mangelnden  Absatzes  für  die 
kapitalistische  Produktion  bezeichnen,  die  andere  als  Theorie  der 
fallenden  Profitrate. 

Was  die  erste  Theorie  betrifft,  so  ist  sie  schon  in  einigen 
älteren  Veröffentlichungen  von  Engels  ganz  klar  ausgeführt  und  be- 
gründet, namentlich  in  einer  seiner  Elberfelder  Reden  (i845)r  die  in 
den  „Rheinischen  Jahrbüchern"  gedruckt  wurde  und  in  dem  Aufsatz 
„Die  englische  Zehnstundenbill"  (Neue  Rheinische  Revue  1850). 

In  der  Elberfelder  Rede  stellt  sich  Engels  die  Aufgabe  „zu  be- 
weisen, daß  der  Kommunismus  für  Deutschland  —  wenn  keine  histo- 
rische, doch  eine  ökonomische  Notwendigkeit  ist".  Der  Beweis 
wird  folgendermaßen  geführt.  Deutschland  hat  zwischen  Freihandel 
und  Protektionismus  zu  wählen.  Zieht  es  das  erste  vor,  so  wird 
die  deutsche  Industrie  durch  die  englische  ruiniert  und  die  massen- 
hafte Arbeitslosigkeit  eine  soziale  Revolution  hervorrufen.  Geht  aber 
Deutschland  den  anderen  Weg  und  führt  hohe  Schutzzölle  ein,  so 
wird  das  eine  rasche  Entwicklung  der  deutschen  Industrie  zur  Fol<je 
haben.  Der  heimische  Markt  wird  bald  für  die  zunehmende  Masse 
der  industriellen  Produkte  zu  eng  und  Deutschland  wird  genötigt 
sein,  auswärtige  Märkte  für  seine  Industrie  zu  suchen,  was  zum 
Kampf  auf  Tod  und  Leben  zwischen  deutscher  und  englischer  In- 
dustrie führen  wird.  „Eine  jede  Industrie  muß  fortschreiten,  um 
nicht  zurückzubleiben  und  unterzugehen,  sie  muß  sich  ausdehnen, 
neue  Märkte  erobern,  fortwährend  durch  neue  Etablissements  ver- 
größert werden,  um  fortschreiten  zu  können.  Da  aber,  seitdem 
China  offen  steht,  keine  neuen  Märkte  mehr  erobert  werden,  sondern 
nur  die  bestehenden  besser  ausgebeutet  werden  können,  da  also 
die  Ausdehnung  der  Industrie  in  Zukunft  langsamer  gehen  wird  als 
bisher,  so  kann  England  jetzt  noch  viel  weniger  eine  Konkurrenz 
dulden,  als  dies  bisher  der  Fall  war".  Dieser  Todeskampf  der 
deutschen  und  der  englischen  Industrie  kann  nur  ein  Ende  haben  — 
den  Ruin  des  schwächeren  Konkurrenten.  Ist  aber  der  Kapitalismus 
in  einem  Lande  zusammengebrochen,  so  wird  das  eine  massenhafte 
Erhebung  des  Proletariats  auch  in  anderen  Ländern  hervorrufen. 

Die  ganze  Argumentation  scheint  Engels   in   hohem  Grade 

zwingend  zu  sein.    „Mit  derselben  Sicherheit,"  sagt  er,  „mit  der  wir 

aus  gegebenen  mathematischen   Grundsätzen    einen   neuen  Satz 

18» 


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Michael  Tugan-Barano wsky , 


entwickeln  können,  mit  derselben  Sicherheit  können  wir  aus 
den  bestehenden  ökonomischen  Verhältnissen  und  den  Prinzipien 
der  Nationalökonomie  auf  eine  bevorstehende  soziale  Revolution 
schließen."  l) 

Diese  Ansichten  waren  von  Engels  auch  in  seinem  späteren 
Aufsatze  (aus  dem  Jahre  1850)  in  bezug  auf  England  entwickelt. 
Den  Kern  der  ganzen  Argumentation  bildet  der  Grundsatz,  daß  „die 
Industrie  auf  ihrer  heutigen  Höhe  der  Entwicklung  ihre  Produktiv- 
kräfte unverhältnismäßig  rascher  vermehrt,  als  sie  ihre  Märkte 
vermehren  kann".  So  kommt  Engels  zu  dem  Schluß,  daß 
„englische  Industrielle,  deren  Produktionsmittel  eine  ungleich 
höhere  Expansivkraft  besitzen,  als  ihre  Debouches,  mit  raschen 
Schritten  dem  Punkt  entgegengehen,  wo  ihre  Hilfsmittel  erschöpft 
sind",  wo  die  Überproduktion  chronisch  wird,  wo  „die  ganze  moderne 
Gesellschaft  an  Überfülle  unverwendbarer  Lebenskraft  auf  der 
einen  Seite,  und  an  gänzlicher  Abzehrung  auf  der  anderen  zu- 
grunde gehen  müßte",  *)  wäre  nicht  die  soziale  Revolution  die  Macht, 
welche  die  Menschheit  aus  der  Sackgasse  des  Kapitalismus  hinaus- 
fuhren wird. 

Dieselbe  Theorie  des  mangelnden  Absatzes  für  die  Produkte 
der  sich  rasch  ausdehnenden  kapitalistischen  Industrie  bildet  die 
theoretische  Grundlage  der  Ausführungen  über  die  Notwendigkeit 
des  Zusammenbruchs  der  kapitalistischen  Wirtschaftsordnung  in 
anderen  Schriften  von  Engels  und  Marx,  so  im  „kommunistischen 
Manifeste"  und  in  der  Streitschrift  Engels  gegen  Dühring.  In  dieser 
letzten  Schrift  weist  Engels  auf  das  Ausdehnungsbedürfnis  der 
kapitalistischen  Industrie,  „das  jedes  Gegendruckes  spottet.  Der 
Gegendruck  wird  gebildet  durch  die  Konsumtion,  den  Absatz,  die 
Märkte  für  die  Produkte  der  großen  Industrie.  Aber  die  Aus- 
dehnungsfähigkeit der  Märkte,  extensive  wie  intensive,  wird  be- 
herrscht zunächst  durch  ganz  andere,  weit  weniger  energisch 
wirkende  Gesetze.  Die  Ausdehnung  der  Märkte  kann  nicht  Schritt 
halten  mit  der  Ausdehnung  der  Produktion.  Die  Kollision  wird 
unvermeidlich,  und  da  sie  keine  Lösung  erzeugen  kann,  solange 
sie  nicht  die  kapitalistische  Produktionsweise  selbst  sprengt,  wird 
sie  periodisch".3)    Der  Kreislauf  der  kapitalistischen  Industrie  ist 

l)  Gesammelte  Schriften  von  Karl  Marx  und  Friedrich  Engels.  Zweiter  Hand. 
1902.  S.  393—399- 

■)  Gesammelte  Schriften  von  Marx  und  Engels.    III.  Band.   S.  389—394. 

3)  Herrn  Kugen  Dührings  Umwälzung  der  Wissenschaft.   Dritte  Aufl.  1894.  S.  296. 


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Der  Zusammenbruch  der  kapitalistischen  Wirtschaftsordnung  usw. 


eine  sich  verengende  Spirale,  die  mit  der  chronischen  Überproduktion 
und  der  Unmöglichkeit  der  weiteren  Entwicklung  der  kapitalistischen 
Industrie  —  also  mit  der  sozialen  Revolution  —  enden  muß. 

Im  dritten  Bande  des  „Kapitals"  führt  Marx  aus,  daß  mit 
der  unmittelbaren  Produktion  nur  der  erste  Akt  des  kapitalistischen 
Wirtschaftsprozesses  zum  Abschluß  gebracht  wird.  Es  bleibt  der 
zweite  und  der  schwierigere  Akt  —  die  Realisation,  die  Verwertung 
des  erzeugten  Produktes.  Die  Gesetze  der  kapitalistischen  Pro- 
duktion und  die  der  Realisation  sind  aber  nicht  nur  nicht  identisch, 
sondern  sie  befinden  sich  sogar  in  Widerstreit.  Die  kapitalistische 
Produktion  ist  beschränkt  durch  die  Produktivkraft  der  Gesellschaft, 
die  Realisation  aber  durch  „die  Proportionalität  der  verschiedenen 
Produktionszweige  und  durch  die  Konsumtionskraft  der  Gesell- 
schaft. Diese  letztere  ist  aber  bestimmt  weder  durch  die  absolute 
Produktionskraft  noch  durch  die  absolute  Konsumtionskraft,  sondern 
durch  die  Konsumtionskraft  auf  Basis  antagonistischer  Distributions- 
Verhältnisse,  welche  die  Konsumtion  der  großen  Volksmasse  auf 
ein,  nur  innerhalb  mehr  oder  minder  enger  Grenzen  veränderliches 
Minimum  reduziert.  Sie  ist  ferner  beschränkt  durch  den  Akku- 
mulationstrieb, den  Trieb  nach  Vergrößerung  des  Kapitals."  Der 
auf  diese  Weise  entstehende  „innere  Widerspruch -.»icht  sich  aus- 
zugleichen durch  Ausdehnung  des  äußeren  Feldes  der  Produktion. 
Je  mehr  sich  aber  die  Produktivkraft  entwickelt,  um  s£  mehr  ge- 
rät sie  in  Widerstreit  mit  der  engen  Basis,  worauf  die  I^itisumtions- 
verhältnisse  beruhen". 

Als  Schlußergebnis  der  Marxschen  Analyse  der  Bedingungen 
der  Realisation  des  kapitalistischen  Produkts  erscheint  der  Satz, 
daß  „die  wahre  Schranke  der  kapitalistischen  Produktion  das 
Kapital  selbst  ist",  das  ist,  „daß  die  Produktion  nur  Produktion  für 
das  Kapital  und  nicht  umgekehrt  die  Produktionsmittel  bloße  Mittel 
für  eine  stets  sich  erweiternde  Gestaltung  des  Lebensprozesses  für 
die  Gesellschaft  der  Produzenten  sind."  Die  Schranken  der  kapita- 
listischen Produktion  (die  mangelnde  Ausdehnungskraft  der  Märkte 
für  die  kapitalistische  Industrie)  treten  beständig  in  Widerstreit  mit 
dem  Ausdehnungsbedürfnis  des  Kapitals.  „Das  Mittel  —  unbe- 
dingte Entwicklung  der  gesellschaftlichen  Produktivkräfte  —  gerät 
in  fortwährenden  Konflikt  mit  dem  beschränkten  Zweck,  der  Ver- 
wertung des  vorhandenen  Kapitals."  l) 


')  Das  Kapital.   III '  S.  225—232. 


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278 


Michael  Tugan-Baranowsky, 


Die  allen  diesen  Ausführungen  zu  Grunde  liegende  Theorie  mag 
folgendermaßen  resümiert  werden.  Der  Umfang  des  Marktes  für 
die  kapitalistische  Produktion  wird  durch  den  Umfang  der  gesell- 
schaftlichen Konsumtion  bestimmt.  Vermehrt  sich  die  Produktenmasse 
rascher  als  die  gesellschaftliche  Konsumtion,  so  muß  ein  Teil  der 
hergestellten  Produkte  unveräußert  und  ein  Teil  des  Kapitals  un- 
verwertet  bleiben.  Ein  Zustand  der  Überproduktion  tritt  ein  und 
das  Kapital  liegt  brach.  Die  Entwicklung  der  kapitalistischen  Pro- 
duktion muß  diese  Uberproduktion  immer  andauernder  machen,  da 
die  gesellschaftliche  Konsumtion  bei  dieser  Entwicklung  eine  nur 
sehr  langsame  Ausdehnung  erfahrt,  während  die  Produktion  sich  in 
immer  rascherem  Tempo  vermehrt.  Es  muß  also  eine  Zeit  kommen, 
wo  die  Uberproduktion  chronisch  und  die  kapitalistische  Wirt- 
schaftsordnung durch  die  Unmöglichkeit  der  weiteren  Verwertung 
des  sich  immer  neu  akkumulierenden  Kapitals  zusammenbrechen 
wird. 

Diese  Ansichten  beherrschen  das  sozialistische  Denken  bis  auf 
den  heutigen  Tag.  Der  scharfsinnige  Vertreter  des  modernen 
Marxismus  —  Karl  Kautsky  —  ist  ebenso  fest  wie  seine  Meister 
überzeugt,  daß  die  kapitalistische  Wirtschaft  einer  chronischen  Uber- 
produktion entgegengeht,  welche  er  als  „eine  Zwangslage,  die,  wenn 
sie  eintritt,  unvermeidlich  den  Sozialismus  erzwingt",  bezeichnet 
„Zu  einem,  solchen  Zustand,"  führt  Kautsky  weiter  aus,  „muß  es 
aber  kommen,  wenn  die  ökonomische  Entwicklung  in  derselben 
Weise  wie  bisher  vor  sich  geht,  denn  der  äußere  wie  der  innere 
Markt  hat  seine  Grenzen,  indessen  die  Ausdehnung  der  Produktion 
praktisch  grenzenlos  ist  .  .  .  Die  kapitalistische  Produktionsweise 
wird  von  dem  historischen  Momente  an  zur  Unmöglichkeit,  in  dem 
es  sich  herausstellt,  daß  der  Markt  nicht  mehr  in  demselben  Tempo 
sich  ausdehnen  kann,  wie  die  Produktion,  das  heißt,  sobald  die 
Überproduktion  chronisch  wird." l)  Und  bis  auf  diesen  Moment 
haben  wir  nicht  lange  zu  warten.  Die  unheilbar  chronische  Über- 
produktion bildet  „die  äußerste  Grenze  der  Lebensfähigkeit  der 
heutigen  Gesellschaft". l) 

Es  ist  übrigens  ganz  natürlich,  daß  Kautsky  den  Lehren  seiner 
Meister  treu  ist.  Interessanter  ist  es,  daß  der  feine  Theoretiker  der 
„Revisionisten"  —  Konrad  Schmidt  —  ebenso  fest  wie  Kautsky  an 
die  Möglichkeit  einer  chronischen  Überproduktion  infolge  der  ge- 

*)  Bernstein  und  das  sozialdemokratische  Programm.   S.  142 — 145. 


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Der  Zusammenbruch  der  kapitalistischen  WirtschaAsordnung  usw. 


ringen  Ausdehnungsfähigkeit  des  kapitalistischen  Marktes  glaubt. 
„Es  ist  dies  der  Gesichtspunkt,"  gesteht  er  zu,  „von  dem  aus  die 
Auflassung,  daß  die  kapitalistische  Entwicklung  mit  unentrinnbarer 
Notwendigkeit  einer  allgemeinen  ökonomischen  Katastrophe  ent- 
gegengeht, sich  am  anschaulichsten  und  einfachsten  entwickeln 
läßt.  ' ') 

Freilich  betrachtet  Schmidt  eine  solche  Eritwicklungsrichtung 
des  Kapitalismus  nur  als  eine  Tendenz,  die  durch  andere  Gegen- 
tendenzen gekreuzt  wird.  Trotzalledem  ist  es  klar,  daß  Schmidt 
in  bezug  auf  diesen  Punkt  auf  demselben  theoretischen  Boden 
steht  wie  Kautsky.  „Revisionisten"  und  „Orthodoxe"  sind  in 
diesem  Punkte  einig. 

Aber  auch  „bürgerliche"  Ökonomen  (Lexis,  Herkner,  Hobson  u.  a.) 
huldigen  der  Theorie,  daß  der  Umfang  der  kapitalistischen  Produk- 
tion durch  den  Umfang  der  gesellschaftlichen  Konsumtion  be- 
schränkt wird  und  daß  die  kapitalistische  Produktion  nicht  imstande 
ist,  ohne  eine  Uberproduktion  hervorzurufen,  in  rascherem  Tempo 
als  die  gesellschaftliche  Konsumtion  —  geschweige  denn  bei  dem 
Rückgang  dieser  —  sich  auszudehnen. 

Ich  möchte  sogar  sagen,  daß  so  etwas  fast  ein  allgemeiner 
Glaube  der  Vertreter  der  heutigen  ökonomischen  Wissenschaft  ist, 
welcher  seinen  prägnantesten  Ausdruck  findet  in  der  Anerkennung 
der  Unterkonsumtion  der  Volksmassen  als  der  wichtigste  Ursache 
der  Wirtschaftskrisen.  Es  wird  bestritten,  daß  der  Kapitalismus 
zur  Einschränkung  der  gesellschaftlichen  Konsumtion  führt,  aber 
es  scheint  unbestreitbar  zu  sein,  daß,  wenn  dies  der  Fall  ist,  die 
gesellschaftliche  Produktion  sich  nicht  ausdehnen  kann,  ohne  eine 
Überproduktion  hervorzurufen. 

Angesichts  dieser  erdrückenden  Masse  von  wissenschaftlicher 
Autorität  zugunsten  einer  Theorie  ist  es  vielleicht  eine  gewagte 
Unternehmung,  diese  Theorie  als  grundfalsch  beweisen  zu  wollen. 
Die  Aufgabe  des  folgenden  wird  jedoch  in  nichts  anderem  be- 
stehen. 

Es  ist  nicht  allzu  schwer  zu  verstehen,  was  die  Nationalöko- 
nomen der  verschiedensten,  ja  entgegengesetzten  Richtungen  zur  ein- 
stimmigen Anerkennung  der  zu  kritisierenden  Theorie  bewogen  hat. 
Die  Sache  scheint  höchst  einfach  zu  sein  und  keinen  Streit  zuzu- 


')  Zur  Theorie  der  Handelskrisen  und   der  Überproduktion.  Sozialistische 
Monatshefte.   1901.  S.  675. 


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28o 


Michael  Tugan-Baran owsky, 


lassen.  Wirtschaftliche  Tätigkeit  kann  keinen  anderen  Zweck,  als 
die  Befriedigung  menschlicher  Bedürfnisse  haben.  Gesellschaftliche 
Produktion  ist  eine  wirtschaftliche  Tätigkeit  —  also  kann  sie  zu 
nichts,  wenn  nicht  zur  Deckung  des  gesellschaftlichen  Bedarfs  nach 
Konsumtionsmitteln  dienen.  Der  Zweck  der  Produktion  —  die 
Konsumtion  —  mag  durch  lange  Umwege  erreicht  werden,  immer 
bleibt  diese  der  einzig  mögliche  Zweck  der  Produktion. 

„Ist  nicht  jede  Produktionsnachfrage  der  Natur  der  Sache  nach 
eine  relative,  d.  h.  eine  Nachfrage,  bei  der  der  nachfragende  Kapi- 
talist damit  rechnet,  daß  er  die  mit  Hilfe  dieser  Produktionsmittel 
erzeugten  Waren  weiter  veräußern  kann,  während  die  Konsumnach- 
frage sich  als  definitive  und  absolute  Nachfrage  darstellt,  bei  der 
es,  wie  der  Name  sagt,  auf  den  Verzehr,  nicht  aber  auf  irgend 
welche  weitere  Veräußerung  von  gekauften  Waren  abgesehen  ist?" 

„Nur  auf  der  Basis  und  im  engen  Zusammenhang  mit  dieser 
definitiven  Nachfrage  kann  die  relative  Nachfrage  nach  Produktions- 
mitteln sich  entfalten.  Die  Nachfrage  nach  Produktionsmitteln  ist 
fürs  erste  doch  einmal  die  Nachfrage  nach  Rohstoffen,  Hilfsstoffen 
und  Maschinen  in  den  Branchen,  die  die  genußfertigen  Produkte 
für  den  Konsum  herstellen."  Darum  kann,  wie  es  scheint,  kein 
Zweifel  obwalten,  daß  „die  definitive  oder  Konsumnachfrage  die  be- 
lebende Kraft  ist,  welche  durch  alle  Stockwerke  der  Volkswirtschaft 
hindurch  das  ungeheuere  Räderwerk  der  Produktion  im  Gang  hält". l) 

Soweit  Schmidt.  Die  Argumente  von  Kautsky  scheinen  nicht 
minder  überzeugend  zu  sein.  „Die  Produktion  ist  und  bleibt  Produktion 
für  den  menschlichen  Konsum."  Zwar  führt  die  Arbeitsteilung  zur 
Verselbständigung  der  Produktion  der  Arbeitsmittel,  zur  Entstehung 
der  Produktionswerkstätte,  die  ausschließlich  Werkzeuge,  Roh- 
material usw.  herstellen,  aber  trotz  alledem  „dienen  sie  alle  nur 
dem  letzten  Zwecke  der  Herstellung  von  Mitteln  des  menschlichen 
Konsums  und  geraten  alle  in  ihrer  Tätigkeit  ins  Stocken,  sobald 
dieser  letzte  Zweck  nicht  ausreichend  betätigt  wird".  „Produzieren," 
schließt  der  Autor,  „heißt  Konsumtionsmittel  für  den  menschlichen 
Gebrauch  herstellen.  Diese  Tatsache  kann  durch  die  fortschreitende 
Arbeitsteilung  nur  verschleiert,  aber  nicht  aufgehoben  oder  auch 
nur  eingeschränkt  werden."  2) 


*)  Schmidt,  Zur  Theorie  der  Überproduktion.    Sozialist.  Monatshefte  1901. 
S.  673. 

•)  Kautsky,  Krisentheorien.  4.    Neue  Zeit  1902.   S.  117,  u 8. 


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Der  Zusammenbruch  der  kapitalistischen  Wirtschaftsordnung  usw.        28 1 

Es  sei  also  höchst  ungereimt,  etwa  anzunehmen,  daß  das  akku- 
mulierende Kapital  sich  bei  der  relativen  oder,  noch  mehr,  einer 
absoluten  Verringerung  der  gesellschaftlichen  Konsumtion,  verwerten 
könnte.  Die  Frage  bedürfe  keiner  speziellen  ökonomischen  Unter- 
suchung, da  sie  durch  den  logischen  Begriff  der  Produktion  end- 
gültig gelöst  sei. 

Nun  scheint  mir  diese  ganze  Argumentation  nicht  zwingend 
zu  sein.  Zunächst  muß  ich  entschieden  protestieren  gegen  die 
unhistorische  Auffassung  der  Wirtschaft  als  einer  nicht  geschicht- 
lichen, sondern  logischen  Kategorie.  Es  ist  höchst  irreführend, 
von  Wirtschaft  überhaupt  —  als  ob  sie  dieselbe  in  allen  ihren  ge- 
schichtlichen Gestaltungen  bliebe  —  zu  sprechen.  Es  gibt  Wirtschaft 
und  Wirtschaft.  Von  dem  uns  interessierenden  Gesichtspunkte  aus 
müssen  wir  zwei  Gruppen  der  Wirtschaftssysteme  unterscheiden. 
Die  erste  Gruppe,  deren  Charakteristikum  das  Zusammenfallen  der 
Personen  des  Wirtschaftssubjektes  und  des  wirtschaftlichen  Ar- 
beiters in  einer  Person  bildet,  möchte  ich  als  harmonische 
Wirtschaft  bezeichnen.  Als  besondere  Wirtschaftssysteme,  die  diese 
Gruppe  ausmachen,  hebe  ich  hervor:  1.  die  Eigenproduktion,  Pro- 
duktion für  den  Selbstgebrauch  des  Produzenten,  2.  die  auf  der 
gesellschaftlichen  Arbeitsteilung  beruhende  Tauschwirtschaft  der 
kleinen  selbständigen  Produzenten  und  3.  die  sozialistische  Produk- 
tion der  Zukunft,  wo  die  Leitung  der  Produktion  der  Gesamtheit 
der  Produzenten  gehören  wird.  Für  alle  diese  Wirtschaftssysteme 
ist  es  wesentlich,  daß  die  unmittelbaren  Produzenten  über  die  Pro- 
duktionsmittel verfügen  und  die  Richtung  der  Produktion  (d.  h.  die 
Art  der  herzustellenden  Produkte)  bestimmen.  Diese  Wirtschafts- 
systeme nenne  ich  harmonische  aus  dem  Grunde,  weil  sie 
keinen  Interessengegensatz  der  an  der  Wirtschaft  teilnehmenden 
Personen  notwendig  voraussetzen,  was  für  die  zweite  Wirtschafts- 
gruppe unbedingt  gilt. 

Die  zweite  Wirtschaftsgruppe  bezeichne  ich  als  antagonis- 
tische. Ihr  entscheidendes  Charaktermerkmal  besteht  darin,  daß  in 
diesen  Wirtschaftssystemen  die  Personen  des  Wirtschaftssubjektes  und 
des  wirtschaftlichen  Arbeiters  nicht  zusammenfallen.  Der  wirtschaft- 
liche Arbeiter  ist  in  eine  ihm  fremde  Wirtschaft  eingegliedert, 
deren  Subjekt  eine  andere,  an  der  wirtschaftlichen  Arbeit  nicht 
teilnehmende  Person  ist;  die  Produktionsmittel  gehören  nicht  dem 
Arbeiter  sondern  dem  Wirtschaftssubjekt,  welches  die  Leitung  der 
Produktion  besorgt  und  ihre  Richtung  bestimmt.    Diese  Gruppe 


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282 


Michael  Tugan-Baranowsky, 


wird  durch  I.  Sklaven-,  2.  Feudal-  und  3.  kapitalistische  Wirtschafts- 
systeme gebildet  Ich  nenne  sie  antagonistische,  weil  der  Interessen- 
gegensatz ihr  inneres  Wesen  ausmacht.  Alle  setzen  sie  das  Vor- 
handensein wenigstens  zweier  gesellschaftlicher  Gruppen  voraus,  von 
denen  die  eine  die  Macht  besitzt,  aus  der  anderen  ein  bloßes  wirt- 
schaftliches Mittel  zu  machen.  Da  aber  diese  letzte,  als  wirtschaft- 
liches Mittel  fungierende  Gruppe,  sich  selbst  Zweck  bleibt,  so  führt 
dies  zum  Interessengegensatz  der  beiden  Gruppen. 

Nun  ist  es  klar,  daß  wirtschaftliche  Tätigkeit  bei  harnionischer 
Wirtschaft  keinem  anderen  Zwecke  als  der  Bedarfsdeckung  der  Ge- 
sellschaft dienen  kann.  Anders  bei  antagonistischer  Wirtschaft.  Am 
wirtschaftlichen  Prozeß  nehmen  hier  wenigstens  zwei  Personen  An- 
teil, deren  wirtschaftliche  Rollen  sehr  verschiedene  sind.  Die  eine 
Person  ist  Wirtschaftssubjekt  und  bestimmt  die  objektive  Richtung 
des  wirtschaftlichen  Prozesses.  Sie  befindet  sich  offenbar  in  der- 
selben Lage,  wie  jede  wirtschaftende  Person  bei  harmonischer  Wirt- 
schaft. Aber  außer  dieser  Person  —  des  Sklavenherrn,  des  feudalen 
Grundherrn,  des  Kapitalisten  —  nimmt  auch  die  Person  des  als 
bloßes  Produktionsmittel  fungierenden  Arbeiters  mit  seiner  Arbeit 
einen  Anteil  an  der  Wirtschaft.  Seine  Rolle  ist  eine  ganz  andere, 
als  die  seines  Herrn.  Er  ist  ein  Glied  des  wirtschaftlichen  Mecha- 
nismus, der  nicht  seinen  Zwecken  dient,  sondern  den  Zwecken 
einer  anderen  Person.  Kurz,  der  Arbeiter  ist  kein  Subjekt,  sondern 
ein  Objekt  dieser  Wirtschaft,  wie  Arbeitsvieh,  Werkzeuge  und  Roh- 
material. 

Das  gilt  z.  B.  offenbar  für  den  Sklaven.  Bleibt  der  Sklave 
sich  selbst  ein  Selbstzweck,  so  übt  das  keinen  Einfluß  auf  die  ob- 
jektive Richtung  des  wirtschaftlichen  Prozesses,  da  nicht  der  Sklave, 
sondern  der  Sklavenherr  diese  Richtung  bestimmt.  Für  den  Sklaven- 
herrn —  und  also  objektiv  für  die  Sklavenwirtschaft  —  ist  die 
Konsumtion  des  Sklaven  von  der  sogenannten  produktiven  Kon- 
sumtion —  von  dem  Verbrauch  der  Produktionsmittel  im  Prozesse 
der  Produktion  —  nicht  zu  unterscheiden.  Die  Sklavenwirtschaft 
ist  nur  in  so  weit  von  der  Konsumtion  des  Sklaven  abhängig,  als 
diese  ein  notwendiges  Moment  der  Produktion  ist. 

Der  Sklavenherr  muß  seine  Sklaven  ernähren,  und  der  kluge 
Sklavenherr  wird  sie,  wie  sein  Arbeitsvieh,  gut  ernähren,  aber  nur 
aus  dem  Grunde,  weil  gute  Nahrung  die  Arbeitsfähigkeit  des 
Menschen  wie  des  Viehs  steigert. 

Die  wirtschaftliche  Eigenschaft  des  Sklaven,  als  eines  bloßen 


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Der  Zusammenbruch  der  kapitalistischen  Wirtschaftsordnung  usw. 


wirtschaftlichen  Mittels,  wird  dadurch  am  prägnantesten  gekenn- 
zeichnet, daß  der  Sklave  durch  andere  Produktionsmittel,  ohne 
jegliche  Beeinträchtigung  des  obersten  Zwecks  der  Sklavenwirt- 
schaft, ersetzt  werden  kann.  „Der  altperuanische  Pflug  war  nichts 
als  ein  Pfahl  mit  einem  Querholz  am  hintern  Ende,  welchen  Pfahl 
6  bis  8  Menschen  über  das  Feld  zogen."  *)  Unser  imaginärer 
Sklavenherr  kann  zur  Einsicht  kommen,  daß  Pferde  diese  Arbeit 
viel  wirksamer  verrichten  können;  er  wird  einen  Teil  seiner 
Sklaven  durch  Pferde  ersetzen.  Ein  Teil  seines  Bodens  wird  den 
Hafer  für  die  Pferde  anstatt  den  Roggen  für  die  Menschen  erzeugen. 
Die  Sklavenwirtschaft  wird  eine  kleinere  Zahl  von  Menschen, 
aber  mehr  Pferde  ernähren.  Der  Sklavenherr  wird  darum  nicht 
ärmer,  sondern  reicher,  da  die  Bebauung  seiner  Felder  erfolgreicher 
und  das  zu  seiner  Verfügung  übrig  bleibende  Mehrprodukt  eine 
größere  Masse  der  Konsumtionsmittel  ausmachen  wird.  Also  Zu- 
nahme des  Konsums  des  Wirtschaftssubjekts  gleichzeitig  mit  der 
Verringerung  des  Konsums  der  als  Produktionsmittel  fungierenden 
Menschen.  Diese  letzte  Verringerung  kann  so  bedeutend  sein, 
daß  die  gesamte  Summe  des  menschlichen  Konsums  in  unserer 
Wirtschaft  (d.  h.  der  Konsum  des  Sklavenherrn  und  der  der  Sklaven) 
eine  absolute  Abnahme  erfahren  wird.  Die  Wirtschaft  wird  ihr 
objektives  Ziel  —  die  Bedarfsdeckung  ihres  Subjekts,  des  Sklaven- 
herrn, —  ebensogut  oder  noch  besser  mit  der  Hilfe  anderer  Pro- 
duktionsmittel als  Menschenkraft  erreichen.  Die  Masse  des  er- 
zeugten Produktes  wird  zunehmen,  sein  dem  Kapital  in  der 
kapitalistischen  Wirtschaft  entsprechender  Teil  wird  ohne  Rest 
verzehrt  und  produktiv  konsumiert  werden  (aber  auf  andere  Weise,  — 
teilweise  durch  Pferde  statt  wie  früher  durch  Menschen),  die  Masse 
des  Mehrprodukts  wird  wachsen.  Nur  der  Konsum  der  Menschen 
in  ihrer  Gesamtheit  wird  geringer,  was  das  Gleichgewicht  der 
Sklavcnwirtschaft  in  keiner  Weise  stören  wird. 

Wir  wollen  nun  zur  kapitalistischen  Wirtschaft  übergehen. 
Kautsky  hat  gegen  meine  Schemata  der  Akkumulation  des  Kapitals 
(welche  übrigens  im  Anschluß  an  Marx  konstruiert  wurden),  die 
ich  in  meiner  Schrift  „Studien  zur  Theorie  und  Geschichte  der 
Handelskrisen  in  England"  gegeben  habe,  nichts  einzuwenden. 
Aber  sie  beweisen,  nach  der  Meinung  meines  Kritikers,  etwas  ganz 
anderes  als  das,  was  ich  aus  ihnen  deduziere.    „Tugans  Schemata," 


')  Lippert,  Die  Kulturgeschichte.   1885.   I.  S.  52. 


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284 


Michael  Tugan-Baranowsky, 


sagt  Kautsky,  „zeigen  uns  nur  einen  einzigen  Fall,  in  dem  ein 
Rückgang  des  Konsums  ohne  Krise  eintreten  kann:  bei  dem 
Übergange  von  einfacher  zu  erweiterter  Produktion.  Dieser  einzige 
Fall  wird  bei  Tugan  zum  Typus  der  kapitalistischen  Wirklichkeit; 
und  doch  ist  es  einer,  der  in  dieser  Wirklichkeit  sich  so  gut  wie 
nie  ereignet".1) 

Nun  bildet  meines  Erachtens  das,  was  Kautsky  als  den  ein- 
zigen und  so  gut  wie  nie  vorkommenden  Fall  bezeichnet,  ein  im- 
manentes Gesetz  der  kapitalistischen  Entwicklung.  Ich  werde  den 
für  meine  Theorie  scheinbar  ungünstigsten  Fall  untersuchen  — 
die  Akkumulation  des  Kapitals  bei  stetigem  und  bedeutenden 
Rückgang  der  Arbeitslöhne  und  keiner  Zunahme  im  Konsum  der 
Kapitalisten.  Im  nachstehenden  Schema  unterstelle  ich,  daß  der 
Arbeitslohn,  seinem  Werte  nach,  jedes  Jahr  um  25  Proz.  sinkt  und 
der  Wert  des  Konsums  der  Kapitalisten,  trotz  der  Zunahme  der 
Profitmasse,  eine  feste  unveränderliche  Größe  bildet.  Meiner  Vor- 
aussetzung gemäß  wird  1 :4  des  gesamten  Profits  des  ersten  Jahres 
von  den  Kapitalisten  akkumuliert  (d.  h.  auf  die  Erweiterung  der 
Produktion  verwendet),  die  übrig  bleibenden  *4  von  ihnen  un- 
produktiv konsumiert;  in  den  folgenden  Jahren  erfahrt  der  un- 
produktive Konsum  der  Kapitalisten  seinem  absoluten  Werte  nach 
keinen  Wechsel  —  also  wTird  ein  immer  größerer  Teil  des  Profits 
akkumuliert. 

Reproduktion  des  gesellschaftlichen  Kapitals  auf  erweiterter 
Stufenleiter  bei  dem  Rückgang  der  Löhne  und  der  Unbeweglich- 
keit  des  unproduktiven  Konsums  der  Kapitalisten.  2) 

Das  erste  Jahr. 
I.  Produktion  der  Produktionsmittel 
1632  p  -{-  544a  +  544 r  2720. 


rl  Krisentheorien.  4.    Neue  Zeit  1901.  S.  1 1 6. 

*)  Bei  der  Konstruktion  dieses  Schemas  wird  unterstellt,  daß  die  Gesellschaft 
nur  aus  zwei  Klassen  —  Kapitalisten  und  Arbeitern  —  besteht.  Von  der  Ver- 
schiedenheit der  Umschlagsperioden  des  stehenden  und  umlaufenden  Kapitals  wird 
abgesehen  und  angenommen,  daß  die  Umschlagszeit  des  gesellschaftlichen  Kapitals 
gleich  einem  Jahre  ist.  Für  das  erste  Jahr  wird  vorausgesetzt,  daß  in  allen 
Abteilungen  der  gesellschaftlichen  Produktion  das  Sachkapital  —  Produktions- 
mittel (p)  —  seinem  Werte  nach  dreimal  so  groß  ist  als  das  Uohnkapital  —  die 


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Der  Zusammenbruch  der  kapitalistischen  Wirtschaftsordnung  usw.  285 


II.  Produktion  der  Konsumtionsmittel  der  Arbeiter 
408  p  +  1 36a  +  1 36 r  =  680. 

III.  Produktion  der  Konsumtionsmittel  der  Kapitalisten 
360p  -|-  i2oa+  I20r  =  600. 

Das  zweite  Jahr. 

I.  Produktion  der  Produktionsmittel 
1 987,4  p  +  496,8  a  +  828, 1  r  =  33 1 2,3. 

II.  Produktion  der  Konsumtionsmittel  der  Arbeiter 
372,6p  +  93,2  a+  I55,2r  =  62i. 

III.  Produktion  der  Konsumtionsmittel  der  Kapitalisten 
360  p  4-90*4-  1 50r  =  600. 

Das  dritte  Jahr. 
I.  Produktion  der  Produktionsmittel 
2585,4p  4- 484,6a  4-  1 239  r==  4309. 

II.  Produktion  der  Konsumtionsmittel  der  Arbeiter 
366,9 p  4-  68,9a  4-  175,5  r  =  61 1,3. 

III.  Produktion  der  Konsumtionsmittel  der  Kapitalisten 
360p  4- 67,5  a  4~  172,5  r  =  600. 

Dies  Schema  soll  veranschaulichen,  auf  welche  Weise  die  ge- 
sellschaftliche Produktion  eingeteilt  werden  muß,  damit  trotz  des 
Rückganges  des  gesellschaftlichen  Konsums  und  rascher  Ausdehnung 


Summe  der  Arbeitslöhne  (a)  — ,  der  Profit  (r)  aber  dem  Lohnkapital  gleich  ist. 
Im  zweiten  Jahr  ändern  sich  alle  diese  Verhältnisse  aus  dem  Grunde,  weil  nach  der 
Unterstellung  der  Arbeitslohn  um  25  Proz.  sinkt  und  der  Profit  entsprechend  zunimmt. 
Darum  sehen  wir,  daß  im  zweiten  Jahre  das  Lohnkapital  in  der  ihrem  Werte  nach 
unverändert  gebliebenen  Produktion  der  Konsumtionsmittel  der  Kapitalisten  nicht  120 
(wie  im  ersten  Jahre),  sondern  nur  90  ausmacht  (also  um  30  Werteinheiten,  oder 
um  25  Proz.  abgenommen  hat) ;  der  Profit  aber  hat  um  dieselben  Werteinheiten  zu- 
genommen und  ist  gleich  150.  Der  Wert  des  Sachkapitals  in  der  Produktion  der 
Konsumtionsmittel  der  Kapitalisten  ist  unverändert  geblieben.  Im  dritten  Jahre  ist 
der  Arbeitslohn  wieder  um  25  Proz.,  also  in  der  III.  Abteilung  der  gesellschaft- 
lichen Produktion  um  22,5  Werteinheiten  gesunken,  der  Profit  hat  entsprechend 
zugenommen,  der  Wert  des  Sachkapitals  in  dieser  Abteilung  ist  unverändert  ge- 
blieben. 


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2  86 


Michael  Tugan-Baranowsky, 


der  gesellschaftlichen  Produktion  kein  überschüssiges,  nicht  zu  ver- 
äußerndes Produkt  sich  ergäbe.  Mit  p,  a,  r,  bezeichne  ich  respektive 
Produktionsmittel  (Sachkapital),  Arbeitslohn  (Lohnkapital) ,  Rente 
(Profit).  Die  Zahlen  sind  willkürlich  gewählt  und  drücken  in 
Millionen  Mark  die  Werte  der  entsprechenden  Abteilungen  der 
gesellschaftlichen  Produktion  und  der  erzeugten  Produkte  aus. 
Der  im  ersten  Jahre  erzeugte  Profit  beträgt  800  Millionen  Mark 
(544+  136-}-  120).  25  Proz.  dieses  Profits  werden,  meiner  Voraus- 
setzung gemäß,  kapitalisiert.  Darum  bleibt  für  den  Konsum  der 
Kapitalisten  im  zweiten  Jahre  nur  600  Millionen  Mark  übrig.  Die- 
selbe Summe  beträgt  der  Konsum  der  Kapitalisten  auch  in  den 
folgenden  Jahren. 

Am  Ende  des  ersten  Jahres  werden  für  2720  Millionen  Mark 
Produktionsmittel  hergestellt.  Diese  werden  alle  durch  die  erweiterte 
Produktion  des  zweiten  Jahres  verbraucht,  da  diese  an  Produktions- 
mitteln die  Summe  von  (19874  +  372,6  -j-  360)  =  2720  Millionen 
Mark  erfordert.  Konsumtionsmittel  für  Arbeiter  werden  im  ersten 
Jahre  für  680  Millionen  Mark  hergestellt ;  ebenso  groß  ist  das  Lohn- 
kapital (also  die  Nachfrage  der  Arbeiter  nach  den  Konsumtions- 
mitteln) des  zweiten  Jahres  (496,8  -f-  93.2  -f-  90).  Die  im  ersten 
Jahre  erzeugten  Konsumtionsmittel  der  Kapitalisten  in  Höhe  von 
600  Millionen  Mark  werden  durch  diese  im  zweiten  Jahre  verzehrt. 
Also  wird  das  gesamte  gesellschaftliche  Produkt  des  ersten  Jahres 
durch  die  Produktion  und  Konsumtion  des  zweiten  Jahres  ohne 
Rest  verbraucht. 

Das  Lohnkapital  des  ersten  Jahres  ist  (544+  136+  I2°)»  ako 
=  800  Millionen  Mark,  das  des  zweiten  =»  680  Millionen  Mark. 
Die  Konsumtion  der  Arbeiter  ist  folglich  um  120  Millionen  Mark 
oder  um  15  Proz.  zurückgegangen,  die  der  Kapitalisten,  nach  der 
Annahme,  unverändert  geblieben.  Das  gesamte  gesellschaftliche 
Produkt  des  ersten  Jahres  ist  (2720  +  680  +  600),  also  4000  Milli- 
onen Mark,  das  des  zweiten  (3312,3  -f-  621  -f-  600),  also  4533,3 
Millionen  Mark.  Der  Wert  der  hergestellten  Produkte  hat  folglich 
um  13  Proz.  zugenommen. 

Die  Erweiterung  der  gesellschaftlichen  Produktion  geht  mit  dem 
Rückgang  des  gesellschaftlichen  Konsums  Hand  in  Hand;  das  An- 
gebot der  Produkte  und  die  Nachfrage  nach  ihnen  bleiben  aber  in 
einem  vollkommenen  Gleichgewicht.1)    Im  dritten  Jahre  sinkt  das 


')  Es  kann  scheinen,  daß  das  Gleichgewicht  zwischen  Angebot  und  Nachfrage 


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Der  Zusammenbruch  der  kapitalistischen  Wirtschaftsordnung  usw. 


Lohnkapital  auf  (484,6  +  68,9  -f-  67,5)  —  621  Millionen  Mark  herab, 
im  vierten  auf  611,3  Millionen  Mark  usw.,  während  der  Wert  der 
Konsumtion  der  Kapitalisten  unverändert  bleibt  und  der  Wert  des 
gesamten  gesellschaftlichen  Produktes  in  immer  rascherem  Tempo 
zunimmt.  Der  stetige  Rückgang  der  gesellschaftlichen  Konsumtion 
bei  der  stetigen  Ausdehnung  der  gesellschaftlichen  Produktion  ist 
nicht  imstande,  die  leiseste  Störung  des  Verwertungsprozesses  des 
Kapitals  hervorzu rufen. 

Also,  trotz  des  von  mir  unterstellten  ungeheuren,  in  der  Wirk- 
lichkeit nie  vorkommenden,  Rückganges  der  Arbeitslöhne,  trotz  der 
absoluten  Verringerung  der  gesellschaftlichen  Konsumtion,  findet 
das  Kapital  keine  Schwierigkeit,  eine  immer  größere  Produkten- 
masse zu  verwerten.  Die  Erweiterung  der  Produktion,  also  produk- 
tive Konsumtion  der  Produktionsmittel,  tritt  an  Stelle  des  mensch- 
lichen Konsums  und  alles  geht  ebenso  glatt,  als  ob  nicht  die 


in  meinem  Schema  nicht  erreicht  ist.  So  werden  im  ersten  Jahre  an  Produktions- 
mitteln für  2720  Mill.  Mk.  hergestellt.  Für  die  Produktion  der  Produktionsmittel  des 
zweiten  Jahres  ist  die  Summe  von  1987,4  Mill.  Mk.  erforderlich.  Eis  werden  also 
die  Produktionsmittel  für  die  Summe  2720  —  1987,4  ==  732,6  Mill.  Mk.  in  den  Aus- 
tausch mit  den  Produkten  der  II.  und  III.  Abteilung  eingehen.  Zugleich  wird  sich 
im  zweiten  Jahr  in  derselben  I.  Abteilung  der  gesellschaftlichen  Produktion  die 
Nachfrage  erheben  nach  Produkten  der  II.  und  III.  Abteilungen  für  die  Summe  von 
904,8  Mill.  Mk.  (für  496,8  Mill.  Mk.  —  nach  den  Konsumtionsmitteln  der  Arbeiter 
der  ersten  Abteilung,  für  408  Mill.  Mk.  —  nach  den  Konsumtionsmittcln  der  Kapi- 
talisten derselben  Abteilung,  da  diese  unserer  Voraussetzung  gemäß  3/4  ihres  Profits 
des  ersten  Jahres  (544  Mill.  Mk.)  selbst  konsumieren).  Es  werden  also  von  den 
Kapitalisten  und  Arbeitern  der  I.  Abteilung  für  172,2  Mill.  Mk.  Produkte  mehr  ge- 
kauft, als  verkauft  (904,8  —  732.6=  172,2).  Wie  ist  dieses  Defizit  im  Betrage  von 
172,2  Mill.  Mk.  zu  decken? 

Die  Schwierigkeit  ist  nur  eine  scheinbare.  Der  Rückgang  der  Löhne  und  der 
Stillstand  der  Konsumtion  der  Kapitalisten  haben  zur  Folge,  daß  die  in  der  Pro- 
duktion der  zwei  letzten  Abteilungen  angelegten  Kapitalien  eine  Abnahme  er- 
fahren —  und  in  die  I.  Abteilung,  die  eine  bedeutende  Ausdehnung  erfährt,  Uber- 
gehen. So  ist  im  zweiten  Jahre  das  Sach-  und  Lohnkapital  der  II.  Abteilung  um 
78,2  Mill.  Mk.  kleiner  als  dasjenige  des  ersten  Jahres,  das  der  III.  Abteilung  im 
zweiten  Jahre  um  30  Mill.  Mk.  kleiner;  außerdem  wird  durch  die  Kapilalisten  der 
II.  Abteilung  der  kapitalisierte  Profit  des  ersten  Jahres  im  Betrage  von  34  Mill.  Mk. 
und  durch  die  der  III.  im  Betrage  von  30  Mill.  Mk.  in  die  I.  Abteilung  der  gesell- 
schaftlichen Produktion  eingelegt.  Die  Summe  (78,2  -f-  30  -f-  34  -J-  30)  ergibt  172,2: 
das  scheinbare  Defizit  in  der  I.  Abteilung  wird  also  gedeckt  durch  die  Kapitalien, 
die  in  diese  Abteilung  aus  den  zwei  letzten  Ubergehen. 


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288 


Michael  Tugan-Baranowsky , 


Wirtschaft  dem  Menschen,  sondern  der  Mensch  der  Wirtschaft 
diente. 

Dies  ist  eben  das  fundamentale  Paradoxon  der  kapitalistischen 
(wie  übrigens,  aber  in  geringerem  Grade,  aller  antagonistischen) 
Wirtschaft:  da  nur  ein  Teil  der  Gesellschaft  zum  Wirtschaftssubjekt 
wird,  während  ein  anderer  und  größerer  Teil  nur  ein  Objekt  der 
Wirtschaft  ausmacht,  so  wird  es  möglich,  der  gesellschaftlichen 
Wirtschaft  eine  Richtung  zu  geben,  bei  der  sie  aus  einem  Mittel 
zur  Deckung  des  gesellschaftlichen  Bedarfs  zum  Mittel  der  bloßen 
Ausdehnung  der  Produktion,  auf  Kosten  dieses  Bedarfs,  wird 
und  so  den  gerechten  Zweck  aller  Wirtschaft  vereitelt  Das  ist 
nicht  mein  „kühnes  Paradoxon",  wie  es  Kautsky  bezeichnet,  sondern 
ein  im  Wesen  der  kapitalistischen  Wirtschaftsweise  begründetes 
ökonomisches  Gesetz. 

Wir  sehen  also,  daß  sogar  bei  dem  bedeutenden  absoluten 
Rückgang  der  gesellschaftlichen  Konsumtion  die  kapitalistische 
Wirtschaft  nicht  zusammenbricht.  Der  notwendige  Zusammenbruch 
der  kapitalistischen  Wirtschaftsordnung,  infolge  des  mangelnden 
Absatzes  —  diese  Glaubenssache  nicht  nur  der  „orthodoxen" 
Marxisten,  sondern  wie  es  scheint,  auch  mancher  „Revisionisten"  — 
wird  durch  die  vorgehende  Analyse  als  Hirngespinst  nachgewiesen. 
Die  kapitalistische  Hülle  der  modernen  Gesellschaft  bricht  nicht 
zusammen,  sogar  bei  Bedingungen,  die  jeden  vernünftigen  Zweck 
der  Wirtschaft  zu  vereiteln  scheinen. 

Um  die  totale  Unhaltbarkeit  der  Marxschen  Lehre  an  den  Tag 
zu  legen,  habe  ich  den  für  diese  Lehre  scheinbar  günstigsten  Fall 
untersucht  Damit  will  ich  bei  weitem  nicht  sagen,  daß  die  von 
mir  unterstellte  Bedingung  —  der  Rückgang  der  Arbeitslöhne  — 
der  kapitalistischen  Wirklichkeit  entspricht  Ich  bin  vielmehr  der 
Meinung,  daß  die  neueste  Phase  der  kapitalistischen  Entwicklung 
durch  das  bedeutende  Steigen  der  Reallöhne  gekennzeichnet  wird. 
Es  kann  also  scheinen,  daß  meine  Analyse  die  Marxsche  Theorie 
zwar  widerlegt,  aber  zum  Verständnis  der  kapitalistischen  Wirklich- 
keit sehr  wenig  beigetragen  hat 

Das  ist  jedoch  nicht  der  Fall.  Die  relative  Abnahme  der  ge- 
sellschaftlichen Konsumtion ,  trotz  der  absoluten  Zunahme  der 
Arbeitslöhne,  bildet  vielmehr  das  Grundgesetz  der  kapitalistischen 
Entwicklung.  Ich  habe  namentlich  bisher  von  dem  wichtigsten 
Momente  der  kapitalistischen  Akkumulation,  wie  sie  sich  in  der 
kapitalistischen   Wirklichkeit    vollzieht,    abgesehen    —  d.  i.  von 


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Der  Zusammenbruch  der  kapitalistischen  Wirtschaftsordnung  usw. 


289 


der  relativen  Ersetzung  der  lebendigen  Arbeitskraft  durch  die  Pro- 
duktionsmittel. Der  technische  Fortschritt  besteht  eben  darin,  daß 
tote  Werkzeuge,  Maschinen  und  andere  Produktionsmittel  an  Stelle 
des  Arbeiters  in  der  Produktion  treten.  Zwar  wächst  die  absolute 
Zahl  der  Arbeiter,  aber  in  viel  stärkerem  Grade  nimmt  die  Masse 
und  der  Wert  der  durch  die  Arbeiter  in  Bewegung  gesetzten  und 
verarbeiteten  Produktionsmittel  zu.  Die  Zusammensetzung  des  ge- 
sellschaftlichen Kapitals  —  um  in  Marx's  Terminologie  zu  sprechen  — 
wird  immer  höher.  Das  hat  zur  Folge,  daß  eine  immer  geringere 
Quote  des  gesellschaftlichen  Produktes  in  den  gesellschaftlichen 
Konsum  eingeht.  Das  nicht  zu  konsumierende  Produkt  —  Eisen, 
Kohle,  Maschinen  usw.  —  vermehrt  sich  rascher  als  die  Konsum- 
tionsmittel —  Nahrung,  Kleidungstücke  u.  a.  Es  findet  also  eine 
relative  Abnahme  des  gesellschaftlichen  Konsums  statt  —  der  Wert 
der  Konsumtionsmittel  im  Vergleich  mit  dem  der  Produktionsmittel 
sinkt  (obwohl  er  absolut  wächst). 

Wird  aber  nicht  diese  relative  Ersetzung  des  menschlichen 
Konsums  durch  die  produktive  Konsumtion  der  Produktionsmittel 
zur  Bildung  eines  überschüssigen,  nicht  zu  veräußernden  Produktes 
führen?  Ich  glaube  nicht,  daß  nach  allem  Gesagten  solche 
Fragen  auftauchen  können.  Es  ist  sonnenklar,  daß  es  keine 
Schwierigkeit  bietet,  ein  neues  Schema  im  Anschluß  an  das 
vorige  zu  konstruieren,  und  einen  streng  mathematischen  Beweis 
zu  liefern ,  daß  die  größte  denkbare  Ersetzung  der  Arbeiter 
durch  Produktionsmittel  keine  einzige  Werteinheit  der  letzteren 
überschüssig  zu  machen  imstande  ist.  Sind  einmal  alle  Ar- 
beiter bis  auf  einen  einzigen  verschwunden  und  durch  Ma- 
schinen ersetzt,  so  wird  dieser  einzige  Arbeiter  die  ungeheure 
Masse  von  Maschinen  in  Bewegung  setzen  und  mit  ihrer  Hilfe 
neue  Maschinen  —  und  Konsumtionsmittel  der  Kapitalisten  — 
herstellen.  Die  Arbeiterklasse  wird  verschwinden,  was  nicht  im 
mindesten  den  Verwertungsprozeß  des  Kapitals  stören  wird.  Die 
Kapitalisten  werden  keine  geringere  Masse  von  Konsumtionsmitteln 
bekommen,  das  gesamte  hergestellte  Produkt  eines  Jahres  wird 
durch  die  Produktion  und  Konsumtion  der  Kapitalisten  des  folgen- 
den Jahres  verwertet  und  verbraucht.  Wollen  etwa  die  Kapitalisten 
ihre  eigene  Konsumtion  einschränken,  so  bildet  das  keine  Schwierig- 
keit; in  diesem  Falle  wird  auch  die  Produktion  der  Konsumtions- 
mittel der  Kapitalisten  teilweise  aufhören  und  ein  noch  größerer 
Teil  des  gesellschaftlichen  Produktes  aus  Produktionsmitteln  be- 
Archiv für  Sozialwissenschaft  u.  Sozialpolitik.  I.    ( A.  f.  so-*.  G.  u.  St.  XIX.  >  1.  19 


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290 


Michael  Tugan - Bar ano wsky , 


stehen,  welche  zur  weiteren  Ausdehnung  der  Produktion  dienen 
werden.  Es  wird  z.  B.  Eisen  und  Kohle  hergestellt,  die  zur  immer 
größerer  Vermehrung  der  Produktion  von  Eisen  und  Kohle  dienen 
werden.  Die  erweiterte  Produktion  von  Eisen  und  Kohle  jedes 
folgenden  Jahres  wird  die  zugenommene  Masse  der  im  abgelaufenen 
Jahre  hergestellten  Produkte  verbrauchen  und  so  ad  infinitum,  bis 
der  Vorrat  an  nötigen  Mineralien  erschöpft  wird. 

Das  alles  mag  sehr  seltsam  klingen,  ja  vielleicht  als  größter 
Widersinn  erscheinen.  Vielleicht  —  Wahrheit  ist  ja  nicht  immer 
eine  leicht  zu  verstehende  Sache;  trotzdem  bleibt  sie  Wahrheit. 
Als  Wahrheit  bezeichne  ich  natürlich  nicht  die  ganz  willkürliche 
und  der  Wirklichkeit  nicht  im  mindesten  entsprechende  Annahme, 
daß  die  Ersetzung  der  Handarbeit  durch  maschinelle  zur  gewaltigen 
absoluten  Abnahme  der  Arbeiterzahl  führt  (diese  Voraussetzung  hat 
mir  nur  gedient,  um  zu  zeigen,  daß  selbst  in  der  unsinnigsten 
Weise  auf  die  Spitze  getrieben,  meine  Theorie  nicht  abbricht), 
sondern  den  Satz,  daß  bei  der  proportionellen  Einteilung  der  ge- 
sellschaftlichen Produktion  kein  Rückgang  der  gesellschaftlichen 
Konsumtion  an  sich  imstande  ist,  ein  überschüssiges  Produkt  zu 
erzeugen.1)  Als  Grundgesetz  der  kapitalistischen  Entwicklung  be- 
zeichne ich  die  ohne  bestimmte  Grenze  immer  weiter  gehende 
Verringerung  der  Quote  der  gesellschaftlichen  Konsumtion  in  der 
gesamten  gesellschaftlichen  Produktion,  was,  trotz  Marx,  kein  die 
Existenz  der  kapitalistischen  Wirtschaftsweise  gefährdendes  Moment 
in  sich  einschließt.  Der  relative  Rückgang  der  Nachfrage  nach 
Konsumtionsmitteln  stört  nicht  den  Verwertungsprozeß  des  Kapitals 
und  kann  also  in  keinem  Falle  den  Zusammenbruch  der  kapita- 
listischen Wirtschaftsordnung  und  ihren  Übergang  in  die  sozia- 
listische erzwingen. 

Die  hier  entwickelte  Theorie  des  Verwertungsprozesses  des 
Kapitals  stimmt  meines  Erachtens  überein  mit  den  Ergebnissen 
der  statistischen  Untersuchung  von  Werner  Sombart  über 
die  Bedeutung  des  inneren  Marktes  für  die  kapitalistische  In- 
dustrie. Es  wird  nicht  nur  von  Marxisten,  sondern  auch  von 
vielen  anderen  Nationalökonomen  fest  geglaubt,  daß  die  kapi- 
talistische Industrie   immer  mehr  der  äußeren  Märkte    für  die 


')  Ob  und  in  welchem  Maße  die  Proportionalität  der  gesellschaftlichen  Pro* 
duktion  durch  den  Kapitalismus  zu  erreichen  ist,  das  ist  natürlich  eine  andere 
Frage,  die  ich  in  meinem  Krisenbuch  zu  beantworten  versucht  habe. 


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Der  Zusammenbruch  der  kapitalistischen  Wirtschaftsordnung  usw. 


Verwertung  der  stets  anwachsenden  Masse  ihrer  Produkte  bedürfe. 
Der  innere  Markt  sei  nicht  imstande,  diese  steigende  Produktiv- 
masse zu  verwerten.  Nun  hat  Sombart  nachgewiesen,  daß  für 
ein  so  ausgeprägt  kapitalistisches  Land  wie  Deutschland,  gerade  das 
Gegenteil  richtig  ist.  Eine  immer  geringere  Quote  der  Produkte 
der  deutschen  Industrie  wird  exportiert,  während  ein  immer  steigender 
Teil  derselben  einen  lohnenden  Absatz  innerhalb  des  Landes  findet. 
Von  dem  hier  vertretenen  Standpunkt  ist  es  besonders  lehrreich, 
daß  der  Entwicklungsgang  verschiedener  Industrien  in  dieser  Hin- 
sicht sehr  unähnlich  ist.  So  ist  die  Mehrausfuhr  von  Eisenfabrikaten 
in  dem  Zeitraum  1880— 1900  von  29,3  Proz.  auf  7,8  Proz.  der  ge- 
samten respektiven  Produktion  Deutschlands  gesunken,  die  der  Stein- 
kohlen von  1 1  Proz.  auf  7,3  Proz. ')  Viel  unbedeutender  ist  das 
Fallen  der  Ausfuhrquote  in  der  Textilindustrie.  Der  innere  deutsche 
Markt  dehnt  sich  also  sehr  rasch  in  bezug  auf  Kohle  und  Eisen 
aus,  viel  langsamer  aber  in  bezug  auf  Kleidungsstücke.  Warum  r 
Weil  die  kapitalistische  Entwicklung  vorwiegend  die  Nachfrage 
nach  Produktionsmitteln,  nicht  aber  nach  Konsumtionsmitteln  er- 
zeugt. 

Es  ist  übrigens  eine  allgemein  bekannte  Tatsache,  daß  die 
neueste  kapitalistische  Entwicklung  durch  eine  höchst  rasche  Aus- 
dehnung solcher  Produktionszweige,  wie  die  Montanindustrie,  che- 
mische Industrie,  Maschinenindustrie  u.  a.,  deren  Produkte  in  den 
menschlichen  Konsum  nicht  eingehen,  gekennzeichnet  wird,  während 
I^andwirtschaft,  Textilindustrie  u.  a.  unmittelbar  dem  menschlichen 
Konsum  dienende  Produktionszweige  fast  zu  einem  Stillstand  ge- 
langt sind.  Früher  war  die  Baumwoll-,  heute  die  Eisenindustrie  die 
führende  Industrie  der  kapitalistischen  Welt. 

Darauf  wird  u.  a.  auch  von  Kautsky  in  seiner  Schrift 
gegen  Bernstein  hingewiesen.  Aber  Kautsky  versteht  die  Ursache 
der  ungeheuren  Ausdehnung  der  Eisenindustrie  in  der  neuesten 
Zeit  nicht  und  äußert  die  Meinung,  daß  in  naher  Zeit  die  Eisen- 
industrie in  die  Lage  der  Textilindustrie,  welche  neuerdings  fast 
keine  Fortschritte  aufzuweisen  hat,  geraten  muß  —  und  dann  würden 
wir  mit  dem  Kapitalismus  fertig  sein.  Nun  beweist  das  hier  ausge- 
führte, daß  keine  chronische  Überproduktion  die  Eisenindustrie  be- 
droht und  daß  in  der  künftigen  Entwicklung  der  kapitalistischen 


')  Sombart,  Die  deutsche  Volkswirtschaft  im  neunzehnten  Jahrhundert.  1903. 
S.  430—431. 

19# 


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292 


Michael  Tugan-Baranowsky, 


Wirtschaft  die  Suprematie  der  Eisenindustrie  immer  mehr  hervor- 
treten muß. 

Konrad  Schmidt  unterscheidet  zwei  Arten  von  Nachfrage  — 
absolute  und  relative.  Die  Unterscheidung  ist  richtig,  aber  ihre 
Anwendung  bei  Schmidt  verfehlt.  Gewiß  hat  die  Nachfrage  des 
Kapitalisten  nach  Konsumtionsmitteln  für  seinen  Gebrauch  einen 
anderen  ökonomischen  Charakter,  als  die  nach  der  Kohle  fiir  seine 
Dampfmaschine.  Der  Unterschied  besteht  darin,  daß  die  unproduk- 
tive Konsumtion  des  Kapitalisten  eine  bloße  Wertvernichtung  ist 
und  den  abschließenden  Akt  des  Verwertungsprozesses  des  Kapitals 
darstellt,  während  der  produktive  Verbrauch  der  Kohle  deren  Wert 
nicht  vernichtet  und  ein  Vermittlungsmoment  in  diesem  Prozesse 
bildet.  Darum  können  wir  die  erste  Nachfrage  als  definitive,  ab- 
solute, die  zweite  als  relative  bezeichnen,  da  die  erste  den  objek- 
tiven Zweck  der  betreffenden  Wirtschaft  ausmacht,  während  die 
zweite  ein  bloßes  Mittel  zu  diesem  Zwecke  ist. 

Zu  welcher  Art  der  Nachfrage  müssen  wir  aber  die  Nachfrage 
des  Lohnarbeiters  nach  den  Gegenständen  seines  Konsums  zählen? 
Nach  Schmidt  ist  sie  eine  absolute  Nachfrage.  Es  ist  aber  klar, 
daß  die  Konsumtion  des  Arbeiters  ebensowenig  den  Verwertungs- 
prozeß des  Kapitals  zum  Abschluß  bringt,  wie  das  Verbrennen  der 
Kohle  im  Ofen  einer  Dampfmaschine.  Zwar  verzehren  die  Arbeiter 
ihre  Nahrung  —  aber  die  Kohle  wird  in  der  Dampfmaschine  nicht 
minder  verbraucht.  Bezeichnen  wir  aber  die  Nachfrage  nach  Kohle 
als  eine  relative  Nachfrage  —  so  muß  dasselbe  auch  für  die  Nach- 
frage des  Arbeiters  nach  seinen  Konsumtionsmitteln  gelten,  da  die 
Konsumtion  des  Arbeiters  ein  Mittel  der  Verwertung  des  Kapitals 
ist,  nicht  aber  deren  objektiver  Zweck. 

Der  Schein  des  absoluten  Charakters  der  Nachfrage  der  Arbeiter 
nach  ihren  Konsumtionsmitteln  wird  dadurch  erzeugt,  daß  diese 
von  den  Arbeitern  selbst,  auf  ihre  Rechnung  gekauft  werden,  während 
die  Produktionsmittel  der  Kapitalist  kauft.  Es  ist  jedoch  vom  Stand- 
punkte des  Verwertungsprozesses  des  Kapitals  ganz  irrelevant,  wer 
—  der  Arbeiter  oder  der  Kapitalist  —  als  Käufer  auf  dem  Markte 
erscheint.  Das  vom  Arbeiter  verausgabte  Geld  bekommt  er  aller- 
dings vom  Kapitalisten.  Bei  dem  Naturallohn  verschwindet  sogar 
dieser  Schein  und  der  Arbeiter  wird  ganz  ebenso  auf  Rechnung 
des  Kapitalisten  ernährt  wie  das  Arbeitsvieh.  Es  ist  wahrlich  nicht 
zu  verstehen,  aus  welchem  Grunde  wir  den  Roggen,  den  der  kapita- 
listische Farmer  seinem  Arbeiter  gibt,  als  einen  Gegenstand  der 


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Der  Zusammenbruch  der  kapitalistischen  Wirtschaftsordnung  usw. 


absoluten  Nachfrage  betrachten  sollen,  während  wir  den  Hafer, 
welchen  derselbe  Farmer  seinem  Pferde  gibt,  zu  den  Gegenständen 
der  relativen  Nachfrage  zählen. 

K  a  u  t  s  k  y  versichert  uns,  daß  „produzieren  heißt  Konsumtions- 
mittel Tür  den  menschlichen  Gebrauch  herstellen".  In  einem  gewissen 
Sinne  ist  das  richtig.  Die  Frage  ist  nur,  ob  jeder  Mensch  in 
jedem  Wirtschaftssystem  als  Mensch,  d.  h.  als  Zweck  der  Wirtschaft 
fungiert.  Ich  habe  oben  darauf  hingewiesen,  daß  das  nur  für  die 
von  mir  als  harmonische  bezeichneten  Wirtschaftssysteme,  nicht 
aber  für  antagonistische  gilt.  In  einer  sozialistischen  Wirtschaft  ist 
es  unmöglich,  daß  gesellschaftliche  Wirtschaft  nicht  auf  die  Ver- 
mehrung, sondern  auf  die  Verminderung  der  Masse  der  Gegenstände 
der  menschlichen  Konsumtion  gerichtet  wird.  So  etwas  ist  aber 
möglich  —  und  unter  gewissen  Bedingungen  notwendig  —  bei  der 
kapitalistischen  Wirtschaft;  bildet  doch  nicht  der  Mensch  überhaupt, 
sondern  nur  der  kapitalbesitzende  Mensch  das  Subjekt  dieses 
Wirtschaftssystems,  während  der  kapitallose,  arbeitende  Mensch  ein 
bloßes  Mittel  dieser  Wirtschaft,  eine  Form  des  gesellschaftlichen 
Kapitals  (variables  Kapital,  nach  der  Marxschen  Terminologie)  ist. 

Marx  hat  immer  den  bürgerlichen  Nationalökonomen  vorge- 
worfen, daß  sie  die  kapitalistische  Wirtschaft  als  Wirtschaft  über- 
haupt betrachten.  Nun  ist  er  selbst  gerade  in  denselben  Fehler 
verfallen.  Wirtschaft  überhaupt  kann  keinen  anderen  Zweck  als 
die  Befriedigung  der  menschlichen  Bedürfnisse  verfolgen.  Kapita- 
listische Wirtschaft  vereitelt  aber,  bis  zu  einem  gewissen  Grade, 
diesen  Zweck.  Marx  hat  das  eingesehen  und  zog  den  Schluß,  daß 
ein  innerer  unlösbarer  ökonomischer  Widerspruch  —  ein  Wider- 
spruch mit  den  Gesetzen  der  kapitalistichen  Verwertung  selbst  — 
in  der  kapitalistischen  Wirtschaftsweise  verborgen  ist,  der  ihr  Be- 
stehen, als  eines  historischen  Wirtschaftssystems,  auf  einer  gewissen 
Stufe  unmöglich  machen  muß.  Diesen  ökonomischen  Widerspruch 
des  Kapitalismus  hat  aber  Marx  nur  darum  gefunden,  weil  er  dem 
kapitalistischen  Wirtschaftssystem  —  das  zu  der  antagonistischen 
Wirtschaftsgruppe  gehört  —  die  Ziele  der  harmonischen  Wirtschaft, 
die  gewöhnlich  als  Wirtschaft  überhaupt  gilt,  zugeschrieben  hat. 
Ist  aber  der  antagonistische  Charakter  der  kapitalistischen  Wirtschaft 
in  seinem  ganzen  Umfange  erkannt,  so  verschwindet  der  von  Marx 
aufgedeckte  Widerspruch,  da  die  kapitalistische  Produktion,  indem 
sie  nicht  auf  die  Vermehrung  der  menschlichen  Konsumtion,  sondern 
auf  die  Vermehrung  des  Kapitals   gerichtet   ist  (was   mit  einer 


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Michael  Tugan-Baranowsky. 


relativen  Verringerung  der  menschlichen  Konsumtion  Hand  in  Hand 
geht),  in  keinen  Widerspruch  mit  ihrem  Prinzip  gerät  und  keinen 
Schwierigkeiten  der  Verwertung  ihrer  Produkte  entgegengeht. 

II. 

Mit  der  ersten  Variante  der  Zusammenbruchstheorie  sind  wir 
fertig.  Gehen  wir  zur  anderen  Variante  —  zum  „Gesetz  des 
tendenziellen  Fallens  der  Profitrate"  —  über.  Das  Gesetz  selbst 
ist  höchst  einfach  und  scheint  mit  logischer  Notwendigkeit  aus  der 
Arbeitswerttheorie  zu  folgen.  Der  Profit  wird  nach  dieser  Theorie 
nur  durch  einen  Teil  des  gesamten  Kapitals  —  durch  das  zur 
Lohnauszahlung  bestimmte  („variable")  Kapital  erzeugt,  da  der 
Profit  ja  nichts  anderes  als  die  vom  Kapitalisten  angeeignete 
Mehrarbeit  ist.  Steigt  etwa  der  in  Produktionsmitteln  angelegte 
(„konstante")  Kapitalteil  schneller  als  sein  variabler  Teil,  so  muß 
bei  anderen  gleichbleibenden  Bedingungen  die  Profitrate  sinken, 
da  die  Masse  des  gesamten  Kapitals,  durch  welche  man  die  Profit- 
masse dividieren  muß,  um  die  Profitrate  zu  bekommen,  der 
Voraussetzung  gemäß  rascher  wächst  als  die  Profitmasse  (deren 
Größe  nur  durch  den  variablen  Teil  des  Kapitals  bedingt  wird). 

Dieses  relativ  raschere  Tempo  des  Anwachsens  des  in  Pro- 
duktionsmitteln angelegten  Kapitals  betrachtet  Marx  mit  vollem 
Recht  als  das  Grundgesetz  der  kapitalistischen  Entwicklung.  Die 
Tendenz  zum  Fallen  der  Profitrate  scheint  also  ebenfalls  mit  dieser 
Entwicklung  aufs  engste  verknüpft  zu  sein.  Auf  dem  Boden  dieses 
tendenziellen  Fallens  der  Profitrate  entwickeln  sich,  nach  Marx' 
Meinung,  mannigfache  Störungen  der  kapitalistischen  Wirtschaft. 
Nimmt  etwa  die  Zahl  der  in  kapitalistischen  Unternehmungen  be- 
schäftigten Arbeiter  nicht  zu  und  sind  die  Kapitalisten  nicht  im- 
stande, den  Ausbeutungsgrad  der  Arbeiter  zu  erhöhen,  so  vermag 
keine  Zunahme  des  Kapitals  die  Profitmasse  zu  steigern.  Es  gibt 
also  unter  diesen  Bedingungen  keinen  Platz  in  der  Produktion  für 
neue  Kapitalien.  Da  aber  die  Kapitalakkumulation  nicht  aufhören 
kann,  so  fuhrt  die  Anlegung  neuer  Kapitalien,  bei  der  Unmöglich- 
keit, die  Masse  des  gesellschaftlichen  Profits  zu  heben,  zum  Brach- 
liegen der  in  der  Produktion  schon  angelegten  Kapitalien  und  zur 
absoluten  Überproduktion  von  Kapital. 

Das  Fallen  der  Profitrate  bildet  also  eine  Schranke  der  kapita- 
listischen Produktion;  „diese  eigentümliche  Schranke  bezeugt  die 
Beschränktheit  und  den  nur  historischen,  vorübergehenden  Charakter 


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Der  Zusammenbruch  der  kapitalistischen  Wirtschaftsordnung  usw. 


der  kapitalistischen  Produktionsweise:  bezeugt,  daß  sie  keine  für 
die  Produktion  des  Reichtums  absolute  Produktionsweise  ist,  viel- 
mehr mit  seiner  Fortentwicklung  auf  gewisser  Stufe  in  Kon- 
flikt tritt". ») 

In  der  ersten  Variante  der  Theorie  des  notwendigen  Zu- 
sammenbruchs der  kapitalistischen  Wirtschaftsordnung  wird  der 
Nachdruck  auf  das  Mißverhältnis  der  kapitalistischen  Produktion 
und  der  gesellschaftlichen  Konsumtion  gelegt;  hier  aber  wird  das 
Mißverhältnis  der  kapitalistischen  Produktion  und  der  Profitbildung 
betont.  Wir  wissen  schon,  wie  völlig  irreführend  die  erste  Variante 
ist;  dasselbe  gilt  auch  für  die  zweite. 

Es  wäre  leicht,  die  Unhaltbarkeit  des  vermeintlichen  Marxschen 
Gesetzes  vom  Standpunkte  einer  anderen,  als  der  Marxschen  Wert- 
theorie —  etwa  der  des  Grenznutzens  —  zu  beweisen.  Eine 
solche  Beweisführung  halte  ich  jedoch  in  diesem  Falle  nicht  für 
zweckmäßig.  Denn  bildet  das  Marxsche  Gesetz  eine  logische 
Folge  der  Arbeitswerttheorie,  so  ist  es,  wenigstens  als  Tendenz, 
als  ein  richtiges  Gesetz  anzuerkennen:  werden  doch  durch  jede 
Werttheorie  die  Arbeitskosten  der  Waren  als  ein  höchst  wichtiges 
Moment  der  realen  Preisbildung  anerkannt  Es  wird  bestritten, 
welches  Moment  —  etwa  Grenznutzen  oder  Arbeitskosten  —  als 
ausschlaggebend  in  der  Wertbildung  zu  betrachten  ist.  Aber  kein 
ernsthafter  Nationalökonom  hat  je  bezweifelt,  daß  die  Zunahme  der 
Produktionskosten  einer  Ware  eine  Tendenz  zur  Steigerung  ihres 
Preises,  deren  Abnahme  aber  die  Tendenz  zum  Fallen  des  Preises 
erzeugt. 

Ist  dem  so,  so  muß  alle  wirtschaftliche  Gestaltung,  die  auf 
dem  Boden  der  Entwicklung  des  Arbeitswertes  notwendig  entsteht, 
wenigstens  als  Tendenz  auch  in  realer  Preisentwicklung  ihren  Aus- 
druck finden.  Darum  kann  das  Marxsche  Gesetz  des  tendenziellen 
Fallens  der  Profitrate  nur  dadurch  auch  als  Tendenz  als  nicht 
existierendes  endgültig  nachgewiesen  werden,  daß  seine  Unverein- 
barkeit mit  der  Arbeitswerttheorie  festgestellt  wird. 

Ich  glaube  das  in  meinem  Krisenbuch  schon  geleistet  zu  haben. 
Da  aber  meine  Beweisführung  eine  mathematische  Form  hatte  und 
nur  sehr  wenige  Nationalökonomen  für  die  Mathematik  eine  Neigung 
haben,  so  ist  es  natürlich,  daß  meine  Ausführungen  von  meinen 
Kritikern  als  „außerordentlich  schwerfällig  und  verworren"  bezeichnet 


')  K.  Marx,  Das  Kapital.  III 1  S.  223. 


Michael  Tugan- Baranowsky , 


und  —  das  mag  ich  hinzufügen  —  von  ihnen  gar  nicht  verstanden 
wurden.  Der  eine  von  meinen  Kritikern  —  Konrad  Schmidt  — 
gesteht  das  übrigens  selbst  zu.  An  diesem  Platz  werde  ich  ver- 
suchen, den  nötigen  Beweis  in  einer  anderen  Form  zu  liefern  und 
zugleich  das  richtige  Gesetz  der  Entwicklung  der  Profitrate  auf- 
zudecken. 

Zunächst  ist  die  Aufgabestellung  von  Marx  falsch.  Man  kann 
nicht  sagen,  welchen  Einfluß  auf  die  Profitrate  das  Fallen  der 
Lohnquote  des  Kapitals  haben  muß,  da  dasselbe  eine  verschiedene 
Wirkung  auf  die  Profitrate  ausübt,  je  nach  den  Ursachen  dieses 
Fallens.  Es  kann  namentlich  aus  zwei  Gründen  erfolgen:  I.  aus 
einer  Verringerung  der  Produktivität  der  gesellschaftlichen  Arbeit 
und  2.  aus  deren  Erhöhung.  Beide  Fälle  sollen  besonders  unter- 
sucht werden,  damit  wir  zu  brauchbaren  Resultaten  gelangen. 

Wir  werden  dazu  dieselben  schematischen  Konstruktionen  be- 
nutzen, deren  Gültigkeit  wir  schon  bei  der  Analyse  der  ersten 
Variante  der  Zusammenbruchstheorie  genügend  erkannt  haben. 
Marx  kommt  zu  seinem  Gesetz  auf  sehr  einfachem  Wege.  Er 
unterstellt,  daß  das  konstante  Kapital  steigt,  während  das  variable 
unverändert  bleibt  —  und  die  Profitrate  muß  sinken.  Auf  welche 
Weise  aber  die  Zunahme  des  konstanten  Kapitals  erfolgt  —  darüber 
schweigt  er  still,  als  ob  dies  zusätzliche  Kapital  vom  Himmel 
herunterfiele.  Wir  werden  aber  den  zu  untersuchenden  Prozeß  in 
allen  seinen  Phasen,  vom  Anfang  bis  zum  Abschluß  analysieren. 
Seinen  Anfang  bildet  offenkundig  die  Herstellung  des  zusätzlichen 
Sachkapitals ;  sein  Ende  —  die  gesellschaftliche  Produktion  auf  neuer 
technischer  Grundlage  und  unter  neuen  Verwertungsbedingungen. 

Das  nachfolgende  Schema  bezieht  sich  auf  den  ersten  Fall  der 
abnehmenden  Lohnquote  des  Kapitals  —  wenn  diese  Abnahme, 
welche  mit  der  relativen  Zunahme  des  Wertes  des  Sachkapitals 
gleichbedeutend  ist,  durch  die  Verringerung  der  Arbeitsproduktivität 
erfolgt.  Ich  unterstelle,  daß  etwa  infolge  einer  Erschöpfung  der 
Bergwerke  und  des  Bodens,  die  Arbeitskosten  der  Gewinnung  von 
Eisenerzen,  Steinkohlen,  Getreide  und  aller  Rohstoffe  bedeutend 
steigen,  was  zur  Zunahme  des  Arbeitswerts  der  Produkteneinheit  um 
25  Proz.  führe.  Das  zwingt  die  Kapitalisten,  einen  Teil  ihres  Profits 
auf  die  Erzeugung  des  seinen  Produktionskosten  nach  angewachsenen 
Sach-  und  Lohnkapitals  zu  verwenden.  Um  der  kapitalistischen 
Wirklichkeit  näher  zu  treten,  setze  ich  weiter  voraus,  daß  die  Zu- 
nahme des  Arbeitswerts  jeder   Produkteneinheit  (also  auch  der 


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Der  Zusammenbruch  der  kapitalistischen  Wirtschaftsordnung  usw. 


Konsumtionsmittel  der  Arbeiter)  zum  Rückgang  der  realen  Löhne 
der  Arbeiter  (d.  h.  der  Masse  der  Konsumtionsmittel,  über  welche 
der  Arbeiter  zu  verfügen  hat)  um  10  Proz.  führt.  Die  Arbeiterzahl 
bleibt,  der  Voraussetzung  gemäß,  unverändert  Keine  Kapitalakku- 
mulation findet  statt,  außer  der  durch  die  Zunahme  des  Wertes  der 
Produktionsmittel  und  des  Arbeitslohns  erzwungenen.  Alle  Zahlen 
sind  andere  als  im  ersten  Schema  gewählt. 

Reproduktion  des  gesellschaftlichen  Kapitals  bei  Verringerung 
der  Produktivität  der  gesellschaftlichen  Arbeit. 

Erste  Phase. 

I.  Produktion  der  Produktionsmittel. 
250  p+  125  a  -j-  125  r  =  500. 

II.  Produktion  der  Konsumtionsmittel  der  Arbeiter. 
1 1 2 »/,  p  4"  561/*  a  -j-        r  =  225. 

III.  Produktion  der  Konsumtionsmittel  der  Kapitalisten. 
37,/9P+i8«/4a-r-i8V  =  75- 

Zweite  Phase. 
I.  Produktion  der  Produktionsmittel. 
277.8  P+  i25a  +  97,2r=5oo. 

II.  Produktion  der  Konsumtionsmittel  der  Arbeiter. 
1 25  p  +  56,3  a  +  43,7  r  =  225. 

III.  Produktion  der  Konsumtionsmittel  der  Kapitalisten. 
97.2  p  +  43,7  a  + 34,1  r=  175. 

Die  Einteilung  der  gesellschaftlichen  Produktion  ist  in  diesem 
Schema  proportioneil  —  alle  hergestellten  Waren  finden  Absatz. 
Die  Verringerung  der  Arbeitsproduktivität  findet  in  der  ersten 
Phase  statt  Darum  sind  die  Kapitalisten  gezwungen,  von  200  Mill. 
Mk.  ihres  gesamten  Profits  (125 -|- 56V4 -j- i88/4)  nur  75  Mill.  Mk. 
auf  ihre  eigene  Konsumtion  zu  verwenden.  Die  übrigbleibenden 
125  Mill.  Mk.  werden  in  Kapital  verwandelt:  das  Steigen  der 
Arbeitskosten  der  Produktionsmittel  um  25  Proz.  erheischt  eine 
zusätzliche  Kapitalausgabe  für  die  Herstellung  des  Sachkapitals  im 
Betrage  von  100  Mill.  Mk.  (in  der  Produktion  der  ersten  Phase 
waren  als  Sachkapital  250  -j-  11 21/«  +  37  7a  =  400  Mill.  Mk. 


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298 


Michael  Tugan-Baranowsky, 


angelegt),  und  das  ebenso  große  prozentuale  Steigen  des  Wertes 
der  Konsumtionsmittel  der  Arbeiter,  gleichzeitig  mit  dem  Sinken 
der  Reallöhne  um  10  Proz.,  führt  zur  Erhöhung  des  Lohnkapitals 
um  25  Mill.  Mk.  (das  Lohnkapital  der  ersten  Phase  ist  125  -|-  56 V4 
-|-  i88/4  =  200  Mill.  Mk.;  hätten  die  Arbeiter  auch  nach  der  Zunahme 
des  Arbeitswertes  ihrer  Konsumtionsmittel  dieselbe  Masse  davon 
erhalten,  so  wäre  das  Lohnkapital  bis  auf  250  Mill.  Mk.  gestiegen; 
da  aber  die  realen  Löhne  der  Arbeiter,  unserer  Voraussetzung  ge- 
mäß, um  10  Proz.  fallen,  so  beziffert  sich  das  Lohnkapital  in  der 
zweiten  Phase  auf  225  Mill.  Mk.) 

Die  zweite  Phase  stellt  die  gesellschaftliche  Produktion  nach 
der  stattgefundenen  Verringerung  der  Arbeitsproduktivität  dar. 
Der  Wert  des  in  der  zweiten  Phase  hergestellten  gesellschaftlichen 
Produktes  muß  den  der  ersten  Phase  um  100  Mill.  Mk.  übersteigen, 
da  die  Zahl  der  in  der  zweiten  Phase  beschäftigten  Arbeiter  der  in 
der  ersten  gleich  ist,  aber  der  Wert  der  in  der  Produktion  der 
zweiten  Phase  angelegten  Produktionsmittel  um  100  Mill.  Mk.  zu- 
genommen hat  (dieser  Wert  muß,  der  Arbeitswerttheorie  gemäß, 
im  Werte  des  hergestellten  Produktes  unverändert  erscheinen).  Der 
gesamte  Produktenwert  der  zweiten  Phase  beträgt  also  9CO  Mill.  Mk. 
(800  der  Wert  des  gesellschaftlichen  Produktes  der  ersten  Phase,  +  IOO 
die  Zunahme  des  Wertes  der  Produktionsmittel  der  zweiten  Phase). 
Der  Wert  des  gesamten  Kapitals  derselben  Phase  ist  (277,8  -j- 
125  +  97 >2)  =  500  Mill.  Mk.  Sachkapital  +(125  +  56,3  -f  43,7)  = 
225  Mill.  Mk.  Lohnkapital  —  725  Mill.  Mk.  Der  Profit  der  zweiten 
Phase  ist  900  —  725  =  175  Mill.  Mk. 

200 

Die  Profitrate  der  ersten  Phase  war        =  33,3  Proz.,  die  der 
175 

zweiten  —    -  ==  24, 1  Proz.    Sie  ist  also,  trotz  des  Rückganges 
725 

der  Reallöhne,  bedeutend  gesunken. 

Wrir  haben  also  den  von  Marx  untersuchten  Fall  der  Ver- 
ringerung der  Profitrate  vor  uns.  Bin  ich  etwa  dazu  gelangt,  das 
Marxsche  Gesetz  begründet  zu  haben,  anstatt  es  zu  widerlegen? 

Es  ist  gewiß  nicht  zu  bestreiten,  daß  unter  gewissen  Bedingungen 
die  Erhöhung  der  Zusammensetzung  des  gesellschaftlichen  Kapitals 
zum  Fallen  der  Profitrate  fuhren  muß.  Welche  sind  aber  diese  Be- 
dingungen ?  Das  untersuchte  Schema  bezieht  sich  auf  den  Fall  der 
Abnahme  der  Lohnquote  des  gesellschaftlichen  Kapitals  infolge 
Verringerung  der  Arbeitsproduktivität ;  die  Erhöhung  der  Zusammen- 


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Der  Zusammenbruch  der  kapitalistischen  Wirtschaftsordnung  usw. 


Setzung  des  gesellschaftlichen  Kapitals  kann  aber  auch  auf  anderem 
Wege  geschehen  —  namentlich  durch  die  Erhöhung  der  Arbeits- 
produktivität. Die  Verbesserung  der  Technik  führt  zur  Vergröße- 
rung des  stehenden  Kapitals  (Maschinen,  Werkzeuge  u.  a.),  das  in 
der  Produktion  angelegt  wird;  da  aber  die  Erhöhung  der  Arbeits- 
produktivität in  der  Zunahme  der  Masse  des  durch  den  ein- 
zelnen Arbeiter  verarbeiteten  Rohmaterials  ihren  Ausdruck  findet, 
so  wird  aus  diesem  Grunde  auch  das  umlaufende  Kapital  im  Ver- 
gleich mit  dem  Lohnkapital  wachsen  und  das  Lohnkapital  wird 
zu  einer  immer  kleinerer  Quote  des  gesamten  gesellschaftlichen 
Kapitals. 

Auch  diesen  zweiten  Fall  der  Erhöhung  der  Zusammensetzung 
des  gesellschaftlichen  Kapitals  werde  ich  mit  Hilfe  meiner  Schemata 
analysieren.  Der  Prozeß  beginnt  offenkundig  mit  der  Herstellung 
der  zusätzlichen  Produktionsmittel.  Seine  zweite  Phase  (welche, 
übrigens  nur  theoretisch  von  der  dritten  abzusondern  ist,  in  der 
Wirklichkeit  aber  mit  dieser  letzten  zusammenfallt),  besteht  in  dem 
produktiven  Verbrauch  der  erzeugten  zusätzlichen  Produktionsmittel. 
In  der  dritten  Phase  kommt  der  Prozeß  zum  Abschluß:  die  hin- 
zugenommene Masse  der  hergestellten  Produkte  ist  in  die  gesell- 
schaftliche Produktion  und  Konsumtion  eingegangen,  die  Produkten- 
werte sind  entsprechend  den  neuen  Produktionsbedingungen  ge- 
sunken und  die  gesellschaftliche  Produktion  gestaltet  sich  auf  einer 
neuen  technischen  Grundlage. 

Bei  der  Konstruktion  des  nachfolgenden  Schemas  habe  ich  an- 
genommen, daß  die  Kapitalisten  die  Hälfte  ihres  Profits  einmal 
auf  die  Herstellung  neuer  zusätzlicher  Produktionsmittel  verwendet 
haben,  dann  aber  wieder  ihren  gesamten  Profit  unproduktiv  kon- 
sumieren. Die  Arbeiterzahl  verändert  sich  nicht.  Es  wird  unter- 
stellt, daß  die  Einfuhrung  neuer  Produktionsmethoden  die  Arbeits- 
produktivität um  25  Proz.  erhöht  (d.  h.  um  so  viel  nimmt  die 
Masse  des  gesellschaftlichen  Produktes  zu).  Zugleich  setze  ich 
voraus,  um  nicht  als  Anhänger  des  „ehernen  Lohngesetzes"  zu  er- 
scheinen, daß  aus  der  Zunahme  der  Arbeitsproduktivität  auch  die 
Arbeiter  profitieren:  ihre  realen  Löhne  steigen  um  10  Proz.  In 
seiner  Begründung  des  Gesetzes  der  fallenden  Profitrate  geht  Marx 
von  der  Voraussetzung  der  Unveränderlichkeit  der  realen  Löhne 
der  Arbeiter  aus.  Meine  Annahme  muß  also  das  Marxsche  Gesetz 
noch  schärfer  hervortreten  lassen. 


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300 


Michael  Tugan-Baranowsky, 


Reproduktion  des  gesellschaftlichen  Kapitals  bei  Erhöhung  der 
Produktivität  der  gesellschaftlichen  Arbeit. 

Erste  Phase. 
I.  Produktion  der  Produktionsmittel. 
25°P+  I25a+  I25r  =  500. 

II.  Produktion  der  Konsumtionsmittel  der  Arbeiter. 
100  p  -f-  50  a  -f-  50  r  =  200. 

III.  Produktion  der  Konsumtionsmittel  der  Kapitalisten. 
50p -f- 25  a+  25  r=  100. 

Zweite  Phase. 

I.  Produktion  der  Produktionsmittel. 
222,2  p     88,9  a  -f-  88,9  r  =  400. 

II.  Produktion  der  Konsumtionsmittel  der  Arbeiter. 
97.8  p-f  39,1  a  +  39,1  r=  176. 
III.  Produktion  der  Konsumtionsmittel  der  Kapitalisten. 
1 80 p  -)-  72  a  -}-  72  r  =  324. 

Dritte  Phase. 

I.  Produktion  der  Produktionsmittel. 
I77.8p-f-78i2a-}-  144^400. 

II.  Produktion  der  Konsumtionsmittel  der  Arbeiter. 
78,2  p  +  34,4  a  +  63,4  r  =  1 76. 

III.  Produktion  der  Konsumtionsmittel  der  Kapitalisten. 
144  p  +  63,4  a  -+-  1 16,6  r=  324. 

Die  Einteilung  der  gesellschaftlichen  Produktion  ist  in  allen 
drei  Phasen  proportionell.  Die  erste  Phase  schließt  mit  der  Her- 
stellung neuer  zusätzlicher  Produktionsmittel  für  den  Betrag  von 
100  Mill.  Mk  (die  Hälfte  des  gesamten  Profits  dieser  Phase,  welcher 
1254-504-25,  also  200  Mill.  Mk.  beträgt).  In  der  zweiten  Phase 
wird  die  auf  diese  Weise  um  den  Wert  von  100  Mill.  Mk.  er- 
höhte Masse  der  Produktionsmittel  in  der  Produktion  angelegt. 
In  der  dritten  Phase  ändern  sich  die  Wertverhältnisse  des  Sach- 
und  Lohnkapitals  und  des  Profits  entsprechend  den  neuen  Produk- 
tionsbedingungen. 


Der  Zusammenbruch  der  kapitalistischen  Wirtschaftsordnung  usw.  ßoi 

Am  Ende  der  zweiten  Phase  ist  eine  größere  Produktenmasse  her- 
gestellt. Die  Erhöhung  der  Arbeitsproduktivität,  der  Voraussetzung 
gemäß  um  1jv  ist  gleichbedeutend  mit  einem  Fallen  des  Arbeits- 
werts der  Produkteneinheit  um  Die  Masse  der  am  Ende 
der  ersten  Phase  hergestellten  Produktionsmittel  bleibt  auch  in  der 
dritten  Phase  unverändert  (da  das  zusatzliche,  durch  die  Erhöhung 
der  Arbeitsproduktivität  erzeugte  Produkt  nicht  akkumuliert  wird, 
sondern  dem  Konsumtionsfonds  der  Gesellschaft  zufließt) ;  der  Wert 
dieser  Masse  in  der  zweiten  Phase  ist  gleich  500  Mill.  Mk.  Nun 
muß  dieser  Wert  in  der  dritten  Phase,  infolge  des  Fallens  des  Arbeits- 
werts einer  Einheit  des  Produktes  um  bis  auf  400  Mill.  Mk. 
sinken.  Der  Wert  des  Lohnkapitals  war  in  der  ersten  Phase  gleich 
200  Mill.  Mk.  In  der  dritten  Phase  ist  die  Arbeiterzahl  unver- 
ändert geblieben.  Verfügten  die  Arbeiter  über  dieselbe  Masse  der 
Konsumtionsmittel,  so  müßte  der  Wert  der  letzten  (also  das  Lohn- 
kapital) um  1/5  abnehmen  —  also  auf  160  Mill.  Mk.  sich  beziffern. 
Da  aber  die  Reallöhne  der  Arbeiter  in  der  dritten  Phase  um  10  Proz. 
gestiegen  sind,  so  beträgt  das  Lohnkapital   der   dritten  Phase 

160  X      =  176  Mill.  Mk. 
N  10  ' 

Der  Wert  des  gesamten  gesellschaftlichen  Produktes  der  dritten 
Phase  muß  um  100  Mill.  Mk.  denjenigen  der  ersten  überschreiten, 
da  diese  100  Mill.  den  Wert  der  zusätzlichen  Produktionsmittel 
darstellen,  und  wird  sich  folglich  auf  900  Mill.  Mk.  beziffern. 

Das  Kapital  der  dritten  Phase  ist  400  (Sachkapital)  -|- 
(Lohnkapital),  also  576  Mill.  Mk.  Den  Profit  der  Kapitalisten 
bekommen  wir,  indem  wir  von  dem  Werte  des  gesamten  Pro- 
duktes den  des  Kapitals  abziehen.  Der  Profit  der  dritten  Phase 
betragt  folglich  900  —  576  =  324  Mill.  Mk.  Die  Profitrate  vor 
der   Einführung    neuer  Produktionsmethoden    war   33 1 3  Prozent 

(000)'  ^etzt  *st  s'e  *^  ^roz*  (570)  —  ^at  a'so'  trotz  ^es  ^te'Sens 

der  Reallöhne  der  Arbeiter,  bedeutend  zugenommen,  was  dadurch 
möglich  wurde,  daß  die  Erhöhung  der  Arbeitsproduktivität  zum 
Sinken  des  Arbeitswerts  des  Sach-  und  Lohnkapitals  und  zum 
Steigen  der  Mehrwertsrate  von  100  auf  184  Proz.  geführt  hat. 

Wir  sehen,  daß  das  Fallen  der  Lohnquote  des  gesellschaftlichen 
Kapitals  eine  entgegengesetzte  Wirkung  auf  die  Profitrate  ausübt, 
je  nach  der  Ursache  dieses  Fallens:  nimmt  der  Wert  des  in 
den   Produktionsmitteln   verkörperten  Kapitals   infolge  der  Ver- 


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302 


Michael  Tugan-Baranowsky, 


ringcrung  der  Produktivität  der  gesellschaftlichen  Arbeit  zu,  so 
sinkt  die  Profitrate;  sie  steigt  aber,  falls  die  relative  Zunahme  des 
Sachkapitals  auf  Kosten  des  Lohnkapitals  durch  die  Erhöhung  der 
Produktivkraft  der  gesellschaftlichen  Arbeit  hervorgerufen  wird.  Es 
ist  übrigens  klar,  daß  es  gegen  alle  Wirtschaftsgesetze  wäre,  wenn 
solche  entgegengesetzte  wirtschaftliche  Momente,  wie  der  Rückgang 
und  die  Zunahme  der  Arbeitsproduktivität,  dieselbe  Wirkung  auf 
die  Profitrate  ausübten. 

Welchen  Fall  aber  —  den  der  Verringerung  oder  den  der  Er- 
höhung der  Arbeitsproduktivität  —  wollte  Marx  untersuchen  ?  Offen- 
bar den  zweiten,  da  nur  der  zweite  Fall  der  kapitalistischen  Wirk- 
lichkeit entspricht.  So  sagt  Marx,  daß  die  relative  Abnahme  des 
variablen  Kapitals  im  Verhältnis  zum  konstanten  „nur  ein  anderer 
Ausdruck  für  die  fortschreitende  Entwicklung  der  gesellschaftlichen 
Produktivkraft  der  Arbeit  ist,  die  sich  gerade  darin  zeigt,  daß  ver- 
jnittels  der  wachsenden  Anwendung  der  Maschinerie  und  fixem 
Kapital  überhaupt  mehr  Roh-  und  Hilfsstoffe  von  derselben  Anzahl 
Arbeitern  in  derselben  Zeit,  d.  h.  mit  weniger  Arbeit  in  Produkte 
verwandelt  werden."  *)  Den  Einfluß  dieses  Momentes  auf  die 
Profitrate  wollte  Marx  bestimmen.  Es  ist  ihm  aber  ein  wunder- 
bares Qui  pro  quo  begegnet.  Statt  den  Einfluß  der  Erhöhung  der 
Arbeitsproduktivität  auf  die  Profitrate  einer  eingehenden  Analyse 
zu  unterwerfen,  hat  er  den  entgegengesetzten  Fall  —  den  der  Ver- 
ringerung der  Arbeitsproduktivität  —  untersucht  und  ist  auf  diese 
Weise  zu  seinem  Gesetz  der  fallenden  Profitrate  gelangt.  Das 
hier  ausgeführte  beweist  aber,  daß  dies  nicht  nur  kein  wahres 
Gesetz  ist,  sondern  daß  sein  gerades  Gegenteil  wahr  ist:  „die  fort- 
schreitende Entwicklung  der  gesellschaftlichen  Produktivkraft  der 
Arbeit"  erzeugt  eine  Tendenz  nicht  zum  Fallen,  sondern  zum  Steigen 
der  Profitrate. 

Dieses  letzte  Gesetz  ist  als  T  e  n  d  e  n  z  ein  nicht  zu  bestreitendes 
höchst  wichtiges  Moment  der  kapitalistischen  Entwicklung.  Aber 
nur  als  Tendenz,  deren  Wirkung  andere  Gegentendenzen  durch- 
kreuzen und  aufheben. 

Unter  diesen  Gegentendenzen  mögen  folgende  hervorgehoben 
werden : 

i.  die  Verlängerung  der  Umschlagszeit  des  gesellschaftlichen 
Kapitals.   Alle  Ersetzung  der  Handarbeit  durch  maschinelle  hat  die 


>)  K.  Marx,  Das  Kapital.   IUI  S.  192. 


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Der  Zusammenbruch  der  kapitalistischen  Wirtschaftsordnung  usw. 


Tendenz  die  Quote  des  stehenden  Kapitals  auf  Kosten  des  um- 
laufenden zu  vergrößern  —  also  die  Umschlagbewegung  des  Ka- 
pitals zu  verlangsamen.  Andrerseits  haben  die  intensivere  Aus- 
nutzung des  stehenden  Kapitals,  Beschleunigung  des  Transports 
und  arbeitszeitersparende  Verbesserungen  der  Technik  die  Tendenz 
zur  Verkürzung  der  Umschlagszeit  des  gesellschaftlichen  Kapitals. 
Wir  haben  also  zwei  Momente  vor  uns,  die  in  enteeeeneresetzter 
Richtung  die  Umschlagsbewegung  des  Kapitals  beeinflussen.  Es 
scheint  jedoch,  daß  das  erste  Moment  eine  größere  Wirkung  aus- 
übt und  die  Umschlagsbewegung  des  gesellschaftlichen  Kapitals 
im  großen  und  ganzen  länger  wird,  was  als  ein  mächtiges, 
dem  Steigen  der  Profitrate  entgegenwirkendes  Moment  zu  be- 
trachten ist; 

2.  die  Verkürzung  des  Arbeitstages; 

3.  das  Steigen  der  realen  Löhne  der  in  der  kapitalistischen 
Industrie  beschäftigten  Arbeiter.  Wir  haben  gesehen,  daß  dies  4 
Steigen  sehr  bedeutend  sein  muß,  um  die  Tendenz  zum  Steigen 
der  Profitrate  aufzuheben.  Es  ist  aber  wahrscheinlich,  daß  das 
Steigen  der  realen  Löhne  der  Arbeiter,  die  in  den  kapitalistischen 
Großbetrieben  (wo  die  Erhöhung  der  Zusammensetzung  des  Kapitals 
am  schlagendsten  zum  Ausdruck  kommt)  beschäftigt  sind,  in  der 
neuesten  Zeit  stark  genug  war,  um  gegen  die  steigende  Tendenz 
der  Profitrate  wirksam  zu  reagieren; 

4.  das  Steigen  anderer  Formen  der  Rente  auf  Kosten  des 
Profits;  so  die  ungeheure  Zunahme  der  Rente  aus  dem  städtischen 
Grundeigentum ; 

5.  das  Steigen  der  Quote,  die  vom  Staate  aus  dem  Profit  der 
Kapitalisten  für  seine  Bedürfnisse  durch  Vermittlung  der  Steuer 
weggenommen  wird. 

Alle  diese  Gegentendenzen  heben  die  Tendenz  zur  Steigerung 
der  Profitrate  infolge  der  Erhöhung  der  Arbeitsproduktivität  ganz 
oder  teilweise  auf.  Die  Tendenz  selbst  aber  muß  bleiben,  da  sie 
nichts  ist  als  ein  spezifisch  kapitalistischer  Ausdruck  für  die  Ver- 
mehrung des  Mehrproduktes,  über  welches  die  Gesellschaft  verfügt. 

III. 

Die  zweite  Variante  der  Zusammenbruchstheorie  hat  sich  also 
als  ebenso  unhaltbar  erwiesen  wie  die  erste.  Die  gesamte  Theorie 
ist  unbedingt  zu  verwerfen.    Die  kapitalistische  Wirtschaft  schließt 


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304 


Michael Tugan-Barano wsky, 


in  sich  keine  Momente,  welche  sie  auf  einer  gewissen  Stufe  etwa 
unmöglich  machen  könnten.  Engels  meinte  in  den  vierziger 
Jahren  des  abgelaufenen  Jahrhunderts,  daß  die  Grenzen  der  kapita- 
listischen Entwicklung,  wegen  Mangels  an  neuen  Märkten,  beinahe 
erreicht  seien  und  daß  die  kapitalistische  Produktion  künftig  in 
langsamerem  Tempo  sich  ausdehnen  müsse.  Das  war  offenkundig 
eine  höchst  unglückliche  Prophezeiung.  Die  kapitalistische  Produk- 
tion hat  seitdem  eine  ungeheure  Ausdehnung  erfahren  —  und  das 
hat  zu  keinen  neuen  Schwierigkeiten  im  Verwertungsprozesse  des 
Kapitals  geführt.  Der  Markt  für  die  kolossal  angewachsene  Masse 
der  Produkte  der  kapitalistischen  Industrie  war  durch  diese  selbst 
geschaffen. 

Trotzdem  versichert  uns  neustens  der  hervorragendste  lebende 
Theoretiker  der  Marxschen  Schule,  daß  wir  heute  von  der  letzten 
Grenze  der  Ausdehnung  der  kapitalistischen  Produktion  nicht  ferne 
sind  und  daß  es  bald  unmöglich  sein  wird,  das  Kapital  zu  ver- 
werten. Kann  der  geringste  Zweifel  obwalten,  daß  die  Prophe- 
zeiung von  Kautsky  nicht  glücklicher  sich  erweisen  wird,  als  es 
mit  der  von  Engels  der  Fall  war?  Die  richtige  nationalökonomische 
Theorie  kann  nur  eines  —  aber  mit  vollkommener  Sicherheit  — 
vorhersagen:  daß  der  Kapitalismus  allerdings  nicht  aus  Mangel  an 
Märkten  je  zusammenbrechen  wird. 

Damit  will  ich  nicht  behaupten,  daß  der  Kapitalismus  auf 
unbeschränkte  Lebensdauer  rechnen  kann.  Die  sozialistische  Wirt- 
schaftsordnung scheint  mir  vielmehr  ein  legitimer  Erbe  der  kapita- 
listischen zu  sein.  Die  Voraussetzung  einer  ökonomischen  Zwangs- 
lage, die  den  Kapitalismus  sprengen  und  dem  neuen  Wirtschafts- 
system freien  Platz  machen  wird,  halte  ich  selbstverständlich  für 
ausgeschlossen.  Aber  ich  anerkenne  das  Vorandensein  im  kapita- 
listischen Wirtschaftssystem  eines  unlösbaren  inneren  Widerspruchs, 
an  dem  es  mit  eherner  (obschon  nicht  ökonomischer)  Notwendig- 
keit zugrunde  gehen  muß.  Dieser  Widerspruch  besteht  darin,  daß 
die  kapitalistische  Wirtschaft  aus  dem  arbeitenden  Menschen,  welcher 
ein  Selbstzweck  ist,  ein  bloßes  wirtschaftliches  Mittel  macht.  Das 
ist  also  der  Widerspruch  des  fundamentalen  ökonomischen  Prin- 
zips des  Kapitalismus  mit  der  fundamentalen  ethischen  Norm, 
welche  lautet:  „der  Mensch  und  überhaupt  jedes  vernünftige  Wesen 
existiert  als  Zweck  an  sich  selbst,  nicht  bloß  als  Mittel  zum  be- 
liebigen Gebrauche  für  diesen  oder  jenen  Willen,  sondern  muß  in 
allen  seinen,  sowohl  auf  sich  selbst,  als  auf  andere  vernünftige  Wesen 


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Der  Zusammenbruch  der  kapitalistischen  Wirtschaftsordnung  usw.  305 


gerichteten  Handlungen  zugleich  als  Zweck  betrachtet  werden". *) 
Die  vorhergehenden  Ausführungen  haben  gezeigt,  daß  der  Kapi- 
talismus, seinem  innersten  Wesen  nach,  gegen  diese  höchste  ethische 
Norm  verstößt  Die  Marxsche  Schule  beurteilte  den  Kapitalismus 
zu  günstig;  sie  glaubte,  daß  auch  die  kapitalistische  Wirtschaft  ge- 
zwungen sei,  den  arbeitenden  Menschen  und  seine  Konsumtion 
als  einen  ihrer  Zwecke  zu  betrachten.  Tut  sie  das  nicht,  so  bricht 
sie  zusammen  infolge  der  Unmöglichkeit  das  Kapital  zu  verwerten. 
Diese  Auffassung  beruht  aber  auf  völliger  Verkennung  der  wahren 
Verwertungsgesetze  des  Kapitals.  Der  Rückgang  der  gesellschaft- 
lichen Konsumtion  bei  der  gleichzeitigen  Ausdehnung  der  gesell- 
schaftlichen Produktion  ist  vom  kapitalistischen  Standpunkte  kein 
ökonomischer  Widerspruch,  da  die  kapitalistische  Wirtschaft  nicht 
der  Deckung  des  gesellschaftlichen  Bedarfs,  sondern  der  Verwertung 
des  Kapitals,  welche  keiner  menschlichen  Konsumtion  bedarf,  un- 
mittelbar dient.  Das  Kapital  bedarf  des  Menschen  nicht  als  des 
einzigen  vernünftigen  Zwecks  der  Wirtschaft,  sondern  als  des 
wichtigsten  Wirtschaftsmittels.  Die  mächtigste  vom  Menschen  in 
seinem  Streite  mit  der  Natur  geschmiedete  wirtschaftliche  Waffe  — 
das  Kapital  —  kehrt  sich  also  gegen  den  Menschen  selbst. 

Die  ökonomische  Entwicklung  verbreitet  in  immer  weiteren 
Bevölkerungsschichten  das  Bewußtsein  dieser  Sachlage  und  schafft 
die  Mittel  zu  ihrer  Beseitigung.  Das  neue  soziale  Ideal  wird 
zu  einer  immer  größeren  gesellschaftlichen  Macht  „Die  ,Idee' 
blamierte  sich  immer,  soweit  sie  von  dem  Interesse  unterschieden 
war"  —  hat  einmal  Marx  gesagt  Das  ist  richtig.  Aber  derselbe 
Marx  hat  sich  auch  anders  geäußert  „Nur  im  Namen  der  all- 
gemeinen Rechte  der  Gesellschaft  kann  eine  besondere  Klasse  sich 
die  allgemeine  Herrschaft  vindizieren"  —  bemerkte  er  in  bezug  auf 
die  befreiende  Rolle  des  Proletariats  in  der  bevorstehenden  sozialen 
Umgestaltung.  Das  zweite  ist  ebenso  richtig  wie  das  erste.  Ein 
soziales  Ideal  kann  nur  dann  siegen,  wenn  es  zugleich  den  Interessen 
mächtiger  sozialer  Gruppen  und  dem  allgemeinen  moralischen 
Bewußtsein  entspricht  Dann  aber  muß  es  siegen.  Nun  besitzt 
das  sozialistische  Ideal  diese  beiden  Eigenschaften.  Es  entspricht 
den  Interessen  der  Arbeiterklassen  —  der  großen  Mehrzahl  der 
Bevölkerung  —  und  ist  zugleich  als  die  fundamentalste  Forde- 


')  Kant,  Grundlegung  der  Metaphysik  der  Sitten.    Herausg.  von  Kirchmann. 
1897.   S.  52. 

ArchW  für  SoxUlwiMeiuchaft  u.  Soiialpolitik.  I.    ( A.  f.  wr.  G.  u.  St.  XIX.)  2.  20 


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Michael  Tugan-Barano wsky ,  Der  Zusammenbruch  usw. 


rung  des  Naturrechts  zu  betrachten.  „Das  angeborene  Recht  ist 
nur  ein  einziges"  hat  der  größte  Denker  der  Neuzeit  gesagt,  und 
„Freiheit  (Unabhängigkeit  von  eines  anderen  nötigender  Willkür), 
sofern  sie  mit  jedes  anderen  Freiheit  nach  einem  allgemeinen  Ge- 
setz zusammen  bestehen  kann,  ist  dieses  einzige,  ursprüngliche, 
jedem  Menschen  kraft  seiner  Menschheit  zustehende  Recht" *) 
Der  Kapitalismus  vereitelt  dieses  ursprünglichste  Menschenrecht; 
drum  muß  er  einer  besseren  und  gerechteren  Gesellschaftsordnung 
Platz  machen.  Die  Menschheit  wird  aber  den  Sozialismus  nie  als 
ein  Geschenk  blinder,  elementarer  ökonomischer  Kräfte  erhalten, 
sondern  muß  die  neue  Gesellschaftsordnung  zielbewußt  erarbeiten  — 
und  erkämpfen. 


')  Kant,  Metaphysik  der  Sitten.    Herausg.  von  Kirchmann.  1870.  S.  40. 


307 


Die  Bedeutung  der  Haushaltungsbudgets  für  die 
Beurteilung  des  Ernährungsproblems. 

Von 

Dr.  FRITZ  KESTNER 

in  Halle  a.  S. 

Einleitung. 

Durch  die  Aufnahme  von  Haushaltungsbudgets  und  die  sich 
daran  knüpfenden  umfangreichen  Erörterungen  ist  die  Lehre  von 
der  Konsumtion  und  Distribution  wesentlich  bereichert,  sind  unsere 
Kenntnisse  über  Ernährung,  Wohnung  und  sonstige  Lebenshaltung, 
insbesondere  der  minderbemittelten  Klassen  erweitert,  sind  unserer 
sozialpolitischen  Gesetzgebung  wichtige  Unterlagen  gegeben  worden. 
Es  liegt  nahe,  weiter  zu  gehen  und  die  verschiedenen  Budgets  einer 
Vergleichung  zu  unterziehen,  um  auf  diese  Weise  Aufschluß  zu  er- 
halten über  die  Lebenshaltung  in  verschiedenen  Ständen,  Berufs- 
klassen und  Vermögensschichten.  Dies  ist,  besonders  in  letzter 
Zeit,  bezüglich  der  Ernährungsweise  vielfach  geschehen.  Die  Auf- 
gabe dieser  Abhandlung  soll  es  sein,  festzustellen,  was  wir  für  die 
Ernährungsfragen  aus  den  Haushaltungsbudgets  erfahren  können, 
und,  was  vielleicht  wichtiger  ist,  nach  der  negativen  Seite  hin  ab- 
zugrenzen, worüber  uns  dieselben  keinen  Aufschluß  geben  können.1) 

l)  Als  Grundlagen  der  Untersuchung  sind  dabei  im  wesentlichen  folgende 
Haushaltungsbudgets  benutzt  worden: 

Von  älteren,  zunächst  die  von  Ducpetieux  1853  in  Belgien  aufgenommenen 
Budgets  von  Arbeitern  aller  Berufe  und  Lohnklassen  und  auch  einiger  wohlhabender 
Familien,  in  der  für  die  ganze  Frage  grundlegenden  genialen  Bearbeitung  durch 
Ernst  Engel  (Ztschr.  des  sächsischen  Statist.  Bureaus  Nr.  8  u.  9,  22.  Nov.  1857), 
wieder  abgedruckt  und  erneut  bearbeitet  als  „Die  Lebenskosten  belgischer  Arbeiter- 
familien früher  und  jetzt"  (Dresden  C.  Heinrich  1895).  ('•)    Sodann  die  berühmten 

20* 


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3o8 


Fritz  Kestncr, 


Es  handelt  sich  bei  den  bisher  vorliegenden  brauchbaren  Budgets 
in  der  Mehrzahl  um  industrielle  städtische  Arbeiter.    Für  landwirt- 

Familienmonograpbien  von  L  c  Play  and  seinen  Schülern,  herausgegeben  unter  dem 
Namen  „Les  ouvriere  Europeens"*)  und  „Les  ouvriers  de  dcux  mondes".**)  (2.) 
Weiter  aus  dem  letzten  Drittel  des  Jahrhunderts: 

Die  belgische  Enquete  vom  April  1891  —  Fabrikarbeiter  aller  Art  —  in 
Engels  Bearbeitung  von  1895. 

Singer,  Untersuchungen  über  die  sozialen  Zustände  in  den  Fabrikbezirken  des 
nördlichen  Böhmens:  Arbeiter  einer  Baumwollspinnerei,  in  Grotjahns  Bearbeitung. 
Ganz  schlecht  gelohnte  Arbeiter. 

Ball  in,  Der  Haushalt  der  arbeilenden  Klassen.  Berlin  1883.  Mehrere  Familien 
des  Arbeiter-  und  des  Mittelstandes  in  Berlin.  (3.) 

Dehn,  Deutsche  Haushaltungsbudgets.  Annalen  des  Deutschen  Reichs.  1879 
bis  1881.  10  Mülhausener  und  einige  andere  süddeutsche  und  Berliner  Arbeiter- 
familien. (4.) 

Hampke,  Das  Ausgabebudget  der  Privatwirtschaften,  Jena  1888.  7  Budgets 
von  Familien  verschiedener  Einkommenshöbe  in  Halle  a.  S.  (5.) 

Schnapper-Arndt,  5  Dorfgemeinden  auf  dem  hohen  Taunus.  Schmollers 
st.-  u.  sozialwissensch.  Forschungen.  Bd.  IV,  1883:  l  Chausseearbeiter  und  1  Nagel- 
schmied. Derselbe,  1  Ubrschildmacber  im  badischen  Schwarzwald  1878.  Ztschr.  für 
die  ges.  Staatswisssch.,  1880.    Alle  drei  mit  sehr  geringem  Einkommen.  (6.) 

Landolt,  10  Baseler  Arbeiterhaushaltungen.  Ztschr.  für  Schweiz.  Statistik 
1891.   Davon  5  arme,  3  mittel-  und  2  relativ  wohlsituierte.  (7.) 

Fl  esc  h,  Frankfurter  Arbeiterbudgets  (3)  1890.  (8.) 

Woerishoffer,  Die  soziale  Lage  der  Zigarrenarbeiter  im  Großherzogtum 
Baden,  1889.    15  Budgets.    Arm.  (9.) 

Woerishoffer,  Die  soziale  Lage  der  Fabrikarbeiter  in  Mannheim  und  dessen 
nächster  Umgebung.    189t.    10  Arbeiter.    Nicht  ganz  arm.  (10.) 

v.  Rechenberg,  Die  Ernährung  der  Handweber  in  der  Amtshauptmannschaft 
Zittau.    1890.    28  Weber.    Ganz  arm.  (11). 

Kuhna,  Die  Ernährungs Verhältnisse  der  industriellen  Arbeiterbevölkerung  in 
Oberscblesien  1891 — 1892.    100  Arbeiter  verschiedenster  Lohnschichten.  (12.) 

F  u  c  h  s ,  Die  soziale  Lage  der  Pforzheimer  Bijouteriearbeiter.  1901.  1  Kabinett» 
meister  und  16  meist  besser  situierte  Arbeiter.  (13.) 

Hof  mann,  Zwei  Haushaltungsbudgets  aus  dem  Kanton  Thurgau.  Zeitschr. 
für  Schweiz.  Statistik  1892.    2  Mittelstandsfamilicn.  (14.) 

M.  May,  Wie  der  Arbeiter  lebt  Berlin  1897.  2°  südwestdeutsche  Arbeiter- 
familien aus  verschiedenen  Schichten.  (15.) 

Arbeitersekretariat  Nürnberg:  Haushaltungsrechnungen  Nürnberger  Arbeiter 
(44)  herausgegeben  von  Adolf  Braun,  Nürnberg.  1901.  Gut  gelohnte  Arbeiter.  (16.) 
Ferner  auch  noch: 

*)  Im  folgenden  immer  abgekürzt  mit  O.  E. 
Abgekürzt  mit  o.  d.  d.  m. 


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Die  Bedeutung  d.  Haushaltungsbudgets  f.  d.  Beurteilung  d.  Ernährungsproblems.  309 


schaftliche  Arbeiter  und  wohlhabendere  Personen  fließen  die  Quellen 
spärlicher.  Es  ist  aus  verschiedenen  Gründen  äußerst  schwer, 
genaue  Budgets  der  ländlichen  Bevölkerung  aufzunehmen,  die 
sich  zur  Vergleichung  mit  städtischen  eigneten.  Sie  stehen  größten- 
teils unter  dem  Zeichen  wirtschaftlicher  Gebundenheit.  Ausgaben 
für  Wohnung  kann  man  meißtenteils  nur  mit  Schätzungen  ein- 
setzen; denn  die  Wohnung  ist  entweder  Eigentum  oder  wird  vom 
Arbeitgeber  geliefert.  Die  verzehrten  Nahrungsmittel  richtig  zu  be- 
messen bietet  große  Schwierigkeiten,  wo  dieselben  selbst  gewonnen 
oder  als  Teil  des  Lohnes  geliefert,  jedenfalls  nicht  gekauft  werden. 
Ebenso  fehlt  es  sehr  an  brauchbaren  Budgets  der  wohlhabenden 
Klassen.  Die  Führer  der  Haushaltsbücher  gestatten  nur  ungern  die 
Veröffentlichung,  weil  sie  befürchten,  an  der  Individualität  ihrer 
Ausgaben  von  anderen  erkannt  zu  werden,  so  daß  der  Schleier  der 
Anonymität  zerrisse.  Vor  allem  aber  fällt  es  äußerst  schwer, 
typische  Budgets  zu  erhalten,  um  so  schwerer,  je  weiteren  Spiel- 
raum das  freie  Einkommen  den  Neigungen  seiner  Besitzer  läßt. 

Will  man  nun  eine  Vergleichung  dieser  verschiedenen  Budgets 
aufstellen,  so  muß  zunächst  betont  werden,  daß  dies  vom  Stand- 

v.  d.  Goltz,  Die  Lage  der  ländlichen  Arbeiter  im  Deutschen  Reich,  Bericht  usw. 
1875.  S.  486.  Detaillierbare  Budgets  von  ländlichen  Arbeiterfamilien  in  Ost- 
preußen und  Wernigerode. 

Hemer  eine  Reihe  anderer,  jedesmal  aufzuführender  Einzelbudgets. 

Von  den  Bearbeitungen  dieser  Budgets  sind  hervorzuheben,  außer  den  bereits 
angeführten  Abhandlungen,  folgende  Aufsätze  und  Vorträge  Engels: 

Engel,  Der  Kostenwert  des  Menschen.  1883.  Volkswirtsch.  Zeitsch.,  Heft 
37.  38. 

Engel,  Das  Rechnungsbuch  der  deutschen  Hausfrau.  Volkswirtsch.  Ztschr. 
Heft  24. 

Engel,  Preis  der  Arbeit  bei  den  preußischen  Eisenbahnen.  Ztschr.  des  pr. 
stat.  Bureaus.    1874.  I. 

Ferner  die  schon  zitierte  Arbeit  Hampkes,  dann  „Die  Haushaltung  der 
arbeitenden  Klassen"  von  Gr  über,  Jena  1887  und  vor  allem  Grotjahn,  „Über 
Wandlungen  in  der  Volksernährung",  Schmollers  Staats-  und  sozialwiss.  For- 
schungen XX,  2.  1902,  dessen  vergleichende  Zusammenstellung  erst  diese  Arbeit 
ermöglicht  hat,  dessen  Schlußfolgerungen  jedoch  auch  den  Anlaß  zu  der  im  zweiten 
Teil  dieses  Aufsatzes  geübten  Kritik  gegeben  haben. 

Endlich  habe  ich  auch  an  einigen  Punkten  Haushaltungsbudgets*)  benutzen 
können,  die  ich  seit  *'«  Jahren  in  Leipzig-Ostheim  (einem  Komplex  von  Arbeiter- 
wohnungen) aufnahm. 

•)  Im  folgenden  wird  Haushaltungsbudgets  immer  mit  HHB.  abgekürzt. 


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ßio  Fritr  Kestner, 

punkt  strenger  Methodik  ein  'Unding  ist.  Denn  die  HHB.  sind  alle 
auf  ganz  verschiedene  Weise  zu  stände  gekommen :  die  einen  aus 
ein-  oder  mehrjährig  geführten  Aufzeichnungen  (so  die  von 
Ducpetiaux,  Landolt,  May,  Hofmann,  Braun,  Hampke,  teilweise  auch 
von  Le  Play  und  seinen  Schülern),  die  anderen  auf  Grund  von 
Budgets,  die  kurze  Zeit  geführt  und  dann  multipliziert  worden  sind 
(so  von  Dehn,  Ballin,  v.  d.  Goltz,  Singer,  sowie  die  belgische 
Enquete  von  1891),  die  dritten  wieder  nicht  auf  Grund  von  Haus- 
haltsbüchern, sondern  auf  Grund  eigener  Erhebungen  (so  Kuhna, 
Schnapper  -  Arndt).  —  Wie  HHB.  am  besten  aufzustellen  und 
zu  berechnen  sind,  darüber  besteht  eine  besondere  methodische 
Literatur. l) 

Wollte  man  nun  nur  die  Budgets  vergleichen,  die  auf  Grund 
derselben  Methode  zustande  gekommen  sind,  so  müßte  von  vorn- 
herein jeder  Versuch  aufgegeben  werden.  Will  man  einen  solchen 
aber  wagen,  so  muß  man  die  methodischen  Widrigkeiten  mit  in 
Kauf  nehmen  und  nur  die  offenbar  unrichtigen  HHB.  ausschalten. 
Betont  sei  nur,  daß  die  Erhebungen  für  kürzere  Zeit,  speziell  bei 
der  Nahrung,  geringeren  Bedenken  unterliegen,  als  etwa  bei  Kleidung, 
Wohnung,  Beleuchtung,  —  Ausgaben,  die  weniger  regelmäßig  wieder- 
kehren und  auch  von  der  Jahreszeit  abhängiger  sind. 

Aber  selbst  innerhalb  dieser  weitgezogenen  Grenzen  stößt  die 
Vergleichung  auf  große  Schwierigkeiten,  weil  gemeinsame  Maße 
fehlen.  Man  kann  nicht  eine  Familie  mit  6  Kindern  vergleichen 
einer  mit  2,  Unverheiratete  nicht  mit  Eheleuten.  Daher  dürfte 
man  eigentlich  nur  Familien  mit  ähnlicher,  wenn  nicht  v  gleicher, 
Kopfzahl  und  Alterszusammensetzung  gegenüberstellen.  Dann 
würden  aber  die  ohnehin  spärlichen  Budgets  auf  ein  Minimum 
zusammenschrumpfen  und  „Typen"  ließen  sich  gar  nicht  mehr 
herausfinden.  Um  die  Vergleiche  weiter  ausdehnen  zu  können,  hat 
Engel  einen  Notbehelf  angegeben.  Er  nahm  an,  daß  ein  neu- 
geborenes Kind  1  brauche,  dann  jedes  Jahr  um  0,1  mehr,  bis  der 
Mann  mit  25  Jahren  das  Maximum  =  3,5,  die  Frau  mit  20  Jahren 
=  3,0  erreiche.  Die  I  wird  (nach  Quetelct)  Quet  genannt.9) 
Kennt  man  das  Alter  der  einzelnen  Glieder,  so  kann  man  jede 
Familie  in  Quets  umrechnen. 

')  Am  instruktivsten  die  Abhandlungen  von  Landolt  in  der  Ztschr.  für  Schwei«. 
Statistik  1894,  473  (Kongreß-Debatte)  und  Schnapper-Arndt,  zur  Geschichte  und 
Kritik  der  Privatwirtschaftsstatistik.    Bull,  de  l'institut  internat.  de  statistique  Ed.  2. 

f)  Die  nähere  Begründung  dieser  Rechnung  bei  Engel  (s.  S.  469I 


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Die  Bedeutung  d.  Haushaltungsbudgets  f.  d.  Beurteilung  d.  Ernäbruugsproblems.     ^  1 1 

Diese  Methode  ist  im  allgemeinen  anerkannt  worden,  wenn 
auch  vereinzelt  mit  Modifikationen,  Engel  selbst  hat  sie  für  die 
belgischen  Erhebungen  von  1853  und  1891  angewandt  und  neuer- 
dings hat  sich  G  r  o  t  j  a  h  n  der  Mühe  unterzogen,  diejenigen  zu- 
verlässigen Budgets,  die  Gewichtsangaben  für  Nahrung  enthalten,  auf 
dasselbe  gemeinsame  Maß  zu  bringen.  Als  solches  wählt  er 
3,5  Quets,  das  sind  die  Einheiten  des  ausgewachsenen  Mannes.  Ich 
berücksichtige  daneben  auch  die  Budgets,  die  nur  die  Ausgaben 
enthalten,  da  sich  aus  diesen  wenigstens  das  Verhältnis  der  einzelnen 
Klassen  schon  erkennen  läßt ;  auch  ist  auf  die  Quantitäten  allein 
nicht  der  Hauptwert  zu  legen.  Die  Nürnberger  HHB.  habe  ich  auf 
Grund  der  mir  von  Dr.  Adolf  Braun  freundlichst  zur  Verfugung  ge- 
stellten Angaben  über  das  Alter  der  Kinder  in  Quets  umgerechnet.1) 
Dabei  ist  aber  zu  betonen,  daß  es  sich  bei  diesen  Maßen  immer 
nur  um  einen  Notbehelf  handelt  und  daß  man  wirklich  exakte  Ver- 
gleiche weder  aus  dieser,  noch  aus  anderen  Methoden  gewinnen  kann. 

I.  Abschnitt. 

Von  den  beiden  Nahrungsmittelgruppen,  die  wir  unterscheiden, 
wende  ich  mich  zunächst  den  animalischen,  und  zwar  dem 
Fleisch  zu : 

I.  Grotjahn  hat  in  der  oben  angegebenen  Weise  den 
Fleischverbrauch  berechnet  bei  den  in  der  Anm.  auf  Seite  1 
unter  2  und  6 — 13  angegebenen  Gruppen.  Zieht  man  die  Angaben 
zusammen,  so  erhält  man  folgende  Resultate: 

Der  Fleischverbrauch  war  ganz  minimal  bei  den  Zittauer 
Webern,  von  denen  8/4  unter  10  kg  jährlichen  Verbrauch  auf  die 
erwachsene  männliche  Person  hatten  und  keine  Familie  über  20  kg ; 
bei  den  böhmischen  Spinnern,  dem  Chausseearbeiter  und  dem 
ländlichen  Schmied  von  Schnapper  -  Arndt,  durchgängig  unter 
10  kg.  Ebenfalls  sehr  niedrig  bei  den  15  Familien  badischer 
Tabaksarbeiter,  von  denen  12  unter  30  kg,  4  unter  10  kg  brauchten. 
Von  den  176  Arbeiterfamilien  der  belgischen  Enquete  verbrauchten 
118  weniger  als  30  kg,  nur  15  mehr  als  50  kg.  Von  den  Baseler 
Haushaltungen  (Landolt)  hat  die  Mehrzahl  ebenfalls  weniger  als 


l)  Das  Alter  war  nicht  zu  erfahren  bei  7  Familien  mit  Gesamtausgaben  von 
1115,47—1378,58—1410,67—1584,77—1636,42—1714,93—1940,89  Mk.  Diese  sind 
daher  bei  allen  folgenden  Geldberechnungen  fortgelassen  worden. 


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312 


Fritz  Kestner, 


30  kg.  Ganz  verschieden  ist  der  Verbrauch  schlesischer  Arbeiter 
nach  den  multiplizierten  und  wenig  zuverlässigen  Angaben  Kuhnas. 
Bei  den  Mannheimer  Fabrik-  und  den  Pforzheimer  Goldarbeitern 
ist  der  Verbrauch  größer,  meist  über  20  kg,  wenn  auch  nur  selten 
über  50  kg.  In  den  städtischen  und  ländlichen  Angaben  der  O.  £. 
und  o.  d.  d.  m.  —  aus  allen  Teilen  Europas  —  finden  sich  die  ver- 
schiedensten Angaben;  in  Stadt  und  Land  kommen  hohe  und 
ganz  niedrige  Ziffern  vor.  —  Ganz  anders  ist  der  Fleisch- 
verbrauch bei  den  Wohlhabenden,  sowohl  bei  den  von  Ducpötiaux 
1853  für  Belgien  beobachteten  6  Familien,  als  auch  bei  6  wohl- 
habenderen aus  jüngerer  Zeit,  3  Berliner  Kaufleuten  (Ballin  und 
Dehn),  einem  Berliner  Arzt  (Grotjahn),  einem  Thurgauer  Beamten 
(Hofmann)  und  einem  kaufmännischen  Angestellten  der  Charente 
(o.  d.  d.  m.).  Ihr  Fleischverbrauch  ist  durchgängig  zwischen  80  und 
150  kg. 

Erkennbar  ist  der  Zusammenhang  zwischen  Einkommen  und 
Fleischverbrauch;  dieser  ist  desto  höher,  je  besser  gelohnt  die 
Schicht  ist.  Zwischen  ländlicher  und  industrieller  Bevölkerung  ist 
ein  prinzipieller  Unterschied  nicht  zu  erkennen. 

Grotjahn  stellt  besonders  fest,  daß  je  kümmerlicher  das 
Budget  im  allgemeinen,  desto  geringer  auch  der  Fleischverbrauch 
sei,  und  daß  er  bei  den  unteren  Klassen  hinreichend  nur  dort  sei, 
wo  ein  Schwein  gemästet  würde.  Die  Vorliebe  für  Fleisch  sei  im 
Wachsen  begriffen. 

Die  anderen  Budgets,  die  nur  Ausgaben  enthalten,  bestätigen 
die  obige,  an  sich  selbstverständliche  Behauptung,  daß  Höhe  des 
Einkommens  und  Fleischverbrauch  proportional  sind.  Zunächst 
handelt  es  sich  bei  diesen  um  die  Arbeit  von  Engel  (1)  über  die 
Lebenskosten  belgischer  Arbeiter  1853  und  1891.  Auf  1  Quet 
kamen  1853  jährliche  Ausgaben  in  Mark  für  Fleisch  bei  Gesamt- 
ausgaben *)  von 

— 600  fr.       — 900  fr.       — 1200  fr.       — 2000  fr.    über  2000  fr.  zusammen 
0,34  1,1 1  2,9  4,41  7.97  2.15 

Der  Jahreskonsum  einer  erwachsenen  männlichen  Person  betrug 
im  Durchschnitt  bei 


')  Man  kann  zweifeln,  ob  eine  Vergleichung  mit  dem  Einkommen  oder  Gesamt- 
ausgaben prinzipiell  richtiger  ist.  Für  beides  sprechen  Gründe.  Ich  folge  der  all- 
gemeinüblichen  Metbode.    Sehr  erheblich  ist  der  Unterschied  nicht. 


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Die  Bedeutung  d.  Haushaltungsbudgets  f.  d.  Beurteilung  d.  Ernährungsproblems.    3  j  3 


Stadt 
Land 


dürftigen     auskommenden     sparfähigen  Familien 
1,46  9.77  18,60 

o,73  8,95  17,76 


Die  Familien  in  der  belgischen  Enquete  von  1891  teilt  er  nach 
der  Höhe  der  Gesamtausgaben  in  neun  Sozialklassen  ein ;  es  gaben 
jährlich  pro  Quet  für  Rind-  und  Schweinefleisch  aus  die  Familien 
mit  Gesamtausgaben  von 

—  70fr.  — 8cfr.  —90fr.  —  100fr. — 110fr. — 120fr.  — 130  fr. —140fr.  üb.  140fr.  pro  Quet 
3,50     5,08     7,16      9,14      io.oi      11,21       14,88     15,71  19,43 

Aus  diesen  Zahlen  kann  man  mit  Engel  folgende  Schlüsse 
ziehen : 

1.  Bei  dürftigen  Familien  war  der  Jahreskonsum  1853  ganz 
minimal,  sowohl  auf  dem  Lande,  wie  in  der  Stadt.  Auch  bei  aus- 
kommenden und  sogenannten  sparfähigen  Familien  ist  er  noch  sehr 
gering.  Bei  den  Wohlhabenden  in  Ixelles  —  in  der  Tabelle  auf- 
geführt —  ist  er  beträchtlich. 

2.  Mit  wachsendem  Einkommen  steigt  1853  sofort  und  an- 
dauernd der  Fleischverbrauch  sehr  stark,  von  unter  600  bis  über 
1 200  Fr.  auf  das  zehnfache  und  darüber  hinaus  auf  das  zwanzigfache. 

3.  1853  war  der  Fleischverbrauch  auf  dem  Lande  durchgängig 
niedriger  als  in  der  Stadt. 

4.  1891  sind  die  für  Fleischnahrung  verwandten  Summen  in 
den  untersten  Schichten  sehr  gering;  auch  hier  steigen  sie  ganz 
regelmäßig  und  rasch  bei  steigendem  Einkommen.  —  Über  die 
Veränderungen  von  1853— 1891  s.  später  S.  334. 

Engel  bemerkt  daher:  Der  Verbrauch  tierischen  Eiweißes  ist 
ein  Maßstab  des  Wohlstandes.  — 

Hampke  unterscheidet  bei  seiner  Aufnahme  in  Halle  vier 
Wohlhabenheitsstufen :  in  der  ersten  je  ein  Weichensteller,  Schneider 
und  Maler  mit  durchschnittlich  1094  Mk.  Gesamtausgaben,  in  der 
2.  ein  Rentier  mit  3045  Mk.,  in  der  3.  ein  Fabrikant  mit  7945  Mk., 
in  der  4.  ein  hoher  Beamter  mit  18  206  Mk.  Gesamtausgaben.  Es 
betrug  der  Verbrauch  jährlich  in  Mk.  in  der  Klasse 


I.  Ii.  Iii. 

für  Heisch  72,45  315.5°  837,60 

Wurst  und  Schinken  25.94  85,0  122,40 


IV. 
1188  Mk. 


224  „ 


oder  es  stieg  der  Verbrauch  von  Stufe  zu  Stufe  von 

Fleisch  1        auf        4,3  11,6 

Wurst  und  Schinken      I  3,3  4,8 


16,4 

8,6 


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314 


Fritz  Kestncr, 


Viel  beweisen  so  wenige  Fälle  natürlich  nicht  Sie  bestätigen 
die  Engel  sehen  Angaben.  — 

Auch  nach  den  Nürnberger  Erhebungen  von  1899  steigen  die 
Ausgaben  für  Fleisch  bis  zu  der  Stufe  von  1500  Mk.  Gesamtaus- 
gaben; in  den  höheren  Stufen  sind  sie  prozentual  gleich. 

Über  den  Verbrauch  der  einzelnen  Fleischsorten  wird  die  An- 
gabe gemacht,  daß  das  Verhältnis  von  Rind-,  Schwein-,  Kalb-  und 
Hammelfleisch  wäre  wie  235:82:39:8.  Durchschnittlich  verzehre 
eine  Familie  251  gr.  Fleisch,  das  sei  so  viel,  als  man  in  bürger- 
lichen Familien  auf  den  Kopf  rechne. 

II.  Der  Fettverbrauch  ist  bei  allen  beobachteten  Gruppen 
sehr  gleichmäßig.  Bei  der  ganz  überwiegenden  Mehrzahl  aller  be- 
trägt er  10 — 20  kg  jährlich  für  die  erwachsene  männliche  Person. 

Unter  10  kg  sinkt  der  Fettverbrauch  bei  dem  Chausseearbeiter 
und  dem  Schmied  Schnapper-Arndts,  sowie  erheblichen  Teilen  der 
Mannheimer,  Pforzheimer  und  badischen  Tabaks-  und  Baseler  Ar- 
beiter, der  böhmischen  Spinner,  der  belgischen  und  der  industriellen 
Arbeiter  der  o.  d.  d.  m.;  und  einem  noch  größeren  Teil  der  Land- 
arbeiter der  o.  d.  d.  m.  —  Dagegen  steigt  er  bis  zu  30  kg  bei 
den  wohlhabenden,  sowie  einem  Teil  der  gut  gelohnten  Arbeiter, 
der  ländlichen  Bevölkerung,  industriellen  Arbeiter  aus  dem  O.  E. 
und  der  o.  d.  d.  m.,  der  schlesischen  Arbeiter  und  Zittauer 
Weber.  Über  30  kg  kommen  nur  in  vereinzelten  Fällen  vor.  Im 
allgemeinen  ist  also  der  Fettverbrauch  bei  den  Wohlhabenden  etwas 
höher,  aber  keineswegs  durchgängig.  Zwischen  Stadt  und  Land 
ist  ein  allgemeiner  Unterschied  nicht  zu  erkennen. 

Auch  Grotjahn  konstatiert,  daß  sich  die  geringen  Schwan- 
kungen in  verhältnismäßig  engen  Grenzen  hielten.  Genügend  sei 
der  Fettverbrauch  bei  den  Minderbemittelten  nur,  soweit  sie  ein 
Schwein  hielten.  Er  hebt  ferner  die  zunehmende  Verdrängung 
der  pflanzlichen  durch  tierische  Fette  und  die  hohe  Wertschätzung 
der  Butter  hervor,  die  bei  den  Wohlhabenden  fast  identisch  mit 
Fett  wird.  — 

In  der  En  gel  sehen  Lebenskosten  belgischer  Arbeiter  finden 
sich  wesentliche  Differenzen  zwischen  1853  und  1891. 

Der  Fettverbrauch  nahm  1853  von  Klasse  zu  Klasse  erheblich 
zu,  von  1,92  Mk.  pro  Quet  bei  Gesamtausgaben  von  unter  600  Frcs. 
bis  auf  10,65  Mk.  pro  Quet  bei  Ausgaben  über  2000  Frcs.,  stieg  also 
fast  auf  das  10  fache.  Er  war  auf  dem  Lande  etwas  größer  als  in 
der  Stadt.    Bis  1891  ist  er  so  stark  gestiegen,  daß  er  jetzt  auf  der 


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Die  Bedeutung  d.  Haushaltungsbudgets  f.  d.  Beurteilung  d.  Ernährungsproblems.    3  j  5 

niedrigsten  Einkommenstufe  so  hoch  ist,  wie  damals  auf  den  höchsten. 
Auch  1891  steigen  mit  wachsendem  Einkommen  die  Ausgaben  für 
Fett,  aber  nur  bis  zu  einer  gewissen  mittleren  Grenze;  von  da  an 
bleiben  sie  stabil.  Bei  Gesamtausgaben  bis  70  Frcs.  betragen  sie 
8,16  Mk.  pro  Quet,  bei  Ausgaben  von  100— 1 10  Frcs.  15,16  Mk., 
bei  Ausgaben  von  130—140  Frcs.  15,70  Mk.  — 

In  den  7  Hallenser  Budgets  von  Hampke  wurden  ausgegeben 
in  der  Wohlhabenheitsstufe 

L  II.  III.  IV. 

flir  Butter  55,77  98,50  232,50  482  Mk. 

„  Fette  26,93  49,8o  50,90  40 

oder  es  stiegen  die  Ausgaben  von  Stufe  zu  Stufe  wie 

bei 

Butter         von       1  1,8  4.2  8.6 

Fetten  „        l  1,8       :       1,8  1,5 

Der  Butterverbrauch  steigt  also  mit  wachsendem  Einkommen 
wesentlich,  der  von  Fetten  unwesentlich.  — 

Nach  den  Nürnberger  Aufnahmen  war  der  Verbrauch  auf 
1  Quet  in  Mark  bei  Gesamtausgaben  bis 

bei  —  1 000  Mk.  —  1 250  Mk.  —  1 500  Mk.  —  1 750  Mk.  —2000  Mk.  üb.  2000  Mk. 

Butter  0,92  0,75  1,03  1,63  1,60  1,48 

anderen  Fetten      1,7  2,1  2,3  2,7  2,8  3,4 

Doch  sind  unter  1000  Mk.  nur  eine  und  über  2000  Mk.  nur 
zwei  Familien  dargestellt. 

Die  Angaben  lassen  auf  einen  sehr  geringen  und  besonders  in 
den  unteren  Klassen  unbefriedigenden  Fettverbrauch  schließen. 

Das  Ergebnis  ist  darnach  im  ganzen  folgendes: 

1.  Der  Fettverbrauch  steigt  zwar  mit  wachsendem  Einkommen 
bis  zu  einer  gewissen  Grenze,  ist  aber  im  ganzen  nicht  sehr  ver- 
schieden ;  er  sinkt  selten  unter  ein  gewisses  Maß,  da  er  sich  weniger 
einschränken  läßt,  als  der  Fleischkonsum  und  bei  geringem  Ein- 
kommen oft  das  Fleisch  ergänzen  muß. 

2.  Die  Hauptunterschiede  liegen  hier  in  der  Qualität;  mit  zu- 
nehmender Wohlhabenheit  überwiegt  die  Butter. 

3.  Zwischen  Stadt  und  Land  ist  ein  prinzipieller  Unterschied 
in  der  Quantität  nicht  festzustellen. 

4.  Soweit  erkennbar,  ist  der  Fettverbrauch  gestiegen. 


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3i6 


Fritz  Kcstner, 


5.  Zu  bemerken  ist  noch,  daß  Fett  wegen  seiner  Eigenschaft 
als  Heizmittel  *)  im  Norden  mehr  konsumiert  wird,  als  im  Süden. 

III.  Von  andern  animalischen  Nahrungsmitteln,  außer  Fleisch 
und  den  tierischen  Fetten,  kommen  noch  Milch  und  Käse  in  Be- 
tracht. Es  muß  darauf  verzichtet  werden,  eine  Vergleichung  des  Milch- 
verbrauchs vorzunehmen,  so  wichtig  auch  seine  genaue  Feststellung 
wäre.  Aber  einmal  sind  unsere  Kenntnisse  über  diesen  Punkt  zu 
lückenhaft  und  sodann  hängt  der  Milch  verbrauch  in  erster  Linie 
von  der  Kinderzahl  ab.  Darum  versagt  hier  völlig  die  Um- 
rechnung auf  Engeische  Einheiten.  Bei  den  Erwachsenen  aber 
wird  der  Verbrauch,  in  viel  höherem  Maße  als  bei  Fleisch  und 
Zerealien,  von  der  Geschmacksrichtung  beeinflußt.  Bei  meinen 
eigenen  Aufnahmen  in  Leipzig- Ostheim  fand  ich  zwei  Familien  mit 
fast  gleichem  Einkommen  und  Kinderzahl,  von  denen  die  eine 
wöchentlich  1,20,  die  andere  0,20  Mk.  für  Milch  ausgab.  Die 
erstere  Familie  erklärte  Milch  für  das  einzig  wirklich  gute  Nahrungs- 
mittel, die  andere  für  „schlampig"  und  ungesund.  Die  Nürnberger 
Erhebungen  scheinen  diese  Erfahrungen  zu  bestätigen.  Die  jähr- 
lichen Ausgaben  schwanken  zwischen  17  und  163  Mk.,  zwischen 
1,29  und  8,32  Proz.  der  Gesamtausgaben. 

Ad.  Braun  selbst  findet,  daß  die  Ausgaben  für  Milch  bei 
größerer  Wohlhabenheit  steigen.  Dasselbe  findet  Engel  für  die 
belgischen  Arbeiter  von  1891  und  Hampke  für  die  Hallenser 
Familien. 

Der  Milchverbrauch  war  ferner  sehr  hoch  bei  den  Baseler  Ar- 
beitern, durchschnittlich  400  Liter  jährlich  für  die  erwachsene  männ- 
liche Person,  sehr  niedrig  andererseits  bei  den  Zittauer  Webern. 

Grotjahn  selbst  konstatiert,  daß  die  Milch  in  steigendem 
Maße  von  erwachsenen  Personen  gemieden  werde. 

Es  läßt  sich  also  auf  Grund  der  HHB.  wenig  über  den  Ver- 
brauch an  Milch  —  und  ebenso  von  Käse  —  sagen.  Wahrschein- 
lich ist  —  auch  nach  sonstigen  Angaben  — ,  daß  mit  wachsendem 
Einkommen  der  Milchverbrauch  steigt.  Die  Qualität  spielt  dabei 
eine  große  Rolle.  Daß  das  I^nd  hierin  und  wohl  auch  in 
der  Quantität  die  Stadt  übertrifft,  ist  sehr  wahrscheinlich.  —  Der 
Milchverbrauch  wird  bei  den  Angaben  über  animalische  Nahrung 
im  ganzen  nochmals  berücksichtigt. 

IV.  Der  Verbrauch  an  Zerealien  hält  sich  ziemlich  gleich- 


')  Dies  ist  nicht  unbestritten. 


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Die  Bedeutung  d.  Haushaltungsbudgets  f.  d.  Beurteilung  d.  Ernährungsproblems.  317 


mäßig  zwischen  100  und  303  kg  auf  den  erwachsenen  Mann,  nur 
ganz  ausnahmsweise  sinkt  er  unter  100  kg;  andererseits  steigt  er 
in  der  städtischen  Bevölkerung  selten  über  300  kg.  Etwas  unter 
dem  Durchschnitt  stehen  die  badischen  Tabaksarbeiter  und  durch- 
gängig die  Wohlhabenden;  etwas  darüber  die  Zittauer  Weber,  die 
Pforzheimer  Goldarbeiter,  die  belgischen  Arbeiter  und  ganz  erheb- 
lich die  ländliche  Bevölkerung  der  O.  E.  und  der  o.  d.  d.  m. ;  31 
HHB.  von  45  weisen  hier  einen  Verbrauch  von  mehr  als  300  kg 
auf,  6  sogar  über  500,  Mengen,  die  die  städtische  Bevölkerung  nie- 
mals erreicht. 

Grotjahn  konstatiert  besonders,  daß  bei  Bauern,  Land- 
arbeitern, Gesinde  und  ländlichen  Handwerkern  die  Zerealien  über- 
wiegen, sowie  daß  die  Wertschätzung  des  Weißbrotes  gegenüber 
dem  Roggenbrot  stiege. 

Letzteres  stellt  auch  Engel  für  die  belgischen  Arbeiter  fest; 
während  der  Weißbrotkonsum  wesentlich  gestiegen  ist,  ist  der  von 
Roggenbrot  stark  zurückgegangen.  1853  wuchs  der  Verbrauch  an 
Weizenbrot  mit  steigendem  Einkommen.  Diese  Tendenz  besteht 
zwar  1891  noch,  aber  längst  nicht  so  stark.  Von  einer  mittleren 
Stufe  —  etwa  110  fr.  Gesamtausgaben  pro  Quet  —  bleiben  die 
Ausgaben  für  Weißbrot  und  Brot  überhaupt  stabil,  während  sie  1853 
andauernd  stiegen.  1853  verzehrte  das  Land  an  Roggenbrot  das 
3 — 4  fache,  an  Weizenbrot  dagegen  ein  Drittel  des  städtischen 
Konsums.    Für  1891  fehlen  getrennte  Angaben  in  Stadt  und  Land. 

In  den  7  Hallenser  Budgets  Hampkes  gaben  aus: 

Wohlhabenheitsstufe        I.  II.  III.  IV. 

für  Weizenbrot  »2,58  66,00  87,00  277.00 

„  Roggenbrot  117,07  92,55  154.00  187,00 


Hier  bleiben  also  die  Ausgaben  für  Roggenbrot  konstant, 
während  die  von  Weizenbrot  sehr  stark  steigen.  — 

In  den  Nürnberger  Erhebungen  ist  der  Brotverbrauch  in 
den  einzelnen  Klassen  nicht  sehr  verschieden;  er  steigt  bei  allen 
Brotsorten,  sowie  auch  bei  Kuchen  (der  hier  in  Weißbrot  ein- 
gerechnet ist),  etwas  mit  wachsendem  Einkommen  —  von  13,8 
bezw.  11,1  Mk,  pro  Quet  bei  Gesamtausgaben  unter  1000  bzw. 
1250  Mk.  auf  17,5  bzw.  17,7  Mk.  bei  Ausgaben  über  1750  bzw. 


oder  es  stiegen  die  Ausgaben 


wie  von 


bei  Weirenbrot 
.1  Roggenbrot 


3 
0,8 


3-9 
1.4 


12,2 

1,7 


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3i8 


Fritz  Kestner, 


2000  Mk.  —  Die  Kinderzahl  spielt  natürlich  eine  sehr  große  Rolle. 
Der  Konsum  von  Weiß-  und  Schwarzbrot  war  ungefähr  gleich, 
anders  als  in  Norddeutschland.  In  meinen  Erhebungen  wird  ziem- 
lich durchgängig  für  Schwarzbrot  5 — 6  mal  soviel  ausgegeben,  als 
für  Weißbrot. 

Im  ganzen  dürfte  etwa  folgendes  festzustellen  sein: 

1 .  Der  Verbrauch  von  Zerealien  zusammen  ist  in  den  minder- 
bemittelten Klassen  ziemlich  gleichmäßig,  erleidet  nur  bei  sehr  ge- 
ringem Einkommen  öfters  erhebliche  Einschränkungen.  Uns  fehlen 
aber  die  Budgets  der  ganz  armen  Bevölkerung.  —  Bei  größerer 
Wohlhabenheit  sinkt  der  Verbrauch  im  ganzen,  bleibt  aber  noch 
immer  ziemlich  beträchtlich. 

2.  Mit  größerer  Wohlhabenheit  steigt  der  Konsum  von  Weiß- 
brot auf  Kosten  des  Roggenbrotes.  Doch  spielen  lokale  Verhältnisse 
eine  Rolle.  Der  Verbrauch  von  Weizenbrot  hat  im  ganzen  mehr 
zugenommen,  als  der  von  Roggenbrot. 

3.  Der  Zerealienkonsum  ist  in  der  ländlichen  Bevölkerung 
größer  als  in  der  städtischen. 

V.  Der  Kartoff el  verbrauch  weist  sehr  große  Schwankungen 
auf;  er  ist  sehr  hoch,  d.  h.  durchschnittlich  über  300  kg  auf  den  er- 
wachsenen Mann  bei  den  schlesischen  Berg-,  den  badischen  Tabaks- 
arbeitern, den  böhmischen  Spinnern  und  den  Zittauer  Webern,  auch 
dem  Chausscearbeiter  und  Schmied  bei  Schnapper-Arndt.  Die 
Wohlhabenden  stehen  mit  durchschnittlich  200  kg  etwa  in  der 
Mitte.  Der  Verbrauch  ist  gering,  d.  h.  überwiegend  unter  200  kg, 
bei  den  gut  bezahlten  städtischen  Arbeitern  der  o.  d.  d.  m.  und 
den  Pforzheimer  Goldarbeitern.  Die  anderen  industriellen  Arbeiter 
der  o.  d.  d.  m.,  sowie  die  ländliche  Bevölkerung  weisen  die  ver- 
schiedensten Ziffern  auf,  entsprechend  den  verschiedenen  Herkunfts- 
ländern. 

Grotjahn  stellt  fest: 

1.  Der  Kartoffelkonsum  sei  unter  den  rein  geldwirtschaftlich 
gelohnten  Industriearbeitern  am  weitesten  gediehen,  steige  auch  bei 
den  ländlichen  Arbeitern. 

2.  Mit  wachsender  Wohlhabenheit  verschwinde  die  Kartoffel 
nicht;  sie  trete  neben  die  Zerealien  (Korrelation).  — 

Aus  Engels  Angaben  über  die  belgischen  Arbeiter  geht  her- 
vor, daß  der  Konsum  1891  sehr  gleichmäßig  durch  alle  Schichten 
war  und  gegenüber  1853  etwas  gestiegen  ist,  besonders  in  den 


Uigitizeci  by 


Die  Bedeutung  d.  Haushaltungsbudgets  f.  d.  Beurteilung  d.  Ernährungsproblems.  319 

unteren  Schichten.  1853  war  der  Konsum  auf  dem  Lande  wesent- 
lich größer  als  in  der  Stadt. 

In  der  Nürnberger  Erhebung  besteht  keine  besondere  Rubrik 
für  Kartoffeln,  sondern  nur  für  alle  Wurzelgewächse  zusammen.  Die 
Quetbeträge  sind  in  den  Stufen 

— 1000    —1250    — 1500    — 1750    — 2000    über  2000  Mk.  ges.  Ausgaben 
2,23         2,1  2,8         1,7         2,2  1,9 

Die  Ausgaben  fallen  bis  etwa  1 500  Mk.  und  bleiben  von  da  an  stabil. 
Ad.  Braun  konstatiert,  daß  eine  Familie  durchschnittlich  18 — 19 Mk. 
für  Kartoffeln  ausgebe  und  zwar  die  ärmsten  2 — 3  mal  soviel  als  die 
besser  situierten  Arbeiter.  Überhaupt  spielt  die  Kartoffel  eine  sehr 
große  Rolle.    Vgl.  die  hohen  Gewichtsziffern  auf  S.  74  dortselbst. 

Eine  vergleichende  Betrachtung  des  Kartoffelverbrauchs  wird 
aufs  äußerste  beeinträchtigt  durch  den  Mangel  an  Angaben  für  die 
Arbeiter  mit  ganz  niedrigem  Einkommen.  Von  diesen  besitzen  wir 
eigentlich  nur  die  Budgets  der  Zittauer  Weber,  sowie  von  einigen 
schlesischen,  belgischen  und  Frankfurter  Arbeitern.  Vor  allem  ver- 
sagt hier  völlig  die  Nürnberger  Statistik,  wo  nur  ein  Budget  ge- 
ringere Ausgaben  als  1000  Mk.  aufweist  Die  Angaben  der  O.  E. 
und  der  o.  d.  d.  m.  kommen  andererseits  nur  teilweise  in  Betracht; 
eine  ganze  Reihe  sind  in  Ländern  aufgenommen,  wo  die  Kartoffel- 
nahrung gar  keine  Rolle  spielt  —  Daher  ist  über  die  wichtigste 
Frage,  inwiefern  tritt  bei  niedrigem  Einkommen  die  Kartoffel  an 
Stelle  der  Zerealien,  nur  wenig  zu  sagen.  Andere  Beobachtungen 
ergeben,  daß  dies  der  Fall  war,  ebenso  auch  die  wenigen  Arbeiter- 
budgets, die  wir  aus  ganz  armen  Schichten  haben.  Hätten  wir 
mehr,  so  würde  sich  dasselbe  Ergebnis  sicherlich  noch  schärfer 
herausstellen. 

Abgesehen  davon  ergibt  sich  weiter: 

1.  Von  einer  gewissen  Einkommenshöhe  ab  bleibt  der  Kartoffel- 
konsum stabil  und  nimmt  mit  steigender  Wohlhabenheit  nicht  mehr 
ab.  Es  kann  sein,  daß  diese  von  Grotjahn  beobachtete  Er- 
scheinung allgemein  stimmt,  obgleich  es  nicht  feststeht  Ist  die 
Stufe  erreicht,  auf  der  es  möglich  wird  so  viele  Zerealien  zu 
kaufen  als  es  gewünscht  ist,  so  liegt  keine  Veranlassung  für  oder 
gegen  Beschränkung  des  Kartoffelverbrauchs  mehr  vor.  Es  ent- 
scheiden vielmehr  nun  zwischen  Zerealien  und  Kartoffeln  individuelle 
Neigungen. 

2.  Ob  der  Kartoffelkonsum  im  allgemeinen  auf  dem  Lande 


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320 


Fritz  Kestner, 


oder  in  der  Stadt  größer,  ist  schwer  zu  sagen.  Grotjahn  be- 
hauptet das  letztere;  die  bäuerliche  Bevölkerung  verwende  dagegen 
die  Kartoffel  zur  Schweinemast.  Er  zitiert  ferner  Max  Webers 
Untersuchungen,  wonach  auch  unter  den  ostelbischen  Landarbeitern 
die  Kartoffelnahrung  die  von  Zerealien  verdrängt,  je  mehr  an 
Stelle  der  natural-gelohnten  Insten  die  geld  gelohnten  Tagelöhner 
treten. 

Die  letztere  Behauptungen  dürfte  richtig  sein.  Ob  sich  aber  die 
Kartoffel nahrung  bei  den  industriellen  Arbeitern  wirklich  mehr  aus- 
dehnt als  bei  den  ländlichen,  ist  schwer  zu  sagen.  Aus  dem  vor- 
liegenden Material  ergibt  sich  ein  allgemeiner  Gegensatz  zwischen 
•  Stadt  und  Land  nicht,  vielmehr  wohl  nur  ein  Zusammenhang 
mit  dem  Einkommen.  —  Ich  gehe  hierauf  später  nochmals  ein. 

3.  Inwieweit  endlich  die  Kartoffelnahrung  zugenommen  hat, 
—  daß  sie  zunimmt,  weiß  man  aus  anderen  Quellen,  —  darüber 
läßt  sich  aus  den  HHB.  eigentlich  nur  sagen,  was  die  Engeische 
Vergleichung  zwischen  1853  und  1891  ergibt.  Darnach  sind  die 
Quetbeträge  auf  den  unteren  Stufen  gestiegen,  auf  den  höheren 
ziemlich  gleich  geblieben.  Andererseits  ist  aber  zu  beachten,  daß 
nach  Engel  S.  87  die  Detailpreise  1891  etwa  um  ein  Viertel  höher 
waren  als  1853. 

VI.  Auch  bei  den  übrigen  Vegetabilien,  so  sehr  sie  bei 
der  Ernährung  ins  Gewicht  fallen,  ist  die  Vergleichung  fruchtlos. 
Grotjahn  stellt  fest,  daß  „Hafer,  Gerste,  getrocknete  Linsen, 
Bohnen  und  Erbsen  ganz  aus  der  Volksnahrung  zu  verschwinden 
drohen".  —  In  den  Nürnberger  Erhebungen  wird  konstatiert,  daß 
der  Verbrauch  von  grünen  Gemüsen  und  Salaten  bei  wachsender 
Wohlhabenheit  stiege,  der  anderer  vegetabilischer  Nahrungsmittel 
fiele.  Eine  eigentliche  Regelmäßigkeit  läßt  sich  aber  nicht  fest- 
stellen. 

VII.  Schließlich  wäre  noch  eins  der  wichtigsten  Nahrungsmittel 
zu  erwähnen,  der  Zucker,  der  sich  aber  durchaus  nicht  in  allen 
HHB.  findet  und  nur  bei  den  aus  letzter  Zeit  stammenden  ver- 
gleichen läßt.  In  den  p.  E.  und  o.  d.  d.  m.,  wie  in  den  Ducpetiaux- 
schen  Erhebungen  von  1853  spielt  der  Zuckerverbrauch  erst  eine 
ganz  verschwindende  Rolle.  Die  Angaben  Kuhnas  sind  sehr  un- 
sicher. Bei  den  Zittauer  Webern  fehlt  er  fast  völlig,  bei  den  Baseler 
Arbeitern  ist  er  sehr  gering,  niemals  über  13  kg.  Dagegen  beträgt 
er  bei  den  wohlhabenden  etwa  gegen  25  kg.  Die  Budgets  aus 
England  weisen  durchgängig  höhere  Ziffern  auf.    Grotjahn  be- 


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Die  Bedeutung  d.  Haushaltungsbudgets  f.  d.  Beurteilung  d.  Ernährungsproblems.    32 1 

merkt,  daß  der  höchst  wünschenswerte  Zuckerverbrauch  sich  re- 
spektabel nur  in  den  Budgets  der  wohlhabenden  und  besser  gelohnten 
Arbeiter  fände,  falls  letztere,  wie  in  England  und  den  Vereinigten 
Staaten  von  Amerika,  den  Zucker  billig  erhielten. 

Engel  berechnet  für  den  belgischen  Arbeiter  1 891  ein  ziemlich 
ständiges  Anwachsen  des  Zuckerverbrauchs  von  Stufe  zu  Stufe. 
Ebenso  steigen  in  den  Hallenser  Budgets  Hampkes  die  Ausgaben 
in  den  Wohlhabenheitsstufen 

I.  II.  III.  IV. 

8,42  33,00  117.50  »60  Mk.  oder 

wie      t  4  14  19 

Für  die  Nürnberger  Arbeiter  ergeben  sich  folgende  Quet- 

beträge :  9 

—  1000    -  1250    —1500    —1750    —2000    über  2000  Mk.  Gesamtausgaben 
1,67        1,70        2,6         2,3         2,5  2,0 

Die  Ausgaben  sind  sehr  verschieden,  aber  ziemlich  durchgängig 
höher  bei  kinderarmen  als  bei  kinderreichen  und  bei  besser  situierten 
als  bei  ärmeren  Arbeitern.  Als  Jahreskonsum  werden  pro  Kopf 
10  l/s  kg  berechnet. 

Im  allgemeinen  steht  fest,  daß  der  Zuckerkonsum 

1.  stark  im  Wachsen  begriffen  ist, 

2.  bis  zu  einer  gewissen  Grenze  mit  dem  Einkommen  wächst, 
soweit  nicht  individuelle  Gewohnheiten  Abweichungen  bedingen. 

VIII.  Die  übrigen  Nahrungs-  und  Genußmittel  sind  nicht  so 
allgemein  verbreitet,  daß  es  möglich  wäre,  durchaus  gültige  Er- 
scheinungen herauszufinden.  Dies  könnte  höchstens  für  Salz  und 
Kaffee  geschehen,  der  ja  in  Deutschland  überall  konsumiert  wird. 
Wir  besitzen  aber  für  beide,  wie  für  viele  andere  Stoffe,  ein  besseres 
und  zuverlässigeres  Material  in  den  Ve rbrauchsberechnungen 
auf  Grund  der  Produktions-  und  Außenhandelstatistik.  Von  Inter- 
esse wäre  daher  nur,  den  Verbrauch  des  gesamten  Durchschnitts 
der  Bevölkerung  zu  vergleichen  mit  dem  des  Arbeiterstandes;  da- 
rüber vgl.  später  S.  347. 

Nach  Engels  Berechnungen  steigen  die  Ausgaben  belgischer 
Arbeiter  für  Kaffee  ganz  regelmäßig  mit  wachsendem  Einkommen 
von  1,49  Mk.  pro  Quet  auf  der  niedrigsten,  auf  4.62  Mk.  auf  der 
höchsten  Stufe  1853  und  ebenso  1891  von  2,89  Mk.  auf  6,20  Mk. 
Ebenso  steigen  bei  Hampkc  die  Ausgaben  in  den  4  Wohlhabenheits- 
stufen von  1  :  1,7  :  6,6  :  9,6.  Dagegen  ist  in  Nürnberg  kein  Zu- 
sammenhang mit  dem  Einkommen  ersichtlich. 

Archiv  für  Sonalwwsemchaft  u.  Sozialpolitik.  I.    (A.  f.  »01  G.  u.  St.  XIX.)  ».  21 


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322 


Fritz  Kestner, 


Feststehen  dürfte  wohl,  daß  der  Kaffeekonsum  im  allgemeinen 
bei  größerer  Wohlhabenheit  zunimmt;  der  Hauptunterschied  liegt 
aber  in  der  Qualität. 

Der  Salzverbrauch  ist  dagegen,  wie  aus  anderen  Angaben  be- 
kannt, in  den  niederen  Einkommensschichten  höher. 

IX.  Äußerst  wichtig  wäre  es,  auf  dem  Wege  des  HHB.  den 
Einflüssen  des  Alkohols  näher  zu  kommen.  Aber  hier  versagen 
sie  m.  E.  fast  völlig.  Man  erfährt,  wieviel  Bier  die  Familie  zu 
Hause  trinkt,  aber  fast  niemals,  wieviel  der  Mann  außer  Hauses 
braucht.  Auch  die  Engeischen  Angaben  versagen  hier,  da  in  den 
Wirtshausausgaben  Speisen  und  Getränke  zusammengerechnet  sind. 
Eine  Ausnahme  scheint  nur  die  Nürnberger  Erhebung  zu 
machen,  einmal  wohl,  weil  sie  vom  Arbeitersekretariat  aufgenommen 
ist,  sodann  auch,  weil  dort  die  Antialkoholbewegung  die  Menschen 
noch  nicht  scheu  gemacht  hat  in  der  Angabe  ihres  Alkoholver- 
brauchs. 

In  den  Nürnberger  Haushalten  wurden  nun  9,21  °/0  der  Ge- 
samtausgaben auf  Bier  verwandt.  Andere  Getränke  kommen  für 
Nürnberg  nicht  in  Betracht,  auch  Branntwein  nicht  (o,il°/0  der 
Gesamtausgaben).  Die  Ausgaben  sind  in  den  einzelnen  Familien 
sehr  verschieden ;  mit  wachsendem  Einkommen  steigen  sie  absolut, 
aber  nicht  relativ.    Es  machten  die  Ausgaben  für  Getränke  aus 

von  Gesamtausgaben    — 1000    —1250    —1500    —1750    —2000  über  2000  Mk. 
in  %  11,25       10,55       9,44       10,42        8,95  6,74 

Bedauerlich  ist  auch  hier  der  Mangel  an  Budgets  der  schlecht 
bezahlten  Arbeiter. 

Die  Maxima  betragen  324,38  Mk.  =  22  °/0  der  Gesamtausgaben 
bei  einem  verheirateten,  kinderlosen  Former,  294,11  Mk.  =  24°/0 
und  285  Mk.  =  22  °/0  (verheirateter  Posamentierer).  Andererseits 
kommen  Minima  bis  herab  zu  45,41  Mk.  und  33,34  Mk.  vor  (d.  s. 
Ii  bzw.  9  Pf.  pro  Tag). 

Dabei  sind  die  Brauer  noch  nicht  mit  inbegriffen.  Ad.  Braun 
hebt  hervor,  daß  die  obigen  Maxima  —  3V5 — 33/4 1  —  noch  auf  keine 
Unmäßigkeit  schließen  lassen;  in  Nürnberg  sei  eine  tägliche  Na- 
turalleistung  von  7  1  für  den  gelernten  und  5  1  für  den  ungelernten 
Brauer  üblich!  Er  macht  ferner  in  interessanter  Weise  darauf  auf- 
merksam, daß  es  sich  bei  dem  im  Wirtshaus  getrunkenen  Bier  sehr 
oft  um  Begleiterscheinungen  (Geselligkeit,  politische,  gewerkschaft- 
liche Interessen)  handele. 


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Die  Bedeutung  d.  Haushaltungsbudgets  f.  d.  Beurteilung  d.  Ernährungsproblems.  323 

Natürlich  sind  diese  Nürnberger  Angaben  aber  keineswegs 
typisch  für  Deutschland. 

Für  Tabak  endlich  sind  die  individuellen  Neigungen  zu  ver- 
schieden, um  allgemeine  Resultate  ergeben  zu  können.  Auch  hier 
ist  auf  die  allgemeine  Verbrauchsberechnung  zu  verweisen.  — 


Aus  den  oben  gegebenen  Zusammenstellungen  des  Verbrauchs 
der  einzelnen  Gruppen  von  Nahrungsmitteln  (I — IX)  ergeben  sich 
von  selbst  die  Zusammenhänge,  die  zwischen  den  einzelnen  be- 
stehen. 

A.  Für  die  Stadtbevölkerung  ist  im  allgemeinen  folgendes 
zu  konstatieren:  der  Konsum  von  Fleisch  und  Zucker,  auch  wohl 
von  Milch,  nimmt  mit  steigender  Wohlhabenheit  zu,  —  immer  bis 
zu  einer  gewissen  Grenze.  Der  Fettkonsum  ist  ziemlich  gleichmäßig, 
geht  selten  über  ein  gewisses  Maß  hinaus  oder  unter  ein  solches 
hinab;  bei  größerer  Wohlhabenheit  überwiegt  die  Butter.  Der  Konsum 
von  Zerealien  steigt  in  den  untersten  Schichten,  bleibt  dann  lange 
stationär  und  sinkt  bei  wachsender  Wohlhabenheit;  der  von  Kar- 
toffeln sinkt  von  der  untersten  Schicht  an  bis  zu  einem  gewissen 
Punkte  und  bleibt  von  da  an  ziemlich  stationär.  Soweit  erkennbar, 
wächst  der  Verbrauch  an  grünen  Gemüsen  und  fallt  der  von  anderen 
Leguminosen  mit  dem  Einkommen.  Der  Kaffee  verbrauch  wächst 
entsprechend.  Über  Alkohol  und  andere  Genußmittel  ist  allgemein- 
gültiges nicht  festzustellen. 

Engel  (1)  hat  zuerst  mit  voller  Schärfe  den  Satz  aufgestellt, 
daß  die  Größe  der  animalischen  Nahrung  ein  Maßstab  des  Wohl- 
standes sei.  Er  liefert  speziell  für  seine  belgischen  Verhältnisse 
eine  ganz  überzeugende  Statistik. 

Es  kamen  1853  auf  1  Quet  bei  Gesamtausgaben 

—  600     — 900     — 1200    — 2000     mehr  als  2000  Frcs. 
für  tierische  Nahrung  3,22       5,37        9,77       14,22  21,82  Mk. 

„  pflanzliche    „  16,38     12,49      *5.78       3*»39  5°-55 

oder  es  stiegen  die  Lebenskosten  bei 

— 600      — 900     —1200    — 2000  mehr  als  2000  Frcs. 
tierischer    Nahrung  von       l  auf    1,67        3,01         4,91  6,77 
pflanzlicher     „        „         1   „     1,37         1,57         1,98  3,08 

oder  von  den  Gesamtausgaben  entfielen  auf 

tierische  Nahrung  11,39  12,5  17,11  17,75  17,25% 
pflanzliche       „  58,01       52,32      45,17       38,60  39,95% 

21» 


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324 


Fritz  Kcstncr, 


Auch  für  1891  stimmt  das  im  wesentlichen  noch,  wenn  auch 
nicht  so  scharf  pointiert. 

Es  kamen  auf  I  Quet  bei  Gesamtausgaben 

—80       —100       —120       —200  Mk.  pro  Quet 
tierische     Nahrung      15,72       23,63       29,90       36,45  „ 
pflanzliche       „  28,39       3C9I        35.3"       34. 7©  „ 

oder  es  stiegen  die  Lebenskosten  bei 

tierischer     Nahrung  von  1  auf    1,5  1,9  2,3 

pflanzlicher       „        „    1    „      1,1  1,2  t,2 

oder  von  den  Gesamtausgaben  entfielen  auf 

tierische  Nahrung  22,12  26,30  27,32  36,45 0  „ 
pflanzliche       „  39,98       34,42       32,21  34.7<>0/o 

Diese  Feststellung  Engels  findet  in  allen  anderen  Budgets  ihre 
Bestätigung,  natürlich  nicht  überall,  vor  allem  nicht  bei  knapperem 
Material,  mit  derselben  Schärfe.  In  den  Nürnberger  Erhebungen 
sind  die  Quetausgaben  bei  Gesamtausgaben 

—  1000    —1250    —1500    — 1750    — 2000    über  2000 
für  animalische     Nahrung    9,31       29,90       26,09       33,14       48,20  36,57 
„  vegetabilische        „       21,14       22.15       «3.3»       *7.04       33»7<>  31.53 

Landolt  hat  für  seine  Baseler  Familien  berechnet,  daß  6, 
deren  Nahrung  unbefriedigend  ist,  5 1  °/0,  die  besser  situierten  da- 
gegen nur  29,7%  ihres  Eiweißes  in  vegetabilischer  Form  zu  sich 
nahmen. 

Natürlich  spielen  auch  individuelle  Gewohnheiten  hinein  und 
zu  betonen  ist  ferner,  daß  diese  Feststellungen  immer  nur  bis  zu 
einer  gewissen  oberen  Grenze  richtig  sind.  Ist  eine  Einkommens- 
lagc  erreicht,  die  eine  befriedigende  Ernährung  ermöglicht,  so  ist 
das  was  darüber  hinausgeht,  als  freies  Einkommen  beliebig  ver- 
wendbar. 

B.  Für  die  ländliche  Bevölkerung  sind  so  allgemeine  Resul- 
tate nicht  festzustellen.  Dies  wäre,  infolge  der  Bedeutung  lokaler 
Gewohnheiten,  höchstens  innerhalb  bestimmter  Gebiete  möglich. 
Vor  allem  ist  wichtig,  wie  Grotjahn  hervorhebt,  ob  ein  Schwein 
gehalten  wird.  Zu  beachten  ist  schließlich,  daß  uns  für  ländliche 
Arbeiter  nicht  ein  Massenmaterial  zur  Verfugung  steht,  wie  bei 
einer  Reihe  städtischer  Arbeitergruppen. 


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Die  Bedeutung  d.  Haushaltungsbudgets  f.  d.  Beurteilung  d.  Ernährungsproblems.  325 

Unter  Berücksichtigung  dieser  Umstände  ist  folgendes  zu  kon- 
statieren :  Der  Fleischverbrauch  ist  bei  der  selbständigen  und  wohl- 
habenden ländlichen  Bevölkerung  hoch,  bei  der  unselbständigen  und 
ärmeren,  besonders  den  meisten  Arbeitern,  sehr  niedrig,  ja  erheblich 
niedriger  als  in  der  Stadt;  der  Fettkonsum  schwankt  etwas  mehr 
als  der  städtische,  ist  insbesondere  da,  wo  kein  Schwein  gehalten 
wird,  sehr  niedrig.  Der  Zerealienverbrauch  ist  durchschnittlich 
höher  als  in  der  Stadt ;  der  von  Kartoffeln  ist  bei  der  wohlhabenden 
ländlichen  Bevölkerung  etwa  so  groß,  wie  bei  der  wohlhabenden 
städtischen,  der  Konsum  der  armen  Bevölkerung,  insbesondere  der 
landwirtschaftlichen  Arbeiter,  in  Gegenden,  wo  die  Kartoffelnahrung 
überhaupt  üblich  ist,  so  hoch,  teilweise  höher,  als  bei  der  armen 
städtischen  Bevölkerung.  Da  bei  sonst  etwa  gleicher  Nahrung  der 
Zerealienkonsum  auf  dem  Lande  durchschnittlich  höher  ist,  so  ist 
überhaupt  die  Nahrungsmenge  dem  Volumen  nach  bei  der  länd- 
lichen Bevölkerung  größer  als  bei  der  industriellen. 

Diese  Feststellung  unterscheidet  sich  von  der  Grotjahns  in 
wesentlichen  Punkten.  Grotjahn  trennt  nämlich  die  wohlhabende 
und  die  ärmere  ländliche  Bevölkerung  nicht,  sondern  trägt  der  all- 
gemeinen Vermögenslage  prinzipiell  nur  bei  der  städtischen  Rech- 
nung. Das  halte  ich  aber  schon  auf  Grund  seines  Materials  für 
falsch.    Vergleiche  darüber  im  folgenden  Abschnitt 

Ebendort  siehe  auch,  welchen  Veränderungen  die  Nahrung 
unterworfen  worden  ist. 

II.  Abschnitt. 

Es  erhebt  sich  nun  die  Frage :  Inwieweit  ist  diese  Nahrung  ge- 
nügend und  rationell  ?  Um  dies  festzustellen,  bedarf  es  eines  sicheren 
Maßstabes,  was  genügend  und  rationell  ist 

I.  Dieser  läßt  sich  zunächst  finden  in  allgemeiner  Anschauung. 
Man  hat  ja  ungefähr  einen  Begriff,  welche  Nahrung  genügend  ist 
und  nach  diesem  allgemeinen  Begriff  wird  dann  der  betreffende 
Fall  beurteilt  Ein  Beispiel  dieser  Art  ist  die  Zusammenstellung, 
die  Böhmert1)  auf  Grund  einer  Anfrage  bei  106  deutschen 
Großbetrieben  mit  104  000  Arbeitern  im  Jahre  1874  gemacht 
hatte. 


l)  Im  „Arbeiterfreund"  1874  reproduziert.    Derselbe  beschäftigt  sich  überhaupt 
vielfach  mit  dem  Thema. 


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326 


Fritz  Kestner, 


Es  waren  ernährt 


von  ioo  Männern     von  IOO  Frauen 


ungenügend  (Kartoffeln,  Butterbrot,  Kaffee) 

annähernd  genügend  (z.  T.  Fleisch) 

gut  (Fleisch  bei  den  Hauptmahlzeiten) 

sehr  gut  (Fleisch  auch  bei  anderen  Mahlzeiten) 


21  II 


Die  schlechte  Ernährung  der  Frauen  rühre  von  ihrer  Putz- 
sucht her! 

II.  War  diese  Methode  nur  auf  „Praxis"  und  gar  nicht  auf 
Wissenschaft  aufgebaut,  so  ist  die  nächste  dafür  zu  theoretisch. 
Es  ist  die  auch  von  Engel  zum  Teil  befolgte,  ein  festes  Maß  not- 
wendiger Kalorieneinheiten  aufzustellen  —  „Kostmaß"  — ,  dann  die 
Budgets  in  Kalorien  (Eiweiß,  Fett,  Kohlehydrate)  umzurechnen  und 
diese  „Kostsätze"  mit  den  Kostmaßen  zu  vergleichen.  Diese 
Methode  ist  aber,  —  auch  abgesehen  von  der  noch  zu  erwähnenden 
Schwierigkeit,  ein  festes  Maß  von  Kalorien  zu  finden,  —  um  des- 
willen in  praxi  unbrauchbar,  weil  sich  niemals  auch  nur  mit  an- 
nähernder Sicherheit  feststellen  läßt,  wieviel  Kalorien  in  dem  be- 
treffenden Nahrungsmittel  enthalten  sind.  Das  ist,  wie  Grotjahn 
treffend  bemerkt,  nur  bei  Laboratoriumsversuchen  durchzuführen. 
Um  aber  zu  erkennen,  wieviel  Kalorien  in  „für  1 5  Pfg.  Wurst"  ent- 
halten sind,  müßte  man  ihre  Art,  ihren  Fettgehalt,  ihre  Zubereitung 
kennen.  1  Pfd.  Rindfleisch  kann  —  mager  —  475  Kalorien  oder 
—  fett  —  11 80  Kalorien  enthalten. 

m.  Aus  diesen  Gründen  ist  auch  Grotjahn  von  der  Methode 
abgegangen.  Er  meint  (S.  4),  ob  eine  Nahrung  rationell  ist,  ließe 
sich  auch  entscheiden,  wenn  der  jährliche  Konsum  von  Zerealien, 
Molkereiprodukten,  Fett  und  Fleisch  in  Kilogramm  angegeben 
wird.  . . .  „Es  genüge  daher,  die  Nährwerte  von  einigen  Normal- 
budgets anzugeben,  mit  denen  dann  die  übrigen  Budgets  ver- 
glichen werden  können."  Als  solche  Normalbudgets  fuhrt  er  zu- 
nächst eine  Aufstellung  des  Reichsgesundheitsamtes  *)  an,  wonach 
für  einen  erwachsenen  männlichen  Arbeiter,  der  keine  besonders 
strenge  körperliche  Arbeit  leistet,  auf  das  Jahr  umgerechnet  ge- 
fordert werden:  245  kg  Zerealien,  150  kg  Kartoffeln,  55  kg 
Leguminosen,  180  kg  Magermilch,  7  kg  Magerkäse,  13  kg  Schmalz, 
55  kg  Fleisch.    Deren  dynamischer  Wert  ist  3125  Kai.  (2930  Rein 


*)  Gesundheitsbüchlein.  Bearbeitet  vom  Kaiserl.  Gesundheitsarate  1894. 


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Die  Bedeutung  d.  Haushaltungsbudget*  f.  d.  Beurteilung  d.  Ernährungsproblems. 


Kai.).  —  Dann  führt  Grotjahn  ferner  an  die  Untersuchung  der 
schwedischen  Ärzte  Hultgreen  und  Landergreen  *)  für  taglich 
mindestens  12  Stunden  körperlich  sehr  angestrengt  arbeitende 
Küstenbewohner.  Der  dynamische  Wert  ihrer  Nahrung  beträgt 
4592  Kai.,  sie  setzt  sich  zusammen  aus  271  kg  Brot,  191  kg  Kar- 
toffeln, 354  1  Milch,  31  kg  Butter  und  Speck,  50  kg  Fleisch. 

Die  Menge  der  Kalorien  sowohl  wie  der  einzelnen  Nahrungs- 
mittel ist  also  bei  dem  zweiten  sehr  viel  größer  als  bei  dem  ersten 
„Normalbudget".  Die  Fleischnahrung  ist  etwas  geringer,  dagegen 
Fett,  Brot,  Milch  und  Kartoffeln  wesentlich  höher.  Nun  meint 
Grotjahn,  die  erst  angegebene  Nahrung  würde  schwerlich  für  einen 
muskelstarken,  schwer  arbeitenden  Mann  genügen,  da  sie  zu  wenig 
Fett  enthalte,  die  zweite  habe  dagegen  als  normal  zu  gelten.  Er 
fordert  daher  als  Kostmaß  für  den  erwachsenen  Arbeiter  unserer 
Breiten  jährlich  in  Kilogramm  (S.  6): 


mindestens  bis  normalster 


Zercalien 

250 

275 

Kartoffeln 

•5° 

200 

Leguminosen 

30 

40 

Milch 

180 

35o 

Fett 

15 

30 

Fleisch 

5° 

60 

Mit  dieser  Sollnahrung  vergleicht  Grotjahn  dann  in  der 
späteren  Arbeit  die  sämtlichen  Budgets,  die  Istrechnungen,  und  wo 
jene  nicht  erreicht  wird,  findet  er  den  Verbrauch  unzureichend,  wo 
sie  erreicht  wird,  genügend.  Er  kommt,  um  es  vorwegzunehmen, 
zu  dem  Resultat,  daß  die  ländliche  Bevölkerung,  soweit  sie  an  der 
ausgeprägt  lokalen  Kost  festhalte,  sich  noch  hinreichend  nähre, 
daß  dagegen  die  Kost  der  Industriearbeiter  zwar  qualitativ  rationell 
sei,  indem  sie  die  Kost  der  Wohlhabenden  nachahme,  quantitativ 
dagegen  nur  bei  den  hochbezahlten  Arbeiterkategorieen.  Bei  den 
anderen  herrsche  Unterernährung,  ein  Beitrag  zur  Entartungslehre. 

Aber  auch  diese  Methode  ist  nicht  richtig. 

Der  große  Fehler  liegt  darin,  daß  das  aus  dem  Verbrauch 
körperlich  sehr  stark  arbeitender  Menschen  abstrahierte  Maß  auch 
auf  die  Ernährungsbudgets  industrieller  Arbeiter  unterschiedslos 
angewandt  wird.   Einer  solchen  Nahrungsmenge  bedarf  aber  nur  der, 


')  Untersuchung  über  die  Ernährung  schwedischer  Arbeiter  bei  freigewählter 
Kost  1891. 


328 


Fritz  Kestner, 


der  körperlich  sehr  stark  arbeitet  Wer  körperlich  schwach  ar- 
beitet, bedarf  viel  weniger  Wärmeeinheiten,  braucht  daher  auch 
quantitativ  viel  weniger  Nahrung.  Diese  Tatsache  kann  gar 
nicht  besser  belegt  werden,  als  durch  die  von  R  u  b  n  e  r  *)  gegebene 
Tabelle,  die  ich  hier  aus  Grotjahn,  S.  3,  reproduziere. 


in 

gr  un 

d  pro  die 

Beruf 

Eiweiß 

Fett 

Kohlenhydrate 

Kalorien  Beobachter 

Arbeiter  ruhend 

137 

72 

252 

267=; 

Voit 

Arzt 

134 

102 

292 

2695 

Forster 

Ar7t 

2422 

Forster 

Hausmeister 

Il6 

68 

345 

2522 

Forster 

Dienstmann 

133 

95 

422 

3158 

Forster 

Schreiner 

131 

68 

494 

3194 

Forster 

Arbeiter 

«37 

«73 

352 

3614 

Voit 

Starke  Arbeit 

156 

7i 

567 

3625 

Playfair 

Angestrengte  Arbeit 

184 

7« 

567 

3739 

Playfair 

Bergleute 

133 

"3 

534 

4196 

Steinheil 

Ziegelarbeiter 

167 

107 

675 

4528 

Ranke 

Bauernknecht 

»43 

108 

788 

4811 

Ranke 

türk.  Bauernknecht 

182 

93 

968 

5571 

Ohlmüller 

Holzknecbte 

112 

3<>9 

691 

6135 

v.  Liebig 

Holzknechte 

«35 

208 

876 

6038 

v.  Liebig 

Der  Liebigsche 

Holzknecht 

verbraucht 

also 

mehr   als  das 

doppelte  an  Kalorien  als  der  Arzt,  der  Ziegelarbeiter  1 300  Kalorien 
mehr  als  der  Schreiner  und  so  fort  Dabei  ist  der  Eiweißverbrauch 
ziemlich  konstant;  er  ist  bei  dem  nicht  körperlich  arbeitenden  Arzt 
so  hoch  wie  bei  dem  Holzknecht  Größer  ist  dagegen  meist  der 
Verbrauch  an  Fett,  und  sehr  viel  größer,  das  2 — 3  fache,  der  von 
Kohlehydraten  (d.  h.  Brot,  Kartoffeln,  Leguminosen). 

Daraus  folgt,  daß  es  ein  allgemeines  Kostmaß  für  Arbeiter 
schlechthin  nicht  gibt,  was  ja  auch  Grotjahn  niemals  bestreitet, 
vielmehr  ist  dasselbe  ganz  verschieden  nach  dem  Maße  der 
geleisteten  körperlichen  Arbeit  Bemerkt  sei,  daß  nur  körperliche, 
nicht  auch  geistige  Arbeit  von  Einfluß  auf  den  Stoffwechsel  ist; 
dieser  ist  genau  gleich,  ob  man  quadratische  Gleichungen  rechnet 
oder  „Die  Woche"  liest.  Je  weniger  stark  die  körperliche  Arbeit 
aber  ist,  desto  weniger  Fett  und  vor  allem  desto  weniger  Kohle- 
hydrate bedarf  der  Arbeiter. 

Untersucht  man  nun,  welche  Arbeit  die  Arbeiter  verrichten, 

')  Rubner,  Kalorimetrische  Untersuchungen  1885. 


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Die  Bedeutung  d.  Haushaltungsbudgets  f.  d.  Beurteilung  d.  Ernährungsproblcms. 


aus  deren  Budgets  Grotjahn  seine  Schlüsse  gleichmäßig  gezogen 
hat,  so  findet  man  nebeneinander:  in  den  O.  E.  und  den  o.  d.  d.  m. 
Bergleute,  Weber,  Tischler,  Lumpensammler,  Schmiede,  Typographen, 
Metallarbeiter,  Töpfer,  Laternenanzünder,  Holzfäller,  Steinbruch- 
arbeiter, Schuhmacher.  Dann  unter  den  deutschen:  Uhrschild- 
macher, Schlosser,  Spinner,  die  verschiedensten  Fabrikarbeiter, 
Schneidergesellen,  Maurer,  Zigarrenarbeiter  und  -Sortierer,  Former, 
Weber,  Eisendreher,  Bergarbeiter,  verschiedene  Arten  von  Gold- 
arbeitern und  aus  Belgien  ein  Bukett  der  mannichfaltigsten  Berufe. 

Nun  weiß  jeder,  daß  die  körperliche  Arbeit  dieser  Personen 
ganz  verschieden  ist,  etwa  diejenige  eines  Webers  und  eines  Stein- 
brucharbeiters, eines  Schmiedes  und  eines  Zigarrensortierers.  Dem- 
entsprechend ist  auch  der  Nahrungsbedarf  völlig  verschieden. 

Für  den  größten  Teil  der  industriellen  Arbeiter  ist  aber 
zweifellos,  daß  sie  geringere  körperliche  Arbeit  verrichten,  als  die 
Landarbeiter;  nur  bei  wenigen  Berufen,  wie  etwa  Schmieden,  Stein- 
bruchsarbeitern, ist  sie  gleich  schwer.  Der  normale  Fabrikarbeiter 
bedarf  in  sehr  vielen  Fällen  mehr  Geschicklichkeit,  mehr  Aufmerk- 
samkeit, mehr  Gewandtheit,  aber  er  braucht  in  der  Regel  weniger 
körperliche  Kraft  als  der  Landarbeiter. 

Damit  fallen  aber  prinzipiell  sämtliche  Schlußfolgerungen  Grot- 
jahns  in  sich  zusammen.  Leistet  der  industrielle  Arbeiter  weniger 
körperliche  Arbeit,  so  braucht  er  auch  weniger  Kalorien  gebende 
Nahrung,  vor  allem  weniger  Kohlehydrate,  aber  auch  weniger  Fett, 
und  damit  ist  die  „quantitative  Unterernährung"  verschwunden. 
Gleichzeitig  sind  aber  auch  alle  Folgerungen  aus  dieser  vermeint- 
lichen Verschlechterung  der  Ernährung  bei  wachsender  Industriali- 
sierung falsch  oder  doch  sicher  unbeweisbar;  so  die  von  Grotjahn 
behauptete  Entartung,  so  auch  alle  auf  ähnliches  Material  ge- 
gründeten Argumente  in  dem  Streit  über  Agrar-  und  Industriestaat. 

IV.  Es  ist  also  prinzipiell  unrichtig,  ein  allgemein  gültiges 
Normalkostmaß  festzustellen.  Es  fragt  sich  nunmehr,  ob  eine 
richtige  Methode  vorhanden  ist. 

Nach  obigem  möchte  es  als  das  richtigste  scheinen,  getrennte 
Normalkostmaße  für  die  einzelnen  Arbeiterkategorien  festzustellen 
und  sie  mit  den  Budgets  dann  zu  vergleichen.  Aber  auch  ab- 
gesehen davon,  daß  es  praktisch  schwer  durchführbar  wäre,  hätte 
dies  auch  den  Nachteil,  daß  eines  der  wesentlichsten  Momente  un- 
berücksichtigt bliebe:  die  Qualität  und  die  Zubereitung,  zusammen 
die  Schmackhaft igkeit  der  Nahrung. 


330 


Fritz  Kestncr, 


Was  ErnstEngels  scharfer  Blick  vorausgesehen  hatte,  das  wird 
von  Jahr  zu  Jahr  mehr  durch  die  Forschungen  der  Physiologie  be- 
stätigt : *)  Die  Wichtigkeit,  die  die  Verdauung  für  die  Ernährung  hat 
und  ferner  die  starken  nervösen  Einflüsse  auf  die  Verdauung.  Es 
kann  sehr  wohl  sein,  daß  eine  quantitativ  an  sich  reichliche  Nahrung, 
weil  nicht  schmackhaft  und  daher  schlecht  zu  verdauen,  auf  die 
Dauer  weniger  zur  Ernährung  beitragen  kann,  als  eine  quantitativ 
geringere,  aber  sehr  schmackhafte  Nahrung.  Daraus  folgt  aber, 
daß  wir  mit  selbst  noch  so  genauen  Quantitätsangaben  in  den 
H.H.B.  nicht  genügend  Aulschluß  darüber  erhalten,  ob  die  Nahrung 
ausreichend  und  rationell  ist  Wenn  auch  geprüft  werden  kann, 
ob  gewisse  allgemeine  Postulate,  wie  das  Minimum  der  Kalorien- 
menge und  des  Fett  Verbrauchs  erfüllt  sind,  so  ist  doch  im  übrigen 
der  Vergleich  von  Kostsätzen  und  Kostmaßen  keineswegs  er- 
schöpfend. —  Dazu  kommt  noch,  daß  man  mit  der  Menge  der  ein- 
gekauften Nahrungsmittel  ja  noch  gar  nicht  weiß,  wieviel  davon 
tatsächlich  in  die  Nahrung  übergegangen  ist  Denn  wird  das 
Essen  von  einer  Hausfrau  besorgt,  die  nichts  davon  versteht,  so 
werden  die  Nahrungsmittel  schlecht  ausgenutzt  und  es  kann  sein, 
daß  höhere  Ausgaben  für  Nahrung  kein  Beweis  besserer  Ernährung, 
sondern  ungewandter  Haushaltsführung  sind. 

V.  Daraus  folgt  nun  aber  noch  nicht,  daß  uns  die  HHB.  ganz 
im  Stiche  ließen.  Denn  wir  wissen  doch  immerhin  durch  die 
Physiologie  ungefähr,  welche  Anforderungen  man  an  die  Ernährung 
bestimmter  Personenkreise  stellen  muß  und  welche  Zusammensetzung 
der  Nahrung  diesen  Anforderungen  entspricht 

Für  die  Kost  des  normalen  Industriearbeiters,  der  nicht  zu 
schwere  körperliche  Arbeit  leistet,  ist  mit  einigen  Modifikationen 
dasselbe  bezüglich  der  Zusammensetzung  der  Nahrung  zu  verlangen, 
wie  von  der  „frei  gewählten  Kost"  der  Wohlhabenden.  Nicht  ein 
hoher  „Nährwert"  ist  erforderlich,  sondern  Eiweißreichtum  und 
Wohlgeschmack  (der  Mensch  braucht  eine  wechselnde  Menge  Ge- 
samtnahrung, je  nach  der  Arbeit,  dagegen  immer  etwa  100  gr  Ei- 
weiß). Es  müssen  daher  in  erster  Linie  eiweißreiche  Speisen, 
d.  h.  vorzüglich  Fleisch,  vorhanden  sein.  Weizenbrot  enthält  etwas 
mehr  Eiweiß  (7  Proz.),  als  Roggenbrot  (6  Proz.)  und  erheblich 
mehr  als  Kartoffeln  (2  Proz.).     Des  Wohlgeschmacks  wegen  ist 


')  vßl-  J.  P.  Pawlow,  Die  Arbeit  der  Verdauungsdrüsen,  deutsch  von  A.  Walter. 
Wiesbaden  »898. 


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Die  Bedeutung  d.  Haushaltungsbudgcts  f.  d.  Beurteilung  d.  Erniihrungsproblcms.  331 

von  den  Kohlehydraten  besonders  Zucker  sehr  erwünscht  Fett, 
wegen  seiner  hohen  Verbrennungswärme  das  wertvollste  Nahrungs- 
mittel, muß  unter  allen  Umständen  in  gewissem  Maße  vorhanden 
sein.  Im  übrigen  richtet  sich  der  Fettverbrauch  nach  der  körper- 
lichen Arbeit  Des  Wohlgeschmacks  wegen  ist  gute  Qualität  des 
Fettes  sehr  wichtig. 

Die  Nahrung  muß  ferner  leicht  verdaulich  sein,  weil  sie  sonst 
überflüssige  Arbeit  erfordert.  Der  Verlust  bei  der  Verdauung  ist 
sehr  gering  bei  Fleisch,  Fett,  Milch,  Käse;  größer  bei  Erbsen, 
Weizenbrot  und  Kartoffeln,  am  stärksten  bei  Rüben  und  Roggen- 
brot Weizenbrot  ist  also  sehr  viel  leichter  ausnutzbar  als  Roggen- 
brot Sie  darf  andererseits  nicht  zu  leicht  verdaulich  sein,  weil 
sonst  die  Darmmuskeln  erschlaffen.  (Mögliche  Folge:  Obstipation 
und  deren  Folgen.) ') 

IOO  gr  Eiweiß  täglich  sind  unter  allen  Umständen  erforder- 
lich, ein  höheres  Maß  Eiweiß  und  viel  Zucker  sind  sehr  erwünscht 
für  Fette  und  Kohlehydrate  lassen  sich,  eben  wegen  der  ver- 
schiedenen körperlichen  Anstrengung,  bestimmte  Maße  nicht  fest- 
setzen. Unter  den  letzteren  ist  im  allgemeinen  Weizen-  dem 
Roggenbrot  und  dieses  den  Kartoffeln  vorzuziehen.  Im  übrigen 
entscheidet  eine  proportionale  Zusammensetzung  und  eine  Zu- 
bereitung, die  die  Nahrung  schmackhaft  macht 

VI.  Sieht  man  sich  nach  diesen  allgemein  gehaltenen  Regeln 
nun  die  in  Abschnitt  I  zusammengestellten  Budgets  an,  so  er- 
gibt sich: 

i.  Der  Eiweißgehalt  ist  völlig  hinreichend  bei  den  Wohl- 
habenden, bei  den  besser  bezahlten  Arbeitern,  bei  einem  Teil  der 
ländlichen  Bevölkerung,  einem  erheblichen  Teil  der  Pforzheimer, 
einem  geringeren  Teil  der  schlesischen  und  belgischen  und  einem 
kleinen  der  Mannheimer  Fabrikarbeiter.  Sie  ist  nicht  mehr  aus- 
reichend bei  einem  Teil  der  schlesischen,  Mannheimer  und  Pforz- 
heimer Arbeiter,  einem  erheblichen  Teil  der  belgischen  und  Baseler 
sowie  der  industriellen  Arbeiter  und  der  ländlichen  Bevölkerung 
der  O.  E.  und  der  o.  d.  d.  m.  Er  ist  endlich  völlig  ungenügend 
bei  den  Zittauer  Webern,  den  badischen  Tabaksarbeitern,  den 
böhmischen  Baumwollspinncrn  und  einem  Teil  der  belgischen  Ar- 
beiter. 

')  Vgl.  zum  vorhergehenden  die  Inhaltsangabe  der  Vorträge  in  den  Ludwigs- 
hafener  Volksschulkursen  1902  von  Prof.  Cohnheim  (Heidelberg),  der  auch  diese 
Arbeit  freundlichst  durchgesehen  hat. 


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332 


p 

Fritz  Kestncr, 


2.  Der  Fettverbrauch  deckt  meist  die  betreffenden  An- 
sprüche der  körperlichen  Arbeit.  Er  erscheint  aber  ungenügend 
bei  einem  erheblichen  Teil  der  ländlichen  Bevölkerung,  wo  gegen- 
über der  schweren  körperlichen  Arbeit  direkte  Unterernährung  an 
Fett  zu  konstatieren  ist,  sowie  bei  einigen  der  belgischen  und 
Pforzheimer  Arbeiter. 

3.  Der  Zerealienkonsum  ist  im  wesentlichen  den  An- 
forderungen entsprechend.  Nicht  genügend  erscheint  er  bei  einem 
Teil  der  ländlichen  und  industriellen  Arbeiter  der  o.  d.  d.  m.,  sowie 
erheblichen  Teilen  der  Baseler  und  badischen  Tabaksarbeiter. 
Letztere  sind  dieselben,  bei  denen  der  Kartoffelkonsum  sehr  stark 
ist.  Im  Verhältnis  vom  Roggen-  zum  Weizenbrot  tritt  letzteres, 
wie  auch  aus  einem  Teil  der  HHB.  ersichtlich,  in  nicht  erwünschter 
Weise  vielfach  zurück. 

4.  Der  Kartoffelkonsum  ist  überall  ausreichend.  Er  nimmt 
aber  andererseits  eine  unerwünscht  hohe  Stellung  ein  bei  sehr  er- 
heblichen Teilen  der  schlesischen,  belgischen  und  der  badischen 
Tabaksarbeiter  und  den  Zittauer  Webern,  sowie  bei  mehreren  der 
industriellen  Arbeiter  der  o.  d.  d.  m.,  ferner  sowohl  bei  den  von 
Schnapper-Arndt  auf  dem  Lande,  wie  unter  Flesch  in  der  Stadt 
beobachteten  Arbeitern. 

5.  Der  Zucker  verbrauch  ist  am  größten  bei  den  Wohl- 
habenden und  den  englischen  Arbeitern.  Er  ist  ganz  mangelhaft 
bei  Zittauer  Webern  und  bei  Baseler  Arbeitern,  also  den  armen. 
Die  Nachrichten  der  o.  d.  d.  m.  stammen  aus  zu  alter  Zeit,  um  be- 
weiskräftig zu  sein. 

Das  Resultat  ist  im  allgemeinen  für  die  vergleichende  Be- 
trachtung kein  großes.  Wir  können  aus  den  HHB.  feststellen,  in- 
wiefern die  einzelne  untersuchte  Schicht  rationell  ernährt  ist.  Für 
die  Gesamtheit  ergibt  sich  nur  die  Bestätigung  des  eigentlich 
selbstverständlichen  Axioms,  das  aber  von  neuem  zu  betonen  nicht 
unwichtig  ist:  Je  wohlhabender  die  Familie,  desto  rationeller  und 
ausreichender  ist  die  Nahrung.  Innerhalb  der  Grenzen,  die  durch 
die  verschiedenen  Erfordernisse  körperlicher  Arbeit  gezogen  sind, 
entscheidet  in  Stadt  und  Land  allein  das  Einkommen 
darüber,  ob  die  Ernährung  den  physiologischen  Geboten  entspricht 
oder  nicht. 

VII.  Eines  besonderen  Eingehens  aber  bedarf  die  Frage,  ob 
die  Ernährung  der  landwirtschaftlichen  Bevölkerung  eine  prinzipiell 
bessere  ist,  als  die  der  städtischen   und  ob  sich  daher  mit  zu- 


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Die  Bedeutung  d.  Haushaltungsbudgels  f.  d.  Beurteilung  d.  Ernährungsproblems.  333 

nehmender  Industrialierung  prinzipiell  die  Ernährung  verschlechtert. 
Das  ließe  sich  beantworten  durch  die  Führung  von  zwei  ver- 
schiedenen Beweisen: 

a)  Die  ländliche  Bevölkerung  ist  durchschnittlich  besser  er- 
nährt als'  die  industrielle. 

b)  Die  tatsächlich  industrialisierten  Schichten  waren,  als  sie 
noch  auf  dem  Lande  saßen,  besser  ernährt. 

Beide  Behauptungen  lassen  sich  aus  den  HHB.  nicht  er- 
weisen. 

a)  Die  Ernährung  ist  eine  andere;  die  ländliche  Bevölkerung 
nimmt,  soweit  erkennbar,  mehr  Zerealien  zu  sich  als  die  städtische, 
wahrscheinlich  auch  mehr  Milch.  Daraus  zieht  Grotjahn  den 
Schluß,  daß  die  letztere  quantitativ  unterernährt  ist  Es  beruht 
dies  aber  nicht  darauf,  daß  die  städtische  Bevölkerung  zu  wenig 
Zerealien  zu  sich  nimmt,  sondern  darauf,  daß  sie  infolge  geringerer 
körperlicher  Arbeit  weniger  bedarf.  Es  gibt  vielmehr  schlecht  er- 
nährte städtische  und  schlecht  ernährte  ländliche  Schichten. 

b)  Man  darf  nicht  gegenüberstellen  die  landwirtschaftlich 
Selbständigen,  die  Bauern,  den  schlecht  gelohnten  Fabrikarbeitern. 
Nicht  aus  jenen  rekrutiert  sich  die  industrielle  Reservearmee, 
sondern  im  wesentlichen  aus  den  Unselbständigen,  den  landwirt- 
schaftlichen Knechten  und  Landarbeitern.  Ob  diese  besser  ernährt 
werden,  solange  sie  auf  dem  Lande  leben  oder  sobald  sie  in  die 
Stadt  kommen,  ist  eine  offene  Frage.  Aus  den  HHB.  ist  bisher 
nichts  dafür  zu  beweisen.  Denn  auch  unter  der  ländlichen  Be- 
völkerung der  O.  E.  und  der  o.  d.  d.  m.  sind  gut  ernährt  nur  die, 
die  ein  reichliches  Einkommen  haben,  nicht  dagegen  *)  die  mit 
niedrigerem  Einkommen,  wie  die  meisten  Arbeiter. 

Es  bleiben  schließlich  noch  zwei  Fragen  zu  beantworten: 
VIII.  Besteht  innerhalb  der  industriellen  Arbeiter  ein  Unter- 
schied in  der  Ernährung  zwischen  den  einzelnen  Berufen?  Darauf 
ist  zu  erwidern:  Nur  der,  der  durch  die  verschiedene  körperliche 

')  Dies  im  einzelnen  nachzuweisen,  würde  hier  zu  weit  führen.  Als  Beispiel 
mag  aber  angeführt  sein,  daß  die  bei  Grotjahn  Nr.  40—43  angeführten  baskischen, 
holländischen  Fischer,  schwedischer  Schmied  und  norwegischer  Giefler,  deren  Nahrung 
besonders  gut  und  reichhaltig  ist,  ein  Natural-  und  Geldeinkommen  haben  von 
2453  fr.,  5364  fr.,  1264  fr.,  II  15  fr.  in  den  50er  Jahren.  Dagegen  haben  z.  B.  die 
schlecht  genährten  Landarbeiter  aus  der  Bretagne  und  dem  Dep.  de  l'Aisnc  (bei 
Grotjahn  Nr.  63  u.  67)  ein  Einkommen  von  nur  460  und  968  fr.  Die  Parallelen 
ließen  sich  leicht  weiterführen. 


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334 


Fritz  Kcstner, 


Arbeit  bedingt  wird.  Im  übrigen  entscheidet  nur  die  Höhe  des 
Einkommens. 

Es  ergibt  sich  das  am  besten  aus  Engels  Untersuchungen  über 
die  belgischen  Arbeiter  1891  (S.  104).  Danach  kamen  von  je  100  Mk 
Ausgabe  in  den  Budgets  der 

auf          Kohlcnbcrg-  Eisenhütt.-  Maschinen-  Glas-  Spinner  u.  Schrifts.  u. 

leute  leutc  bauer  macher  Weber  Buchdr. 

tier.  Nahrung      24,18  19,44  28,86  31,36  23,67  31,85 

pflanil.  „           31,85  28,33  33,17  32,27  31,49  27,68 

während  die  jährlichen  Ausgabebeträge  für  1  Quet  waren 

93.57         84,71         98,67        103,03        89,21  m.sSMk. 

Demnach  haben  den  höchsten  Verbrauch  an  tierischer  Nahrung 
die  Schriftsetzer  und  Glasmacher,  die  das  größte  Einkommen  und 
von  denen  die  Schriftsetzer  die  leichteste  körperliche  Arbeit  haben. 
Dagegen  ist  der  Zerealienkonsum  bei  den  körperlich  stark  arbeitenden 
Kohlenberglcuten,  Maschinenbauern  und  auch  Glasmachern  hoch. 
Bei  den  Spinnern  und  Eisenhüttenlcuten  erklärt  sich  wieder  der 
niedrige  Fleischverbrauch  aus  ihrem  —  in  diesem  Fall  geringen  — 
Einkommen. 

Auch  in  der  sonstigen  Literatur  sind  keine  Differenzen  der 
Ernährung  in  den  einzelnen  Berufszweigen  zu  finden,  die  sich  nicht 
durch  die  zwei  Momente :  Höhe  des  Einkommens  und  Schwere  der 
körperlichen  Arbeit  erklären  ließen.  Damit  soll  natürlich  nicht 
geleugnet  werden,  daß  sich  lokale  und  territoriale  Konsumgewohn- 
heiten herausbilden  könnten.  —  Letzteres  ist  besonders  innerhalb 
der  landwirtschaftlichen  Arbeiter  der  Fall. 

IX.  Von  dem  höchsten  Interesse  wäre  es  endlich,  könnte  man 
mit  Sicherheit  die  Änderungen  feststellen,  die  innerhalb  der  beob- 
achteten Zeit  in  der  Ernährung  vor  sich  gegangen  sind.  Zur 
Lösung  dieser  vielumstrittenen  Frage  können  aber  die  HHB.  nur 
wenig  beitragen,  weil  die  Zeit  ihrer  Aufnahme  nicht  weit  genug 
zurück  liegt,  und  wir  andererseits  gegenüber  den  Budgets  Le  Plays 
aus  den  50  er  Jahren  keine  neueren  Vergleichspunkte  haben.  Deshalb 
soll  die  wichtige  Frage  hier  auch  nur  kurz  gestreift  werden. 

Für  die  industriellen  Arbeiter  ist  das  einzig  vorhandene  Material 
die  belgischen  Erhebungen  von  1853  und  1 891.  Engel  (S.  84) 
stellte  bei  ihrer  Vergleichung  fest,  daß  die  Lebenshaltung  in  phy- 
sischer Hinsicht  sehr  erheblich  gestiegen  ist.  Insbesondere  hat  der 
Verbrauch  animalischer  Nahrung  sehr  zugenommen,  weniger  der 


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Die  Bedeutung  d.  Haushaltungsbudgets  f.  d.  Beurteilung  d.  Ernährungsproblems.  335 


vegetabilischer.  Es  wurden  jährlich  in  Mk.  auf  1  Quet  verwandt 
für  tierische  Nahrung  1853:  8,0  und  1891:  27,06,  für  pflanzliche 
Nahrung  1853:  25,60  und  1891 :  33,02.  Die  Ausgaben  für  tierische 
Nahrung  stiegen  von  I  auf  3,40,  die  für  pflanzliche  von  1  auf  1,29. 
Von  100  Mk.  Gesamtausgaben  entfielen  auf  tierische  Nahrung 
1853:  i5,22°/0,  1891:  26,67  7o»  auf  pflanzliche  1853:  48,76  °/0,  1891 : 
32,54  70. 

Diese  Engeischen  Angaben  bestätigen  die  uns  auch  sonst  be- 
kannte Tatsache,  daß  die  Lebenshaltung  der  städtischen  Bevölkerung 
gestiegen  ist,  insbesondere  der  Fleisch-  und  Zuckerverbrauch.  — 
Die  in  der  sonstigen  Budgetliteratur  vorkommenden  zeitlichen  Ver- 
gleichungen  haben  meist  einem  anderen  Zweck  gedient,  nämlich 
dem,  die  Lebensverteuerung  festzustellen,  so  die  von  Chatel enat, 
Schwedler,  Kollmann,  auch  Hampke,  der  den  naiven  Ver- 
such macht,  eine  besondere  Belastung  des  „Mittelstandes"  heraus- 
zurechnen. — 

Für  die  ländliche  Bevölkerung  liegen  gar  keine  Möglichkeiten 
einer  Vergleichung  vor.  Grotjahn  meint  (S.66),  daß  die  zunehmende 
Merkantilisierung  der  Verkehrsmittel  eine  Verschlechterung  der 
bäuerlichen  Lebenshaltung  bewirke.  Er  exemplifiziert  auf  die  in  der 
Schweiz  von  Schuler  beobachtete  Erscheinung,  daß  die  Bauern 
die  gute  Milch  in  Butter  und  Käse  umgewandelt  verkaufen,  nur 
die  magere  und  schlechtere  zurückbehalten.  Ähnliche  Erscheinungen 
wären  bei  uns  der  forcierte  Zuckerexport  und  die  Verwendung 
der  Kartoffel  zur  Herstellung  von  gewerblichem  Spiritus,  statt  zur 
Schweinemästung.  Die  beiden  letzteren  Beispiele  stimmen  nicht ;  denn 
der  Zuckerrübenbau  entzieht  dem  Landwirt  keinesfalls  bis  dahin  vor- 
handene Nährstoffe  —  unterstützt  er  doch  die  Viehhaltung !  —  und 
die  mangelnde  Schweineaufzucht  liegt  sicher  nicht  an  dem  Knapp- 
werden der  Kartoffeln.  Das  Schweizer  Beispiel  dürfte  richtig  sein. 
Ob  es  mehr  als  vereinzelte  Bedeutung  hat,  ist  zu  bezweifeln.  Wenn, 
dann  spräche  es  dagegen,  in  hohen  Preisen  der  Produkte  allein  das 
Heil  zu  suchen,  denn  nur  in  solchen  Fällen  wird  sie  der  Landwirt 
ja  verkaufen. 

III.  Abschnitt. 

Es  liegt  sehr  nahe,  allgemeine  Zusammenhänge  zwischen  dem 
Familienstand  und  der  Ernährung  aufzustellen. 

Da  ist  zunächst  ohne  weiteres  klar,  daß  jede  Familie  mit 


336 


Fritz  Kestner, 


einem  begrenzten  Einkommen  es  schwerer  hat,  eine  große  Zahl 
Kinder  aufzuziehen,  als  wenige.  Ein  Arbeiter  mit  IOOO  Mk.  Lohn- 
einkommen und  150 —  200  Mk.  Nebeneinkommen  durch  Verdienst 
der  Frau  und  Aftervermietung,  —  die  Bedeutung  des  Neben- 
einkommens in  das  rechte  Licht  gesetzt  zu  haben,  ist  eines  der 
Hauptverdienste  der  HHB.-Literatur,  —  kann  sich,  seine  Frau  und 
ein  Kind  sehr  wohl  rationell  ernähren,  nicht  aber  8  oder  10  Kinder. 
Um  dies  festzustellen,  bedurfte  es  nicht  erst  des  zahlenmäßigen 
Beweises.  Immerhin  sind  die  in  dieser  Hinsicht  vorliegenden  An- 
gaben nicht  uninteressant.  Ad.  Braun  (16,  S.  64)  stellt  fest,  daß, 
je  größer  die  Kopfzahl  der  Familie  ist,  desto  mehr  die  animalischen 
hinter  die  vegetabilischen  Nahrungsmittel  zurücktreten.  Ebenso 
ist  bei  Landolt  der  Fleischverbrauch  bei  den  4  kinderlosen 
Familien  in  Basel  auf  den  erwachsenen  Mann  93 — 66—43—45,  bei 
den  fünf  kinderreichen  22 — 26 — 22 — 18 — 16  kg.  Bei  den  Zittauer 
Webern  kamen  auf  den  erwachsenen  Mann  der  kinderlosen  Familien 
doch  noch  1 1  kg  Fleisch,  der  kinderreichen  dagegen  nur  5  kg.  Es 
ließen  sich  noch  zahlreiche  ähnliche  Beispiele  anführen,  stände  die 
Tatsache  nicht  an  sich  schon  fest. 

Grotjahn  (S.  45)  meint,  die  Kinderzahl  sei  von  ausschlag- 
gebender Wichtigkeit  nur  für  die  geldentlohnte  Arbeiterschaft,  spiele 
aber  keine  Rolle  bei  der  in  Naturalwirtschaft  lebenden  Bevölkerung. 
Das  ist  doch  nur  in  enger  Beschränkung  richtig.  Es  gilt  nur  für 
diejenige  selbständige  und  auskömmlich  lebende  ländliche  Bevöl- 
kerung, die  mit  ihren  Produkten  noch  gar  nicht  in  die  Verkehrs- 
wirtschaft einbezogen  ist.  Es  gilt  also  weder  für  diejenige,  die 
einen  wesentlichen  Teil  ihrer  Produkte  zum  Austausch  bringt,  — 
worin  Grotjahn  einstimmen  wird,  —  noch  auch  für  die  an  sich  aus- 
kömmlich lebenden  landwirtschaftlichen  Schichten,  die  zu  arm  sind, 
sich  genügend  Vieh  zu  halten,  und  auch  kaum  für  die,  die  einen 
Naturallohn  empfangen.  Daß  in  den  ärmeren  Schichten  die  Kinder- 
zahl auf  dem  Lande  eine  große  Rolle  spielt,  geht  gerade  aus  den 
Budget  der  O.  E.  und  den  o.  d.  d.  m.  hervor.  Nur  da  kann  ja  die 
Zahl  der  Familienmitglieder  gleichgültig  sein,  wo  die  von  Kindern 
nicht  verzehrten  Produkte  gar  nicht  verwertet  werden.  Ein  prinzipieller 
Unterschied  zwischen  Stadt  und  Land  in  der  Schwierigkeit,  Kinder 
aufzuziehen,  scheint  mir,  wenn  überhaupt  bestehend,  eher  vorzuliegen 
zwischen  der  bäuerlichen  Bevölkerung  und  den  entsprechenden 
Einkommensschichten  der  Stadt,  also  etwa  kleinen  Beamten  und 
Lehrern,  als  zwischen  der  arbeitenden  Bevölkerung.    In  Deutsch- 


Die  Bedeutung  d.  Hausbaltungsbudgets  f.  d.  Beurteilung  d.  Ernährungsproblems.  337 

land  dürfte  es  allerdings  kaum  noch  in  größerem  Maße  Schichten 
geben,  die  noch  gar  nicht  in  die  Verkehrswirtschaft  einbezogen 
wären.  — 

Von  größerer  Bedeutung  wäre  es,  die  Zusammenhänge  klar- 
zulegen, die  zwischen  der  Ernährung  einerseits  und  der  Tätigkeit 
der  Frau  und  Mutter  andererseits  bestehen,  ob  diese  nämlich 
außer  Hause  arbeitet  und  die  Wirtschaft  daher  kaum  oder  gar  nicht 
führt,  oder  ob  sie  wirtschaftet  und  nur  gelegentlich  dem  Lohnerwerb 
nachgeht.  Daß  beides  in  einem  ursächlichen  Zusammenhang  stehen 
muß,  ist  ja  zweifellos,  soviel  auch  durch  andere  Umstände  —  z.  B. 
das  Wirtschaften  einer  ins  Haus  genommenen  Verwandten  —  die 
Sachlage  sich  ändern  kann.  Der  Beweis,  daß  die  Außerhausarbeit 
der  Frau  einen  nachteiligen  Einfluß  nicht  nur  auf  die  sozialen  Ver- 
hältnisse der  Familie,  wovon  hier  nicht  die  Rede  ist,  sondern  gerade 
auch  auf  die  wirtschaftliche  Lage  ausübt,  ist  für  andere  Gebiete  der 
Lebenshaltung  durch  interessante  Beispiele  in  der  Budgetliteratur 
erbracht  worden.  So  macht  Gruber  darauf  aufmerksam,  daß  der 
von  Schnapper- Arndt  beschriebene  Uhrschildmaler,  dessen  Frau  fast 
ein  Drittel  der  Gesamteinnahmen  liefert,  unverhältnismäßig  viel 
—  93»36  Mk.  —  für  Wäsche  und  Reinigung  ausgibt.  Auch 
Mehnert1)  und  Fuchs  (13,  S.  207)  konstatieren  die  Lebensver- 
teuerung durch  Außerhausarbeit  der  Frau.  (Engel  weist  gelegent- 
lich auf  vereinzelte  Fälle  hin,  wo  die  Frau  auswärts  verdient  und 
der  Mann  den  Haushalt  führt).2)  Natürlich  muß  immer  für  die  pe- 
kuniäre Seite  bedacht  werden,  ob  die  Frau  nicht  andererseits  viel 
mehr  verdient. 

Aber  gerade  für  die  Ernährung,  das  wichtigste,  ist  es  un- 
möglich, zahlenmäßig  dem  Problem  näher  zu  kommen.  Denn  die 
UnWirtschaftlichkeit  äußert  sich  ja  nicht  im  Mangel  der  Quantität, 
sondern  der  Qualität.  Die  Quantität  wird  sogar  eher  größer  sein, 
weil  sie  schlecht  ausgenützt  wird,  und  demnach  die  Ausgaben 
höher  (vgl.  S.  25).  Hier  liegt  denn  auch  der  Kardinalpunkt  für  die 
Kritik  der  Beurteilung  aller  solcher  Budgets.  Wo  außerdem 
Wirtshausbesuch  an  die  Stelle  häuslicher  Ernährung  tritt,  fehlt  jede 


')  Armee-  und  Volkscrnährung  1880.    S.  334. 

*)  Ein  interessantes  Beispiel  ist  übrigens  auch  das  Ahrental  in  Tirol,  wo  die 
Männer  durch  Einstellung  eines  Kupferbergwerkes  arbeitslos  geworden  sind  und 
wirtschaften,  während  die  Frau  durch  Stricken  und  Klöppeln  den  Unterhalt 
erwirbt. 

Archiv  für  Soiialwissennchaft  u.  Sozialpolitik.  1.    (A.  f.  so*.  C.  u.  St.  XIX.)  2.  22 


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338 


Fritz  Kestner, 


Möglichkeit  der  Analyse.  Auskunft  können  wir  nur  bekommen, 
wenn  wir  gleichzeitig  erfahren,  wie  sich  die  Nahrung  verschlechtert 
hat;  d.  h.  also  nicht  aus  dem  Budget  selbst,  sondern  höchstens  aus 
den  sie  begleitenden  Schilderungen.  Dafür  ist  vor  allem  auf 
Fuchs  (13),  Landolt  (7)  und  Meinert  (a.  a.  O.)  zu  verweisen. 

IV.  Abschnitt. 

Die  in  Abschnitt  I  und  II  getroffene  Feststellung,  welche  Be- 
deutung dem  einzelnen  Nahrungsmittel  innerhalb  der  Gesamt- 
ernährung zukommt,  bedarf  nun  noch  einer  Ergänzung  in  zwei 
Richtungen  : 

1.  Welchen  Anteil  hat  die  einzelne  Gruppe  von  Nahrungs- 
mitteln an  den  Gesamtausgaben? 

2.  Welche  Bedeutung  haben  die  Ausgaben  für  Ernährung  ins- 
gesamt an  den  Gesamtausgaben? 

I.  Allgemein  läßt  sich  das  leicht  beantworten :  Je  geringer  das 
Einkommen  ist,  desto  größer  ist  die  Bedeutung  der  Ausgaben  für 
das  einzelne  Nahrungsmittel.  Brauchen  drei  Familien  je  für 
200  Mk.  Brot,  so  bedeutet  das  für  eine  mit  20000  Mk.  Einkommen 
I  Proz.,  für  eine  mit  2000  Mk.  Einkommen  10  Proz.  und  mit 
IOOO  Mk.  20  Proz. 

Tatsächlich  ist  allerdings  der  Unterschied  ein  noch  schärferer, 
weil  jede  Ausgabe,  die  mit  dem  bestritten  wird,  was  zur  physischen 
Erhaltung  nötig  ist,  sehr  viel  schwerer  ins  Gewicht  fallt,  als  die, 
zu  deren  Bestreitung  auch  freies  Einkommen  herangezogen  werden 
kann.  Nehmen  wir  an,  alle  drei  Familien  wären  gleich  stark,  und 
setzen  ihr  Existenzminimum  auf  1000  Mk.  fest,  so  trifft  eine  weitere 
notwendige  Ausgabe  von  10  Mk.  die  Familie  mit  IOOO  Mk.  Ein- 
kommen 100  mal  stärker  als  die  von  2000  Mk.  —  denn  hier  trifft 
sie  nur  1  Proz.  des  freien  Einkommens  —  und  diese  wieder 
190 mal  stärker,  als  die  mit  20000  Mk.  Einkommen,  denn  hier 
nimmt  sie  nur  l!l9090  weg. 

Diese  Berechnung  läßt  sich  aber  nicht  durchführen,  weil  wir 
die  Existenzminima  fast  niemals  genau  bestimmen  können.  Ich 
will  daher  in  praxi  die  Prozentberechnung  der  wichtigsten  Nahrungs- 
mittel für  das  Roheinkommen  zusammenstellen,  unter  Betonung 
der  obigen  Ausfuhrung.  Es  ist  dies  natürlich  vor  allem  von 
Wichtigkeit  für  die  Einwirkung  von  Preisänderungen.  —  Vergleichen 
lassen  sich  aber  immer  nur  die  zur  selben  Zeit  und  auch  im  selben 


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Die  Bedeutung  d.  Haushaltungsbudgets  f.  d.  Beurteilung  d.  Ernährungsproblcms.  339 

Gebiet  aufgenommenen  Budgets.  Das  läßt  sich  nach  unserem 
Material  in  fünf  verschiedenen  Gruppen  durchfuhren. 

1.  Nach  Engel  (i,  S.  96)  entfielen  von  100  Mk.  jährlicher  Aus- 
gabe auf  1  Quet  bei  Gesamtausgaben  bis 

auf  — 80  — 100  —120  —200  Mk.  pro  Quet. 

tierische  Nahrung    22,12  26,30  27,32  29,00 

pflanzliche    „         39,98  34^2  32,21  27,62 

Darnach  werden  die  besser  situierten  Arbeiter  durch  Erhöhung 
der  Fleischpreise  —  um  diese  handelt  es  sich  ja  wesentlich  bei 
der  tierischen  Nahrung  —  um  ein  Drittel  mehr,  durch  Erhöhung 
der  Preise  von  Kartoffeln,  Brot  und  anderen  Vegetabilien  um  ein 
Drittel  weniger  betroffen  als  die  schlecht  gelohnten  Arbeiter. 

2.  Für  die  Nürnberger  Angaben  ist  das  Resultat  nicht  un- 
bestreitbar, da  wir  von  schlecht  situierten  Arbeitern  nur  eine  Familie 
haben,  also  nicht  wissen  können,  ob  sie  typisch  ist  Danach  ver- 
wandten in  Prozenten  ihrer  Gesamtausgaben  die  Familien  mit 

auf  — 1000  — 1250  —1500  —1750  — 2000  üb.  2000  Mk.  Ausgaben 


Fleisch  5,78 

15.18 

16,00 

15,61 

»5.57 

14.74 

Butter                       1 ,40 

0,59 

o,59 

0,91 

1,50 

i.«3 

andere  Fette  2,60 

<M5 

1,40 

1,64 

3.7« 

2,38 

Brot  21,44 

9,80 

7.9i 

8,59 

9.84 

12,46 

KartofT.  u.  Wurzelgew.  3, 1 2 

1.57 

M7 

1,22 

1,21 

1,19 

Zucker  2,54 

1-53 

1,68 

1.52 

MI 

«.35 

Wenn  diese  Angaben  typisch  sind,  dann  spielen  bei  den 
ärmeren  Familien  die  Ausgaben  für  Kartoffeln  und  für  Brot  die 
zwei-  bis  dreifache  Rolle  als  bei  den  besser  situierten,  die  für 
Butter  und  Fett  eine  etwas  größere,  die  für  Fleisch  eine  fast  drei- 
mal so  geringe. 

Sehr  viel  stärker  treten  die  Unterschiede  hervor,  vergleicht 
man  die  ärmeren  mit  den  wohlhabenden  Familien. 

3.  Bei  den  7  Hallenser  Budgets  von  Hampke  verwandten 
von  100  Mk.  ihrer  Ausgaben  die  Familien  der  4  erwähnten 


Wohlhabenheitsssufen 

I. 

II. 

III. 

IV. 

auf  Fleisch 

7.00 

10,30 

10,50 

6,50 

Butter 

5.30 

3.20 

2  90 

2,70 

andere  Fette 

2,50 

1,30 

0,63 

0,24 

Roggenbrot 

10,60 

3.03 

1,90 

1,00 

Weißbrot 

2,10 

2,20 

1,10 

1,50 

Kartoffeln 

2,70 

0,90 

0,46 

0,50 

Wurst,  Schinken 

2,40 

2,80 

1,50 

1,20 

Zucker 

0,80 

1,10 

1,50 

0,88 

22* 


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340 


Fritr  Kcstncr, 


Die  ärmeren  Familien  verwenden  also  gegenüber  den  wohl- 
habenden das  5*  und  10 fache  auf  Roggenbrot,  das  5  fache  auf 
Kartoffeln,  das  4  fache  bei  Fetten,  das  doppelte  auf  Butter,  Wurst 
und  Schinken,  dagegen  kaum  mehr  auf  Weißbrot  und  eher  weniger 
auf  Fleisch  und  Zucker.  Dementsprechend  sind  auch  die  Preis- 
einwirkungen. 

4.  Eine  solche  Vergleichung  ermöglichen  ferner,  allerdings 
auch  nur  für  eine  geringe  Zahl  von  Budgets,  die  Erhebungen 
B  a  1 1  i  n  s  in  Berlin  und  Charlottenburg,  deren  absolute  Ziffern  ich 
in  Prozentzahlen  umgerechnet  habe.  Es  verwandten  darnach  in 
Prozenten  ihrer  Gesamtausgabe 


Beruf 

Markt- 
hclfer 

Garten- 
arbeiter 

Garten- 
arbeiter 

Arbeiter  in 
ein.  Apoth. 

Beamter  Kaufm. 

Kaufm 

Gesausg.  in  Mk. 

872 

890 

1041 

2  266 

5749 

4406,50 

6000 

Fleisch 

1 1 

6 

5 

9 

10 

1 1—12 

9 — IO 

inkl.  Speck  (ohne  Wurst) 

Milchwaren 

2,2 

4 

5-3 

3 

4,7 

5 

(mit  Eiern) 

2,4 

Fettwaren 

7 

9—10 

10 

>4 

4 

3 

4 

Weißbrot 

4 

t 

7 

6 

2,4 

Schwarzbrot 

6 

18 

'5 

9 

,.»  , 

}  » 

3 

Kartoffeln 

2,1 

6 

5 

4 

0,9 

o,6 

i,5 

Zucker 

2,3 

2,2 

3.6 

2,1 

1.6 

1,6 

0,6 

Hieraus  ergäbe  sich,  daß  bei  den  Ärmeren  die  Ausgaben  bei 
allen  animalischen  Produkten  ungefähr  gleich  stark  ins  Gewicht 
fallen  wie  bei  denen  der  Wohlhabenden,  bei  Zucker  etwas  mehr, 
bei  Weißbrot  und  Fettwaren  um  etwa  das  doppelte,  bei  Schwarz- 
brot und  Kartoffeln  dagegen  um  das  4 — 5  fache. 

5.  Endlich  lassen  sich  noch  vergleichen  die  Angaben  Landolts 
über  die  Baseler  Arbeiter  und  niederen  Angestellten  mit  zwei  von 
Pfarrer  Hofmann  in  Thurgau  zur  ungefähr  gleichen  Zeit  auf- 
genommenen Budgets.  Allerdings  können  hier  nun  schon  lokale 
Verschiedenheiten  eine  Rolle  spielen. 

(Siehe  die  Tabelle  auf  S.  341.) 

Das  Bild  erscheint  infolge  des  hohen  Milchverbrauchs  sehr 
anders  als  in  den  deutschen  Budgets.  Immerhin  läßt  sich  soviel 
auch  hieraus  erkennen,  daß  die  Ausgaben  für  Brot  und  Kartoffeln 
bei  dem  Wohlhabenden  eine  sehr  viel  geringere  Rolle  spielen  als 
in  den  Häusern  der  Ärmeren,  während  andererseits  für  Fleisch 
mindestens  die  gleichen  Prozente,  meist  höhere,  verwandt  werden. 


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Die  Bedeutung  d.  Haushaltungsbudgets  f.  d.  Beurteilung  d.  Ernährungsproblems.  341 


Von  den  Gesamtausgaben  entfielen  in  Prozenten  auf: 


| 

* 

hm 

u 

V 

ja 

3 

V 

1) 

fc. 

Beruf 

a 

0 
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Schncidcrgcs« 

Textilarbeiti 

Maurergesel 

0 
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6 
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1) 

22 

JZ 

1 

Im 
W 

!2 
%j 

je 

Zigarrensorti« 

Kommis 

Landarbeit« 

Pfarrer 

Beamter 

Gesamtausg.  in  Frcs. 

1185U347 

1365  1404 

I488|i736|i840 

1950  2109  2491(3941  4760 

Fleisch 

1,7 

IOJ 

4,6 

4,4 

n,3 

15,5 

7,7 

6,6 

9,2 

5.i 

11,1 

11,7 

Speck 

1,7 

o,3 

0,4 

o,i 

o,3 

o,5 

0,4 

o,7 

Brot 

8,7 

4,» 

«7,5 

17,0 

»4,7 

3,» 

6,3 

»1,4 

2,2 

i3,o 

2,6 

2,9 

Milch 

»3,2 

9,4 

12,1 

»3,2 

16,1 

9,i 

8,1 

12,9 

6,6 

12,4 

1,6 

2,5 

Käse 

2,5 

1,2 

0,2 

0,1 

0,2 

0,8 

o,5 

0,4 

1,7 

o,9 

oj 

Fette  u.  Butter 

2,4 

2,8 

4,3 

3,4 

3,7 

3,o 

2,5 

1,8 

4,o 

5,3 

2,2 

o,3 

Kartoffeln 

1,1 

2,5 

»,6 

3,o 

0,5 

0,6 

o,9 

0,6 

ij 

o,7 

0,1 

Zucker 

.,2 

o,9 

1.4 

1,2 

1,0 

0,7 

0,8 

i.5 

0,2 

0,2 

0,4 

0,1 

Es  sind  also  ungefähr  überall  dieselben  Ergebnisse:  Auf 
Fleisch  und  Zucker  verwenden  die  Armen  prozentual  ungefähr 
dasselbe  wie  die  Reichen,  wenn  nicht  etwas  weniger;  auf  Weiß- 
brot etwas  mehr;  auf  Fette  etwa  das  doppelte,  natürlich  ver- 
schieden nach  den  Sorten;  dagegen  sehr  viel  mehr  auf  Roggenbrot 
und  Kartoffeln,  nach  den  gegebenen  Beispielen  etwa  5 — 10 mal  so 
viel.  Das  würde  sich  noch  verschärfen,  hätten  wir  Budgets  von 
ganz  Armen. 

Diese  Erkenntnis  ist  für  die  Einwirkung  von  Preisverschiebungen 
nicht  unwichtig.  Sie  zeigt  die  unmittelbaren  Wirkungen,  die 
ein  Steigen  oder  Fallen  der  Preise  auf  die  Familie  der  betreffenden 
Einkommensschicht  hat  Damit  ist  natürlich  der  Einfluß  von 
Preisanderungen  noch  nicht  erschöpft  Aber  die  mittelbaren 
Wirkungen,  inwieweit  ein  Steigen  oder  Fallen  der  Preise  den  Ver- 
brauch des  betreffenden  Nahrungsmittels  beschränkt  oder  erweitert, 
lassen  sich  aus  den  Ziffern  der  HHB.  allein  noch  nicht  erkennen. 

II.  Für  die  Bedeutung  der  Nahrungsausgaben  überhaupt  inner- 
halb der  Gesamtausgaben  wird  zu  gelten  haben:  Je  kleiner  das 
Einkommen,  desto  größer  ist  der  Anteil  der  Ausgaben  für  Nahrung. 

Bekanntlich  hat  nun  die  regelmäßige  Wiederkehr  dieser  Beob- 
achtung, daß  mit  wachsendem  Einkommen  der  Prozentsatz  für 
Nahrungsausgaben  fiele,  Ernst  Engel  11857  <^azu  geführt,  eine 
Gesetzmäßigkeit  anzunehmen.     Um  dies  zu  verdeutlichen, 


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342 


Frite  Keitner, 


nicht  um  eine  mathematische  Regel  aufzustellen,  sagt  er:  Bei 
wachsendem  Einkommen  sänke  der  Prozentsatz  der  Nahrungs- 
ausgaben in  geometrischer  Progression. 

Die  grundlegende  Tabelle  Engels  (1857,  S.  31)  lautete: 


Wenn  das  gesamte  jährliche  Einkommen 
einer  Familie  beträgt, 
Francs : 

200 

300 

400 

500 

600 

700 

800 

900 
1000 
1 100 
1500 
2000 
3000 


so  nehmen  die  Ausgaben  für  Nahrung 
davon  in  Anspruch 
Prorent : 

72,96 

7L48 
70,11 
68,85 
67,70 
66,65 

65,69 
64,81 
64,00 

63.25 
60,75 
58,65 

56,90  und  so  fort. 


Engel  hat  dieses  Gesetz  dann  noch  mehrere  Male  wieder- 
holt.1) Dann  wurde  es  1873  von  v.  d.  Goltz  für  die  ländlichen 
Arbeiter  bestritten, *)  während  es  Laspeyres*)  bei  den  Budgets 
Le  Plays  bestätigt  fand  und  ihm  die  Form  gab:  Mit  wachsendem 
Einkommen  steigen  die  Ausgaben  für  Nahrung  absolut,  aber  fallen 
relativ.  F  r  i  e  f  *)  bezweifelte  die  Richtigkeit  für  die  schlesischen 
Arbeiter;  hier  gelte  es  erst,  nachdem  Wohnung  und  Heizung  be- 
friedigend gedeckt  wären.  Hampke  (a.  a.  O.  S.  30  ff.,  wo  auch 
weitere  Literatur)  unternahm  dann  1885  ausführlich  den  Versuch 
an  der  Hand  der  Budgets  von  Zittauer  Garnwebern,  von  Königs- 
berger Arbeitern  (Samter)  und  Mühlhauscner  Arbeitern  (Dehn)  fest- 
zustellen, daß  es  wenigstens  gruppenweise  stimme;  aber  nur  mit 
Einschränkungen  nach  unten :  erst  müsse  der  standesgemäße  Bedarf 
an  Wohnung  und  Kleidung  erfüllt  sein,  nach  oben:  nur  bis  zu 


')  In  den  S.  309  angeführten  Schriften. 

*)  In  verschied.  Nummern  der  Zeilschr.  Concordia  1875. 

*)  Ebenda  1875. 

*)  Frief,  Die  wirtschaftliche  Lage  der  Fabrikarbeiter  in  Schlesien,  Breslau 

1876. 


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Die  Bedeutung  d.  Hausbaltungsbudgets  f.  d.  Beurteilung  d.  Ernährungsproblems.  343 

einer  mittleren  Einkommensschicht,  v.  d.  Goltz'  Widerspruch  be- 
weise nichts,  da  das  Gesetz  immer  nur  örtliche  Geltung  habe. 

Das  Gesetz  ist  in  die  Lehrbücher  übergegangen.  Ich  will  hier 
nur  hervorheben,  daß  es  teilweise  —  wenn  auch  unter  Ablehnung 
der  mathematischen  Form  —  anerkannt  wird  von  Philippovich,1) 
Lexis,2)  Ball  in  (3  S.  78),  Gruber  a.  a.  O.  S.  89— 93  und  Litera- 
turnachweis S.  149), 8)  dagegen  die  Gesetzmäßigkeit  im  wesent- 
lichen bestritten  wird  von  Nasse4)  und  neuerdings  von  Ad. 
Braun  in  den  Nürnberger  Erhebungen*)  (16,  S.  32  ff.). 

Tatsächlich  ist  auch  in  der  dort  gegebenen  Tabelle  nichts  zu 
finden,  was  für  das  Engeische  Gesetz  spräche,  und  das  würde  auch 
nicht  der  Fall  sein,  wenn  man  sie  in  Quets  umrechnete.  Nun  ist 
die  Nürnberger  ja  zwar  keine  Massenerhebung,  aber  sie  berücksichtigt 
immerhin  doch  44  Budgets,  und  Laspeyres  hat  1873  behauptet,  es 
müsse  auch  schon  bei  einer  kleinen  Zahl  —  bei  40  —  stimmen. 

Das  Ergebnis  ist  also,  daß  spätere  Beobachtungen  z.  T.  die 
Richtigkeit  ergeben  haben,  z.  T.  nicht.  Es  ist  also  kein  Gesetz, 
enthält  aber  doch  richtiges.  Um  zu  erkennen,  inwieweit,  muß  man 
auf  die  Ursachen  des  Gesetzes  eingehen: 

Dem  „Gesetz"  liegt  zu  Grunde  die  ökonomisch-psychologische 
Erkenntnis  von  der  Rangordnung  der  Bedürfnisse.  Die  unentbehr- 
lichsten Bedürfnisse,  das  sind  in  unserem  Klima:  Wohnung,  Kleidung, 
Nahrung,  in  gewissem  Grade  auch  Heizung  und  Beleuchtung, 
müssen  vor  allen  andern  befriedigt  werden.  Daß  eines  von  jenen 
entbehrlicher  wäre  als  das  andere,  kann  man  nicht  sagen.  Sie 
müssen  alle  gedeckt  sein,  bevor  andere  Bedürfnisse  befriedigt 
werden  können.  Da  sie  sich  nun  aber  heute  alle  nur  gegen  Ent- 
gelt beschaffen  lassen,  so  muß  ein  desto  größerer  Teil  des  Ein- 
kommens auf  sie  verwandt  werden,  je  kleiner  dasselbe  ist.  Sie 


')  Grundriß  I.    3.  Aufl.    S.  338. 

*)  In  Schönbergs  Handbuch  Bd.  I.    3.  Aufl.    S.  711. 

*)  Roscher,  I.  Bd.  22.  Aufl.  S.  643  sagt  „gewöhnlich". 

*)  In  den  Jahrb.  für  Nat.  Ökon.  u.  Statistik  III  F.  II,  S.  398  ff.  auf  Grund 
eines  Vergleiches  zwischen  englischen  und  Saarbrilcker  Bergarbeitern. 

5)  Es  wird  dort  die  Möglichkeit  offen  gelassen,  ob  sich  bei  einer  großen  Zahl 
von  Erhebungen  eine  Gesetzmäßigkeit  einstellte.  An  derselben  Stelle  und  in  der 
Einleitung  wird  in  sehr  instruktiver  Weise  dargelegt,  wie  sich  die  Ausgabenverhalt- 
nissc  verändern,  wenn  man  nur  einen  Monat  oder  wenn  man  ein  ganzes  Jahr  hin- 
durch die  Budgets  aufnimmt. 


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344 


Fritz  Kestncr, 


zusammen  bilden  das,  was  man  physische  Erhaltung  nennt-  Der 
Prozentsatz  der  Ausgaben  für  physische  Erhaltung 
fällt  also  regelmäßig  mit  wachsendem  Einkommen.') 
Aber  nur  so  lange,  als  der  Einkommenspunkt  noch  nicht  erreicht 
ist,  an  dem  die  physische  Erhaltung  wirklich  möglich  geworden 
ist  und  die  unentbehrlichen  Bedürfnisse  befriedigend  gedeckt 
sind  Von  diesem  Augenblick  an  hört  jede  Regelmäßigkeit  auf  — 
die  individuellen,  eventl.  auch  die  Standesneigungen  bestimmen, 
für  was  die  weiter  vorhandenen  Teile  des  Einkommens  verwandt 
werden.  Eine  weitere  Regelmäßigkeit  ist  dann  nur  noch  schein- 
bar, weil  auch  in  Nahrung,  Kleidung,  Wohnung  sich  Bestandteile 
finden,  die  zur  physischen  Erhaltung  und  solche,  die  zum  Komfort 
dienen.  —  Mehr  als  das  obige  kann  man  nicht  feststellen.2) 

Zu  bemerken  ist  noch,  daß  selbst  das  wenige,  was  sich  be- 
haupten läßt,  nicht  überall  ausnahmslos  stimmt.  Es  ist  möglich, 
daß,  wie  das  bei  Beamtenfamilien  berichtet  wird,  Entbehrungen 
selbst  innerhalb  der  Sphäre  physischer  Erhaltung  vorkommen,  um 
die  Befriedigung  des  anderen  großen  Bedürfnisses,  das  nach  An- 
erkennung, zu  ermöglichen. 

Auch  hier  also  zeigt  sich  wieder  die  Grenze,  die  allen 
Folgerungen  aus  den  HHB.  immer  gezogen  ist  Daß  das  vor- 
handene Material  manche  Aufschlüsse  bietet  und  in  einigen  Be- 
ziehungen auch  noch  weiter  durchforscht  werden  kann,  ist  zweifel- 
los. Auf  der  anderen  Seite  aber  kann  nicht  scharf  genug  hervor- 
gehoben werden,  daß  wirklich  exakte  Vergleiche  bisher  nicht 
möglich  sind  und  daß  man  ein  System  nicht  darauf  aufbauen 
kann.  Die  Versuche,  die  jene  Grenze  überschritten,  sind  gescheitert 
Bevor  sie  mit  Erfolg  unternommen  werden  könnten,  bedürfte 
es  einer  großen  Zahl  neuer  HHB.,  besonders  aus  den  Kreisen  der 
wohlhabenden  und  der  landwirtschaftlichen  Bevölkerung. 


')  In  dieser  Form  ebenfalls  wiederholt  von  Engel  ausgesprochen. 

*)  Daß  Engel  eine  solche  Gesetzmäßigkeit  annahm,  läßt  sich  vielleicht  daraus 
erklären,  daß  die  Preise  von  Wohnung  und  Kleidung  damals  noch  ziemlich  gleich- 
mäßige waren  und  keine  große  Rolle  für  den  Beobachter  spielten,  als  er  das  „Gesetz" 
aufstellte;  die  Verschiedenheit  der  Lebenshaltung  drückte  sich  überwiegend  in  den 
Ausgaben  für  Nahrung  aus. 


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Die  Bedeutung  d.  Haushaltungsbudgets  f.  d.  Beurteilung  d.  Ernährungsproblems.  345 

V.  Abschnitt. 

Zum  Schluß  noch  einige  Betrachtungen  über  die  Folgen  für 
Privat-  und  Volkswirtschaft,  die  sich  aus  vorstehendem  ergeben : 

I.  Die  wachsende  Bedeutung,  die  die  moderne  Physiologie 
der  Schmackhaft igkeit  der  Speisen  beilegt,  macht  es,  in  Verbindung 
mit  sonstigen  volkswirtschaftlichen  Erscheinungen,  immer  dringender 
notwendig,  fiir  eine  wirtschaftliche  Ausbildung  derjenigen  Sorge  zu 
tragen,  die  dem  Arbeiter  und  seiner  Familie  das  Essen  bereiten. 
Ob  dies  zu  geschehen  hat  durch  obligatorischen  Kochunterricht  in 
Volksschulen  und  Fortbildungsschulen  für  Fabrikmädchen,  oder 
etwa  durch  Einrichtungen,  wodurch  für  eine  Reihe  von  Familien 
zusammen  von  einer  „sachverständigen"  Kraft  das  Essen  bereitet 
wird,  darüber  können  die  HHB.  natürlich  keinen  Aufschluß  geben. 
Für  jetzt  wird  wohl  das  erstere  noch  im  Vordergrund  zu  stehen 
haben.  Jedenfalls  aber  muß  vorgesorgt  werden,  daß  bei  der 
Speisenbereitung  im  Arbeiterhaushalt  größere  Sach- 
kunde zur  Anwendung  kommt. 

II.  Für  die  Politik  der  Steuern  und  Zölle  auf  Nahrungs- 
mittel ergibt  sich  das  Notwendige  bereits  aus  dem,  was  über  den 
Einfluß  von  Preisverschiebungen  im  IV.  Abschnitt  gesagt  worden 
ist  Wenn  eine  Steuer  oder  ein  Zoll  das  betreffende  Nahrungs- 
mittel verteuert,  treten  alle  die  dort  beschriebenen  Wirkungen  der 
Preiserhöhung  auf  und  gelten  alle  die  Berechnungen  über  die  Be- 
lastung des  Einkommens  der  einzelnen  Vermögensklassen. 

Steuer  und  Zoll  brauchen  ja  eine  Verteuerung  nicht  zu  ver- 
anlassen. Sie  können  auf  dem  Produzenten  liegen  bleiben  oder 
von  ihm  durch  Betriebsverbesserungen  ausgeglichen  werden.  Letzterer 
kann  unter  gewissen  bestimmten  Umständen  vom  Ausland  getragen 
werden,  er  kann  auch  die  Produktion  vergrößern  und  dadurch  bei 
freier  Konkurrenz  die  Preise  wieder  herabsetzen.  Beide  können 
aber  auch  den  Konsumenten  treffen,  besonders  wenn  es  sich  um 
unentbehrliche,  im  Inlande  nicht  ausreichend  hergestellte  Gegen- 
stände handelt  Wann  einer  dieser  Fälle  zutrifft,  ist  Sache  jedes- 
maliger Feststellung. 

Es  ist  bisher  erst  selten  versucht  worden,  direkt  die  Einflüsse 
einer  bestimmten  Zoll-  oder  Steuerpolitik  aus  den  Veränderungen 
in  den  Ziffern  der  HHB.  herauszulesen.  Das  ist  natürlich  nur 
möglich,  wenn  man  denselben  Haushalt  eine  längere  Zeit  vor  und 


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346 


Fritz  Kestner, 


nach  der  Einfuhrung  eines  neuen  Zolls  beobachtet,  obgleich  selbst 
dann  noch  große  Schwierigkeiten  entstehen  können,  da  außer  dem 
Zoll  immer  noch  verschiedene  andere  Ursachen  der  Preisbildung 
tätig  sein  können.  Bei  Einfuhrung  der  Schutzzollgesetzgebung 
von  1879  wurden  in  Berlin  einige  HHB.  aufgenommen,  aus  denen 
die  Gegner  derselben  einen  starken  Einfluß  des  Zolls  herauslesen. 
Die  Anhänger  des  Schutzzolls  zweifelten  andererseits  die  Richtig- 
keit an. 

Es  ist  übrigens  zur  Führung  solcher  Beweise  die  Aufnahme 
von  Budgets  nicht  unbedingt  nötig.  Kennt  man  den  durchschnitt- 
lichen Verbrauch  und  die  Detailpreise  am  betreffenden  Ort,  so 
läßt  sich  die  Belastung  bei  gegebenem  Verbrauch  einwandsfrei  er- 
mitteln. Von  Bedeutung  wäre  vielmehr  nur,  festzustellen,  ob  die 
Belastung  eine  Änderung  in  der  Richtung  des  Konsums  hervor- 
gerufen hat  Zur  Feststellung  in  dieser  Hinsicht  genügt  unser 
Material  bisher  nirgends. 

Die  Arbeiterbudgets  haben  aber  trotzdem  in  der  volkswirt- 
schaftlichen Literatur  vielfach  dazu  gedient,  den  Einfluß  der  Gesetz- 
gebung in  Zoll-  und  Steuersachen  auf  den  Privathaushalt  zu  er- 
hellen, im  wesentlichen  um  Zölle  und  Steuern  auf  Nahrungsmittel, 
zuweilen  auch  indirekte  Steuern  überhaupt  zu  bekämpfen.  Es  seien 
als  Beispiele  unter  der  großen  Literatur  hervorgehoben  zunächst 
Engel,1)  ferner  Conrad,2)  Landolt  (7),  Mombert,8)  dem 
sich  Grotjahn  (S.  67)  anschließt,  Ad.  Braun  (16). 

Von  volkswirtschaftlicher  Bedeutung  ist  fernerhin,  wie  hinzu- 
gefugt werden  mag,  die  durch  die  HHB.  ermöglichte  Feststellung 
des  durchschnittlichen  Konsums  in  einzelnen  Klassen,  vor  allem 
wichtig  für  die  Produzenten,  die  dadurch  über  dieAusdchnungs- 
fähigkeit  im  Konsum  ihrer  Produkte  vieles  erfahren 
könnten.  Man  kann  dies  feststellen,  indem  man  den  durchschnitt- 
lichen Verbrauch  in  der  beobachteten  Schicht  vergleicht  mit  dem 
Durchschnittskonsum  der  Bevölkerung.  Die  Berechnung  ist  natür- 
lich nur  dann  möglich,  wenn,  wie  bei  Zucker,  Bier,  Branntwein, 
Salz,  Tabak,  Kaffee  (durch  den  Zoll)  allgemeine  Verbrauchs- 
berechnungen vorliegen.  Außerdem  muß  die  beobachtete  Schicht 
typisch  sein. 


')  Z.  B.  in  der  Abhandlung  von  1857,  S,  31. 

*)  Jahrb.  für  Nat.-Ökon.  und  Statistik  1873.    XVI,  S.  242  fr. 

s)  Die  Belastung  des  Arbeitereinkommens  durch  Kornzölle.    Jena  1901. 


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Die  Bedeutung  d.  Haushaltungsbudgets  f.  d.  Beurteilung  d.  Ernährungsproblems.  347 

So  war  z.  B.  der  Zuckerverbrauch  der  Nürnberger  Arbeiter 
10 V8  kg  pro  Kopf,  d.  h.  1901  so  hoch  wie  der  der  ganzen  Be- 
völkerung im  Betriebsjahre  1893  94.  Dabei  stellen  die  Nürnberger 
Zahlen  nicht  den  durchschnittlich,  sondern  den  hochgelohnten 
Arbeiter  dar.  Bei  Kaffee  ist  der  Durchschnitt  für  den  Nürnberger 
I  Vi  kg  jährlich,  für  den  Deutschen  4  kg.  Allerdings  ist  wahr- 
scheinlich der  Kaffeeverbrauch  in  Nürnberg  —  infolge  hohen  Bier- 
konsums —  niedriger  als  in  anderen  Gegenden. 

Eine  Vermehrung  des  Konsums  kann  herbeigeführt  werden 

1.  durch  Erhöhung  des  Einkommens  einer  Bevölkerungsschicht, 

2.  durch  ein  Herabgehen  der  Preise.  Wie  das  erstere  wirkt,  ließe 
sich  bei  mehrjähriger  Betrachtung  des  Haushalts  konstatieren,  falls 
sich  das  Einkommen  der  Familie  aufwärts  bewegt.  Wie  das 
zweite,  durch  eine  Vergleichung  der  verzehrten  Summen  bei  gleich- 
bleibendem Einkommen  mit  den  Detailpreisen.  Das  letztere  ließe 
sich  aber  wohl  viel  allgemeingültiger  und  leichter  aus  den  Geschäfts- 
berichten der  größeren  Konsumvereine  entnehmen. 

Eine  vergleichende  Betrachtung  zwischen  der  Tätigkeit  der 
letzteren  und  den  HHB.  ist  von  Kuhna  angestellt  worden.  Die 
schwierige  Untersuchung,  inwieweit  sich  der  Einfluß  derselben  auf 
die  Ernährung  der  Minderbemittelten  bereits  geäußert  hat,  wäre 
eine  Aufgabe  für  sich. 

IV.  Uber  das  viel  erörterte  Problem  vom  Agrar-  und 
Industriestaat  könnten  die  HHB.  an  sich  wohl  manchen  Auf- 
schluß geben,  wenn  es  gelänge,  dieselben  Leute,  deren  Nahrung 
man  auf  dem  Lande  untersucht  hat,  nachher  in  der  Stadt  von 
neuem  zu  erforschen.  Bisher  ergeben  die  HHB.  in  dieser  Be- 
ziehung gar  nichts.  Der  von  Grotjahn  unternommene  Versuch,  eine 
prinzipielle  Verschlechterung  der  Ernährung  durch  die  Industriali- 
sierung nachzuweisen,  muß  als  durchaus  gescheitert  angesehen 
werden.  Auch  im  übrigen  ist  die  Budgetliteratur,  namentlich  für 
die  ländliche  Bevölkerung,  zu  gering,  um  Aufschlüsse  über  die 
gegenwärtigen  Unterschiede  der  Ernährung  im  allgemeinen  zu 
geben.  —  Ebensowenig  ist  für  das  Entartungsproblem  bisher 
irgend  etwas  erwiesen  worden. 


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348 


GESETZGEBUNG. 

Die  Ausdehnung  des  Arbeiterschutzes  in  Frankreich. l) 

(Das  Gesetz  vom  n.  Juli  1903.) 

Von 

Dr.  JULIUS  LANDMANN 

in  Basel. 

L 

In  Übereinstimmung  mit  den  Entwicklungstendenzen,  die  in 
der  Geschichte  des  Arbeiterschutzes  in  allen  Ländern  zum  Aus- 

J)  Quellen:  Rapport  sur  les  conditions  du  travail  des  personnes  non  pro- 
tegees  par  la  legislation  actuellc,  präsente  au  nom  de  la  commission  permanente 
[du  conseil  superieur  du  travail]  par  M.  Victor  Dalle.  Rapport  special  sur  les 
industries  de  l'alimentation  par  M.  Jules  Barafort.  LIX  S.  4°,  Paris.  Impri- 
merie  nationale.  1901.  —  Conseil  superieur  du  travail.  Documents  annexes  aux 
rapports  de  M.  M.  Dalle  et  Barafort  sur  la  rcglementation  du  travail  dans  les  bu- 
reaux  et  magasins  et  dans  les  petites  industries  de  l'alimentation.  261  S.  40.  Paris, 
Imprimcrie  nationale.  1901.  —  La  Session  du  conseil  superieur  du  travail.  3  au 
13  juin  1901,  Beriebt  im  „Bulletin  de  l'Office  du  Travail",  1901,  S.  391  ff.  —  Projet 
de  loi  (et  expose  de  motifs)  portant  modification  de  la  loi  du  12  juin  1893  (document 
Parlament.  No.  2875).  —  Rapport  fait  au  nom  de  la  commission  du  travail  chargee 
d'examiner  le  projet  de  loi  portant  modification  de  la  loi  du  12  juin  1893...  Par 
M.  Arthur  Groussier,  depute  (doc.  pari.  No.  2931).  —  Proces-verbal  de  la 
seance  [de  la  chambre  des  deputes]  du  6  fevrier  1902.  —  Rapport  fait  au  nom 
de  la  commission  charge  d'examiner  le  projet  de  loi,  adopte  par  la  chambre  des 
deputes,  portant  modification  de  la  loi  du  12  juin  1893...  Par  M.  Paul  Strauß, 
senateur  (doc.  pari.  No.  101).  —  Proces-verbal  de  la  seance  [du  senat]  du  3  fevrier 
1Q°3-  —  Rapport  supplementaire  fait  au  nom  de  la  commission  chargee  d'examiner 
le  projet  de  loi  adopte  par  la  chambre  des  deputes,  portant  modification  de  la 
loi  du  12  juin  1893...  P»r  M.  Paul  Strauß,  senateur  (doc.  pari.  No.  115).  — 
Proces-verbal  de  la  seance  [du  senat]  du  16  juin  1903.  —  Rapport  fait  au  nom  de 


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Julius  Landmann,  Die  Ausdehnung  des  Arbeiterschutzes  in  Frankreich.  34g 

druck  kommen,  weist  auch  die  Arbeiterschutzgesetzgebung  Frank- 
reichs in  ihrem  historischen  Werden  die  Tendenz  auf,  ihr  Geltungs- 
gebiet nach  zwei  Richtungen  hin  auszudehnen  :  es  erweitert  sich 
der  Kreis  der  geschützten  Arbeiterkategorien  und  gleichzeitig  der 
Kreis  der  den  Arbeiterschutzgesetzen  unterstehenden  Berufszweige. 

Das  Gesetz  vom  22.  März  1841,  mit  welchem  der  moderne 
Arbeiterschutz  in  Frankreich  einsetzt,  ist  ein  Gesetz  zum  Schutze 
der  Kinder  in  Fabriken  und  Werkstätten ;  es  folgte  das  Gesetz  vom 
19.  Mai  1874,  das  zwar  ebenfalls  auf  Fabriken  und  Werkstätten 
beschränkt  blieb,  dagegen  den  Kreis  der  geschützten  Arbeiter- 
kategorien erweiterte,  indem  es  neben  den  Kindern  noch  die  jugend- 
lichen Arbeiter  und  Arbeiterinnen  mit  in  sein  Geltungsgebiet  ein- 
bezog. Das  Gesetz  vom  2.  November  1892,  betr.  die  Arbeit  von 
Kindern,  minderjährigen  Mädchen  und  Frauen  in  gewerblichen  Be- 
trieben, unterwarf  auch  die  Arbeit  erwachsener  Frauen  der  gesetz- 
lichen Regelung  und  endlich  zog  das  Gesetz  vom  12.  Juni  1893, 
betr.  den  Schutz  der  Gesundheit  und  die  Sicherung  der  Arbeiter, 
nach  dieser  Seite  hin  die  äußerste  Konsequenz,  da  es  sich  auf  alle 
Betriebe  ohne  Ausnahme  erstreckt,  mithin  auch  auf  solche,  die 
ausschließlich  erwachsene  Männer  beschäftigen. 

Für  den  Rechtszustand  vor  Erlaß  des  Gesetzes  vom 
11.  Juli  1903,  das  den  Gegenstand  der  nachfolgenden  Seiten 
bildet,  sind  die  nachfolgenden  fünf  Gesetze  von  ausschlaggebender 
Bedeutung: 

1.  Gesetz  vom  9.  September  1848,  betr.  die  Arbeitsdauer  in 
Manufakturen  und  Fabriken; 

2.  Gesetz  vom  2.  November  1892,  betr.  die  Arbeit  der  Kinder, 
minderjährigen  Mädchen  und  Frauen  in  gewerblichen  Betrieben, 
nebst 

3.  Novelle  zu  diesem  Gesetze,  vom  30.  März  1900  (loi  Mille- 
rand) ; 

la  commission  du  travail  chargec  d'examincr  )e  projet  de  loi  adopt6  par  la  chambre 
des  deputes,  adopte  avec  modification  par  le  Senat,  portant  la  modification  de  la 
loi  du  12  juin  1893...  par  M.  Lucicn  Cornet,  depute  (doc.  pari.  No.  1144)-  — 
Proccs-verbal  de  la  seance  [de  la  chambre  des  deputes]  du  3  juillet  1903.  —  Circu- 
lairc  [du  ministcre  du  commerce  et  de  l'industric]  du  15  septembre  1903,  concer- 
nant  l'applicaüon  de  la  loi  du  11  juillet  1903  modifiant  la  loi  du  12  juin  1893. 
„Bulletin  de  l'inspccüon  du  travail"  1903,  Kr.  3.  4,  S.  96  ff.  —  Vgl.  auch  C  ha  illcy- 
Bert  et  Arthur  Fontaine,  Lois  sociales,  Paris,  1896,  S.  96fr.  —  „Bulletin  des 
internationalen  Arbeitsamtes",  Bd.  II,  1903,  S.  LXVIII  ff.  und  S.  373.) 


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350 


Gesetzgebung. 


4.  Gesetz  vom  12.  Juni  1893,  betr.  den  Schutz  der  Gesundheit 
und  die  Sicherung  der  Arbeiter  in  gewerblichen  Betrieben; 

5.  Gesetz  vom  29.  Dezember  1900,  betr.  die  Arbeitsbedingungen 
der  in  Magazinen,  Kramläden  usw.  beschäftigten  weiblichen  Per- 
sonen. 

Außer  diesen  fünf  Gesetzen,  deren  Durchfuhrung  der  Gewerbe- 
inspektion obliegt,  wäre  noch  6.  das  Gesetz  vom  22.  Februar  1851, 
betr.  den  Lehrvertrag,  zu  erwähnen,  mit  dessen  Durchfuhrung  die 
Polizeibeamten  betraut  sind. 

1.  Das  Gesetz  vom  9.  September  1848  ist  nur  auf 
„Manufakturen  und  Fabriken"  (manufactures  et  usines)  anwendbar. 
Die  beiden  Begriffe  sind  gesetzlich  nicht  definiert  und  auch  die 
Praxis  der  Gerichte  war  längere  Zeit  hindurch  schwankend.  Durch 
einen  Ministerialerlaß  vom  28.  November  1885  wurden  endlich  die 
Gewerbeinspektoren  angewiesen,  als  „Manufaktur  oder  Fabrik"  an- 
zusehen: a)  alle  Betriebe  mit  motorischer  Kraft  oder  mit  ununter- 
brochenem Feuer;  b)  alle  gewerblichen  Betriebe,  die  mehr  als 
20  Arbeiter  beschäftigen. 

Dem  Gesetze  vom  9.  September  1848  unterstehen,  seit  dem 
Erlaß  des  Gesetzes  vom  2.  November  1892  nur  erwachsene  männ- 
liche Arbeiter  im  Alter  von  über  18  Jahren  und  auch  von  diesen, 
seit  dem  Erlaß  der  Novelle  vom  30.  März  1900,  nur  diejenigen,  die 
nicht  zusammen  mit  Kindern,  Jugendlichen  oder  Frauen  beschäftigt 
sind.  Der  Art.  1,  Abs.  1  des  Gesetzes  von  1848  beschränkt  die 
Höchstdauer  der  täglichen  Arbeitszeit  auf  12  Stunden;  Art.  2  des 
Gesetzes,  zu  dessen  Ausführung  der  seither  mehrmals  abgeänderte 
Erlaß  vom  17.  Mai  185 1  erfloß,1)  sieht  die  Ausnahmen  von  dem 
im  Art.  1  aufgestellten  Grundsatze  vor. 

2.  Das  Gesetz  vom  2.  November  1892 5)  regelt  die 
Arbeitsbedingungen  der  Kinder,  minderjährigen  Mädchen  und 
Frauen  in  Manufakturen,  Fabriken,  Bergwerken,  Steinbrüchen,  Bau- 
plätzen, Werkstätten  aller  Art.  Es  enthält  im  wesentlichen  die 
nachfolgenden  Bestimmungen : 

a)  Zulassungsalter.  In  den  dem  Gesetze  unterstehenden 
Betrieben  dürfen  Kinder  grundsätzlich  nicht  vor  dem  zurückgelegten 


l)  Zuletzt  abgeändert  und  kodifiziert  durch  Erlaß  vom  28.  März  1902,  vgl. 
„Bulletin  des  internationalen  Arbeitsamtes*',  Bd.  I.  1902,  S.  277—279  und  S.  XLV 
und  513—520. 

s)  Vgl.  „Archiv  für  soziale  Gesetzgebung  und  Statistik",  Bd.  VI,  S.  ll6rT. 


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Julius  Landmann,  Die  Ausdehnung  des  Arbeiterschutzes  in  Frankreich.  351 

13.  Altersjahre  beschäftigt  werden;  ausnahmsweise  ist  die  Be- 
schäftigung von  Kindern  im  Alter  von  über  12  Jahren  gestattet, 
falls  diese  ihrer  Schulpflicht  nachkamen  und  im  Besitze  eines  ärzt- 
lichen Tauglichkeitsattestes  sind. 

b)  Arbeitsdauer  und  Pausen.  Die  Bestimmungen  des 
Gesetzes  von  1892  über  Arbeitsdauer  und  Arbeitspausen  wurden 
durch  die  Novelle  von  1900  einer  vollständigen  Änderung  unter- 
worfen. Die  Bedingungen  für  die  Gewährung  der  im  Gesetze  vom 
2.  November  1892  vorgesehenen  Ausnahmen  wurden  durch  Erlaß 
vom  15.  Juli  1893,  Art.  1  und  5,  genau  festgesetzt. 

c)  Nachtarbeit.  Jede  Arbeit  zwischen  9  Uhr  abends  und 
5  Uhr  morgens  ist  Kindern,  Jugendlichen  und  Frauen  verboten; 
für  eine  Reihe  von  Industrien,  insbesondere  solche  mit  ununter- 
brochenem Feuer,  sind  Ausnahmen  von  diesem  grundsätzlichen 
Verbote  vorgesehen,  zu  deren  näheren  Ausfuhrung  die  Art.  1,  2,  3 
und  4  des  Erlasses  vom  15.  Juli  1893  dienen. 

d)  Ruhetage.  An  dem  gesetzlich  vorgeschriebenen  wöchent- 
lichen Ruhetage  und  an  den  sonstigen  gesetzlichen  Feiertagen 
dürfen  Kinder,  Jugendliche  unter  18  Jahren  und  Frauen  nicht  be- 
schäftigt werden;  die  zulässigen  Ausnahmen  sind  durch  Art.  5  des 
Erlasses  vom  15.  Juli  1893  geregelt. 

e)  Gefährliche,  gesundheitsschädliche  und  sitt- 
lichkeitsgefährdende  Arbeiten  sind  für  Kinder,  Jugendliche 
und  Frauen  verboten;  das  Verzeichnis  dieser  Arbeiten  ist  im  Er- 
lasse vom  13.  Mai  1893  enthalten;  ebenda  sind  auch  diejenigen 
gefährlichen  und  gesundheitsschädlichen  Arbeitsarten  aufgeführt,  bei 
welchen  die  Verwendung  der  vorerwähnten  Arbeiterkategorien  zwar 
nicht  verboten,  jedoch  von  der  Erfüllung  gewisser  Bedingungen  ab- 
hängig gemacht  ist. 

f)  Durchführung  und  Kontrolle.  Kinder  und  Jugend- 
liche im  Alter  unter  18  Jahren  dürfen  nicht  beschäftigt  werden, 
wenn  sie  sich  nicht  im  Besitze  eines  Arbeitsbuches  befinden,  aus 
dem  zu  ersehen  ist,  daß  sie  den  Bedingungen  nachgekommen  sind, 
unter  denen  das  Gesetz  die  Beschäftigung  dieser  Arbeiterkategorien 
gestattet  Die  Unternehmer  sind  verpflichtet:  1.  ein  Verzeichnis 
der  in  ihren  Betrieben  beschäftigten  Kinder  und  Jugendlichen  zu 
führen;  2.  das  Gesetz  und  die  auf  Grund  des  Gesetzes  erlassenen 
Verordnungen  im  Betriebe  anzuschlagen;  3.  einen  Anschlag  über 
die  Arbeitsstunden,  die  Zeit  und  die  Dauer  der  Ruhepausen  und 
über  den  für  Kinder,  Jugendliche  und  Frauen  vorgeschriebenen 


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352 


Gesetzgebung. 


wöchentlichen  Ruhetag  im  Betriebe  anzubringen.  —  Die  Kontrolle 
über  die  Durchführung  des  Gesetzes  liegt  in  den  Händen  der  Ge- 
werbeinspektion. 

3.  Das  Gesetz  vom  30.  März  1900  ist  auf  alle  Betriebe 
anwendbar,  die  dem  Gesetze  vom  2.  November  1892  unterstehen. 
Es  schützt:  a)  Kinder,  Jugendliche  im  Alter  unter  18  Jahren  und 
erwachsene  Frauen;  b)  diejenigen  erwachsenen  männlichen  Arbeiter, 
die  zusammen  mit  den  vorerwähnten  Arbeiterkategorien  beschäftigt 
werden.    Es  bestimmt: 

a)  daß  die  Arbeitsdauer  in  den  dem  Gesetze  unterstehen- 
den Betrieben  bis  zum  31.  März  1902  elf  Stunden,  vom  1.  April 
1902  bis  zum  31.  März  1904  zehn  und  eine  halbe  Stunde  und  vom 
1.  April  1904  an  zehn  Stunden  täglich  betragen  soll; 

b)  daß  die  Arbeitszeit  durch  eine  oder  mehrere  Pausen  unter- 
brochen werden  muß,  die  zusammen  mindestens  eine  Stunde  dauern 
sollen;  während  der  Pause  ist  jede  Arbeit  verboten;  die  Zeit,  in 
welche  die  Pausen  fallen,  ebenso  der  Beginn  und  der  Schluß  der 
Arbeitszeit  müssen  für  alle  Arbeiter  des  Betriebes  gleichmäßig  ge- 
regelt sein.1)  Nach  einer  Entscheidung  des  Kassationsgerichtshofes 
vom  26.  Januar  1901  sind  diese  Bestimmungen  über  die  Pausen 
auch  auf  die  in  den  dem  Gesetze  unterstellten  Betrieben  beschäf- 
tigten erwachsenen  männlichen  Arbeiter  anwendbar. 

4.  Dem  Gesetze  vom  12.  Juni  1893  unterstehen  Manu- 
fakturen, Fabriken,  Hüttenwerke,  Bauplätze,  Werkstätten  usw.,  ohne 
Rücksicht  auf  die  Kategorie  der  darin  beschäftigten  Arbeiter.  Ein- 
zelne Bestimmungen  dieses  Gesetzes  sind  auch  auf  Theater-  und 
Zirkusunternehmungen  und  sonstige  nicht  gewerbliche  Betriebe,  in 
welchen  Maschinen  verwendet  werden,  anwendbar. 

Wie  der  Titel  des  Gesetzes  besagt,  bezweckt  es  ausschließlich 
die  Sicherung  des  Lebens  und  der  Gesundheit  durch  hygienische 
Maßregeln.  Die  Ausführungsdetails  sind  in  einem  Erlasse  vom 
10.  März  1894  enthalten. 

5.  Das  Gesetz  vom  29.  Dezember  1900  ist  auf  Magazine 
und  Kramläden  anwendbar,  jedoch  nur  so  weit,  als  darin  weibliches 

J)  Eine  Entscheidung  des  Kassationshofes  vom  30.  November  1901  sprach 
sich  gegen  die  Auffassung  aus,  als  müßten  die  Pausen  für  alle  Kategorien  gleich- 
mäßig  geregelt  sein.  Folge  dieser  Entscheidung  war  und  ist  eine  fast  absolute  Un- 
möglichkeit der  Kontrolle  der  Arbeitsdauer  der  erwachsenen  Männer;  vgl.  Rapports 
sur  l'application  pendant  l'annee  1902  des  lois  rcglementants  lc  travail. 


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Julius  Landmann,  Die  Ausdehnung  des  Arbeiterschutzes  in  Frankreich.  353 

Verkaufspersonal  beschäftigt  ist;  es  kann  als  eine  kleine  Ergänzung 
des  Gesetzes  vom  12.  Juni  1893  angesehen  werden,  indem  es 
wesentlich  einen  hygienischen  Zweck  verfolgt.  Seine  einzige  Be- 
stimmung betrifft  die  Gewährung  von  Sitzgelegenheit  für  das  weib- 
liche Verkaufspersonal. 

6.  Das  Gesetz  vom  22.  Februar  1851  hat  einen  äußerst 
engen  Geltungskreis.  Es  ist  nur  dann  anwendbar,  wenn:  1.  ein 
Lehrvertrag  mit  einem  Fabrikanten  oder  Werkstättenbesitzer  (nicht 
mit  dem  Besitzer  eines  kaufmännischen  Betriebes)  abgeschlossen 
wurde,  und  wenn  2.  der  Lehrling  den  Bestimmungen  des  Gesetzes 
vom  2.  November  1892  nicht  untersteht.  Infolge  der  seither  er- 
folgten Entwicklung  der  Gesetzgebung  ist  demnach  dieses  Gesetz 
gegenwärtig  nur  noch  auf  die  Lehrlinge  der  Kleinindustrie  der 
Nahrungs-  und  Genußmittel  anwendbar. 

Soweit  die  Übertretung  der  Bestimmungen  dieses  Gesetzes 
unter  Strafandrohung  gestellt  ist,  und  somit  für  die  Durchfuhrung 
eine  Handhabe  geboten  ist,  besagen  sie: 

a)  die  effektive  Arbeitsdauer  der  Lehrlinge  im  Alter  unter 
14  Jahren  darf  10  Stunden,  der  im  Alter  unter  16  Jahren  12  Stunden 
täglich  nicht  überschreiten; 

b)  Lehrlinge  im  Alter  unter  16  Jahren  dürfen  zur  Nachtarbeit 
nicht  herangezogen  werden; 

c)  zur  Arbeit  an  Festtagen  dürfen  Lehrlinge  unter  16  Jahren 
nur  bei  Werkstättenreinigungsarbeiten  verwendet  werden; 

d)  den  Lehrlingen,  die  noch  zum  Besuche  des  Ergänzungs- 
unterrichtes verpflichtet  sind,  müssen  täglich  zu  diesem  Zwecke 
zwei  Stunden  freigegeben  werden,  die  von  der  effektiven  Arbeits- 
dauer in  Abzug  zu  bringen  sind. 

Aus  der  vorstehenden  Analyse  der  sechs  wichtigsten  französi- 
schen Arbeiterschutzgesetze  ist  ersichtlich,  daß  diese  Gesetzgebung 
hinsichtlich  des  Umfanges  der  geschützten  Arbeiterkategorien  ins- 
besondere aber  hinsichtlich  des  Kreises  der  den  gesetzlichen  Be- 
stimmungen unterstellten  Gewerbezweige  bisher  manchen  derjenigen 
Anforderungen  nicht  entsprach,  deren  Erfüllung  heute  überall  von 
einer  vorgeschrittenen  Sozialgesetzgebung  verlangt  wird,  und  denen 
auch  die  Gesetzgebung  einiger  europäischer  Industriestaaten  bereits 
nachgekommen  ist. 

Wir  sehen  in  Frankreich,  außer  den  gesetzlich  geschützten 
Arbeiterkategorien:  1.  gesetzlich  absolut  ungeschützte  und  2.  ge- 
setzlich nur  teilweise  und  mangelhaft  geschützte  Kategorien. 

Archiv  für  So*ia!wiMeu»chaft  u.  Sozialpotilik.  I.    (A.  f.  sox.  G.  u.  St.  XIX.)  1.  23 


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354 


Gesetzgebung. 


I.  Zu  den  gesetzlich  absolut  nicht  geschützten  Kategorien  ge- 
hören : 

a)  die  landwirtschaftlichen  Arbeiter; 

b)  das  Hausgesinde; 

c)  die  Arbeiter  und  Angestellten  der  Transportunternehmungen 
zu  Wasser  und  zu  Lande.  Immerhin  bestehen  für  einen  Teil  der 
Angehörigen  dieser  Berufsgruppen  (insbesondere  für  die  Maschi- 
nisten, Heizer,  das  Zugpersonal  und  das  Personal  der  Bahnhöfe) 
in  den  Erlassen  des  Ministers  der  öffentlichen  Arbeiten  Ansätze  zu 
einem  Schutze; 

d)  die  Angestellten  in  Bureaus,  Kontoren  usw.,  jeden  Alters 
und  beider  Geschlechter l) ; 

e)  Handelsangestellte  und  sämtliche  Angestellten  in  kaufmänni- 
schen Betrieben  *) ; 

f)  sämtliche  Arbeiter  und  Angestellte  (mit  Ausnahme  der  Lehr- 
linge) in  der  Kleinindustrie  der  Nahrungs-  und  Genußmittel  (Brot- 
und  Zuckerbäckereien,  Schlächtereien,  Wurstereien)  und  im  Be- 
herbergungs-  und  Erquickungsgewerbe  l) 2) ; 

g)  die  Arbeiter  der  Hausindustrie. 

II.  Innerhalb  der  zweiten  nicht  geschützten  Kategorie  können 
wir  zwei  Unterabteilungen  konstatieren: 

A.  Arbeiterkategorien,  die  keinen  Schutzgesetzen  unterstehen, 
mit  Ausnahme  jener  über  Hygiene  und  Sicherheit;  dies  sind: 


')  Nunmehr  durch  die  Novelle  vom  n.  Juli  1903  dem  Gesetze  vom  12.  Juni 
1893  unterstellt. 

*)  Die  Klcinindustric  der  Nahrungs-  und  Gcnußmittel  unterstand  bis  Anfang 
der  90  er  Jahre  den  Normen  der  Arbeiterschutzgesetze,  insbesondere  des  Gesetzes 
von  1874  und  der  Kontrolle  der  Inspektoren;  die  Gesetze  vom  2.  November  1892 
und  vom  12.  Juni  1893  wurden  anfänglich  auch  auf  diese  Industrie  angewendet 
Die  Durchführung  des  Gesetzes  von  1892  (Arbeitszeit)  vcranlaßte  eine  Reihe  von 
Rekursen  und  einander  widersprechenden  gerichtlichen  Entscheidungen,  die  in  letzter 
Instanz  zur  Abgabe  eines  Gutachtens  durch  den  Staatsrat  führten,  wonach  die  Klein- 
industrie der  Nahrungs-  und  Genußmittel  als  dem  Gesetze  von  1892  nicht  unter- 
stehend zu  behandeln  sei,  da  sie  keinen  gewerblichen  Charakter  trage,  sich  vielmehr 
als  eine  Art  von  häuslicher  Arbeit  dasstelle.  Da  nun  der  Art.  1  des  Gesetzes  von  1893, 
in  welchem  die  dem  Gesetze  unterstehenden  Betriebsarten  aufgezählt  sind,  eine  fast 
wörtliche  Kopie,  mit  Auslassung  der  Bergwerke  und  Steinbrüche,  der  Art.  1  des  Ge- 
setzes vom  Jahre  1892  ist,  so  hatte  die  Stellungnahme  des  Staatsrates  zur  Folge,  daß 
auch  das  Gesetz  von  1893  auf  die  Kleinindustrie  der  Nahrungs-  und  Genuflmittel 
nicht  weiter  angewendet  werden  durfte. 


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Julius  Landmann,  Die  Ausdehnung  des  Arbeiterschutzes  in  Frankreich. 


a)  erwachsene  Männer,  welche  nicht  zusammen  mit  Frauen 
oder  Kindern  in  Betrieben  arbeiten,  die  nicht  „Manufakturen  oder 
Werkstätten"  sind,  d.  h.  in  Betrieben,  die  weniger  als  20  Arbeiter 
beschäftigen  und  keine  motorische  Kraft  verwenden;  diese  Männer 
werden  lediglich  durch  das  Gesetz  vom  12.  Juni  1893  ge- 
schützt ; 

b)  Arbeiter  der  Industrie  der  Nahrungs-  und  Genußmittel,  wenn 
sie  in  Betrieben  mit  motorischer  Kraft  beschäftigt  sind.  Diese  Be- 
triebe unterstehen  lediglich  den  Bestimmungen  des  Art.  2  des  Ge- 
setzes vom  12.  Juni  1893; 

c)  das  weibliche  Verkaufspersonal  der  Magazine  und  Kram- 
läden nach  Maßgabe  des  Gesetzes  vom  29.  Dezember  1900. 

B.  Arbeiterkategorien,  die  keinen  Schutzgesetzen  unterstehen, 
mit  Ausnahme  der  Vorschriften  über  die  Arbeitsdauer: 

a)  erwachsene  Männer  im  Alter  über  18  Jahren,  die  in  „Manu- 
fakturen und  Fabriken"  beschäftigt  sind  und  nicht  zusammen  mit 
Frauen  oder  Kindern  arbeiten;  gesetzliches  Maximum  der  Arbeits- 
dauer: 12  Stunden; 

b)  erwachsene  Männer  in  Betrieben,  die  dem  Gesetze  von 
1892/1900  unterstehen,  und  die  zusammen  mit  Kindern  und  Frauen 
arbeiten;  dabei  ist  zu  bemerken,  daß  wohl  die  Bestimmungen  der 
Gesetzgebung  von  1892/1900  über  die  Dauer  der  täglichen  Arbeits- 
zeit, nicht  aber  die  über  das  Verbot  der  Nachtarbeit  und  über  die 
wöchentlichen  Ruhetagen  auf  die  in  diesen  Betrieben  zusammen 
mit  Frauen  arbeitenden  erwachsenen  männlichen  Arbeiter  anwend- 
bar sind ; 

c)  endlich  genießen  die  Lehrlinge  in  der  Kleinindustrie  der 
Nahrungs-  und  Genußmittel  den  Schutz  des  Gesetzes  vom 
22.  Februar  185 1. 

IL 

Die  parlamentarische  Geschichte  des  französischen  Arbeiter- 
schutzes weist  eine  lange  Reihe  von  Versuchen  auf,  die  Geltung 
der  Schutzgesetzgebung  auf  bisher  ungeschützte  Kreise  auszu- 
dehnen. 

Schon  im  Jahre  1887  hat  Herr  Richard  Waddington,  damals 
Deputierter,  jetzt  Senator  und  Präsident  der  Commission  supe>ieure 
du  travail,  in  seinem,  im  Namen  der  Arbeitskommission  der  Depu- 
tiertenkammer erstatteten  Berichte  über  die  Entwürfe,  die  5  Jahre 
später  zum  Gesetze  vom  2.  November  1 892  führten,  die  Ausdehnung 


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356 


Gesetzgebung. 


der  gesetzlichen  Bestimmungen  auf  die  in  der  Industrie  der  Nah- 
rungs-  und  Genußmittel  und  im  Handelsgewerbe  beschäftigten 
Frauen  und  Kinder  verlangt 

Dieser  Antrag  des  Herrn  Waddington  ist  in  der  Kammer  nicht 
durchgedrungen;  auch  die  analogen,  im  Laufe  der  Debatten  ge- 
stellten Anträge  des  Herrn  Dumay  haben  keine  Majorität  ge- 
funden. 

Nach  der  Promulgation  des  Gesetzes  von  1892  hat  die  Frage 
der  Ausweitung  des  geschützten  Kreises,  insbesondere  hinsichtlich 
der  Magazine,  Kramläden  usw.,  die  Kammer  zu  wiederholten  Malen 
beschäftigt.  In  der  Sitzung  vom  8.  Mai  1893  hat  Herr  Baron 
Pierard  im  Namen  der  Arbeitskommission  einen  Bericht  über  einen 
von  ihm  eingebrachten  Gesetzentwurf  erstattet.  „Die  Kommission 
kann  nicht  einsehen,  warum  den  im  Handelsgewerbe  beschäftigten 
Frauen  der  Schutz  vorenthalten  werden  soll,  den  das  Parlament 
soeben  den  gewerblich  tätigen  Arbeiterinnen  gewährte"  und  stellte 
den  Antrag,  es  sei  für  das  Handclsgewerbe  das  Zulassungsalter  mit 
1 3  Jahren  zu  fixieren ,  die  tägliche  Arbeitsdauer  auf  1 1  Stunden 
einzuschränken,  ein  Verbot  der  Nachtarbeit  auszusprechen  und  hin- 
sichtlich der  Überzeitarbeit  der  Grundsatz  aufzustellen,  daß  diese 
nur  an  60  Tagen  im  Jahre  und  nur  bis  spätestens  II  Uhr  abends 
zulässig  sei. 

Der  herannahende  Schluß  der  Legislaturperiode  verhinderte  die 
Setzung  dieses  Antrages  auf  die  Tagesordnung  der  Kammer- 
debatten. 

Zwei  Jahre  später  hatte  sich  die  Kammer  abermals  mit  dieser 
Frage  zu  beschäftigen ;  diesmal  war  es  die  Industrie  der  Nahrungs- 
und Gcnußmittel,  die  hierzu  die  Veranlassung  gab;  es  war  dies  un- 
mittelbar nach  Erlaß  des  durch  die  bereits  erwähnte  Entscheidung 
des  Staatsrates  veranlaßten  Rundschreibens  des  Handelsministeriums, 
durch  welches  die  Arbeiter  dieser  Industrie  des  Schutzes  verlustig 
gingen,  den  sie  seit  dem  Jahre  1874  genossen. 

Die  Arbeitskommission  der  Kammer  war  damals  mit  dem 
Studium  der  Entwürfe  beschäftigt,  die  später  zu  der  Novelle  vom 
Jahre  1900  führten,  und  beantragte  durch  ihren  Berichterstatter, 
Herrn  Gustave  Dron,  es  sei  die  Anwendbarkeit  des  Gesetzes  vom 
Jahre  1892  auf  die  Industrie  der  Nahrungs-  und  Genußmittel  gesetz- 
lich festzulegen. 

Der  Bericht  des  Herrn  Dron  kam  im  Jahre  1896  zur  Beratung; 
bei  diesem  Anlaß  stellten  die  Herren  Lavy  und  Prudent-Dervillers 


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Julius  Landmann,  Die  Ausdehnung  des  Arbeiterschutrcs  in  Frankreich. 


am  16.  Juli  1896  den  weiteren  Ergänzungsantrag,  daß  auch  die 
Magazine,  Kramläden  und  kaufmännischen  Bureaus  in  den  Geltungs- 
bereich des  Gesetzes  von  1892  einzubeziehen  seien.  Auf  Wunsch  des 
Berichterstatters  sind  indessen  diese  Anträge  von  den  Antragstellern 
selbst  zurückgezogen  worden ;  doch  betonte  Herr  Dron,  er  wünsche 
die  Zurückziehung  der  Anträge  durchaus  nicht  aus  sachlichen  oder 
grundsätzlichen  Gründen,  sondern  lediglich  aus  Gründen  der  Oppor- 
tunität und  der  Methode  der  parlamentarischen  Arbeit. 

Die  Kammerdebatten  über  den  Antrag  des  Herrn  Dron  (16.  bis 
22.  Juni  1896),  führten  zu  folgenden  Ergebnissen:  Es  seien  auf  die 
Industrie  der  Nahrungs-  und  Genußmittel  anzuwenden:  die  Be- 
stimmungen des  Gesetzes  von  1892,  betr.  das  Zulassungsalter  der 
Lehrlinge  (Art.  2),  die  Hygiene  und  Sicherheit  (Art.  12  und  14), 
ferner,  auf  Antrag  des  Herrn  Dutreix,  auf  die  in  dieser  Industrie  be- 
schäftigten Kinder  die  Bestimmungen  über  die  Nachtarbeit  (Art.  4) 
und  die  über  den  wöchentlichen  Ruhetag  (Art.  5). 

Leider  wurde  infolge  der  Lage  der  parlamentarischen  Arbeiten 
diese  Debatte  unterbrochen  und  ihr  Gegenstand  ist  nie  wieder  auf 
die  Tagesordnung  gesetzt  worden.  Denn  die  Debatten,  die  dem  Er- 
lasse des  Gesetzes  vom  30.  März  1900  vorausgingen,  stehen  im 
Resultate  in  keiner  Beziehung  zu  den  Anträgen  des  Herrn  Dron. 

Um  die  Majorität  des  Parlamentes  leichter  zu  gewinnen  und 
gleichzeitig  den  Angestellten,  wenigstens  im  dringendsten  Punkte 
ihrer  Wünsche  Genugtuung  zu  geben,  hat  Herr  Alexandre  Zevaes  in 
der  Sitzung  der  Kammer  vom  6.  November  1900  einen  Initiativ- 
antrag eingebracht,  betr.  den  wöchentlichen  Ruhetag  im  Handels- 
gewerbe. Dieser  Antrag  wurde  der  Arbeitskommission  unterbreitet, 
die  durch  Herrn  Georges  Börry  am  16.  Januar  1902  ihren  zu- 
stimmenden Bericht  abgab.  Nach  einer  kurzen  Debatte  wurde  der 
Antrag  des  Herrn  Zevaes  von  der  Kammer  in  der  Sitzung  vom 
27.  März  1902  angenommen  und  dem  Senate  überwiesen,  wo  er 
bisher  noch  seiner  Erledigung  harrt. 

Fast  zur  gleichen  Zeit  hat  Herr  Arthur  Groussier  einen  Ge- 
setzesentwurf eingebracht,  betr.  die  Ausdehnung  des  Geltungsgebietes 
der  Gesetze  vom  12.  Juni  1893,  vom  22.  November  1892  und 
30.  März  1900  auf  alle  Arbeiter  und  Arbeiterinnen  ohne  Unterschied 
des  Alters,  in  allen  gewerblichen  und  kaufmännischen  Betrieben. 
Der  Entwurf  wurde  der  Arbeitskommission  überwiesen,  und  diese 
hat,  um  eher  zu  einem  positiven  Resultate  zu  gelangen,  in  ihren 
Vorschlägen  von  einer  Erweiterung  des  Geltungsgebietes  der  Ge- 


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358 


Gesetzgebung. 


setze  von  1892/ 1900,  welche  beide  die  Arbeitszeit,  Arbeitspausen, 
Ruhetage  usw.  betreffen,  abgesehen,  und  lediglich  die  Ausdehnung 
des  Gesetzes  vom  Jahre  1893  beantragt,  welches  gewerbehygienische 
Maßregeln  zum  Schutze  des  Lebens  und  der  Gesundheit  der  Arbeiter 
enthält.  Es  war  dabei  mit  die  Erwägung  entscheidend,  daß  die 
Ausdehnung  der  Bestimmungen  über  Arbeitszeit,  Ruhepausen  und 
Ruhetage  auf  bisher  gar  nicht  reglementierte  Gewerbezweige  einer 
größeren  Opposition  begegnen  würde,  als  die  bloße  Erweiterung 
des  Geltungsgebietes  der  gewerbehygienischen  Gesetzgebung. 

In  der  Junisession  desselben  Jahres  1900,  in  der  die  Arbeits- 
kommission den  Bericht  über  den  Antrag  Groussier  abgab,  hat  sich 
auch  der  Conseil  superieur  du  travail  mit  der  Frage  beschäftigt. 
Er  faßte  die  Resolution:  „Der  Conseil  superieur  du  travail  drückt 
den  Wunsch  aus,  daß  die  Köche,  Pastetenbäcker,  Brot-  und  Zucker- 
bäcker, Fleischer,  Metzger  usw.,  nicht  länger  von  den  Wohltaten 
ausgenommen  sein  sollen,  die  das  Gesetz  vom  2.  November  1892 
und  vom  12.  Juni  1893  den  Arbeitern  und  Angestellten  bietet,  und 
daß  sie,  wie  alle  anderen  Industriearbeiter,  den  Schutz  des  Gesetzes 
genießen  sollen",  und  beschloß,  auf  Antrag  seines  damaligen  Präsi- 
denten, des  Handelsministers  Millerand,  in  der  Sitzung  vom  18.  Juni 
1900,  es  sei  die  Commission  permanente  mit  der  Veranstaltung 
einer  Erhebung  über  die  Arbeitsbedingungen  der  gesetzlich  nicht 
geschützten  Arbeiterkategorien  zu  beauftragen. 

Die  Kommission  permanente  hat  in  der  Sitzung  vom  9.  August 
1900  die  Organisation  dieser  Erhebung  durchberaten  \  sie  wurde  in  zwei 
Zweige  getrennt :  für  die  Provinz  wurden  die  Erhebungen  durch  Frage- 
bogen vorgenommen,  die  durch  die  Kommission,  mit  Mitwirkung 
des  französischen  Arbeitsamtes,  ausgearbeitet  und  sämtlichen  Organi- 
sationen der  Arbeiter  und  Unternehmer  zugestellt  wurden ;  für  Paris 
wurde  der  Weg  der  mündlichen  Einvernahme  von  Auskunftspersonen 
aus  dem  Stande  der  Arbeiter  und  der  Unternehmer  vorgezogen. 
Die  Kommission  hat  am  21.  Januar,  4.,  II.  und  25.  Februar,  4.  und 
8.  März  1901  sechs  Sitzungen  abgehalten  und  im  Mai  190 1  durch 
die  Herren  Dalle  und  Barafort  ihren  Bericht  erstattet  In  den  Bei- 
lagen zu  diesem  Berichte  hat  das  sehr  wertvolle  Material,  welches 
die  Erhebungen  zutage  förderten,  seinen  Platz  gefunden. 

Der  Bericht  gelangte  zu  folgenden  Vorschlägen:  es  sei  das 
Gesetz  vom  12.  Juni  1893,  vom  2.  November  1892  und  vom 
30.  März  1900,  das  Gesetz  vom  22.  Februar  185 1  und  das  Gesetz 
vom  9.  September  1848  auf  sämtliche  bisher  noch  nicht  regle- 


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Julius  Landmann,  Die  Ausdehnung  des  Arbeiterschutzes  in  Frankreich.  359 

mentierten  Berufsgruppen  und  Betriebskategorien  auszudehnen  und 
die  Arbeiter  aller  Kategorien  unter  den  Schutz  der  für  sie  in 
Betracht  kommenden  Bestimmungen  dieser  Gesetze  zu  stellen. 
Diesen  Anträgen  seiner  Permanenzkommission  stimmte  das  Plenum 
des  Conseil  supeYieur  du  travail  in  der  Junisession  1901  bei. 

Es  lagen  nunmehr  zwei  Vorlagen  vor:  der  aus  dem  Gesetzes- 
entwurfe  des  Herrn  Groussier  hervorgegangene  Entwurf  der  Ar- 
beitskommission der  Deputiertenkammer  und  die  Entwürfe  des 
Conseil  supe>ieur  du  travail.  Der  damalige  Handelsminister  gab 
den  beiden  Vorlagen  teilweise  Folge,  indem  er,  in  Anlehnung  an 
den  Entwurf  der  Arbeitskommission,  den  Kammern  unter  dem 
16.  Januar  1902  den  Entwurf  eines  Gesetzes,  betr.  die  Abänderung 
des  Gesetzes  vom  12.  Juni  1893  vorlegte.1) 


')  Wortlaut  des  Gesetzes 
vom  12.  Juni  1893. 

Art.  I,  Abs.  I.  Den  Bestimmungen 
dieses  Gesetzes  unterstchen  Manufakturen, 
Fabriken,  Hüttenwerke,  Werkstätten  aller 
Art,  nebst  ihren  Nebenbetrieben. 


Art.  2,  Abs.  4.  Die  vorstehenden 
Bestimmungen  sind  auch  auf  Theater,  Zir- 
kusse, Ladengeschäfte  und  ähnliche  Unter- 
nehmungen, in  welchen  Maschinen  ver- 
wendet werden,  anwendbar. 

Art.  3.  Die  Verwaltungsbehörden 
sollen,  gestützt  auf  Gutachten  des  Ge- 
werbebeirates, im  Verordnungswege  fol- 
gende Vorschriften  erlassen: 


Wortlaut  des  Regierungs- 
entwurfes vom  i6.  Januar  1902. 

Art  1.  Die  Art.  1,  Abs.  I,  Art.  2, 
Abs.  4  und  Art.  3  des  Gesetzes  '  vom 
12.  Juni  1893  werden  abgeändert  und 
ergänzt  und  lauten  wie  folgt  : 

Art.  I,  Abs.  1.  Den  Bestimmungen 
dieses  Gesetzes  unterstehen  Manufakturen, 
Fabriken,  Hüttenwerke,  Bauplätze,  Werk- 
stätten, Laboratorien,  Küchen,  Kellereien, 
Weinniederlagen,  Magazine,  Kramläden, 
Bureaus,  Lade-  und  Löschuntcrnchmungcn, 
welcher  Art  sie  auch  immer  seien,  öffent- 
lichen oder  privaten ,  weltlichen  oder 
religiösen  Charakters,  selbst  dann,  wenn 
sie  der  Berufslehrc  dienen  oder  Wohl- 
tätigkeitsanstaltcn  sind. 

Art.  2,  Abs.  4.  Die  vorstehenden 
Bestimmungen  sind  auch  auf  Theater, 
Zirkusse  und  ähnliche  Unternehmungen, 
in  welchen  Maschinen  verwendet  werden, 
anwendbar. 


Unverändert. 


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36o 


Gesetzgebung. 


Bei  dieser  Einschränkung  auf  ein  Gesetz,  statt  der  von  dem 
Conseil  supe>ieur  gewünschten  Revision  von  5  Gesetzen,  war  die 
Erwägung  entscheidend,  daß  die  vom  Conseil  supeneur  gewünschte 
Erweiterung  des  Geltungsgebietes  der  französischen  Arbeiterschutz- 
gesetzgebung zwar  durchgeführt  werden  soll,  und  daß  diese  Durch- 
führung die  Aufgabe  der  französischen  Sozialpolitik  im  Laufe  der 
nächsten  Jahre  darstellt,  daß  aber  diese  Durchführung  sicherer  in 
absehbarer  Zeit  zu  erwarten  ist,  wenn  der  vom  Conseil  superieur 
gestellte  Komplex  von  Aufgaben  in  seine  einzelnen  Bestandteile 
aufgelöst  wird  und  die  parlamentarische  Behandlung  der  Novellen 
zu  den  revisionsbedürftigen  fünf  Gesetzen  für  jedes  einzelne  Gesetz 
besonders  und  für  sich  getrennt  erfolgt. 

Wie  die  Arbeitskommission  der  Kammer  hat  auch  das  Handels- 
ministerium das  Gesetz  vom  Jahre  1893  als  dasjenige  angesehen, 
das  die  meisten  Chancen  bietet,  in  einer  erweiterten  Fassung  von 
den  Kammern  angenommen  zu  werden,  da  auch  ihm  das  Gebiet 
der  Gewerbehygiene  lange  nicht  mehr  so  strittig  erschien,  wie  das 
der  Arbeitszeit  oder  der  Ruhetage.  Die  parlamentarische  Behand- 
lung und  Verabschiedung  des  Gesetzes  ist  denn  auch  tatsächlich 
ohne  nennenswerte  Schwierigkeiten  vor  sich  gegangen.  Nachdem 
die  Arbeitskommission  der  Kammer  ihren  zustimmenden  Bericht 
zum  Entwürfe  abgab,  wurde  er  von  der  Kammer  ohne  Debatte  in 
der  Sitzung  vom  6.  Februar  1902  angenommen  und  daraulhin  an 


1.  Drei  Monate  nach  der  Promulgation 
dieses  Gesetzes :  Vorschriften  Uber  die 
Schutz-  und  SanitätsmaÜregcln  für  alle 
dem  Gesetze  unterstellten  Betriebe,  ins- 
besondere Uber  Beleuchtung,  Lüftung  und 
Ventilation,  trinkbares  Wasser,  Abtritte 
und  Abtrittsgruben,  die  Rauch-  und  Dampf- 
abfuhrung,  dieSicherhcitsmaßnahmen  gegen 
Feuersgefahr  etc. 

2.  Nach  Maßgabe  der  festgestellten 
Notwendigkeit  Spezialvorschriften,  sei  es 
für  bestimmte  Industriezweige,  sei  es  für 
bestimmte  Arbeitsverfahren. 

Über  die  im  Abs.  2  dieses  Art.  vor- 
gesehenen Spezialrcglements  wird  der  Bei- 
rat für  öffentliche  Hygiene  seine  Gutachten 
abzugeben  haben. 


Unverändert. 


2.  Nach  Maßgabe  der  festgestellten 
Notwendigkeit  Spezialrcglements,  sei  es 
für  bestimmte  Berufskategorien,  sei  es  für 
bestimmte  Arbeitsverfahren. 

Über  die  im  Abs.  1  dieses  Art.  vor- 
gesehenen Spezialrcglements  wird  der  Bei« 
rat  für  öffentliche  Hygiene  seine  Gutachten 
abzugeben  haben. 


Julius  Landmann,  Die  Ausdehnung  des  Arbeiterschutzes  in  Frankreich.  ?6i 


den  Senat  überwiesen.  Auch  die  Senatskommission  äußerte  sich 
zustimmend  und  der  Entwurf  hätte  vom  Senate  schon  in  der 
Sitzung  vom  3.  Februar  1903  angenommen  werden  können,  wenn 
nicht  seitens  einiger  Regierungs Vertreter  seine  neuerliche  Über- 
weisung an  die  Kommission  verlangt  worden  wäre,  zum  Zweck 
einer  Abänderung  des  Verhältnisses  der  durch  den  Entwurf  unter 
das  gewerbehygienische  Gesetz  gestellten  Staatsbetriebe  zu  den 
Gewerbeinspektoren.  Die  Kommission  trug  in  einem  zweiten  Er- 
gänzungsberichte diesen  Wünschen  Rechnung,  änderte  entsprechend 
den  Text  des  Entwurfes,  der  in  dieser  abgeänderten  Fassung  vom 
Senate  in  der  Sitzung  vom  16.  Juni  1903  angenommen  wurde. 
Der  neuen  Fassung  erteilte  auch  die  Kammer  in  der  Sitzung  vom 
3.  Juli  1903  ihre  Zustimmung  und  am  9.  Juli  1903  wurde  das  Gesetz 
promulgiert  und  als  „Gesetz  vom  11.  Juli  1903,  betr.  die  Gesund- 
heits-  und  Sicherheitsmaßnahmen  für  die  Arbeiter  in  kaufmännischen 
und  staatlichen  Betriebe"  kundgemacht.  Wortlaut  des  Gesetzes,  vgl. 
„Bulletin  des  internationalen  Arbeitsamtes",  Bd.  II.  1903,  S.  373. 

m. 

Der  Gesetzesentwurf,  den  das  Handelsministerium  den  Kam- 
mern vorlegte,  ging  weniger  weit,  als  der  aus  den  Beratungen  des 
Entwurfes  des  Herrn  Groussier  hervorgegangene  Antrag  der  Arbeits- 
kommission. Dieser  erstrebte  die  Ausdehnung  des  Gesetzes  vom 
12.  Juni  1893  auf  „Manufakturen,  Fabriken,  Werkstätten,  Magazine, 
Kramläden,  Bureaux,  Bergwerke,  Steinbrüche,  Bauplätze,  Transport- 
unternehmungen zu  Wasser  und  zu  Lande,  die  Arbeiten  des  Ver- 
ladens  und  des  Löschens,  auf  die  öffentlichen  Lagerhäuser  und  alle 
sonstigen  gewerblichen  und  kaufmännischen  Betriebe".  Der  Re- 
gierungsentwurf ließ  die  „Bergwerke,  Steinbrüche  und  Transport- 
unternehmungen" aus,  „weil  die  Regierung  zuerst  den  dringendsten 
Teil  der  Reform  realisieren  will". 

Zur  sachlichen  Rechtfertigung  dieser  Auslassung  ließen  sich 
folgende  Argumente  anführen: 

1.  Die  Bergwerke  und  Steinbrüche  unterstehen  einer 
Spezialgesetzgebung,  die  im  Art.  50  des  durch  Gesetz  vom  27.  Juli 
1880  abgeänderten  Gesetzes  vom  21.  April  18 10,  im  Dekret  vom 
3.  Januar  1813,  in  der  durch  Verordnung  vom  25.  September  1882 
abgeänderten  Verordnung  vom  26.  März  1843,  endlich  in  der  Ver- 
ordnung vom  8.  Juli  1890  enthalten  ist.  Außerdem  sind  mehr  ins 
Detail  gehende  Vorschriften  zum  Schutze  des  Lebens  und  der  Ge- 


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362 


Gesetzgebung. 


sundheit  der  Bergarbeiter  in  unzähligen  Rundschreiben  des  Ministe- 
riums der  öffentlichen  Arbeiten  und  für  jedes  einzelne  Bergwerk 
in  den  Erlassen  der  Prefekten  enthalten.  Es  existiert  gegenwärtig 
in  Frankreich  kaum  ein  Bergwerk  oder  ein  Steinbruch,  dessen 
Arbeitsbedingungen  nicht  Gegenstand  eines  oder  mehrerer  Prefektur- 
erlasse  wären. 

Die  Durchführung  dieser  gesetzlichen  und  administrativen  Be- 
stimmungen ist  Sache  der  Bergwerksingenieure,  die  in  dieser  ihrer 
Tätigkeit  durch  die  Delegierten  der  Bergarbeiter1)  unterstützt  werden. 
Durch  ein  Ministerialrundschreiben  vom  5.  Juli  1894  wurden  die 
Bergwerksingenieure  auch  beauftragt,  das  Gesetz  vom  12.  Juni  1893 
in  allen,  mit  den  Bergwerken  verbundenen,  über  Tage  gelegenen 
Betrieben  und  Arbeitsstätten  durchzuführen. 

Es  war  nun  die  Frage,  ob  es  sich  empfehlen  würde,  diese 
Sondergesetzgebung  für  Bergwerke  und  Steinbrüche  aufzuheben, 
um  an  deren  Stelle  eine  allgemeine  Gesetzgebung  zu  setzen,  die 
im  Gesetze  vom  12.  Juni  1893  und  in  den  auf  Grund  dieses  Ge- 
setzes erlassenen  Ausführungsverordnungen  enthalten  ist.  Die  gegen- 
wärtig geltenden  Normen  sind  von  Bergwerk  zu  Bergwerk  ver- 
schieden, sie  sind  den  speziellen  technischen  Verhältnissen  jeder 
einzelnen  Grube  angepaßt  und  können  auch  sehr  leicht,  auf  bloßen  An- 
trag des  Bergwerksingenieurs,  durch  einen  Prefekturerlaß  abgeändert 
werden.  Sie  schließen  sich  somit  nicht  allein  der  Sonderart  des 
Bergwerksbetriebes  an  sich  an,  sondern  können  auch  allen  Ver- 
änderungen und  Verschiebungen  innerhalb  der  einzelnen  Grube 
folgen.  Dagegen  ist  das  Gesetz  von  1893  speziell  mit  Hinblick 
auf  die  gewerblichen  Betriebe  über  Tage  ausgearbeitet  und  könnte 
auf  Bergwerke  kaum  zweckmäßig  angewendet  werden. 

Nun  darf  nicht  übersehen  werden,  daß  die  gegenwärtige 
französische  Berggesetzgebung  die  Arbeiter  selbst  keineswegs  be- 
friedigt ;  die  unzähligen  Berggesetzentwürfe,  die  von  den  Vertretern 
der  Bergarbeiter  in  jeder  Legislaturperiode  eingebracht  werden  und 
die  Resolutionen  der  Bergarbeiterkongresse  beweisen,  daß  eine  Än- 
derung gewünscht  wird.  Es  sind  dies  aber  nicht  in  erster  Linie 
die  Bestimmungen  über  Hygiene  und  Sicherheit,  die  Anlass  zur 
Unzufriedenheit  mit  dem  gegenwärtigen  Bergrechte  gaben ;  vielmehr 
sind  die  Wünsche  der  Bergarbeiter  auf  eine  gesetzliche  Regelung 


>)  Gcset*  vom  8.  Juli  1890,  vgl.  „Archiv  für  soziale  Gesetzgebung  und  Statistik", 
Bd.  V,  S.  188. 


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Julius  Landraann,  Die  Ausdehnung  des  Arbeiterschutzes  in  Frankreich.  363 


der  Arbeitsdauer  und  auf  eine  zufriedenstellende  Unfallversicherung 
gerichtet  Diese  Wünsche  wären  durch  die  Ausdehnung  des  Ge- 
setzes von  1893  auf  die  Bergwerke  der  Verwirklichung  kaum  näher 
gerückt  worden;  sie  müssen  ihrer  Erfüllung  auf  dem  Wege  der 
Spezialgesetzgebung  harren. 

2.  Ähnlich  verhält  es  sich  mit  dem  Schutze  der  Arbeiter  und 
Angestellten  der  Transportunternehmungen.  Auch  diese 
Arbeiterkategorien  unterstehen  einer  Sondergesetzgebung,  die  in  der 
durch  Novelle  vom  1.  März  1901  abgeänderten  Verordnung  vom 
15.  November  1846  enthalten  ist.  Diese  Verordnung  ist  auf  alle 
Eisenbahnen  anwendbar  und  enthält  eine  Reihe  von  Bestimmungen 
zum  Schutze  des  Lebens  und  der  Gesundheit  der  Angestellten, 
insbesondere  der  Heizer,  Maschinisten  und  des  Zugs-  und  Bahn- 
hofspersonals. Außerdem  wirken  die  Transportreglemente,  deren 
Hauptzwecke  in  der  Sicherung  des  reisenden  Publikums  liegt,  in- 
direkt auch  zum  Schutz  des  Verkehrspersonals. 

Es  wird  nicht  geleugnet,  daß  dieser  Schutz  unzureichend  ist. 
Seine  Vervollkommnung  und  Erweiterung  bildete  den  Gegenstand 
von  Erhebungen,  die  die  Commission  permanente  du  Conseil  supe- 
rieur  du  travail  im  Laufe  des  Jahres  1903  veranstaltete;  der  Bericht 
ist  im  Oktober  1903  erschienen  (Reglementation  du  travail  dans 
les  entreprises  de  Transport,  Paris,  Imprimerie  nationale)  und  bildete 
die  Basis  der  Beratung  der  Novembersession  1903  des  Conseil 
superieur  du  travail.  Die  Beschlüsse,  zu  welchen  dieser  Beirat  ge- 
langte, erwiesen  aber,  daß  die  Wünsche  des  Verkehrspersonals 
durch  eine  Ausdehnung  des  Geltungsgebietes  des  Gesetzes  von 
1893  auf  das  Verkehrsgewerbe  kaum  befriedigt  worden  wären,  da 
sie  im  wesentlichen  eine  Regelung  der  Arbeitsdauer,  der  Ruhe- 
pausen und  der  Ruhetage  erstreben. 

Der  Zweck  des  Entwurfes  sollte,  nach  den  Ausführungen  des 
Motivenberichtes,  in  der  Verwirklichung  folgender  zwei  Zielpunkte 
bestehen : 

1.  Unterstellung  unter  die  gesetzlichen  Bestimmungen  der  bis- 
her noch  nicht  unterstellten  Betriebe  der  Kleinindustrie  der  Nahrungs- 
und Genußmittel,  der  Magazine,  Kramläden,  kaufmännischen  Bureaus 
und  analoger  Betriebe. 

Die  beruflichen  Organisationen  der  Arbeiter  und  Angestellten 
dieser  Gewerbegruppen  haben  in  den  letzten  Jahren  am  lautesten 
die  Unterstellung  unter  die  gesetzlichen  Schutzbestimmungen  ver- 


Gesetzgebung. 


langt,  und  die  großen  Berufegefahren,  unter  denen  sie  leiden,  er- 
klären hinreichend  die  Intensität  ihrer  Wünsche.  *) 

2.  Klarstellung  der  Nomenklatur  der  dem  Gesetze  unter- 
stehenden Betriebskategorien  und  dadurch  definitive  Beilegung  der 
Streitfragen,  die  über  die  Anwendbarkeit  oder  Nichtanwendbarkeit 
der  gesetzlichen  Bestimmungen  auf  einzelne  Betriebskategorien  seit 
langem  obschwebten. 

IV. 

I.  Die  Kleinindustrie  der  Nahrungs-  und  Genußmittel,  die,  wie 
vorhin  bereits  ausgeführt,  durch  ein  Gutachten  des  Staatsrates  des 
gesetzlichen  Schutzes  verlustig  ging,  ist  seit  langem  schon  als  die- 
jenige Industrie  bekannt,  die  in  erster  Linie  der  Aufmerksamkeit 
der  öffentlichen  Hygienepflege  bedarf.  Schon  im  Jahre  1888  hat 
die  Pariser  Wohnungskommission  in  einem  Berichte  der  Herren 
Hudelo  und  Napias  auf  die  schweren  Gefahren  hingewiesen,  denen 
der  Beruf  der  Restaurationsköche  ausgesetzt  ist.  Die  im  Jahre  1886 
durchgeführte  Erhebung  der  Gewerbeinspektoren  über  die  Schlaf- 
räume der  Lehrlinge  im  Pariser  Bäckergewerbe  hat  zu  erschreckenden 
Resultaten  geführt,  und  die  Erhebung  des  französischen  Arbeits- 
amtes vom  Jahre  1 892  •)  hat  den  Beweis  erbracht,  daß  diese  Ver- 
hältnisse nicht  allein  auf  das  Bäckergewerbe  beschränkt  sind,  daß 
sie  vielmehr  eine  Eigentümlichkeit  eines  sehr  großen  Teiles  der 
französischen  Kleinindustric  der  Nahrungs-  und  Genußmittel  bilden. 

Bestätigt  wurden  diese  Wahrnehmungen  durch  die  Berichte 
der  Gewerbeinspektoren  für  das  Jahr  1899,  die  abgegeben  wurden 
aus  Anlaß  eines  ihnen  vom  Handelsministerium  erteilten  Auftrages, 
sich  über  die  Zweckmäßigkeit  einer  Unterstellung  der  Kleinindustrie 
der  Nahrungs-  und  Genußmittel  unter  die  Bestimmungen  des  Ge- 


*)  Nach  der  Mortalitätsstatistik  des  Stadtkreises  von  Paris  sterben  von  sämt- 
lichen Berufstätigen  (Arbeitern  und  Unternehmern)  im  Alter  von  20  —  39  Jahren: 

29,89  Froz.  im  Baugewerbe, 

32         ,,     in  der  Metallindustrie, 

34         ,,     der  chemischen  Industrie, 

39         „     im  Gastwirtsgewerbe, 

40,29     „      „  Kochgcwerbc, 

40,61     „      „  Bäckergewerbe, 

44i3°     11      n  Handelsgewerbe. 
*)  Vgl.  la  petite  Industrie,  salaires,  duree  du  travail,  tome  1-cr,  l'alimentation 
a  Paris,  1  vol.  ä  8°  de  300  p.,  Paris  1893. 


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Julius  Landmann,  Die  Ausdehnung  des  Arbeiterschutzes  in  Frankreich.  365 


setzes  von  1 893  zu  äußern.  Wir  wollen  an  dieser  Stelle  aus  dieser 
reichen  Quelle  nur  zwei  Auslassungen  registrieren. 

Der  Inspektor  des  ersten  Kreises,  Paris,  erklärt,  daß  „in  den 
Bäckereien  und  Schweinemetzgereien  die  Küchen  und  Arbeitsräume 
häufig  vom  hygienischen  Gesichtspunkte  aus  äußerst  ungünstig  ein- 
gerichtet sind,  daß  insbesondere  die  Ventilation  nicht  hinreichend 
ist  und  daß  keine  Sicherheitsvorkehrungen  für  den  Fall  einer  Feuers- 
brunst vorhanden  sind". 

Im  8.  Kreise  (Bordeaux)  haben  die  Inspektoren  eine  Spezial- 
erhebung  über  die  hygienischen  Zustände  in  den  Bäckereien  ver- 
anstaltet. Der  Bericht  über  diese  Erhebung  stellt  fest,  daß  „fast 
alle  Bäckereien  in  Kellerräumen  untergebracht  und  schlecht  venti- 
liert sind.  Viele  Bäckereien  haben  keine  Aborte  und  es  müssen 
infolgedessen  die  Exkremente  auf  den  Fußboden  abgelagert  werden. 
Die  Lehrlinge  der  Bäckereien  und  der  Gastwirtschaften  müssen  ihr 
Bett  in  der  Regel  mit  einem  zweiten  Lehrling  oder  einem  Arbeiter 
teilen.  Die  Schlafräume  sind  meistens  sehr  klein.  Wir  fanden", 
heißt  es  im  Berichte,  „Schlafräume,  die  nur  6—7  m  Fläche  und 
einen  Luftraum  von  10  qm  aufwiesen". 

In  den  Berichten  einiger  Inspektoren  kommen  zwar  hie  und 
da  Bedenken  gegen  die  Unterstellung  der  Kleinbetriebe  der  Industrie 
der  Nahrungs-  und  Genußmittel  unter  das  Gesetz  vom  Jahre  1892 
zum  Ausdruck,  alle  sprechen  sich  aber  uneingeschränkt  für  die 
Unterstellung  dieser  Betriebe  unter  das  Gesetz  von  1893  aus. 

Im  Auftrage  des  damaligen  Handelsministers,  Herrn  Millcrand, 
hat  gegen  Ende  des  Jahres  1900  auch  der  Conseil  d'hygiene  der 
Gironde  einige  Bäckereibetriebe  besichtigt  und  konstatiert,  daß  „ihr 
Zustand,  insbesondere  hinsichtlich  der  Reinlichkeit,  meistens  sehr 
viel  zu  wünschen  übrig  läßt  .  .  . 

Dieselben  Ergebnisse  zeitigten  die  Erhebungen  der  ständigen 
Kommission  des  Conseil  supeVicur  du  travail. 

Die  Aussagen  aller  Beteiligten,  und  zwar  ebenso  der  Arbeiter 
als  auch  der  Unternehmer,  haben  im  Laufe  der  Enquete  den  Be- 
weis erbracht,  daß  die  Arbeitsbedingungen  in  der  Kleinindustrie 
der  Nahrungs-  und  Genußmittel  dringend  einer  Reform  bedürfen. 
Wir  verweisen  auf  die  beiliegende  synoptische  Darstellung  (s.  S.  366) 
der  Resultate  der  Erhebung  über  einige  der  wichtigsten  Fragepunkte 
und  rekapitulieren  im  nachfolgenden  die  drei  dringendsten  Postulate 
der  Arbeiterschaft  dieser  Betriebe: 

a)  Regelung  der  Arbeitsdauer  und  der  Ruhepausen,  und  zwar 


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Gesetzgebung. 


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Julius  Landmann,  Die  Ausdehnung  des  ArbeiterschuUes  in  Frankreich.  367 

nicht  allein  für  Frauen  und  Kinder,  sondern  auch  für  erwachsene 
männliche  Arbeiter; 

b)  Aufstellung  von  Maßregeln  zum  Schutze  des  Lebens  und 
der  Gesundheit  der  Arbeiter.  Unter  den  gegenwärtigen  ungünstigen 
hygienischen  Verhältnissen  werden  besonders  hervorgehoben:  die 
Hitze,  die  durch  die  Herdfeuer  verursacht,  und  durch  die  immer 
abends,  manchmal  auch  den  ganzen  Tag  brennenden  Gaslichter 
erhöht  wird;  die  unzureichende  Größe  der  Räume;  die  schlechte 
Ventilation,  Feuchtigkeit  in  den  Arbeitsräumen  und  dumpfe  Luft; 

c)  Besserung  der  Nahrungsverhältnisse  und  der  Schlafräume 
der  Arbeiter,  insbesondere  der  Lehrlinge,  die  beim  Unternehmer 
Kost  und  Logis  haben. 

Die  Gesetzgebung  wendete  ihre  erste  Aufmerksamkeit  zuerst 
dem  zweiten  dieser  Postulate  zu,  da  dieses  sozusagen  gar  keiner 
Opposition  mehr  begegnete.  Nach  Bekanntgabe  des  Entwurfes  hat 
z.  B.  die  Pariser  Handels-  und  Gewerbekammer  erklärt :  „Wir  können 
uns  zu  dieser  Erweiterung  des  Geltungsgebietes  des  Gesetzes  vom 
12.  Juni  1893  nur  zustimmend  äußern.  Sie  ist  ebenso  notwendig 
zum  Schutze  der  Arbeiter  und  Angestellten  gegen  Krankheiten  als 
auch  gegen  Unfälle.  Die  berufensten  Vertreter  der  Industrie  der 
Nahrungs-  und  Genußmittel  sind  mit  dieser  Erweiterung  des  Geltungs- 
gebietes des  Gesetzes  auf  ihre  Industrie  einverstanden." 

Auch  in  den  Kammern  sind  keine  Bedenken  laut  geworden 
und  ohne  irgendwelche  Opposition  wurde  die  Unterstellung  der 
Industrie  der  Nahrungs-  und  Genußmittel  unter  das  gewerbliche 
Hygienegesetz  beschlossen. 

2.  Der  Schutz  der  Angestellten  in  kaufmännischen  Betrieben 
ist  in  Frankreich  lange  Jahre  hindurch  wesentlich  hinter  den  Er- 
rungenschaften anderer  Länder  auf  diesem  Gebiete  zurückgeblieben. 
Im  Deutschen  Reiche,  in  Österreich,  Belgien,  in  der  Schweiz,  in 
Großbritannien  und  in  den  Vereinigten  Staaten  wurden  überall 
die  kaufmännischen  Betriebe  mindestens  der  Gesetzgebung  zur 
Sicherung  des  Lebens  und  der  Gesundheit  unterstellt,  in  einigen 
dieser  Staaten,  so  im  Deutschen  Reiche,  Großbritannien  und  in 
der  Schweiz  drang  die  Gesetzgebung  auch  auf  diesem  Gebiete  bis 
zum  Erlasse  von  Bestimmungen  über  Arbeitsdauer,  Ruhepausen  und 
Ruhetage  vor.  Dagegen  unterstanden  die  französischen  kaufmänni- 
schen Betriebe  bis  zum  Jahre  1900  keinerlei  Regelung,  weder  einer 
gewerbehygienischen  noch  einer  über  Arbeitszeit  und  Arbeitsdauer, 
und  das  erste  Gesetz  dieser  Art,  das  in  Frankreich  erfloß,  das  vom 


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368 


Gesetzgebung. 


29.  Dezember  1900  (Gewährung  von  Sitzgelegenheit  an  das  weib- 
liche Verkaufspersonal)  hat  seine  Bedeutung  weniger  in  seinen  posi- 
tiven Dispositionen,  als  in  der  Tatsache,  daß  mit  dem  Erlasse  dieses 
Gesetzes  der  Bann  gebrochen  wurde  und  der  Gewerbeinspektor  in 
den  kaufmännischen  Betrieb  eingezogen  ist. 

Die  Berufsorganisationen  der  Handelsangestellten  haben  seit 
langen  Jahren  eine  Unterstellung  unter  die  gesetzlichen  Arbeiter- 
schutzbestimmungen verlangt,  und  die  Ergebnisse  der  Erhebung, 
die  die  ständige  Kommission  des  Conseil  sup£rieur  du  travail  über 
die  Arbeitsbedingungen  im  Handelsgewerbe  durchführte,  und  die 
wir  in  ihren  wichtigsten  Teilen  in  den  beiliegenden  zwei  synopti- 
schen Übersichten  zur  Darstellung  bringen  (s.  S.  370—373)  haben 
den  Beweis  erbracht,  daß  diese  Wünsche  mehr  als  gerechtfertigt  ge- 
wesen waren.  Sie  bewiesen,  daß  im  Handelsgewerbe  dieselben  Miß- 
stände, die  in  der  Industrie  zur  Arbeiterschutzgesetzgebung  führten, 
in  einem  sehr  hohen  Grade  entwickelt  sind. 

Hinsichtlich  der  hygienischen  Beschaffenheiten  der  Arbeits- 
und der  Schlafräume  haben  die  im  Laufe  der  Erhebung  befragten 
Unternehmer  stets  das  Vorhandensein  von  Mißständen  in  Abrede 
gestellt,  während  die  Angestellten  gerade  über  diese  Mißstände 
lebhafte  Klage  führten,  und  vor  allem  die  Verhältnisse  in  den  kauf- 
männischen Büreaus  als  unerträglich  hinstellten.  Ferner  führten  die 
Angestellten  darüber  Klage,  daß  sie  in  manchen,  nicht  mit  offenen 
Verkaufsräumen  verbundenen  kaufmännischen  Betrieben  allen  Un- 
bilden der  Witterung  ausgesetzt  sind,  daß  die  Schlafräume,  insbe- 
sondere die  Schlafräume  der  Lehrlinge,  sehr  viel  zu  wünschen 
übrig  lassen,  und  daß  in  manchen  Betrieben  noch  die  Gepflogen- 
heit besteht,  die  Lagerräume  und  die  Büreaulokalitäten  nachts  als 
Schlafräume  zu  verwenden. 

Die  Arbeitsdauer  stellt,  auch  wenn  man  sich  dabei  auf  die  Aus- 
sagen der  Chefs  stützt,  schwere  Mißstände  dar.  In  Paris  wird  das 
ganze  Personal  (mit  Einschluß  der  weiblichen  Angestellten  und  der 
Kinder)  in  Detailgeschäften  10— 11  Stunden,  in  Modewarengeschäften 
11 — 12  Stunden,  manchmal  auch  13  Stunden,  in  Warenhäusern 
13 — 14  Stunden  täglich,  in  Kolonialwarengeschäften  mindestens 
11  Stunden  beschäftigt.  Die  Arbeitsdauer  der  Ausläufer  und  Ver- 
träger ist  meistens  um  eine  Stunde  länger. 

In  der  Provinz  beträgt  die  Arbeitsdauer  sämtlicher  Angestellten 
lll/.i — 12  Stunden  täglich,  in  manchen  Städten  auch  darüber;  so 
wird  in  den  Modewarengeschäften  von  Lyon  I28  4  Stunden  täglich, 


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Julius  Landmann,  Die  Ausdehnung  des  Arbeiterschutzes  in  Frankreich.  369 

in  Havre  I2\2  Stunden,  in  Toulon  12  Stunden,  in  Algier  ebenfalls 
12  Stunden,  in  den  Warenhäusern  von  Algier  13 — 14  Stunden  täg- 
lich gearbeitet  und  auch  hier  werden  die  Ausläufer  und  Verträger 
eine  Stunde  täglich  länger  beschäftigt 

Im  allgemeinen  besteht  in  den  kaufmännischen  Betrieben  in 
Frankreich  überhaupt  kein  Ruhetag.  In  Paris  halten  einige  Ge- 
schäfte Sonntag  zu,  sonst  aber  ist  es  üblich,  den  Angestellten  je 
einen  Tag  in  zwei  Wochen,  manchmal  auch  einen  Tag  in  drei 
Wochen  freizugeben.  Noch  ungünstiger  liegen  in  dieser  Hinsicht 
die  Verhältnisse  der  Büreauangestellten,  die  manchmal  das  ganze 
Jahr  über  überhaupt  keinen  ganzen  freien  Tag  haben.  In  der 
Provinz  sind  die  Verhältnisse  noch  ungünstiger  als  in  Paris.  In 
Marseille  sind  die  Modewarengeschäfte  am  Sonntag  nachmittags 
geschlossen,  alle  übrigen  Geschäfte  stets  offen.  In  Lyon  ist  es  ein- 
geführt, den  Angestellten  der  Modewarengeschäfte  vier  freie  Tage 
im  Jahre  zu  gewähren.  In  Havre,  Rouen,  Amiens,  Toulon,  Avignon 
und  Algier  haben  die  Angestellten  überhaupt  keinen  freien  Tag,  in 
Versailles  einen  freien  Tag  im  Monat. 

Auch  hinsichtlich  der  Unterstellung  der  Handelsangestellten 
und  des  Bureau personals  unter  das  Gesetz  von  1893  machte  sich 
in  den  Kammern  keine  Opposition  geltend;  manche  Mißstände 
werden  mit  der  Durchführung  dieses  Gesetzes  in  den  Betrieben 
des  Handelsgewerbes  beseitigt  werden  können ;  eine  durchgreifende 
Besserung  der  Verhältnisse  wird  auf  diesem  Gebiete  auch  in  Frank- 
reich erst  durch  Eingriff  der  Gesetzgebung  in  die  Regelung  der 
Arbeitsdauer  und  der  Ruhetage  erzielt  werden  können. 

V. 

Die  beiden  bisher  behandelten  Punkte  des  neuen  Gesetzes,  die 
Erweiterung  des  Geltungsgebietes  der  gewerbehygienischen  Gesetz- 
gebung auf  die  Kleinindustrie  der  Nahrungs-  und  Genußmittel  und 
auf  das  Handelsgewerbe,  stellten  die  Eroberung  neuer  Gebiete  für 
den  Arbeiterschutz  dar.  Die  übrigen  Bestimmungen  des  Gesetzes 
haben  nicht  diese  große  Bedeutung.  Es  wird  hier  nicht  mehr  Neu- 
land für  den  Arbeiterschutz  erschlossen,  es  handelt  sich  um  Ge- 
biete, die  bisher  schon  unter  den  Bestimmungen  der  Gesetzgebung 
standen,  und  Aufgabe  des  neuen  Gesetzes  war  nur  eine  gesetzliche 
Schlichtung  und  Klarstellung  einiger  Streitpunkte,  die  sich  bei  der 
Durchführung  des  Gesetzes  von  1 893  ergaben.  Es  handelt  sich  um 
die  Durchführung  der  gewerbehygienischen  Gesetzgebung  in  den 

Archiv  für  Soiialwmensch.ft  u.  Sozialpolitik.  I.    ;  A.  (.  *oz.  G.  u.  St.  XIX).  a.  24 


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37Q 


Gesetzgebung. 


Arbeitsbedingungen  in 

A.  —  Aussage  eines  Verbandes  der  Angestellten. 


Betrieb 

Zulassung- 
alter 

Effektive 
Arbeitsdauer 

Maximale  Präscns- 
zeit 

1 

Nachtarbeit 

Bureaus 

./.  Banken  und 
Versicherungs- 
gesellschaften : 
13  u.  14  Jahre 
A.  Steno- 
typistinnen : 
16  Jahre. 

•t.  Danxen  unu  Ver- 
sicherungsgesell- 
schaften : 
57«— 71  ii  St.  ge- 
wöhnlich 7  St. 
^.  7  St.,  in  einigen 
Häusern  11  St. 

A.   Banken  und  Versiche- 
rungsgesellschaften 6Y4  bis 
8'/4  St.,  gewöhnlich  8  St. 
A.  Handel  und  Industrie : 
8,  10  und  12  St. 

1 

Keine. 

Engros- 
geschäfte1! 

A.    14  Jahrcj 
u.  10  janre. 

A.  81  j  und  9  »'s  St. 
in  Mcrceriegcschäften 

IO  öl. 

V.  8»;4-9!V4  St. 

A.   9  und  10  St. 
c .    10  unu  1 1  au 

A.  Einige  Nacht- 
wachen. 

Dctail- 
geschäfte') 

Jedes  Alter. 

£/.  10  u.  11  St.  mit 
Ausnahme  außerge- 
wöhnlicher Perioden. 
—  Kleidcrverkäufe- 
rinnen :  9  St.  — 
Hemdengcschäfte : 
10  St. 

U.  Hemdengeschäfte  1 1 1  ...St. 
Man  schließt  nicht  einheit- 
lich um  7  Uhr.  — 

Mercericgcschältc :  Man 
zögert  mit  dem  Schließen 
wegen  der   Arbeiter-  und 

Angestelltenkundschaft. 

Keine. 

Mode- 
waren- 
magazine 

A.   Paris:  18 
manchmal 
17  Jahre; 
Grooms: 

13  Jahre; 
Vorstädte :  jedes 

Alter. 
u.  10 — lojanrc, 

nie  unter  15 
Jahren ;  in  der 
Provinz : 

14  Jahre. 

A.  Angestellte:  91 
10,  10 '/2,  10%  St. 

Aufler  den  Vor- 
abenden vor  Aus- 
stellungen usw.. 
Ladmdicner :  I '  4  u. 
2,  manchmal  3  M. 

mehr. 
U.  11,12,  manchmal 

13  st. 

A.  Angestellte:    Ii,   1 1 1  a, 
12  und  12  Vj  St.,  noch  mehr 
an  Vorabenden   von  Aus- 
stellungen usw. 
Ladendiener:  bis  zu  15  St., 
in   der  Provinz:    13  oder 
14  St. 

U.  II  — 13  St.  mit  Einschluß 
der  Mahlzeiten.   In  Maga- 
zinen mit  Arbeiterkund- 
schaft muß  der  Beginn  und 
Schluß  der  Arbeit  stets  sehr 
variieren. 

A.   Nachtwachen : 
bes.  Oktober ,  No- 
vember u.  Dezember 
vor   jeder  Ausstel- 
lung, an  Weih- 
nachten  und  Neu- 
jahr.   Montag  und 
Sonnabend   in  den 
Vorstädten. 

Waren- 
häuser 

A.  16,  17,18 
Jahre. 

A.  12,  13  u.  14  St. 
Ladendiencr,  Aus- 
läufer:  1  St.  mehr. 

A.    13  und  14  St. 
Ladendiener;  15  u.  16  St. 

A.  Bis  10  und  1 1  h. 
abends  zu  gewöhn- 
lichen Zeiten.  Vor- 
abende von  Festen : 
bis  1  u.  2  h. 
morgens. 

1 

Spezcrci- 
hand- 
lungen 

i 

U.  13  u.  14 
Jahre. 

U.   Ii  St 

__  .  

C.  Beginn :  im  Winter :  7, 
8I;4  h. ;  im  Sommer:  ö1»» 
7  h.    Schluß:  9  h.. 
Präsenz  13'/«— U1/«  St. 
U.   Von  8  h.  morgens  bis 
9  h.  abends  mit  Einschluß 
von  2  St.  Mahlzeitspausc, 
d.  h.  13  St. 

V.  Nachtwachen  an 
Sonnabenden  und 

Vorabenden  vor 
Kesten  in  bestimmten 
Geschäften. 

>)  Mit  Ausnahme  der  Warenhäuser,  Modcwarennugazine  und  Spezercihandlungen. 


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Julius  Landmann,  Die  Ausdehnung  des  Arbeiterschutzes  in  Frankreich.    3 j j 


kaufmännischen  Betrieben. 

U.  =  Aussage  eines  Verbandes  der  Unternehmer. 


Mahlzeiten 

Hygiene  der 
Arbeitslokale 

Schlafstätten 

Wöchentliche  Ruhe 

A.  Banken:  1  St.  aus- 
wärts. 
A.  Stenotypistinnen: 
2  St.  auswärts. 

A     Oft  mittelmäßig 
Banken :    Oft  unge- 
nügende Ventilation, 

Rauch,  Auswurf. 
A.  Stenotypistinnen: 
Ungenügende  Ventila- 
tion  in  einigen  Ge- 
schäften. 

Keine. 

A.   Banken.  Versichcrungs- 
gesellschaffcn    und  einige 
Magazine:  Sonn-  u.  Feier- 
tage. —  Handel  und  In- 
dustrie: 1,  '/j  oder  keinen 
Tag  in  einigen  Geschäften. 

A.  1  u.  i'/j  St.  aus- 
wärts. 
U.  I1«  St.  in  der 
Regel. 

A.  Gut  bis  auf  Bureau- 
angestellte in  einigen 
Fällen. 
L\  Gut. 

Auswärts 

A.   Sonn-  und  Feiertage. 
U.    Sonn-  und  Feiertage. 

U.  Kleiderverkäuferinnen 
haben  Kost  beim  Unter- 
nehmer. —  Mercerie: 
das   Personal    ißt  mit 
dem  Unternehmer.  — 

Hemdengeschäfte : 
Keine  Kost  beim  Unter- 
nehmer, dahin  geht  auch 
die  allgemeine  Tendenz. 

A.   Im  allgemeinen 
gut. 

C.  Man  kommt  immer 
mehr  davon  ab. 

V.  In  der  Regel  Sonn-  und 
Feiertage,  in  den  Vorstädten 
ein  anderer  Tag  nach  der 
Reihe.    —    In  Mercerie-, 
Hemdengeschäften   ist  der 
Sonntag    nicht  durchweg 
frei ;  man  versuchte  ihn  ein- 
zuführen ,   verzichtete  aber 
darauf  in  Hemden- 
geschäften. 

A.  35  Min.  —  1  h.  je 
nach  dem  Geschäft.  Eine 
Mahlzeit  gewöhnlich  im 
Geschäft,  meist  beide. 
Nahrung  ganz  gut,  we- 
nig Abwechslung. 
35.  45  Min-.  ja  I  St. 

T  C\   W  in      fii    i«r(>r   \Tq  hl- 
1  w  1*1111.    tU   JCUCT  -.»1AH1» 

zeit.     In   der  Provinz 
selten  Kost  beim  Unter- 
nehmer: 45  Min.  —  1  h. 
Gesunde  Nahrung,  über- 
genug, 1.  Qualität. 

A.   Überhitzte  Luft, 
Staub,  ungesunde 
Souterrains. 
U.  Gute  hygienische 
Bedingungen  ,  genü- 
gende Ventilation, 
keine  schlechten 
Gerüche. 

A.    Gewöhnlich  gut 
für  die  Angestellten. 
Mittelmäßig    für  die 
Ladendiener  —  in  den 
Zimmern  und  auf  den 
Ladentischen. 
U.  Im  allgemeinen 
genügend. 

A.   In   großen  Geschäften: 
Sonn-  und  Feiertage  außer 
vor  Ausstellungen.  Laden- 
diener   I    von   2   oder  4 
Sonntagen.    In  der  Regel 
1  Tag  pro  Monat,  manche 
I  Tag  pro  14  oder  8  Tage. 
U.   1  Tag  pro  8  oder  14 
Tage;  jährlicher  Urlaub 
von  8 — 14  Tagen. 

A.  2  Mahlzeiten  mit 
höchstens  je  1  St. 

A.    Man  friert  im 
Winter,  schwitzt  im 
Sommer.  Hygiene 

könnte  verbessert 
werden. 

A.  Logis  beim  Unter- 
nehmer in   der  Pro- 
vinz ,  nicht  in  Paris. 

Ladendiener  und 
Kutscher  schlafen  in 
Paris  auf  den  Laden- 
tischen. 

A.  Ununterbrochene  Ruhe: 
1  Tag  von  14  und  1  Tag 
pro  Monat. 

U.  Beinahe  durchweg 
Kost  beim  Unternehmer. 
3  Mahlzeiten:  2  St.  20 
Min.   Gute  Nahrung  in 
der  Regel. 

U.  Ausgezeichnet. 

t\   Saubere  Zimmer, 
wenn   auch  nicht  so 
groß  wie  es  in  Paris 
gewünscht  wird. 
Logis  beim  Unter- 
nehmer kommt  selten 
vor. 

U.  Vom  1.  Mai  bis  1.  Okt. 
schließen  beinahe  alle  Ge- 
schäfte   an  Sonntagnach- 
mittagen.    Im   Winter  */« 
.Tag  pro  Woche  nach  der 
Reihe.    Jährlicher  Urlaub: 

4 — 10  bezahlte  Tage. 
U.  2  Nachmittage  pro  Mo- 
nat im  Winter. 

*4« 


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Gesetzgebung. 


Arbeitsbedingungen  der  Angestellten 


Betriebe 

Anstellungs- 
alter 

Präsc  nszeit 

Mahlzeitpauscn 

Bon  March*. 

18—30  Jahre. 

Von  8  h. -7  7,  h.  (Ii«/,  St.) 
während  4.  Monaten. 
Von  8  h.— 8  h.  (12  St) 
während  8  Monaten. 
In  Wirklichkeit  werden 
durchschnittlich  300  unbe- 
zahlte Überstunden  geleistet 

»/«  St. 

samt  der  Zeit  zum  Hinauf- 
gehen ,     Herunterkommen  ; 
und  Incrapfangnehmen  der 

Speisen. 
Vormittag:  91 ,  h.— ioVf  b. 

-tl\f  h. 
Abend:  5  h.— 6  h. — 7  b. 

Louvre. 

18—30  Jahre. 

Von  8  h.— 7 10  h.  fl  1  St. 

10  Min.) 
Das  Mittagessen,   weil  fa- 
kultativ, nicht  eingerechnet 

1  St 

Vormittag :  io*0  h.—  1  l*°h. 
-12"  h. 
Abend :  7  h. 

Printemps. 

18  Jahre. 
Die  Grooms  werden 
im  Alter  von  13  bis 
14  Jahren  angestellt. 

Von  8  h.  oder  81/,  h.— 7  h. 

(11  St.) 
Das  Mittagessen,  weil  fa- 
kultativ, nicht  eingerechnet 
Die  Ladendiener  fangen 
um  7  h.  an. 

1  St 

Vormittag :  ioVt  h. — 1 1  h. 
—  I2l/j  h. 
Abend :  7  h. 
Die  Ladendiener  essen  um 
8V*  h.  u.  4  h. 

Belle  Jardiniere. 

18  Jahre. 

Angestellte : 
Von  8  h.— 7  h.  (II  St) 
Ladendiener: 
Von6V2  h.- 7  I1.O2V, St.). 

1 1  j  St.  für  die  Angestellten. 
1  St  für  die  Ladendiener. 

Nouvelles 
Qaleries 

(Avenue  de  Clichy.) 

In  jedem  Alter. 
Doch  besteht  ca.  die 
Hälfte  des  Personals 
aus  jungen  Leuten 
von  16 —  18  Jahren, 
die  Kost  und  Loris 
usw.,  aber  keine  Be- 
zahlung haben. 

Von  7"-,  Ii.- 8  Ii.  od.8'  ,h. 

(  12*' ,'«—12».«  St.). 
Montag  und  Sonnabend 
Ladenschluß : 
8»/4  oder  9',«  h. 
Um  Neujahr  wird  dreimal 
wöchentlich  um  10  h.  ge- 
schlossen. 
Am  Tage  vor  Weihnachten 
und  vor  Neujahr  wird  um 

1  h.  nachts  geschlossen. 
Die   Angestellten    für  die 
Etikettierung   arbeiten  im 
Nov.  und  Dez  bis  10  und 
1 1  h.  abends. 

Vormittag :  45  Min. 
I0l/,h.—  u'/ih.—  I2l/?h. 
Abend :  35  Min. 

5,,t*»--6,/4  h— 7  b. 

Trote  Quartiers. 

17  und  18  Jahre. 

Von  8  h.  odcr8'/2  h.— 8  h. 
(12  oder  1  lV,  St.). 

Vormittag:  *«  St.  um 

11V«  h. 

Abend:   3«;   Min.  von 
6h.-7»  4  h, 

Old  England. 

Keine  Altersgrenzen. 

Angestellte:  12  St 
Ladendiener:  14  u.  15  St. 

Krühstück:  50  Min. 
Mittagessen :  40  Min. 
samt  der  Zeit  zum  Gehen 
und  Kommen. 

Engrosgeschäfte. 

(Quartier  du 
Sentier). 

14  und  15  Jahre. 

Von  8  h.— 6  h.  oder  7  h. 

(9  oder  10  St.) 
In  einzelnen  Häusern  wird 
während    der   Saison   die  ; 
ganze  Nacht  gearbeitet  | 

1  St  und  i>/j  St. 

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Julius  Landmann,  Die  Ausdehnung  des  Arbeiterschutzes  in  Frankreich.  373 


der  Pariser  Modewarenmagazine. 


Sonn-  und  Feiertags- 
ruhe 

Hygiene  —  Nahrung 

Bemerkungen. 

Sonn-  und  Festtage  aufler 
den  Tagen  vor  Ausstellun- 
gen (7  — 8  jährlich)  bis  2  h. 
Ferien:     8   Tage  jährlich 
obligatorisch  ohne  Bezah- 
lung.     Die  Ladendiener 
haben  nur  jeden  2.  Sonn- 
tag frei. 

Überhitzte  Luft. 

Staub. 
Gute  Nahrung,  ') 
Schlafräume   gut,   an  der 
rue  du  Bac.    Die  Laden- 
diener schlafen  im  Laden 
mit  je  nur  einer  Matratze 
auf  dem  Ladentisch. 

')  Frühstück  und  Mittagessen  im  Laden 
sind  obligatorisch. 

(Seit  unseren  Vorstellungen  beim  höhe- 
ren Arbeitsbeirat  (Conseil  sup.  du  trav.) 
sind  verschiedene  Verbesserungen  einge- 
treten, so  trat  z.  B.  an  Stelle  des  Mittag- 
essens eine  Entschädigung  von  frs.  1,25. 

Sonn-   und  Festtage  aufler 
an  Tagen  vor  Ausstellungen 
(7—8  jahrlich). 
Ferien  ohne  Bezahlung. 

Überhitzte  Luft. 

Staub. 
Gute  Nahrung. ') 
Ungesundes  Souterrain, 
Temperaturwechsel. 

')  Das  Mittagessen  im  Laden  steht 
frei;  es  kann  durch  eine  Entschädigung 
von  frs.  1,20  ersetzt  werden. 

Sonn-  und  Festtage  außer 
an  Tagen  vor  Ausstellungen 
(7—8    jährlich)  bis   10  h. 

oder  12  h. 
Die  Ladendiener  arbeiten 
jeden  4.  Sonntag.  Ferien 
ohne  Bezahlung. 

Staub. 
Gute  Nahrung. ') 
Die  Ladendiener  schlafen 
zu  20  in  einem  Zimmer.  — 
Schlechte  Luft. 

*)  Das  Mittagessen  im  Laden  steht 
frei;  es  kann  durch  eine  Entschädigung 
von  frs.  1,05  ersetzt  werden. 

Ladendiener:    1  von 
14  Tagen. 
Von  I.  Januar  bis  15.  März 
1  Tag  pro  Woche. 

1   von   14  Tagen  außer  in 
Reklamewochen,  die  ca.  alle 

6  Wochen  stattfinden. 
Vom  15.  Nov.  bis  8.  Jan. 
kein  Ausgang. 
Im  ganzen  ca.  18 — 19 
Kuhetage  jährlich. 

Gute  Luft. 
Djw  2  Souterrain  ist  faucht  * 
dort  sind  die  Angestellten : 
der  Etikettierung,  Expedi- 
tion,  des  Provinzdienstes, 
Güterempfangs ,    des  Re- 
servelagerdienstes. 
Die  Ladendiener  schlafen 

im  Laden. 
Die  Nahrung  läßt  etwas  zu 

wünschen. 

Diese  Bemerkungen  treffen  für  die 
Menagere  und  für  die  derselben  Verwal- 
tung unterstehenden  großen  Bazare  zu, 
deren  Zcntralsitz  66,  nie  des  Archivs  ist. 
Die  Angestellten  bleiben  nicht  in  diesem 
Unternehmen. 

Sonn-  und  Festtage. 
Ferien  ohne  Bezahlung. 

Gute  Luft. 
20  Ladendiener  schlafen  im 
Laden  mit  je  2  Matratzen 
auf  dem  Ladentisch. 
Gute  Nahrung. 

Angestellte :   1  Tag 
pro  Woche. 
Ladendiener :  von 
14  Tagen. 

Die  Souterrains  haben  zu 
wenig  Luft. 

Sonn-  und  Festtage. 
Jährlicher  Urlaub  von  in 
der  Kegel  8  Tagen. 

Im  ganzen  gut  mit 
Ausnahme  der  Bureau- 
angestellten. 

Die  Arbeitsbedingungen  sind  gut  im 
ganzen;  dafür  sind  die  Bezahlungen  un- 
genügend und  beträchtlich  niedriger  als 
in  den  Detailgeschäften. 

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374 


Gesetzgebung. 


staatlichen  Betrieben  und  bei  staatlichen  Bauten,  beim  Verladen  und 
Löschen  der  Schiffe  und  um  einige  Änderungen  mehr  verwaltungs- 
technischer Natur. 

I.  Hinsichtlich  der  Anwendung  des  Gesetzes  von  1893  auf  die 
staatlichen  Betriebe  und  auf  die  öffentlichen  Bauten  entstand  die 
Möglichkeit  einer  Kontroverse  lediglich  infolge  der  Tatsache,  daß 
der  Art.  1  des  Gesetzes  von  1893,  im  Gegensatze  zum  Art  1  des 
Gesetzes  1892,  nach  den  Worten  „chantiers  et  etablissements 
industriels"  nicht  ausdrücklich  die  Worte  „publics  et  prives" 
enthielt. 

Für  die  Bauarbeiten,  die  im  Auftrage  des  Staates,  der  Departe- 
mente und  der  Gemeinden  ausgeführt  werden,  wurde  die  Streitfrage 
durch  ein  Rundschreiben  des  Handelsministeriums  vom  16.  Mai  1900 
dadurch  erledigt,  daß  das  Ministerium  die  Gewerbeinspektoren  be- 
auftragte, bei  allen  diesen  Bauarbeiten  für  die  Durchführung  des 
Gesetzes  von  1893  Sorge  zu  tragen.  „Das  Gesetz",  führte  dieses 
Rundschreiben  aus,  „erstreckt  sich  auf  Werkstätten  und  Bauplätze 
aller  Art",  und  wenn  auch  die  Worte  „public  et  prives"  darinnen 
nicht  ausdrücklich  enthalten  sind,  so  genügen  doch  die  Worte  „aller 
Art",  um  zu  ersehen,  daß  es  dem  Willen  des  Gesetzgebers  entsprach, 
das  Gesetz  auch  auf  öffentliche  Bauten  anzuwenden,  insbesondere, 
da  diese  Bauten  hinsichtlich  der  Arbeitsbedingungen,  und  der  Ge- 
fahren, die  dabei  das  Leben  und  die  Gesundheit  der  Arbeiter  be- 
drohen, sich  in  keinerlei  WTeise  von  privaten  Bauten  unterscheiden. 
„Es  wäre",  fahrt  das  Rundschreiben  fort,  „eine  einzigartige  Anomalie, 
wenn  der  Staat,  die  Departemente  und  die  Gemeinden,  die  mit  der 
Durchführung  der  Arbeiterschutzgesetze  betraut  sind,  bei  ihren 
eigenen  Bauten  diese  außer  acht  lassen  würden". 

Dem  Vorgehen  des  Handelsministeriums  schloß  sich  das  Kriegs- 
ministerium an,  das  durch  Rundschreiben  vom  n.  März  1901  die 
Direktoren  und  Betriebsleiter  der  dem  Kriegsministerium  unter- 
stehenden staatlichen  Betriebe  angewiesen  hat,  in  diesen  Be- 
trieben für  die  strikte  Durchführung  des  Gesetzes  von  1893  Sorge 
zu  tragen. 

Daß  aber  diese  Schritte  der  Verwaltung  nicht  genügten,  um 
wirklich  in  allen  staatlichen  Betrieben  dem  Gesetze  Geltung  zu  ver-  * 
schaffen,  dies  beweisen  die  Klagen,  die  über  die  Arbeitsbedingungen 
in  der  staatlichen  Zündhölzchenmanufaktur  in  Aubervilliers  und  in 
der  Imprimeric  Nationale  laut  geworden  sind. 

Aus  diesem  Grunde,  und  auch  um  den  Text  des  Art.  I  des 


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Julius  Landraann,  Die  Ausdehnung  des  Arbeiterschutzes  in  Frankreich.  375 

Gesetzes  von  1893  mit  dem  des  Art.  1  des  Gesetzes  von  1892  in 
wörtliche  Übereinstimmung  zu  bringen,  sah  der  vom  Ministerium 
eingebrachte  Entwurf  die  Aufnahme  der  Worte  „public  et  prives" 
in  den  Gesetzestext  vor,  was  zur  Folge  gehabt  hätte,  daß  die 
staatlichen  Betriebe  nicht  allein  dem  Gesetze  unterstellt,  sondern 
auch,  daß  die  Kontrolle  über  die  Durchführung  des  Gesetzes  in 
diesen  Betrieben  in  den  Kreis  der  Obliegenheit  der  Gewerbeinspek- 
toren einbezogen  worden  wären. 

Gegen  diesen  Vorschlag  des  Regierungsentwurfes  machte  sich 
in  der  Arbeitskommission  der  Kammer  keine  Opposition  geltend 
und  diese  Bestimmung  des  Entwurfes  wurde  denn  auch  von  der 
Kammer  debattenlos  und  mit  stillschweigender  Zustimmung  der 
anwesenden  Regierungsvertreter  angenommen.  Dagegen  machte 
die  Behandlung  des  von  der  Kammer  angenommenen  Entwurfes 
in  der  Kommission  des  Senates  Schwierigkeiten. 

Die  Vertreter  verschiedener  Departemente  machten  ihre  Be- 
denken geltend.  Der  Kriegsminister  und  der  Marineminister  wandten 
ein,  daß  wenn  sie  auch  keinen  Widerspruch  gegen  die  Unterstellung 
sämtlicher,  ihnen  unterstehenden  Betriebe  unter  das  Gesetz  von  1893 
erheben  wollten,  sie  doch  verlangen  müßten,  daß  für  eine  Reihe 
dieser  Betriebe  die  Kontrolle  über  die  Durchführung  des  Gesetzes 
ihnen,  und  nicht  den  Gewerbeinspektoren,  überlassen  bleibe,  da 
Gründe  der  Landesverteidigung  gegen  den  Eintritt  der  Inspektoren 
in  diese  Betriebe  sprächen.  Nachdem  seitens  der  Vertreter  dieser 
Ministerien  die  Zusicherung  gegeben  wurde,  daß  zu  Kontrollzwecken 
in  den  Ministerien  ein  besonderes  Inspektionsdepartement  errichtet 
werden  solle,  wurde  dem  Gesetzentwurfe  ein  neuer  Artikel  ange- 
fügt, des  Inhalts,  daß  für  diejenigen  Betriebe,  für  die  diese  Aus- 
nahmebehandlung aus  Gründen  der  nationalen  Sicherheit  geboten 
erscheint,  und  die  in  einer  noch  zu  erlassenden  Verordnung  auf- 
geführt werden  sollen,  die  Überwachung  der  Durchführung  des  Ge- 
setzes nicht  den  Gewerbeinspektoren,  sondern  besonderen  Kontroll- 
organen des  Kriegs-  und  des  Marineministeriums  obliegt 

Eine  zweite  Reihe  von  Bedenken  wurde  für  diejenigen  staat- 
lichen Betriebe  geltend  gemacht,  für  die  die  vorstehenden  Er- 
wägungen nicht  zutreffen  und  die  infolgedessen  der  Kontrolle  durch 
die  Gewerbeinspektoren  unterstehen  sollen.  Es  wurde  hervorgehoben, 
daß  die  Leitung  eines  staatlichen  Betriebes  denjenigen  Anordnungen 
des  Gewerbeinspektors,  deren  Durchführung  mit  Geldausgaben  ver- 
bunden ist,  nicht  eher  Folge  leisten  könne,  als  bis  sie  hierzu  einen 


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376 


Gesetzgebung. 


erforderlichen  Kredit  von  den  Kammern  votiert  erhielte.  Auch 
diesen  Bedenken  trug  die  Kommission  des  Senates  Rechnung,  indem 
sie  die  Bestimmungen  der  §§  5,  6,  7,  8,  9,  12  und  14  des  Gesetzes 
von  1893,  die  den  Gang  des  Verfahrens  bei  Feststellung  von  Uber- 
tretungen  und  beim  Treffen  von  Anordnungen  seitens  des  Gewerbe- 
inspektors regeln  (Aufnahme  eines  Protokolls,  Zustellung  einer  Moti- 
vierung, Anordnung  durch  den  Inspektor  an  den  Betriebsleiter  mit 
Angabe  der  Frist,  bis  zu  welcher  die  Anordnung  ausgeführt  werden 
kann,  und  Schließung  des  Betriebes,  wenn  die  Anordnung  bis  zum 
angegebenen  Zeitpunkte  nicht  durchgeführt  ist),  für  die  der  Kon- 
trolle der  Gewerbeinspektoren  unterstehenden  staatlichen  Betriebe 
aufhob,  und  einer  zu  erlassenden  Verordnung  es  vorbehielt,  den- 
jenigen Gang  des  Verfahrens  für  diese  Betriebe  festzusetzen,  der 
durch  ihre  Abhängigkeit  vom  Budgetbewilligungsrecht  der  Kammern 
geboten  erscheint 

Die  einschlägigen  Bestimmungen  des  Gesetzes  lauten  nunmehr : 

Art.  4,  Abs.  2.  Bei  Staatswerkstätten,  bei  denen  sich  im  Interesse  der  na- 
tionalen Sicherheit  die  Zulassung  von  Beamten,  welche  dem  betreffenden  Dienst- 
zweige nicht  angehören,  verbietet,  ist  die  Kontrolle  über  die  Durchführung  der  ge- 
setzlichen Bestimmungen  ausschließlich  denjenigen  Beamten  übertragen,  welche  vom 
Kriegs-  bzw.  Marineminister  dazu  ernannt  werden;  das  Verzeichnis  dieser  Betriebe 
wird  durch  eine  von  der  öffentlichen  Verwaltung  zu  erlassende  Verordnung  bekannt 
gegeben. 

Art.  12,  Abs.  3.  Die  Art.  5,  6,  7,  8,  9,  12  Abs.  1  und  2,  und  Art.  14 
dieses  Gesetzes  finden  auf  Staatswerkstätten  keine  Anwendung.  Eine  Verordnung 
der  Öffentlichen  Verwaltung  wird  über  die  Bedingungen  Bestimmungen  treffen,  unter 
welchen  die  seitens  der  Inspektoren  in  diesen  Betrieben  gemachten  Feststellungen 
durch  den  Handelsministcr  zur  Kenntnis  der  beteiligten  Verwaltungsstelle  zu 
bringen  sind. 

2.  Hinsichtlich  der  I.ade-  und  Löscharbeiten  bei  Schiffen,  die 
in  der  Nomenklatur  des  Art  1  des  Gesetzes  von  1893  nicht  ein- 
begriffen waren,  bestand  keine  Streitfrage  darüber,  daß  es  den  Ab- 
sichten des  Gesetzgebers  entsprach,  die  Arbeiter  dieses  Berufes 
auch  des  Schutzes  der  gewerbehygienischen  Gesetzgebung  teilhaftig 
werden  zu  lassen,  und  ein  Ministerialerlaß,  der  diesen  Standpunkt 
zur  Kenntnis  der  Gewerbeinspektoren  brachte,  hat  keinerlei  Oppo- 
sition gefunden.  Um  aber  eventuellen  in  der  Zukunft  möglichen 
Kontroversen  vorzubeugen,  wurde  dies  nunmehr  auch  gesetzlich 
festgelegt  und  die  „Lade-  und  Löscharbeiten"  in  die  Nomenklatur 
des  Art.  I  aufgenommen. 


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Julius  Landmann,  Die  Ausdehnung  des  Arbeiterschutzes  in  Frankreich.  377 


3.  Um  ferner  für  die  Zukunft  Kontroversen  vorzubeugen,  die 
sich  aus  einer  Unklarheit  des  Art.  1  des  Gesetzes  darüber  ergeben 
könnten,  ob  ein  Betrieb  oder  eine  bestimmte  Kategorie  von  Be- 
trieben dem  Gesetze  untersteht  oder  nicht,  wurde  an  den  Schluß 
des  Artikels  noch  eine  zur  Sicherung  dieses  Zwecks  dienende  all- 
gemeine Formel  gestellt. 

Art.  1  des  Gesetzes  lautet  nunmehr: 

Art.  I,  Abs.  I.  Die  Bestimmungen  dieses  Gesetzes  finden  Anwendung  auf 
Manufakturen,  Fabriken,  Hüttenwerke,  Bauplätze,  Werkstätten,  Laboratorien,  Küchen, 
Keller,  Gewölbe,  Magazine,  Kramläden,  Bureaus,  l-ade-  und  Löscharbeiten  und  die 
zugehörigen  Anlagen,  gleichviel  ob  es  sich  um  Betriebe  öffentlicher  oder  privater, 
weltlicher  oder  religiöser  Natur  handelt,  und  zwar  auch  dann,  wenn  sie  lediglich 
der  Berufslehre  dienen  oder  einen  Wohltätigkcitscharakter  haben. 

4.  Endlich  enthält  die  Novelle  zwei  Änderungen  hinsichtlich 
der  im  Art.  3  des  Gesetzes  vorgesehenen,  von  der  öffentlichen 
Verwaltung  zu  erlassenen  SpezialVerordnungen,  die  etwa  den  auf 
Grund  des  §  I20e  der  deutschen  Gewerbeordnung  erlassenen  Be- 
kanntmachungen des  Bundesrates  entsprechen.  Die  Ermächtigung 
zum  Erlaß  dieser  Spezial Verordnungen  wurde  dahin  erweitert,  daß 
solche  nunmehr  auch  hinsichtlich  der  Beschaffenheit  der  Schlafräume 
erlassen  werden,  und  daß  sie  sich  auch  auf  einzelne  Berufskategorien 
(bisher  nur  auf  einzelne  Industriezweige)  erstrecken  dürfen. 

*  * 
* 

Das  Gesetz  vom  9.  Juli  1903,  dessen  Werden  und  Inhalt  wir 
vorstehend  skizziert  haben,  ist  die  erste  Frucht  der  langjährigen 
Arbeiten  der  französischen  Sozialpolitiker  an  einer  Ausdehnung  und 
Ausweitung  des  Arbeiterschutzes.  Seine  große  Bedeutung  liegt  im 
Umfange  des  dem  Arbeiterschutze  neugewonnenen  Geländes  be- 
gründet und  in  der  Tatsache,  daß  durch  das  Gesetz  auch  für 
dessen  Durchführung  gesorgt  wurde.  Die  Ansätze  aber  zu  neuen 
Novellen,  die  wir  vorhin  angedeutet  haben,  läßt  die  Hoffnung  ge- 
rechtfertigt erscheinen,  daß  vielleicht  in  nicht  allzu  ferner  Zeit 
auch  weitere  Berufsgruppen  der  bisher  entbehrten  Vorteile  des 
gesetzlichen  Schutzes  teilhaftig  werden. 


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37» 


Die  staatliche  Pensionsversicherung  der 
Privatangestellten. 

(Mit  besonderer  Berücksichtigung  des  österreichischen  Gesetzentwurfs.) 

Von 

WILHELM  ARENS 

Lankwitz- Berlin. 

Ein  von  den  Organisationen  der  Privatangcstelltcn  gebildeter 
„Ausschuß  zur  Herbeiführung  einer  staatlichen  Pensions-  und  Hinter- 
bliebcnenvcrsichcrung  der  Privatangestellten"  hat  am  I  S.Oktober  1903 
und  in  den  folgenden  Wochen  auf  privatem  Wege  eine  Erhebung 
über  die  Standesverhältnisse  der  Privatangestellten  in  ganz  Deutsch- 
land veranstaltet,  um  der  Regierung  das  Material  zu  liefern,  dessen 
diese  zur  Einleitung  gesetzgeberischer  Arbeiten  auf  diesem  ganz 
neuen  Gebiete  der  sozialen  Fürsorge  bedarf.  Das  Resultat  dieser 
Erhebungen  ist  sehr  zufriedenstellend;  was  kaum  einer  der  Beteiligten 
erwartet  hatte,  wurde  erreicht:  es  sind  sehr  viel  mehr  als  Hundert- 
tausend Fragebogen  ausgefüllt  worden.  Die  Regierung  wird  an- 
gesichts dessen  den  Bestrebungen  der  Privatangcstelltcn  nähertreten 
müssen,  das  um  so  mehr,  als  seitens  verschiedener  Parteien  im  Reichs- 
tage bereits  drei  bezügliche  Anträge  gestellt  worden  sind.  Der 
weitgehendste  Antrag,  der  anfangs  die  meiste  Aussicht  hatte,  unter 
den  99  dem  Reichstage  bei  seiner  Eröffnung  im  Dezember  1903 
zugegangenen  Anträgen  mit  in  erster  Reihe  zur  Beratung  zu  gelangen, 
ist  der  der  Konservativen.  Frhr.  v.  Richthofcn-Damsdorf  und  Ge- 
nossen beantragen  einen  Beschluß  des  Reichstages  dahingehend: 

die  verbündeten  Regierungen  zu  ersuchen,  die  Vorarbeiten 
zu  einem  Gesetzentwurf,  betr.  die  Pensionsversicherung  der 
Privatbeamten,  dermaßen  zu  fördern,  daß  er  bei  Beginn 
der  nächsten  Reichstagssession  zur  Vorlage  gelangen  kann. 


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Wilhelm  Arens,  Die  staatliche  Pensionsversicherung  der  Privatangestellten.  379 

Frhr.  v.  Richthofen  ist  derjenige  Reichstagsabgeordnete,  der  die 
Frage  der  Privatbeamtenversicherung  zuerst  im  Reichstage  zur  Sprache 
gebracht  hat.  Der  energischste  Verfechter  der  Privatbeamten- 
interessen im  Reichstage  war  infolge  der  starken  Anregungen,  die 
aus  seinem  Wahlkreis  Aachen  hervorgingen,  der  Reichtagsabgeordnete 
Lehrer  Sittart.  Auch  von  ihm  und  mehreren  anderen  Mitgliedern  des 
Zentrums  liegt  dem  Reichstage  ein  Antrag  vor  und  zwar  dahin- 
gehend, das  Haus  wolle  beschließen: 

die  verbündeten  Regierungen  zu  ersuchen,  in  eine  Prüfung 
der  am  15.  Oktober  1903  von  privater  Seite  veranstalteten 
und  von  den  Interessenten  in  weitem  Umfange  unter- 
stützten Erhebungen  über  die  Lage  der  „Privatbeamten" 
einzutreten  und  von  den  Ergebnissen  dieser  Prüfung  dem 
Reichstage  baldmöglichst  in  geeigneter  Form  Mitteilung  zu 
machen. 

Endlich  ist  dem  Reichstage  noch  von  nationalliberaler  Seite 
folgender  Antrag  zugegangen: 

„Der  Reichstag  wolle  beschließen,  die  verbündeten  Re- 
gierungen zu  ersuchen:  1)  Zur  Vorbereitung  einer  den 
eigenartigen  wirtschaftlichen  Verhältnissen  der  Priv  atbeamten 
(Privatangestcllten)  entsprechenden  allgemeinen  obligato- 
rischen Alters-  und  Invaliditäts-,  Witwen-  und  Waisen- 
versicherung durch  eine  besondere  Kommission,  zu  welcher 
neben  den  Vertretern  der  verbündeten  Regierungen  auch 
Vertreter  des  Reichstags,  sowie  der  beteiligten  Privatbeamten 
und  Privatbetriebe  und  Vertreter  der  Privatversicherungs- 
gesellschaften hinzuzuziehen  sind,  Erhebungen  in  die  Wege 
zu  leiten  und  die  hierfür  erforderlichen  Mittel  noch  durch 
einen  Nachtragsetat  für  1904  anzufordern.  2)  Bei  der  im 
Jahre  1905  erfolgenden  Gewerbezählung  eine  sorgfältige 
Feststellung  der  verschiedenen  Kategorien  der  Privatbcamtcn 
anzuordnen." 

Da  die  Geschäftslage  des  Reichstages  wenig  Aussicht  bot, 
daß  diese  Anträge  rechtzeitig  zur  Verhandlung  gestellt  werden 
konnten,  ist  der  Antrag  des  Zentrums  in  Form  einer  Resolution 
zum  Etat  des  Reichsamts  des  Innern  eingebracht  worden. 


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33o 


Gesetzgebung. 


I.  Die  Entwicklung  der  Bewegung  in  Deutschland. 

Es  ist  noch  allgemein  in  der  Erinnerung,  daß  s.  Z.  bei  der 
Einführung  des  Invaliditäts  -  und  Altersversicherungsgesetzes  im 
Deutschen  Reiche  von  den  Privatangestellten  gegen  die  Ausdehnung 
dieser  Versicherung  auf  die  Handelsgehilfen,  Techniker,  Werkmeister 
etc.  mit  weniger  als  2000  Mk.  Gehalt  protestiert  wurde.  Nur  in 
ganz  vereinzelten  Fällen  fühlte  sich  ein  Angestellter  an  der  Gehalts- 
grenze von  2000  Mk.  veranlaßt,  sich  weiter  zu  versichern.  Damals 
hatte  man  die  Bedeutung  der  staatlichen  Versicherung  in  den  be- 
teiligten Kreisen  noch  nicht  erkannt.  Erst  um  die  Mitte  der  90  er 
Jahre  wurden  Stimmen  laut,  die  von  der  Selbsthilfe  keine  aus- 
reichende Befriedigung  erhofften  und  darum  ein  Eingreifen  des 
Staates  auch  zugunsten  der  bessergestellten  Kreise  verlangten.  Es 
handelte  sich  damals  zuerst  um  die  Handelsangestellten  und  die 
Verfechter  der  Idee  waren  -  das  sei  hier  besonders  hervorgehoben  — 
Prinzipale:  Der  Verband  der  kaufmännischen  Vereine  von  Rhein- 
land und  Westfalen  verhandelte  um  die  Mitte  der  90  er  Jahre  auf 
seinen  Verbandstagen  wiederholt  über  diesen  Gegenstand ;  zu  einem 
sichtbaren  Erfolge  führten  seine  Bestrebungen  jedoch  nicht,  da  in 
den  Kreisen  der  Interessenten  die  Erkenntnis  von  der  Tragweite 
einer  solchen  Versicherung  noch  nicht  weit  genug  vorgedrungen 
war.  Auch  der  vom  dcutschnationalen  Handlungsgehilfenverbande 
im  Jahre  1 898  in  Leipzig  veranstaltete  deutsche  Handlungsgehilfen- 
tag fand  den  Boden  noch  nicht  genügend  vorbereitet,  als  er  eine 
Resolution  zugunsten  eines  Ausbaues  des  bestehenden  Invaliden- 
versicherungsgesetzes beschloß.  Der  Verband  der  deutschen  Gruben- 
und  Fabrikbeamten  in  Bochum  kam  zu  einem  gleichen  Resultate, 
und  als  1899  der  Verband  reisender  Kaufleute  in  Leipzig  ein  Rund- 
schreiben an  die  sämtlichen  interessierten  kaufmännischen  Vereine, 
die  Handelskammern  und  den  Reichstag  versandte,  gelang  es  auch 
ihm  nicht,  eine  Bewegung  für  die  Alters-,  Invaliden-  und  Hinter- 
bliebcncnversorgung  des  kaufmännischen  Hilfspersonals  ins  Leben 
zu  rufen,  obwohl  die  in  diesem  Rundschreiben  entwickelten  Ideen 
bereits  eine  erfreuliche  Klarheit  in  bezug  auf  Einzelheiten  der  ver- 
tretenen Wünsche  erkennen  ließen.  Die  Ursachen  dieser  Erschei- 
nung mögen  vielleicht  zu  suchen  sein  in  der  starken  Inanspruch- 
nahme, die  andere  große  Fragen,  zum  Teil  auch  Fragen  der 
Organisation,  zu  jener  Zeit  auf  die  kaufmännischen  Angestellten 


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Wilhelm  Arens,  Die  staatliche  Pensionsversicherung  der  Privatangestellten.  381 


ausübten.  Zum  Teil  aber  lag  sie  gewiß  auch  in  der  Abneigung, 
die  die  bestehende,  anfänglich  auf  die  Arbeiter  zugeschnittene  staat- 
liche Alters-  und  Invalidenversicherung  mit  ihrem  Klcbezwang  in 
weiten  Kreisen  fand.  Wenn  heute  eine  sehr  starke  Bewegung  zu- 
gunsten einer  solchen  Versicherung  besteht,  so  ist  das  im  wesent- 
lichen zurückzuführen  auf  das  Erscheinen  des  österreichischen 
„Gesetzentwurfs  betr.  die  Pensionsversicherung  der  in  privaten 
Diensten  und  einiger  in  öffentlichen  Diensten  Angestellten",  der 
am  21.  Mai  1901  dem  österreichischen  Reichsrate  zuging.  Als  er 
in  Deutschland  bekannt  wurde,  gewannen  die  gesamten  bisherigen 
Bestrebungen  ein  anderes  Gesicht:  Eine  „Pensions'Versicherung 
wünschte  sich  ein  jeder  und  was  den  ersten  Äußerungen  bezüglicher 
Wünsche  durch  die  kaufmännischen  Organisationen  an  werbender 
Kraft  abging,  das  ersetzten  die  anderen  Berufen  angehörenden 
Privatangestellten :  Ingenieure,  Publizisten  etc.  durch  eine  mit  außer- 
ordentlicher Schärfe  geführte  Agitation  in  der  Presse.  Zu  nennen 
ist  da  vor  allem  der  Forster  Hütteningenieur  Ennesch,  der  wohl 
als  erster  Deutscher  den  österreichischen  Entwurf  in  der  deutschen 
Presse  behandelte.  Im  Herbst  1901  griff  dann  der  deutsche  Gruben- 
und  Fabrikbeamtenverband  die  Angelegenheit,  die  er  bereits  früher 
bearbeitet  hatte,  wieder  auf  und  berief  eine  Delegiertenversamm- 
lung der  Verbände  kaufmännischer  und  technischer  Angestellten 
nach  Hannover.  Diese  Tagung,  die  am  I.  Dezember  1901  stattfand, 
hatte  noch  mit  Gegnern  in  den  eigenen  Reihen  zu  kämpfen:  Die 
Leiter  der  Altersversorgungskassen  des  Vereins  für  Handlungskommis 
von  1858  zu  Hamburg,  Möller,  und  des  deutschen  Privatbeamten- 
vereins in  Magdeburg,  Dr.  Sernau,  kämpften  unter  Verweisung  auf 
die  Selbsthilfe  gegen  diese  Bestrebungen  an.  Ihrem  Einfluß  ist  es 
zu  danken,  daß  der  Ausschuß,  der  in  Hannover  gewählt  wurde,  im 
ersten  Jahre  zu  keiner  ersprießlichen  Arbeit  kam.  Nachdem  im 
Laufe  des  Jahres  1902  eine  sehr  lebhafte  Bewegung  zugunsten  einer 
Pensionsversicherung  der  Privatangestellten  im  Lande  selbst  groß- 
geworden war,  trat  dann  am  I.  März  1903  der  Ausschuß  in  Berlin 
zu  einer  neuen  Sitzung  zusammen  und  beschloß  in  Berücksichtigung 
einer  Anregung,  die  am  Tage  vorher  einer  Deputation  von  Privat- 
angestellten vom  Reichsamt  des  Innern  gegeben  worden  war,  die 
Veranstaltung  jener  Erhebungen  über  die  Standesverhältnisse  der 
Privatangestelltcn  in  Deutschland,  die  jetzt  am  15.  Oktober  1903 
zur  Ausführung  gelangt  sind. 


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3»2 


Gesetzgebung. 


II.  Die  treibenden  Gedanken  der  Bewegung. 

Die  Frage  der  Pensionsversicherung  der  Privatangcstellten  hat 
zum  ersten  Male  die  verschiedenen  Berufsgruppen  dieses  neuen 
Standes  zu  gemeinsamen  Bestrebungen  zusammengeführt.  Bis  dahin 
hatten  die  Handlungsgehilfen,  die  Techniker,  die  Werkmeister  sich 
wohl  mit  Angelegenheiten  beschäftigt,  die  ihren  Beruf  allein  an- 
gingen; aber  die  Erkenntnis,  daß  sich  im  Laufe  der  letzten  Jahr- 
zehnte in  den  Privatangestellten  ein  neuer  Stand  herausgebildet 
hatte,  hatte  sich  noch  nicht  Bahn  gebrochen.    Erst  die  Frage  einer 
gemeinsamen  Pensionsversicherung  lenkte  die  Aufmerksamkeit  auf 
die  bei  allen  Gliedern  des  neuen  Standes  vorhandenen  eigenartigen 
Erwerbsverhältnisse  und  die  mit  ihnen  verbundene  Existenzunsicherheit 
des  Einzelnen.    Zugleich  lernte  man,  den  Bildungs-  und  Entwick- 
lungsgang des  Standes  der  Privatangcstellten  zu  studieren  und  sich 
mit  seinem  Verhältnis  zu  den  anderen  Ständen  zu  beschäftigen.  Zu 
voller  Klarheit  über  die  Grenzen  des  neuen  Standes  ist  man  dabei 
allerdings  auch  heute  noch  nicht  gelangt  und  man  wird  angesichts 
der  Veränderlichkeit  des  wirtschaftlichen  Lebens  wohl  schwerlich 
jemals  zu  einer  absolut  zuverlässigen  Definition  des  Begriffes  „Privat- 
angestellter" kommen.    Einen  Beweis  dafür  scheint  die  Tatsache  zu 
bilden,  daß  die  anfangs  in  der  Pensionsversicherungsbewegung  in 
Deutschland  im  Vordergrunde  stehende  Frage  „Wer  ist  Privat- 
angestellter ?"  längst  verschwunden  ist  und  der  Frage  „Wer  soll 
versichert  werden?"  Platz  gemacht  hat.    Der  Ausschuß  der  Privat- 
beamtenverbände hatte  zwar  einmal  eine  Definition  versucht,  aber 
diese  konnte  nicht  in  Betracht  kommen,  da  sie  sich  auf  die  be- 
stehenden Gesetze  stützte,  die  wiederum  die  Auslegung  der  einzelnen 
Begriffe  dem  Richter  überlassen.  Die  bezügliche  Kundgebung  lautete : 
„Der  Ausschuß  versteht  unter  „Privatangestellte"  alle  in  Diensten 
Privater,  bei  staatlichen  und  Gemeindebehörden,   nicht  pensions- 
berechtigte gegen  Entschädigung  Angestellte,  deren  Beschäftigung 
höherer  Art  ist  und  deren  Arbeitsverhältnis  nach  den  §§  59  des 
Handelsgesetzbuches,   133  a  der  Reichs-Gewerbe-Ordnung,  88  des 
Allgemeinen  Berggesetzes  und  622  des  Bürgerlichen  Gesetzbuches 
bestimmt  wird."    Den  Privatangestellten  war  diese  Auslassung  will- 
kommen, aber  nicht  als  Definition  des  Begriffes  „Privatangestellter" 
sondern  als  einfache  Abgrenzung  des  Kreises  der  zu  Versichernden; 
denn  alle,  auch  von  anderer  Seite  angestellten  Versuche,  aus  der 


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Wilhelm  Arens,  Die  staatliche  Pensionsversicherung  der  Privatangcstellten.  383 


Art  der  Dienste,  der  Vorbildung,  des  Entgeltes,  aus  der  gesell- 
schaftlichen Stellung  oder  den  Standespflichten  eine  Abgrenzung  zu 
konstruieren,  waren  gänzlich  erfolglos  geblieben.  Mit  dem  Begriff 
„höhere  Dienstleistungen"  hatte  s.  Z.  schon  die  österreichische  Re- 
gierung in  ihrer  Kundmachung  aus  Anlaß  der  Erhebungen  über  die 
Privatangestellten  vom  Jahre  1896  operiert,  damit  aber  wider  Willen 
erreicht,  daß  in  weiten  Bezirken  durch  die  niederen  Behörden  alle 
Handlungsgehilfen  von  den  Erhebungen  ausgeschlossen  wurden; 
auch  aus  dem  Grade  und  der  Art  der  Vorbildung  ließ  sich  ein 
allgemein  brauchbares  Kennzeichen  nicht  schaffen,  da  manche  Ar- 
beiterkategorien eine  über  die  Volksschulbildung  hinausgehende 
fachliche  und  allgemeine  Bildung  haben  müssen,  während  die  Ob- 
liegenheiten manches  Angestellten  nichts  als  ein  repräsentables 
Auftreten  notwendig  machen.  In  bezug  auf  die  Entlohnung  der 
Dienste  aber  konnte  bei  der  überaus  schlechten  Bezahlung  vieler 
Angestellten  und  der  Mannigfaltigkeit  in  der  Form  der  Entlohnung 
—  nach  Zeitungsberichten  soll  z.  B.  eine  große  Berliner  Buch- 
druckerei ihre  Korrektoren  schichtweise  honorieren  —  erst  recht 
von  einem  entscheidenden  Merkmal  keine  Rede  sein.  Damit  hängt 
die  Unmöglichkeit,  sich  auf  die  gesellschaftliche  Stellung  und  die 
mit  ihr  verbundenen  Pflichten  zu  berufen,  eng  zusammen.  Auch  in 
Osterreich  hat  man  bald  darauf  verzichtet,  eine  brauchbare  theoretische 
Definition  zu  geben,  nachdem  man  mit  dem  Ausdruck  „höhere 
Dienstleistungen"  in  bezug  auf  die  Handlungsgehilfen  so  unangenehme 
Erfahrungen  gemacht  hatte.  Auch  dort  fragt  heute  niemand  mehr: 
„Wer  ist  Privatangestellter?",  weil  diese  Frage  sich  gar  nicht  aus- 
reichend beantworten  läßt  und  weil  ihre  Beantwortung  auch  nicht 
gerade  notwendig  erscheint  und  eine  einfache  Aufzählung  der  zu 
versichernden  Berufe  genügt.  Die  Angehörigen  dieses  neuen  Standes 
kennen,  da  Zweifel  nur  ganz  verschwindend  kleine  Kreise  treffen, 
ihre  Zugehörigkeit  und  empfinden  lebhaft  ihr  Standesbewußtsein. 
Insbesondere  das  Wort  von  Prof.  Schmoller  von  dem  Privatbeamten- 
stande als  dem  „Kern  des  neu  sich  bildenden  Mittelstandes"  hat 
in  der  Entwicklung  eine  sehr  anregende  Wirkung  ausgeübt,  indem 
es  vor  allem  auch  zu  einem  Rückblick  zwang.  1882,  bei  der  ersten 
Berufs-  und  Gewerbezählung  im  Deutschen  Reiche,  wurden,  ab- 
gesehen von  den  in  einer  anderen  Kategorie  gezählten  Betriebs- 
leitern, 306668  Privatangestellte  ermittelt.  Die  zweite  Berufs-  und 
Gewerbezählung  vom  Jahre  1895  wies  bereits  621825  Angestellte 
in  privaten  Betrieben  nach  und  heute,  nach  8  Jahren  weiteren  wirt- 


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Gesetzgebung. 


schädlichen  Aufschwunges  und  fortschreitender  Entwicklung,  nimmt 
man  allgemein  an,  daß  in  Deutschland  i  —  i1»  Millionen  Angestellte 
in  privaten  Betrieben  tätig  sind.  Man  geht  vielleicht  nicht  fehl, 
wenn  man  sagt,  daß  die  Handwerker  von  den  Privatangestellten 
nach  10  weiteren  Jahren  der  Zahl  nach  übertroflen  werden.  Als- 
dann wird  es  sich  in  erhöhtem  Maße  fragen,  ob  und  in  welchem 
Grade  der  Stand  der  Privatangestellten  auch  wirklich  mit  jener  U  n  - 
abhangigkeit  ausgestattet  sein  wird,  die  den  früheren  „Mittel- 
stand" stets  zu  einem  so  wichtigen  Gliede  im  sozialen  Leben  der 
Völker  gemacht  hat.  Heute  sind  selbst  die  eifrigsten  Verfechter 
der  Interessen  der  Privatangestellten  nicht  in  der  Lage,  den  Hand- 
werkern und  Detailisten  Unrecht  zu  geben,  wenn  diese  durch  den 
Mund  des  früheren  Reichstagsabgeordneten  Dr.  Oertel  für  sich  eine 
größere  Bedeutung  im  Wirtschaftsleben  des  Volkes  beanspruchen, 
als  für  einen  „Rayonchef  bei  Wertheim." 

I.  Die  Existenzverhältnisse  des  Privatangestellten. 

Der  Privatangestellte  ist  abhängig  von  seinem  Dienstgeber,  der 
ihn  nach  Belieben  entlassen  kann  oder  nicht;  er  ist  abhängig  von 
seiner  Stellung,  aus  der  er  seinen  Lebensunterhalt  zieht;  er  em- 
pfindet die  Nachteile  eines  festbegrenzten  Einkommens  aus  seiner 
persönlichen  Tätigkeit,  die  auf  ihn  um  so  schärfer  einwirken,  als 
er  mit  einer  fortdauernden  Ungewißheit  seiner  Stellung  rechnen 
muß  und  unter  den  bestehenden  Verhältnissen  keine  Möglichkeit 
hat,  sich  eine  genügende  Sicherung  seines  Einkommens  zu  schaflfen. 

a)  Das  unfundierte  Beamteneinkommen. 

Als  es  sich  s.  Z.  darum  handelte,  die  Beamten  des  preußischen 
Staates  zu  einem  Teile  von  den  kommunalen  Lasten  zu  befreien, 
da  ging  man,  wie  der  Wortlaut  des  Gesetzes  betr.  die  Heranziehung 
der  Staatsdiener  zu  den  Gemeinelasten  vom  u.  Juli  1822  es  aus- 
spricht, davon  aus,  daß  das  Diensteinkommen  des  Beamten :  „einer- 
seits seinem  ganzen  Dasein  nach  von  dem  Leben,  der  Gesundheit 
und  anderen  zufalligen  Verhältnissen  der  Person  abhängig  und  an- 
dererseits seinem  ganzen  Betrage  nach  bestimmt  ist,  und  dadurch 
auf  der  einen  Seite  gegen  Grund-  und  Kapitaleinkommen  und  auf 
der  anderen  Seite  gegen  Gewerbseinkommen  im  Nachteile  steht." 
Diese  Gedanken  sind  ohne  Ausnahme  auf  die  Einkommensverhält- 
nisse des  Privatangestellten  anwendbar:  Auch  er  kann  nicht,  wie 


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Wilhelm  Arcns,  Die  staatliche  Pensionsversicherung  der  Privatangestellten.  385 

der  Landwirt  oder  mit  Kapital  ausgestattete  Gewerbetreibende  ein 
fortdauerndes,  wenn  auch  vermindertes  Einkommen  erhoffen,  so- 
bald seine  Erwerbsfähigkeit  wegfällt;  auch  bei  ihm  ist  dazu  die 
Möglichkeit,  sein  Einkommen  durch  vermehrte  Arbeit  auszudehnen, 
die  Früchte  eines  besonders  guten  Geschäftsganges  sich  zunutze 
zu  machen,  nicht  gegeben.  Dahingegen  fällt  bei  ihm  noch  er- 
erschwerend ins  Gewicht,  daß  „die  anderen  zufälligen  Verhältnisse 
der  Person"  bei  ihm  ungleich  viel  stärker  in  die  VVagschale  fallen 
wie  bei  dem  festangestellten  Beamten  des  Reiches,  des  Staates  oder 
der  Gemeinde. 

b)  Die  Stellenlosigkeit. 

Die  Gefahr  der  Invalidität  oder  des  vorzeitigen  Todes  läßt  sich 
unter  den  gegebenen  Verhältnissen  für  den,  der  ein  ganz  festes 
Einkommen  hat,  durch  den  Abschluß  geeigneter  Versicherungen 
ausgleichen,  und  die  Privatangestellten  hätten  keinerlei  Recht,  nach 
Hilfe  des  Gesetzgebers  zu  rufen,  wenn  sie  von  diesen  privaten  Ver- 
sicherungsmöglichkeiten ausreichenden  Gebrauch  machen  könnten. 
Das  aber  ist  unter  den  bestehenden  Verhältnissen  nicht  der  Fall. 
Wenn  ein  Privatangestellter,  der  in  einem  Alter  von  25  Jahren  zu 
einem  Gehalt  von  2400  Mk.  gelangt,  der  nach  10  Jahren  3600  Mk. 
und  nach  20  Jahren  4000  Mk.  verdient,  sich  und  seine  Familie  wirklich 
seinen  Lebensverhältnissen  entsprechend  versichern  will,  so  muß 
er  sich  für  den  Fall  der  Invalidität  und  des  Alters  auf  eine  Jahres- 
rente von  1 500  Mk.  versichern  und  außerdem  zur  Versorgung  seiner 
Angehörigen  eine  Kapitalversicherung  auf  mindestens  6000  Mk. 
abschließen;  zu  beachten  ist  noch,  daß  in  beiden  Fällen  angesichts 
der  Intensität  der  Arbeit  des  Privatangestellten  das  60.  Lebensjahr 
als  der  Abschluß  der  Erwerbsfähigkeit  anzusehen  ist,  daß  also  mit 
diesem  Termine  auch  die  Einzahlungen  an  eine  Versicherungsanstalt 
aufhören  müssen.  Für  eine  solche  Rentenversicherung  würden  jähr- 
lich ca.  300  Mk.,  für  die  Kapitalversicherung  jährlich  ca.  170  Mk., 
zusammen  470  Mk.  zu  zahlen  sein.  Bei  angestrengter  Arbeit  und 
sorgsamster  Sparsamkeit  würde  der  Versicherte,  wenn  sein  Ein- 
kommen keinerlei  Schwankungen  unterworfen  sein  würde,  diese 
Prämien  aufzubringen  vermögen.  Anders  aber  wird  die  Sache,  so- 
bald irgend  eine  Störung  eintreten  würde.  Die  Aufwendungen,  die 
der  Privatangestellte  in  einem  solchen  Falle  zu  machen  hätte,  würden 
seine  Leistungsfähigkeit  zu  normalen  Zeiten  aufs  äußerste  anspannen, 
und  sofort  unmöglich  werden,  sobald  Stellenlosigkeit  das  Gehalt 

Archiv  für  Sorialwmernchaft  u.  Sozialpolitik.  I.    1 A.  f.  so/.  G.  u.  St.  XIX.)  3.  25 


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386 


Gesetzgebung. 


wegfallen  läßt.  Tatsächlich  aber  handelt  es  sich  bei  der  Stellen- 
losigkeit  heute  nicht  mehr  um  eine  Begleiterscheinung,  die  nur 
minderfahige  Elemente  trifft.  Jede  wirtschaftliche  Krisis  läßt 
Tausende  von  Privatangestellten  beschäftigungs-  und  damit  verdienst- 
los werden ;  das  Schicksal  der  Angestellten  der  Leipziger  Bank,  der 
Treberunternehmungen,  ferner  der  im  Jahre  1901  entlassenen  nach 
Tausenden  zählenden  Bank-  usw.  Beamten  beweist  das.  Ein  ge- 
nauer Überblick  über  den  Umfang  der  Stellenlosigkeit  liegt  uns  für 
Deutschland  nicht  vor ;  eine  Erhebung  über  die  Standes-  und  Lebens- 
verhältnisse der  Privatangestellten  gab  es  bisher  in  Deutschland  noch 
nicht  und  auch  die  am  15.  Oktober  durchgeführten  Erhebungen 
werden  kein  ganz  lückenloses  Material  liefern.  Dahingegen  besitzt 
man  in  Österreich  wenigstens  einigermaßen  zuverlässiges  Material 
in  den  Resultaten  der  Erhebungen,  welche  die  dortige  Regierung 
1896  über  die  Standesverhältnisse  der  Privatan gestellten  vornahm. 
Danach  kamen  in  den  5  dem  Zähljahr  vorausgehenden  Jahren  durch- 
schnittlich auf  100  Angestellte  1,75  stellenlose;  auf  jeden  Ange- 
stellten entfielen  durchschnittlich  jährlich  2,93  Tage  ohne  Stellung; 
jede  Stellenlosigkeit  dauerte  im  Durchschnitt  167,4  Tage.  Nimmt 
man  in  Deutschland  die  Teilresultate,  die  der  Verein  für  Handlungs- 
kommis  von  1858  in  Hamburg  bei  seinen  Mitgliedern  ermittelte,  so 
findet  man,  daß  im  Jahre  1893  durchschnittlich  ein  Stellenloser  auf 
41  Vereinsmitglieder  kam.  1894  fiel  diese  Zahl  sogar  auf  33,  stieg 
dann  1895  auf  38,7,  1896  auf  47,5,  1897  auf  51,1,  1898  auf  59,2, 
blieb  also  auch  in  dem  wirtschaftlich  so  sehr  günstigen  Jahre  1898 
noch  immer  doppelt  so  hoch,  wie  die  in  Österreich  ermittelte 
Ziffer  von  2,93  stellungslosen  Tagen  pro  Jahr.  Es  erscheint  übrigens, 
ganz  nebenbei,  in  diesen  Zahlen  ein  sehr  treffendes  Bild  der  je- 
weiligen wirtschaftlichen  Lage.  Zu  den  Zahlen,  die  in  Österreich 
ermittelt  wurden,  bemerkt  die  Regierung  auf  Seite  9  der  Erhebungen, 
in  bezug  auf  die  Stellenlosen  sei  von  vornherein  auf  eine  voll- 
ständige Anmeldung  nicht  zu  rechnen  gewesen.  Man  geht  also 
nicht  fehl,  wenn  man  in  den  österreichischen  Resultaten  kein  zu 
dunkles  Bild  der  Verhältnisse  sieht. 

c)  Der  Mangel  einer  zuverlässigen  Versorgungsgclegenheit. 

Die  Stellenlosigkeitsgefahr  ist  es,  die  den  Angestellten  der 
Möglichkeit  beraubt,  sich  auf  dem  Wege  der  privaten  Ver- 
sicherung ausreichend  gegen  die  Nachteile  des  unfundierten  fest- 
begrenzten Beamteneinkommens  zu  schützen   und   seine  Hinter- 


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Wilhelm  Arens,  Die  staatliche  Pensionsversicherung  der  Privatangestellten.  387 


bliebenen  vor  den  Folgen  eines  doch  immerhin  möglichen  frühen 
Todes  zu  bewahren.  Die  heute  gebotenen  Versicherungs- 
gelegenheiten verlangen  durchweg  regelmäßige  Prämienzahlungen 
und  lassen  die  Versicherung  verfallen  oder  nur  mit  großen  Nach- 
teilen für  den  Versicherten  fortbestehen,  sobald  die  Prämienzahlung 
wegen  Mangels  an  verfügbaren  Mitteln  durch  den  Versicherten  ein- 
gestellt wird.  Der  Stand  der  Privatangestellten  muß  aber  in  sehr 
hohem  Grade  für  seine  Mitglieder  mit  der  Unmöglichkeit  der  Prämien- 
zahlung rechnen ;  denn  es  liegt  auf  der  Hand ,  daß  ein  Privat- 
angestellter, der  die  in  Österreich  als  Durchschnitt  ermittelten  167,4 
Tage  lang  stellenlos  ist,  in  fast  allen  Fällen  nicht  in  der  Lage  sein 
wird,  eine  seiner  Lebenshaltung  entsprechende  Versicherung  aufrecht 
zu  erhalten.  Der  Privatangestellte  hat  gewiß  in  der  Mehrzahl  aller 
Fälle  ein  größeres  Einkommen  wie  der  Arbeiter;  er  hat  aber  nicht 
die  Möglichkeit,  so  eingeschränkt  zu  leben,  wie  jener  es  vermag. 
Die  Erfahrung  lehrt  da,  daß  die  Beziehungen  des  Angestellten  zum 
Bürgerstande,  vielleicht  auch  die  Repräsentationspflichten  seiner 
Stellung  ihn  im  allgemeinen  zwingen,  sein  ganzes  Einkommen  zu 
verbrauchen  und  von  bedeutenderen  Rücklagen  abzusehen.  Auf 
jeden  Fall  werden  diese  wohl  nur  selten  so  bedeutend  sein,  daß 
der  Angestellte  davon  jene  167,4  Tage  hindurch  seine  Familie  zu 
erhalten  und  dann  noch  entsprechende  Prämien  zu  der  Versicherung 
zu  leisten  vermöchte.  Es  ist  auch  mehr  wie  wahrscheinlich,  daß 
die  ganzen  Rettungsmöglichkeiten  der  Versicherung  —  vierwöchige 
Respektfrist,  sechsmonatige  Nachzahlungsfrist  mit  Zinszuschlag  und 
zweijährige  Frist  zur  Wiederaufnahme  bei  gutem  Gesundheits- 
zustand —  fast  in  allen  Fällen  versagen  werden,  sobald  eine  solche 
langdauernde  Stellenlosigkeit  eintritt.  Ein  Blick  in  die  Resultate 
der  Lebensversicherungsanstalten  beweist  denn  auch,  daß  der  vor- 
zeitige Verfall  außerordentlich  groß  ist.  Man  sehe  sich  die  folgenden 
Zahlen,  bei  denen  es  sich  um  die  Lebensversicherung,  nicht  auch 
Renten-,  Volks-  usw.  Versicherungen  handelt,  unter  diesem  Ge- 
sichtswinkel an: 


Neuaufnahmen    Erreichtes  Ziel   Vorzeitiger  Verfall 


1896 

1897 
1898 
1899 
1900 
1901 
1902 


102640  19425  27850 

1 25  093  20468  32488 

1 20  80S  2 1  384  32  822 

121 000  24000  35000 

120000  26006  38000 

119005  26147  35479 

122077  »7  999  42  554 


25* 


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388 


Gcsctigcbung. 


Daraus  ergibt  sich,  daß  die  Erwerbs-  und  Einkorn  mens  Ver- 
hältnisse der  meisten  Versicherungsnehmer  die  für  eine  regelmäßige 
Prämienzahlung  notwendige  Zuverlässigkeit  nicht  bieten,  und  da 
die  Angestellten  wegen  der  Eigenart  ihrer  Einkommensverhältnisse 
ein  sehr  großes  Kontingent  der  Versicherten  stellen,  darf  man  mit 
gutem  Recht  die  Ermittelungen  über  die  Häufigkeit  und  Dauer  der 
Stellenlosierkeit  mit  den  Ziffern  der  Lcbensversicherungsinstitutionen 
in  Bezug  auf  vorzeitigen  Verfall  von  Polizen  miteinander  in  Be- 
ziehung bringen.  Es  erübrigt,  hier  ausführlich  darzulegen,  daß  auch 
die  Kassen  der  Verbände  der  Angestellten,  so  manche  Vor- 
teile sie  für  die  Versicherten  unter  den  Mitgliedern  bieten  mögen, 
nicht  in  der  Lage  sind,  die  unangenehme  Erscheinung  des  vor- 
zeitigen Verfalles  mit  all  ihrem  Schaden,  mit  all  ihrer  Erbitterung 
weckenden  Enttäuschung  zu  beseiten,  sofern  sie  nicht,  wie  es  der 
Verband  deutscher  Handlungsgehilfen  in  Leipzig  getan  hat,  das 
System  der  einmaligen  Prämie  eingeführt  haben.  Dieses  System, 
das  für  Versicherungsnehmer  mit  nicht  absolut  sicherem  Einkommen 
die  beste  Versicherungsform  darstellen  dürfte,  ist  von  den  Privat- 
versichcrungen  nicht  eingeführt  worden,  weil  das  Werbesystem 
nichtdaraufangelegt  ist:  der  Agent  findet  keine  entsprechende 
Entlohnung  seiner  Mühe,  wenn  er  anstatt  einer  fordauernden 
Zahlungsverpflichtung  nur  eine  einmalige  kleine  Einzahlung  erreicht 
Nur  eine  Versicherungsgesellschaft,  der  Allgemeine  deutsche  Ver- 
sichcrungsvercin  in  Stuttgart,  macht  mit  Hilfe  von  Arbeiterorgani- 
sationen auf  diesem  Gebiete  einen  kleinen  Vorstoß,  der  jedoch 
wegen  der  Beschränkung  in  bezug  auf  die  Höhe  der  Versicherung 
(ur  den  Privatangestellten  keineswegs  in  Betracht  kommt,  ganz  ab- 
gesehen davon,  daß  er  nur  Kapital-,  keine  Rentenversicherungen 
bietet. 

In  gewiß  nicht  höherem  Grade  kann  der  Privatangestellte  in 
den  von  vielen  Großunternehmungen  sicher  in  bester  Absicht  ge- 
schaffenen Hauskassen  eine  Lösung  des  Versicherungsproblems 
erblicken.  Einmal  ist  nur  ein  sehr  kleiner  Teil  der  Unternehmer 
in  der  Lage,  solche  Kassen  zu  errichten,  und  wie  das  Beispiel  der 
Leipziger  Bank  zeigt,  ist  nur  ein  verschwindender  Teil  in  der  Lage, 
für  die  Versicherung  auch  für  alle  Zeiten  die  nötigen  Garantien  zu 
schaffen.  Die  Momente,  die  gegen  die  Lebensversicherung  sprechen, 
sprechen  in  verstärktem  Maße  auch  gegen  die  Hauskassen,  weil  bei 
diesen  meistens  das  Werk  die  Hälfte  der  Prämien  einzahlt  und  den 
ausscheidenden  Beamten  zwingt,  vom  Augenblicke  des  Austritts 


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Wilhelm  Arens,  Die  staatliche  Pensionsversicherung  der  Privatangestellten.  389 


an  die  doppelten  Prämiensätze  wie  bis  dahin  zu  zahlen.  Darin 
liegt  eine  sehr  starke  Beschränkung  der  Freizügigkeit  und  damit 
des  Vorankommens  des  Angestellten,  und  es  ist  in  den  Kreisen 
der  Angestellten  allgemein  zur  Überzeugung  geworden,  daß  die 
Werke  mit  Pensionskassen  gegenüber  anderen  Unter- 
nehmungen dieweniger  guten  Gehälter  zahlen.  Früher 
war  es  fast  allgemein  üblich,  daß  der  Angestellte,  sobald  er  frei- 
willig oder  unfreiwillig  aus  dem  Dienstverhältnis  zur  Firma  aus- 
schied, seine  Einzahlungen  nach  Abzug  der  ersten  5  Jahresprämien 
ohne  Zinsen  aus  der  Kasse  zurückerhielt,  also  einen  sehr  be- 
deutenden Schaden  erleiden  mußte.  Diesem  Zustande  hat  das 
Reichsaufsichtsamt  erfreulicherweise  ein  Ende  gemacht;  heute  er- 
möglichen fast  alle  Institute  dieser  Art  die  Weiterversicherung  gegen 
Zahlung  der  gesamten  bis  zum  Austritt  vom  Angestellten  und  dem 
Dienstgeber  je  zur  Hälfte  getragenen  Prämien.  Dahingegen  hat  das 
Reichsaufsichtsamt  der  absoluten  Rechtlosigkeit  der  Versicherten 
bei  solchen  Kassen  bisher  noch  kein  Ende  gemacht.  Es  ist  den 
zunächst  Beteiligten  fast  durchweg  selbst  nicht  bekannt,  aber  es  ist 
Tatsache:  es  gibt  in  Deutschland  keine  Pensionskasse  eines  Privat- 
unternehmens, die  ihren  Mitgliedern  nicht  ausdrücklich  das  Recht 
zur  Klage  bei  den  ordentlichen  Gerichten  nähme  und  sie  nicht  an 
ein  Schiedsgericht  verwiese.  Die  Zusammensetzung  dieses  Schieds- 
gerichts aber  tut  die  Unsicherheit  des  Versicherungsverhältnisses 
gegenüber  der  Kasse  hinreichend  dar:  2  Mitglieder  des  Schieds- 
gerichts sind  Vertreter  der  Kasse  und  des  Versicherten ;  diese  beiden 
ernennen  das  3.  Mitglied,  den  Obmann;  können  beide  sich  über 
den  Obmann  nicht  einigen,  so  wird  der  Obmann  von  der  Firma 
ernannt,  sodaß  die  Mehrheit  der  Stimmen  unter  allen  Umständen 
auf  Seiten  der  Kasse  bzw.  des  Werkes  ist. 

Die  bestehende  In  validitätsversicheru  ng  ist  in  den 
letzten  Jahren  in  den  Augen  der  Privatangestellten  sehr  gestiegen. 
Man  ruft  nicht  mehr  nach  einer  Loslösung  aus  dieser  Versicherungs- 
pflicht sondern  fordert  höchstens  ihren  Ausbau.  Trotzdem  aber 
ist  niemand  im  unklaren  darüber,  daß  die  Privatangestelltcn  unter 
einer  Versicherung  für  sich  selbst  etwas  anderes  verstehen.  Heute 
versichern  sich  ja  wohl  alle  Angestellten,  sobald  sie  die  Gehalts- 
grenzc  von  2000  Mk.  überschreiten,  weiter,  aber  nur,  weil  diese 
Versicherung  gegenüber  den  minimalen  Einzahlungen  immerhin 
einen  bedeutenden  Vorteil  bietet,  dann  zum  Teil  auch,  weil  sie 
glauben,  daß  die  nach  dem  Invalidenversicherungsgesetze  zurück- 


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Gesetzgebung. 


gelegte  Wartezeit  nach  Schaffung  einer  besonderen  Privatbeamten- 
versicherung zur  Anrechnung  gelangen  werde.  Das  hält  aber  nie- 
manden davon  ab,  stets  zu  betonen,  daß  die  Invalidenversicherung 
für  Privatbeamte  etwas  anderes  bieten  muß,  als  das  bei  der  doch 
auf  die  Verhältnisse  der  Lohnarbeiterschaft  berechneten  Invaliden- 
versicherung gegenwärtig  der  Fall  ist. 

III.  Der  Stand  der  Bestrebungen  in  Österreich. 

Der  Anstoß  zu  der  heutigen  Bewegung  in  Deutschland  stammt 
aus  Österreich.  Dort  hatten  bereits  im  Jahre  1888  Privatangestellte 
eine  solche  Versicherung  verlangt.  In  der  ersten  Hälfte  der  90  er 
Jahre  gelang  es,  die  Regierung  zu  einer  größeren  Aktion  zu  ver- 
anlassen: Im  Jahre  1896  wurden  auf  kaiserliche  Anordnung  hin  die 
Erhebungen  über  die  Standesverhältnisse  der  Privatangestellten 
durchgeführt.  Auf  Grund  der  Resultate  dieser  Erhebungen  arbeitet 
dann  die  Regierung  einen  „Gesetzentwurf  betreffend  die  Pensions- 
versichcrung  der  in  privaten  Diensten  und  einiger  in  öffentlichen 
Diensten  Angestellten"  aus  und  übergab  ihn  am  21.  Mai  1901  dem 
österreichischen  Abgeordnetenhause  zur  verfassungsmäßigen  Be- 
handlung. 

1.  Die  Erhebungen  über  die  Standesverhältnisse. 

Es  scheint  nicht  angängig,  an  dieser  Stelle  die  überaus  wich- 
tigen Resultate  der  Erhebungen  über  die  Standesverhältnisse  der 
Privatangestelltcn  ausführlich  zu  behandeln.  Da  es  sich  jedoch  um 
das  einzige  bestehende  amtliche  Material  über  diesen  neuen  Stand 
handelt,  kann  die  Mitteilung  der  wichtigen  Resultate  hier  nicht  um- 
gangen werden. 

Die  Erhebungen  erstreckten  sich  nur  auf  Österreich,  nicht  auch 
auf  Ungarn.  Über  die  Zahl  der  in  Betracht  kommenden  Angestellten 
hat  die  k.  k.  statistische  Zentralkommission  Untersuchungen  veran- 
staltet und  sie  ist  dabei  zu  dem  Schlüsse  gekommen,  daß  als  obere 
Grenze  der  ev.  zu  versichernden  Personen  die  Zahl  200  000  zu  nennen 
sei.  Dabei  wird  jedoch  noch  hingewiesen  auf  die  große  Zahl  der 
in  öffentlichen  Diensten  nicht  fest  Angestellten;  nach  deren  Abzug 
glaubt  die  statistische  Zentralkommission  mit  der  Zahl  von  160000 
Privatangestellten s)  als  Angehörigen  privater  Betriebe  rechnen  zu 

>J  In  der  „Kundmachung  betreffend  statistische  r>hebungcn  über  die  Privat- 


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Wilhelm  Arens,  Die  staatliche  Pensionsversicherung  der  Privataugesteilten.     ^9 1 

sollen.  Von  diesen  haben  104491  Zählkarten  ausgefüllt;  4954 
wurden  aus  der  Berechnung  ausgeschieden,  weil  die  Aussteller  ent- 
weder keine  Privatangestellte  waren,  oder  die  Tätigkeit  eines  solchen 
nur  nebenamtlich  versehen  oder  endlich  ihre  Tätigkeit  noch  nicht 
unter  die  ins  Auge  gefaßten  Berufsgruppen  gerechnet  wurden. 
Speziell  die  Handlungsgehilfen  wurden  in  hohem  Grade  von  dieser 
Ausscheidung  betroffen.  Rund  2500  Fragekarten  von  Handlungs- 
angestellten wurden  nicht  berücksichtigt,  weil  die  Betreffenden  nach 
Ansicht  der  Regierung  nicht  „zu  dem  in  Handelsunternehmungen 
für  höhere  Dienstleistungen  Angestellten  gehören".  In  bezug  auf 
die  Abgrenzung  dieses  Berufsstands  besteht  denn  auch  heute  noch 
die  weitgehendste  Unklarheit.  In  dem  einen  Bezirk  scheint  man 
vor  allem  die  Ladenbediensteten  einfach  ausgeschieden  zu  haben, 
während  man  diese  offenbar  mit  in  die  Zählung  hineinbeziehen 
wollte.  Die  ausgeschiedenen  2500  Zählkarten  betrafen  anscheinend 
Personen,  die  in  Handelsunternehmungen  ohne  besondere  Vorbildung 
als  Hilfskräfte,  vor  allem  zu  Pack-  usw.  Dienstleistungen  aufgenommen 
werden  und  deren  Bestreben  es  naturgemäß  ist,  nach  und  nach  sich 
in  bessere  Stellungen  hineinzuarbeiten.  Im  allgemeinen  dürfte,  das 
geht  aus  den  Ausführungen  der  „Ergebnisse"  hinreichend  hervor, 
der  weitaus  größte  Teil  der  Handelsangestellten  in  die  Erhebung 
hineinbezogen  worden  sein. 


angestellten"  hieß  es  in  bezug  auf  den  Kreis  der  Privatangcstelltcn :  „Als  Privat- 
angestellte gelten  die  vorwiegend  für  höhere  Dienstleistungen  in  der  Regel 

mit  Jahres-  oder  Monatsgehalt  bcdicnstctcn  Personen  männlichen  oder  weiblichen 
Geschlechts,  demnach  insbesondere:  Betriebsbeamte,  Giiterbeamtc  (Wirtschafts-  und 
Forstbcamtc  usw.),  Ingenieure,  Werkführer,  Chemiker,  Mechaniker,  Faktoren,  Buch- 
halter, Kassierer,  Expedienten,  Korrespondenten,  Kontoristen  und  andere  in  Handcls- 
unternchmungen  für  höhere  Dienstleistungen  Angestellte,  Zeichner,  Apothekerprovi- 
soren, Lchrpersonen,  Konzipienten  (namentlich  auch  Advokaturs-  und  Notariats- 
kandidaten, Sollizitatoren,  Sekretäre  u.  dgl.).  Ausgeschlossen  von  diesen  statistischen 
Erhebungen  sind  daher  insbesondere  die  gewerblichen  Hilfsarbeiter  (Handelsgehilfcn, 
sofernc  sie  nicht  zu  den  in  Handelsunternehmen  für  höhere  Dienstleistungen  Ange- 
stellten gehören,  Gesellen,  Kellner,  Fabriksarbeiter,  Taglöhner,  Lehrlinge,  Prakti- 
kanten, Bureau-  und  Geschäftsdiener  und  ferner  alle  unter  die  Dienstboten-(Gesinde) 
Ordnungen  fallenden  Personen.    Hingegen  sind  in  diese  statistische  Erhebungen  ein- 

zubeziehen :  die  bei  den  Dienstgebern  in  Verwendung  stehenden,  in  bezug 

auf  ihre  Dienstesverrichtungen  den  oben  bezeichneten  Privatangestcllten  glcichzu- 
haltenden  Personen,  auch  wenn  sie  nur  im  Wochenlohne  stehen  oder  gegen  Tage- 
geld beschäftigt  werden  (Diurnisten)." 


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392 


Gesetzgebung. 


Naturgemäß  interessieren  aus  den  Ergebnissen  in  erster  Linie 
die  Ermittelungen  über  das  Gehalt.  Man  darf  sich  in  diesem 
Punkte  jedoch  nicht  durch  den  amtlichen  Charakter  der  Aufnahme 
in  zu  große  Sicherheit  wiegen  lassen;  einmal  ist  zu  beachten,  daß 
die  Fragebogen  unverschlossen  weiter  befördert  worden  sind,  was 
manchen  Angestellten  zu  Übertreibungen  veranlaßt  haben  wird  mit 
Rücksicht  auf  den  Mitangestellten,  der  leicht  von  der  Höhe  des 
Gehalts  Kenntnis  zu  nehmen  vermochte.  Auf  der  anderen  Seite  aber 
darf  nicht  übersehen  werden,  daß  der  Wunsch,  die  in  kleinen  Orten 
mit  der  Polizei  in  engster  Fühlung  lebende  Steuerbehörde  hinters 
Licht  zu  führen,  manchen  abgehalten  haben  mag,  sein  wahres  Ge- 
halt anzugeben.  Die  Zahlen  sind  also  mit  einer  gewissen  Vorsicht 
zu  betrachten.  Die  Erhebungen  haben  nun  ergeben,  daß  die  in  die 
Zählung  einbegriffenen  Privatangestellten  ein  jährliches  Durchschnitts- 
Einkommen  aus  ihrer  Tätigkeit  als  Angestellte  in  Höhe  von  891  Gulden 
bezogen.  Das  Durchschnittsgehalt  steigt  von  461  Gulden  mit 
20  Jahren  auf  664  Gulden  mit  25  Jahren,  auf  804  Gulden  mit 
30  Jahren,  928  mit  35  Jahren,  103 1  Gulden  mit  40  Jahren, 
1 105  Gulden  mit  45  Jahren,  1 150  Gulden  mit  50  Jahren  und  erreicht 
dann  mit  53  Jahren  den  Höchstbetrag  von  1 164  Gulden.  Mit  dem 
55.  Jahre  beginnt  es,  was  für  die  Versicherung  von  der  allerhöchsten 
Wichtigkeit  ist,  zu  fallen,  und  zwar  sinkt  es  auf  1 163  Gulden;  mit 
dem  60.  Lebensjahre  ist  es  bereits  auf  1 1 36  Gulden  zurückgegangen, 
mit  65  Jahren  beträgt  es  nur  noch  1050  Gulden,  mit  70  Jahren 
nur  noch  986  Gulden.  Das  höchste  Durchschnittsgehalt  erreichten 
die  höheren  administrativen  und  kommerziellen  Beamten  mit 
2062  Gulden,  dann  folgten  die  höheren  technischen  Beamten  mit 
1685  Gulden,  die  Schriftsteller  (Redakteure  usw.)  mit  1350  Gulden, 
während  die  höheren  landwirtschaftlichen  Beamten  nur  ein  Durch' 
schnittsgehalt  von  950  Gulden  erreichten.  An  letzter  Stelle  standen 
die  niederen  landwirtschaftlichen  Beamten  mit  einem  Durchschnitts- 
gehalt von  459  Gulden. 

Eine  zweite  sehr  wichtige  Seite  der  Erhebungen  ist  bereits 
oben  Gegenstand  einiger  Mitteilungen  gewesen :  die  Stellen- 
losigkeit.  Hinzuzufügen  ist  noch,  daß  die  Dauer  der  Stcllcn- 
losigkeit  und  ihr  Umfang  bei  den  verschiedenen  Berufen  und 
den  verschiedenen  Altersklassen  verschieden  ist.  Wie  mitgeteilt, 
entfallen  auf  jeden  Angestellten  durchschnittlich  jährlich  2,93 
stellungslose  Tage.  Dieser  Satz  stellt  sich  im  Alter  von  20—25 
und  von  25—30  Jahren  weit  höher,  nämlich  auf  3,99  bzw.  3,40. 


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Wilhelm  Arcns,  Die  staatliche  Pensionsversichcrung  der  Privatangcstelltcn.  30,3 

Von  da  an  bleibt  er  dauernd  hinter  dem  Durchschnitt  zurück, 
sinkt  aber  nur  in  der  Altersgruppe  von  40 — 45  Jahren  einiges 
unter  2  7*  Tag  pro  Jahr.  Am  besten  stehen  sich  in  bezug  auf  die 
Dauer  ihrer  Stellung  die  forstwirtschaftlichen  Beamten  und  die 
höheren  administrativen  und  kommerziellen  Angestellten.  Dafür 
ist  bei  den  forstwirtschaftlichen  Beamten  die  Dauer  jeder  Stellungs- 
losigkeit,  die  sich  im  Durchschnitt  bei  allen  Angestellten  auf  167,4 
Tage  stellt,  ganz  bedeutend  größer,  nämlich  238  Tage  bei  den 
niederen  und  330,3  Tage  bei  den  höheren  forstwirtschaftlichen  Be- 
amten. Der  Bericht  über  die  „Ergebnisse"  konstatiert  die  wichtige 
Tatsache,  daß  die  Dauer  der  Stellenlosigkeit  im  umgekehrten  Ver- 
hältnis steht  zu  der  Häufigkeit  der  Stellenlosigkeit. 

Den  Angaben  über  die  bestehenden  Versicherungsver-  / 
hältnisse  der  Angestellten  ist  ein  besonderer  Band  der  Ergebnisse 
gewidmet.  Es  ist  vor  allem  wichtig,  daß  nur  30,70  Proz.  aller  An- 
gestellten besondere  Versorgungsverhältnisse  eingegangen  sind. 
Rechnet  man  die  Angestellten  der  Privatbahnen  und  der  Schiff- 
fahrtsunternehmungen,  die  mit  Rücksicht  auf  ihr  hohes  Invaliditäts- 
risiko zu  einem  ganz  besonders  hohen  Prozentsatze  versichert  sind, 
ab,  dann  findet  man  gar,  daß  nur  25,05  Proz.  der  Angestellten  in 
irgend  einer  Form  versichert  sind.  Von  diesen  25,05  Proz.  ent- 
fallen nicht  weniger  als  1 1,35  Proz.  auf  Ansprüche  an  einen  Pensions- 
fonds bei  der  Unternehmung,  8,03  Proz.  auf  Ansprüche  an  den 
Dienstgeber  selbst,  2,30  Proz.  auf  solche  an  einen  beruflichen 
Pensionsverein,  1,04  Proz.  an  eine  private  Versicherungsgesellschaft 
und  1,47  Proz.  auf  Sparfonds.  Die  Regierung  fügt  diesen  Er- 
mittelungen bei,  „daß  außer  der  Unzulänglichkeit  der  bestehenden 
Versorgung  hinsichtlich  der  Zahl  der  versorgten  Personen  in  Einzel- 
fällen auch  eine  Mangelhaftigkeit  in  dem  Ausmaße  und  der  Fun- 
dierung der  Ansprüche  nicht  zu  verkennen  ist". 

2.  Die  gesetzgeberischen  Versuche  in  Österreich. 

1.  Der  ursprüngliche  Regierungsentwurf,  der  am 
21.  Mai  1901  dem  Abgeordnetenhause  zuging,  ließ  an  den  ver- 
schiedensten Stellen  einen  recht  weitgehenden  Einfluß  des  deutschen 
Alters-  und  Invaliditätsversicherungsgesetzes  erkennen,  sowohl  was 
die  Organisation  der  Versicherung,  insbesondere  die  Beitragsverteilung 
und  Rentenfestsetzung,  als  auch  die  Organisation  des  Versicherungs- 
betriebes angeht. 


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394 


Gesetzgebung. 


a)  Umfang  der  Versicherungspflicht. 

Nach  dem  §  i  des  Entwurfs  sollen  versicherungspflichtig  sein, 
vom  vollendeten  18.  Lebensjahre  angefangen,  „alle  in  privaten 
Diensten  gegen  Monats-  oder  Jahresgehalt  Angestellten,  sofern  deren 
Bezüge  (in  bar  oder  Naturalbezügen)  bei  einem  und  demselben 
Dienstgeber  mindestens  600  Kronen  jährlich  erreichen".  Ausge- 
nommen sein  sollten  jedoch  Männer  und  Frauen,  welche  erst  nach 
Vollendung  des  50.  bezw.  40.  Lebensjahres  eine  die  Versicherungs- 
pflicht begründende  Anstellung  erhielten,  ferner  jene  Personen,  welche 
ausschließlich  oder  vorwiegend  Gesindedienste  verrichteten.  Endlich 
hieß  es  da :  „Ein  monatlich  gezahlter  Tageslohn  ist  nicht  als  Monats- 
gehalt im  Sinne  des  ersten  Absatzes  dieses  Paragraphen  anzu- 
sehen." 

Diese  letztere  Bestimmung  in  Verbindung  mit  dem  gesamten 
Inhalt  des  1.  Paragraphen  gab  den  Gegnern  der  Versicherung  will- 
kommenen Anlaß  zu  scharfer  Kritik;  sie  bot  nämlich  Prinzipalen, 
die  sich  an  den  Lasten  der  Versicherung  vorbeidrücken  wollten, 
dazu  eine  gute  Gelegenheit:  da  nur  Angestellte  mit  Monats-  oder 
Jahresgehalt  versicherungspflichtig  sein  sollten,  hätte  eine  einfache 
Klausel  im  Vertrage,  daß  das  Monatsgehalt  ein  monatlich  gezahlter 
Tagelohn  sei,  von  der  Versicherungspflicht  befreit.  Auch  die  Ein- 
führung von  wöchentlicher  Gehaltszahlung  hätte  dieselbe  Wirkung 
gehabt.  Besonders  von  den  Sozialisten,  die  in  Österreich  bekannt- 
lich einen  großen  Teil  der  Handlungsgehilfen  hinter  sich  haben, 
wurde  dieser  Fehlgriff  in  der  Abgrenzung  der  Versicherten  in 
weitestem  Umfange  benutzt,  um  die  Bestrebungen  der  Regierung 
bei  den  Angestellten  zu  diskreditieren ;  jene  Kreise  wünschten  die 
Regierung  zum  Erlaß  eines  auch  die  Arbeiter  umfassenden  Ge- 
setzes zu  veranlassen,  was  jedoch  von  der  Führung  der  Privat  - 
angestcllten,  insbesondere  von  der  ausschlaggebenden  Privatbeamten- 
gruppc  des  allgemeinen  österreichischen  Beamtenvereins,  abge- 
lehnt wurde  mit  Rückssicht  auf  die  daraus  zu  erwartende  weitere 
Verschleppung  der  Entscheidung. 

b)  Einteilung  der  Versicherungspflichtigen. 

Ganz  nach  deutschem  Vorbild  teilte  die  Regierung  die  An- 
gestellten behufs  Veranlagung  für  die  Versicherung  nach  dem  Ge- 
halt in  Klassen  ein.  Es  wurden  als  Gehalt  angesehen  alle  Bezüge 
in  bar,  ferner  Dienstwohnungen  mit  und  ohne  Heizung  und  Licht, 
ferner  mit  Beköstigung;  eine  Wohnung  sollte  mit  15  Proz.  des  Ge- 


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Wilhelm  Arcns,  Die  staatliche  l'ensionsvcrsicberung  der  I'rivatangestcllten.  395 


halts,  eine  Wohnung  mit  Beköstigung  mit  33  *ja  Proz.  des  Gehalts 
in  Anrechnung  gebracht  werden.  Die  1.  Klasse  bildeten  die  An- 
gestellten mit  einem  Jahresgehalt  bis  zu  1 200  Kronen ;  die  2.  Klasse 
jene  mit  einem  Jahresgehalt  vom  1200 — 2400  Kronen  und  die  3. 
Klasse  endlich  jene  mit  mehr  als  2400  Kronen  Gehalt. 

Gegen  diese  Einteilung  wurde  vor  allem  aus  den  Kreisen  der 
zu  Versichernden  heraus  geltend  gemacht,  daß  sie  auf  die  Ver- 
schiedenheit in  den  wirtschaftlichen  Verhältnissen  der  Angestellten 
nicht  in  ausreichendem  Maße  Rücksicht  nehme;  man  verlangte 
eine  Vermehrung  dieser  Klassen. 

e)  Gegenstand  der  Versicherung. 

Die  Versicherung  sollte  sich  erstrecken  auf  eine  Rente  für  den 
Fall  der  Erwerbsunfähigkeit  (Invalidenrente),  eine  Altersrente,  eine 
Stellenlosenunterstützung,  eine  Witwenrente  und  Erziehungsbeiträge 
für  verwaiste  Kinder.  Für  die  Invalidenrente,  die  Stellenlosenunter- 
stützung, das  Waisengeld  und  die  Erziehungsbeiträge  war  eine  Warte- 
zeit von  5  Jahren,  für  die  Altersrente  eine  solche  von  40  Jahren 
bei  Männern  und  35  Jahren  bei  Frauen  vorgesehen. 

d)  Leistung  und  Gegenleistung. 

Der  Entwurf  sah  für  die  drei  verschiedenen  Gehaltsklassen 
folgende  Renten  und  regelmäßige  Beiträge  vor. 

I.  Klasse     2.  Klasse      3.  Klasse 

Invalidenrente   600  Kr.  900  Kr.  1200  Kr. 

Altersrente   900  „  1350  „  1800  „ 

Witwenrente   300  „  450  „  600  „ 

Monatsbeitrag  des  Prinzipals  .  4,50  „  6,75  „  9,00  „ 

„   Angestellten  3,00  „  6,00  9,00  „ 

Die  Stellenlosenunterstützung  war  genau  so  hoch  wie  die 
Invalidenrente.  Sie  sollte  nur  auf  höchstens  12  Monate  gezahlt 
werden  und  begann  erst  nach  dreimonatiger  Stellenlosigkeit.  Die 
Erziehungsbeiträge  für  verwaiste  Kinder  sollten  10  Proz.,  für  Voll- 
waisen 20  Proz.  des  jeweils  bestehenden  Anspruchs  auf  Invaliden- 
rente ausmachen.  Für  Witwen  war  für  den  Fall  der  Wiederver- 
heiratung eine  Abfindung  im  dreifachen  Jahresbetrage  der  Witwen- 
rente vorgesehen. 

Die  oben  mitgeteilten  Prämiensätze  waren  nun  nicht  die  einzigen 
Anforderungen,  die  die  Versicherung  an  Dienstgeber  und  Ange- 


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396 


Gesetzgebung. 


stellten  stellte.  Sie  sollten  zur  Deckung  der  Alters-  und  Witwen- 
rente dienen.  Im  Falle  einer  Invalidität  sollte  die  Prämienreserve 
für  die  Altersrente  zur  Bildung  einer  Leibrente  für  den  Betroffenen 
verwandt  werden;  der  Rest  der  Invalidenrente,  ferner  die  Anforde- 
rungen der  Stellenlosenunterstützung,  der  Erziehungsbeiträge  und 
etwaiger  Abfertigungen  sollten  durch  eine  Umlage  auf  die  Dienstgeber 
aufgebracht  werden,  sofern  die  Gebarungsüberschüsse  der  Anstalt 
diese  Anforderungen  nicht  schon  deckten. 

Unter  den  Prinzipalen  bestand  eine  sehr  starke  Gegnerschaft 
gegen  die  Pensionsversicherungsbestrebungen  der  Privatangestellten; 
diese  Gegnerschaft  setzte  begreiflicherweise  besonders  bei  der  Um- 
lage ein.  Man  verlangte  deren  Beseitigung  und  Schaffung  fester 
von  vornherein  zu  übersehenden  Prämien,  oder,  wenn  dies  nicht 
zu  erreichen  war  —  Ausdehnung  der  Umlage  auch  auf  die  An- 
gestellten. 

e)  Die  Organisation  des  Versichcrungsbetriebes. 

Zur  Durchführung  der  Versicherung  sollte  in  Wien  eine  Pensions- 
anstalt gebildet  werden,  deren  Mitglieder  die  Angestellten  und  deren 
Dienstgeber  sein  sollten.  Die  Leitung  dieser  Anstalt  oblag  dem 
Vorstande  und  der  Generalversammlung.  Der  Vorstand  wurde  von 
der  Generalversammlung  gewählt.  Nur  der  erste  Vorsitzende  sollte 
von  der  Regierung  aus  dem  Kreise  der  rechtskundigen  Personen 
ernannt  werden.  Die  Generalversammlung  ging  aus  der  Wahl  der 
Dienstgeber  und  der  Angestellten  hervor.  Zur  Unterstützung  der 
Anstalt  wurden  lokale  Verbände  der  Versicherten  gebildet,  die  un- 
gefähr dieselben  Aufgaben  erfüllen  sollten,  die  in  Deutschland  bei 
der  Invalidenversicherung  der  Polizei  obliegen:  Führung  des  Katasters, 
Prüfung  der  Ansprüche  usw.;  dann  aber  auch  die  Entgegennahme 
der  Beiträge  und  Auszahlung  der  Renten. 

Neben  dieser  offiziellen  Pensionsanstalt  waren  —  nach  Ana- 
logie des  §  75  des  deutschen  Krankenversicherungsgesetzes  —  alle 
Privatversicherungsunternehmungen  zugelassen,  sofern  sie  bei  gleichen 
Prämien  mindestens  gleiches  boten.  Eine  solche  Bestimmung  er- 
schien notwendig  mit  Rücksicht  auf  jene  Angestellten,  die  bereits 
heute  bei  einem  Privatinstitut  versichert  waren.  Die  Zulassung  auch 
für  die  Zukunft  bedeutete  bei  der  langen  Dauer  einer  solchen  Ver- 
sicherung ein  großes  Entgegenkommen  gegenüber  den  privaten  Ver- 
sicherungsanstalten, hat  jedoch  keine  Kritik  gefunden. 


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Wilhelm  Arcns,  Die  staatliche  Pensionsversicherung  der  Privatangestclltcn.  ^gy 


f]  Der  Entwurf  des  Referenten  Dr.  Fort. 

Der  Entwurf  der  Regierung  blieb  nach  dem  Eingang  beim  Ab- 
geordnetenhause über  ein  Jahr  lang  unbeachtet  liegen.  Erst  Anfang 
1903  beauftragte  das  Haus  auf  Betreiben  der  Interessenten  den 
sozialpolitischen  Ausschuß,  die  Angelegenheit  weiter  zu  verfolgen. 
In  welchem  Grade  die  ganze  Vorlage  bereits  gefährdet  war,  zeigte 
sich  im  Ausschuß  bei  der  ersten  Abstimmung.  Die  Gegner, 
nämlich  die  nach  einer  allgemeinen  Versicherung  verlangenden 
Sozialdemokraten  und  die  Vertreter  jenes  Teiles  der  Dienstgeber, 
der  die  Heranziehung  der  Prinzipale  zu  den  I.asten  der  Invaliditäts- 
und Altersversorgung  nicht  wünschte,  beantragten  die  Einsetzung 
einer  Sonderkommission,  die  sog.  Begräbniskommission,  die  Freunde 
die  Überweisung  des  Materials  an  einen  Referenten.  Es  kam  zu 
einer  Abstimmung,  bei  der  der  Prager  Handelskammersekretär 
Dr.  Fort,  ein  Freund  der  Versicherungsbestrebungen,  mit  16  gegen 
12  Stimmen  zum  Referenten  bestellt  wurde. 

Dr.  Fort  suchte  den  Wünschen  der  Beteiligten  nach  Möglich- 
keit gerecht  zu  werden.  Die  Angestellten  verlangten  eine  genauere 
Abgrenzung  des  Kreises  der  Versicherten,  ferner  eine  bessere  Berück- 
sichtigung der  Mannigfaltigkeit  in  den  Einkommensverhältnissen; 
die  Prinzipale  wünschten  die  Umlage  beseitigt  oder  auf  die  An- 
gestellten ausgedehnt  zu  sehen.  Dr.  Forts  Abgrenzung  des  Kreises 
der  zu  Versichernden  war  wesentlich  besser  wie  die  des  ursprüng- 
lichen Regierungsentwurfs;  er  versuchte  zu  einer  Definition  zu 
kommen  durch  Ausscheidung  aller  „unmittelbar  bei  der  Waren- 
erzeugung beschäftigten  Personen",  ein  Gedanke,  der  zwar  allein 
nicht  genügte,  der  aber  einen  beachtenswerten  Gesichtspunkt  in 
die  Debatte  brachte.  Die  größere  Berücksichtigung  der  Ver- 
schiedenheit in  den  Einkommensverhältnissen  suchte  Dr.  Fort  zu 
erreichen  durch  eine  andere,  seinen  Entwurf  besonders  charak- 
terisierende Berechnung  der  Renten  und  Prämien ;  er  beseitigte  die 
Klasseneinteilung  und  berechnete  die  Prämien  und  Renten  in  Pro- 
zenten des  Gehalts.  Er  setzte  die  Wartezeit  auf  10  Jahre  hinauf 
und  ließ  die  Versicherungspflicht  mit  dem  21.  Lebensjahre  beginnen. 
Von  da  an  sollten  von  dem  Gehalt  eines  jeden  Angestellten 
131 2  an  die  Versicherung  abzuliefern  sein:  41 .,  Proz.  sollte 

der  Angestellte  und  9  Proz.  der  Prinzipal  zahlen.  Dazu  war  für 
den  Angestellten  eine  weitere  Belastung  in  Höhe  von  Vi  2  des 
ersten  Jahresbetrages  jeder  Gehaltserhöhung  in  Aussicht  genommen. 


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39* 


Gesetzgebung. 


Diejenigen  Lasten  der  Versicherung,  die  durch  diese  Einzahlungen 
nicht  gedeckt  wurden,  sollten  durch  eine  Umlage  auf  die  Prinzipale, 
und  sobald  diese  die  Höhe  der  regelmäßigen  Prämien  erreicht 
haben  würde,  durch  eine  Umlage  auf  Prinzipal  und  Angestellten 
gedeckt  werden.  Bei  der  Rentenfestsetzung  lehnte  sich  Dr.  Fort 
eng  an  die  deutschen  Beamtenpensionsgesetze  an.  Er  bestimmte, 
daß  nach  10 jähriger  Dienstzeit,  gerechnet  vom  21.  Lebensjahre, 
ein  Anspruch  auf  Rente  für  den  Fall  der  Invalidität  in  Hohe  von 
40  Proz.  des  Gehalts  erreicht  werden  sollte.  Den  jährlichen 
Steigerungssatz  bemaß  er  auf  1  Proz.,  so  daß  ein  Angestellter  im 
Alter  von  55  Jahren  —  sofern  er  bereits  mit  21  Jahren  in  einer 
versicherungspflichtigen  Stellung  stand  —  einen  Pensionsanspruch  in 
Höhe  von  65  Proz.  seines  Gehalts  erreicht  haben  würde.  Bei  der 
Festsetzung  der  Altersrente  nahm  Dr.  Fort  Rücksicht  auf  die  bei 
den  Erhebungen  von  1896  ermittelte  Tatsache,  daß  vom  55.  Lebens- 
jahre ab  das  Durchschnittsgehalt  der  Privatangestellten  fallt;  er 
bestimmte,  daß  jeder  Angestellte  nach  35  Dienstjahren  berechtigt 
sein  sollte,  die  ihm  in  der  Regel  alsdann  als  Invalidenpension  zu- 
stehenden 65  Proz.  des  Gehalts  als  Altersrente  in  Anspruch  zu 
nehmen.  Jene,  die  weiterzuarbeiten  vermochten,  sollten  von  da  an 
mit  jedem  Jahre  eine  Steigerung  ihres  Pensionsanspruchs  von  7  Proz. 
erzielen,  so  daß  sie  mit  40  Dienstjahren  einen  Anspruch  auf  eine 
Altersrente  in  Höhe  des  vollen  Gehalts  erreicht  haben  würden. 
Die  Witwenrente  sollte  die  Hälfte  des  Anspruchs  auf  Invaliditäts- 
bzw. Altersrente,  das  Waisengeld  10  Proz.  bzw.  bei  Vollwaisen 
20  Proz.  dieses  Rentenanspruchs  betragen.  Die  Stellenlosenunter- 
stützung  ließ  Dr.  Fort  fallen. 

g)  Der  Einigungsentwurf  der  Regierung  und  des  Ausschusses. 

Nachdem  der  Entwurf  des  Referenten  Dr.  Fort  dem  Ausschuß 
vorgelegt  worden  war,  trat  die  Regierung  mit  diesem  in  Ver- 
handlungen über  die  definitive  Gestaltung  der  Vorlage  für  das 
Plenum  des  Hauses  ein.  Sie  hielt  jedoch  fest  an  den  Grundlagen 
ihres  ersten  Entwurfs  unter  Ablehnung  der  ihrer  Ansicht  nach  zu  weit- 
gehenden Fortschen  Vorschläge.  Aus  den  gemeinsamen  Beratungen 
im  Frühjahr  1903  ist  ein  fertiger  Entwurf  nicht  hervorgegangen, 
da  im  Augenblicke  der  unerwarteten  Vertagung  des  Abgeordneten- 
hauses nur  die  ersten  30  Paragraphen  fertiggestellt  waren.  Es  läßt 
sich  jedoch  schon  aus  diesen  ersehen,  wie  die  zukünftige  Vorlage 
aussehen  wird;  denn  in  den  ersten  30  Paragraphen  sind  so  gut 


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Wilhelm  Arcns,  Die  staatliche  Pensionsversicherung  der  Privatangestellten. 


wie  sämtliche  wichtige  Bestimmungen  enthalten.  Alle  im  Laufe 
der  2  Jahre  seit  der  Einbringung  des  Gesetzentwurfes  laut  ge- 
wordenen Wünsche  wurden  soweit  wie  möglich  berücksichtigt. 
In  bezug  auf  die  genauere  Abgrenzung  des  Kreises  der  Versicherten 
kam  die  Regierung  nach  Möglichkeit  den  Interessenten  entgegen; 
vor  allem  wurde  ausdrücklich  die  Versicherungspflicht  des  kauf- 
männischen Hilfspersonals  konstatiert.  Die  größere  Berücksichtigung 
der  Verschiedenheit  in  den  Einkommensverhältnissen  erreichte  die 
Regierung  durch  die  Verdoppelung  der  Zahl  der  Gehaltsklassen. 
Die  Höhe  der  in  Aussicht  genommenen  Renten  in  den  einzelnen 
Klassen  lässt  sich  aus  folgender  Zusammenstellung  ersehen: 

Gehalt  Altersrente    Invalidenrente  Witwenrente 


l.  Klasse 

—900  Kr. 

675  Kr. 

450  Kr. 

225  Kr. 

OOO— I2CO  ,, 

900  „ 

600  „ 

300 

3-  .. 

1200 — 1800  ,, 

1125  „ 

75° 

375 

I 800 — 2400  „ 

I350  „ 

900  „ 

45o  .. 

5-  » 

2400 — 3000  „ 

1575  .» 

1150  „ 

525  » 

6.  „ 

über  3000  „ 

1800  „ 

1200  „ 

600  „ 

In  bezug  auf  das  Waisengeld  blieb  es  bei  10  bzw.  20  Proz.  der 
Invalidenrente;  die  Stellenlosenversicherung  blieb  fort. 

Die  Anforderungen  der  Versicherung  an  die  Versicherten  und 
ihre  Dienstgeber  haben  im  Ausschuß  noch  nicht  einer  Beschluß- 
fassung unterlegen;  doch  war  man  sich  bei  der  Festsetzung  der 
mitgeteilten  Rentensätze  darüber  einig,  daß  zu  erheben  sein  würden 
pro  Monat 

I.Klasse    2.  Klasse    3.  Klasse    4.  Klasse    5.  Klasse    6.  Klasse 


Kr. 

Kr. 

Kr. 

Kr. 

Kr. 

Kr. 

vom  Dienstherrn 

4.25 

5,40 

6,55 

7,70 

8,85 

IO,~ 

vom  Angestellten 

2,50 

4  — 

5.5o 

7- 

8,50 

10,— 

zusammen 

6,75 

9,40 

12,05 

14,70 

17,35 

20,- 

Zur  Verabschiedung  ist  die  Materie  im  österreichischen  Ab- 
geordnetenhause bis  zum  Schlüsse  des  Jahres  1903  noch  nicht 
gelangt 


IV.  Das  Ziel  der  Bestrebungen  in  Deutschland  seit  dem 
österreichischen  Entwurf. 

Im  Deutschen  Reiche  haben  die  Bestrebungen  seit  dem  Be- 
kanntwerden   des    österreichischen    Gesetzentwurfes  bestimmtere 


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400 


Gesetzgebung. 


Formen  und  vor  allem  eine  höhere  Energie  angenommen.  Doch 
steht  heute  unter  den  deutschen  Privatangestellten  noch  nicht 
genau  fest,  welches  Ziel  man  erstrebt.  Die  einen  verlangen  nach 
österreichischem  Muster  eine  nur  unter  Staatsaufsicht  stehende,  von 
den  Privatangestellten  selbst  verwaltete  Versicherungsanstalt,  die 
anderen  wünschen  Institutionen  von  der  Art  unserer  Versicherungs- 
anstalten für  die  Ausführung  des  Invalidenversicherungsgesetzes, 
eine  dritte  Richtung  verlangt  lediglich  die  Schaffung  eines  staat- 
lichen Zwanges  für  die  Angestellten  zum  Abschluß  einer  be- 
stimmten Ansprüchen  genügenden  Versicherung,  eine  vierte  glaubt 
in  einem  Ausbau  des  bestehenden  Invalidenversicherungsgesetzes 
den  gangbarsten  Weg  zu  dem  erstrebten  Ziele  zu  erblicken,  und 
endlich  fordern  wieder  andere  die  Schaffung  besonderer  Kassen- 
einrichtungen für  die  Privatangestellten  auf  Grund  der  §§  8  — u  des 
Invalidenversicherungsgesetzes. 

1.  Die  Schaffung  einer  besonderen  Anstalt  für  die  Pensions- 
versicherung der  Privatangestellten  unter  eigener  Verwaltung  der 
Versicherten  und  ihrer  Dienstgeber  für  das  Unfallversicherungsgesetz 
wäre  vielleicht  das  Ideal,  man  ist  aber  bei  einem  sehr  großen  Teile 
der  Privatangestcllten  der  Ansicht,  daß  die  Regierung  sich  niemals 
zur  Schaffung  einer  Versicherung  herbeilassen  würde,  bei  dem  sie 
nur  Pflichten,  aber  fast  gar  keine  Rechte  haben  würde. 

2.  Dahingegen  würde  eine  Versicherungsanstalt  nach  dem 
Muster  der  bestehenden  Invaliden  Versicherungsanstalten  zweifellos 
von  der  Regierung  als  geeignet  angesehen  werden,  um  so  mehr,  als 
eine  solche  Anstalt  für  die  Privatangestellten  wegen  der  höheren 
Beiträge,  der  selteneren,  nur  monatlichen  Beitragsleistungen,  der  nie- 
drigeren Zahl  von  Versicherten  noch  wesentlich  billiger  arbeiten 
würde,  wie  die  heute  bestehenden  Invalidenversicherungsanstalten 
in  den  verschiedenen  Provinzen  und  Landesteilen. 

3.  Der  Vorschlag,  der  Staat  möge  einfach  durch  Gesetz  jeden 
Angestellten  verpflichten,  eine  seinem  Einkommen  entsprechende 
Versicherung  abzuschließen,  wobei  dann  die  Beitragspflicht  des  Prin- 
zipals, ferner  die  Beitragszahlung  oder  besser  gesagt  Beitragsstundung 
während  der  Zeit  der  Stellenlosigkeit  gesetzlich  zu  regeln  wäre, 
geht  von  dem  Abg.  Sittart  aus  und  stammt  vermutlich  aus  dem 
Reichsamt  des  Innern.  Er  erinnert  sehr  lebhaft  an  das  französische 
Unfallversichcrungsgesctz  und  hat  auf  den  ersten  Blick  mit  Rück- 
sicht auf  die  große  Zahl  schon  jetzt  bestehender  Versicherungsver- 
hältnisse etwas  bestechendes.    Seine  offen  am  Tage  liegenden  sehr 


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Wilhelm  Arens,  Die  staatliche  Pensionsversicherung  der  Privatangestellten.    40 1 

großen  Nachteile  aber  dürfen  nicht  unbeachtet  bleiben ;  es  ist  zudem 
sehr  leicht,  die  bestehenden  Versicherungsverträge  ohne  über- 
mäßige Belastung  der  Versicherten  aufrecht  zu  erhalten,  wenn  man 
an  den  im  §  75  des  Krankenversicherungsgesetzes  eingeschlagenen 
Ausweg  denkt.  Darüber  sind  sich  alle  Angestellten  einig,  daß  die 
freien  Hilfskassen  auch  bei  der  Pensionsversicherung  bestehen  bleiben 
sollen;  man  weiß  nur  nicht,  ob  man  den  Beitritt  auch  später  nach 
dem  Inkrafttreten  der  Versicherung  zulassen  oder  nur  die  beim  In- 
krafttreten des  Gesetzes  bestehenden  Versicherungsverträge  als  voll- 
gültigen Ersatz  ansehen  soll.  Die  unbestreitbar  großen  Schäden,  die 
die  freien  Hilfskassen  wegen  der  Entziehung  der  gesunderen  Ele- 
mente aus  den  Zwangskassen  und  wegen  der  Gewohnheit  mancher 
Unternehmer,  nur  Mitglieder  von  freien  Hilfskassen,  die  also  die 
ganzen  Krankenkassenbeiträge  selbst  bezahlen,  zu  beschäftigen,  für 
die  Mitglieder  der  Orts-  usw.  Krankenkassen  mit  sich  bringen, 
haben  den  Gegnern  solcher  Ersatzinstitutc  manche  Mitkämpfer  zu- 
geführt. 

4.  Der  Gedanke,  einfach  das  bestehende  Invalidenversicherungs- 
gesetz auszubauen  in  der  Art,  wie  es  Herr  Seelmann  für  die  Hand- 
werker vorschlägt,  hat  in  der  letzten  Zeit  fast  allen  Boden  verloren. 
Die  Privatbeamten  wollen  nicht  mit  den  Arbeitern  gleichmäßig  be- 
handelt werden,  zum  Teil,  weil  sie  eine  andere  gesellschaftliche 
Geltung  beanspruchen,  dann  aber  —  und  das  ist  der  ernstlich  in 
Betracht  zu  ziehende  Grund  —  weil  sie  einem  weit  geringeren  In- 
validitätsrisiko unterworfen  sind.  Den  Ausschlag  gegen  diese  Be- 
strebungen hat  schließlich  der  Umstand  gegeben,  daß  an  eine  Ver- 
wirklichung dieser  Bestrebungen  vor  der  nächsten  Revision  des 
bestehenden  Invalidenversicherungsgesctzes,  die  vor  1910  nicht  in 
Angriff  genommen  werden  dürfte,  nicht  zu  denken  sein  würde. 

5.  In  gewissem  Grade  spricht  dieses  Bedenken  allerdings  auch 
gegen  den  letzten  Vorschlag:  die  Schaffung  besonderer  Kassen  auf 
Grund  der  §§  8 — 1 1  des  bestehenden  Invalidcnversichcrungsgesetzes. 
Die  genannten  Paragraphen  handeln  von  den  Knappschafts-,  Eisen- 
bahnwerkstätten- und  sonstigen  Kassen,  die  bereits  früher  eine  In- 
validenversorgung zu  ihrer  Aufgabe  gemacht  hatten  und  besonders 
geeignet  erschienen,  selbst  die  Ausführung  des  Gesetzes  zu  be- 
wirken. Da  die  Bestimmungen  des  Invalidcnversicherungsgesetzes 
betr.  die  Seeberufsgenossenschaft  die  Einrichtungen  einer  VVitwen- 
und  Waisenversorgung  vorsehen,  glauben  die  Vertreter  dieser  letzten 
Richtung  unter  den  Privatangestellten,   am  leichtesten  zu  einer 

Archir  für  Snzialviritten'ichaft  u.  Sozialpolitik.  I.    (A.  f.  sox.  G.  u.  St.  XIX.)  2.  26 


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402 


Gesetzgebung. 


Pensions-  und  Hinterbliebenenversorgung  gelangen  zu  können,  wenn 
durch  Gesetz  eine  besondere  Privatbeamtenkasse  gebildet  und  durch 
Bundesratsbeschluß  den  Wirkungen  der  §§  8 — II  des  Invaliden- 
versicherungsgesetzes unterworfen  würde.  Es  kann  nicht  verschwiegen 
werden,  daß  vom  gesetzgeberischen  Standpunkt  aus  sehr  erhebliche 
Bedenken  gegen  ein  solches  Verfahren  sprechen,  da  der  Gesetzgeber 
beim  Erlaß  des  Invalidenversicherungsgesetzes  an  eine  solche  Aus- 
dehnung auf  einem  ganzen  Berufsstand  nicht  gedacht  hat,  auch  die 
Witwen-  und  Waisenversicherung  bisher  nur  für  die  Seeberufs- 
genossenschaft zulässig  ist.  Die  Überführung  der  heute  bereits  nach 
dem  Invalidenversicherungsgesetze  versicherten  Privatangestellten  in 
die  neue  Versicherung  würde  sich  auf  diesem  Wege  allerdings  am 
leichtesten  vollziehen;  auch  würde  den  Versicherten  der  Reichs- 
zuschuß von  50  Mk.  pro  Jahr  zu  den  meisten  Renten  gewahrt 
werden. 

•   •  • 

Im  allgemeinen  hat  die  Frage,  in  welcher  Form  die  Wünsche 
der  Privatbeamten  und  Angestellten  erfüllt  werden,  keine  sehr  große 
Bedeutung.  Hauptsache  ist  für  die  große  Masse,  daß  überhaupt 
eine  Versicherung  kommt.  Allgemein  erkennt  man  an,  daß  ein 
gesetzgeberischer  Versuch  auf  diesem  bisher  gänzlich  unbeackerten 
Gebiete  seine  bedeutenden  Schwierigkeiten  hat;  man  verläßt  sich 
auf  den  guten  Willen  und  die  Erfahrungen  der  Regierung  und  wird 
ihre  zu  erwartenden  Vorlagen  unter  keinen  Umständen  einer  solchen 
Kritik  unterwerfen,  wie  sie  in  Österreich  zur  Anwendung  gebracht 
worden  ist.  So  darf  erwartet  werden,  daß  die  Bestrebungen  der 
Privatangestellten  in  Deutschland  leichter  und  in  kürzerer  Zeit  zu 
einem  Resultate  führen  werden  wie  in  Österreich. 


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403 


MISZELLEN. 

Die  Arbeiterfrage  in  Südafrika. 

Von 

HENRY  W.  MACROSTY,  B.  A. 

London. 

In  einer  Rede  in  Birmingham  am  1 2.  Januar  1904  erklärte  Chamberlain, 
der  südafrikanische  Krieg  sei  ein  Kampf  zwischen  einer  fortgeschrittenen 
und  einer  minderwertigen  Zivilisation.  Viele  ehrliche  Imperialisten,  die 
diesen  Krieg  aus  einem  strengen  Pflichtgefühl  heraus  gut  hießen,  und 
opferwillig  seine  Beschwerden  ertrugen,  fragen  sich  jetzt,  ob  der  Vor- 
schlag, im  Namen  einer  „fortgeschrittenen  Zivilisation"  einen  neuen 
Sklavenstaat  in  Transvaal  zu  errichten,  nicht  alle  die  humanen  Beteue- 
rungen, mit  denen  der  Krieg  begonnen  wurde,  Lügen  strafe,  und  alle 
Hoffnungen  auf  ein  weißes  Südafrika  zunichte  mache. 

Am  6.  Januar  1904  wurde  in  Prätoria  ein  Erlaß  veröffentlicht,  der 
die  Einwanderung  ungelernter  nichteuropäischer  Arbeiter  regeln  sollte 
(ausgenommen  afrikanische  Eingeborene  von  Orten  südlich  des  1 2.  nörd- 
lichen Breitegrads),  tatsächlich  befaßt  er  sich  mit  der  Importierung 
chinesischer  Arbeiter.  Sowohl  in  den  Vereinigten  Staaten  als  in  Austra- 
lien hat  es  sich  unmöglich  erwiesen  die  Typen  zweier  so  verschiedener 
Kulturen  wie  die  europäische  und  chinesische  nebeneinander  gesund  zu 
erhalten.  In  vielen  Beziehungen  ist  die  soziale  Moral  des  Chinesen  für 
den  Weißen  abstoßend  und  die  chinesischen  Viertel  in  Städten  wie 
San  Franzisco  werden  zu  Herden  moralischer  Infektion.  Die  größere 
Bedürfnislosigkeit  und  der  niedrigere  „Standard  of  life"  des  Chinesen 
machen  ihn  zu  einem  gefährlichen  Konkurrenten  und  wo  auch  immer 
man  ihm  erlaubt  sich  niederzulassen,  da  nimmt  er  alle  Arten  der  unge- 
lernten Arbeit  für  sich  in  Anspruch.  Wo,  wie  in  Australien,  komplizierte 
Arbeiterschutzgesetze  existieren,  hat  es  sich  als  unmöglich  erwiesen,  die- 
selben gegenüber  den  Chinesen  durchzuführen,  die  so  in  der  Lage  sind, 
ihre  weißen  Konkurrenten  zu  verdrängen.    Aus  all  diesen  Gründen  er- 

26* 


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404 


Miszellcn. 


kennen  sowohl  die  südafrikanischen  Minenbesitzer  als  auch  die  Transvaal- 
regierung an,  daß  eine  unbeschränkte  Einwanderung  der  Chinesen 
völlig  außer  Frage  steht. 

Die  oben  erwähnte  Verordnung,  welche  von  der  gesetzgebenden 
Körperschaft  noch  nicht  bestätigt  ist,  und  die  in  letzter  Linie  auch  der 
Zustimmung  der  englischen  Regierung  bedarf  *,  schreibt  vor,  daß  derartige 
Arbeiter  nur  zum  Zwecke  der  Verwendung  in  den  Goldminen  des  Wit- 
watersrand  eingeführt  werden  dürfen.  Nur  autorisierte  Agenten,  welche 
eine  Lizenzabgabe  von  2000  Mk.  (100^)  zahlen  müssen,  sollen  die 
Erlaubnis  erhalten,  Arbeiter,  welche  sich  kontraktlich  auf  3  oder  5  Jahre 
verpflichten,  zu  importieren;  bei  Ablauf  des  Kontraktes  muß  entweder 
ein  neuer  geschlossen  oder  der  betreffende  Arbeiter  in  seine  Heimat 
zurückgeschickt  werden.  Die  gesetzliche  Strafe  für  unerlaubte  Einführung 
fremder  Arbeiter  beträgt  100  £  und  die  Kosten  der  Heimsendung.  Ein 
so  importierter  Arbeiter  darf  sich  nicht  mehr  als  eine  englische  Meile 
von  seinem  Arbeitsplatz  entfernen,  er  muß  ausschließlich  in  den  Minen 
beschäftigt  werden  und  darf  Grundbesitz  weder  pachten  noch  sonstwie 
unter  seine  Kontrolle  bringen.  Die  Übertretung  dieser  Vorschrift  ist 
mit  einer  Strafe  von  500  ^  und  5  Jahr  Gefängnis  bedroht.  Der  Agent 
muß  eine  Paßgebühr  von  2  £  per  Kopf  zahlen  und  kein  Arbeiter  darf 
ohne  einen  Erlaubnisschein  seinen  Arbeitsort  wechseln.  Der  Gouverneur 
soll  berechtigt  sein,  Bestimmungen  zu  erlassen  betreffs  der  Unterbringung 
der  Arbeiter,  ihren  Schutz,  ihre  Kontrolle  und  ihre  Heimsendung.  Ein 
Oberbeamter  und  eine  Anzahl  von  Inspektoren  sollen  ernannt  werden, 
um  die  Durchführung  des  Gesetzes  zu  sichern,  jeder  Arbeiter  muß  auf 
Verlangen  dem  Inspektor  seinen  Paß  vorzeigen.  Wohl  mag  die  „Times", 
die  sich  zum  Kämpfer  für  die  Minenbesitzer  aufgeworfen  hat,  einge- 
stehen (7.  Januar  1904),  daß  „es  zugegeben  werden  muß,  daß  das  Los 
des  chinesischen  Arbeiters  vom  englischen  Standpunkt  aus,  nicht  ver- 
spreche ein  sehr  angenehmes  und  glückliches  zu  sein,  aber  unter  der 
Aufsicht  der  Regierung  dürfe  seine  Lage  wohl  eine  bessere  sein,  als 
diejenige,  an  die  er  zu  Hause  gewöhnt  sei.  Jedenfalls  ist  der  Chinese 
willens,  sich  auf  eine  Reihe  von  Jahren  mit  beschränkten  Vorteilen  zu 
begnügen,  wenn  er  dafür  die  sichere  Aussicht  auf  Rücksendung  mit 
einein  kleinen  Vorrat  von  Dollars  in  der  Tasche  hat". 

Ein  solches  System  der  „Kontraktarbeit"  ist  kaum  von  Strafarbeit 
oder  zeitlich  beschränkter  Sklaverei  zu  unterscheiden.  Der  Londoner 
„Standard",  die  führende  konservative  Zeitung,  nennt  es  denn  auch  „ein 
ebenso  unwillkommenes  wie  zweifelhaftes  Experiment".  Warum,  dürfen 
wir  fragen,  wird  es  denn  von  englischen  Beamten  in  Transvaal  emp- 
fohlen, die   doch  hoch  über  dem  Verdacht  stehen  im  Interesse  der 


'  i  Die  Kestatigung  der  gesetzgebenden  Körperschaft  und  die  Zustimmung  der 
englischen  Regierung  sind  inzwischen  erfolgt. 


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Henry  W.  M  a  c  r  o  s  t  y ,  Die  Arbeiterfrage  in  Südafrika. 


405 


Minenbesitzer  zu  arbeiten?  —  Wirklich  überzeugte  Befürworter  der 
Chinesenarbeit  sind  nicht  vorhanden.  Einige  akzeptieren  den  Vorschlag, 
weil  sie  glauben,  daß  der  Versuch  mißglücken  wird.  Sogar  die  Minen- 
besitzer sagen,  daß  sie  darin  nur  eine  unvermeidliche  Notwendigkeit 
sehen.  Niemand  will,  daß  er  mehr  als  ein  vorübergehendes  Hilfsmittel 
sei,  welcher  dazu  dienen  soll  über  eine  Periode  außergewöhnlicher  Ver- 
hältnisse hinwegzuhelfen.  Wir  müssen  also  fragen,  worin  besteht  denn 
diese  angebliche  Notwendigkeit?  Es  wird  erstens  angenommen,  daß  das 
Gedeihen  von  Südafrika  von  den  Minen  abhängt,  daß  die  Minen  von 
der  billigen  Arbeit  abhängen  und  daß  aus  Mangel  an  geeigneten  Arbeits- 
kräften eine  Depressionsperiode  angefangen  hat,  welche  die  Kolonie 
ruinieren  wird,  wenn  ihr  nicht  schleunigst  ein  Ende  gesetzt  wird. 

Letztes  Jahr  hat  das  englische  Handelsministerium  Herrn  Henry 
Birchenough  als  Spezialbevollmächtigten  ausgesandt:  Ende  1903  hat 
dieser  einen  sehr  wertvollen  „Bericht  über  die  gegenwärtige  Lage  und 
die  zukünftigen  Aussichten  des  englischen  Handels  in  Südafrika"  ein- 
gereicht (Cd.  1844  von  19°3t  freis  1  sh.  6  d),  in  dem  viele  nützliche 
Informationen  zu  finden  sind. 

Er  sagt:  „Wie  auch  die  Lage  der  anderen  Kolonien  sein  mag,  in 
Südafrika  wird  allgemein  angenommen,  daß  von  den  Zuständen  in  Trans- 
vaal allein  das  gegenwärtige  Gedeihen  des  Geschäftes  im  Lande  abhängt. 
Man  braucht  nur  nach  Johannesburg  zu  gehen,  um  klar  darüber  zu 
werden,  daß  dort  die  Möglichkeiten  für  eine  wirklich  große  Ausdehnung 
des  Handels  vorhanden  sind.  In  den  anderen  Kolonien  kann  man  und  wird 
man  wohl  auch  langsame  und  sichere  Fortschritte  zu  verzeichnen  haben, 
in  Transvaal  dagegen  sind  die  Bedingungen  für  eine  rapidere  Entwick- 
lung gegeben.  Es  ist  schwer,  von  den  Zukunftsaussichten  in  Transvaal 
zu  sprechen,  ohne  anscheinend  zu  übertreiben.  Ohne  Zweifel  hängen 
diese  Aussichten  von  dem  Reichtum  an  Mineralien  in  der  Kolonie  ab. 
Aus  den  Minen  und  hauptsächlich  aus  den  Goldminen  müssen  zuerst  die 
Mittel  für  die  Entwicklung  des  Landes  und  die  Ausdehnung  des  Handels 
kommen.  Obgleich  die  schon  aufgefundenen  Goldlager  im  „Rand"  und 
in  anderen  Teilen  der  Kolonie  beachtenswert  genug  sind,  darf  man  an- 
nehmen, daß  ihre  Inangriffnahme  eher  den  Anfang  als  das  Ende  eines 
großen  Kapitels  in  der  Geschichte  der  Goldminen  darstellt.  Es  vergeht 
kaum  ein  Monat,  ohne  daß  Entdeckungen  gemacht  werden,  welche 
unsere  Kenntnisse  über  die  Gold  führenden  Distrikte  erweitern.  Kohle 
findet  sich  im  Überfluß,  ungeheure  Eisenlager  grenzen  in  dem  Middel- 
burg-Ermel bezirk  an  die  Middelburg- Kohle,  welche  glücklicherweise  für 
den  Hochofenbetrieb  geeignet  ist.  Mit  der  Ausbeutung  soll  begonnen 
werden,  und  so  ist  Aussicht  vorhanden,  daß  Transvaal  in  einigen  Jahren 
seinen  Schienenbedarf  selber  decken  kann.  Bei  Prätoria  sind  Diamantfelder 
gefunden  worden,  welche  eines  Tages  die  von  Kimberley  aus  ihrer  Mono- 
polstellung drängen  können.    Indessen  werden  doch  die  Goldminen  all- 


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4o6 


Miszellen. 


gemein  als  der  Hauptfaktor  in  der  zukünftigen  Entwicklung  von  Trans- 
vaal betrachtet,  nicht  nur,  weil  ihre  Erträge  sofort  der  Entwicklung  des 
Landes  zugute  kommen,  auch  nicht  als  eine  Kapitalsanlage,  sondern 
weil  sie  einen  großen  ausdehnungsfähigen  Markt  darstellen,  unmittelbar 
für  Verhüttungsanlagen,  Stampfwerke,  Maschinen  usw.  und  mittelbar 
für  alle  Arten  von  Produkten  und  Industrieerzeugnissen,  welche  die 
wachsende  Bevölkerung  der  Minendistrikte  benötigt." 

Dies  ist  das  unparteiische  Zeugnis  unseres  Sachverständigen,  doch 
müssen  wir  noch  hören,  was  Herr  Birchenough  über  die  Landwirtschaft 
sagt,  um  die  Goldminen  im  rechten  Lichte  zu  sehen.  „Es  kann  nicht 
bezweifelt  werden,  sagt  er,  daß  die  Farmer  der  Oranje  -  Flußkolonie, 
einiger  Distrikte  in  Transvaal  und  vieler  Teile  der  Kapkolonie  einer 
Periode  von  immerhin  beträchtlichen,  wenn  auch  in  keiner  Weise  außer- 
ordentlichen Wohlstand  entgegengehen.  Man  versucht  alles,  um  Süd- 
afrika in  seiner  Lebensmittelbeschaffung  möglichst  auf  eigene  Füße  zu 
stellen.  Die  wachsenden  Städte  sind  ein  beständig  an  Bedeutung  ge- 
winnender Markt  für  landwirtschaftliche  Produkte  und  wenn  die  neuen 
Eisenbahnlinien  das  Land  aufgeschlossen  haben  werden,  werden  alle 
Industriezweige  einen  mächtigen  Anstoß  erhalten.  Weitere  Zukunfts- 
aussichten für  die  Landwirtschaft  erwachsen  aus  der  Forstkultur,  der 
Zucht  von  Pferden  und  Maultieren,  der  Ausdehnung  und  Verbesserung 
der  Wolle-  und  Mohair-Produktion,  dem  Anbau  von  Tabak  und  Früchten." 
Was  vor  allem  not  tut,  ist  Wasser  und  Bewässerungsanlagen  sind  in 
Aussicht  genommen,  welche  viele  unfruchtbare  Landstriche  anbaufähig 
machen  werden.  Des  weiteren  sind  bessere  und  billigere  Eisenbahnver- 
bindungen notwendig." 

Ein  weiser  Staatsmann  mag  deshalb  von  einem  zukünftigen  Süd- 
afrika träumen,  wo  große  und  verschiedenartige  Industrien  in  gesunder 
Entwicklung  miteinander  den  Reichtum  des  Landes  erhöhen.  Sicher  ist 
das  eine  schönere  Zukunft  als  diejenige,  welche  die  Minenbesitzer  zu  er- 
streben scheinen,  nämlich  einen  Zustand,  in  dem  jeder  mittelbar  oder 
unmittelbar  von  den  Goldminenbetrieben  abhängt  und  das  Land  in  sehr 
fühlbarer  Weise  von  einigen  kosmopolitischen  Millionären  beherrscht  wird. 

Diese  hoffnungsvolle  Entwicklung  hat  schon  begonnen.  Als  der 
Krieg  zu  Ende  war,  sollten  die  sehr  stark  zusammengeschmolzenen  Vor- 
räte wieder  aufgefüllt  werden.  Die  Eisenbahnen  konnten  den  Verkehr 
nicht  bewältigen  und  die  Schwierigkeit  in  der  Güterversorgung  ließ 
offenbar  die  Nachfrage  größer  erscheinen,  als  sie  tatsächlich  war.  1897 
betrug  die  Einfuhr  nach  Südafrika  23905272  £t  1902  war  sie  auf 
45427014  gestiegen.  „Man  hat  oft  genug  versichert,"  sagt  Mr. 
Birchenough,  „daß  dieser  plötzliche  Aufschwung  des  südafrikanischen 
Marktes  nicht  andauern  kann,  daß,  wenn  die  durch  den  Krieg  verur- 
sachten Verwüstungen  einigermaßen  wieder  gut  gemacht  sind,  dann  der 
Handel  wieder  auf  das  frühere  Niveau,  zurücksinken  wird  —  das  ist 


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Henry  W.  Macrosty,  Die  Arbeiterfrage  in  Südafrika- 


407 


nicht  der  Eindruck,  den  ich  erhalten  habe,  meine  Wahrnehmungen  ver- 
anlassen mich  zu  glauben,  daß  wir  es  nicht  mit  einer  vorübergehenden 
Hausse  zu  tun  haben,  sondern  mit  einer  großen  und  anhaltenden  Auf- 
schwungsperiode. Rückfälle  mögen  und  werden  kommen,  aber  meines 
Erachtens  doch  nur  als  vereinzelte  Zwischenfälle."  Augenblicklich  be- 
findet sich  Südafrika  in  einer  dieser  Rückschrittsperioden.  Zum  Teil  rührt 
dies  von  der  Nichterfüllung  unvernünftiger  Erwartungen  her,  zum  Teil 
von  einer  vorübergehenden  Flauheit,  wie  sie  natürlich  und  unvermeid- 
lich auf  Zeiten  fieberhafter  Tätigkeit  folgt,  zum  Teil  von  den  unge- 
heueren Verkäufen  der  für  die  Armee  überflüssig  gewordenen  Vorräte, 
aber  hauptsächlich  nach  der  Meinung  von  Herrn  Birchenough  von  dem 
Mangel  an  einheimischen  Arbeitern. 

Vielleicht  ist  es  kaum  notwendig,  eine  Entschuldigung  für  das  aus- 
gedehnte Zitieren  aus  diesem  wertvollen  Bericht  vorzubringen ;  wo  soviele 
Quellen  getrübt  und  soviele  Ansichten  durch  persönliche  Interessen  be- 
einflußt sind,  ist  es  von  besonderer  Wichtigkeit,  die  Arbeiterfrage  des 
„Rand"  als  einen  Teil  des  großen  Problems  der  industriellen  Entwick- 
lung Südafrikas  in  den  Zusammenhang  zu  bringen,  von  welchem  aus  sie 
allein  verstanden  werden  kann.  Wir  müssen  deshalb  noch  einmal  diesen 
scharfen  und  unparteiischen  Beobachter  zitieren:  „Der  Krieg  kostet  den 
Minen  7  Mill.  £,  aber  das  größte  Mißgeschick  war  die  Zerstreuung  der 
großen  Armee  von  schwarzen  und  weißen  Arbeitern,  welche  in  13 
Jahren  geduldiger  Arbeit  zusammengebracht  worden  war  und  welche 
aus  12000  Weißen  und  100000  Eingeborenen  bestand.  Selbst  vor 
dem  Krieg,  ja  seit  der  Entdeckung  der  Goldfelder  1886  hat  es  Schwierig- 
keiten gemacht,  die  nötige  Arbeiterschaft  zu  beschaffen.  Seit  dem  Kriege 
ist  es  aus  einer  Reihe  von  Gründen  zum  Teil  ökonomischer  Natur,  zum 
Teil  als  Resultat  einer  verfehlten  Politik  der  Minenbesitzer  unmöglich 
geworden,  den  Minen  soviel  Arbeiter  zuzuführen  als  nötig  gewesen 
wären,  die  Industrie  auf  den  Stand,  den  sie  vor  dem  Krieg  hatte,  zu 
bringen.  Der  Rückgang,  der  eingetreten  ist,  rührt  allein  von  dem 
Mangel  an  eingeborenen  Arbeitskräften  her;  wäre  der  nötige  Zufluß 
vorhanden,  so  würde  der  Aufschwung  mit  erstaunlicher  Schnelligkeit  ein- 
setzen. Ohne  ihn  kann  der  Fortschritt  nur  langsam  und  mühsam  sein. 
Wir  können  hier  nicht  die  schwierige  Frage  der  zukünftigen  Arbeitsver- 
sorgung diskutieren.  Dieses  Thema  kommt  bei  unserer  Untersuchung 
nur  soweit  in  Betracht,  als  es  die  industrielle  und  Handelsentwicklung 
des  Landes  berührt.  Es  kann  kein  Zweifel  sein,  daß  jetzt  alles  von 
einer  ausreichenden  Versorgung  mit  Arbeitskräften  abhängt.  Es  wäre 
sehr  verfehlt,  darin  nur  eine  Angelegenheit  der  Minenbetriebe  zu  sehen. 
Die  Eingeborenenarbeit  ist  eben  so  notwendig  für  den  Ausbau  der 
Eisenbahnen,  die  Ausführungen  der  Regierungsarbeiten,  Bauunter- 
nehmungen, Landwirtschaft  usw.  Nach  allen  Richtungen  hin  wird 
eine  schnelle  Entwicklung  ohne  sie  unmöglich  gemacht.   Die  Schwierig- 


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40S 


Miszcllcn. 


keit  wird  erhöht  durch  den  Umstand,  daß  jede  Arbeit,  die  den  Minen 
entzogen  wird,  um  andere  Industriezweige  oder  öffentliche  Arbeiten  zu 
fördern,  den  Zufluß  an  Reichtum,  den  das  Land  jetzt  benötigt,  ver- 
ringert. Die  Minen  müssen  vor  allem  versorgt  werden,  weil  von  ihnen 
der  Fortschritt  überhaupt  abhängt.  So  kann  man  sich  kaum  wundern, 
wenn  Männer  aller  Stände  in  dem  Glauben,  daß  nur  diese  eine  Schwierig- 
keit dem  überraschendsten  Aufschwung  entgegensteht,  einen  entschei- 
denden Schritt  zu  tun  wünschen  und  die  Arbeit  suchen,  wo  sie  sie  finden. 

Indessen  haben  diese  Schwierigkeiten  auch  ihr  Gutes,  denn  sie  be- 
fördern die  Einführung  von  arbeitssparenden  Maschinen,  besonders  im 
Transportwesen.  Das  hat  zur  Folge,  daß  das  Verhältnis  von  Schwarzen 
zu  Weißen,  von  7  zu  1  vor  dein  Krieg  jetzt  auf  5  zu  1  reduziert  ist. 

Bei  der  Beurteilung  der  gegenwärtigen  Lage  darf  nicht  vergessen 
werden,  daß  nur  bestimmte  eingeborene  Stämme  unter  Tag  arbeiten 
wollen.  Zur  Zeit  bedeutet  also  ein  anscheinend  zunehmender  Zufluß  an 
Eingeborenen  nicht  unbedingt  ein  verhältnismäßig  ebenso  großes  Wachsen 
der  Ausbeute,  wenn  nicht  das  richtige  Verhältnis  zwischen  Arbeitern 
„unter  Tag4'  und  den  anderen  aufrecht  erhalten  wird.  Man  darf  des- 
halb annehmen,  daß  die  Ausbeute  ungemein  wachsen  wird,  wenn  erst 
die  Beschaffung  von  Arbeitern  „unter  Tag"  erleichtert  wird.  In  diesem 
Jahr  und  besonders  in  den  letzten  Monaten  sind  im  allgemeinen  mehr 
Eingeborene  zur  Arbeit  gekommen  und  so  darf  man  hoffen,  daß  ehe 
ein  Jahr  verstrichen  ist,  die  Goldindustrie  wieder  den  Stand  einnehmen 
wird,  den  sie  vor  dem  Krieg  hatte." 

Die  Regierung  von  Transvaal  hatte  eine  Untersuchungskommission 
ernannt,  um  die  Arbeitsfrage  zu  studieren;  im  November  1903  reichte 
die  Mehrheit,  bestehend  aus  n  Mitgliedern  ihren  Bericht  ein.  Der  Be- 
darf an  eingeborenen  Arbeitskräften  wurde  auf  403328  geschätzt.  Zur- 
zeit fehlten  daran  241000,  davon  130000  in  den  Minenbetrieben, 
37000  beim  Eisenbahnbau,  4000  beim  Eisenbahnbetrieb,  49300  in  der 
Landwirtschaft  und  die  übrigen  in  anderen  Gewerben.  Man  berechnete 
dabei  die  Minenbetriebe  mit  6000  Stampfen.  Man  nahm  aber  an,  daß 
in  5  Jahren  unter  normalen  Verhältnissen  die  Zahl  der  Stampfen  1 1  000 
betragen  würde,  die  Schwierigkeiten  würden  also  dementsprechend 
wachsen.  Weder  in  Süd-  noch  in  Zentralafrika  seien  genug  einge- 
borene Arbeiter  zu  finden,  um  die  Bedürfnisse  Transvaals  zu  be- 
friedigen. —  Dagegen  berichtete  die  Minderheit  von  zweien,  daß  „in 
Zentral-  und  Südafrika  vorerst  mit  einigen  Schwierigkeiten  genügend 
Arbeitskräfte  zu  finden  seien.  Der  gegenwärtige  sogenannte  Arbeiter- 
mangel in  Transvaal  sei  vorübergehend  und  wieder  auszugleichen.  Auch 
die  Bedürfnisse  der  Zukunft  würden,  wenn  sie  solche  seien,  die  dem 
ganzen  Lande  zugute  kämen,  aus  den  oben  genannten  Gebieten  ge- 
deckt werden  können;  nach  vielen  Richtungen  hin  könne  die  Arbeit 
der  Eingeborenen  durch  Weiße  ersetzt  und  ergänzt  werden." 


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Henry  W.  Macrosty,  Die  Arbeiterfrage  in  Südafrika. 


409 


Während  die  Mehrheit  annahm,  daß  eine  Stampfe  20  Arbeiter 
braucht,  hielt  die  Minderheit  11  für  genügend.  So  wurde  der  Bedarf 
der  Randminen  auf  75000  und  der  Bedarf  von  Transvaal  überhaupt 
auf  259950  eingeborene  Arbeiter  geschätzt.  Die  Gesamtbevölkerung 
von  Süd-  und  Zentralafrika  wird  auf  13  597  691  und  die  Zahl  der  er- 
wachsenen Männer  von  1  135970  bis  1  700000  geschätzt. 

Im  Juli  1899  vor  dem  Krieg  arbeiteten  91484  Eingeborene,  im 
März  1904  72340  —  seit  Juni  1903  hat  die  Zahl  um  17000  zu- 
genommen. Die  Gesamtausbeute  von  1903  war  2963749  Unzen,  im 
Vergleich  zu  1704374  in  1902  und  3903810  Unzen  in  den  9  Mo- 
naten von  1899  vor  dem  Krieg.  Im  März  1904  betrug  die  Ausbeute 
308  242  Unzen  oder  2 der  durchschnittlichen  Monatsausbeute  vor  dem 
Krieg.  Jeder,  der  nicht  im  Handumdrehen  ein  Millionär  werden  will, 
würde  sich  damit  zufrieden  geben  und  die  Situation  könnte  noch  besser 
sein,  hätte  nicht  die  törichte  Politik  der  Minenbesitzer  durch  die  Herab- 
setzung der  Löhne  den  Zufluß  an  Arbeitskräften  abgelenkt. 

Der  Durchschnitt  der  Arbeitslöhne  für  die  Eingeborenen  war  1898 
47  sh.  1  d  monatlich,  1902  betrug  er  32  sh.  9  d  und  für  das  halbe  Jahr 
vom  1.  Januar  bis  30.  Juni  1903  betrug  er  42  sh.  5  d.  Der  staatliche 
Bergwerksinspektor  schreibt  in  seinem  Bericht  vom  Sommer  1903  den 
vergrößerten  Zufluß  an  Arbeitskräften  den  erhöhten  Löhnen  zu.  Die 
Minenbesitzer  könnten  also  den  Zufluß  noch  um  ein  beträchtliches  durch 
energisches  Anwenden  dieses  Mittels  erhöhen.  Besonders  da  auch  sonst 
viel  für  die  Minen  geschehen  ist:  die  Ermäßigung  der  Eisenbahnfrachten 
im  Durchgangsverkehr  und  für  den  Kohlentransport  sind  beträchtlich. 
Eine  große  Erleichterung  bedeutet  ferner  die  vermehrte  Anlage  von 
Ladegeleisen.  Endlich  sind  die  Preise  für  Sprengstoffe  beträchtlich  ver- 
mindert worden.  So  konnte  denn  auch  zum  Beispiel  bei  der  Johannis- 
burg Consolidated  Investment  Co.  eine  Dividende  von  10  Proz.  zur  Ver- 
teilung gelangen,  die  jedoch  nur  -!h  des  Reingewinnes  beansprucht,  so 
daß  etwa  400000  £  Gewinn  vorgetragen  werden. 

Es  scheint  demnach,  daß  die  englische  Regierung  schon  viel  getan 
hat,  um  die  Betriebskosten  der  Minen  zu  verringern,  und  daß  die  Minen- 
besitzer keineswegs  der  Verarmung  entgegengehen ,  wie  sie  glauben 
machen  möchten.  Es  sind  ihnen  noch  Hilfsquellen  geblieben,  um  Ar- 
beitskräfte zu  erhalten,  ohne  daß  ihr  berechtigter  Gewinn  beein- 
trächtigt wird. 

Die  zweite  große  Frage  ist,  ob  die  Möglichkeit  besteht,  ungelernte 
weiße  Arbeiter  in  den  Minen  zu  verwenden.  Die  Mineningenieure  er- 
klärten Herrn  Chamberlain,  die  Kosten  machten  das  unmöglich.  Sie 
sagten:  „Der  gut  entwickelte  Eingeborene  kommt  als  bloße  Arbeits- 
maschine, wenn  er  die  genügende  Übung  hat,  dem  weißen  Mann  gleich, 
die  Überlegenheit  des  Weißen  ist  rein  intellektuell.  Es  ist  vom  öko- 
nomischen Standpunk  aus  indiskutabel,  bei  der  rein  mechanischen  Arbeit 


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410  Miszellen. 

eine  einfache  Arbeitsmaschine,  die  20  oder  auch  nur  10  sh.  täglich  kostet, 
an  die  Stelle  einer  solchen  zu  setzen,  die  nur  täglich  2  oder  3  sh.  täglich 
kostet  und  dieselbe  Energie  entwickelt.  Man  hat  eine  Lohnskala  vor- 
geschlagen, welche  von  der  ganz  ungelernten  zu  der  gelernten  Arbeit 
stufenweise  fortschreitet.  Wenn  wir  aber  die  Löhne  der  ungelernten 
denjenigen  der  gelernten  Arbeiter  etwas  näher  bringen,  so  würden  die 
Kosten  per  Tonne  noch  höher  kommen.  Dann  würden  wohl  nur  die 
reicheren  Gesellschaften  in  der  Lage  sein  den  Betrieb  fortzusetzen." 

Andererseits  hat  Mr.  Cresswell,  ein  bekannter  Ingenieur,  Versuche 
mit  weißen  Arbeitern  gemacht,  die  befriedigend  ausgefallen  sind.  Er 
hat  dies  vor  der  Südafrikanischen  Labour- Kommission  erklärt  und  des 
weiteren  angegeben,  seine  Direktoren  hätten  nicht  auf  seiner  Seite  ge- 
standen, da  sie  vorhergesehen  hätten,  daß  eine  zahlreiche  weiße  Ar- 
beiterschaft zu  der  Gründung  von  Trade-Unions  und  der  Einführung 
von  Arbeiterpolitik  im  „Rand"  Anlaß  geben  würde.  Er  sagte  im  „Man- 
chester Guardian"  (12.  Januar  1904):  „Das  südafrikanische  Klima  ist  eines 
der  besten  der  Welt,  Weiße  können  dort  so  gut  arbeiten  wie  hier;  es 
ist  geradezu  lächerlich  zu  sagen,  daß  eine  ungeheure  Industrie  eingehen 
muß,  weil  man  nicht  eine  genügende  Anzahl  nackter  Wilden  einfangen 
kann,  um  die  Arbeit  zu  tun.  Die  Verwendung  von  weißen  Arbeitern 
würde  die  Arbeitskosten  eher  herabsetzen,"  die  Erfahrung,  die  man  in 
Australien  gemacht  hat,  bestätigen  diese  Ansichten.  Ein  Korrespondent 
des  „Spectator'*  vom  28.  November  1903  gibt  detaillierte  Angaben  über 
die  Betriebskosten  zweier  großer  und  erfolgreicher  Minen,  die  mit 
niedrig  prozentigem  Erz  arbeiten,  „The  Roodepoort"  Südafrika  und 
„The  Scottish  Gympie"  Australien 

Südafrika  Australien 
farbige  Arbeil  weilte  Arbeit 

Kosten  p.  Tonne  Kosten  p.  Tonne 

Minenbetrieb  14sh.  2,74  d  9  sh.  6,42  d 

Sortieren,  Stampfen,  Waschen,  Trans- 
port usw  5»    1.79-  3       0,56  „ 

Verwaltung*-  und  allgemeine  Unkosten      4  „    6,6  t  „  3  „    2.84  ,. 

Wcitcraushau  der  Mine  3        —    n  2  „    4,90  ., 

1  £  6  sh.  1 1,14  d  18  sh.  2,52  d 

Zu  den  südafrikanischen  Minenkosten  kommen  noch  2  sh.  9,79  d 
per  Tonne  für  den  Cyanidprozeß  hinzu,  wir  lassen  dies  aber  außer  Be- 
tracht, weil  die  betreffende  australische  Mine  diesen  Prozeß  nicht  benutzt. 
Die  Tiefe  des  australischen  Schachtes  ist  über  1600  Fuß  englisch.  Der 
resp.  Reinertrag  der  Tonne  war  in  der  südafrikanischen  Mine  10,49  dwt.; 
in  der  australischen  10,09  dwt.  Gold.  Die  südafrikanische  hatte  den 
bedeutenden  Vorteil  eines  weicheren  Erzes,  so  daß  sie  mit  53  Stampfen 
190S5  Tonnen  behandeln  konnte;  die  australische  dagegen  mit  125 
Stampfen  und  ganz  moderner  Maschinerie  nur  20300  Tonnen.'* 


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Henry  \V.  Macrosty,  Die  Arbeiterfrage  in  Südafrika. 


4II 


Wir  haben  keinerlei  Beweis  dafür,  daß  die  Minenbesitzer  ernsthafte 
Versuche  gemacht  haben,  arbeitsparende  Maschinen  anzuwenden.  Aller- 
dings würden  Eingeborene  und  Weiße  nicht  zusammenarbeiten,  doch  ist 
dies  eine  Organisationsfrage.  Die  hohen  Löhne  der  weißen  Arbeiter  in 
Transvaal  sind  eine  notwendige  Folge  der  hohen  Lebenskosten.  Es 
müssen  nicht  nur  beträchtliche  Mengen  von  Lebensmitteln  importiert 
werden,  sondern  ihre  Kosten  werden  noch  durch  die  sehr  hohen  Eisen- 
bahnfrachten ungemein  vergrößert.  Eine  fortschrittliche  Bahntarifpolitik 
würde  die  Nahrungspreise  herabsetzen  und  den  Handel  erleichtern. 
Eine  dauernde  Erleichterung  würde  allerdings  nur  durch  eine  Ausdehnung 
der  Landwirtschaft  zu  erreichen  sein. 

Wir  können  eine  Reihe  von  Zeugnissen  beibringen,  die  erweisen, 
daß  eingeborene  Arbeitskräfte  zu  haben  sind,  wenn  anständige  Löhne 
geboten  werden,  daß  es  möglich  ist,  ungelernte  weiße  Arbeiter  zu  be- 
schäftigen und  daß  die  Minenbesitzer  die  dafür  nötigen  Ausgaben  machen 
können,  ohne  sich  zugrunde  zu  richten.  So  stehen  wir  also  nicht  vor 
einer  so  unabweislichen  Notwendigkeit,  daß  wir  gezwungen  wären,  in 
der  uns  höchst  unsympathisch  berührenden  Einführung  chinesischer  Kon- 
traktarbeiter die  einzige  Rettung  vor  dem  geschäftlichen  Zusammenbruch 
zu  sehen. 

Es  gibt  noch  zwei  Fragen,  welche  die  Eingeborenenarbeit  berühren : 
erstens  die  Behandlung  der  Eingeborenen  in  den  Minen.  Der  Vor- 
sitzende der  Generalversammlung  der  „De  Beers  Consolidated  Mines"  in 
Kimberley  hob  letzten  November  rühmend  hervor,  daß  seine  Gesellschaft 

J  * 

stets  genug  „boys"  habe;  es  komme,  sagte  er,  nicht  nur  auf  die  Löhne, 
sondern  auch  auf  die  Behandlung  an,  und  die  Sterblichkeitsrate  auf  das 
Tausend  sei  in  den  Diamantfeldem  um  ein  beträchtliches  geringer  als 
in  Johannesburg.  Der  zweite  Punkt  ist,  daß  man  in  Südafrika  den  Ein- 
geborenen als  ein  Jochtier,  das  nur  die  schwerste  und  gröbste  Arbeit 
verrichten  kann,  zu  behandeln  pflegt.  Nur  in  einzelnen  Fällen,  in  einigen 
Missionsanstalten,  macht  man  den  Versuch  die  Kaffern  in  irgend  einer 
Fertigkeit  zu  schulen;  niemals  überläßt  man  ihnen  in  den  Minen  andere 
als  die  einfachsten  Arbeiten.  Die  einzige  moralische  Rechtfertigung  der 
Ländereroberung  besteht  darin,  daß  die  siegende  Rasse  ernstlich  ver- 
sucht, die  besiegte  auf  eine  höhere  Kulturstufe  zu  heben  und  diese 
Rechtfertigung  fehlt  ganz  gewiß  in  Südafrika.  Allerdings  können  ähnliche 
Vorwürfe  allen  sich  ausdehnenden  weißen  Völkern  gemacht  werden. 

Man  rechnet  bestimmt  darauf,  daß  die  Regierung  des  Mutterlandes 
die  Einführung  chinesischer  Arbeiter  in  Südafrika  sanktionieren  wird,  aber 
ein  weitblickender  Staatsmann  würde  vorhersehen,  daß  eine  solche 
Politik  den  dauernden  Interessen  des  britischen  Reiches  schaden 
wird.  Der  Friede  in  Südafrika  wird  am  besten  gewährleistet  durch  eine 
Besiedelung  des  Landes  mit  etwa  der  gleichen  Zahl  von  holländischen 
und   britischen  Elementen.    Zurzeit  überwiegen   die   Holländer,  aber 


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Miszcllen. 


man  nahm  an,  daß  die  einwandernden  englischen  Minenarbeiter  und 
Bauern  ihnen  in  wenigen  Jahren  die  Wage  halten  würden.  Die  auch 
nur  zeitweilige  Importierung  von  Chinesen  würde  die  Notwendigkeit, 
Engländer  herbeizuziehen,  vermindern  und  den  kinderreichen  Holländern 
einen  großen  Vorsprung  in  der  Rassenmischung  geben.  Die  englischen 
Interessen  würden  also  durch  den  Ausschluß  der  Chinesen  gefördert. 
Die  Entscheidung  ist  zu  treffen,  nicht  zwischen  Ruin  und  Fortschritt, 
wie  uns  die  Minenbesitzer  glauben  machen  wollen,  sondern  zwischen 
gemäßigtem  Fortschritt  und  rapider  Entwicklung,  wie  es  Mr.  Birchenough 
dargelegt  hat.  Wenn  wir  die  Chinesen  draußen  halten,  englische  Ar- 
beiter heranziehen,  arbeitsparende  Maschinen  anwenden  und  die  Ein- 
geborenen erziehen,  so  wird  die  Entwicklung  Südafrikas  nicht  rasch 
genug  sein,  um  den  Minenmagnaten  kolossale  Dividenden  zu  sichern, 
aber  sie  wird  auf  sicherer  Grundlage  beruhen. 

Die  Minenbesitzer  wünschen  die  chinesischen  Arbeiter  aus  zwei 
Gründen  —  aus  politischen,  damit  sie,  als  die  pro-englische  Partei  gegen 
die  Buren,  die  Herrschaft  in  der  Verwaltung  Transvaals  festhalten 
können,  —  zweitens  aus  ökonomischen,  weil  die  Chinesen  billig  sind. 
Mr.  Birchenough  bemerkt  scharfsinnig:  „Man  kann  gewissermaßen  sagen, 
daß  es  für  die  Transvaal- Goldminen  ein  Unglück  ist,  daß  die  dort  do- 
minierenden Finanzgruppen  zweierlei  Geschäfte  betreiben:  einmal  das 
rein  industrielle  Unternehmen  des  Minen betriebes,  zum  andern  das 
rein  spekulative  neue  Gründungen  auf  den  Markt  zu  werfen  und  daß 
zurzeit  ihr  Interesse  mehr  bei  dem  zweiten  als  dem  ersten  engagiert 
ist."  —  In  ihrer  Eigenschaft  als  Industrielle  erfüllen  sie  eine  wichtige 
Funktion,  aber  erfolgreiche  Gründergeschäfte  sind  wohl  das  einträg- 
lichste auf  Erden  und  als  Gründer  haben  die  Minenbesitzer  wenig  getan 
um  sich  den  Dank  der  Menschheit  zu  verdienen. 

In  der  Tat  haben  die  Minenbesitzer  einige  Ähnlichkeit  mit  den 
amerikanischen  Trusts.  Diese  müssen,  um  ihre  Wertpapiere  an  den 
Mann  zu  bringen,  Dividenden  auf  ihre  Aktien  zahlen,  selbst  wenn  dies 
im  Gegensatz  zu  den  Interessen  der  Gesamtheit  und  ohne  Rücksicht 
auf  eine  solide  Geschäftsführung  zu  geschehen  hat.  So  müssen  auch 
die  Minenbesitzer,  um  ihre  Gründungen  unterzubringen,  für  die  schon 
bestehenden  ungeheure  Dividenden  aufweisen  und  das  können  sie  nur, 
wenn  sie  so  billig  als  überhaupt  möglich  arbeiten. 

Unter  diesen  Umständen  müssen  auch  diejenigen  enttäuscht  werden, 
die  zögernd  der  Einführung  chinesischer  Arbeiter  zugestimmt  haben, 
weil  sie  glaubten,  sie  sei  nur  vorübergehend  nötig.  Aber  wann  wird 
der  Bedarf  nach  billigen  Arbeitskräften  aufhören?  Muß  man  nicht  im 
Gegenteil  annehmen,  daß  wir,  wenn  erst  ticferliegende  Gesteinsschichten 
in  Angriff  genommen  werden,  hören  werden,  nun  sei  die  Notwendigkeit 
billiger  Arbeit  erst  recht  groß  und  die  bestehenden  Einschränkungen 
müßten  fallen.    Noch  nie  hat  das  kapitalistische  Interesse  freiwillig  auf 


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Henry  \V.  Macrosty,  Die  Arbeiterfrage  in  Südafrika.  413 

seine  Privilegien  verzichtet  In  den  Vereinigten  Staaten  hat  man  hohe 
Einfuhrzölle  erhoben  um  die  „jungen  Industrien"  zu  schützen,  aber  nun, 
da  diese  Industrien  groß  und  mächtig  geworden  sind  und  hunderte  von 
Milliardären  großgezogen  haben,  erscholl  der  Ruf  nach  Zollschutz  lauter 
denn  je. 

Aber  —  sagt  man  uns  —  Südafrika  braucht  die  Chinesen.  Eben 
jetzt  legt  Jameson,  der  frühere  Adjudant  von  Cecil  Rhodes  dem  Kap- 
parlament einen  Gesetzentwurf  vor,  der  die  Einfuhr  von  Chinesen  in  die 
Kapkolonie  verhindern  soll.  Wie  die  „öffentliche  Meinung"  in  Trans- 
vaal bearbeitet  wird,  zeigt  der  oben  schon  angeführte  Artikel  im  Man- 
chester Guardian  vom  12.  Januar  1904.  —  „Das  finanzielle  Interesse," 
heißt  es  dort,  „beherrschte  die  Versammlungen  in  den  Bergwerken,  wo 
den  Arbeitern  nur  eine  Seite  der  Frage  klargemacht  wurde  und  ihr 
Gefühl  und  ihre  Vorurteile  in  jeder  Weise  beeinflußt  wurden.  Die  dort 
gefallenen  Behauptungen  über  die  Wirkung,  die  eine  Vermehrung  der 
weißen  Arbeiter  auf  die  Löhne  der  Angestellten  haben  würde,  lassen 
sich  kaum  mit  parlamentarischen  Ausdrücken  charakterisieren.  Aber 
niemand,  der  irgendwie  mit  den  Minen  zu  tun  hatte,  durfte  wagen, 
diesen  Behauptungen  öffentlich  entgegenzutreten  und  die  Arbeiter  auch 
auf  die  andere  Seite  der  Krage  aufmerksam  zu  machen.  Aber  selbst  so 
konnten  die  Minenbesitzer  eine  beträchtliche  Mehrheit  nicht  auf  ihre 
Seite  bringen.  Den  Arbeitern  fehlte  es  natürlich  an  Mut,  den  Ansichten 
und  der  Politik,  die  ihre  Arbeitgeber  mit  aller  Macht  befürworteten, 
entgegenzutreten,  führerlos  und  ohne  das  Gefühl  eines  Rückhaltes  in 
der  Heimat,  wie  sie  es  waren.  Eine  der  Johannesburger  Zeitungen 
nach  der  anderen,  die  sich  zuerst  alle  der  Chineseneinfuhr  gegenüber 
ablehnend  verhalten  hatten,  sahen  sich  plötzlich  veranlaßt,  auf  die 
Dienste  ihrer  Redakteure  zu  verzichten.  Alle  diese  Maßnahmen  zu- 
sammen mit  der  finanziellen  Depression  und  der  Arbeitseinschränkung 
in  manchen  Minen  verfehlten  ihre  Wirkungen  nicht  und  riefen  eine 
Stimmung  hervor,  die  sich  mit  einigem  Geschick  als  ein  allgemeiner 
Wunsch  aller  Weißen  nach  chinesischen  Arbeitskräften  darstellen  ließ. 

Wir  brauchen  uns  nicht  damit  aufzuhalten,  die  Schwierigkeiten  der 
Durchführung  der  gesetzlichen  Vorschriften  darzulegen,  welche  die 
Chineseneinwanderung  mit  sich  bringen  würde  —  welchen  Wert  haben 
z.  B.  die  Pässe,  da  es  fast  unmöglicli  sein  wird,  die  Identität  festzu- 
stellen? Aber  weittragender  ist  die  Frage,  ob  Chinesen  unter  den  oben 
angeführten  Bedingungen  überhaupt  zu  haben  sind.  Sie  strömen  nach 
den  Straits  -  Settlements  und  nach  allen  englischen  Kolonien,  wo  Be- 
wegungsfreiheit herrscht,  aber  es  wäre  voreilig  anzunehmen,  daß  sie 
eben  so  leicht  nach  Transvaal  gehen  würden,  um  wie  das  Vieh  ein- 
gepfercht zu  werden,  ohne  die  Freiheit  des  Kommens  und  Gehens,  ohne 
die  Möglichkeit  ihre  Beschäftigung  frei  zu  wählen,  sich  anzusiedeln  oder 
in  die  Heimat  zurückzukehren.    Ohne  Zweifel  konnten  durch  eine  in 


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4H 


Miszcllen. 


chinesischen  Regierungskreisen  übliche  Praxis  einige  Mandarinen  dahin 
gebracht  werden,  den  Arbeitern  das  englische  Anerbieten  als  günstig 
darzustellen.  Und  vielleicht  soll  man  sich  sagen  —  da  angedeutet 
wurde,  daß  man  diese  Art  der  Überredung  anwenden  würde,  —  es  sei 
prüde  vor  der  Bestechung  zurückzuschrecken,  wenn  man  die  Sklaverei 
zuläßt.  Aber  klug  wird  es  sein,  die  Geduld  des  britischen  Publikums 
auch  in  den  Kolonien  nicht  allzusehr  auf  die  Probe  zu  stellen.  Schon 
jetzt  hört  man  bittere  Worte  genug.  *) 

Aber  werden  die  Chinesen  kommen  ?  Mr.  Skinner,  den  die  Johannes- 
burger Bergwerkskammer  aussandte,  um  Informationen  einzuholen,  gab 
zu,  daß  es  schwer  sein  würde  chinesische  Kulis  zu  erhalten.  Die  chine- 
sische Regierung  ist  außerdem  ungehalten  über  den  Ausschluß  der 
Chinesen  aus  Australien  und  Britisch-Columbien  und  wird  vielleicht  die 
Auswanderung  nach  Südafrika  verbieten  oder  für  die  Erlaubnis  Kon- 
zessionen fordern,  welche  die  anderen  Kolonien  nicht  bewilligen  würden. 
Jedenfalls  würde  die  Einwanderung  von  Chinesen  in  den  ersten  Jahren 
nicht  sehr  groß  sein. 

Aus  all  diesem  ergibt  sich:  i.  daß  die  Hoffnung  auf  eine  schnelle 
Umwandlung  Transvaals  in  ein  Märchenland  von  Reichtum  und  Fort- 
schritt entsprechend  hinausgeschoben  werden  muß  und  2.  daß  die  vor- 
übergehende Periode,  während  der  allein,  wie  viele  hoffen,  chinesische 
Arbeit  gestattet  werden  soll,  von  sehr  langer  Dauer  sein  wird.  Nur  die 
Kapitalisten  würden  den  Vorteil  davon  haben,  wenn  es  ihnen  gelingt 
dem  Publikum  der  Fondsbörse  den  Glauben  an  einen  angeblichen  un- 
geheuren Aufschwung  beizubringen. 

Alles  führt  uns  zu  derselben  Schlußfolgerung,  nämlich  daß  die 
chinesische  Einwanderung  weder  der  politischen  noch  der  ökonomischen 
Entwicklung  Südafrikas  förderlich  sein  würde.  Wir  wollen,  daß  Süd- 
afrika nicht  nur  den  Weißen  gehört,  sondern  daß  er  ein  demokratisches 
Gemeinwesen  werde.  Die  Minenbesitzer  wollen  es  zu  einem  Sklaven- 
staat machen  im  Interesse  der  Fondsbörse.  Sie  wollen  uns  mit  Trug- 
bildern von  ungeheurem  Reichtum  und  fabelhaftem  Aufschwung  des 
Handels  blenden,  aber  wir  ziehen  langsamen  und  sicheren  Fortschritt, 
der  auf  der  Freiheit  aufgebaut  ist,  vor. 

')  Anmerkung  d.  R.  Vergleiche  die  neuerliche  Protestbewegung  in  Australien 
und  Neuseeland. 


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Henry  W.  Macrost y,  Die  Arbeiterfrage  in  Südafrika. 


415 


Nachtrag. 

Seit  Vorstehendes  geschrieben  wurde  (Januar  1904),  ist  die  Frage 
der  Einführung  chinesischer  Arbeiter  im  englischen  Parlamente  mehrfach 
behandelt  worden.  Lord  Lansdowne  sagte  bei  dieser  Gelegenheit:  „Es 
handelt  sich  um  eine  Krisis,  die  alle  Industrien  bedroht,  es  ist  zweifellos, 
daß  —  wenn  nicht  Hilfe  in  irgend  einer  Form  gewährt  wird  —  das 
Resultat  sowohl  für  Transvaal,  wie  für  die  angrenzenden  Kolonien  ein 
verderbliches  sein  kann.  .  .  .  Die  Quellen  für  einheimische  Arbeiter 
sind  erschöpft,  es  ist  nachgewiesen  worden,  daß  die  Kosten  ungelernter 
weißer  Arbeit  unerschwinglich  und  deren  Verwendung  untunlich  ist. 
Die  einzige  Alternative  ist  die  asiatische  Arbeit.  Wir  ergreifen  diesen 
Ausweg  nicht  leichten  Herzens  oder  weil  wir  einen  unbegrenzten  Zufluß 
von  Chinesen  wünschen.  Aber  wir  wollen  das  Experiment  in  be- 
schränktem Umfange  und  mit  allen  Kautelen,  welche  die  Erfahrung  an 
die  Hand  gibt,  machen". 

Die  Tatsache  des  allgemeinen  Arbeitermangels  wird  durch  eine 
Reihe  inzwischen  veröffentlichter  Blaubücher  bestätigt,  jedoch  scheint 
nicht  genügend  berücksichtigt  worden  zu  sein,  daß  dieser  Mangel  seine 
Ursache  zum  Teil  in  dem  allgemeinen  Bestreben  findet  die  Zerstörungen 
des  Krieges  wieder  gut  zu  machen.  Es  wird  behauptet,  daß  den  Minen 
noch  dreißigtausend  Eingebome  fehlen  und  daß  dreitausend  Stampfen 
stillstehen,  die  8000  Weiße  beschäftigen  könnten. 

Die  Schwierigkeit  schwarze  Arbeiter  zu  bekommen,  ist  in  gewissem 
Grade  eine  Folge  der  schlechten  Verpflegung  und  sonstigen  ungünstigen 
Bedingungen  auf  dem  Rand.  Sir  Godfrey  Lagden  früher  Administrator 
von  Basutoland,  berichtet,  daß  die  Häuptlinge  sagten :  „Wir  wollen  nicht, 
daß  unsere  Leute  nach  Johannesburg  gehen,  denn  sie  gehen  dahin,  um 
zu  sterben."  Und  Mr.  Grant,  einer  der  besten  Kenner  der  Arbeiter- 
frage in  Südafrika,  sagte  vor  der  Kommission  aus,  daß  die  heutigen 
Schwierigkeiten  das  Resultat  falscher  Maßnahmen  in  der  Vergangenheit 
seien. 

Fast  ohne  Ausnahme  sind  die  Ingenieure  der  Randminen  der 
Überzeugung,  daß  ein  Betrieb  mit  ungelernten  weißen  Arbeitern  nicht 
möglich  sei.  Dem  gegenüber  hält  Mr.  Cresswell  daran  fest  und  gibt 
in  einem  Briefe  an  die  Times  (1.  Febr.  1904)  die  Resultate  seiner 
Versuche  mit  weißen  Arbeitern  in  der  Village  Main  Reef  Mine,  die  der 
beste  Beweis  für  die  Ausführbarkeit  seines  Vorschlages  sind: 

„Arbeit  in  den  Cyanidewerken :  Kosten  per  Tonne  Juli  1 899  (Kaffern) 
5,30  d  per  ton;  Kosten  per  Tonne  Juli  1903  (Kaffern  fast  sämtlich  durch 
ungelernte  Weiße  ersetzt)  4,92  d  per  Tonne. 

Arbeit  in  der  Stampfmühle :  Kosten  per  Tonne  Juli  1899  (Kaffern) 
4,83  d  per  Tonne;  Juli  1903  (Kaffern  durch  ungelernte  Weiße  ersetzt), 
4,25  d  per  Tonne. 


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4i6 


Miszellcn. 


Bohrarbeit  usw.:  Mai  bis  August  1899  (KarTern)  7  sh  0,64  d  per 
Tonne;  Juli  und  August  1903  (ungelernte  Weiße)  6  sh  9,46  d  per  Tonne. 

Die  große  Schwierigkeit  liegt  darin,  daß  die  Weißen  in  den  Kolonien 
es  für  entwürdigend  halten,  Arbeiten  zu  verrichten,  die  von  Schwarzen 
getan  werden;  tausend  englische  Erdarbeiter,  die  von  der  Regierung 
zur  Verwendung  bei  Eisenbahnbauten  hinausgeschickt  wurden,  mußten 
nach  einiger  Zeit  wieder  zurücktransportiert  werden,  weil  sie  sich  die 
Vorurteile  ihrer  Umgebung  aneigneten  und  mit  der  Arbeit  unzufrieden 
wurden. 

Trotzdem  es  allerdings  untunlich  erscheint,  die  Minen  mit  gemischten 
Arbeitern  zu  betreiben,  so  scheint  die  Möglichkeit  in  einigen  nur  Weiße 
und  in  anderen  nur  Schwarze  zu  verwenden,  nicht  genügend  diskutiert 
worden  zu  sein.  Ebensowenig  hat  die  Regierung  versucht,  die  Haupt- 
schwierigkeit, die  sich  der  Verwendung  weißer  Arbeiter  entgegenstellt  — 
die  enorme  Kostspieligkeit  des  Lebensunterhaltes  infolge  der  hohen 
Eisenbahn-  und  Dampferfrachten  —  aus  dem  Wege  zu  räumen.  Dazu 
kommt  die  Abneigung  der  Bergwerksbesitzer  gegen  eine  zahlreiche  weiße 
Arbeiterbevölkerung,  aus  Furcht  vor  dem  Entstehen  einer  starken 
Arbeiterpartei,  die  —  wie  in  Australien  —  nicht  nur  die  Lohnfrage, 
sondern  auch  andere  rein  politische  Fragen  in  den  Bereich  ihrer  Wirk- 
samkeit ziehen  könnte. 

Die  Argumente,  die  sonst  noch  Mir  die  Zulassung  chinesischer 
Arbeiter  vorgebracht  werden,  sind  keineswegs  durchschlagend.  Allerdings 
fanden  sich  im  gesetzgebenden  Rate  nur  vier  Stimmen  gegen  die  Zu- 
lassung und  auch  vier  Burenvertreter  stimmten  dafür;  auch  wurde  eine 
dahingehende  von  47  000  Personen  unterzeichnete  Petition  dem  Gouverneur 
Lord  Milner  überreicht,  aber  selbst  dieser  mußte  zugeben,  daß  in  ganz 
Südafrika  zahlreiche  Leute  prinzipiell  gegen  die  Einführung  fremder 
Arbeiter  seien. 

Die  Regierung  in  England  und  in  Transvaal  gibt  selbst  zu,  daß  eine 
unbegrenzte  chinesische  Einwanderung  unheilvoll  sein  würde.  Alles 
wird  also  davon  abhängen,  ob  die  aufgestellten  Regulativen  wirklich 
eine  dauernde  Niederlassung  verhindern  werden,  ohne  einen  Zustand  zu 
schaffen,  der  von  Sklaverei  kaum  zu  unterscheiden  ist.  Wenn  dabei  von 
Seiten  der  Regierungsvertreter  Vergleiche  wie  der  mit  der  Ableistung 
des  Militärdienstes  gebraucht  werden,  und  wenn  der  Pfarrer  einer  Kirche 
in  Johannesburg  sagt,  daß  die  Gelegenheit  zu  Missionsarbeit  in  den 
Compounds  ihm  die  Sache  sehr  wünschenswert  erscheinen  ließe,  so 
richtet  sich  das  von  selbst.  Was  die  Chinesen  selbst  von  den  Bestim- 
mungen denken,  unter  denen  die  Zulassung  ihrer  Landsleute  gestattet 
werden  soll,  geht  aus  den  Zusatzbedingungen  hervor,  die  der  chinesische 
Gesandte  verlangte:  „Daß  der  Arbeitgeber  oder  sein  Beauftragter  den 
Arbeiter  nicht  körperlich  züchtigen  dürfe  und  daß  Übertretung  dieser 
Vorschrift  eine  gesetzliche  Strafe  nach  sich  ziehen  solle;  daß  der  „Im- 


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Henry  W.  Macrosty,  Die  Arbeiterfrage  in  Südafrika. 


porteur"  selbst  Arbeitgeber  und  nicht  „Händler  oder  Spekulant  in  Arbeit" 
sein  solle ;  daß  die  Überlassung  oder  Übertragung  des  Arbeiters  an  einen 
anderen  Arbeitgeber  nur  mit  der  Zustimmung  des  Betreffenden  selbst 
und  unter  Billigung  des  Konsuls  zulässig  sein  solle.  Dies  wäre  not* 
wendig  um  zu  verhindern,  daß  der  importierte  Arbeiter 
als  Ware  behandelt  würde."!! 

Der  Versuch  der  Regierung  im  Parlamente  ein  Tadelsvotum  für 
Einbringung  des  Gesetzentwurfes  zu  erteilen,  wurde  im  Unterhaus  mit 
5 1  Stimmen  abgewiesen,  ein  anderer,  denselben  nicht  in  Kraft  zu  setzen 
bis  die  Ausführungsbestimmungen  dem  Parlament  vorgelegt  seien,  mit 
56  Stimmen.  Die  endgültige  Billigung  des  Vorgehens  der  Regierung 
erfolgte  mit  einer  Mehrheit  von  57,  gegenüber  der  regulären  Regierungs- 
majorität von  106. 

Ein  Punkt  bleibt  ganz  im  Dunkeln:  den  Chinesen  soll  gestattet 
sein,  ihre  Familien  mitzubringen,  aber  wie  weit  diese  den  für  die  Ar- 
beiter geltenden  Vorschriften  unterworfen  sein  sollen,  wird  nicht  gesagt. 
Die  Regelung  aller  Details  betr.  Zwang  zur  Einhaltung  der  kontraktlichen 
Bedingungen,  Rücksendung,  Kontrolle  der  Familien,  Verhütung  von 
Desertation  usw.  wird  der  lokalen  Regierung  in  Transvaal  überlassen. 
Die  englische  Regierung  hat  sich  zu  keiner  zeitlichen  Beschränkung  der 
Chineseneinfuhr  verstehen  wollen  und  es  ist  wenig  wahrscheinlich,  daß 
die  Nachfrage  nach  billigen  Arbeitskräften  abnehmen  wird,  wenn  erst 
die  tieferliegenden  Schichten  der  Minen  aufgeschlossen  werden.  Sir 
William  Harcourt  hat  dies  vorausgesehen,  als  er  sagte:  „Im  Interesse 
der  minderwertigen  Erze  müssen  wir  eine  minderwertige  Kolonie  schaffen." 

Die  Würfel  sind  jetzt  gefallen:  Unter  dem  ausgesprochenen  Wider- 
spruch der  australischen  Kolonien  und  dem  unverhüllten  Widerwillen 
der  meisten  Engländer  wird  das  gefährliche  Experiment  versucht  werden ; 
aber  vielleicht  nie  waren  die  Aussichten  für  ein  demokratisch  regiertes 
und  wirtschaftlich  gesundes  Südafrika  so  düster  als  jetzt,  wo  der  Schatten 
chinesischer  Arbeit  auf  das  Land  fällt. 


Archiv  für  Soiialwiwetuchaft  u.  Soitalpolitilc.  1.    ( A.  f.  so*.  G.  u.  St  XIX.)  2.  27 


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4i8 


Kritische  Anmerkungen  zur  revisionistischen 

Agrarpolitik. *) 

Von 

Dr.  O.  PRIXGSHEIM 

in  Hreslau. 

Der  landwirtschaftliche  Großbetrieb,  insbesondere  das  Rittergut  in 
Ostelbien  wurde  von  mir  in  einem  früheren  Artikel  als  „Manufaktur" 
bezeichnet.  *)  Es  sollte  natürlich  damit  nicht  behauptet  werden,  daß 
die  spezialisierte  ausgebildete  Arbeitsteilung  etwa  der  Nadelmanufaktur 
sich  in  der  Landwirtschaft  wiederhole.3)  „Solche  gesellschaftliche 
Großbetriebe,  in  denen  wesentliche  Teile  des  Produktionsprozesses  noch 
durch  Handarbeit  ausgeführt  werden,  erklärt  Sombart,  nennen  wir 
Manufaktur."4)  Ergänzend  hat  neuerdings  J.  German  hinzugefügt: 
„Das  Kriterium  des  handarbeitenden  Verfahrens  ist  nicht  erschöpfend 
für  den  Unterschied  zwischen  Fabrik  und  Manufaktur.  Nur  dann  ist 
ein  Betrieb  Manufaktur,  wenn  außer  diesem  Kriterium  noch  ein  relativ 
geringer  Umfang  der  Arbeitsmittel  zu  konstatieren  ist." a)  Im  Sinne 
dieser  beiden  Definitionen  darf  man  einen  Teil  der  deutschen  Land- 
wirtschaftsbetriebe, namentlich  die  meisten  Rittergüter,  als  „Manufakturen" 
betrachten.  Denn  die  Handarbeit  ist  trotz  Maschinenverwendung  in 
diesen  Wirtschaften  vorherrschend.    Die  Produktionsmittel  haben  einen 


J)  Eduard  David,  Sozialismus  und  Landwirtschaft.    Erster  Band:  Die  Be- 
triebsfrage.   Berlin  1903.  Verlag  der  Sozialistischen  Monatshefte  (702  S.). 
2)  Archiv  für  soziale  Gesetzgebung,  XV.  S.  406  f. 

s)  Daß  die  Arbeitsteilung  in  der  Landwirtschaft  nicht  voll  entwickelt  ist,  ist 
richtig.  Dies  ist  aber  keineswegs  ein  Vorteil.  Neuerdings  hat  Gewerberat  Mentc 
beobachtet,  daß  der  Wechsel  der  landwirtschaftlichen  Arbeiten  die  Unfallgefahr  erhöht. 

*)  Sombart,  Die  deutsche  Volkswirtschaft  im  19.  Jahrhundert.  S.  352. 

fi)  J.  German,  Die  Grenzen  für  die  Automatisierung  des  Produktionsprozesses. 
Neue  Zeit  Nr.  41  1903. 


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O.  Pringsheim,  Kritische  Anmerkungen  zur  revisionistischen  Agrarpolitik.  419 

verhältnismäßig  geringen  Umfang;  viele  Güter  ergänzen  ihr  Inventar 
bei  Lohnunternehmungen,  von  denen  sie  Dreschmaschinen,  Dampfpflüge, 
zuweilen  auch  Fuhrwerk  entleihen.  Es  ist  somit  das  Rittergut  ein 
halber  Großbetrieb. 

Durch  diese  Definition  gelangt  man  zu  einer  richtigeren  Auf- 
fassung der  landwirtschaftlichen  Entwicklung  als  es  Eduard  David 
möglich  war.  Eine  Kritik  seines  Werkes  wird  zeigen,  wie  notwendig 
eine  neue  Untersuchung  der  landwirtschaftlichen  Betriebsformen  ist. 

I. 

David  verfällt  in  den  Fehler  der  meisten  agrarstatistischen  Unter- 
suchungen. Er  kennt  nur  die  Kategorien  landwirtschaftlicher  Großbetrieb 
und  Kleinbetrieb  und  bestimmt  diese  hauptsächlich  nach  der  Größe  der 
Anbaufläche.  Gelegentlich  allerdings  erkennt  der  revisionistische  Theo- 
retiker selbst  an,  daß  die  Berücksichtigung  lediglich  der  Anbaufläche 
irreführend  sein  kann.  So  heißt  es:  „Es  liegt  auf  der  Hand,  daß  mit 
der  Größenbestimmung  von  2 — 20  ha  die  Kategorie  der  Kleinbetriebe 
nicht  so  scharf  umgrenzt  ist.  Je  nach  der  klimatischen  Lage,  der 
Bodengüte,  der  Produktionsrichtung  und  der  Intensität  der  Betriebe  ist 
das  zum  Unterhalt  einer  Familie  erforderliche  Areal  größer  oder  kleiner. 
Für  hochintensive  Gemüse-,  Obst-,  Wein-  und  Handelsgewächsbetriebe 
fällt  die  Größenklasse  von  5 — 10  ha  schon  in  die  Gruppe  der  Mittel-, 
die  von  10—20  ha  schon  in  die  Gruppe  der  Großbetriebe. ')  Nichts- 
destoweniger stellt  David,  um  die  Überlegenheit  des  Kleinbetriebes 
darzutun,  die  ganze  Gruppe  von  2 — 20  ha  der  Gruppe  von  100  ha 
und  mehr  gegenüber.  Dann  vergleicht  er  aber  nicht  mehr  Klein- 
betriebe mit  Großbetrieben,  sondern  nach  eigenem  Geständnis  Groß- 
betriebe der  einen  Art  mit  Großbetrieben  anderer  Art.  Umgekehrt 
sind  in  der  Klasse  von  100  ha  und  mehr  nicht  lediglich  Großbetriebe 
enthalten.2) 

Abgesehen  von  diesem  Fehler  ist  es  ganz  irrig,  die  reinbäuerlichen 
Selbstwirtschafter  mit  dem  Inhaber  der  Betriebe  von  2 — 20  ha  zu 
identifizieren.    Rauchberg  bemerkt:  „Der  landwirtschaftliche  Mittel- 


')  David,  a.a.O.  S.  49,  50. 

*)  „In  den  ungünstigen  Distrikten  der  Kreise  Karthaus,  Bcrend  und  Tuchel 
werden  unter  Umständen  Güter  bis  zu  1000  Morgen  (250  ha)  den  Bäuerlichen  zu- 
gezählt und  in  bäuerlicher  Art  bewirtschaftet."  Sehr,  des  Ver.  f.  Sozialpolitik.  Bd.  55 
S.  242.  In  den  Kreisen  Elbing,  Marienburg  usw.  herrscht  der  großbäuerliche  Besitz. 
Die  Besitzer  arbeiten  in  der  Erntezeit  mit,  die  Güter  betragen  bis  zu  100  ha  stellen- 
weise auch  mehr."  a.a.O.  Bd.  55  S.  200.  —  Größere  Bauern  —  bis  125  ha  - 
im  Kreise  Birnbaum  a.  a.  O.  S.  439. 

27» 


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42o 


Miszcllen. 


stand  fängt  erst  bei  Landgütern  von  solcher  Größe  an,  daß  sie  den 
Inhaber  und  seine  Familie  zu  ernähren  vermögen.  Hierfür  ist  die  von 
dem  Zählungswerk  gezogene  Untergrenze  von  2  ha  Betriebsfläche  ent- 
schieden zu  niedrig  gegriffen  auch  die  Stufe  von  2 — 5  ha  um- 
faßt jedenfalls  zum  großen  Teil  Parzellenbesitz,  so  daß  die  hierher- 
gehörigen formell  selbständigen  Landwirte  eher  zur  unbemittelten  Klasse 
als  zum  landwirtschaftlichen  Mittelstand  zu  rechnen  sind."  Dann  scheidet 
aber  ein  großer  Teil  der  von  David  in  Betracht  gezogenen  Betriebe 
aus,  wenn  man  die  Lage  der  reinbäuerlichen  Wirtschaft  untersuchen 
will.  Aber  auch  nach  oben  hin  muß  die  Gruppe  von  2  —  20  ha  ver- 
mindert werden.  David  selbst  bemerkt:  „Beim  Anbau  von  feinem 
Gemüse  genügt  1  ha  um  die  Bauernfamilie  voll  zu  beschäftigen,  bei 
Hackfruchtbau  3 — 5  ha,  bei  Roggenbau  10 — 20  ha.1)  Wir  müssen 
also  annehmen,  daß  die  meisten  Betriebe  über  15  ha  fremde  Hilfs- 
kräfte beschäftigen  und  daher  nicht  zu  dem  lediglich  mit  Familienmit- 
gliedern wirtschaftenden  Bauerstande  gehören.  Aber  selbst  wenn  wir 
die  Klasse  von  2 — 20  ha  entsprechend  reduzieren,  sind  die  Schluß- 
folgerungen, die  David  aus  ihrem  Wachstum  zieht,  nicht  vollauf  ge- 
rechtfertigt. Die  Anbaufläche  wäre  nur  dann  ein  zutreffender  Maßstab 
der  Bedeutung  eines  Landwirtschaftbetriebes,  wenn  die  in  der  Wirtschaft 
wirksamen  Kapitalien  genau  der  Anbaufläche  proportional  wären.  Leider 
hat  sich  die  Statistik  nur  wenig  mit  dieser  Frage  befaßt.  Doch  scheint 
aus  den  Untersuchungen ,  die  L  a  u  r  für  die  Schweiz ,  von  S  e  e  1  - 
hörst  für  Deutschland  angestellt  hat,  hervorzugehen,  daß  der  Kapital- 
aufwand mit  zunehmender  Betriebsgröße  für  die  Flächeneinheit  ab- 
nimmt. *)  Sollte  dies  der  Fall  sein,  so  erscheinen  bei  Vergleichung  der 
Anbauflächen  die  Wirtschaften  mit  kleinem  Areal  unbedeutender  als  sie 
in  Wirklichkeit  sind.  —  Eine  weitere  Fehlerquelle  entspringt  aus  dem 
Umstand,  daß  David  den  bäuerlichen  Nebenerwerb  nicht  richtig  ver- 
anschlagt. Kr  will  sich  nicht  mit  den  Zwergbesitztüraern,  die  nicht 
volle  Existenz  und  Beschäftigung  gewähren,  befassen,  sondern  mit  dem 
Schicksal  der  kleinen  reinbäuerlichen  Selbstbewirtschafter ,  d.  h.  der 
kleinen  Landwirte,  die  eines  Nebenerwerbes  nicht  bedürfen.*)  Will 
David  etwa  behaupten,  daß  der  Nebenerwerb  nur  für  die  Parzellen- 
betriebe unter  2  ha  von  Bedeutung  ist?  Die  Statistik  weist  im  Gegen- 
teil nach,  daß  von  100  selbständigen  Landwirten  in  der  Klasse  von 
2 — 5  ha  noch  25,54  Proz.  einen  Nebenberuf  hatten.  In  der  Gruppe 
von   5 — 20  ha  noch  15,26  Proz.  und  selbst  in  der  Gruppe  von  20  — 


J)  David  S.  651. 

*)  Vgl.  von  Seclhorst,  Deutsche  landwirtschaftliche  Presse  Nr.  42,  1903 
und  A.  H.  Hüllmann,  die  Landwirschaft  im  Kreise  Bonn  (1903)  S.  33. 

•j  David  S.  512,  513. 


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O.  Pringsheim,  Kritische  Anmerkungen  zur  revisionistischen  Agrarpolitik.    42 1 

100  ha  noch  8,32  Proz.  *)  Und  ist  für  die  Gastwirte,  Mühlenbesitzer, 
Milchpächter  nicht  der  Nebenerwerb  die  Hauptsache,  der  Grund,  der 
ihren  Landwirtschaftsbetrieb  existenzfähig  macht? 

Aus  den  vorangegangenen  Erörterungen  kann  man  ersehen,  daß  es 
prinzipiell  unzulässig  ist,  die  Größenklassen  der  Reichsstatistik  als  öko- 
nomische Kategorien  anzusehen  und  sie  für  die  Frage  des  landwirt- 
schaftlichen Großbetriebes  zu  verwerten.  Ist  somit  die  Grundlage  der 
Beweisführung  Davids  hinfällig,  so  läßt  sie  sich  auch  im  einzelnen 
anfechten.  David  verweilt  besonders  gern  bei  den  reichsstatistischen 
Aufnahmen  von  1882  und  1895  und  verweist  mit  besonderem  Nach- 
druck auf  die  Tatsache,  daß  der  Arealzuwachs  der  landwirtschaftlichen 
Betriebe  von  2 — 20  ha  nicht  weniger  als  659259  ha  während  jener 
13  Jahre  betragen  habe.  Damit  sei  bewiesen,  daß  der  Großbetrieb  im 
Niedergang,  die  Betriebe  der  bäuerlichen  Selbstwirtschafter  dagegen  im 
kräftigsten  Aufschwung  befindlich  seien. 

Man  muß  sich  jedoch  erinnern,  daß  zwischen  1882  und  1895  die 
preußische  Rentenguts-  und  Ansiedlungsgesetzgebung  auf  etwa  1 30  000  ha 
neue  Bauernstellen  schuf.  Der  Erfolg  der  gesetzgeberischen  Maßnahmen 
beweist  nichts  für  ein  aus  eigener  Kraft  erfolgendes  Aufsteigen  des 
Bauernstandes.8)  Nun  sind  allerdings  auch  zahlreiche  private  Par- 
zellierungen erfolgt.  Aber  das  Opfer  dieser  waren  weit  mehr  die 
Großbauern  als  die  Rittergutsbesitzer.  8) 

Ein  Teil  des  Arealzuwachses  der  Kleinbetriebe  ist  offenbar  aus  rein 
formalen  Gründen  zu  erklären.  Gegen  1882  wurde  1895  eine  um 
3  106  661  ha  größere  Gesamtfläche,  eine  um  648969  ha  oder  2,03  Proz. 
größere  landwirtschaftlich  benutzte  Fläche  von  der  Reichsstatistik  ermittelt. 
Es  ist  wahrscheinlich,  daß  der  größere  Teil  der  neu  aufgenommenen 
Betriebsfläche  auf  Kleinbetriebe  entfällt.  Denn  die  größere  Genauigkeit 
der  Erhebung  von  1895  machte  sich  vor  allem  bei  den  Kleinbetrieben 


')  Otto  Most,  Der  Nebenerwerb  in  seiner  volkswirtschaftlichen  Bedeutung. 
Jena  1903,  S.  43. 

*)  In  der  Provinz  Posen  ist  die  Vermehrung  der  Betriebe  von  2 — 20  ha  fast 
ausschließlich  auf  die  behördliche  Tätigkeit  zurückzuführen.  „Darnach  hätten  die 
Grobbauern  in  der  Provinz,  ebenso  wie  die  Kleinbauern  im  Bezirk  Bromberg  etwas 
zugenommen.  Doch  diese  Zunahme  ist  nicht  natürlich,  sondern  eine  Folge  der 
Tätigkeit  der  Ansiedelungs-  und  Generalkommission  .  .  .  nach  Groflmanns  Berech- 
nung sind  bloß  durch  jene  beiden  Behörden  Ii 70  Besitze  über  5  ha  mit  20751  ha 
entstanden,  so  daß  die  Provinz  Posen  von  1878— 1893  ohne  diese  Tätigkeit  1508  Be- 
sitze mit  22452  ha  verloren  hätte.  Leo  Wcgener,  „Der  wirtschaAliche  Kampf 
der  Deutschen  mit  den  Polen  um  die  Provinz  Posen." 

*)  Wcgener  a.a.O.  S.  114. 


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Miszellen. 


geltend,  namentlich  bei  den  mit  Forstfläche  verbundenen  Landwirtschafts- 
betrieben, den  Gärtnereibetrieben  und  den  Deputatländereien. ') 

Der  Arealzuwachs  der  Kleinbetriebe  ist  also  wesentlich  geringer, 
als  David  annimmt.  Auch  das  weitere  statistische  Material,  das  er 
zuungunsten  des  Großbetriebes  vorführt,  ist  anfechtbar.  „In  den  kleinen 
zwergbäuerlichen  Betrieben  kommen  doppelt  und  dreimal  soviel  Stück 
Großvieh  auf  die  gleiche  Fläche,  wie  in  den  Großbetrieben  über 
100  ha."  Da  die  Großbetriebe  große  Waldflächen,  *)  Gewässer,  Park, 
Hofräume  umschließen,  auf  die  kein  Vieh  verrechnet  werden  kann,  so 
erklärt  schon  dieser  Umstand  zum  Teil  die  schwächere  Viehhaltung  der 
Großbetriebe.  Die  Möglichkeit,  Dampfpflüge  zu  benutzen,  Dünger  zu- 
zukaufen, und  dadurch  den  Viehstand  einzuschränken,  bedeutet  wirt- 
schaftliche Kraft,  nicht  Schwäche.  Wenn  übrigens  die  Betriebe  über 
100  ha  von  1882 — 1895  ihren  Pferdebestand  um  10,8  Proz.,  ihr  Rind- 
vieh um  27,3  Proz.  und  ihre  Schweinehaltung  um  85  Proz.  vermehrten, 
so  deuten  diese  Ziffern  nicht  darauf  hin,  daß  die  Viehwirtschaft  des 
Großbetriebes  zugunsten  des  Kleinbetriebes  abdanken  wird.  David 
spricht  von  der  Viehhaltung  der  kleinsten  und  kleinen  Betriebe.  Die 
Reichsstatistik  warnt  ausdrücklich  davor,  die  Viehhaltung  der  Parzellen- 
betriebe  ohne  Einschränkung  mit  den  anderen  Größenklassen  zu  ver- 
gleichen, da  dort  das  Vieh  nicht  bloß  mit  dem  Ertrag  der  zugehörigen 
Fläche,  sondern  mittels  anderer  Hilfsquellen  ernährt  wird.3)  David 
dagegen  formuliert  ein  allgemeines  ökonomisches  Gesetz,  daß  der  Tier- 
bestand der  Flächeneinheit  mit  der  Kleinheit  des  Betriebsareals  wächst.4) 
David  spricht  in  diesem  Zusammenhang  auch  von  der  blühenden  Vieh- 
zucht der  Bauern  in  Oldenburg,  Schleswig-Holstein  usw.  Er  Übersicht 
nur  die  Kleinigkeit,  daß  die  Marschenwirtschaften  zu  den  kapitalinten- 
sivsten Betrieben  überhaupt  gehören.  Das  Viehkapital  beträgt  dort 
400 — 500  Mk.  pro  ha,  während  in  sächsischen  Rübenwirtschaften  nur 
180  Mk.  berechnet  werden.5)  Das  gehört  also  mehr  auf  das  Konto 
des  Großbetriebes,  als  des  Kleinbetriebes.  Aber  angenommen,  die  von 
David  berechneten  viehstatistischen  Ziffern  gelten  ohne  Einschränkung, 
was  wird  damit  bewiesen?  „Mit  den  einfachen  Zahlen,"  bemerkt 
von  Ollech  sehr  richtig,  „ist  es  damit  nicht  getan,  man  muß  auch 
untersuchen,  wie  es  mit  der  Qualität  beschaffen  ist,  es  gibt  auf  diesen 


')  StaL  d.  D.  R.,  N.  F.  Bd.  1 1 2  S.  9. 

*)  David,  Neue  Zeit,  18.  Jahrg.  1899— 1900.  S.  229  erwähnt  selbst  Betriebe 
über  1000  ha  ganz  ohne  Nutzvieh,  also  Waldkomplexe. 
*)  Stat.  d.  D.  R.,  N.  F.  Bd.  112  S.  31. 
4)  David,  S.  674. 

*)  B.  Skalweit,  Die  ökonomischen  Grenzen  der  Intensivierung  der  Land- 
Wirtschaft  (1903)  S.  12,  47  und  60.  Vgl.  auch  Ziegenbein,  Die  Viehzucht  im 
Großhcrzogtum  Oldenburg  1903,  S.  17. 


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O.  Pringsheim,  Kritische  Anmerkungen  zur  revisionistischen  Agrarpolitik.  423 

kleinen  Besitzungen  miserabel  ernährtes  Vieh  ...  da  kommt  man  mit 
der  geringeren  Stückzahl  auf  großen  Gütern  doch  weiter."  *) 

Befriedigt  die  statistische  Behandlung  der  Streitfragen  nur  wenig, 
so  klärt  uns  auch  die  prinzipielle  Erörterung  Davids  über  Großbetrieb 
und  Kleinbetrieb  kaum  auf.  Hierbei  wird  auf  mehr  zufällige  Erschei- 
nungen zu  großes  Gewicht  gelegt.  So  läßt  sich  die  mangelhafte  Buch- 
führung des  Kleinbetriebes  ebenso  leicht  verbessern,  wie  die  ungenügende 
Beaufsichtigung  der  Arbeiter  im  Großbetriebe.  Wichtiger  wäre  es,  wenn 
der  Vorwurf  erhöhter  Viehseuchengefahr,  den  David  den  großen  Gütern 
macht,  begründet  wäre.  Indessen  widerlegt  er  sich  selbst.  Er  berichtet, 
daß  die  Maul-  und  Klauenseuche  1899  nicht  weniger  wie  162657  Ge- 
höfte mit  1885774  Rindern  befallen  habe.  Und  diese  Ziffer  beweist, 
daß  die  Ansteckung  nicht  vor  den  bäuerlichen  Ställen  Halt  macht.  — 
Die  Anklage,  daß  der  Großbetrieb  den  Boden  ausraube,  wird  durch 
einige  Reminiszenzen  aus  Liebig  nicht  erledigt.  Wenn  durch  Raub- 
bau gesündigt  wird,  so  geschieht  es  von  großen,  wie  von  kleinen 
Wirten.  -) 

Großes  Gewicht  legt  unser  Apologet  des  Kleinbetriebes  auf  den 
Umstand,  daß  im  letzteren  das  Inventar  besser  geschont  wird,  als  die 
Geräte  des  Großbetriebes  von  nachlässigen  und  rohen  Knechten.  Die 
Tatsache  ist  unbestritten,  jedoch  nicht  von  entscheidender  Bedeutung, 
denn  im  Durchschnitt  von  1525  Betrieben  machten  die  Ausgaben  für 
Instandhaltung  des  Inventars  und  der  Gebäude  nur  7,8  Proz.  der  Ge- 
samtausgabe aus. :t)  Überdies  wird  dieser  Vorteil  der  Kleinbetriebe  durch 
die  größere  Höhe  seines  Gebäudekapitals  wieder  ausgeglichen.4) 

*)  von  Ollech,  Über  Zölle  und  kleine  Mittel  zur  Erhebung  der  Landwirt- 
schaft (1901)  S.  26.  Vgl.  Über  die  Minderwertigkeit  des  kleinbäuerlichen  Viehes 
auch  Hollmann  a.a.O.  S.  105.  Otto  Grciß,  Die  wirtschaftliche  und  soziale 
Bedeutung  der  Latifundien  mit  besonderer  Bezugnahme  auf  Böhmen  S.  1 10. 
Klawki  in  Thiels  landwirtschaftlichen  Jahrbüchern,  Bd.  28.  1899  S.  446.  Illu- 
strierte landw.  Zcitg.  Nr.  26  1903.  Nach  Schätzungen  betrug  1895  das  Lebend- 
gewicht der  Kühe  in  den  östlichen  preußischen  Provinzen  und  Mecklenburg  durch- 
schnittlich 419  kg,  in  den  großbäuerlichen  Distrikten  (Schleswig- Holstein,  Olden- 
burg usw.)  durchschnittlich  453  kg,  in  Süddcutschland  und  Rheinland  durchschnitt- 
lich 410  kg. 

e)  Neuerdings  hat  Stoklasa  darauf  hingewiesen,  daß  die  österreichische 
Landwirtschaft  ein  enormes  Defizit  an  Kali  hat.  Die  bäuerlichen  Kronländer  sind 
daran  mehr  beteiligt,  als  die  Regionen  des  Großgrundbesitzes,  Böhmen  und  Mähren. 

3)  Deutscher  Landwirtschattsrat :  Die  Ergebnisse  der  Erhebungen  über  die 
Rentabilität  bestimmter  Landwirtschaftsbetriebe  im  Jahre  1898  S.  508. 

4)  Gebäudewert  pro  ha  291  Mk.  in  Westpreußen,  342  Mk.  in  Posen,  510  Mk. 
in  Schlesien,  dagegen  709  Mk.  im  Rheinland,  I0t8  Mk.  im  Regierungsbezirk  Wies- 
baden, Hohcnzollern  698  Mk.,  Baden  660  Mk. 


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Miszellen. 


Eine  sehr  wesentliche,  aber  von  David  nicht  beachtete  Schwäche 
des  Großbesitzes  in  seinem  jetzigen  Betriebsumfang  ist  das  Einbeamten- 
system. Während  in  der  Industrie  sich  mehrere  Beamte  gegenseitig  be- 
obachten, spielt  auf  den  meisten  Großgütem  der  Wirtschaftsbeamte  die 
Rolle  des  Betriebsleiters,  Buchhalters  und  Kassierers  in  einer  Person. 
Nebenbei  ist  er  oft  noch  Amtsvorsteher  und  Gemeindeschreiber.  Durch 
diesen  Umstand  wird  die  Kontrolle  für  den  Besitzer  erschwert,  auch 
leiden  durch  die  Kumulierung  der  Funktionen  einzelne  derselben.  — 
Ein  Vorteil  des  Kleinbetriebes  gegenüber  dem  Großbetriebe  ist  aller- 
dings ebenso  wichtig,  wie  unbestreitbar.  Während  dieser  auf  seine  Lohn- 
arbeiter angewiesen,  durch  Interesselosigkeit  und  Widersetzlichkeit  schwer 
leidet,  arbeitet  der  Bauer  mit  seiner  Familie  mit  rastlosem  Fleiß  und 
tätigem  Interesse.  Diese  Darstellung  Davids  könnte  den  Anschein  er- 
wecken, als  ob  alle  Bauern  nur  mit  Familienangehörigen  arbeiten.  Nach 
Davids  eigener  Berechnung  kommen  auf  die  bäuerliche  Wirtschaft 
durchschnittlich  5,5  durch  verwandtschaftliche  Bande  verknüpfte  Personen 
und  2  volle  Arbeitskräfte  einschließlich  des  Betriebsinhabers. ')  Von 
den  6,5  Millionen  nicht  berufsmäßig  tätigen  Angehörigen  ist  ein  großer 
Teil  zu  jung  oder  zu  alt,  um  für  die  Wirtschaft  in  Frage  zu  kommen. 
Aber  auch  von  den  Erwachsenen  bleibt  ein  großer  Bruchteil  nicht  im 
Hause.  Von  1063  erwachsenen  Bauerntöchtern  im  Kreis  Steinburg  waren 
nur  214  bei  den  Eltern  tätig,  im  Kreis  Jüterbog-Luckenwalde  ist  das 
Verhältnis  314  zu  935,  im  Kreis  Gumbinnen  76  zu  168.  2)  Die  Söhne 
verlassen  natürlich  noch  in  größerer  Zahl  die  Heimat.  Aber  auch  wo 
die  Familienarbeitskräfte  vollzählig  zur  Verfügung  stehen,  gereicht  dies 
nicht  unbedingt  dem  bäuerlichen  Betrieb  zum  Vorteil.  „Die  bäuerlichen 
Wirtschaften  sind  vielfach  mit  Familienmitgliedern  überfüllt  .  .  .,  so  ist 
oft  eine  Tagelöhnerwirtschaft  besser  gestellt  als  die  mit  Verwandten  und 
Gesinde  überlastete  bäuerliche. 8) 

So  schwankt  das  Zünglein  der  Wage  hin  und  her.  Daß  jede  land- 
wirtschaftliche Betriebsgröße  ihre  eigenartigen  Vorzüge  und  Mängel  hat, 
ist  sicher.  Unbewiesen  aber  bleibt  auch  von  David  die  Lehre  vom 
nahen  Untergange  des  Großbetriebes  und  seines  bevorstehenden  Ersatzes 
durch  bäuerliche  Kleinbetriebe.    Der  Wunsch  ist  hier  der  Vater  des 


l)  David,  Soz.  Monatshefte  1903  Nr.  9  S.  659. 

*)  F.  Heiser-Harttung,  Die  Berufswahl  der  ländlichen  Jugend  und  das 
Schicksal  der  in  die  Städte  abgewanderten.  Thiels  landw.  Jahrb.  Bd.  33  (1903) 
S.  403  ff.  —  Die  Zahl  der  in  der  Landwirtschaft  mittätigen  Familienangehörigen 
nahm  von  1882— 1895  um  24209  ab,  in  Süddeutschland  betrug  die  Abnahme  sogar 
160252,  dieselbe  wird  durch  geringe  Zunahme  in  anderen  Gebietsteilen  teilweise 
kompensiert. 

•)  H.  Gr  oh  mann,  Betrachtungen  über  die  Wirtschaften  der  ländlichen  Tage- 
löhner.   Schmollcrs  Jahrb.  16  S.  217. 


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O.  Pringsheim,  Kritische  Anmerkungen  iur  revisionistischen  Agrarpolitik.  425 

Gedankens,  und  wenn  das  Genossenschaftswesen  dem  Kleinbetriebe  Flügel 
verleihen  soll,  so  werden  wir  später  auf  einige  Schranken  des  landwirt- 
schaftlichen Genossenschaftswesens  hinweisen. 

Jedenfalls  war  David  auf  Grund  seines  Materials  nicht  berechtigt, 
die  schroffsten  Verdammungsurteile  über  den  landwirtschaftlichen  Groß- 
betrieb zu  fällen.  Man  höre:  „Der  Großackerbau  hält  sich  nur  durch 
die  schandbarste  Menschenausbeutung  über  Wasser.  Der  landwirtschaft- 
liche Großbetrieb  hat  überall,  wo  er  in  der  Geschichte  aufgetreten  ist, 
seinen  bodenausraubenden  Charakter  gezeigt  Mühsam  auf  Zoll-  und 
Liebesabgabenkrücken  gestützt,  hielt  sich  der  Großackerbau  aufrecht." 

Mir  scheint,  daß  David  örtliche  und  zeitliche  Erscheinungen  zu 
rasch  verallgemeinert.  Als  guter  Lokalpatriot  denkt  er  stets  an  seine 
rheinisch-hessischen  Verhältnisse  und  vergleicht  sie  mit  gewissen  Groß- 
betrieben des  Ostens. l)  Aber  welche  Unterschiede  1  Hier  ein  frucht- 
bares, dicht  bevölkertes  Land  mit  klimatischen  Vorzügen,  ausgezeichneten 
Verkehrsmitteln,  glänzenden  Absatzverhältnissen  und  alter  Kultur.  Dort 
der  Boden  seit  Generationen  verqueckt  und  verdistelt,  entsetzliche  grund- 
lose Wege,  die  Ernte  am  Halm  verkauft  und  am  Wochenschluß  kein 
Geld  zur  Löhnung.  Welche  Gerechtigkeit,  diese  Unterschiede  zu  über- 
sehen und  dann  allgemeine  Schlüsse  über  den  Großbetrieb  zu  ziehen! 
Gibt  es  doch  noch  ein  ganz  anderes  Bild  des  landwirtschaftlichen  Groß- 
betriebs. ,,Wer  sehen  will,  was  intensiv  ist,  gehe  und  sehe  sich  den 
Betrieb  unserer  besten  Domänen  in  Sachsen  an  —  Barby,  Wanzleben, 
Benkendorf  —  und  wie  sie  alle  heißen.  Man  sehe  und  staune,  was 
dort  für  Zugvieh  sich  auf  Feldern  und  Straßen  bewegt  1  Man  gehe  in 
die  Ställe  und  sehe  das  Mastvieh,  die  Milchkühe  an,  man  beobachte, 
welche  Schiffsladungen  von  Kunstdünger,  von  Futterstoffen  verwendet 
werden!  Man  inspiziere  die  Maschinenschuppen  und  berechne  sich  das 
Kapital,  das  in  Dampfpflügen  und  besten  anderen  Maschinen  investiert 
ist.  Man  überschaue  aus  der  Vogelperspektive  die  Anzahl  von  Wohn- 
häusern, Ställen,  Scheuern,  Schuppen,  Lagerstätten,  die  mit  dem  Gesamt- 
betriebe verbundenen  Zuckerfabriken,  Brennereien,  Mühlen,  alles  nachts 
vom  elektrischen  Licht  bestrahlt,  und  man  weiß,  wie  die  Zentrale  einer 
intensiv  betriebenen  Wirtschaft  aussieht." 2)  Und  ist  es  etwa  in  Böhmen 
anders?  Die  Großkultur,  sagt  Otto  Greiß,  ist  es,  die  die  Einführung 
des  landwirtschaftlichen  Fortschritts  ermöglicht.  Die  Großwirte  sind  als 
die  alleinigen  Träger  der  Bodenkultur  in  Böhmen  anzusehen.8)  Selbst 

')  Wie  unwissenschaAlich  David  bei  solchen  Vergleichen  verfahrt,  zeigt  der 
Vergleich  der  Ernteerträge  in  Ostelbien  mit  Württemberg,  Baden  und  Hessen  (S.  425)* 
Abgesehen  von  der  Unsicherheit  der  Frntcstatistik  kann  man  nicht  ein  Gebiet  von 
200000  qkm  mit  Landstrichen  von  7681,  15081  und  19517  qkm  vergleichen. 

*)  H.  v.  Bismarck,  Der  intensive  Betrieb.    III.  landwirt.  Zeitg.  Nr.  92  1903. 

*)  Otto  Greiß,  a.  a.  O.  S.  33  u.  34. 


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426 


Miszellen. 


aus  dem  klassischen  Lande  des  Kleinbetriebs,  aus  Baden,  wird  berichtet : 
„Hervorragendes  auf  dem  Gebiete  der  wirtschaftlichen  Selbsttätigkeit 
leisten  die  Großwirtschaften  des  Landes.  Von  diesen  Wirtschaften  kann 
gesagt  werden,  daß  sie  technisch  und  kaufmännisch  auf  der  Höhe  der 
Zeit  stehen,  und  mit  Einrichtung  und  Betrieb  vorbildlich  auf  die  land- 
wirtschaftliche Bevölkerung  einwirken."  l) 

II. 

Wohin  steuert  nun  die  agrarische  Entwicklung  der  europäischen 
Völker?  Die  Rückkehr  zum  extensiven  Betrieb  verwirft  David  mit 
vollem  Recht.  Es  wäre  ein  Rückschritt  der  landwirtschaftlichen  und  der 
allgemeinen  Kultur.  In  erster  Reihe  aber  würden  die  Landarbeiter  hier- 
durch geschädigt.  Es  bleibe  nur  der  Übergang  zur  intensiven  Wirt- 
schaft. Je  intensiver  sich  diese  gestalte,  desto  größere  Aussichten  habe 
der  Kleinbetrieb.  Während  der  Getreidebau  immer  mehr  den  über- 
seeischen Gebieten  anheimfalle,  könne  die  Spatcnkultur  und  die  inten- 
sive Viehzucht  in  Deutschland  Eroberungen  machen. 

Eine  Ausdehnung  der  Obstgärten,  Gemüsekultur  usw.  ist  ebenso 
möglich  wie  wünschenswert.  Aber  in  dem  von  David  angenommenen 
Umfang  ist  sie  in  absehbarer  Zeit  nicht  zu  erwarten.  Wie  soll  das 
Gartengelände  auf  3  Millionen  ha,  auf  10  Proz.  der  landwirtschaftlichen 
Fläche  anwachsen,  wenn  heute  in  den  gärtnerisch  gesegnetsten  Gauen, 
im  Rheinlande,  nur  1,97  Proz.  der  Wirtschaftsfläche  diesem  Zwecke 
dienen.  „100000  Morgen  Meerrettich  mehr,  erklärte  Professor  Albert 
in  der  Winterversammlung  der  D.L.G.,  lassen  sich  ebensowenig  in  Deutsch- 
land verwerten,  wie  1 00  000  Morgen  mehr  Knoblauch."  -)  Noch  größere 
Erwartungen  hegt  David  hinsichtlich  der  Ausdehnungsfähigkeit  der 
Viehzucht.  Hier  eröffneten  sich  für  die  kleineren  Betriebe  die  glän- 
zendsten Chancen.  Es  sei  nicht  ausgeschlossen,  in  Deutschland  einen 
Viehstand  zu  erhalten,  der  das  Zehnfache  und  mehr  vom  heutigen  aus- 
mache. 8)  Voraussetzung  sei  allerdings  die  freie  Einfuhr  von  Kraft- 
futter. Von  Kraftfutter  allein  kann  das  Vieh  jedoch  nicht  leben.  Die 
klimatisch  für  Weidewirtschaft  begünstigten  Gegenden  Deutschlands  — 
Ostfriesland ,  Oldenburg,  Schleswig-Holstein,  teilweise  Ostpreußen  — 
nähern  sich  bereits  dem  von  David  gepriesenen  dänischen  Vorbild. 

')  Die  Lage  des  Ackerbaus  in  Baden.  Bericht  des  Domänendirektor  Hoff- 
mann, Jahrb.  d.  deutsch.  Landwirtschaft»  -  Gcscllsch.  Bd.  17  (1902)  S.  200.  — 
In  Galizien  bleibt  der  Kleinbetrieb  auf  vorzüglichem  Schwarzerdeboden  hinter  dem 
Großbetrieb  in  seinen  F.rnteerträgen  zurück.  In  einzelnen  Distrikten  sind  diese  um 
ein  Viertel  geringer,  als  im  Großbetrieb.  Zofia  Daszynska,  Soz.  Monatsh.  1903 
Nr.  5,  S.  351. 

»)  Verhandig.  der  Wintervers,  der  D.  L.  G.  1903,  S.  88. 
s)  David,  S.  672. 


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O.  Pringsheim,  Kritische  Anmerkungen  zur  revisionistischen  Agrarpolitik.  427 

Während  im  Reichsdurchschnitt  die  Einnahmen  aus  der  Viehhaltung 
40,1  Proz.  betragen,  steigen  sie  in  Schleswig-Holstein  auf  64,3  Proz.,  in 
Oldenburg  auf  63,5  Proz.,  in  Hannover  auf  58,7  Proz.  Ist  hier  eine 
sehr  wesentliche  Steigerung  kaum  denkbar,  so  läßt  sich  in  anderen 
Gegenden  die  Viehzucht  nicht  improvisieren.  Es  sind  —  oft  kost- 
spielige —  Stallbauten,  Körordnungen  und  andere  staatliche  Maßnahmen, 
gute  Wiesenverhältnisse  und  Ausdehnung  des  Futterbaues  notwendig, 
wenn  der  Viehstand  vergrößert  werden  soll. 

Nach  einer  von  landwirtschaftlichen  Autoritäten  gemachten  Berech- 
nung genügt  eine  Vermehrung  der  deutschen  Rindviehzucht,  um  8,8  Proz., 
wenn  der  Bedarf  der  Bevölkerung  gedeckt  werden  soll. 

Aber  selbst  angenommen,  die  Vermehrung  der  Viehwirtschaft  erfolge 
nach  Davids  Wünschen  und  Maßstäben,  so  würde  diese  keineswegs 
lediglich  den  kleinbäuerlichen  Betrieben  zugute  kommen.  Der  Groß- 
betrieb würde  unter  gewissen  nicht  unwahrscheinlichen  Umständen  seine 
Nutzviehhaltung  stark  ausdehnen  *)  und  auch  der  Import  von  Vieh- 
produkten aus  überseeischen  Gebieten  kann  noch  erheblich  steigen.2) 

David  freilich  räumt  rasch  mit  dem  Großbetrieb  auf:  „wir  stehen 
nicht  an,  die  Verwandlung  der  landwirtschaftlichen  Großbetriebe  in 
bäuerliche  Kleinbetriebe  als  erstrebenswertes  Ziel  hinzustellen."8)  Auch 
die  landwirtschaftliche  Brennerei  soll  beseitigt  werden,  vermutlich,  um 
dem  kleinen  Mann  den  Markt  für  SpeisekartofTeln  zu  verderben. 

Wir  sahen,  daß  die  Lage  des  landwirtschaftlichen  Großbetriebes 
noch  nicht  so  hoffnungslos  ist  wie  David  sie  darstellt.  Sie  würde  noch 
günstiger  werden,  wenn  es  gelänge,  den  elektrischen  Betrieb  allgemeiner 
als  bisher  zu  machen.  Freilich  begegnet  dieser  noch  mannigfachen 
Schwierigkeiten 4)  und  selbst  Elektrotechniker  denken  jetzt  recht  pessi- 
mistisch über  die  Aussichten  ihres  Gewerbes  auf  dem  Lande.  5) 

Aber  hätten  wir  die  elektrische  Kraftübertragung  nicht,  wir  müßten 
sie  heute  erfinden,  denn  zwei  wichtige  Probleme,  die  Elektrokultur  Ä)  und 

')  Im  Falle  des  Ersatzes  der  Zugtiere  durch  elektrische  u.  a.  Motoren,  vgl. 
meine  Berechnung,  Archiv  für  soz.  Gcsctzgebg.  Bd.  17,  S.  720  fr. 

»)  „Australien  hat  noch  unermeßlichen  Raum  zur  Ausdehnung  seiner  Viehzucht." 
Die  Landwirtschaft  Australiens  vom  landwirtschaftlichen  Sachverständigen  in  Sydney. 

')  David,  S.  699. 

*)  Vgl.  über  die  Schwierigkeiten  bei  Anwendung  des  elektrischen  Pfluges, 
Backhaus,  Das  Versuchsgut  Quednau,  S.  131.  Jedoch  erklärte  die  Güterdirektion 
Marschwitz,  daß  der  elektrische  Pflug  von  Jahr  zu  Jahr  sich  besser  einrichtet  und 
mehr  geleistet  wird.  Untersuchungen  elektrischer  Pfluganlagen.  Bericht  von  In- 
genieur M.  Schiller.    (Arbeiten  der  D.  L.  G.,  Heft  85),  S.  48. 

*)  Emil  Krell  er,  Die  Entwicklung  der  deutschen  elektrotechnischen  In- 
dustrie (Schmollers  Forschungen,  Bd.  22),  S.  34. 

°)  Vgl.  M.  E.  Guarini,  L'etat  actuel  de  lelectroculture  (1903). 


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428 


Miszellen. 


die  elektrische  Bindung  des  Luftstickstoffs *)  sind  ihrer  Lösung  näher 
gerückt,  und  schon  deshalb  brauchen  wir  die  Elektrizität  auf  dem  Lande. 

So  notwendig  eine  weitere  Verbilligung  der  Strompreise  ist,  so 
braucht  man  den  Kostenpunkt  nicht  allzu  ängstlich  erwägen.  „Denn  es 
handelt  sich  um  allmähliche  Bessergestaltung  des  Landlebens  überhaupt, 
um  die  Förderung  einer  intensiveren  Kultur. "  *)  Es  ist  allerdings  nicht 
ausgeschlossen,  daß  das  bereits  abgeschwächte  Interesse  am  elektrischen 
Betriebe  sich  bei  den  Landwirten  gänzlich  verliert. 

Gleichviel!  Die  Herrschaft  von  Ochs,  Pferd  und  Kuh,  welche 
David  für  gesichert  hält,  wird  auch  von  anderer  Seite  bedroht.  Die 
Maschinenzeitung  Nr.  21,  1903  bringt  unter  der  Überschrift  „Motor 
gegen  Pferd"  folgende  Mitteilung:  „Unaufhörliche  Regengüsse  während 
der  Erntemonate  haben  dieses  Jahr  die  Klagen  über  die  Unrentabilität 
des  Getreidebaues  in  England  noch  verstärkt.  In  der  „Agricultural 
Gazette"  hat  sich  daraufhin  eine  Debatte  entsponnen,  wieweit  die  Ver- 
wendung eines  Petroleummotors  für  die  gesamte  Bestellungs-  und  Ernte - 
arbeit  die  Produktionskosten  verbilligen  könne.  Ein  Herr  John  Scott 
aus  Edinburgh  geht  von  der  extremen  Voraussetzung  aus,  daß  sich 
sämtliche  landwirtschaftliche  Arbeiten  auf  einer  400  acres  großen  Farm 
mit  einem  Motortractor  bewältigen  ließen.  Er  berechnet  das  Inventar 
nach  der  alten  Wirtschaftsweise  auf  15260  Mk.,  auf  11  300  Mk.  nach 
der  neuen  Methode  und  nimmt  an,  daß  die  bisherigen  Arbeitskosten 
von  75  Mk.  für  1  ha  sich  auf  38  Mk.  bei  Motor  Verwendung  ermäßigen 
lassen."  Die  Berechnimg  im  einzelnen  wird  angefochten,  jedoch  fügt 
das  deutsche  Fachblatt  hinzu:  „Die  Frage  der  Motorverwendung  für  die 
Ackerarbeit  wird  jedenfalls  auch  bei  uns  nicht  sobald  aus  der  öffent- 


M  Durch  zwei  verschiedene  Methoden  werden  aus  der  Atmosphäre  Kalk* 
Stickstoff  und  Flammenbogenstickstoff  hergestellt,  die  beide  zur  Düngung  an  Stelle 
von  Salpeter  dienen  sollen.  Vgl.  F.  v.  Lcpel,  Die  Bindung  des  atmosphärischen 
Stickstoffs  insbesondere  durch  elektrische  Entladung  (1903).  E.  Büchner,  Be- 
ziehungen der  Chemie  zur  I^ndwirtschaft  S.  8  u.  9.  —  Ich  bemerke  bei  dieser  Ge- 
legenheit, daß  der  Vorschlag,  elektrochemische  Fabriken  auf  dem  Land  zu  bauen, 
um  die  landwirtschaftliche  Benutzung  der  Elektrizität  zu  erleichtern,  nicht  von  mir 
herrührt,  sondern  von  P.  Mack,  Der  Aufschwung  unseres  Landwirtschaftsbetriebes 
durch  Verbilligung  der  Produktionskosten,  S.  50.  Vgl.  übrigens  jetzt  v.  Lepcl, 
S.  41,  „Man  kann  annehmen,  daß  sich  eine  Salpetersäure-  oder  eine  Ammoniak- 
industrie  ausbilden  wird.  Ja.  man  kann  noch  weiter  gehen.  Die  Apparatur  bei 
Benutzung  der  Flamme  ist  eine  relativ  einfache.  Es  ist  also  vielleicht  erreichbar, 
daß  sich  jedermann,  der  will,  seinen  Bedarf  an  Stickstoffverbindung  selbst  her- 
stellen kann." 

*)  Nach  einem  Vortrag  von  R.  Hcmpel  kann  durch  Gründung  von  Elcktri- 
zitätsgenossenschaften  die  Maschinenarbeit  in  der  Landwirtschaft  zur  Verminderung 
der  Produktionskosten  verwendet  werden.    Mitt.  d.  D.  L.  G.  1903,  Stück  27. 


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O.  Pringsheim,  Kritische  Anmerkungen  rur  revisionistischen  Agrarpolitik.  429 

liehen  Diskussion  verschwinden."  —  Es  gibt  bereits  Spirituspfluge,  Spiritus- 
kraftwagen, mit  Benzin  betriebene  Mähmaschinen  und  Kultivatoren  mit 
Petroleummotor. »)  Ein  neuer  Maschinentypus  ist  im  Entstehen  begriffen, 
die  automobile  Feldmaschine.  2) 

Mag  diese  noch  unvollkommen  sein,  sie  interessiert  uns  hier  nur 
als  Symptom,  als  Anzeichen,  daß  eine  Umwandlung  der  alten  Betriebs- 
form sich  vorbereitet.  Auf  dem  einen  oder  anderen  Wege  kommt  es 
zum  Ersatz  von  mehr  und  mehr  Hand-  und  Gespannarbeit  durch  Ma- 
schinen und  Motoren.  Dann  kann  die  landwirtschaftliche  Manufaktur, 
der  halbe  Großbetrieb,  der  bisher  herrschte,  zu  einem  ganzen  wirklichen 
Großbetrieb  auswachsen  und  zu  einer  neuen  Blüte  gelangen.  Freilich 
nach  Davids  Ansicht  ist  der  Fortschritt  des  landwirtschaftlichen  Maschinen- 
wesens recht  belanglos.  Die  Bedeutung  der  Handarbeit  wächst  immer 
mehr,  je  intensiver  der  Betrieb  wird,  während  die  Maschinenarbeit  auf 
den  höchsten  Stufen  der  Bodenkultur  ganz  verschwindet.8)  David  wirft 
hier  die  verschiedenen  Arten  von  Handarbeit  zusammen.  Der  Bedarf 
an  qualifizierter  Pflegearbeit  für  Pflanzen  und  Tiere  wird  bei  intensivem 
Betrieb  allerdings  zunehmen,  während  die  rohe  Handlangerarbeit  eher 
abnimmt  In  der  Industrie  ist  es  übrigens  nicht  anders.  Die  hoch- 
feinen Qualitäts-  und  Luxusprodukte  werden  auch  bei  größter  Entwick- 
lung der  maschinellen  Prozesse  durch  Handarbeit  hergestellt.4) 

„In  der  Landwirtschaft  handelt  es  sich  um  die  Entwicklung  lebender 
Wesen.  In  der  Industrie  um  die  Verarbeitung  toter  Dinge." 5)  Mit 
solchen  Antithesen  ist  nicht  viel  gewonnen.  Auch  in  der  Industrie 
spielen  biologische  Prozesse  eine  Rolle.  Man  denke  an  das  Gärungs- 
gewerbe und  die  Herstellung  der  Sera  in  den  Farbwerken. 

Und  läßt  etwa  die  wissenschaftliche  Landwirtschaft  die  Organismen 
sich  unbeeinflußt  entwickeln,  und  wird  die  Natur  nur  durch  Gehorsam 
bezwungen?  Es  sind  keine  geringen  Eingriffe,  sucht  man  doch  neuer- 
dings sogar  das  Wachstum  der  Bakterienflora  des  Bodens  teils  zu  fördern, 
teils  zu  stören.    Ein  gegen  heute  sehr  vervollkommnetes  Maschinen- 

')  G.  Kühne,  Deutsches  und  englisches  landwirtschaftliches  Maschinenwesen. 
Mitt.  d.  D.  L.  G.  1903,  Stück  47,  N.  Wender,  Die  Verwertung  des  Spiritus  für 
technische  Zwecke,  Kap.  7  u.  8. 

3)  ,,Ein  Automobil  leistet  so  viel  wie  64  Bauernwagen",  Vortrag  des  Haupt- 
mann v.  Tlaskal  in  Wien. 

')  David,  S.  654.  Wenn  David  zum  Beleg  auf  die  Unmenge  Handarbeit 
in  der  Rübenkultur  verweist,  so  kann  sich  gerade  hier  das  Bild  leicht  ändern.  In 
Jetiter  Zeit  sind  drei  Patente  auf  Rübenköpfmaschinen  genommen  worden,  sogar 
die  schwierige  Konstruktion  einer  Rübenverziehmaschine  wird  versucht. 

*)  Herstellung  von  Büttenpapier,  feinen  Schuhwaren  durch  Handarbeit.  Vgl. 
S.  und  B.  Wcbb,  Arch.  für  suz.  Gesetzgebung  Bd.  10,  S.  112  ff. 

>)  David,  S.  70. 


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43Q 


Miszcllcn. 


system,  die  immer  stärkere  Beherrschung  der  Tier-  und  Pflanzenproduktion, 
das  sind  die  großen  Ziele,  die  der  Landwirtschaft  winken.  Bisher  war 
überwiegend  der  Großbetrieb  der  Träger  des  landwirtschaftlichen  Fort- 
schrittes.   Und  warum  sollte  dies  in  Zukunft  anders  sein? 

Da  sollten  wir  in  den  Ruf  einstimmen:  Zerschlagung  des  Groß- 
betriebes und  Schaffung  von  kleineren  Betrieben  auf  seinen  Ruinen? 
Was  wäre  aus  unserer  Technik,  was  wäre  aus  unserem  modernen  Leben 
geworden,  wenn  etwa  in  den  40  er  Jahren  des  vergangenen  Jahrhunderts 
die  eben  zur  Großindustrie  sich  entwickelnde  Manufaktur  zum  Hand- 
werk zurückgeschraubt  worden  wäre  ? 

Freilich  hat  der  landwirtschaftliche  Großbetrieb  die  wichtigste  und 
für  seine  Fortentwicklung  entscheidende  Frage,  die  Arbeiterfrage  nicht 
gelöst.  Diese  wird  um  so  bedeutungsvoller,  je  mehr  die  Landwirtschaft 
Qualitätsprodukte  herstellt  und  ein  kompliziertes  maschinelles  wie 
chemisches  Verfahren  an  Stelle  einer  primitiven  Technik  tritt.  „Der 
Landwirt  von  heute,  der  mit  dem  kostbarsten  Material  arbeitet,  ge- 
braucht eine  zuverlässige,  zu  den  höchsten  Leistungen  befähigte,  auf 
sein  Interesse  bedachte  Arbeiterschaft".  *)  Angeblich  soll  das  patriarcha- 
lische System  befriedigende  Arbeiterverhältnisse  besessen  haben.  a)  Seit- 
dem aber  die  patriarchalische  Wirtschaft  mehr  und  mehr  sich  auflöst, 
ist  es  nicht  zweifelhaft,  daß  die  Landwirtschaft  eine  ganz  anderen  Zeiten 
entstammende  Arbeitsverfassung  nicht  wie  ein  rudimentäres  Organ  herum- 
schleppen kann. 

David  proklamiert  die  Notwendigkeit  des  Klassenkampfes  für  die 
Landarbeiter.  Heute  nennt  Paul  Karapffmeyer  den  Klassenkampf 
eine  Begleiterscheinung  des  gesellschaftlichen  Fortschrittes  und  sieht 
diesen  hauptsächlich  in  der  Ausweitung  der  Produktivkräfte  begründet.3) 
Wenn  letztere  in  der  Landwirtschaft  sich  ungehemmt  entfalten,  wozu 
allerdings  in  dieser  schwierigen  Übergangsperiode  einige  Ruhe  gehört, 
dann  wäre  es  denkbar,  daß  eine  Hebung  der  Landbevölkerung  statt- 
finden könnte,  ohne  daß  alle  die  zum  Teil  verlustvollen  Phasen  der  in- 
dustriellen Arbeiterbewegung  sich  wiederholen.  Daß  die  Landwirtschaft 
in  ihrer  heutigen  Verfassung  keine  Arena  für  Kraftproben  abgeben  kann, 
sieht  übrigens  David  selbst  ein.    Er  sagt,  so  wenig  eine  Industriekrisis 


')  Neue  Pr.  Ztg.  Nr.  603  vom  25.  Dezember  1903. 

r)  Man  beobachtet  denn  auch,  zumal  auf  den  alten  Familiengütern,  daß  der 
Arbeiter,  der  solcherart  dem  Gesichtskreis  des  Herrn  näher  gerückt  war,  sich  ein- 
gehender Fürsorge  für  sein  leibliches  und  geistiges  Wohl  erfreuen  durfte."  Neue 
Pr.  Ztg.  Nr.  603  vom  25.  Dezember  1903.   Patriarchalische  und  kapitalistische  Wirt- 
schaft —  im  Reinecke  Fuchs  wird  das  patriarchalische  System  anders  beschrieben : 
„Unser  Herr  ist  der  Löwe,  und  alles  an  sich  zu  reißen,  hält  er  seiner  Würde 
gemäß.    F.r  nennt  uns  gewöhnlich  Seine  Leute.** 
3)  Soz.  Monatshefte  1903,  Nr.  9  S.  669. 


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O.  Frings  heim,  Kritische  Anmerkungen  zur  revisionistischen  Agrarpolitik.    43  j 

für  die  industrielle  Arbeiterschaft  von  Vorteil  ist,  so  wenig  erleichtert 
das  Darniederliegen  der  Landwirtschaft  dem  landwirtschaftlichen  Lohn- 
arbeiter die  Existenz.  r) 

Für  David  vereinfacht  sich  die  Arbeiterfrage  ungemein.  Er 
schreibt  den  Landarbeitern  nur  einen  Wunsch  zu,  Sehnsucht  nach  Land 
und  Streben  nach  eigener  Wirtschaft.  Nun  ist  notorisch  dieser  Wunsch 
bei  einer  Anzahl  von  Arbeitern  nicht  vorhanden,  bei  anderen  fehlt  die 
notwendige  Befähigung  zur  eigenen  Wirtschaftsführung.  Erwürbe  übrigens 
die  ganze  Arbeiterschaft  Grundbesitz,  so  wäre  die  Existenz  des  Groß- 
betriebes gefährdet  und  Davids  Vorschlag  ist  daher  nicht  weiter 
diskutabel. 

m. 

Eine  außerordentlich  wichtige  Rolle  schreibt  David  dem  land- 
wirtschaftlichen Genossenschaftswesen  zu.  „Die  Produzenten -Ge- 
nossenschaft übernimmt,  ohne  den  eigentlichen  Landwirtschaftsbetrieb  an- 
zutasten, die  zweckmäßigere,  planmäßigere  Gestaltung  der  Bezugs-  und 
Verwertungsarbeit.  Im  weiteren  Ausbau  dieser  genossenschaftlichen  Or- 
ganisation entsteht  ein  Organisationssystem  größten  Maßstabs,  das  den 
Kleinbauer  in  unmittelbaren  Verkehr  zum  Zentralmarkt  bringt.  Die 
einzig  große  Bewegung  genossenschaftlicher  Art,  die  wir  auf  landwirt- 
schaftlichem Gebiete  sehen,  ist  die  produzentengenossenschaftliche  Organi- 
sationsbewegung, die  den  selbstwirtschaftenden  Bauer  mit  seinesgleichen 

zusammenführt  In  dieser  Bewegung  pulsiert  der  landwirtschaftliche 

Fortschritt,  in  ihr  vollzieht  sich  die  Umwälzung  des  alten  isolierten  in 
den  modernen  organisierten  Landwirtschaftsbetrieb." 

„Die  genossenschaftliche  Bewegung  legt  ein  glänzendes  Zeugnis  ab 
für  die  Fortschrittsfähigkeit  der  Bauernschaft." 

David  beziffert  die  landwirtschaftlichen  Genossenschaften  in 
Deutschland  auf  über  17000.  Er  entwirft  eine  begeisterte  Schilderung 
ihres  raschen  Wachstums  und  ihrer  heutigen  Wirksamkeit.  Die  revisio- 
nistischen Paradepferde,  die  dänischen  Butter-  und  Eierverkaufsgenossen- 
schaften  *)  werden  vorgeführt,  sogar  der  Bund  der  Landwirte  muß  auf- 
marschieren. 

So  wenig  die  großen  Leistungen  der  ländlichen  Genossenschaften 
verkannt  werden  sollen,  so  sehr  ist  eine  kritische  Würdigung  geboten. 
Es  ist  leider  nicht  alles  Gold,  was  genossenschaftlich  glänzt,  nicht  jede 
Genossenschaft  ist  ein  ökonomischer  Fortschritt.  Professor  Backhaus 
bemerkt  hierüber:  „Überall  ließ  sich  die  Erfahrung  machen,  daß  die 
Genossenschaft  immer  relativ  schwerfälliger  als  das  Einzelvorgehen  ist, 

»j  David,  S.  326. 

*)  David  gibt  den  Wert  des  dänischen  Butterexportes  für  1900  mit  120  Mill.  Kr. 
an.    Ein  Teil  der  exportierten  Butter  stammt  jedoch  aus  dem  Ausland. 


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432 


Miszellen. 


und  daß  daher  immer  da,  wo  wirtschaftliche  Unternehmungen  durch 
private  Initiative  durchgeführt  werden  können,  der  Erfolg  größer  ist,  als 
beim  genossenschaftlichen  Vorgehen.  Es  werden  meistens  durch  die 
Genossenschaft  die  Geschäfte  schleppender,  die  Unkosten  größer,  die 
Leistungen  geringer,  als  bei  dem  Einzelunternehmen.  —  Bei  einer  Ent- 
wässerungsgenossenschaft wurde  beobachtet,  daß  die  Ausführung  der 
Arbeiten  dreimal  solange  dauerte  und  vielleicht  zweimal  so  viel  kostete, 
als  wenn  von  den  einzelnen  Interessenten  die  Entwässerung  durchgeführt 
worden  wäre. ') 

Auch  die  Begeisterung  und  Befähigung  der  kleineren  Produzenten 
zur  genossenschaftlichen  Arbeit  ist  nicht  so  allgemein,  als  David  voraus- 
setzt. Sehr  lehrreich  sind  folgende  Bemerkungen  von  Grabein,  General- 
sekretär des  allgera.  Verbandes  landw.  Genossenschaften:  „Die  Kornhaus- 
genossenschaft Hanau  berichtet :  Die  Bauern  sind  so  bequem  in  hiesiger 
Gegend,  daß  sie  nicht  mal  die  Säcke  vom  Boden  herunter  tragen  mögen 
und  das  Getreide  zum  Kornhaus  fahren.  Es  ist  dies  ein  in  gewisser 
Beziehung  bedauerlicher  Umstand,  der  dem  Kornhaus  viel  Getreide  ent- 
zieht. —  Bei  den  Großgrundbesitzern  war  in  den  meisten  Fällen  die 
Kenntnis  der  Marktlage  eine  genauere,  die  Behandlung  des  Erdrusches 
eine  bessere,  als  bei  den  kleinen  Landwirten,  und  war  zudem  die  Möglich» 
keit  der  Lieferung  größerer  Posten  gegeben.  Es  ist  naturgemäß  leichter, 
etwa  1 00—200  größere  Besitzer  zu  einer  großen  Kornhausgenossenschaft 
zu  vereinigen,  als  die  zehnfache  Zahl  von  kleineren  Besitzern,  die  er- 
forderlich wäre,  um  ein  Kornhaus  von  den  gleichen  Dimensionen  ge- 
nügend auszunützen.  Auch  wird  die  geschäftliche  Leitung  eines  solchen 
aus  Tausenden  von  kleineren  Genossen  bestehenden  Unternehmens  eine 
sehr  verwickelte.  —  Mangel  an  genossenschaftlichem  Sinn  zeigte  sich 
besonders  in  der  öfters  bei  Absatzgenossenschaften  aller  Art  beobach- 
teten Erscheinung,  daß  die  Genossen  dem  Lagerhaus  nur  das  minder- 
wertige Getreide  zum  Verkauf  anboten."  -) 

In  letzter  Zeit  haben  sich  die  Mißstände  im  landw.  Genossenschafts- 
wesen gehäuft,  daß  man  nicht  an  zufällige  Erscheinungen  glauben  kann.  :Ji 
In  Bayern  wurde  über  Vettern  und  Basenwirtschaft  geklagt,  die  in  den 

')  Backbaus,  Das  Versuchsgut  Quednau,  S.  265.  „Wahrscheinlich  vollzieht 
sich  der  Absatz  durch  die  Vermittelung  des  privaten  Handels  ebenso  billig,  wie  es 
durch  den  Verwaltungsapparat  einer  Genossenschaft  geschehen  könnte."  Holl- 
mann,  Die  Landwirtschaft  im  Kreise  Bonn,  S.  176. 

*)  M.  Grabein,  Stand  und  Erfolge  des  genossenschaftlichen  Getreideverkaufs 
in  Deutschland  (Deutsche  landw.  Genossenschaftsbibliothek  Bd.  6,  S.  48,  58,  19  u.  75. 

*)  Die  schlimmsten  Mißstände  enthüllt  die  Denkschr.  betr.  die  Haupt-Ein-  und 
Verkaufsgenossenschaft  für  Getreide  und  landw.  Bedarfsartikel  filr  Westfalen  zu 
Dortmund.  Wechselreiterei,  falsche  Bilanzen  und  Protokolle,  arglistige  Täuschung 
fallen  dem  Vorstand  dieser  verkrachten  Genossenschaft  zur  Last 


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O.  Pringsheim,  Kritische  Anmerkungen  zur  revisionistischen  Agrarpolitik.  433 

Raiffeisenvereinen  herrsche.  Leichtsinnige  Gründung  von  Genossen- 
schaften und  andere  Übelstände  wurden  in  der  Provinz  Posen  kon- 
statiert. —  Selbst  von  den  Molkereigenossenschaften  erklärte  jüngst 
Geheimrat  Werner,  daß  sie  ihren  Höhepunkt  überschritten  hatten.  „Am 
gefährlichsten  für  die  Entwicklung  der  Rinderzucht  erweisen  sich  die  in 
den  naturgemäßen  Zuchtgebieten  Norddeutschlands  immer  zahlreicher 
auftretenden  Molkereigenossenschaften,  weil  sie  die  Aufzucht  zurückhalten 
und  geradezu  ruinös  dort  wirken,  wo  sie  die  Milch  unter  den  Selbst- 
kosten bezahlen."  l) 

David  feiert  die  landwirtschaftlichen  Genossenschaften  als  Pflanzen- 
schulen genossenschaftlichen  Geistes  und  deutet  sogar  an,  daß  der  Sozia- 
lismus in  sie  Eingang  finden  könne.  Er  hätte  sich  erinnern  sollen,  daß 
Bernstein  diese  Genossenschaften  als  Tummelplatz  aller  antisozialistischen 
Elemente  bezeichnet  hat.  *)  In  der  Tat  sind  viele  dieser  Genossen- 
schaften unter  dem  Patronat  bestimmter  politischer  Parteien  entstanden. 
Dazu  kommt  eine  so  kräftige  Staatshilfe,  daß  schon  die  Berliner  Handels- 
kammer gegen  diese  Politik  Einspruch  erheben  mußte.8)  Auch  der 
Großgrundbesitz  hat  dazu  beigetragen,  die  Genossenschaften,  die  an- 
geblich aus  freier  Entschließung  der  Bauern  entstandenen  Schöpfungen 
zu  fordern.  „Es  muß  mit  Dank  anerkannt  werden,  bemerkt  Eschenbach 
ausdrücklich,  daß  der  Großgrundbesitz  sich  vielfach  um  die  Gründung 
derartiger  Genossenschaften  selbst,  sowie  ihre  Leitung,  sehr  verdient  ge- 
macht hat,  wenn  er  auch  selbst  ebenso  der  Teilnahme  an  den  Vorteilen 
entsagte  .  .  .  Gerade  die  allerersten  und  schwersten  Anfänge  wären 
wahrscheinlich  überhaupt  nicht  zustande  gekommen,  wenn  nicht  der  Groß- 
grundbesitz in  den  betreffenden  Gegenden  sich  der  Gründung  von  der- 
artigen Kassen  angenommen  hätte.4)  Sollte  plötzlich  ein  anderer  Geist 
in  die  Genossenschaften  einziehen,  so  würden  sie  viel  von  ihrem  Einfluß 
verlieren.  Würde  etwa  die  Ansiedlungskommission  mit  dem  Raiffeisen- 
verbande  zusammenwirken,  wenn  er  sozialdemokratisch  wäre? 

David  verficht  mit  großem  Eifer  einen  an  sich  sehr  schönen  Ge- 
danken. Er  schlägt  vor,  daß  die  bäuerlichen  Produzentengenossenschaften 
den  städtischen  Konsumvereinen  die  Hand  reichen,  und  daß  diese  oder 

')  Geheimrat  Werner,  Reiseerfahrungen  aus  deutschen  Zuchtgebictcn.  Illustr. 
landw.  Ztg.  Nr.  100  (1903).  Weitere  Polemik  über  diese  Frage  Illustr.  landw.  Ztg. 
1904,  Nr.  2  und  folgd.  Nrn. 

*)  F..  Bernstein,  Voraussetzungen  S.  1 58. 

*)  Vgl.  auch  H.  Pott  ho  ff,  Handel  und  Genossensch,  in  der  Landw.  (Das 
freie  Wort  1904  Nr.  23.) 

*)  Eschenbach,  Genossenschaftliche  Erfahrungen,  zugleich  Geschäftsbericht 
der  landw.  Provinzial-Genossenschaftskasse  für  die  Mark  Brandenburg  für  das  Jahr 
1902  p.  16.  —  Für  die  Mitwirkung  des  Großgrundbesitzes  ist  es  auch  bezeichnend, 
daß  der  schlcsische  Bauernverein  jüngst  unter  dem  Vorsitz  eines  Reichsgrafen  tagte. 
Archiv  für  Soziatwis«en«chaft  u.  Soxialpolitilc.  I.    (A.  f.  tot.  G.  u.  St.  XIX.)  2.  28 


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434 


Miszellen. 


ihre  Einkaufsgesellschaften  direkte  Abnehmer  für  landwirtschaftliche  Pro- 
dukte werden.  Ohne  diese  Verbindung  ist  der  Absatz  zu  angemessenen 
Preisen  ein  schwieriges,  unsicheres  und  risikoreiches  Stück  Arbeit  auch 
für  die  ländlichen  Genossenschaften. 

So  bestechend  die  Idee  Davids  ist,  so  wenig  dürfte  sie  eine 
Besserung  der  landwirtschaftlichen  Marktverhältnisse  in  absehbarer  Zeit 
herbeiführen.  Ein  Teil  der  landwirtschaftlichen  Erzeugnisse  dürfte  kaum 
für  eine  überwiegende  Arbeiterkundschaft  geeignet  sein. *)  Was  kann 
diese  überhaupt  bedeuten,  wenn  der  Gesamtumsatz  der  deutschen  Konsum- 
vereine 200 — 250  Millionen  betrug  gegenüber  einer  landwirtschaftlichen 
Gesamtproduktion  von  7,5  Milliarden  Mk.?  Wenn  David  auch  die 
bäuerliche  Bevölkerung  In  die  Konsumvereine  aufgenommen  wissen  will, 
so  ist  daran  zu  erinnern,  daß  nur  etwa  32000  Landwirte  sich  unter 
424275  Konsumvereinsmitgliedern  befanden. 

Im  günstigsten  Falle  handelt  es  sich  um  die  Eskomptierung  einer 
für  Deutschland  noch  entfernten  Zukunft 

Überall  in  Stadt  und  Land  Produzentengenossenschaften  im  Verein 
mit  Konsumentengenossenschaften,  beide  zusammengefaßt  durch  den 
eisernen  Ring  der  Parteiorganisation,  welch  verlockender  Gedanke.  Die 
heute  schon  vorhandenen  Schwierigkeiten  der  Gründung  und  Leitung 
vielköpfiger  Genossenschaften  würden  bei  Hunderttausenden  von  Klein- 
bauern und  Häuslern  progressiv  wachsen.  Daß  die  bereits  heute  so 
schädliche  Verquickung  von  politischer  Agitation  und  wirtschaftlicher 
Arbeit  in  den  unter  Parteieinfluß  stehenden  Genossenschaften  der  Zu- 
kunft erst  recht  sich  geltend  machen  würde,  —  auch  davon  schweigt  der 
Verfasser. 

David  konnte  auf  keine  höhere  Warte  steigen,  als  auf  die  Zinne 
seiner  Partei.  So  ist  trotz  anerkennenswerten  Fleißes  und  vieler  wert- 
voller Einzelausführungen  kein  wesentlicher  Fortschritt  über  die  marxis- 
tische Auffassung  der  Agrarfrage  hinaus  zu  verzeichnen. 

Um  so  mehr  tritt  jetzt  an  die  Wissenschaft  die  Aufgabe  heran,  eine 
neue  Agrartheorie  zu  schaffen  und  aus  den  einzelnen  Bausteinen  ein 
solides,  vor  politischen  Stürmen  gesichertes  Gebäude  aufzuführen. 

')  Im  Jahre  1893  wurde  zu  Damery  eine  Winzergenossenschaft  gegründet, 
welche  noch  gegenwärtig  unter  dem  Namen  „Pur  Champagne"  besteht.  „Die  Ge- 
nossenschaft hat  sich  seit  1898  der  französischen  Arbeiterpartei  angeschlossen.  Sie 
hat  das  ohne  Zweifel  in  der  Absicht  getan,  auf  diese  Weise  mit  den  Arbeiter-Kon- 
sumvereinen leichter  Geschäftsverbindungen  anzuknüpfen.  Es  ist  ihr  auch  gelungen, 
verschiedene  Konsumvereine  als  ständige  Abnehmer  zu  gewinnen.  Dafl  die  Ge- 
nossenschaft hierbei  eine  besonders  gute  Kundschaft  erworben  hat,  ist  vom  rein 
geschäftlichen  Standpunkt  aus  nicht  anzunehmen,  denn  im  allgemeinen  sind  auch 
in  Frankreich  die  Arbeiter  keine  Champagnertrinker."  Arno  Pfütze,  Die  land- 
wirtschaftlichen Produktiv-  und  Absatzgenossenschaften,  S.  5S. 


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435 


Die  Preise  der  Konsumvereine  und  der  Detaillisten. 

(Preisvergleichende  Untersuchung  für  Frankfurt  a.  M.) 

Von 

F.  WETZLAR-KILZER 

in  Frankfurt  a.  M. 

Seit  Jahren  führen  die  Kleinhändler  und  Mittelstandsfreunde  einen 
erbitterten  Kampf  gegen  die  Konsumvereine.  In  Wort  und  Schrift 
werden  allerlei  Schäden  und  Nachteile,  welche  die  Konsumvereine  an- 
geblich im  Gefolge  haben,  angegriffen.  Mängel,  welche  ab  und  zu  tat- 
sächlich vorkommen,  werden  nicht  selten  verallgemeinert  und  übertrieben. 
Naturgemäß  haben  diese  Angriffe  die  Konsumvereine  selbst  zu  leb- 
haftestem Widerstand  entfacht,  auch  sie  vertreten  in  Wort  und  Schrift 
ihre  Interessen  und  auch  da  fehlt  es  nicht  an  Einseitigkeiten  in  der 
Begründung. 

Unter  diesen  Umständen  ist  es  schwer,  sich  ein  wahrheitsgetreues 
Bild  über  eine  Reihe  von  Vorgängen  im  Konsumvereinsleben  zu  schaffen. 

Am  wenigsten  geklärt  ist  noch  die  Frage,  wie  sich  die  Preise  und 
Gewichte  in  den  Konsumvereinsläden  zu  denjenigen  bei  den  anderen 
Formen  des  Nahrungsmittelverschleißes  verhalten. 

Während  die  Krämer  behaupten,  daß  die  Preise  in  den  Konsum- 
vereinsläden vielfach  teurer,  jedenfalls  aber  nicht  billiger  seien  als  in 
ihren  eigenen,  verneinen  dies  nicht  nur  die  Anhänger  der  Konsumvereins- 
bewegung, sondern  sie  sagen,  daß  im  Konsumvereinsladen  immer  volles 
Gewicht  gegeben  wird,  im  Gegensatz  zu  den  Gegnern,  und  daß  selbst 
bei  gleichen  Preisen  das  Konsumvereinsmitglied  noch  den  Anspruch  auf 
Dividende  am  Jahresschluß  habe. 

Welche  dieser  Behauptungen  zutreffen,  wird  sich  allgemein  für  ganz 
Deutschland  nicht  eher  entscheiden  lassen,  als  bis  eine  Reihe  von  preis- 
vergleichenden Untersuchungen  in  zahlreichen  Orten  stattgefunden  hat, 
deren  Konsumvereine  möglichst  große  Verschiedenheit  der  Mitglieder- 

28» 


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436 


Miszcllen. 


zahl,  des  Umsatzes  und  der  Geschäftsführung  zeigen  und  wo  auch  die 
sonstigen  Lebensbedingungen  möglichst  von  einander  differieren.  Man 
wäre  alsdann  wohl  berechtigt,  aus  den  erhaltenen  Resultaten  eine  Be- 
urteilung der  Konsumvereinsfrage  zu  begründen. 

Ein  Versuch  der  Preisvergleichung,  der  sich  vorerst  nur  auf  zehn 
Artikel  der  Lebensmittelbranche  erstreckte,  mit  Berücksichtigung  der 
Qualitäts-  und  Gewichtsfrage,  ist  vor  kurzem  in  der  Stadt  Frankfurt  a»  M. 
unternommen  worden.  Ehe  wir  auf  die  Methode  dieser  Untersuchung 
und  deren  Ergebnisse  näher  eingehen,  ist  es  notwendig,  die  in  hiesiger 
Stadt  obwaltenden  Verhältnisse  des  Nahrungsmittelverschleißes  kurz  zu 
erwähnen.  Es  teilen  sich  darin  verschiedene  Konsumvereine  und  in 
überwiegender  Weise  das  Privathändlertum.  Der  Konsumverein,  dessen 
Laden  wir  unsere  Proben  entnahmen,  besteht  seit  dem  Jahre  1900. 
Seine  Mitgliederzahl  war  am  Schlüsse  des  ersten  Geschäftsjahres  2046 
gegen  3536  am  Schlüsse  des  dritten  (Juni  1903).  Der  Gesamtumsatz 
betrug  während  des  ersten  Geschäftsjahres  in  643  Mk.  gegen  377  021  Mk. 
während  des  letzten.  Die  Zahl  der  Verkaufsstellen  ist  von  3  auf  11 
gewachsen.  Außer  den  Konsumvereinen  mit  eigenen  Läden  bestehen 
auch  noch  eine  Reihe  von  Rabattkonsumvereinen,  sog.  Familienver- 
einigungen. Das  Privathändlertum  hat  verschiedenartige  Gestalt  ange- 
nommen und  zeigen  die  einzelnen  Arten  scharf  ausgeprägte  Unterschiede. 
Man  findet  Großdetaillisten  mit  einem  großen,  gewöhnlich  in  bester  Ge- 
schäftslage befindlichen  Laden;  sie  suchen  ihre  Kundschaft  hauptsäch- 
lich unter  den  wohlhabenden  Klassen,  und  sind  bestrebt,  dem  Bedürfnis 
nach  Waren  kostspieligster  Qualität  und  der  Bequemlichkeit,  welche 
durch  einen  ausgedehnten  Wagendienst  erreicht  wird,  zu  genügen. 

Diesen  Großdetaillisten  steht  der  Großdetaillist  gegenüber,  welcher 
zahlreiche  kleinere  Läden  in  der  Stadt  und  Umgegend  unterhält.  Eine 
großkapitalistische  Betreibung  des  Kleinhändlergeschäftes,  welche  gleich 
dem  Konsumverein  am  Prinzip  des  Verkaufs  gegen  bar  festhält. 

Die  Kleinhändler  endlich  besorgen  größtenteils  die  Warenvermittlung 
an  den  wirtschaftlich  schwächeren  Konsumenten,  dem  sie,  wenn  es  not 
tut,  Kredit  gewähren.  Es  gibt  ihrer  eine  große  Anzahl  am  Platze  und 
zahlreiche  Abstufungen  je  nach  der  Lage:  Peripherie,  Innenstadt,  Ost 
oder  West  und  die  Konkurrenz  unter  ihnen  ist  eine  scharfe.  Es  gibt 
dann  natürlich  noch  eine  ganze  Reihe  von  mittleren  Geschäften.  Auch 
befassen  sich  die  Warenhäuser  und  Großbazare  mit  dem  Verkauf  von 
Lebensmitteln. 

Unsere  Aufgabe  lag  also  darin,  Waren  bei  je  einem  typischen  Ver- 
treter dieser  Geschäi'tsgattungen  zu  kaufen  und  Preis,  Quantität  und 
Qualität  einander  gegenüberzustellen. 

Gekauft  wurden  solche  Kolonialwaren  und  Landesprodukte,  die  täg- 
lich im  Haushalte  gebraucht  werden  und  deshalb  einer  Untersuchung 
keine  Schwierigkeiten  boten.    Es  wurden  in  den  verschiedenen  Läden 


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F.  Wctzlar-Kilzer,  Die  Preise  der  Konsumvereine  und  der  Dctaillisten. 


437 


entnommen :  Gerste,  Linsen,  Sago,  grüne  und  gelbe  Erbsen,  weiße  Bohnen, 
gemahlener  Zucker,  Hafergrütze,  Gries,  Reis,  und  zwar  wurden  verlangt 
je  */«  pfd.  Bei  dem  Warenhaus  mußte  eine  Ausnahme  gemacht  werden, 
da  die  verlangten  Waren  nur  in  schon  abgewogenen  Paketen  von 
mindestens  einem  Pfund  erhältlich  waren. 
Die  Lieferanten  waren: 

1.  Der  Konsumvereinsladen. 

2.  Kleinhändler  1 1  beide  in   unmittelbarer   Nähe  des  Konsum- 

3.  Kleinhändler  II  J  vereinsladens. 

4.  Kleinhändler  in  der  Altstadt. 

5.  Großdetaillist,  der  seine  Kunden  unter  den  wohlhabenden  Klassen 
findet 

6.  Großdetaillist  mit  Filialen  in  verschiedenen  Teilen  der  Stadt. 

7.  Ein  Warenhaus. 

Der  Einkauf  geschah  unauffällig  durch  dritte  Personen,  die  wiederum 
nicht  wußten  um  was  es  sich  handle,  so  daß  der  Zweck  in  keinem 
Falle  erkannt  werden  konnte. 

Die  eingekauften  Waren  wurden  zunächst  mit  und  ohne  Papier- 
hülle gewogen,  sowie  die  Preise  notiert,  sie  und  die  gefundenen  Ge- 
wichte sind  aus  Tabelle  I  ersichtlich.  Es  war  also  der  durchschnittliche 
Preis  von  V«  Pfd.  Ware: 

im  Warenhaus  10,35  Pfg- 

beim  Großdetaillist  mit  Filialen  10,50  „ 

„    Konsumverein  11,20  „ 

„    Kleinhändler  1  11,40  „ 

„    Kleinhändler  in  der  Altstadt       11,50  „ 

„    Kleinhändler  II  11,66  „ 

„    Großdetaillist  15,25  „ 

Wir  sehen  daß  am  billigsten  das  Warenhaus  verkaufte,  es  folgt  an 
zweiter  Stelle  der  Großdetaillist  mit  Filialen,  an  dritter  der  Konsum- 
verein und  hinter  ihm  reihen  sich  die  verschiedenen  Kleinhändler  und 
an  letzter  Stelle  der  Großdetaillist  an.  Bei  diesem  muß  jedoch  bemerkt 
werden,  daß  er  auf  Wohlfeilheit  keinen  Anspruch  macht. 

Es  zeigte  sich  auf  durchschnittlich  250  Gramm 

beim  Großdetaillisten  ein  Mindergewicht  von  0,50  Gramm 

„    Warenhaus  „  „  „  1,80  „ 

„    Kleinhändler  11  „  „  „  2,06  „ 

„    in  der  Altstadt  „  „  „  2,75 

„    Konsumverein  „  „  „  3,70  „ 

Großdetaillisten  mit  Filialen     „  „  „  6,60  „ 

Kleinhändler  I  „  Mehrgewicht  „  8,70  „ 

Nachdem  diese  Berechnungen  zu  Ende  geführt  waren,  wurden 
Proben  von  den  gekauften  Waren  entnommen,  mit  einer  Nummer  ver- 


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438  Misiellen. 


Tabelle 


■ 

Konsumverein 

Kleinhändler  I 

Kleinhändler  II 

Artikel 

brutto 

Tara 

VT  «Ii 

iNetto 

Preis 
pro 
Pfd. 

nrutlo 

Tara 

iVCltO 

Preis 
pro 
Pfd. 

Brutto 

Tara 

-Netto 

Preis 
pro 
Pfd. 

gr 

gr 

gr 

gr 

gr 

gr 

gr 

gr 

gr 

252 

6 

246 

20 

273 

6", 

266V8 

26 

253 

57. 

247  v. 

24 

251 

6 

245 

26 

263 

67. 

2567. 

20 

255 

57« 

2497. 

24 

252 

6 

246 

24 

270 

6V, 

2637. 

28 

253 

57. 

2477. 

24 

Grüne  Erbsen  .... 

256 

6 

250 

24 

259 

67. 

252V. 

28 

t 

t 

t 

t 

Gelbe      „  .... 

250 

6 

244 

18 

262 

6V« 

2557« 

24 

257 

57. 

25i7. 

24 

Weifie  Bohnen    .    .  . 

252 

6 

246 

16 

261 

61/, 

2547« 

16 

257 

57. 

25  «7. 

20 

Gemahlener  Zucker  .  . 

253 

6 

247 

24 

263 

6V, 

256*« 

22 

250 

57. 

2447a 

24 

naicrgruizi  .... 

252 

6 

246 

20 

276 

67. 

2697« 

20 

249 

57. 

2437, 

24 

Gries  

6 

245 

20 

262 

0  t 

2557« 

20 

254 

57. 

248  V. 

22 

Reis  

254 

6 

248 

32 

263 

67. 

2567s 

24 

253 

57. 

2477« 

24 

Summa  .... 

Durchschnitt 

Durchschnittspreis 
pro  •/»  Pfd.  •  • 

2523 
252.3 

60 
6 

2463 
246,3 

224 
22,4 

11,20 

2652 
265,2 

65 
67* 

2587 
258,7 

228 
22,8 

n,4o 

2281 
253.44 

497« 
51, 

2231 v* 
247,94 

210 
23.33 

11,66 

f)  war  nicht  erhältlich. 

•)  war  eine  Mischung  von  Sago  und  Gerste. 


sehen  und  einem  im  praktischen  Leben  stehenden  Sachverständigen  zur 
Prüfung  vorgelegt. 

Er  hat  den  Detailmarktwert  einer  jeden  geprüften  Ware  so  genau 
als  möglich  festgestellt.  Das  Ergebnis  findet  sich  in  Tabelle  II  und 
zwar  in  Kolumne  1  der  tatsächlich  gezahlte  Preis  jeder  Ware,  und  in 
Kolumne  2  der  Detailmarktwert  jeder  Ware.  Kolumne  3  enthält  das 
prozentuale  Verhältnis  des  Preises  zum  Marktwert,  dort  zeigt  sich  also, 
wenn  der  tatsächlich  bezahlte  Preis  den  Detailmarktwert  übersteigt,  eine 
Zahl  über  100  und  wenn  der  bezahlte  Preis  unter  dem  Detailmarkt- 
wert bleibt  eine  solche  unter  1  o  o. 

Als  Erläuterung  diene  folgendes  Beispiel: 

Beim  Konsumverein  kostete  das  Pfd.  Gerste  20  Pf.,  der  Marktwert 
ist  24  Pfg.    Der  Käufer  bezahlte  nur  83,33  Proz.  des  Detailmarktwertes. 

Beim  Kleinhändler  II  ist  der  Preis  desselben  Artikels  26  Pf.  pro 
Pfd.  und  der  Marktwert  24  Pfg.  Der  Käufer  bezahlte  also  108,33  Proz. 
des  Mark  wertes. 


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F.  Wetzlar-Kilzer,  Die  Preise  der  Konsumvereine  und  der  Detaillistcn.  439 


I. 


Kleinhändler  in 
Altstadt 

der 

Großdetaillist 

Großdctaillist  mit 
Filialen 

Warenhaus 

brutto 

t 

- 

•Netto 

Preis 
pro 
Pfd. 

Urutto 

.\etlo 

Preis 
pro 
Pfd. 

Drutto 

2 

.Netto 

Preis 
pro 
Pfd. 

uruiu  ► 

ß 

rt 

t» 

Netto 

Preis 
pro 
Pfd. 

er 

P 

gr 

cV 

gr 

gr 

gT 

gr 

<v 

gr 

gr 

gr 

254 

9 

245 

24 

260 

253'/« 

42 

251 

6 

245 

20 

512 

7V..5<>4Vt 

15 

253 

9 

244 

18 

256 

6», 

249 1  8 

24 

249 

6 

243 

18 

520 

7Vt5»Vt 

24 

• 

• 

• 

• 

259 

6>/, 

252  % 

40 

248 

6 

242 

20 

478 

7  V«  47oV. 

22 

t 

t 

t 

t 

252 

6V2 

245'/* 

32 

250 

6 

244 

26 

478 

7V«:47o'/i 

25 

256 

9 

247 

18 

254 

6% 

247  V« 

20 

24S 

6 

242 

18 

504 

77, 

496V« 

18 

269 

9 

260 

16 

255 

6Vt 

248'/« 

20 

253 

6 

247 

20 

505 

7V, 

497  V. 

16 

248 

9 

239 

30 

252 

6'/2 

2457« 

24 

249 

6 

243 

22 

513 

7V. 

5057« 

22 

257 

9 

248 

3° 

262 

6V* 

»55V. 

34 

247 

6 

241 

18 

497 

7V« 

4897* 

«9 

246 

9 

237 

24 

253 

6>/a 

246V« 

23 

258 

9 

249 

20 

537 

7V. 

5297« 

19 

267 

9 

258 

24 

257 

6\, 

250  •/, 

46 

244 

6 

238 

28 

5«3 

7  V* 

5057« 

27 

2050 

72 

1978 

184 

2560 

65 

2495 

3°5 

2497 

63 

2434 

210 

5057 

75 

4982 

207 

256,25 

9 

247,25 

23 
11,50 

256 

6'/, 

1 

249,5 

30,5 
15,25 

249,7 

6,3 

243,4 

21 
10,50 

505J 

77, 

498,2 

20,7 
»0,35 

Die  auf  diese  Weise  erhaltenen  Resultate  im  Durchschnitt  und  der 
Höhe  nach  genannt  sind 

beim  Warenhaus  88,48  Proz.  des  Detailmarktwertes 


>> 

Großdetaillisten  mit  Filialen 

98,42 

M 

» 

Konsumverein 

102,91 

» 

M 

»» 

Kleinhändler  I 

»• 

»> 

f 

Kleinhändler  11 

126,96 

•> 

M 

" 

>> 

Großdetaillisten 

134,24 

»» 

" 

Kleinhändler  in  der  Altstadt  137,67 

» 

Wir  sehen  also,  daß  relativ  am  billigsten  das  Warenhaus  verkaufte, 
es  folgt  an  zweiter  Stelle  der  Großdetaillist  mit  Filialen,  an  dritter  Stelle 
der  Konsumverein  und  hinter  ihm  reihen  sich  die  verschiedenen  Klein- 
händler und  der  Großdetaillist  an. 

Werfen  wir  nun  einen  Rückblick  auf  das  Ergebnis  unserer  Unter- 
suchung, so  finden  wir  bezüglich  der  Gewichtsfrage,  daß  soweit  also 
Frankfurt  in  Betracht  kommt,  bei  allen  untersuchten  Formen  des 
Nahrungsmittelverschleißes  mit  einer  Ausnahme,  kleine  Fehlbeträge  im 
Gewicht  sich  zeigten. 


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440 


Miszcllen. 


Tabelle 


Konsumverein 

Kleinhändler  I 

Kleinhändler  II 

Artikel 

Preis  Detail- 
pro markt- 
Pfd.  wert 

Der  Preis 
beträgt 

Proz.  des 
DMW.1) 

Preis 
Dro 
Pfd. 

Detail - 
markt- 
wert 

Der  Preis 
beträgt 

Proz.  des 
DMW. 

Preis 
pro 
Pfd. 

Detail- 
markt- 
wert 

Der  Preis 
beträgt 

Proz.  des 
DMW. 

A. 

A 

*. 

Gerste 

20 

24 

83i33 

26 

24 

1 08,33 

24 

24 

100  — 

26 

20 

130,  - 

20 

17 

117,65 

24 

»5 

160,- 

24 

22 

109,09 

28 

22 

127,27 

24 

20 

120, — 

Grüne  Erbsen .... 

24 

26 

92,30 

28 

16 

•75- 

t 

t 

t 

Gelbe 

18 

18 

100,— 

24 

20 

120,- 

24 

18 

133.33 

Weiße  Bohnen    .    .  . 

16 

13 

»23,07 

16 

16 

100,— 

20 

16 

"S.- 

Gemahlener  Zucker  .  . 

24 

22 

109,09 

22 

21 

104,76 

24 

21 

ii  4,29 

Hafergrütze  .... 

20 

22 

90,90 

20 

24 

83,33 

24 

20 

120,— 

Griefl  

20 

20 

100  — 

20 

16 

»25,- 

22 

16 

150,- 

32 

35 

91,35 

24 

26 

92,33 

24 

20 

I20,— 

Summa  .... 

224 

222 

1029,13 

228 

202 

1153,67 

2:0 

170 

1 142,62 

Durchschnitt     .  . 

22,4 

22,2 

102,91 

22,8 

20,2 

115.36 

23.3 

18,8 

126,96 

l)  DMW.  =  Dctailmarktwert. 

•)  war  eine  Mischung  von  Sago  und  Gerste. 

f)  nicht  erhältlich. 


Hinsichtlich  der  absoluten,  sowie  der  relativen  Wohlfeilheit  ergab 
es  sich,  daß  das  Warenhaus  und  der  Großdetaillist  mit  Filialen  billiger 
und  die  Kleinhändler,  sowie  der  Großdetaillist  teurer  als  der  Konsum- 
verein verkauften  und  muß  bei  dieser  Gelegenheit  bemerkt  werden,  daß 
bei  allen  Berechnungen  die  Dividende  des  Konsumvereins  außer  Betracht 
blieb  (sie  betrug  bei  dem  in  Frage  stehenden  Konsumverein  3  Proz.  im 
letzten  Geschäftsjahr).  Für  die  allgemeine  Befriedigung  des  Nahrungs- 
mittelbedürfnisses kommt  in  Frankfurt  —  in  anderen  Städten  wird  dies 
auch  der  Fall  sein  —  das  Warenhaus  nur  nebenher  in  Betracht,  weil  es 
der  Natur  der  Sache  nach  im  Herzen  der  Stadt  gelegen  sein  muß,  so 
daß  die  große  Masse  der  Konsumenten  wohl  doch  nur  gelegentlich  eines 
anderen  Einkaufes  Nahrungsmittel  dort  entnehmen  wird. 

Die  allgemeine  Befriedigung  des  Nahrungsmittelbedürfnisses  durch 
den  Großdetaillisten  mit  Filialen  ist  eine  Form,  die  unseres  Wissens 
außer  in  Frankfurt  nur  in  einigen  wenigen  Großstädten  zu  finden  ist. 


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F.  Wetzlar-Kilzcr,  Die  Preise  der  Konsumvereine  und  der  üetaillisten.     44 1 


IL 


Kleinhändler  in  der 
Altstadt 

Großdetail  list 

Großdetaillist  mit 
Filialen 

Warenhaus 

Preis 
pro 

A   I  VI* 

Detail- 
markt- 

«tu 

Der  Preis 

Proz.  des 
DMW. 

Preis 
pro 

Pfd 

Detail- 
markt- 

Der  Preis 

Proz.  des 
DMW. 

Preis 
pro 

I  IU. 

Detail- 
markt- 

WCI  l 

Der  Preis 

Proz.  des 
DMW. 

Preis 

pro 

Pfd 
1 1U4 

Dctail- 
markt- 

U'rrt 

Der  Preis 

1 1  <*  1 1*3  tri 

Proz.  des 
DMW. 

A 

A 

A 

A 

is 

A 

* 

iS 

133.33 

42 

35 

120, — 

20 

24 

83.33 

15 

25 

60,- 

18 

15 

120, — 

24 

20 

I20, — 

18 

15 

120, — 

24 

25 

96, — 

* 

• 

• 

40 

22 

181,82 

20 

22 

90,90 

22 

35 

82,86 

+ 
! 

T 

T 

32 

24 

133.33 

20 

24 

108,33 

25 

20 

9°»15 

18 

14 

128,57 

20 

14 

142,86 

18 

20 

90  — 

18 

18 

100, — 

16 

13 

1*3.07 

20 

16 

125,— 

20 

20 

100, — 

16 

18 

88,88 

30 

22 

136,36 

24 

20 

120, — 

22 

22 

IOO,  — 

22 

22 

100, — 

3° 

20 

150,— 

34 

24 

141,66 

18 

24 

75- 

19 

20 

95- 

24 

'5 

160, — 

23 

16 

143,75 

20 

20 

100, 

19 

25 

76- 

24 

16 

150,— 

46 

40 

i»5- 

28 

1 16,66 

27 

30 

90  — 

184 

»33 

1101,33 

305 

231 

1343,42 

210 

215 

984,22 

207 

244 

884,89 

23.0 

16,6 

137.67 

30,5 

23.10 

134,34 

21,0 

21,5 

98,42 

20J 

244 

88,48 

Es  wird  sich  also  an  den  meisten  Plätzen  um  den  Befund  bei  den 
Kleinhändlern  und  deren  Abstufungen  und  den  bei  den  Konsumvereinen 
handeln.  Wie  wir  zu  Beginn  gesagt  haben,  wird  ein  endgültiges  Urteil 
in  der  Streitfrage  zwischen  Konsumverein  und  Kleinhändler  nicht  eher 
zu  fällen  möglich  sein,  als  bis  zahlreiche  Untersuchungen,  ähnlich  der 
unseren,  ja  wenn  möglich  noch  eingehender,  gemacht  sein  werden. 
Wenn  unsere  Ausführungen  dies  herbeiführen  können,  dann  sind  sie 
nicht  vergeblich  gewesen. 


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442 


LITERATUR. 

Stein,  Ludwig,  Dr.  ord.  Professor  der  Philosophie  an  der  Uni- 
versität Bern,  Die  soziale  Frage  im  Lichte  der  Philosophie. 
Vorlesungen  über  Sozialphilosophie  und  ihre  Geschichte. 
Zweite  verbesserte  Auflage.    Stuttgart.  Enke,  1903. 

Die  erste  Auflage  dieses  Buches  habe  ich  im  „Archiv  für  syste- 
matische Philosophie"  VI,  4  (1900)  mit  anderen  Werken,  die  in  das 
Gebiet  der  Soziologie  und  in  die  Jahre  1897  und  1898  fielen,  ange- 
zeigt. Ich  hatte  dem  Buche  einen  „ganz  überwiegend  exoterischen", 
sodann  einen  eklektischen  und  synkretistischen  Charakter  zugeschrieben. 
Ich  hatte  nachgewiesen,  daß  in  der  Anlage  und  in  den  Grundgedanken 
eine  große  Verworrenheit  und  widerspruchsvolle  Unklarheit  anzutreffen 
ist;  ich  hatte  die  Weichheit  der  Denkgesinnung  hervorgehoben,  und  die 
Schreibart  „vielfach  geradezu  schwülstig"  genannt.  Gleichwohl  ist  mir 
privatim  von  mehreren  Seiten  der  Vorwurf  gemacht  worden,  und  zwar 
auch  von  Personen,  deren  Urteil  dem  Autor  offenbar  mehr  gilt,  als  das 
meine,  daß  ich  zu  günstig,  zu  milde  über  das  Buch  geurteilt  habe.  Ich 
hatte  mich  allerdings  bemüht,  auch  einiges  Gute  daran  zu  lassen,  und 
hatte  gelobt,  was  ich  mit  gutem  Gewissen  loben  konnte  und  um  gerecht 
zu  sein,  loben  wollte. 

Im  Vorwort  der  neuen  Auflage  sagt  der  Verfasser,  er  sei  den 
Kritikern  der  ersten  durchweg  zu  großem  Danke  verpflichtet;  Winke 
und  Ratschläge,  die  ihm  in  der  wohlwollendsten  Weise  für  die  zweite 
Auflage  von  mehreren  Seiten  erteilt  worden  seien,  werde  man  beherzigt 
und  dankbar  verwendet  finden.  Winke  und  Ratschläge  hatte  ich  nicht 
erteilt ;  auf  eine  Wirkung  meiner  Kritik  deuten  also  diese  Worte  nicht. 
Eis  ist  aber  nicht  nur  für  mich,  sondern  auch  für  die  Sache  von  einigem 
Interesse,  ob  der  Verfasser  die  schweren  Fehler,  die  von  mir  an- 
gemerkt und  gerügt  waren,  als  solche  erkannt  und  berichtigt  habe. 

Meine  Ausstellungen  bezogen  sich  hauptsächlich  auf  Plan  und  Ein- 
teilung des  Werkes,  also  auf  die  Logik  seiner  Struktur.    Ich  konnte 


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F.  Tönnies:  Stein,  Ludwig,  Die  soziale  Frage  im  Lichte  der  Philosophie.  443 


keinen  Sinn  darin  finden,  „das  soziale  Zusammenleben  der  Menschen" 
den  „3  Momenten  einer  sich  von  selbst  einstellenden  (??)  philosophischen 
Betrachtungsweise"  unterwerfen  zu  wollen,  die  vorgestellt  werden  als 
a)  Ursprung  alles  menschlichen  Gemeinschaftslebens,  b)  geschichtlicher 
Werdegang  der  sozialen  Organismen,  c)  der  augenblickliche  Stand  der 
sozialen  Probleme  —  und  dies  so  auszuführen,  daß  der  ganze  zweite 
Abschnitt  (S.  175 — 511  in  1.  Aufl.),  der  das  „Moment"  b  zu  entwickeln 
bestimmt  ist,  nichts  als  den  „Umriß  einer  Geschichte  der  —  Sozial- 
philosophie" enthält.  Zu  meinem  großen  Erstaunen  muß  ich  be- 
merken, daß  dieser  grobe  logische  Fehler  in  der  zweiten  Auflage  un- 
verändert wiederkehrt.  Im  Wesen  unverändert.  In  der  Form  durch 
eine  scheinbare  Verbesserung  verschlimmert.  Seinem  Quid  pro  quo 
hatte  der  Verfasser  einen  falschen  Schein  der  Begründung  dadurch  zu 
geben  versucht,  daß  er  den  „geschichtlichen  Werdegang  der  sozialen 
Organismen"  einen  zwiefachen  sein  ließ:  a)  ihr  unreflektiertes  Wachs- 
tum, b)  ihren  reflektierten  Zustand,  der  seit  etwa  100  Jahren  daher 
komme,  daß  der  menschliche  Geist  das  menschliche  Gemeinschaftsleben 
dem  unbewußten  Wachstum  entrücken  „wolle",  um  es  bewußt  umzu- 
formen. Wie  fadenscheinig  diese  Begründung  war,  brauche  ich  nicht  zu 
erörtern;  man  sieht  ja  die  Fäden.  Die  neue  Auflage  hat  auf  das  Ge- 
wand ein  paar  Flicken  gesetzt:  statt  von  sozialen  Organismen  wird  von 
sozialen  Institutionen  geredet,  statt  der  immanenten  Teleologie  des  Naturge- 
schehens (durch  welche  pompöse  Künstlerin  das  unreflektierte  Wachs- 
tum jener  „vorgezeichnet"  wurde)  tritt  jetzt  einfach  „der  Gang"  des 
Naturgeschehens  auf  —  übrigens  alles  beim  alten.  Aber  ein  neuer  Satz 
ist  hinzugekommen  (S.  37),  der  die  vielfachen  Umschreibungen  des 
„Planes"  vermehrt.  „Sobald  es  uns  ....  gelungen  sein  wird,  den  Ur- 
sprung menschlicher  BeziehungsformeD  aufzudecken  [das  soll  den  Inhalt 
des  ersten  Abschnittes  bedeuten],  werden  wir  in  einem  Abriß  einer  Ge- 
schichte der  Sozialphilosophie  den  Werdegang  der  sozialen  Institutionen, 
*so  wie*  1 )  dessen  * W  i  d  e  r  s  p  i  e  g  e  1  u  n  g*  in  den  Köpfen  der  Denker 
zu  schildern  haben."  Dieser  Zusatz  hält  aber  den  Autor  nicht  ab,  gleich 
nachher  aus  der  ersten  Auflage  zu  wiederholen:  „im  zweiten  geschicht- 
lichen Abschnitt  werden  wir  die  soziologischen  ^Gedankengänge*  der 
führenden  Kulturvölker  von  ihrem  ersten  durchsichtigen  Cmpordämmern 
an  bis  zu  ihren  gegenwärtigen  .  .  .  Formen  hinauf  verfolgen."  Dieses 
Wiederholte  hat  wenigstens  den  Vorzug,  daß  es  den  wirklichen  literar- 
historischen Charakter  des  Abschnittes,  wenn  auch  in  geschwollenen 
Worten,  ausdrückt.  Jener  Zusatz  ist  einfach  unwahr.  Von  dem  Werde- 
gang der  sozialen  Institutionen  ist  weder  in  den  einundzwanzig  Vorlesungen 
der  ersten  noch  in  den  ebensovielen  der  zweiten  Auflage  die  Rede.  Oder 
sollen  etwa  die  dürftigen  Bemerkungen  über  den  spartanischen  Kommu- 


j   Die  in  Sternchen  stehenden  Worte  sind  im  Original  nicht  hervorgehoben. 


444 


Literatur. 


nismus  (S.  148  -),  über  das  Imperium  romanum  und  den  Universal 
episkopat  (S.  192),  über  die  französischen  Nationalwerkstätten  (S.  274), 
Bemerkungen,  die  nicht  einmal  den  bescheidensten  Anforderungen  ge- 
recht werden,  die  man  an  eine  Darstellung  jenes  „Werdegangs",  wenn 
auch  nur  in  seiner  Bedeutung  für  die  Geschichte  der  Sozialphilo- 
sophie stellen  müßte,  eine  solche  Darstellung  ersetzen?!  Vor  der  die 
„Widerspiegelung  in  den  Köpfen"  in  die  zweite  Stelle  zurücktreten 
würde?  Wofür  hält  der  Verfasser  seine  Leser? 

Ich  hatte  in  meiner  Kritik  auf  noch  einen  anderen  Versuch,  dem 
Gedankengang  eine  Basis  zu  verleihen,  hingewiesen.  Stein  unterscheidet 
„stabile"  und  „labile"  Formen  des  Zusammenlebens  („sozialen  Zusammen 
lebens"  sagt  er,  pleonastisch,  wie  fast  in  jedem  Satze).  Jene,  nämlich 
„Familie  und  Eigentum,  Gesellschaft  und  Staat,  Sprache,  Recht  und 
Religion"  seien  gleichsam  sozialer  Wildwuchs;  Regeln  des  Verhaltens, 
die  das  soziale  Telos  mit  immanenter  Logik  „schaffe"  —  dies  soll  sich 
also  decken  mit  dem,  was  sonst  „das  unreflektierte,  von  der  immanenten 
Teleologie  des  Naturgeschehens  vorgezeichnete  Wachstum  der  sozialen 
Organismen"  genannt  wurde.  Hingegen  wird  nun  deren  „reflektierter 
Zustand"  ausdrücklich  und  ausschließlich  bezogen  auf  „Moral  und 
Wissenschaft,  Technik  und  Kunst":  die  moralischen  künstlerischen  und 
wissenschaftlichen  Imperative  („hingegen")  seien  „bereits"  „A  u  s  f  1  u  ß  der 
namentlich  in  der  Philosophie  zum  Selbstbewußtsein  gelangten,  das 
Wesen  dieser  Befehle  zergliedernden,  und  die  Möglichkeit  einer  ge- 
flissentlichen Umbiegung  derselben  erwägenden  menschlichen  Vernunft". 
(In  der  2.  Aufl.  dieselben  Sätze,  nur  ist  statt  „Ausfluß"  —  „Wirkungen" 
eingesetzt).  Ich  hatte  darauf  aufmerksam  gemacht,  daß  nach  dem  Zu- 
sammenhange, und  namentlich  nach  dem  Absätze,  der  den  „ersten  Ab- 
schnitt" beschloß,  verstanden  werden  müsse,  Moral  und  Wissenschaft, 
Technik  und  Kunst  seien  durch  —  sozialphilosophische  Reflexion  ins  Leben 
gerufen  oder  bewirkt  oder  erzeugt.  Nach  dem  Schlußsatze  sollte  eine 
geschichtliche  Skizze  des  sozialphilosophischen  Ideenganges  der  Mensch- 
heit uns  in  den  Stand  setzen,  die  Spiegelungen  der  sozialen  Funktionen 
in  den  Köpfen  der  bedeutsamsten  Sozialphilosophen  zu  beobachten, 
sowie  die  bisher  zutage  getretenen  Vorschläge  zur  Umformung  dieser 
sozialen  Funktionen  kennen  zu  lernen.  Als  soziale  Funktionen  werden 
hier  die  Dinge  bezeichnet,  die  sonst  Formen  des  sozialen  Zusammen- 
lebens hießen,  und  im  ersten  Abschnitt,  wie  der  Verlasser  versichert, 
behandelt  wurden,  „wie  sie  sich  in  ihrem  natürlichen  Wachstum  ent- 
wickelt haben".  Er  will  sie  im  zweiten,  wie  es  an  dieser  Stelle  dann 
hieß,  „in  ihrem  geistesgeschichtlichen  Werdegang  belauschen".  „Zu  den 
vergleichsweise  stabilen  Formen  der  sozialen  Gemeinschaft  rechnen  wir 
a)  Familie,  b)  Eigentum  .  .  .  c)  die  Gesellschaft  .  .  .  d)  den  Staat.  Zu 
den  labilen  rechnen  wir:  a)  die  Sprache,  b)  das  Recht,  c)  die  Religion 
.  .  .  weiterhin  Technik  und  Kunst,  Moral  und  Philosophie"  (2.  Aufl.  S.  38). 


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F.  Tönnics:  Stein,  Ludwig,  Die  soziale  Frage  im  Lichte  der  Philosophie. 


Das  sind  alles  soziale  Funktionen,  die  sich  in  den  Köpfen  der  bedeut- 
samsten Sozialphilosophen  „spiegeln"!  Aber  nein:  in  der  2.  Auflage  ist 
jener  Schlußabsatz  gestrichen  worden:  vielleicht  eine  kleine  Wirkung 
meiner  Kritik.  Auch  in  der  1.  Aurlage  war  die  Philosophie  an  dieser 
Stelle  eskamotiert  worden,  dagegen  traten  als  „labile  soziale  Funktionen" 
„Moral,  Wissenschaft,  Kunst,  Strategie  und  Technik  der  Erfindungen" 
auf;  die  beiden  letzteren  heißen  in  der  2.  „Kriegskunst  und  Erfindungs- 
kunst". In  beiden  folgt  eine  Seite  nachher  (S.  144  •)  der  Satz:  „Moral 
und  Wissenschaft,  Technik  und  Kunst  sind  bereits  Erzeugnisse  reflektierter 
Imperative".  Gewiß  ein  sehr  tiefer  Satz.  Wenn  ich  ihn  nur  ergründen 
könnte!  Glücklicherweise  umschreibt  der  Verfasser  seine  „Gedanken" 
regelmäßig  in  neuen  Sätzen.  Derselbe  Sinn,  den  der  angeführte  Satz 
haben  soll,  wird  in  dem  vorhin  schon  zitierten  Satze  wiedergegeben,  wo- 
nach die  moralischen,  künstlerischen  und  wissenschaftlichen  (wo  bleibt 
die  Technik?)  Imperative  Wirkungen  (früher  „Ausfluß")  der  nament- 
lich in  der  Philosophie  zum  Selbstbewußtsein  gelangten ,  das  Wesen 
*dieser  Befehle  zergliedernden*  und  die  *Mögl  ichkeit* 
einer  geflissentlichen  Umbiegung  derselben  *er  wäg  enden*  mensch- 
lichen Vernunft  sind.  Man  merke  also  wohl:  Moral  und  Wissenschaft, 
Technik  und  Kunst  sind  „bereits"  von  reflektierten  Imperativen  erzeugt 
worden.  Die  menschliche  Vernunft  bewirkt  (oder  läßt  aus  sich  heraus- 
fließen) moralische,  künstlerische  und  wissenschaftliche  Imperative,  auch 
„bereits"  —  sind  es  dieselben  „reflektierten"  Imperative,  die  Vater  und 
Mutter  von  Wissenschaft,  Technik  und  Kunst  sind,  oder  sind  es  andere  ? 
Einen  Sinn  kann  ich  weder  in  der  einen  noch  in  der  anderen  Alter- 
native entdecken.  Aber  weiter:  die  menschliche  Vernunft  bewirkt  nicht 
nur  diese  Imperative,  sie  zergliedert  auch  ihr  Wesen  und  erwägt  die 
Möglichkeit  einer  geflissentlichen  Umbiegung  „derselben".  Gleichzeitig 
gelangt  diese  sonderbare  alte  Dame  „in  der  Philosophie"  zum  Selbst- 
bewußtsein. Gott  sei  Dank!  Denn  nun  kommen  wir  doch  zur  Sozial- 
philosophie —  zur  Motivierung  für  die  Mitteilungen  über  deren  „Ge- 
schichte" sollen  ja  diese  Umschweife  dienen.  Ein  scheinbarer  Begriff  wird 
uns  gegeben  mit  dem  Worte  „sozialer  Wildwuchs"  —  oder,  wie  gleich 
nachher  umschrieben  wird,  der  „pfadlose  Urwald  sozialer  Imperative, 
wie  er  wirr  und  planlos  in  die  Höhe  geschossen  ist"  oder,  wie  in  einem 
ferner  folgenden  Satze  nochmals  umschrieben  wird,  „was  bisher  an 
Regelungen  der  Beziehungen  von  Menschen  untereinander,  sowie  der 
Beziehungen  des  Menschen  zu  der  ihn  umgebenden  organischen  und  un- 
organischen Natur  wildwüchsig  —  weil  nur  unbewußt-zweckmäßig  — 
geworden  und  erwachsen  ist".  —  Der  Begriff  ist  völlig  unklar  und 
wertlos.  Solange  es  Menschen  gibt,  hat  an  menschlichen  Institutionen 
vernünftiges  Denken  mitgewirkt.  Freilich  in  sehr  verschiedenem  Grade, 
auf  sehr  verschiedene  Weise,  mit  sehr  verschiedener  Kraft.  Mehr  oder 
weniger  klar  und  scharf,  mehr  oder  weniger  mythologisch  und  theo- 


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446 


Literatur. 


logisch,  vor  allem  mehr  oder  weniger  frei  gegenüber  der  Tradition  und 
aller  anderen  Autorität  ist  gedacht  worden.  Was  der  Verfasser  hier 
meint,  kann  ja  nicht  zweifelhaft  sein :  etwa  dies,  daß  in  späteren  Epochen 
einer  Kultur  mehr  und  mehr  freies,  mehr  und  mehr  klares,  mehr  und 
mehr  wissenschaftliches  Denken  auf  die  sozialen  Institutionen  Einfluß 
gewinnt.  Daß  er  dabei,  als  bisher  oder  in  den  Anfangen,  wildwüchsig, 
Familie  und  Eigentum,  Gesellschaft  und  Staat,  Sprache,  Recht  und  Reli- 
gion, in  einem  Topf  durcheinander  rührt,  wollen  wir  passieren  lassen. 
Irgendwelche  zunehmende  Wirkungen  der  „Vernunft"  auf  alle  diese  Dinge 
kann  man  ja  behaupten.  Auf  die  Sprache  wirkt  die  Vernunft  (oder 
Unvernunft)  der  Grammatiker,  der  Dichter  und  Schriftsteller,  auf  das 
Recht  die  Vernunft  der  Juristen  und  Politiker,  auf  die  Religion  die 
Vernunft  der  Theologen  und  Philosophen  ...  auf  Gesellschaft  und  Staat  ? 
meinetwegen  alle  zusammen,  ich  würde  freilich  denken,  sie  wären  im 
Rechte  irgendwie  enthalten,  die  Gesellschaft  im  Privatrecht,  der  Staat 
im  öffentlichen  Recht;  ebenso  würde  ich  Familie  und  Eigentum  zunächst 
als  Rechtsbegriffe  definieren,  und  dann  etwa  einen  Begriff  der  sozialen 
Ordnung  suchen,  der  unterhalb  alles  positiven  Rechtes  läge.  Soziale 
„Funktionen1'  sollen  das  alles  sein  und  als  solche  Familie  und  Sprache, 
Eigentum  und  Religion  auf  einer  Fläche  liegen  ?  Welch  ein  Ungedanke  1 
Aber  lassen  wir  das.  Was  meint  also  unser  Verfasser?  Mit  der  Be- 
trachtung zunehmender  Einwirkung  der  „Vernunft"  auf  die  sozialen 
Institutionen  vermischt  und  verwirrt  sich  ihm  die  Vorstellung  des  Ein- 
flusses, den  philosophische  oder  wissenschaftliche  Reflexionen  über 
diese  Institutionen  auf  Gesetzgeber,  Theologen  usw.  gehabt  haben  mögen, 
oder  verwirrt  sich  schlechthin  die  Betrachtung  der  Tatsache  solcher 
literarischen  Kopf-Spiegelungen !  Denn  es  heißt  —  und  damit  schließt 
jetzt  dieser  Abschnitt  — :  „Was  bisher  .  .  .  wildwüchsig  ...  das  wird 
jetzt  planmäßig  umgestaltet  und  bewußt-zweckmäßig  reorganisiert.  Die 
Vernunft  übernimmt  das  heikle,  verfängliche  Geschäft,  die  Natur  zu 
meistern,  die  Instinkte  zu  überwachen,  und,  wo  es  not  tut,  umzugestalten, 
indem  sie  [neue  Paraphrase !]  die  unbewußte  Zweckmäßigkeit  der  sozialen 
Institutionen ,  wie  sie  die  immanente  Teleologie  hervorgetrieben  hat, 
durch  eine  bewußte  zu  ersetzen  sucht :  es  entsteht  mit  einem 
Worte  eine  Sozialphilosophie".  Ja,  mit  einem  Worte!  —  Und 
doch  bleibt  es  nicht  bei  diesem  einen  Worte.  Die  erste  Vorlesung 
des  zweiten  Abschnittes  (überhaupt  die  1 3te)  ist  überschrieben :  „Die  ersten 
sozialphilosophischen  Regungen  des  bewußten  Geistes  in  der  Geschichte." 
Darin  ist  (S.  145  —  149)  ein  wenig  von  der  Legende  eines  goldenen 
Zeitalters,  ein  wenig  von  den  Übergängen  von  der  vorhistorischen  Gens 
zum  geschichtlichen  Staat  auf  dem  klassischen  Boden  von  Hellas,  ein 
wenig  vom  spartanischen  Kommunismus,  endlich  ein  wenig  von  der 
Scheidegrenze,  welche  die  Kultur  in  typischer  Weise  von  der  Barbarei 
trenne,  die  Rede.    „Hier  scheiden  sich  aber  auch  unsere  Wege  von  der 


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K.  Tönnies:  Stein,  Ludwig,  Die  soziale  Frage  im  Lichte  der  Philosophie. 


Marxschen  Geschichtsauffassung,  welche  nur  ökonomische  Motive  als 
Fermente  sozialer  Klassenbildungen  anerkennt.  In  der  Barbarei  sind  es 
überwiegend  Ökonomische  Vorbedingungen,  welche  den  Klassenkampf 
erzeugen  und  so  die  soziale  Entwicklung  fördern.  Im  Kulturzustand 
hingegen  (NB.  nun  kommt  eine  neue  Paraphrase  des  uns  schon  sehr  be- 
kannten „Gedankens")  erhebt  sich  der  menschliche  Geist  in  seinem  re- 
flektierenden Bewußtsein  zu  einer  sozialen  Macht,  welche  neben  der 
ökonomischen  eine  wesentliche  Einwirkung  auf  die  Gesellschafts-  und 
Staatenbildung  ausübt.  [Hier  bleiben  also  Familie,  Sprache  usw.  außer 
Ansatz].  Waren  die  sozialen  Gebilde  [welche  also?]  früher  *nur  mehr* 
das  Erzeugnis  eines  unreflektierten  Naturprozesses,  so  werden  sie  jetzt 
[wann?]  Gegenstand  der  Beobachtung  und  Untersuchung  seitens  des  be- 
wußten Geistes"  [Nochmalige  Paraphrase,  die  wievielte?].  Punkt.  Ab- 
satz. „In  dem  Augenblick,  da  der  menschliche  Geist  jene  Reife  er- 
langt, wie  sie  sich  in  einer  umfassenden  philosophischen  Weltanschauung 
ausprägt,  schiebt  sich  sehr  bald  [in  dem  Augenblicke  sehr  bald!]  die 
soziologische  Frage  in  den  Vordergrund,  ob  man  die  Organisation  der 
Gesellschaft  noch  weiter  dem  Spiel  der  sozialen  Naturkräfte  blindlings 
überlassen  und  nicht  vielmehr  nach  reiflich  erwogenen,  planvoll  er- 
dachten Prinzipien  selbst  regeln  sollte.  „Es  entsteht  mit  einem 
Worte  die  Politik  als  Wissenschaft"  (S.  150).  Also  nicht  die 
Sozialphilosophie?  Oder  ist  das  ein  und  dasselbe?  Bei  dem  Verfasser 
muß  man  immer  die  Tendenz  zum  ein  und  demselben  voraussetzen. 
Wozu  aber  dann  nun  nochmals  das  eine  Wort?  Der  dritte  Satz  der 
nun  folgenden  14.  Vorlesung  (betitelt  „Das  erste  Auftauchen  der  sozialen 
Frage  bei  den  Griechen")  heißt  dann  wieder:  „In  dem  Augenblicke  (!) 
da  *große  Gesetzgeber*  allgemein  gültige  öffentliche  Befehle  erlassen 
ist  die  Vernunft  an  die  Stelle  des  Instinktes  getreten."  „Die  soziale 
Vernunft  setzt  ein  mit  großen  Gesetzgebern  wie  Drakon  und  Solon  .  .  ." 
Ist  das  nun  die  Politik  als  Wissenschaft?  oder  die  Sozialphilosophie? 
oder  mit  einem  Worte  .  .  .? 

In  den  Vorträgen  über  Geschichte  der  Sozialphilosophie  ist  viel- 
leicht (ich  habe  nicht  alle  eingehend  geprüft)  manches  zur  populären 
Belehrung  Taugliche  enthalten.  Die  Anlage  ist  von  höchst  seltsamer 
Art.  Zuerst  wird  in  5  Vorlesungen  über  das  Altertum  (Piatons  Republik, 
Aristoteles  Politik  usw.),  dann  in  je  einer  über  das  Urchristentum  und 
über  Sozialphilosophie  des  Mittelalters  und  über  die  Sozialphilosophie 
im  Zeitalter  der  Renaissance  gesprochen.  Die  folgenden  12  (S.  220 — 345) 
handeln  von  nichts  als  von  Sozialismus  und  Kommunismus,  zuerst  nämlich 
von  „Staatsromanen",  zuletzt  von  Staatssozialismus,  Kathedersozialismus, 
offizieller  Sozialdemokratie  usw.  Dann  kommt  auf  einmal  die  letzte 
und  unverhältnismäßig  lange  33.  Vorlesung,  und  betitelt  sich  „Zur  Ge- 
schichte der  Sozialphilosophie  von  der  Renaissance  an  bis  auf  die  Gegen- 
wart".   Also  alles  was  in  den  12  Vorlesungen  mitgeteilt  wurde,  gehörte 


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Literatur. 


nicht  zur  Sozialphilosophie?  Und  doch  war  von  der  „werdenden  National- 
ökonomie", von  Quesnay  und  Turgot,  war  von  Adam  Smith  die  Rede, 
dann  von  Rousseau,  Saint  Simon  und  Fourier;  endlich  von  Proudhon, 
von  Marx,  von  Lassalle.  .  .  .  Jene  33.  Vorlesung  überrascht  uns  gleich 
im  Anfange  wieder  mit  einem  sonderbaren  Satze:  „Von  einer  Sozial- 
Philosophie  als  eigener  Disziplin,  welcher  die  Prüfung  und  klassifika- 
torische  Verarbeitung  der  psychologischen,  ästhetischen  und  ethischen 
Faktoren  im  gesellschaftlichen  Organismus  obliegt,  kann  recht 
eigentlich  erst  seit  dem  Auftreten  von  Auguste  Comte  ernstlich  ge- 
sprochen werden."  Dann  folgt  nach  einigen  Zwischensätzen:  „Das  phi- 
losophische Staatsrecht  und  die  Rechtsphilosophie  gehen  der  Sozial- 
philosophie zeitlich  voraus."  Nachdem  auf  den  folgenden  Seiten  noch 
mehrfach  umschrieben,  „in  welchem  Augenblicke"  eine  Sozialphilo- 
sophie als  eigener  Wissenszweig  sich  auftun  konnte,  wann  der  zwin- 
gende Anlaß  zur  Entstehung  einer  Sozialphilosophie  gegeben  war,  folgt 
S.  350  als  Disposition:  „Sehen  wir  uns  aber  genötigt,  die  in  den  Natur- 
rechtsschulen und  staatsphilosophischen  Systemen  von  der  Renaissance 
bis  auf  Comte  sporadisch  aufblitzenden  sozialphilosophischen  Gedanken- 
gänge nur  als  vorbereitende  Etappen  zur  Bildung  einer  Sozialphilosophie 
als  Wissenschaft  zu  betrachten,  so  wird  man  es  begreiflich  und  der 
Ökonomie  unserer  Auseinandersetzung  entsprechend  finden ,  wenn  wir 
diese  vorangegangenen  Etappen  nur  in  aller  Knappheit  skizzieren,  um 
dafür  bei  Comte  und  seinen  Nachfolgern  desto  länger  verweilen  zu 
können."  Hier  wird  also  mit  dürren  Worten  ausgesagt,  daß  die  sämt- 
lichen Nationalökonomen,  Kommunisten  und  Sozialisten  in  eine  Geschichte 
der  Sozialphilosophie  überhaupt  nicht  hineingehörten.  Und  doch  die 
12  Vorlesungen!  —  Doch  halt!  Wenigstens  die  Staatsromane  stehen 
doch  in  einem  Verhältnis  zur  Sozialphilosophie!  Den  Utopismus  be- 
zeichnet nämlich  unser  Autor  als  den  mystischen  Schatten  der 
werdenden  Sozialphilosophie  (S.  220).  Hören  wir  mehr  über 
die  Utopisten.  „Was  die  Apostel  religiös  bedeuten,  das  sind  die  Uto- 
pisten politisch:  *  Erlöser*.  Sie  sind  *  Herolde*,  welche  das  Heran- 
rauschen einer  neuen  Zeit  ankündigen.  Man  kann  nämlich  den  Nach- 
weis führen  daß,  in  der  Neuzeit  zumal,  jeder  weitergreifenden  und  in 
die  Tiefe  gehenden  sozialen  Bewegung  ein  Utopist  als  *  Fahnenträger  * 
vorangegangen  ist."  Will  jemand  diesen  Nachweis  kennen  lernen  ?  „Die 
erste  neuzeitliche  Utopie  ist  die  des  Thomas  Morus  (erschienen  1516). 
Ein  Jahr  darauf  schlug  Luther  in  Wittenberg  seine  95  Thesen  an  und 
gab  damit  das  Signal  zum  Ausbruch  (!)  der  Reformation,  deren  Ziele 
zwar  religiöser  Natur  waren,  deren  Ausgangspunkt  aber  auch  ein  sozialer 
gewesen  ist."  Dies  also  war  der  erste  Streich.  .  .  .  „Etwa  ein  Jahr- 
hundert später  findet  die  Utopie  des  Thomas  Morus  eine  bemerkens- 
werte Reihe  von  berufenen  und  unberufenen  Nachahmern.  Der  eng- 
lische Lordkanzler  B a c o  n  .  schreibt  seine  Nova  Atlantis  (1621),  Cara- 


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F.  Tön  nies:  Stein,  Ludwig,  Die  soziale  Frage  im  Lichte  der  Philosophie.  449 

panella  seinen  Sonnenstaat  (1630).  Harrington  seine  Oceana  (1656), 
Vairasse  seine  Histoire  de  Sevarambes  (1677)  —  lauter  Staatsromane, 
die  nach  dem  Muster  der  Utopie  eine  glückliche  Insel  schildern,  wo 
politische  und  soziale  Idealzustände  herrschen.  Und  was  folgt  historisch 
auf  diese  Wiederbelebung  des  Staatsromans?  Wieder  eine  soziale  Be- 
wegung, welche  um  die  Mitte  des  17.  Jahrhunderts  (1648)  in  England 
ausbrach,  deren  Adepten  man  in  der  Geschichte  als  „Levellers"  be- 
zeichnet. Aus  diesen  *  Puritanern  oder  Levellers*  die  sich  durch  stark 
kommunistische  Tendenzen  auszeichneten,  zweigte  sich  die  große  Sekte 
der  Quäker  ab,  aus  denen  wieder  die  kommunistische  Sekte  der  Shaker, 
die  sich  über  ein  Jahrhundert  lang  unter  streng  kommunistischen  Ver- 
hältnissen erhalten  konnte,  herausentwickelt  hat  ] soll  wohl  heißen:  „sich 
herausentwickelt  hat"].  Das  also  war  der  zweite  Streich.  Doch  der 
dritte  folgt  sogleich.  „Im  18.  Jahrhundert  schrieb  Morelly  den  Staats- 
roman „Basiliade"  (1753),  zu  deren  Verteidigung  er  zwei  Jahre  darauf 
(1755)  seinen  „Code  de  la  nature",  ein  sozialistisches  Manifest,  heraus- 
gab. Rousseau  schreibt  seine  „neue  Heloise"  (1771).  **Und  was 
war  die  Folge?  Die  große  französische  Revolution.** 
Man  höre !  man  staune !  „Ein  weiteres  Jahrhundert  später  als  die  große 
französische  Revolution?!]  endlich  erschien  der  letzte  Staatsroman  in 
großem  Stile,  Cabets  Voyage  en  learie  (1842)  .  .  .  „Was  folgte  auf  Ca- 
bets  Voyage  en  Icarie?  Das  blutige  Revolutionsjahr  1848,  in  welchem 
sich  der  deutsche  Sozialismus  anzukündigen  begann"  (der  bekanntlich  in  den 
vorhergehenden  Jahren  schon  recht  sehr  kundbar  war).  Dies  der  vierte 
und  letzte  Streich.  Die  Meinung  dieser  Zusammenstellungen  kann,  wie  jeder 
sieht,  nur  sein,  daß  die  viermalige  zeitliche  Folge  auf  einen  ursäch- 
lichen Zusammenhang  zu  schließen  gebiete.  Wenn  die  französische 
Revolution  schon  im  Ausdrucke  als  die  kausale  Wirkung  der  genannten 
Bücher  hingestellt  wird  —  denn  „die  Folge"  kann  in  deutscher  Sprache 
keinen  anderen  Sinn  haben  —  so  ist  daran  nur  eine  der  nicht  ganz 
wenigen  von  mangelhaftem  Sprachgefühl  zeugenden  Ausdrucksweisen 
schuld,  die  uns  in  dem  Buche  begegnen.  In  der  Tat  schließt  sich  in  (ge- 
wohntem) pomphaftem  Gewände  jener  Gedanke  an:  „Es  kann  unmöglich 
ein  bloßes  Possenspiel  („bloßes  Spiel"  wäre  zu  einfach)  des  Zufalls  sein, 
wenn  bisher  auf  jeden  bedeutsamen  Staatsroman  eine  große  soziale  Be- 
wegung gefolgt  ist.  Die  Regelmäßigkeit  der  Aufeinanderfolge  verbietet 
eine  solche  Auslegung.  Aus  dieser  historischen  Zusammenstellung  muß 
die  philosophische  Betrachtung  vielmehr  folgern,  daß  zwischen  dem  Er- 
scheinen der  Staatsromane  und  dem  Ausbrechen  großer  sozialer  Be- 
wegungen .  .  Nun ,  was  kommt  ?  doch  wohl ,  daß  ein  Verhältnis 
von  Ursache  und  Wirkung  besteht?  —  „auch  ein  gewisser  Zusammen- 
hang herrscht".  Ein  gewisser  Zusammenhang  ?  Das  ist  alles  ?  Parturiunt 
montes  ...  Es  scheint  unmöglich  .  .  .  Und  siehe :  als  der  Berg  zum 
ersten  Male  kreißte,  da  war  es  eine  richtige  Ratte !  In  der  ersten  Auf- 
Archiv für  Sozial wU»en*chaft  u.  Sozialpolitik.  I.    ( A.  f.  *».  G.  u.  St.  XIX.)  a.  29 


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Literatur. 


läge  (S.  289)  heißt  es  dick  und  plump:  „daß  zwischen  dem  Erscheinen 
der  Staatsromane  und  dem  Ausbrechen  großer  sozialer  Bewegungen 
*  auch  ein  gewisser  Kausal  nexus  herrscht  *  Betrachten  wir  die  Ratte 
etwas  näher  —  natürlich  „philosophisch".  An  die  Ratte  müssen  wir  uns 
halten,  denn  das  Mäuschen  hat  ja  nur  einen  Sinn,  insofern  es  auf  die 
Ratte  hinweist.  Sagen  wir  also  ehrlich,  daß  die  Ratte  ein  sehr  häß- 
liches graues  Nagetier  ist.  Hören  wir  zunächst  zu  Ende.  Nach:  „ein 
gewisser  Zusammenhang  (ein  „Kausalnexus")  herrscht".  „Und  so  sind 
denn  die  Utopisten  jene  poetischen  Sturmvögel,  die  das  orkanartige 
Heranrauschen  einer  neuen  Zeit  künden."  Was  sind  denn  die  Utopisten 
nun  eigentlich?  „Mystische  Schatten"  —  „Erlöser"  —  „Herolde"  — 
„Fahnenträger"  —  „poetische  Sturmvögel".  Und  zwar  sehr  ungewöhn- 
liche Sturmvögel,  denn  sie  sind  zugleich  die  Ursachen  des  Sturmes,  den 
sie  ankündigen.  Sehr  ungewöhnliche  Fahnenträger,  sehr  ungewöhnliche 
Herolde,  sehr  ungewöhnliche  Schatten.  Es  ist  wohl  kaum  nötig  zu  sagen, 
daß  es  mit  dem  kausalen  Zusammenhang  rein  gar  nichts  auf  sich  hat. 
Die  einfache  Wahrheit  ist,  daß  die  Unruhe  der  Gemüter,  die  besonders 
in  den  Ländern,  die  an  der  fortschreitenden  Entwicklung  am  lebhaftesten 
beteiligt  sind,  seit  der  Krisis  der  mittelalterlichen  Lebensformen  die 
Menschen  erfüllt,  einerseits  in  Volksbewegungen  und  Staatsumwälzungen 
oder  darauf  zielenden  Versuchen,  andrerseits  in  massenhaften  literarischen 
Erscheinungen  sich  kundgibt  und  abbildet,  und  daß  diese  beiden  Arten 
des  Ausdruckes  gegenseitig  und  zwar  vorzugsweise  fördernd  aufeinander 
wirken,  wenngleich  sie  ihrem  Wesen  nach  unabhängig  voneinander  sind. 
Daß  nun  gerade  die  sporadisch  auftretenden  literarischen  Idealgebilde 
gesellschaftlicher  und  politischer  Zustände  in  dieser  Hinsicht  eine  erheb- 
liche Wirkung  haben,  kann  man  nicht  mit  Grund  sagen.  Im  Gegenteil : 
sie  sind  immer  nur  literarischen  Feinschmeckern,  also  den  oberen,  in 
der  Regel  nicht  aufrührerisch  gesinnten  Schichten  zugänglich  gewesen, 
nicht,  wie  andere  Literaturprodukte,  als  Flugschriften,  Prophezeiungen, 
periodische  Preßerzeugnisse  der  großen  gärenden  Menge.  Von  den  hier  ge- 
nannten Büchern  ist,  soweit  es  wirkliche  Staatsromane  sind,  das  erste,  die 
Utopia  Sir  Thomas  Mores  in  weiten  Kreisen  gelesen  worden,  aber  fast 
ausschließlich  in  Kreisen  der  Humanisten,  die  von  der  kirchlichen  Re- 
volution teils  mit  Widerwillen  gegen  das  Theologengezänk  und  die  Volks- 
aufwicglung  sich  abwandten,  teils  das  retardierende  Moment  in  ihr  bildeten. 
Vollends  ist  es  unbegründet,  von  irgendwelchem  Zusammenhange  der 
Bauernkriege  und  der  anabaptistischen  Aufstände  mit  der  geistreichen 
Satire  des  gelehrten  Juristen  zu  orakeln.1)    Wenn  man  a  priori  sagen 

')  Es  wäre  eher  ein  umgekehrter  Zusammenhang,  als  der  hier  gemeinte,  daß 
nämlich  die  früheren  in  England  an  Wycliffe,  auf  dem  Kontinent  an  Hus  anknüpfen- 
den Volksbewegungen  auf  Mores  Ideen  gewirkt  hatten;  wie  Ziegler,  Einleitung  zu 
seiner  und  Michels'  Ausgabe  der  Utopia  (Berlin  1S95)  S.  XXVI  wenigstens  als  roög- 


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F.  Tönnies:  Stein,  Ludwig,  Die  soziale  Frage  im  Lichte  der  Philosophie.  451 

möchte,  daß  zwischen  bedeutenden  Phänomenen  der  gleichen  Zeit 
von  irgendwie  gleicher,  d.  h.  hier  gegen  bestehende  Zustände  kriti- 
scher Richtung,  irgend  ein  Zusammenhang  vermutet  werden  dürfe,  so 
könnte  doch  gerade  dies  als  ein  klassisches  Beispiel  dafür  gelten,  daß 
solcher  Zusammenhang  erfahrungsmäßig  oft  als  eine  verschwindende 
Größe,  die  wir  gleich  Null  zu  setzen  Ursache  haben,  sich  erweist.  — 
Steins  Satz  ist  —  wir  erinnern  uns  — ,  daß  jeder  weitergreifenden  und 
in  die  Tiefe  gehenden  sozialen  Bewegung  ein  Utopist  als  Fahnenträger 
vorangegangen  ist  Welches  ist  denn  nun  der  zweite  Fall  einer  solchen 
Bewegung  ?  .  . .  Die  der  „Levellers".  Du  meine  Güte !  Weiter  greifend 
und  in  die  Tiefe  gehend?  Die  Levellers  waren  eine  der  vielen  radi- 
kalen, mehr  oder  minder  anabaptistisch-chiliastisch-kommunistischen  und 
schwärmerischen  Sekten  im  Heere  Cromwells.  Sie  hatten  einen  be- 
gabten Führer  —  John  Lilburne  — ,  der  die  unklaren  Ideen  von  Gleich- 
heit, Abschaffung  des  Eigentums  am  Grund  und  Boden  und  Güter- 
gemeinschaft, die  stärker  oder  schwächer  in  allen  diesen  Independenten 
lebten,  in  eine  Art  von  System  brachte  und  in  dem  Jahre  (1648),  wo 
nach  Stein  wieder  eine  soziale  Bewegung  ausbrach ,  eine  Meuterei  im 
Heere  verursachte,  die  rasch  erstickt  wurde.  Die  Sekte  blieb  infolge- 
dessen in  starker  Opposition  gegen  Cromwell  und  begünstigte  sogar  die 
Restauration.  Die  Puritaner,  deren  Haupt  Cromwell  war,  mit  ihnen  zu 
identifizieren,  ist  ein  starker  Irrtum.  Daß  sich  die  „Freunde",  die  sog. 
Quäker,  von  den  Levellers  „abgezweigt"  hätten,  ebenso  irrtümlich.  Die 
Sekte  des  Schuhmachers  Fox  kam  um  dieselbe  Zeit  auf,  sie  war  aber 
in  der  Armee  kaum  vertreten  und  verabscheute  den  Kriegsdienst;  sie 
wurde  von  Cromwell  protegiert,  der  die  Levellers  bekämpfte.  Was  bleibt 
also  ?  „wieder  eine  soziale  Bewegung"  ?  Aber  lassen  wir  sie  gelten,  oder 
nehmen  wir  an,  da  der  Verf.  Puritaner  und  Leveller  für  identisch  hält, 
er  meine  eigentlich  die  ganze  „puritanische  Rebellion"  —  es  soll  also 
„ein  Utopist  als  Fahnenträger"  dieser  sozialen  Bewegung  vorangegangen 
sein.  Welcher  Utopist?  es  werden  vier  genannt;  war  es  Bako  oder 
Campanella  oder  Harrington  oder  Vairasse?  Die  Jahreszahlen  ihrer 
Werke  werden  beigesetzt;  aber  Harrington  mit  der  Oceana  (1656), 
Vairasse  mit  der  Histoire  de  Sevarambes  (1677!)  gehen  doch  nicht 
voran,  wenn  der  „Ausbruch"  der  sozialen  Bewegung  1648  war?l  Bleiben 
also  Campanella  mit  der  Civitas  Solis,  dem  die  falsche  Jahreszahl  1630 
gegeben  wird;  in  Wahrheit  war  das  Buch  zuerst  einzeln  1620,  dann  als 

lieh  gelten  läßt.  Aber  auch  dieser  Zusammenhang  ist,  wie  Zicgler  richtig  erkennt, 
ohne  Bedeutung.  Die  Vorstellung  einer  communio  primaria,  und  daß  das  Privat- 
eigentum Produkt  der  Sünde  sei,  war  allen  kirchlich  und  scholastisch  Gebildeten 
tief  eingepflanzt.  Sie  blieb  für  More,  was  sie  ihrer  Natur  nach  war,  rein  akademisch  ; 
während  die  Schwarmgeister  und  Bauern  sie  ernst  und  eigentlich  nahmen :  daß  näm- 
lich das  „Evangelium''  die  Sünde  und  folglich  auch  das  Eigentum  abschaffen  müsse. 

29* 


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452 


Literatur. 


Anhang  zu  einem  anderen  Werke  1623  herausgekommen  (beidemal  in 
Frankfurt  a.  M.),  und  Bako  mit  dem  Novus  Atlas  (so  ist  der  richtige 
lateinische  Titel);  die  Jahreszahl  1621  ist  ganz  und  gar  willkürlich  angesetzt, 
denn  man  kennt  die  genaue  Zeit  der  Abfassung  nicht,  das  Werk  wurde 
1629,  3  Jahre  nach  seinem  Tode  herausgegeben;  sicher  ist  aber,  daß 
„der  englische  Lordkanzler  Bakon"  es  nicht  schrieb  —  wie  wir  bei  Stein 
lesen  —  sondern  der  im  Ruhestande  lebende  Philosoph,  nachdem  er  aller 
seiner  Ämter  entsetzt  war  (auch  die  Jahreszahl  ist  unbedingt  falsch,  da 
man  doch  das  Jahr  der  Publikation  verstehen  muß ;  verfaßt  ist  das  Buch 
vermutlich  nicht  lange  vor  Bakos  Tode  (1626)  und  eben  darum  Bruch- 
stück geblieben).  Aber  das  tut  ja  nichts  zur  Sache.  Einer  von  beiden 
muß  gemeint  sein :  der  italienische  Dominikaner-Mönch  Campanella  oder 
der  aristokratische  Naturforscher.  Sagen  wir  ehrlich:  das  eine  ist  so 
unsinnig  wie  das  andere.  Widerlegen  würde  Argumente  verschwenden 
heißen.  Gehen  wir  vielmehr  sogleich  auf  die  Suche  nach  dem  Erlöser, 
Herold,  Fahnenträger,  Sturmvogel  der  großen  französischen  Revolution! 
Denn  auch  hier  werden  zwei  genannt :  1 .  Morelly  —  aber  seine  Schriften 
liegen  beinahe  40  Jahre  hinter  der  französischen  Revolution  zurück  — 
der  Abstand  ist  doch  für  einen  Fahnenträger  etwas  zu  weit.  Zu 
schweigen  davon,  daß  die  französische  Revolution  nicht  in  dem  Sinne 
der  hier  gemeint  ist  (nämlich  im  Sinne  sozialistischer  oder  kommu- 
nistischer Ideen)  eine  „soziale  Bewegung"  war.  Also  2.  Rousseau  „schreibt 
seine  neue  Heloise  (1 7  7 1  )'*  —  da  wäre  wenigstens  der  zeitliche  Ab- 
stand auf  ca.  20  Jahre  reduziert,  wenn  ...  ja  wenn  die  Jahreszahl 
richtig  wäre!  Leider  ist  sie  wiederum  falsch.  Die  neue  Heloise  ist  1761 
erschienen,  also  immer  noch  fast  ein  Menschenalter  vor  der  Revolution. 
Gleichwohl:  daß  Rousseau  auf  mehrere  der  leitenden  Revolutionäre  Ein- 
fluß gehabt  hat,  ist  ja  eine  bekannte  Sache,  von  Taine  mit  besonderer 
Emphase  hervorgehoben.  Aber  die  neue  Hdloise??  Ich  denke,  es  war 
der  Contrat  social,  ein  rein  theoretisches  Werk  über  Naturrecht.  Und 
die  neue  Heloise  ein  Staatsroman  ?  eine  Utopie  ?  Die  Liebesgeschichte  im 
ersten  oder  der  Tugendroman  im  zweiten  Teil?  Rousseau  hat  sich  ge- 
rühmt, der  Welt  vor  Augen  geführt  zu  haben,  daß  die  Idylle  nicht 
an  die  unwahren  Gestalten  eines  erträumten  Arkadiens  gebunden,  son- 
dern überall  vorhanden  sei,  wo  in  natürlichen  Zuständen  natür- 
liche Menschen  treu  miteinander  verbunden  leben  —  ist  das  die 
Tendenz  einer  Utopie?  Im  Ernste  kann  davon  keine  Rede  sein.  Der 
Gedanke  ist  hier  ebenso  windig,  wie  dort.  Von  Cabet  und  der  Februar- 
revolution zu  reden  können  wir  uns  sparen.  Der  Kuriosität  halber 
werde  aber  der  Satz  noch  zitiert,  mit  dem  das  ganze  tiefsinnige  ge- 
schichtsphilosophische  (das  will  es  sein)  Räsonnement  sich  einführt 
(S.  221):  „Nun  taucht  eines  Tages  *in  einem  entlegenen  Erden- 
winkel ein  völlig  unbekannter  Schriftsteller*  auf,  der  die 
uns  peinigende  Kluft  der  sozialen  Revolution  mit  einem  feingewobenen, 


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F.  Tonn  i  es:  Stein,  Ludwig,  Die  soziale  Frage  im  Lichte  der  Philosophie.  453 


rosenfarbenen  Schleier  verdeckt  und  uns  einen  berückenden  Ausblick 
in  ein  soziales  Eden  gewährt."  Hübsch  gesagt,  nicht  wahr?  —  Aber 
wer  sind  denn  die  völlig  unbekannten  Schriftsteller  in  entlegenen  Erden- 
winkeln ?  ?  Etwa  Thomas  Morc,  der  in  London  lebte,  der  jüngere  Freund 
und  Korrespondent  des  Erasmus,  schon  dadurch  den  Humanisten  Europas 
wohlbekannt?  Oder  der  Verfasser  der  Instauratio  magna,  und  des  No- 
vum  Organon:  völlig  unbekannt,  als  der  Novus  Atlas  3  Jahre  nach 
seinem  Tode  herauskam?  Oder  Tommaso  Campanella,  der  schon  um 
die  Wende  des  Jahrhunderts  als  Anti-Aristoteliker  berühmt  war?  Oder 
Rousseau,  als  er  die  neue  Heloise  schrieb?  —  Was  sollen  also  jene 
blümeranten  Redensarten?  sind  sie  nur  gebraucht,  weil  sie  (dem  eigen- 
tümlichen Geschmack  des  Verfassers)  „schön"  zu  sein  schienen,  ohne 
alle  Rücksicht  auf  Grund  und  Wahrheit?  Es  ist  leider  keine  andere 
Deutung  möglich.  Eine  solche  Summe  von  Schiefheiten  und  Verkehrt- 
heiten, ein  so  hohles  Theoretisieren,  wie  auf  diesen  zwei  Seiten  geleistet 
wird,  ist  ja  nicht  überall  in  dem  Buche  anzutreffen.  Man  ist  geneigt, 
einem  so  umfangreichen  Werke,  in  dem  so  viele  Gegenstände,  wenn 
nicht  behandelt,  so  doch  gestreift,  so  viele  Namen  genannt,  Bücher  und 
Abhandlungen  massenhaft  zitiert  werden,  einige  Mängel  und  Ungenauig- 
keiten  zugute  zu  halten.  Aber  es  darf  nicht  verschwiegen  werden,  daß  die 
hier  durchgenommenen  zwei  Seiten  charakteristisch  sind  für  die  Arbeits- 
wie  für  die  Schreibweise  des  Verfassers.  Man  kann  das  Buch  kaum 
aufschlagen,  ohne  auf  etwas  Nichtiges  oder  Verkehrtes  oder  Aufge- 
bauschtes und  Schales  zu  stoßen.  Ein  paar  Proben  mögen  dies  harte 
Urteil  noch  belegen.  Es  ist  von  Herbert  Spencer  die  Rede.  Nach 
einem  schrecklichen  Satze  über  „die  metaphysischen  Kleinmeister  und 
soziologischen  Wickelkinder",  die  angeblich  einen  höhnischen  Ton  gegen 
diesen  geistigen  Recken  anschlagen,  als  die  Scylla,  und  den  „gut  ge- 
schulten in  alle  Gegenden  der  Windrose  zerstreuten  Chor  der  Spen- 
cerianer",  der  angeblich  einen  Jubelhymnus  allenthalben  anstimmt,  als 
der  Charybdis,  zwischen  denen  —  versteht  sich  —  die  Bark  „Sozial- 
philosophie Ludwig  Stein"  ihren  sichern  Kurs  steuert  [diesmal  ist  es 
meine  Bildersprache  ,  läßt  sich  deren  Steuermann  also  vernehmen:  „Wir 
setzen  dieser  organischen  Methode  —  einem  Nachklang  der  „organischen 
Staatslehre"  —  die  vergleichend-geschichtliche  gegenüber"  (S.  381).  Ob 
sich  die  organische  Methode  mit  Recht  ein  Nachklang  der  organischen 
Staatslehre  nennen  lasse,  wollen  wir  nicht  prüfen.  „Die  Gefahren  metho- 
dologischer Einseitigkeiten  treten  in  der  Regel  bei  den  Schülern  noch 
offenkundiger  zutage  als  beim  Meister,  wie  sich  dies  schon  in  der  orga- 
nischen Staatslehre  (v.  Savigny)  gezeigt  hatte."  Ist  Savigny  hier  der 
Meister?  oder  einer  von  den  Schülern?  Hat  Savigny  eine  Staatslehre 
verfaßt?  oder  in  irgend  einer  Schrift  eine  Theorie  des  Staates  entworfen? 
Und  da  doch  wohl  an  Savigny  als  den  Meister  der  „historischen  Rechts- 
schule", die  ja  allerdings  in  einem  gewissen  Verwandt  Schaftsverhältnis 


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454 


Literatur. 


zur  organischen  Staatslehre  steht,  gedacht  ist:  welche  Schüler  Savignys 
haben  organische  Staatslehren  geschrieben?  Oder  hat  eben  nur  ein 
vager  Begriff  von  jenem  Verwandtschaftsverhältnis  vorgeschwebt?  Ich 
glaube,  so  ist  es.  —  „Ihm  (Spencer)  ist  eben  „Prinzip  der  Gesellschaft: 
so  wenig  als  möglich  Zwang,  Prinzip  des  Staates:  so  viel  als  möglich 
Zwang."  Daraus  erklärt  sich  seine  nervöse  Angst  vor  jeder  Einmischung 
des  Staates,  in  welchem  er  ja  nur  eine  Zwangsanstalt  sieht"  (S.  383). 
Man  bemerke  wohl,  daß  die  Worte  Prinzip  bis  Zwang  in  dem  Buche 
selber  von  Anführungszeichen  umgeben  sind.  Dazu  bemerkt  in  der 
ersten  Autlage  eine  Fußnote :  „F.  Tönnies,  Philosophische  Monatshefte, 
Bd.  XXVIII,  1892,  63;  Emile  Dürkheim,  Division  du  travail  social.  Paris 
1893.  S.  218  fT."  In  der  2.  Auflage  ist  diese  zitierende  Note  ge- 
strichen und  durch  folgende  ersetzt:  „Vgl.  meine  (Ludwig  Steins) 
beiden  Abhandlungen:  Herbert  Spencer,  Literaturblatt  der  N.  Fr.  Presse 
vom  22.  Juni  1902  und  Herbert  Spencers  Schwanengesang,  ebenda 
31.  Aug.  1902,  wo  ich  usw."  Offenbar  hat  Hr.  Stein  die  Worte  „Prinzip" 
bis  „Zwang"  für  ein  Zitat  aus  Spencer  gehatten ;  er  hat  gemeint,  daß  es 
ebenso  zu  seiner  Verfügung  stehe,  wie  zu  meiner;  daß  er  es  zufällig 
zuerst  bei  mir  gelesen  hatte,  schien  ihm  unerheblich.  Unglücklicher- 
weise ist  der  Satz  kein  Zitat,  er  ist  auch  gar  nicht  zur  Charakteristik 
eines  Spencerschen  Theorems  bestimmt;  Spencer  kennt  den  Dualismus 
der  Begriffe  „Gesellschaft"  und  „Staat"  gar  nicht.  Der  Satz  ist  aus- 
schließlich mein  Satz,  er  will  meine  Begriffe  von  Gesellschaft  und 
Staat  bezeichnen ;  ich  füge  ihn  ein  in  den  Gedanken :  „Kontrakt  und  Zwang 
balancieren  zwar  gegeneinander,  aber  viel  tiefer  und  stärker  ist  ihr  ge- 
meinsamer Unterschied  und  ihre  gemeinsame  Entfremdung  gegen  alle 
Arten  innerer  sozialer  Kausalität,  von  denen  Spencer  sehr  wenig  gesehen 
und  auf  seine  endlichen  Konstruktionen  nichts  hat  influieren  lassen",  was 
nur  aus  meinen  Begriffen  von  Gesellschaft  (mit  Einschluß  des 
modernen  Staats)  einerseits,  Gemeinschaft  andererseits  verstanden  werden 
kann,  folglich  von  Herrn  Stein  nicht  verstanden  worden  ist.  Den  Satz 
also  wörtlich  anführen  und  mich  nicht  zitieren,  ist  —  nun  ist  eben 
ä  la  Ludwig  Stein. 

Auch  Unklarheit  über  Inhalt  und  Zweck  des  dritten  Abschnittes 
hatte  ich  früher  dem  Buche  zur  Last  gelegt.  Der  Verfasser  scheine  zu 
denken,  daß  seine  „Reformvorschläge"  mit  der  „voraussichtlichen"  Ge- 
staltung der  Formen  des  menschlichen  Zusammenlebens  sich  decken. 
Seine  Wünsche,  Hoffnungen,  Postulate,  hatte  ich  gesagt,  fließen  mit 
der  angeblichen  Prognose  in  einen  breiten  Strom  zusammen.  Daß  auch 
in  dieser  Beziehung  die  zweite  Auflage  nicht  besser  ist,  brauche  ich 
kaum  zu  konstatieren.  Was  nun  seine  Reformvorschläge  betrifft,  so  tut 
der  Verf.  sich  viel  zugute  auf  den,  wie  er  raeint,  von  ihm  erfundenen 
„Rechtssozialismus".  Dieser  wird,  wie  das  denn  nicht  wohl  anders  sein 
kann,  auf  na  tu  rre  c  h  1 1  ic  h  e  Post  u  la  te  begründet.    „Das  Fundament 


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F.  Tönnies:  Stein,  Ludwig,  Die  soziale  Frage  im  Lichte  der  Philosophie. 


eines  jeden  Rechtssozialismus  wird  immer  die  gesetzliche  Anerkennung 
eines  Rechtes  auf  Existenz  bilden"  (S.  470).  „Das  Recht 
auf  Existenz  .  .  .  bleibt  eine  Halbheit,  wenn  es  nicht  durch  das 
Recht  auf  Arbeit  ergänzt  wird"  (S.  472).  Das  Recht  auf  Arbeit 
wird  der  erste  Ansatzpunkt  zu  einer  bewußten  Sozialisierung  des  Rechts 
genannt  (S.  473).  So  geschieht  denn  auch  Berufung  auf  Autoritäten  des 
Naturrechts.  „Ahnungen"  des  Rechtes  auf  Existenz  „tauchen  bereits  bei 
Locke  ...  auf.  „Der  erste  Theoretiker  des  Rechtes  auf  Existenz  und 
des  Rechtes  auf  Arbeit  ist  J.  G.  Fichte."  „Aber  schon  die  Schöpfer 
des  preußischen  Landrechts"  haben  das  Recht  auf  Arbeit  „postuliert". 
Bekanntlich  standen  diese  unter  unmittelbarem  und  starkem  Einfluß  der 
naturrechtlichen  Ideen,  wie  solche  in  der  Wölfischen  Schule  akademische 
Geltung  erhalten  hatten.  Derselbe  Einfluß  charakterisiert  in  etwas  anderen 
Formen  die  Kodifikation  Napoleons.  „Der  Code  Napoleon  stellt  den 
ersten  Schritt  im  Sozialisierungsprozeß  des  Rechtes  dar"  nach  L.  Stein 
S.  464  [NB.  der  Code,  dieses  durch  und  durch  bürgerlich-liberale  Gesetzes- 
werk!]. Diese  Anlehnung  seines  Sozialismus  an  das  Naturrecht  hin- 
dert unsern  „Sozialphilosophen"  keineswegs  zu  schreiben,  wo  er  von 
Christian  Wolff  spricht  (S.  362):  „Der  außerordentlichen  Verbreitung 
seiner  Schriften  .  .  .  hat  es  die  Naturrechtsschule  zu  danken,  daß  sie  bis 
auf  den  heutigen  Tag  *in  einigen  rückständigen  Zopfgelehrten  ein  wenn 
auch  nur  kümmerliches  Dasein  fristet*".  Ein  Satz,  der  obendrein  gänz- 
lich falsch  ist.  Was  im  Sinne  des  alten  Naturrechts  während  des  19.  Jahr- 
hunderts in  Deutschland  lebendig  geblieben  ist,  beruht  fast  ganz  und 
gar  auf  der  Kantischen  Rechtslehre;  daneben  ist  nur  der  Versuch 
einer  Restituierung  durch  Hegel  und  seine  Schule,  der  bekanntlich  auch 
im  vormärzlichen  Sozialismus  wirksam  war,  von  Bedeutung. 

Eine  kleine  Nachlese  von  Gedankenfrüchten  und  Redeblüten, 
wobei  anerkannt  werde,  daß  von  den  letzteren  einige  der  schlimmsten 
in  der  neuen  Auflage  ausgetilgt  sind,  nachdem  sie  von  mir  und  von 
anderen  angekreidet  worden  (jedoch  ist  eine  erkleckliche  Menge  übrig 
geblieben).  S.  35 :  „Nichts  ist  darum  widerlicher  als  jene  Prostituierung 
des  Geistes,  welche  sich  mit  wissenschaftlich  sein  wollender  Schminke 
herausputzt  und  mit  soziologischer  Phraseologie  protzen  möchte."  S.  103: 
„Denn  solche  grandiosen  Menschenschlächter  (Alexander,  Cäsar,  Napoleon) 
stauen  die  Zivilisation  mit  einem  urkräftigen  Ruck  gleich  um  Jahr- 
hunderte weiter."  S.  105:  „Dergleichen  Tiraden  (über  das  soziale  Leid 
der  Gegenwart)  können  doch  niemals  die  soziale  Tatsache  aus  der  Welt 
schaffen,  daß  wir  da  sind  und  daß  wir  so  sind,  wie  die  immanente 
soziale  Zweckmäßigkeit  uns  nun  einmal  geknetet  hat."  S.  239:  „Mag 
Colbert  selbst  die  Schutzzölle  nur  als  Krücken  angesehen  haben  .  .  . 
so  wird  man  gleichwohl  nicht  umhin  können,  in  ihm  den  hervorragendsten 
*  Theoretiker  *  des  Merkantilsystems  zu  erblicken"  (dies  vielleicht  nur 
ein  lapsus  calami,  aber  in  beiden  Auflagen!).   Ibid.:  „Die  auch  für  den 


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Literatur. 


Laien  augenfälligen  Mängel  des  extremen  Merkantilsystems  sollten  sich 
in  England  sehr  bald  fühlbar  machen"  (bekanntlich  ist  in  England  nie 
eine  extreme  Merkantilpolitik  zur  Geltung  gekommen).    Folgen  eine  Reihe 
von  Sätzen,  darunter  der  Satz :  „Der  Pflug  wurde  mit  der  Maschine  ver- 
tauscht (wann  ?  ?),  ein  sozialer  Vorgang  von  welthistorischer  Bedeutung", 
die  man  schlechterdings  auf  England  beziehen  muß,  zuletzt :  „Als  jedoch 
dieses  künstliche  Merkantilsystem  .  .  .  kläglich  zusammenbrach,  die  Fa- 
briken aus  Mangel  an  Aufträgen  geschlossen  werden  mußten,  da  hatte 
man  ein  städtisches  Proletariat  von  so  erschreckendem  Umfange,  daß 
das  ganze  Staatsgebäude  darunter  erzitterte.    *Als  Ludwig  XIV.  starb, 
stand  der  Staatsbankerott  vor  der  Tür*."    Folgen  Sätze  über  die  fr  an- 
zösischen  Finanzen,  über  Law  u.  dergl.  Übrigens  gab  es  weder  in  Eng- 
land noch  in  Frankreich  ein  städtisches  Proletariat  „von  so  erschrecken- 
dem Umfange".  Die  29.  und  30.  Vorlesung  müssen  den  Marxkennern 
zur  Prüfung  empfohlen  werden.    S.  291  f.:  „Diesen  „ökonomischen  Mate- 
rialismus" haben  Marx  und  Engels  auf  *  folgende  Formeln*  gebracht: 
„Die  Produktionsweise  .  .  .  bedingt  usw."  .  .  .    „Unsere  Richtung  be- 
trachtet politische  und  juridische  *  Bewegungen  *  literarische  und  philo- 
sophische *  Bedingungen  *  gleichsam  als  einen  Überbau.    Das  Funda- 
ment bilden  die  volkswirtschaftlichen  *  Bedingungen  *    Die  Geschichte 
einer  Epoche  liegt  nicht  in  der  Philosophie,  sondern  in  der  Ökonomie 
derselben."  Absatz.    „Hier  ist  in  knappster  Formulierung  die  Quintessenz 
des  ökonomischen  Materialismus  wiedergegeben."    Die  knappste  Formu- 
lierung besteht,  abgesehen  von  dem  ersten  Satze,  aus  entstellten  und 
verflachten  Sätzen,  teils  Marxischen  (der  Vorrede  von  „Zur  Kritik"), 
teils  dem  Engelsschen  Antidühring  8  S.  286  entlehnt,  wo  der  Satz  heißt: 
„Hiernach  sind  *die  letzten  Ursachen*  aller  gesellschaftlichen  Verände- 
rungen und  politischen  Umwälzungen  ...  zu  suchen  nicht  in  der  Phi- 
losophie, sondern  in  der  Ökonomie  der  betreffenden  Epoche."  So 
enthalten  denn  auch  die  folgenden  Seiten  eine  stark  vergröberte,  die 
Kernpunkte  kaum  streifende  Wiedergabe  der  Marx-Engelsschen  Ansicht 
europäischer  Entwicklungen.    Etwas  besser  ist  die  Reproduktion  der 
Wert-  und  Mehrwert-Doktrin.   S.  304:  Vergleich  des  angeblich  von  Marx 
in  Anspruch  genommenen  „kopernikanischen  Standpunkts"  mit  anderen 
„kopernikanischen  Standpunkten":  „Auch  *  forderte*  Kant  auf  Grund 
seiner  Entdeckung,  die  er  auf  empirisch-erkenntnistheoretischem  Wege 
gemacht  hat    [die   transzendentale  Deduktion  der  reinen  Verstandes- 
begriffe      nicht  etwa  *wie  Marx*  eine  vollständige  Revolutionierung 
unseres  gesamten  Lebens,  sondern  *  allenfalls*  eine  erkenntnistheoretische 
Rückwärtsrevidierung  unserer  Begriffe."     Wenn    das   nicht  geistreich, 
schlagend,  packend  ist  ...    S.  305 :  „Zudem  hat  Marx  die  wissenschaft- 
liche Unvorsichtigkeit  begangen,  seine  ganze  Sozialphilosophie  an  das 
Schicksal  des  Materialismus  als  philosophischer  Weltanschauung  zu  ketten." 
Bekanntlich  eiferte  Marx  gegen  den  abstrakten  naturwissenschaftlichen 


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F.  Tünnics:  Koigcn.  David,  Die  Kulturanschauung  des  Sozialismus.  457 

Materialismus,  den  einer  seiuer  Freunde,  von  ihm  als  „unser  Philosoph" 
anerkannt,  nämlich  J.  Dietzgen,  beschränkten,  mechanischen  Materialismus 
nennt;  was  Dietzgen  lehrt,  ist  Spinozismus  und  Panlogismus,  also  vom 
metaphysischen  Materialismus  himmelweit  verschieden !  —  S.  356 :  (Hobhes) 
teilt  mit  Telesio  und  Bako  jenen  ausgesprochenen  Zug  seiner  Zeit,  den 
man  in  die  Worte  kleiden  könnte :  „zurück  zur  nach  aristotelischen 
Philosophie!"  Durch  und  durch  falsch.  Nichts  charakterisiert  diese 
Denker,  und  ganz  besonders  Hobbes  mehr,  als  daß  sie  auf  niemand 
„zurück"  gehen,  sondern  ausschließlich  vorwärts  gehen  wollen,  den  eigenen 
Sinnen  und  der  eigenen  Vernunft  vertrauend,  im  Übermaße  ver- 
trauend! —  Hiermit  haben  wir  das  Buch  nur  ungefähr  bis  zur  Hälfte 
durchgenommen.  Jedoch  es  sei  genug.  Wie  mehrmals  angedeutet,  ließe 
sich  allenfalls  auch  eine  Lese  von  besseren  Ähren  daraus  gewinnen. 
Trotz  der  großen  Fehler  ist  der  literar-historische  Teil  noch  der  beste. 
Besonders  in  bezug  auf  die  griechische  Philosophie  scheint  der  Autor 
(der  scheinbar  alles  kennt)  in  Wirklichkeit  etwas  zu  kennen,  und  auf 
Grund  eigener  Studien  zu  reden. 

Dem  Buche  als  ganzem  kann,  wie  sich  von  selbst  ergibt,  ein 
„Recht  auf  Existenz"  nicht  zuerkannt  werden. 

F.  TONNIES. 


Koigcn,  David,  Die  Kulturanschauung  des  Sozialismus.  Ein  Bei- 
trag zum  Wirklichkeitsidealismus.  Mit  einem  Vorwort  von 
Eduard  Bernstein.    Berlin  1903,  Dümmler.    XIV  u.  134  S. 

Ein  Büchlein  von  großen  Ansprüchen.  Auf  der  Grundlage  des 
marxistischen  Sozialismus  will  es  den,  wie  gemeint  wird,  wesentlichen 
und  notwendigen  Inhalt  der  dazu  gehörigen  Ethik  und  sogar  Religion 
entwickeln.  Diese  Lebensauffassung  oder  Kulturanschauung  soll  allen 
sonst  vorhandenen  entgegengesetzt  und  als  die  vollkommene  und  allein 
haltbare  vertreten  werden.  In  den  beiden  ersten  Kapiteln  werden  jene 
vorhandenen  klassifiziert  und  kritisiert.  Bei  der  Klassifikation  geht  es 
darunter  und  darüber.  Neben  ethischen  Systemen  erscheinen  Vorstellungen 
über  Wert,  Zweck  und  Sinn  der  menschlichen  und  sozialen  Entwicklung, 
also  Dinge,  die  zu  einer  ganz  anderen  Gattung  gehören.  Die  Klassifika- 
tion ist  auch  nicht  klar  durchgeführt.  Im  2.  Kap.  werden  die  „imma- 
nenten" Kulturanschauungen  eingeführt  und  in  zwei  „Gruppen"  ge- 
schieden, von  denen  die  eine  immanenter  Positivismus,  die  andere 
immanenter  Idealismus  genannt  wird.  Warum  diese  durchaus  verschieden, 
ja  als  Gegensätze  zu  denken  seien,  wird  außer  durch  die  Bezeichnung  des 
einen  als  „real  beschränkt",  des  anderen  als  „real  bedingt",  nicht  er- 


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453 


Literatur. 


klärt.    Ob  nun  einige  der  in  dem  Kapitel  kritisierten  „Kulturanschau- 
ungen" zum  Idealismus,  oder  alle  zum  Positivismus  gehören,  darüber 
werden  wir  im  Zweifel  gelassen.    Eine  Grenze  wird  nicht  angegeben. 
Gelegentlich  ist  allerdings  (S.  40)  von  radikalen  und  sozialistischen  Ge- 
danken die  Rede,  die  zugleich  als  nachträglicher,  als  ethischer,  „resp. 
negativer"   und    nach   rückwärts   gerichteter   „Idealismus"  bezeichnet 
werden.    Gleichwohl  (oder  eben  darum)  scheint  doch  nur  der  von  Kap.  3 
ab  geschilderte  „W'irklichkeitsidealismus"  —  eine  etwas  desperate  Wort- 
bildung —  als  wirklicher  Idealismus  gelten  zu  sollen,  und  auf  diesen 
wird  nun  eine  Fülle  von  Licht  ausgegossen.     Obgleich  wir  meinen 
mußten,  daß  eine  Kulturanschauung  im  Unterschiede  von  einer  Welt- 
anschauung (S.  1)  entworfen  werden  solle,  so  geschieht  doch  innerhalb 
jener  Schilderung  sehr  rasch  der  Übergang  auf  die  der  positiv-immanenten 
Weltbetrachtung  (worunter  hier  dasselbe  verstanden  wird  was  sonst  als 
Wirklichkeitsidealismus,   als  sozialistische  Kulturanschauung   und  unter 
mehreren  anderen  Namen  auftritt),  also  auf  die  ihr  entsprechende  Religion, 
die  sie  „in  sich  berge".    „Wir  ahnen  deutlich  genug"  „die  neue  Gestalt 
der  Weltreligion"  (S.  63).    Die  Wissenschaft  „stellt  sich  ihr  zur  Ver- 
fügung" (S.  65).  Sie  ist  „der  Abschluß  des  .sozialistischen'  Lebens"  (S.  68). 
Es  gibt  „richtige  Ideale"  (S.  72);  die  Weltreligion  bedeutet  die  allge- 
meingültige Form  des  höchsten  Ewigkeitslebens"  (S.  73).    „Der  höchste 
Punkt  der  kulturellen  Entwicklung  hat  die  Identität  von  Gott  und  Mensch 
zu  dokumentieren"  (S.  75).    Der  Mensch  erzieht  sich  zum  Schöpfer,  in 
der  kulturellen  Schöpfung  gelangt  der  tiefere  Sinn  der  gesamten  humani- 
tären Kultur  zur  Äußerung  (ib.).    Auf  die  Religion  und  das  „kultur- 
philosophische Postulat"  folgt  die  „ethische  Formel"  „des  Sozialismus, 
sowie  des  Wirklichkeitsidealismus".    Der  Imperativ  Guyaus  „Du  sollst 
und  mußt  weil  du  kannst"  eignet  sich  dazu  am  besten  (S.  76).  Im 
Gegensatze  zur  Kantischen  Formel  gedacht  schließt  sie  doch  diese,  wenn 
man  von  ihrer  metaphysischen  Grundlage  abstrahiert,  nicht  aus,  sondern 
wird  von  ihr  vorausgesetzt  (S.  77,  78).   „Aus  dem  immanent-schöpferischen 
Idealismus  der  sozialistischen  Doktrin  ergibt  sich  der  Menschentypus"  des 
schöpferischen  Renaissancemenschen,  „für  den  der  Sozialismus  als  kultur- 
philosophische Lehre  einzutreten  hat"  (S.  80).    Er  ist  „ein  bejahend- 
bauender" (S.  82).    ,,Der  Lebensstil  der  sozialistischen  Demokratie  ist 
seiner  entwicklungs-soziologischen  Tendenz  nach"  dem  Nietzsche'schen 
verwandt:   denn  er  ist  ein   „Streben,   aus  jedem  einen   ,Herrn'  zu 
machen  ....  einen  Herrn  über  sich  selbst  und  über  die  Welt  der 
natürlichen  und  kulturgesellschaftlichen  Verhältnisse"  (S.  93).    „Im  Prin- 
zipe  sehen  wir  im   arbeitenden  Kulturmenschen    der  Entfaltung  des 
Renaissancemenschen  in  seiner  Universalgestalt  entgegen"  (S.  102). 

Der  Renaissancemensch  löst  den  Revolutionsmenschen  ab.  „Und 
es  paßt  sich  vortrefflich,  daß  zurzeit  sich  zum  Vorteil  der  sozialistischen 
Demokratie  ein  neuer  Wissenschaftszweig,  die  sogenannte  Sozialpädagogik 


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F.  Tönnies:  Koigcn,  David,  Die  Kulturanschauung  des  Sozialismus.  459 


entfaltet"  (S.  105).  Der  Sozialismus  ist  nicht  ausschließlich  Lehre  der 
„unteren  Klassen".  In  den  Kreisen  des  „Bildungsproletariats"  wird  „eine 
neue  Geistesaristokratie  gezüchtet"  (S.  108).  Sie  muß  in  ein  intimes 
Verhältnis  zum  „Stammproletariate"  treten,  das  schon  angebahnt  war, 
aber  gutenteils  wieder  zerstört  wurde.  Das  „wunschlose  geistige  Treiben" 
der  Boheme  „ist  dem  Tode  geweiht"  (S.  111).  „Aus  der  Lebens- 
anschauung des  Renaissancemenschen  ergibt  sich  seine  Lebensführung. 
Das  aktuell-schöpferische  Lebensprinzip  des  All-Idealismus  tritt  hier  in  der 
Form  des  unausgesetzten  Heroismus  zutage"  (S.  1 1 4),  des  „All- 
Heroismus"  an  Stelle  des  „sporadischen  Heroismus"  des  Negationstypus, 
des  Revolutionsmenschen.  Die  „breitgedachten  Horizonte  der  marxisti- 
schen Welt"  sind  allmählich  „verengert"  worden  (S.  119).  Ohne  „ein 
Bündnis"  „mit  der  Renaissanceauffassung  des  Kulturlebens"  „geht  dem 
Sozialismus  sein  idealistischer  Schwung  und  .  .  .  seine  tiefere  philo- 
sophische Basis  verloren"  (S.  120).  „Das  Bewußtsein  der  Klasseninter- 
essen" ist  „an  und  für  sich  kein  sozialistisches  Bewußtsein"  (S.  126). 
„Eine  völlig  neue  Vorstellung  von  ,Glück'  bringt  die  sozialistische 
Renaissance  mit  sich"  (S.  127).  „Im  kulturellen  Bauen"  müssen  die 
Massen  „ihr  großes  Glück  aufsuchen"  (S.  128).  „Das  muß  geschehen, 
soll  einmal  die  sozialistische  Ära  zum  zweiten  schönen  Tag  der  Welt- 
geschichte werden"  (S.  128)  ..  . 

Daß  es  eine  nicht  unbedeutende  Schrift  ist,  die  wir  vor  uns  haben, 
werden  die  mitgeteilten  Proben  des  Gedankenganges  erkennen  lassen. 
Ihre  Hauptstärke  besteht  aber  in  der  Glut  des  Enthusiasmus,  der  Zuver- 
sicht des  Glaubens,  der  sie  erfüllt.  Ihr  Prophetenton  entbehrt  nicht  der 
Größe  und  Schönheit,  er  ist  nicht  bloß  schwungvoll  und  pathetisch, 
sondern  gibt  den  Eindruck  tiefer  und  echter  Gesinnung.  Aber  freilich 
—  es  ist  Prophetenton,  überschwänglich,  schwärmerisch,  für  Kritik  nicht 
eben  empfänglich.  Ein  streng  geschultes  Denken  verträgt  sich  schlecht 
mit  diesem  Tone.  So  ist  denn  manches  mit  Emphase  Ausgesprochene, 
z.  B.  die  angebliche  Verwandtschaft  des  „sozialistischen  Lebensstiles"  mit 
dem  Nietzscheschen  nichts  als  leeres  Phantasma. 

Ihrem  Kerncharakter  nach  kann  eine  sozialistische  Ansicht  und 
Wertung  der  Kultur  nur  neben  zwei  andere,  die  sie  an  Kraft  und  Be- 
deutung erreichen  oder  übertreffen  will,  sich  stellen ;  neben  die  reaktionäre 
(resp.  konservative)  und  neben  die  liberale  Ansicht  und  Wertung.  Dies 
ist  eine  sehr  simple  Wahrheit,  aber  wer  solide  Theoreme  bauen  will, 
muß  simple  Wahrheiten  zugrunde  legen.  Unser  Autor  hätte  wohl  daran 
getan,  den  mannigfachen  Arten  konservativer  und  liberaler  Denkungsart 
nachzuspüren,  sie  in  ihren  Gegensätzen  und  Verwandtschaften  darzustellen, 
und  wiederum  die  Gegensätze  und  Verwandtschaften  sozialistischer  Ideen, 
wie  sie  empirisch  vorliegen,  mit  der  einen  wie  mit  der  anderen  Grund- 
richtung und  mit  ihren  verschiedenen  Formen  zu  verfolgen ;  woran  dann 
der  Autor  seine  eigene  oder  die  marxistische  Idee  in  seiner  Fassung 


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460 


Literatur. 


hätte  anknüpfen  dürfen.  Ansätze  zu  einer  solchen  Darstellung  sind  in 
dem  Büchlein  allerdings  vorhanden. 1 )  Aber  die  Aufgabe  selber  in  ihrem 
trockenen  wissenschaftlichen  Gehalt  ist  von  dem  beredten  Schriftsteller 
nicht  ins  Auge  gefaßt  worden.  Die  Vision,  die  dichterische  Begeisterung 
geht  mit  ihm  durch.  So  bedeutet  seine  Schrift  ihrem  wesentlichen  Zuge 
nach  eine  Reaktion  zugunsten  des  utopistisclvn  Sozialismus  gegen  den  ~- y 
wissenschaftlichen  Sozialismus,  auf  der  Basis  des  letzteren.  Die  letzten  ••• 
Worte  des  Textes  lauten:    „Die  radikale  Utopie  trägt  ständig  den 

Sieg  davon  und  bewährt  sich  unter  den  Lebenden  " 

Die  kleine  Schrift  enthält  manche  geistreiche,  auch  witzige  Einzel- 
heiten. So  ist  recht  hübsch,  was  S.  23  über  den  „heutzutage  herum- 
tanzenden charakterlosen,  naiv-kulturellen  Varietehedonismus"  ausgeführt 
wird.  Überhaupt  zeigt  sich  eine  starke  Begabung  für  die  Durchdringung 
von  allerhand  ideologischen  Phänomenen.  Ich  darf  auch  hinzufügen,  dal3 
die  philosophische  Gesinnung,  die  das  Büchlein  erfüllt,  im  ganzen  danach 
angetan  ist,  lebhafte  Sympathien  zu  erwecken;  besonders  durch  den 
Kontrast  gegen  den  moralischen  Nihilismus,  der  von  den  Marxisten 
strenger  Observanz,  wenn  nicht  immer,  so  doch  nicht  selten,  wenn  nicht 
gehegt,  so  doch  zur  Schau  getragen  wird. 

FERDINAND  TÖNNIES. 


Schmidt ,  Richard,  Dr.  Prof.  a.  d.  Univ.  Freiburg  i.  B.,  Die  gemein- 
samen Grundlagen  des  politischen  Lebens.  Allgemeine  Staats- 
lehre, I.  Band.  Leipzig,  C.  L.  Hirschfeld,  1901.  (Hand- 
und  Lehrbuch  der  Staatswissenschaften,  begründet  von 
Kuno  Frankenstein,  fortgesetzt  von  Max  v.  Heckel.  III.  Ab- 
teilung: Staats-  und  Verwaltungslehre.) 

Wir  leben  im  Zeitalter  der  Methodologie.  Auch  der  Verfasser  des 
vorliegenden  Werkes  huldigt  dieser  modernen  Richtung  und  glaubt  an 
der  Hand  der  „Ergebnisse  der  älteren  Staatslehre"  und  durch  „Aus- 
einandersetzung mit  der  Philosophie"  eine  methodologische  Fundamen- 
tierung  seines  eigenen  —  der  neueren  Forschung  durchaus  entsprechen- 
den —  historisch-empiristischen  Standpunktes  geben  zu  müssen.  Über- 
haupt spielen  in  dem  selbst  vor  den  letzten  und  schwierigsten  Problemen 
niemals  zurückschreckenden  Buche  von  Schmidt  „philosophische" 

')  An  einer  Stelle  (S.  94  f.)  kommt  die  Dreifachheit  des  Typus  zu  deutlichem 
Ausdruck.  Eine  eingehende  Analyse  dieser  Typen  würde  zeigen,  wie  .,der  dritte 
Typus"  auch  in  nicht-sozialistischen,  sondern  liberal-radikalen  ., Zukunftstaaten",  wie 
den  Idealen  Comtes  und  Spencers,  um  sein  Leben  ringt. 


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Kmil  Lask:  Schmidt,  R.,  Die  gemeinsamen  Grundlagen  d.  politischen  Lebens.    46 1 


und  „methodologische"  Erörterungen  eine  —  wenigstens  der  Seiten- 
zahl und  den  äußerst  vielversprechenden  Überschriften  und  Redewendungen 
nach  —  sehr  stark  hervortretende  Rolle. 

Als  „methodologisch"  gibt  sich  zunächst  die  Einleitung  mit  ihrer 
Betonung  des  „praktischen"  Charakters  der  allgemeinen  Staatslehre 
(vgl.  z.  B.  S.  5  f.,  20 f.,  23  f.,  25,  27,  auch  Bd.  II  S.  826,  839,  851)  und 
mit  ihrer  Zusammenfassung  von  allem  „Deskriptiven"  oder  nicht  „Po- 
litischen" unter  den  viel  zu  weiten  und  unbestimmten  Sammelbegriff  des 
„Juristischen"  (vgl.  S.  26  f.,  255).  Soweit  es  sich  jedoch  bei  diesen  ein- 
leitenden Auseinandersetzungen  lediglich  um  in  methodologischer  Hin- 
sicht anfechtbare  Begriffsbestimmungen  handelt,  soll  vorläufig  nicht  näher 
darauf  eingegangen  werden.  Nur  soviel  sei  schon  jetzt  angedeutet,  daß 
das  Verhängnisvolle  des  Schmidtschen  Buches  gerade  in  einer  genauen 
Übereinstimmung  zwischen  der  wissenschaftlichen  Behandlung  der 
Probleme  selbst  und  der  „methodologischen"  Orientierung  besteht:  Der 
Unbestimmtheit  der  Methodologie  nämlich  entspricht  genau  die  Unge- 
schiedenheit  aller  Einzelausführungen.  Der  ganze  auf  Isolierung  der 
Arbeitsmethoden  basierende  Fortschritt  der  publizistischen  Begriffsbildung 
im  letzten  halben  Jahrhundert,  dessen  Verdienst  es  insbesondere  war,  die 
staatsrechtliche  Systematik  aus  unjuristischen  Verdunklungen  heraus- 
gerettet zu  haben,  wird  bei  Schmidt  illusorisch  gemacht,  und  die 
Forschung  erscheint  bei  ihm  wieder  auf  jenen  Zustand  universalistischer 
Verschwommenheit  zurückgeworfen,  der  in  der  ersten  Hälfte  des  19.  Jahr- 
hunderts herrschte.  Mögen  auch  heutzutage  die  einzelnen  Vertreter  der 
Wissenschaft  über  das  zulässige  Maß  des  öffentlich-rechtlichen  Forma- 
lismus sich  streiten;  —  daß  überhaupt  die  scharfe  Herausarbeitung 
einer  Staatsrechtsdogmatik  heute  für  jeden  eine  unentbehrliche  Voraus- 
setzung aller  staatswissenschaftlichen  Erkenntnis  geworden  ist,  diese 
Grundtatsache  hat  —  wenigstens  in  Deutschland  —  sowohl  in  prinzi- 
pieller methodologischer  Reflexion  —  es  sei  beispielsweise  nur  an 
Jellinek,  Gierke  (vgl.  Schmollers  Jahrbuch  Bd.  VII,  Heft  1)  und  Laband 
erinnert  —  als  besonders  in  der  wissenschaftlichen  Praxis  selbst  einen 
nahezu  einmütigen  Ausdruck  gefunden.  Bei  Schmidt  hingegen  verhält 
sich  dies  nicht  nur  hinsichtlich  der  Methodologie,  sondern  auch  der 
Einzelausführungen  gerade  umgekehrt.  Hierbei  ist  aber  nicht  das 
Störendste,  daß  er  alles  „juristisch"  (in  seinem  Sinne)  nennt,  sondern 
vielmehr,  daß  er  nichts  „juristisch"  (im  technischen  Sinne)  behan- 
delt. Sein  ganzes  Buch  zeigt  eine  auffallende  Abneigung  gegen  die 
unerbittlich  Schärfe  und  Klarheit  erfordernde  juristische  Methode. 
Seiner  Staatslehre  fehlen  denn  auch,  wie  sich  später  zeigen 
wird,  sämtliche  juristische  Grundbegriffe.  Es  findet  sich 
nicht  die  leiseste  Spur  einer  wahrhaft  juristischen  Erfassung  des  Staats- 
subjekts, des  Staatsgebiets,  des  Staatsorgans,  der  subjektiven  öffentlichen 
Rechte,  der  Souveränetät,  der  Staatsformen,  der  Volksvertretung  usw. 


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462 


Literatur. 


Allerdings  ist  —  um  auf  diesen  jedem  sich  aufdrängenden  Einwand 
einzugehen  —  die  juristische  Methode  nur  eine  unter  den  verschie- 
denen staatswissenschaftlichen  Forschungsarten.  Niemals  darf  sie,  wie 
es  naturrechtlicher  und  juristischer  Formalismus  sich  zuweilen  angemaßt 
haben,  die  freie  historische  Würdigung  des  in  keine  Systematisierung 
eingehenden  politischen  Lebens  hindern  oder  ersetzen  wollen.  Es  muß 
darum  von  vornherein  anerkannt  werden,  daß  auch  die  allgemeine 
Staatslehre  von  R.  Schmidt  —  der  Tendenz  nach  —  mit  ihren  über- 
wiegend „politischen"  Ausführungen  selbstverständlich  etwas  durchaus 
Verdienstliches  anstrebt,  und  daß  ferner,  was  Schmidt  mit  Recht  geltend 
macht,  eine  durchgehende  reinliche  Scheidung  zwischen  „Juristischem" 
und  „Politischem"  weder  möglich  noch  wünschenswert  ist  Auch  soll 
nicht  bestritten  werden,  daß  Schmidt  gelegentlich  durch  seine  Bei- 
bringung historischen  Materials  manches  besser  aufhellt,  als  es  doktri- 
närer Begriffsspalterei  je  gelingen  könnte.  Aber  alles  dies  zugegeben 
ist  es  andrerseits  ebenso  unbestreitbar,  daß  er,  wie  sich  später  ergeben 
wird,  für  die  Beseitigung  des  Juristischen  dennoch  leider  gar  keinen 
rechten  Ersatz  zu  bieten  vermag,  daß  er  dem  unhistorischen  Doktri- 
narismus im  großen  und  ganzen  doch  nur  die  Auflockerung  aller 
festen  Begriffe,  die  relativistische  Auflösung  und  Erweichung  aller  staats- 
wissenschaftlichen Dogmatik  und  Konstruktion,  die  Umdeutung  sämt- 
licher systematischer  Gedanken  in  farblose  politische  Allgemeinheiten 
entgegenzusetzen  weiß.  Nur  in  diesem  Sinne  hat  sich  die  „praktische" 
Tendenz  bei  ihm  bewahrheitet.  — 

So  sehr  uns  also  auch  erst  die  wissenschaftlichen  Leistungen  des 
Werkes  selbst  den  endgültigen  Aufschluß  über  sein  eigentliches  Wesen 
geben  können,  so  zwingt  uns  dennoch  die  Ausführlichkeit,  der  sichere 
Ton,  die  verheißungsvolle  Art,  in  der  die  „methodologischen"  Unter- 
suchungen des  Buches  auftreten,  auch  diesen  Bestrebungen  Schmidts 
einige  Beachtung  zu  schenken. 

Ein  eigenartiges  Mißgeschick  hat  den  von  den  Vorzügen  des  Histo- 
rismus und  Empirismus  doch  so  stark  durchdrungenen  Verfasser  gerade 
bei  dem  Versuch  einer  Begründung  seiner  antispekulativen  Tendenz  den 
Verführungen  der  Spekulation  selbst  in  überreichlichem  Maße  ausge- 
liefert. Schmidt  hat  es  nämlich,  wie  bereits  angedeutet  wurde,  für 
nötig  gehalten,  den  endgültigen  Aufschluß  über  den  methodischen 
Standpunkt  seines  ganzen  Werkes  erst  von  einer  „energischen  Grenz- 
ziehung gegen  die  Philosophie"  abhängig  zu  machen;  zu  diesem 
Zwecke  einer  „orientierenden  Vorbereitung  der  methodologischen  Dar- 
legung" schien  es  ihm  ganz  unumgänglich,  zwar  nicht  eine  Geschichte 
der  früheren  Staatstheorien,  wohl  aber  eine  —  nicht  viel  weniger  als 
den  dritten  Teil  des  Buches  einnehmende  —  ,,Skizze  dieses  großen 
Denk prozesses,  eine  Bilanz  des  Erkenntniswertes,  der  ihm  in  seiner  Zu- 
sammenfassung zukommt"  —  wie  es  so  äußerst  vielversprechend  heißt  — , 


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Emil  Lask:  Schmidt,  R.,  Die  gemeinsamen  Grundlagen  d.  politischen  Lebens.  463 

uns  darzubieten.  Während  die  vorher  erörterten  Punkte  sich  leicht  fest- 
stellen ließen,  „bedarf  die  Beziehung  zwischen  Staatslehre  und  Staats- 
philosophie einer  eingehenden  (!)  Beleuchtung.  Sie  ist  nur  so  möglich, 
daß  in  Kürze  (!)  zwischen  beiden  eine  Rechnung  aufgemacht  wird."  (S.  33.) 
Auf  die  also  angekündigte  „Rechnung"  genauer  einzugehen,  wäre  an 
sich  nicht  erforderlich,  da  sie  ihr  Material  meist  Windelbands  philo- 
sophiegeschichtlichen Werken  und  Rehms  Geschichte  der  Staatsrechts- 
wissenschaft entnimmt  und  dabei  höchstens  kleine  Modifikationen  an- 
bringt, die  aber  durchaus  nicht  in  der  Richtung  auf  die  beabsichtigte 
methodologische  Klärung  liegen. 

Trotzdem  lassen  sich  die  Eigentümlichkeiten  des  ganzen  Buches 
gerade  in  diesen  Partien  mit  am  besten  studieren.  Allerdings  muß  dabei 
auf  ein  Eindringen  ins  Detail,  aber  ebenso  auf  ein  Hinabsteigen  in  die 
Tiefe  der  Probleme  von  vornherein  verzichtet  werden.  Nur  auf  das 
Elementarste  soll  die  Aufmerksamkeit  gerichtet  sein  —  und  dies 
gilt  gleichmäßig  von  allen  Teilen  unserer  Besprechung.  Aus  Gründen 
der  Anpassung  an  den  Charakter  des  vorliegenden  Werkes  sind  wir 
nämlich  zu  der  entsagungsvollen  Maxime  gezwungen,  allen  nicht  auf  der 
Oberfläche  liegenden  und  einer  gewissen  communis  opinio  mehr  oder 
weniger  teilhaftigen  Problemen  und  Kontroversen  aus  dem  Wrege  zu 
gehen.  Im  Zusammenhange  damit  haben  wir  uns  auch  bei  den  für 
unsere  Erörterungen  notwendigen  Literaturhinweisen  grundsätzlich  auf 
die  allerbekannteste  Literatur  beschränkt,  und  es  genügte  uns 
dabei  vollkommen,  ausschließlich  die  von  Schmidt  selbst  zitierte 
Literatur  heranzuziehen,  woraus  also  hervorgeht,  wie  wenig  selbst  diese 
vom  Verfasser  berücksichtigt  worden  ist.  — 

In  welch  überraschenden  Linien  Schmidt,  da  wo  er  in  dieser 
„Skizze"  kleine  Abweichungen  versucht,  sogar  die  dem  Juristen  doch 
sonst  vertrautesten  und  in  der  Entwicklung  der  Rechtsphilosophie  mar- 
kantesten Gestalten  zu  zeichnen  unternimmt,  mag  an  dem  Beispiel  des 
Grotius  veranschaulicht  werden.  Da  Schmidt  gemäß  der  streng  inne- 
gehaltenen Einförmigkeit  seiner  Beurteilungsmaßstäbe  nur  eine  einzige 
Art  von  staatswissenschaftlichem  Fortschritt  kennt,  nämlich  die  Eman- 
zipation von  der  Metaphysik,  so  begnügt  er  sich  nicht,  die  juristisch- 
politischen Verdienste  des  Grotius  hervorzuheben,  sondern  er  unter- 
nimmt es  kurzweg,  die  Hauptbedeutung  dieses  Klassikers  des  philo- 
sophischen Naturrechts,  dieses  großen  Begründers  der  abstrakten  und 
rationalen  Methode  gerade  dahin  zu  verlegen,  daß  Grotius  eine  „Wissen- 
schaft" geschaffen  habe,  „die,  aller  Metaphysik  abhold,  den  Streit  auf 
das  Feld  der  empirisch-praktischen  (!)  Erscheinungen  verlegt,  —  die  als 
Staatslehre  auftritt,  ohne  ,!)  Staatsphilosophie  sein  zu  wollen."  Die 
Originalität  dieser  Deutung  wird  sodann  durch  folgende  denkwürdige 
Begründung  auf  die  Spitze  getrieben:  „Denn  (!)  das  ist  und  bleibt  vor 
allem  Grotius  Tat,  daß  er  es  ausspricht,  für  das  Naturrecht  keine  tiefere 


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464 


Literatur. 


Quelle  nötig  zu  haben  als  sein  Vorhandensein  in  der  Vernunft  des  Ein- 
zelnen: est  ius  naturale  adeo  itnmutabile  ut  ne  a  deo  quidem  mutari 
queat."    So  entpuppt  sich   dieser  weltberühmte  Ausspruch,  der  den 
früheren  Jahrhunderten  in  ihrer  Verblendung  stets  als  die  stolze  Ver- 
kündung eines  nicht  nur  für  jede  irdische  Macht  sondern  sogar  für  die 
Gottheit  unabänderlichen,  rein  aus  dem  Gedanken  aufgebauten  Vernunft- 
rechts galt,  plötzlich  bei  Schmidt  als  Dokument  eines  „aller  Metaphysik 
abholden"  gediegenen  Empirismus!  (Nur  im  Verkennen  der  Veränderlich- 
keit unserer  Rechtsüberzeugungen  zeige  sich  die  Schwäche  dieser  Natur- 
rechtslehre.) Einen  weiteren  Vorzug  des  Grotius,  so  belehrt  uns  der  Verfasser 
ferner,  sollen  wir  darin  erblicken,  daß  bei  ihm  das  Naturrecht  nicht  nur 
„einen  für  die  theoretische  Konstruktion  notwendigen  Begriff',  sondern 
„eine  Realität,  eine  lebendige  inhaltreiche  Macht  über  dem  Staat"  be- 
deutet.   Also  an  einer  Gleichsetzung  des  ungeschichtlichen,  zeitlosen 
und  abstrakten  Naturrechts  mit  einer  „Realität"  soll  es  sich  bewähren, 
daß  die  Diskussion  „durch  die  geistige  Potenz  des  Hugo  Grotius  auf 
dem  realistischen  (!)  Boden  festgehalten  wird".    Es  scheint  fast,  als  sei 
hier  mit  beabsichtigtem  Wortwitz  auf  die  mittelalterlich  „realistische" 
Hypostasierung  abstrakter   Begriffe  angespielt.    Denn  es   ist  Schmidt 
doch  wohl  bekannt,  daß  eine  Anschauung  um  so  realistischer,  um  so 
historischer  ausfällt,  je  mehr  das  Naturrecht  lediglich  als  „Konstruktion" 
und  regulatives  Prinzip  und  je  weniger  es  als  „Realität"  gefaßt  wird, 
ja,  daß  ein  „Naturrecht"  nur,  wenn  es  ausschließlich  als  „kon- 
struktives Hilfsmittel"  gilt,  unter  Umständen  mit  einer  historischen  Be- 
trachtungsweise verträglich  sein  kann?  Daß  Schmidt  sich  über  die  ge- 
samte Naturrechtsepoche  der  üblichen  Auffassung  recht  fernstehende  und 
wohl  überhaupt  nicht  ganz  durchschaubare  Meinungen  gebildet  haben 
muß,  davon  möge  man  sich  eine  Vorstellung  machen,  wenn  man  hört, 
daß  er  an  einer  späteren  Stelle  die  Zeiten  und  die  Schriftsteller  auf- 
zählt, die  sich  am  meisten  von  philosophischen  Erörterungen  freihielten 
und  deshalb  jedesmal  die  „besten  und  reichhaltigsten,  neuesten  (!)  und 
praktisch  brauchbarsten  Resultate"  lieferten,  und  daß  er  bei  dieser 
Musterung  neben  Aristoteles,  Macchiavelli,  Bodin,  Grotius  und  der  histo- 
rischen Staatslehre  des  19.  Jahrhunderts  ganz  unbefangen  auch  die  — 
„Aufklärungslehre"  nennt!  (S.  99.)    Er  ist  also  —  so  unbegreif- 
lich uns  das  auch  erscheinen  mag  —  nicht  zu  dem  Ergebnis  gekommen, 
daß  die  durch  die  Idee  des  Naturrechts  charakterisierte  „Aufklärungs- 
lehre"  für  ihn  nach  allen  seinen  modern  antirationalistischen  und  histo- 
risch gerichteten  Voraussetzungen  gerade  den  eigentlichen  Inbegriff  des 
methodisch  Verwerflichen  darstellt. 

Weniger  auffällig,  wenngleich  ebenfalls  irreführend  ist  die  Gegen- 
überstellung von  Bodins  und  Grotius  „Konkurrenzauffassungen  von  Staat 
und  Recht",  wonach  Bodin  das  Recht  als  Produkt  des  Staats,  Grotius 
als  über  dem  Staat  stehend  erklären  soll.    Hierbei  wird  doch  gerade 


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Emil  Las k:  Schmidt,  R.,  Die  gemeinsamen  Grundlagen  d.  politischen  Lebens.  465 

die  der  Naturrechtsperiode  eigentümliche  Lösung  dieses  Problems,  näm- 
lich die  Unterscheidung  zwischen  natürlichem  und  positivem  Recht  und 
damit  das  Wesentliche  außer  acht  gelassen.  Bodin  verteidigt  allerdings 
die  Entbundenheit  des  Souveräns  vom  positiven  Recht;  aber  erstens 
vertritt  Grotius  hinsichtlich  der  „bürgerlichen  Gesetze"  (allerdings  nicht 
hinsichtlich  der  „Grundgesetze")  dieselbe  Ansicht,  und  andrerseits  erkennt 
Bodin  in  Übereinstimmung  mit  Grotius  bekanntlich  Naturrechts- 
schranken der  Staatsgewalt  ausdrücklich  an.  (Vgl.  dazu  z.  B.  Gierke, 
Althusius  S.  2 8 5  ff.,  295  Anra.  75,  297  ff. ;  Rehm,  Geschichte  S.  229, 
246).  Schmidts  Behauptung,  Grotius  verwerfe  „mit  noch  größerer  Prä- 
zision als  Bodin  das  Postulat  einer  Volkssouveränetät",  ist  entgegenzuhalten, 
daß  erstens  von  Bodin  die  Vorstellung  der  Volkssouveränetät  noch  als 
„selbstverständliche  Basis  festgehalten"  wird  (s.  Gierke,  Alth.  S.  80  u. 
vgl.  S.  84  Anm.  27  u.  28)  und  daß  zweitens  von  einer  „präzisen"  Ver- 
werfung der  Volkssouveränetätslehre  auch  bei  Grotius  keine  Rede  sein 
kann;  im  Gegenteil,  Grotius  vermag  sich  gerade  von  der  Annahme 
einer  ursprünglichen  Volkssouveränetät  gar  nicht  völlig  loszureißen  (vgl. 
Gierke,  Alth.  S.  174 f.  u.  84  Anm.  27).') 

Die  Darstellung  der  Aufklärungslehre  beschränkt  sich  wenigstens  im 
großen  und  ganzen  auf  eine  paraphrasierende,  wenn  auch  wie  stets  in 
nicht  gerade  reservierter  Sprache  gehaltene  Wiedergabe  des  aus  den  ver- 
schiedenen Lehrbüchern  zusammengestellten  Stoffes.  Daß  bei  solchem 
etwas  eiligem  Verfahren  hie  und  da,  wenn  es  der  Zufall  gerade  will, 
irrige  Ergebnisse  anderer  Forscher  ungeprüft  übernommen  werden,  ist 
freilich  nicht  zu  vermeiden  (vgl.  z.  B.  über  eine  derart  zustandegekommene 
„Verzerrung  Montesquieus"  den  Nachweis  Jellineks  in  Grünhuts  Zeit- 
schrift Bd.  XXX  S.  1  ff.).  Es  mag  hervorgehoben  werden,  daß  unter 
anderem  alles,  was  über  das  Prinzip  der  Gewaltenteilung  bei  Locke  und 
Montesquieu  berichtet  wird,  durch  eine  allzu  ungenaue  Benutzung  der 
sekundären  Quellen  schief  geworden  ist.  Weder  dringt  Locke  ausschließ- 
lich auf  eine  vollständige  Trennung  von  Legislative  und  Exekutive,  noch 
unterscheidet  sich  Montesquieu  durch  eine  stärkere  Vermengung  beider. 
Das  Umgekehrte  zu  behaupten  wäre  richtiger  gewesen  (vgl.  z.  B.  Jellinek, 
Gesetz  und  Verordnung  S.  64  ff.,  Rehm,  Allgemeine  Staatslehre  S.  229, 
236).  Auch  hätte  Schmidt  Locke  und  Montesquieu  nicht  ausdrücklich 
den  gemeinsamen  Vorwurf  machen  sollen,  daß  sie  die  Regierung  ledig- 
lich als  mechanische  Exekutive  des  Gesetzeswillens  auffaßten  (S.  261), 
während  doch  in  Wahrheit,  wie  Jellinek  ausführlich  dargetan  hat  (a.  a.  O. 
S.  30,  64  ff.),  Locke  sich  gerade  durch  Betonung  des  selbständigen 
Moments  in  der  Regierung  (Prärogative)  von  der  französischen  Theorie 

')  Wir  zitieren  aus  den  oben  (S.  463)  angegebenen  Gründen  mit  Vorliebe  gerade 
dies  für  jede  auch  nur  flüchtige  Darstellung  älterer  Staatstheorien  unentbehrliche  Buch 
von  Gierke. 

Archiv  für  Soxiatwiwenschaft  u.  Soitalpolitik.  1.    (A.  f.  ml  G.  u.  St.  XIX.)  1.  3° 


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466 


Literatur. 


des  Konstitutionalismus  unterscheidet.  —  Hume  wird  aus  der  Aufklärung' 
vollständig  herausgenommen,  und  mancher  ganz  Unkundige  könnte  sich 
leicht  zu  dem  Irrtum  verleiten  lassen,  als  ob  Hume  hier  wirklich  von 
Schmidt  eine  ihm  gebührende  „weit  höhere  Rangstellung"  zum  ersten 
Male  angewiesen  worden  sei;  und  dies  im  Gegensatz  zu  der  „bis  heute 
üblich  gebliebenen"  Manier,  Hume  „mehr  als  Totengräber  der  Aufklärung 
denn  als  Herold  einer  neuen  Betrachtungsweise"  hinzustellen  und  ihn, 
wie  auch  die  „neueren  Philosophiehistoriker"  Kuno  Fischer  und  Windel - 
band  getan  haben,  als  „bloßen  Nachfolger  der  Lockeschen  Aufklärungs- 
philosophie" zu  behandeln.    Sieht  man  sich  nach  dieser  wiederum  viel- 
versprechenden Einleitung  an,  was  Schmidt  über  Hume  eigentlich  zu 
sagen  weiß,  so  merkt  man  zu  seiner  Enttäuschung  sofort,  daß  er  im 
wesentlichen  auch  hier  das  reproduziert,  was  schon  bei  dem  „neueren 
Philosophiehistoriker"  Windelband  sich  findet.    Es  handelt  sich  um  die 
beiden  Gedanken,  daß  Hume  —  einmal  durch  Eingliederung  des  In- 
dividuums in  das  Gesamtleben  der  Gesellschaft  und  sodann  durch  seine 
Leugnung  der  atomistischen  und  abstrakten  Vertragstheorie  —  über  das 
Aufklärungszeitalter  hinausweise  (vgl.  bes.  Windelband  Geschichte  der 
neueren  Philosophie,  2.  Aufl.  Bd.  I,  S.  348  fr.,  Geschichte  der  Philo- 
sophie 2.  Aufl.  S.  423).    Hätte  Schmidt  sich  wenigstens  über  seinen 
Lieblingsdenker  die  gangbarste  sekundäre  Literatur  angesehen,  so  hätte 
er  übrigens  erfahren  können,  daß  Hume  die  Vorstellung  des  Urvertrags 
(original  contract)  keineswegs,  wie  Schmidt  meint,  schon  ganz  konsequent 
verwirft  und  „endgültig  erledigt"  (S.  71,  76,  84),  ja  daß  er  gerade  an 
die  Tatsache  eines  ursprünglichen  Vertrages  glaubt,  ihm  jedoch  für 
die  späteren  Generationen  —  was  allerdings  sehr  bedeutsam  ist  —  keine 
bindende  Kraft  zuerkennt  (vgl.  z.  B.  Gierke,  Alth.  S.  82  Anra.  21,  84 
Anm.  27,  88  Anm.  38,  auch  112  Anm.  91). 

Das  genaue  Gegenstück  zu  Hume  in  der  Schätzung  des  Verfassers 
bildet  Rousseau.  „Vom  Standpunkt  der  wissenschaftlichen  Erkenntnis  aus 
betrachtet"  habe  Rousseau  „nur  zersetzend  und  auflösend  in  den  großen 
Geistesprozeß  der  Epoche  eingegriffen".  Die  Bedeutung  von  „wissen- 
schaftlich" muß  hier  sehr  eng  gemeint  sein.  Denn  z.  B.  die  von  Kant 
und  Hegel  akzeptierte,  auch  für  die  „Wissenschaft"  bekanntlich  sehr  ein- 
flußreich gewordene  Betonung  des  Willensmomcnts  in  Staat  und  Recht 
(vgl.  darüber  z.  B.  Ahrens,  Naturrecht  6.  Aufl.  I  S.  180,  182  Anm., 
Fester,  Rousseau  u.  d.  deutsche  Geschichtsphilosophie  S.  2  78  f.,  Jellinek, 
System  d.  subj.  öfltl.  Rechte  S.  40)  und  ebenso  die  Unterscheidung  von 
partikularen  Gesellschafts-  und  universalen  Staatsinteressen,  durch  die 
Rousseau  gleichfalls  ein  Vorläufer  Hegels  geworden  ist  (vgl.  Jellinek 
a.  a.  O.  S.  133  f.,  Haymann,  J.  J.  Rousseaus  Sozialphilosophie  S.  7 6  ff.), 
hätten  doch  auch  von  dem  wissenschaftlichen  Standpunkt  Schmidts  aus 
wenigstens  als  mildernde  Umstände  wirken  sollen;  dasselbe  gilt  noch 
mehr  von  der  für  die  Folgezeit  vorbildlichen  scharfen  Ausprägung  des 


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Emil  Las k:  Schmidt,  R.,  Die  geroeinsamen  Grundlagen  d.  politischen  Lebens.  467 

Gesetzesbegriffes  bei  Rousseau,  die  einen  gewaltigen  Einfluß  nicht  nur 
auf  die  gesamte  Verfassungsgeschichte  des  Revolutionszeitalters,  sondern 
auch  auf  die  „Wissenschaft",  sogar  auf  die  positivste  Jurisprudenz  aus- 
geübt hat  (vgl.  Jellinek,  Ges.  u.  Verordn.  S.  51fr.,  54,  96  f.;  über  den 
Einfluß  von  Rousseaus  Volkssouveränetätslehre  auch  Rehm,  Allg.  Staatsl. 
S.  238/39).  Rousseau,  sagt  Schmidt,  „enthält  die  Methodelosigkeit  der 
Naturrechtslehre  dadurch,  daß  er  sie  ins  große  übertreibt".  Nichts  ist 
überhaupt  dem  Verfasser  mehr  zuwider  als  Methodelosigkeit  und  Unexakt- 
heit  in  der  Wissenschaft!  So  wendet  er  sich  an  einer  späteren  Stelle  in 
einer  kleinen,  aber  wuchtigen  Anmerkung  (S.  288)  gegen  „die  für  den 
Unkritischen  verführerischen  politischen  Aphorismen  des  soeben  ver- 
storbenen methodelos  philosophierenden  Poeten  Nietzsche" ;  so  erteilt  er 
aber  auch  Stammler  eine  strenge  Verwarnung,  weil  er  Marx  gerade  so 
ernsthaft  widerlege,  als  handele  es  sich  um  die  Theorien  eines  wirk- 
lichen ordentlichen  Gelehrten.  „Stammler  tut  der  ganzen  Theorie  wohl 
zuviel  Ehre  an,  wenn  er  mit  dem  schwersten  wissenschaftlichen  Kaliber 
diese  Widerlegung  unternimmt"  (S.  106  Anm.). 

Ganz  anders  ab  Rousseau  wird  Kant  behandelt,  der  doch  gerade 
als  Politiker  Rousseau  sehr  nahe  steht.  Wo  Schmidt  freilich  die  großen 
Gedanken  des  Auf  klärungszeitalters  berührt,  da  tut  er  es  auch  bei  Kant 
mehr  entschuldigend,  als  würdigend,  nennt  sie  „weitausgreifende  Speku- 
lationen", die  für  den  „alternden  Philosophen"  den  „näherliegenden 
praktischen  Kern"  seiner  Lehre  „in  seinem  Innenleben  verdunkelten". 
Er  bemüht  sich  darum,  seinen  Grundbestrebungen  treu,  die  Ideen  Kants 
möglichst  in  „näherliegende"  praktische  Verdienste  umzuwandeln,  wobei 
er  zu  dem  merkwürdigen  Ergebnis  kommt,  daß  die  Wahrung  des  Rechts 
bei  Kant  nicht  einziger  Staatszweck  sei,  sondern  neben  die  Kultur- 
tätigkeiten trete  (vgl.  S.  84  f.  u.  146  Anm.  1).  Wie  wenig  Schmidt  sich 
mit  der  Bedeutung  der  wenn  auch  aus  fremden  Büchern  entnommenen 
so  doch  immerhin  von  ihm  selbst  gebrauchten  Termini  vertraut  gemacht 
hat,  erkennt  man  —  um  wieder  lediglich  ein  Beispiel  herauszugreifen  — 
daraus,  daß  er  zwar  unbedenklich  zugibt,  Kant  betrachte  das  Vertrags- 
prinzip „nur"  —  wie  es  ausdrücklich  heißt  —  als  „regulative  Idee", 
nichtsdestoweniger  aber  Kant  vorwirft,  er  gerate  dadurch  mit  seiner 
eigenen  Rechtslehre  in  Widerspruch.  Denn  nach  dieser  entstehe  das 
Recht  erst  im  Staat,  der  Staatsvertrag  hingegen  setze  doch  schon  einen 
Rechtssatz  voraus.  Schmidt  hat  also  nicht  recht  beachtet,  daß  wenn 
man  den  Staatsvertrag  lediglich  ein  regulatives  Prinzip  nennt,  er  dann 
eben  nur  einen  ideellen  Prüfstein  und  nichts  formell  Rechtliches  be- 
deuten soll,  insofern  also  gerade  nicht  „einen  Rechtssatz  voraussetzt". 

An  sich  wäre  es  ungerecht,  dem  Verfasser  als  einem  Einzelwissen- 
schaftler Fremdheit  gegenüber  der  Philosophie  vorzuwerfen.  Aber  warum 
zeigt  er  dann  den  Ehrgeiz,  die  großen  philosophischen  Systeme  mit  be- 
sonderer Vorliebe  zu  behandeln  und  zwar  meist  viel  wortreicher  als  ihre 

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468 


Literatur. 


staatswissenschaftlichen  „Ergebnisse"?  Ein  Grund  dafür  ist  wirklich  nicht 
zu  entdecken.    Für  Leser  mit  sehr  großer  Vertrauensseligkeit  muß  man 
aber  deshalb  bange  sein,  weil  bei  Schmidt  gerade  alles  „Philosophische" 
in  einem  seltsamen  Tone  von  Sicherheit  und  in  nicht  gerade  schlichter 
Sprache  vorgetragen  wird;  z.  B. :  ,,Als  echtes  und  rechtes  Kompromiß- 
produkt der  Scholastik  und  der  Renaissancephilosophie  verlegt  er  (Locke) 
seine  Marschroute  in  die  Mittellinie  zwischen  die  bisherige  dualistische  und 
materialistische  Richtung"  (S.  64)  oder:  „Allerdings  läßt  die  neue  Syste- 
matik auf  die  Staatslehre  ihr  Licht  nur  zögernd  fallen  (!),  und  auch 
dann  ist  die  Beleuchtung  zunächst  eine  sehr  einseitige.  Bacon  von  Verulam, 
obwohl  als  Minister  Jakobs  I.  mit  allen  Salben  der  politischen  Praxis  ge- 
rieben, vermied  doch  ein  theoretisches  Eingehen  auf  das  Staatsleben . . ." 
(S.  60)  usw. ')  Von  Spinoza  heißt  es:  „Die  mathematische  Denkmethode 
Descartes'  mit  einer  starken  pantheistischen  Überzeugung  verschmelzend 
erhebt  er  den  allumfassenden  und  einzigen  geometrischen  Raum  zur  Ein- 
heit der  göttlichen  Substanz"  (S.  61).    Hier  ist  offenbar  ein  kleiner  Irr- 
tum bei  der  Quellenbenutzung  untergelaufen.    Windelband  sagt  nicht, 
daß  Spinoza  den  Raum  irgendwie  zur  Substanz  macht  oder  „erheb  t" ; 
das  wäre  ja  völlig  sinnlos,  da,  wie  jeder  weiß,  der  jemals  etwas  von 
Spinoza  gehört  hat,  die  Räumlichkeit  nur  eins  der  Attribute  der  Sub- 
stanz ist;  nein,  Windelband  gebraucht  den  Raum  nur  als  veranschau- 
lichende „Analogie"  zur  Erläuterung  des  Wesens  der  Substanz. 
Ganz  in  dieser  Art  ist  alles  „Philosophische",  insbesondere  aber  die  neun 
Seiten  füllende  Darstellung  Kants  ausgefallen,  von  der  sechs  Seiten  der 
Philosophie  allein  gewidmet  sind.  Da  heißt  es,  daß  man  Kant  zwar  zu- 
nächst als  Fortsetzer  Humescher  Gedanken  zu  betrachten  habe.  Und 
dann  folgt  der  vielsagende  Satz:  „Aber  man  versteht  Kant  doch  nur 
dann  ganz,  wenn  man  sich  klar  macht,  daß  er  sich  selbst  von  dem 
begabtesten  seiner  Vorläufer  nicht  nur  quantitativ,  sondern  auch  qualitativ 
unterscheidet"  (S.  78).    Auch  die  Kantische  Moral philosophie,  der  sogar 
an  mehreren  Stellen  eine  sehr  eingehende  Beachtung  gegönnt  wird,  ist 
unter  den  Händen  Schmidts  zu  einem  recht  eigentümlichen  Gebilde  ge- 
worden (vgl.  bes.  S.  80 — 83,  169 — 174).   Den  verschiedenen  Windungen 
dieser  Darstellung  zu  folgen  dürfte  unmöglich  sein.    Bald  erscheint  die 
„Willensautonoraie"  als  der  Grundpfeiler  der  Kantischen   Ethik,  bald 
soll  gerade  umgekehrt  dem  „Streit  um  Autonomie  oder  Heteronomie" 
„ein  eigentlicher  Gegensatz  nicht  oder  doch  nicht  notwendig  zugrunde 
liegen".    „Der  prinzipielle  Gegensatz  Kants  mit  (!)  den.  älteren  Ethikern" 
zeigt  sich  vielmehr  erst  an  der  Frage,   wie   das  Dasein   der  Wert- 
urteilsformen zu  erklären  und  wie  es  „innerhalb  der  menschlichen 
Gattung"  entstanden  sei  (S.  173  Anm.  1).    Schmidt  widerlegt  (!) 

J)  Ein  wirklich  anschauliches  Bild  von  der  das  ganze  Buch  gleichmäßig  aus- 
zeichnenden Geschmücktheit  der  Sprache  zu  geben,  ist  unmöglich. 


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Emil  Lask:  Schmidt,  R.,  Die  gemeinsamen  Grundlagen  d.  politischen  Lebens.  469 


sodann  die  Berechtigung  dieser  ungehörigen  Kantischen  Fragestellung 
nach  der  „Herkunft"  der  Sittlichkeit  (vgl.  S.  81  f.  u.  173  f.)  und  be- 
lehrt uns.  daß  in  Wahrheit  sich  „dieser  Meinungsgegensatz  mit  den 
Mitteln  objektiver  psychologischer  Forschung  nicht  schlichten"  lasse. 
Im  ganzen  stellt  sich  Schmidt  aber  durchaus  auf  die  Seite  des  von  ihm 
dergestalt  gereinigten  Kantischen  „Intuitivismus",  der  das  Sittengesetz  als 
„das  nicht  tiefer  erklärbare  Produkt  des  intelligenten  Menschen  oder  des 
übererfahrungsmäßigen  höheren  Willens"  erfaßt  (S.  172).  Hoffen  wir 
wenigstens,  daß  dieser  „intelligente  Mensch"  durch  das  Mittelglied  eines 
Druckfehlers  vom  „intelligiblen  Charakter"  abstammt! 

Der  das  Resultat  der  historischen  Übersicht  resümierende  Schluß- 
paragraph des  Kapitels  enthält  zunächst  im  engsten  Anschluß  an  Dilthey 
und  v.  Below  einige  völlig  zutreffende  und  überzeugende  Ausführungen 
über  die  prinzipielle  Unmöglichkeit,  durch  geschichtsphilosophische  Spekula- 
tion und  soziologische  Systematik  die  geschichtlichen  Inhalte  in  ihrer 
konkreten  Einmaligkeit  zu  erfassen  (S.  103  fr.).  Im  übrigen  aber  ist  der 
Ertrag  an  „methodologischer"  Einsicht  doch  sehr  dürftig  ausgefallen. 
Insbesondere  bleiben  all  die  häufig  wiederkehrenden  Bemerkungen  über 
„periodische  Gesetzmäßigkeit"  oder  „gesetzmäßige  Pendelschläge",  die 
trotzdem  keineswegs  „regelmäßig  und  konstant"  auftreten  sollen,  über 
„politische  Entwicklungsgesetze"  usw.  in  so  proteusartiger  Vieldeutigkeit, 
daß  darunter  ungefähr  jeder  überhaupt  mögliche  Standpunkt  gedacht 
werden  kann  (vgl.  dazu  S.  6,  noff.,  238  fr.,  253,  2S4,  2S7,  289  f.,  Bd.  II, 
S.  863,  874  fr.).  In  Wahrheit  liegt  Schmidt  das  Interesse  für  die  metho- 
dologische Betrachtungsweise  völlig  fern.  Wir  würden  dies  zu  erwähnen 
ja  keinen  Grund  haben,  wenn  nicht  durch  die  ganze  dogmengeschicht- 
liche „Skizze"  des  ersten  Kapitels  die  hier  endlich  fixierte  „methodolo- 
gische Grundlage"  so  großartig  vorbereitet  worden  wäre.  Und  auf  das 
peinliche  Mißverhältnis  zwischen  den  eigenen  Ankündigungen  des  Ver- 
fassers und  seinen  Leistungen  mußte  auch  an  diesem  Punkte  hinge- 
wiesen werden.  — 

Das  2.  Kapitel  (Bedingungen,  Aufgaben  und  Wesen  des  Staats)  muß 
trotz  der  rhapsodischen  Anordnung  des  Stoffs  und  des  auch  hier  fühl- 
baren Mangels  an  Selbständigkeit  als  das  am  besten  gelungene  bezeichnet 
werden.  In  diesen  strenger  Systematik  von  vornherein  unzugänglichen 
Regionen  des  ethnologischen,  soziologischen  und  historisch-politischen 
Forschungsgebietes  können  die  sonstigen  wissenschaftlichen  Eigentümlich- 
keiten des  Werkes  am  meisten  zurücktreten.  Wir  rinden  hier  —  anfangs 
im  Anschluß  an  Großes  Buch  über  die  Formen  der  Familie  —  Bemer- 
kungen über  die  Urentwicklung  von  Familie  und  Stamm,  über  die  Be- 
deutung der  Seßhaftigkeit,  über  die  ethnologisch  wie  begrifflich  begründ- 
bare Unabhängigkeit  des  Staates  von  der  Abstamraungsgemeinschaft.  Es 
zeigt  sich  auf  diesem  Gebiete  die  Bekanntschaft  des  Verfassers  mit 
historischer  Literatur  und  seine  Fähigkeit,  die  Darstellung  durch  zuweilen 


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470 


Literatur. 


glücklich  gewählte  Beispiele  anschaulicher  zu  machen  (§  14  und  15).  *) 
Manche  gute  historische  Belege  enthält  auch  der  Paragraph  über  die 
„Aufgaben  des  Staates"  (5  17),  der  im  übrigen  jedoch  Allzugeläufiges 
viel  zu  breit  behandelt. 

Mit  Recht  statuiert  Schmidt  in  diesem  Kapitel,  in  dem  auch  der 
weiteste  soziale  Begriff  des  „Organs"  gewonnen  wird,  von  seinem  all- 
gemeinsten sozial  wissenschaftlichen  Kriterium  des  Verbands- 
begrines aus  eine  Wesensgleichheit  sämtlicher  Verbände :  des  Staates,  der 
Gemeinde,  der  Provinz,  der  Kolonie,  der  Horde  und  des  Stammes  (j{  16). 
Diese  „Wesensgleichheit  aller  Verbände"  ist  überhaupt  eine  der  durch 
das  ganze  Werk  sich  hindurchziehenden  Lieblingsideen  des  Verfassers. 
Leider  steigen  aber  bei  ihm  derartige  an  sich  ja  berechtigte  Behaup- 
tungen, die  jedoch  in  dieser  Allgemeinheit  lediglich  weder  beweisbare 
noch  bestreitbare  Apercus  bedeuten,  selten  bis  zu  solcher  Schärfe  und 
Durchdachtheit  empor,  daß  sie  für  die  wissenschaftliche  Erkenntnis  recht 
fruchtbar  werden  könnten.  So  dürfte  er,  auch  in  diesem  Punkte  in 
allzu  generalisierender  und  unbestimmter  Denkungsweise  verharrend,  den 
Wert  der  „weitschichtigen"  (S.  142),  aber  trotzdem  nicht  ganz  unange- 
brachten neueren  Untersuchungen  über  die  nach  so  vielen  Richtungen 
denn  doch  erheblichen  Gegensätzlichkeiten  innerhalb  des  umfassenden 
VerbandsbegrifTs  unterschätzen.  Er  weiß  sich  in  der  Lehre  von  der 
Gleichartigkeit  aller  Verbände  mit  Gierke,  ferner  z.  B.  mit  Rosin  und 
Preuß  eins  (vgl.  z.  B.  S.  13,  142  f.)  und  konstatiert  mit  Genugtuung  und 
ohne  allzuängstliches  Abwägen,  daß  in  dieser  Frage  jetzt  eine  allgemeine 
Einmütigkeit  eingetreten  sei.  „Auch  diejenigen  Gelehrten,  die  früher  (!) 
geneigt  waren,  eine  Sonderstellung  des  Staates  vor  den  übrigen  Ver- 
bänden zu  behaupten,  haben  die  Richtigkeit  dieses  Standpunktes  aner- 
kannt (vgl.  z.  B.  Laband,  Staatsrecht  des  deutschen  Reichs  I.  63,  wo  er 
auch  in  der  Familie  das  Element  der  Herrschaft  über  ihre  Glieder  in 
der  an  und  für  sich  gleichen  Form  betont,  in  der  es  auch  im  Staat  auf- 
tritt)". (S.  13  Anm.)  Jedem  auch  nur  ganz  flüchtigen  Kenner  der 
neueren  staatsrechdichen  Literatur  wird  diese  Bemerkung  eine  gewaltige 
Überraschung  bereitet  haben.  Sollte  Schmidt  wirklich  die  in  zahl- 
losen Lehrbüchern  reproduzierte  Stellungnahme  Labands  in  dieser  be- 
rühmten Streitfrage  nicht  kennen?  Sollte  er  nicht  wissen,  daß  Laband 
nach  wie  vor  Anhänger  der  „Herrschaftstheorie"  Gerbers  geblieben  ist 
und  auch  in  den  neueren  Auflagen  seines  Staatsrechts  daran  festgehalten 
hat,  im  Merkmale  des  „eigenen  Herrschaftsrechts"  (so  die  Formulierung 
seit  der  2.  Aufl.)  den  „spezifischen  Unterschied"  zwischen  dem  Staat 
und  den  übrigen  Verbänden,  den  „festen  Punkt  zur  begrifflichen  Unter- 
scheidung zwischen  Staat  und  Gemeinde"  zu  sehen?  Laband  polemi- 


')  Vornehmlich  an  solche  Bestandteile  des  Schmidtschen  Buches  hat  die  sehr 
lobende  Besprechung  v.  Bclows  angeknüpft  (Historische  Zeitschrift  Bd.  90;. 


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Emil  Lask:  Schmidt,  R.,  Die  gemeinsamen  Grundlagen  d.  politischen  Lebens.  471 

siert  ja  gerade  ausdrücklich  gegen  die  von  Gierke,  Rosin  und  anderen 
vertretene  Lehre  von  der  prinzipiellen  Gleichstellung  des  Staates  mit  den 
Gemeinden  und  den  Korporationen  des  Privatrechts,  somit  genau  gegen 
die  Auffassung,  zu  der  er  sich  nach  Schmidt  bekehrt  haben  soll.  Wenn 
Schmidt  sich  nun  gar  auf  die  Bemerkung  Labands  über  die  Familie  be- 
ruft, so  gewinnt  man  den  Eindruck,  als  ob  er  diese  bekannte  Stelle  gar 
nicht  vor  Augen  gehabt  haben  könne.  Denn  sonst  wäre  ihm  doch  gewiß 
aufgefallen,  daß  Laband  die  Familiengewalt,  die  nämlich  noch  einen 
„schwachen  Abglanz"  ihres  „ehemals  staatlichen  Charakters"  bewahrt 
habe,  gerade  als  eine  die  Regel  bestätigende  Ausnahme  behandelt, 
daß  er  deshalb  behauptet,  von  diesem  „geringfügigen  Rest"  abgesehen 
gäbe  es  keine  Privatgewalt  im  heutigen  Recht  und  daß  er  eben  deshalb 
gerade  auch  an  dieser  Stelle  seine  ihn  von  Gierke,  Rosin  u.  a.  tren- 
nende Auffassung  auf  das  schärfste  formuliert  und  fortfährt:  „Der  Staat 
allein  herrscht  über  Menschen.  Es  ist  dies  sein  spezifisches 
Vorrecht,  das  er  mit  niemandem  teilt."  Wir  haben  dies  Beispiel 
hervorgehoben,  um  Schmidts  überall  etwas  souveränes,  jedes  Eindringen 
und  alle  Genauigkeit  verschmähendes  Verfahren  zu  kennzeichnen,  und 
zu  zeigen,  mit  welch  überraschender  Leichtigkeit  er  sich  ganz  gelegent- 
lich über  die  wichtigsten  Fragen  der  Publizistik  mit  fremden  Autoren 
auseinandersetzt.  — 

Im  3.  Kapitel  (Verhältnis  des  Staats  zum  Recht)  kann  es  sich  der 
Verfasser,  der  nun  einmal  durchaus  nicht  nur  als  Methodolog,  sondern 
auch  als  Philosoph  auftreten  will,  leider  wieder  nicht  versagen,  in  größter 
Breite  auf  „philosophische"  Prinzipienfragen  einzugehen.  Bei  dieser  Ge- 
legenheit zeigt  er  aufs  neue  seine  auffallende  Vielseitigkeit,  indem  er 
Kant,  Savigny  und  Gierke  zu  einer  rechtsphilosophischen  Mischung 
eigener  Art  zusammenarbeitet.  Aus  Kant  will  er  herausgelesen  haben, 
daß,  weil  die  Rechtssätze  ihren  Inhalt  der  Moral  und  Sitte  entnehmen, 
die  rechtsschaffende  Kraft  im  „Seelenleben  des  Einzelmenschen"  und 
zwar  in  „der  nicht  weiter  zerlegbaren  Fähigkeit  (!)  der  Willensautonomie" 
liege.  Es  ist  überhaupt  ein  angeblich  von  Kant  hergeholter  Lieblings- 
gedanke Schmidts,  daß  das  Recht  einer  „regelproduzierenden  Kraft  im 
Individuum"  entstamme  (z.  B.  S.  170  f.,  174,  192,  218,  239).  Wie 
Schmidt  mit  einem  so  absonderlichen  Individualismus  und  Atomismus  in 
der  Lehre  von  der  Rechtserzeugung  noch  den  Standpunkt  Savignys  und 
der  historischen  Rechtsschule  in  Einklang  zu  bringen  vermag,  muß  rätsel- 
haft bleiben.  Dagegen  gewährt  uns  diese  spätere  Stelle  einen  erwünschten 
Aufschluß  über  einen  an  sich  mystisch  klingenden  Vorwurf  gegen  Savigny 
(s.  die  Darstellung  Savignys  S.  93  fr.).  Savigny,  der  im  übrigen  —  wie 
Schmidt  auf  Grund  seiner  Hume-  und  Kantforschungen  konstruiert  — 
„die  Hauptgedanken  der  Humeschen  und  Kantischen  Moralphilosophie  zu 
einer  neuen  Wendung  zusammenzieht",  blieb  dennoch  die  für  das  Ver- 
ständnis der  Rechtserzeugung  ganz  unerläßliche  „Wichtigkeit  der  Willens- 


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472 


Literatur. 


autonomie  des  Individuums  verschlossen";  und  daraus  erklärt  sich  „die 
gewisse  Flüchtigkeit,  mit  der  Savigny  über  die  Vorstellung  eines  unmittel- 
bar rechtschaffenden  Volksgeistes  zur  Tagesordnung  überging".  Welche 
bisher  ungeahnten  gleichzeitig  historischen  und  systematischen  Perspektiven 
eröffnen  sich  hier  wieder  einmal!  Die  „Willensautonomie"  —  unter  der 
sich  der  Verfasser  einen  geheimnisvoll  funktionierenden  psychischen  Apparat 
zu  denken  scheint  —  unentbehrlich  für  die  Erkenntnis  der  Rechtsentstehung  I 
Diese  ganze  Behandlung,  der  Savigny  hier  unterworfen  wird,  zeigt  wiederum, 
in  welchem  Sinne  Schmidt  bei  seiner  ebenso  vielseitigen  wie  unbefangenen 
Anlehnung  an  ältere  Autoritäten  sich  nicht  nur  die  Ideen  Kants,  sondern 
auch  die  Gedankenwelt  Savignys  angeeignet  hat,  den  er  doch  als  eins 
der  Vorbilder  der  modernen  Wissenschaft  mit  größter  Emphase  feiert. 

In  gewohnter  Kürze  und  mehr  im  Vorübergehen  sucht  Schmidt  von 
seinem  Hume-Kant-Savignyschen  Standpunkt  aus  auch  zur  „Hauptfrage  (?) 
der  modernen  Rechtslehre",  ob  das  Recht  einen  „Allgemeinwillen"  oder 
eine  „allgemeine  Rechtsüberzeugung"  bedeute,  Stellung  zu  nehmen.  Mit 
seiner  Basierung  des  Rechts  auf  die  „Überzeugung"  der  Individuen  meint 
er  sich  im  Sinne  der  letzteren  Anschauung  entschieden  zu  haben  und 
insbesondere  auf  seiten  Gierkes  zu  stehen.  Er  lebt  nämlich  in  dem 
Glauben,  die  Überzeugungstheorie  unterscheide  sich  von  der  Willens- 
theorie durch  Verwerfung  der  staatlichen  Omnipotcnz  der  Rechts- 
schöpfung und  durch  Verlegung  der  rechtserzeugenden  Kraft  in  die 
„Überzeugung"  der  einzelnen.  Daß  bei  solchen  Formulierungen  die 
Übereinstimmung  mit  der  Überzeugungstheorie  und  insbesondere  gerade 
mit  Gierke  wieder  etwas  äußerlich  ausfallen  mußte,  liegt  auf  der 
Hand.  Von  der  Art  von  Individualismus,  die  Schmidt  entdeckt  hat, 
sind  ja  alle  Theorien  gleich  weit  entfernt,  und  alle  betonen  den 
sozialen  Ursprung  des  Rechts.  Ganz  überraschenderweise  verquickt 
Schmidt  hier  außerdem,  seine  philosophische  Kombinationsgabe  noch 
einmal  erprobend,  mit  dem  Gegensatz  der  beiden  Theorien  die  Kantische 
Unterscheidung  von  Legalität  und  Moralität.  Er  belehrt  uns  nämlich, 
daß  nur  die  Willenstheorie,  verfuhrt  durch  diese  „anfechtbare"  Kantische 
Unterscheidung,  „zwischen  Moral  und  Recht  einen  prinzipiellen  Unter- 
schied mache",  „dem  Recht  eine  prinzipiell  andere  Funktion  (Regelung 
der  äußeren  Freiheit)  im  Gegensatz  zur  Moral  zuspreche"  (5.  1 7  r  Anm.). 
Jeder,  der  auch  nur  den  allgemeinen  Teil  unserer  juristischen  Lehrbücher 
angeblättert  hat,  wird  uns  eine  ausführliche  Widerlegung  dieser  ver- 
blüffenden Behauptung  erlassen.  Wäre  eine  solche  erforderlich,  so  würden 
wir  uns  auch  hier  auf  einen  einzigen  Anhänger  der  Überzeugungstheorie 
beschränken,  auf  Gierke  und  innerhalb  der  Schriften  Gierkes  auf  eine 
einzige  Stelle,  nämlich  auf  die  von  Schmidt  selbst  zitierte  im  „Deutschen 
Privatrecht",  woselbst  Gierke  das  Recht  im  objektiven  Sinne  als  die 
Normen  definiert,  die  nach  der  erklärten  Uberzeugung  der  Gemeinschaft 
das  menschliche  Wollen  äußerlich  binden. 


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Emil  Las  k:  Schmidt,  R.,  Die  gemeinsamen  Grundlagen  d.  politischen  Lebens.  473 

Doch  wir  müssen  nach  so  vielen  rechtsphilosophischen  Leistungen 
den  Verfasser  nun  auch  als  eigentlichen  Juristen  kennen  lernen. 

Am  eingehendsten  wird  das  „rechtliche  Wesen  des  Staats",  die 
„Staatspersönlichkeit"  (§  2  5),  untersucht.  Hier  wird  die  „prinzipale 
Alternative  (!),  vor  die  sich  die  Wissenschaft  gestellt  sah  — ,  die  Wahl 
zwischen  den  drei  (!)  Möglichkeiten"  —  Herrscher-,  Fiktions-  und  orga- 
nische Theorie  —  richtig  reproduziert.  Ein  individuelleres  Gepräge  er- 
halten diese  Ausführungen  aber  erst,  sobald  des  Verfassers  Versuche  be- 
ginnen —  entsprechend  seiner  in  der  Einleitung  angekündigten  Tendenz  — , 
alles  Theoretische  und  Begriffliche  auf  möglichst  wenig  verwickelten 
Umwegen  in  irgend  einen  „praktischen"  Sinn  umzudeuten  (S.  22311.). 
Schon  wenn  er  sich  damit  begnügt,  in  der  Herrschertheorie  „den  prä- 
zisen Ausdruck  des  absoluten  Staates"  zu  erblicken,  vermag  er  bei  solch 
ausschließlicher  Beachtung  der  politischen  Seite  der  Lehre  ihrem  syste- 
matischen Gehalt,  ihrer  Deutungs-  und  Konstruktions seite  doch 
gar  nicht  gerecht  zu  werden.  Der  für  die  gesamte  Entwicklung  und 
systematische  Erkenntnis  der  staatsrechtlichen  Grundbegriffe  so  bedeut- 
same, in  der  „Herrschertheorie"  typisch  ausgeprägte  Charakter  einer 
Identifikation  von  Staat  und  Staatsorgan  wird  von  ihm  grundsätzlich  un- 
berücksichtigt gelassen.  Keine  große  Kenntnis  der  Herrschertheorie 
veiTät  ferner  die  Behauptung,  daß  die  Anerkennung  der  Bürger  als  „dem 
Staat  gegenüber  gebundener  und  berechtigter  Subjekte"  über  den 
Streit  der  Theorien  erhaben  sei  (S.  222  Anm.  2;  vgl.  demgegenüber 
z.  B.  einfach  Bornhak,  Allgemeine  Staatslehre,  bes.  S.  78  ff.).  Nicht  recht 
verständlich  ist  Schmidts  Polemik  gegen  die  „gemischte  Staatsform",  die 
er  mit  der  Herrschertheorie  in  engsten  Zusammenhang  bringen  will. 
Zuzugeben  ist  Schmidt  soviel,  daß  die  Herrschertheorie  an  der  Konstruk- 
tion von  Staaten  mit  mehreren  voneinander  unabhängigen  obersten  Organen 
scheitert,  da  ja  nach  ihr  mit  der  Unteilbarkeit  der  Staatsgewalt  im 
objektiven  Sinne  auch  eine  Mehrheit  von  obersten  Organen  nicht 
verträglich  ist.  Wenn  er  aber  daraus  die  Doktrin  der  „gemischten 
Staatsform"  als  Konsequenz  und  einzigen  Ausweg  der  Herrscher- 
theorie hinstellt,  so  kann  er  in  diesem  Augenblick  nicht  gut  irgend  etwas 
im  Sinne  gehabt  haben,  was  man  sonst  unter  der  Lehre  von  der  „ge- 
mischten Staatsform"  versteht;  es  wurde  ja  auch  diese  Doktrin  gerade 
von  Anhängern  der  Herrschertheorie  stets  verworfen  und  umgekehrt  von 
deren  Gegnern,  wie  z.  B.  in  der  Gegenwart  von  Rehm,  vertreten  (vgl. 
die  von  Schmidt  selbst  S.  224  Anm.  zitierte  Stelle:  Rehm,  Allgemeine 
Staatslehre  S.  192  ff.). 

Ihre  höchsten  Triumphe  aber  feiert  diese  praktische  „juristische" 
Erklärungsmethode  bei  Entscheidung  der  Frage,  ob  der  Staat  als  fingierte 
oder  als  reale  Gesamtperson  zu  gelten  habe.  Zwar  sei,  so  argumentiert 
Schmidt  zunächst,  durch  die  Unannehmbarkeit  eines  realen  Gesamtwillens 
auch  der  Nachweis  einer  realen  Staatseinheit  durchaus  gescheitert,  so  daß 


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474 


Literatur. 


also  anscheinend  die  „Fiktionentheorie"  gesiegt  hat.  Aber  das  ändert 
sich  sofort,  sobald  man  sich  nur  zu  dem  hinter  all  dem  Theoretischen 
steckenden  verborgenen  Sinn  durchzuringen  vermag.  Auch  hier  muß 
selbstverständlich  eine  „praktische  Frage  den  Ausschlag  geben",  und 
zwar  die,  welche  Theorie  wohl  dem  Verhältnis  der  Staatsbürger  zur 
Regierung  „besser  entspricht".  Und  stellt  man  die  Frage  so,  dann  muß 
der  organischen  Theorie  sofort  ein  Vorzug  eingeräumt  werden.  Denn 
keine  andere  Theorie  versteht  es,  das  Zusammengehörigkeitsbewußtsein 
der  Volksgenossen,  das  „unter  der  gemeinsamen  Gesetzgebung,  Regierung 
und  Verwaltung  erwächst  und  fortbesteht"  (S.  230),  so  gut  zum  Aus- 
druck zu  bringen  wie  eben  die  organische  Theorie.  Ja,  was  bedeutet 
denn  überhaupt  die  „These,  daß  die  Verbandsperson  nicht  nur  eine 
fingierte,  sondern  eine  reale  Gesamtperson  sei?"  Was  soll  denn  diese 
ganze  Genossenschaftstheorie  Gierkes  ?  Sie  ist,  so  vernehmen  wir  an  der 
entscheidenden  Stelle,  „nur  die  Einkleidung  der  Forderung,  daß  wenn 
gesunde  politische  Verhältnisse  bestehen  sollen,  möglichst  viele  einzelne, 
der  Durchschnitt  der  Bürger,  die  Tätigkeit  der  Staatsorgane  billigen 
müssen,  oder,  um  es  anders  auszudrücken,  daß  die  staatlichen  Organe 
bestrebt  sein  müssen ,  in  ihrer  Tätigkeit  den  Erwartungen  und  An- 
schauungen der  Bürger  Rechnung  zu  tragen".  So  versteht  es  der  Ver- 
fasser Gierkes  Genossenschaftstheorie  in  milde  Weisheit  sanft  aufzulösen. 
Seine  Fähigkeit,  das  Unbequeme,  das  leider  theoretischen  Konstruktionen 
nun  einmal  anhaftet,  bis  auf  den  letzten  Bodensatz  zu  beseitigen,  erreicht 
an  dieser  Stelle  wohl  ihren  Höhepunkt.  Den  Staat  mehr  oder  minder 
real  nennen  —  das  bedeutet,  ihm  einen  höheren  oder  niederen  „Grad 
der  rechtlichen  Vollkommenheit"  zuschreiben,  und  „die  reale  Gesamt- 
person bezeichnet  den  relativ  obersten  Grad  der  Vollkommenheit".  Je  mehr 
einzelne  Bürger  die  Staatstätigkeit  billigen,  desto  weniger  fiktiv  und  desto 
realer  wird  der  Staat.  Der  Verfasser  sagt  es  selbst  so  schön:  „Die  Ver- 
bandspersönlichkeit des  Staats  steigert  sich  um  so  mehr  zu  einer  realen 
Gesanitpcrson,  je  breiter  und  intensiver  der  Rückhalt  ist,  den  die  hinter 
den  handelnden  Organen  stehende  Billigung  der  Bürger,  deren  einheit- 
liche Rechtsüberzeugung  bietet"  (S.  237).  Welcher  Reiz  liegt  allein  in 
der  hier  angenommenen  Gradationsfähigkeit  der  Realität! 

Die  derart  vollbrachte  Entdeckung  Gierkes  wirft  zugleich  ein  über- 
raschendes Licht  auf  die  frühere  Bemerkung  Schmidts,  daß  Gierke  in- 
folge seiner  Verwandtschaft  mit  Althusius  dessen  Lehre  etwas  zu  hoch 
einschätze.  Man  kann  es  zwar  Gierke  nicht  gerade  verdenken,  wenn  er 
erstaunt  fragt  (Alth.  2.  Aufl.  S.  330  Anm.  11),  „wo  der  die  Unbefangen- 
heit trübende  Zusammenhang  zwischen  geschichtlich- organischer  Staats- 
auffassung und  naturrechtlicher  Gesellschaftskonstruktion  stecken  soll". 
Allein  wir  verstehen  nunmehr  vollständig,  was  hier  gemeint  war.  Den 
Sozialvertrag  im  Sinne  Kants  und  Rousseaus  erläutert  Schmidt  durch  die 
regulative  Idee  einer  allgemeinen  Zustimmung  der  Staatsbürger.    Es  wird 


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Emil  Lask:  Schmidt,  R.,  Die  gemeinsamen  Grundlagen  d.  politischen  Lebens. 


nun  an  der  betreffenden  Stelle  (S.  84  Anm.  2)  darauf  aufmerksam  ge- 
macht, daß  über  den  „realen  Kern"  dieser  Fiktion  unser  Paragraph  über 
die  Staatspersönlichkeit  ($  25)  Aufklärung  gäbe.  Auf  denselben  Para- 
graphen aber  verweist  auch  die  Anmerkung  über  die  Verwandtschaft 
zwischen  Althusius  und  Gierke  (S.  58  Anm.  1).  Dadurch  enthüllt  sich 
uns  sofort  der  ganze  Zusammenhang :  der  reale  Kern  des  naturrechtlichen 
Sozialvertrags  ist  der  Gedanke  der  allgemeinen  Zustimmung,  und  der 
reale  Kern  von  Gierkes  Genossenschaftstheorie  ist  ebenfalls  der  Gedanke 
der  allgemeinen  Zustimmung.  Überdies  wird  ja  in  dem  Kapitel  über 
Staatspersönlichkeit  ausdrücklich  hervorgehoben,  daß  Gierke  mit  seinem 
realen  Gesamtwillen  „offenbar"  dasselbe  „vorschwebt"  wie  Kant  mit  seiner 
Idee  des  übereinstimmenden  „Willens  aller",  und  in  demselben  Kapitel 
wird  Rousseaus  Volkssouveränetätslehre  deshalb  verworfen,  weil  sie  allzu 
—  Gierkisch  ist,  zu  wenig  individualistisch,  zu  sehr  auf  die  Idee  eines 
realen  „Gesamtwillens"  aufgebaut!  (vgl.  S.  227 — 234.  Gierke  selbst 
scheint  von  diesen  Schmidtschen  Entdeckungen  nie  etwas  geahnt  zu 
haben;  wenigstens  polemisiert  er  umgekehrt  gegen  den  in  Rousseaus 
und  Kants  Idee  des  Allgemeinwillens  steckenden  schroffen  Individualismus ; 
vgl.  z.  B.  Alth.  S.  116  f.,  120  Anm.  121,  203  f.,  208).  So  sehen  wir 
denn  Gierke  in  eine  äußerst  individualistische  und  revolutionäre  Gesell- 
schaft geraten  und  überhaupt  alle  erdenklichen  Gegensätze  durch  eine 
leicht  und  frei  gefügte  Kette  von  Assoziationen  in  friedlichste  Nachbar- 
schaft zusammengerückt.  Was  noch  nie  jemand  gewagt  hat  —  hier 
wird  es  Ereignis:  kraft  Eindringens  in  die  realen  praktischen  Kerne 
werden  Naturrechtslehre  und  Genossenschaftstheorie,  Althusius,  Rousseau, 
Kant  und  Gierke  zu  einer  versöhnenden  Einheit,  zu  einer  coincidentia 
oppositorum  empor-  und  aufgehoben. 

Weniger  vieldeutig  als  diese  „juristischen"  Aufschlüsse  über  das 
Wesen  der  Gesamtperson  sind  die  der  herrschenden  Meinung  wieder 
enger  angelehnten  Bemerkungen  über  den  Rechtsstaatsgedanken,  über 
die  Ebenbürtigkeit  von  Staat  und  Recht,  über  die  Unzulänglichkeit  „bloß 
formaler"  d.  h.  nicht  in  Volksmoral  und  Volkssitte  wurzelnder  Rechts- 
sätze. Auch  im  einzelnen  jedoch  entnimmt  Schmidt  gerade  hierbei 
häufig  das  Material  mit  solcher  Treue  und  so  durchaus  ohne  eigene 
Verarbeitung  fremden  Schriftstellern  (meist  Preuß),  daß  ein  genaueres 
Eingehen  darauf  unangebracht  wäre.  In  dem  Paragraphen  über  den 
Verfassungsstaat  (jC  24)  wird  im  wesentlichen  mit  größter  Breite  der 
eiserne  Bestand  der  öffentlich-rechtlichen  Lehrbücher  vorgetragen,  mit  der 
bei  dieser  Sachlage  etwas  befremdenden  gelegentlichen  Bemerkung,  daß 
auf  anderweite  Darstellungen  „kaum"  verwiesen  werden  könne.  Leider 
ist  von  dem  hierbei  erwähnten  „Ineinandergreifen"  der  staatsrecht- 
lichen Betrachtung  mit  den  Forschungsergebnissen  der  „neueren  Straf- 
rechts-, Strafprozeß-  und  Zivilprozeßliteratur"  (S.  206  Anm.)  nicht  der 
geringste  Ansatz  zu  merken.    Auch  die  bereits  im  Vorwort  stehende 


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4/6 


Literatur. 


und  an  späteren  Stellen  öfter  wiederholte  Ankündigung,  durch  genaueres 
Eingehen  auf  ..Verwaltung  und  Rechtspflege"  „die  bisher  übliche  Form 
der  allgemeinen  Staatslehre  erweitern"  zu  wollen,  bereitet,  was  den  auf 
ganz  unbestimmte  Andeutungen  sich  beschränkenden  ersten  Band  an- 
langt, jedem  Kenner  der  bisherigen  Literatur  über  das  Rechtsstaats- 
und  Verfassungsstaatsproblem  nur  bittere  Enttäuschungen  (vgl.  Vorrede 
S.  VII,  Bd.  II,  S.  841,  881  f.). 

Es  finden  sich  allerdings,  worauf  bereits  anfangs  im  allgemeinen 
von  uns  hingedeutet  wurde,  unter  allen  diesen  „praktischen"'  Erwägungen 
und  politischen  Erörterungen  auch  solche,  denen  zweifellos  eine  etwas 
andere  Bedeutung  zugesprochen  werden  muß.  So  werden,  wie  anzuer- 
kennen ist,  die  Ausführungen  über  den  kärglichen  Bestand  der  Völker- 
rechtsordnung, über  die  durch  Rassen-  und  Klassengegensätze  erzeugten 
Konflikte  der  Rechtsüberzeugung  im  innerstaatlichen  Leben,  über  den 
Wert  von  Verfassungsrechtssätzen  durch  manche  Beispiele  aus  der  poli- 
tischen Geschichte  in  wohltuender  Weise  verlebendigt  (vgl.  die  21,  22, 
23).  Mehr  wird  man  freilich  auch  hier  nicht  zugestehen  dürfen,  da  der 
Gewinn  an  pelitischer  Einsicht  überall  äußerst  gering  ist,  was  besonders 
auch  von  den  einen  Teil  des  vierten  Kapitels  füllenden  Ausführungen 
über  die  „Parteien"  gilt,  bei  denen  man  nach  neuen  Anregungen  gegen- 
über den  hier  zum  treu  befolgten  Vorbild  dienenden  „Fragmenten  zur 
Sozialwissenschaff  Merkels  vergeblich  sucht  (S.  238 — 255).  Überall 
aber,  auch  bei  den  sonst  durchaus  annehmbaren  politischen  Deduktionen, 
wie  z.  B.  bei  denen  über  die  „Staatsformen",  stört  die  durch  gänzliche 
Vernachlässigung  juristischer  Gesichtspunkte  verschuldete  Einseitigkeit. 
Wie  alle  übrigen  staatsrechtlichen  Begriffe  bleiben  insbesondere  die  des 
Staatsorgans,  der  Repräsentation,  der  Volksvertretung  in  undurchdring- 
lichem Dunkel;  ebenso  wird,  wie  nicht  anders  zu  erwarten,  bei  den 
Bemerkungen  über  „die  sogenannte  politische  Freiheit  und  Gleichheit" 
(§  21)  von  jedem  Versuch  abgesehen,  die  subjektiven  öffentlichen  Rechte 
etwa  juristisch  zu  erfassen.  Über  die  Frage  der  Zentralisation  und  De- 
zentralisation (§  32)  vernehmen  wir  nur  die  beim  Verfasser  üblichen 
vagen  Bemerkungen  über  „Verteilung  der  politischen  Bedürfnisse"  mit 
einigen  universalgeschichtlichcn  Rückblicken,  aber  mit  ängstlicher  Ver- 
meidung gerade  der  modernen  auf  das  Verhältnis  von  Staat  und 
Gemeinde  sich  beziehenden  Problemstellungen. 

Es  muß  darum  —  wenn  wir  unser  Urteil  noch  einmal  zusammen- 
fassen —  sowohl  vom  philosophischen  als  vom  einzelwissenschaftlichen 
Standpunkt  aus  bestritten  werden,  daß  der  Verfasser  im  ersten  ')  Bande 
seines  Werkes  das  Ziel  einer  Grundlegung  der  „allgemeinen  Staats- 
lehre" in  irgendeinem  Sinne  erreicht  hat.    Denn  seine  philosophischen 


l)  Anm.  d.  Redaktion:   Die   folgenden  Bände  werden   von   juristischer  Seite 
besprochen  werden. 


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Emil  Lask:  Schmidt,  R.,  Die  gemeinsamen  Grundlagen  d.  politischen  Lebens. 


und  methodologischen  Bemerkungen  können  hierbei  nicht  gut  in  Betracht 
kommen.  Und  als  juristisch-politischem  Dogmatiker  ist  es  ihm  nicht 
gelungen,  „allgemein"  und  doch  nicht  unbestimmt  und  inhaltslos  zu  sein. 
Für  das  Fehlen  aller  staatswissenschaftlichen  Konstruktion  hat  er  aller- 
dings durch  unaufhörliche  Hinweise  auf  die  gewiß  unbezweifelbare  Mannig- 
faltigkeit der  geschichtlichen  Welt  eine  Art  von  Ersatz  zu  bieten  gesucht. 
Allein  gerade  dadurch  ist  selbst  die  an  sich  berechtigte  historische  Ten- 
denz jedenfalls  in  dem  unserer  Besprechung  zugrundeliegenden  ersten 
Bande  unfruchtbar  und  gestaltlos  geblieben,  außer  wo  sie  etwa  bei  ge- 
legentlich auftretenden  historischen  Einzelprobleraen  bereits  zur  Geltung 
kommen  konnte.  — 

Zum  Schlüsse  können  wir  es  uns  nicht  ersparen,  auch  auf  einige 
Äußerlichkeiten  des  vorliegenden  Buches  hinzuweisen,  weil  gerade 
bei  diesem  Werke  die  äußere  Herstellung  ein  treues  Spiegelbild  seiner 
sachlichen  Eigenart  ist  und  uns  über  vieles  erst  den  endgültigen  Auf- 
schluß gibt.    Es  entspricht  nämlich  schon  die  äußere  Benutzung  fremder 
Autoren  genau  der  Unverarbeitetheit  des  Inhalts.    Im  allgemeinen  soll 
doch  die  Auswahl  und  Zusammenstellung   der  einschlägigen  Literatur 
wenigstens  einigermaßen  der  eigenen  Initiative  des  Forschers  entspringen. 
Dies  vermißt  man  jedoch  bei  Schmidt  in  einem  das  Übliche  weit  über- 
steigenden Grade.    Die  bunte  Menge  der  Anmerkungen  und  Zitate  sind 
allzuhäufig  zur  bedeutungslosen  Staffage  herabgesunken  und  geben  dem 
Buch  einen  ungleich  gelehrteren  Anstrich  als  ihm  gebührt.    Selbst  beim 
ersten  Paragraphen  (über  die  Aufgabe  der  allgemeinen  Staatslehre),  bei 
dem  man  doch  noch  am  ehesten  eine  individuelle  Auslese  erwarten 
sollte,  wird  die  gesamte  Literatur  aus  §  i  und  2  der  Rehmschen 
Staatslehre  einfach  herübergenommen,   12  Schriftsteller,   darunter  ein 
Zeitschriftenaufsatz  und  sogar  eine  kleine  Rezension  (!) ;  es  werden  dabei 
ausnahmslos  nur  solche  Seitenzahlen  und  nur  solche  einzelne  Sätze  aus 
den  betreffenden  Werken  bei  Schmidt  angeführt,  die  sich  auch  bei  Rehm 
schon  zitiert  fanden  und  also  nur  abgelesen  zu  werden  brauchten  (vgl.  d. 
Literatur  S.  1,  ferner  z.  B.  S.  8  Anm.,  S.  26  Anm.;  mit  der  Zusammenstellung 
von  Stellen  S.  149  Anm.  1  vgl.  Rehm  S.  35  Anm.  4,  mit  S.  9/10  Anm.  1 
a.  E.  vgl.  Rehm  S.  32).    Als  ein  anderes  Beispiel  dieser  Ablesetechnik 
mag  erwähnt  werden,  daß  die       20  und  24  sowie  die  Anmerkungen 
an  einigen  anderen  Stellen  in  ähnlich  bequemer  Weise  Anregungen  von 
Preuß  (Gemeinde,  Staat,  Reich)  erfahren  haben  (z.  B.:  mit  S.  176  Anm.  2, 
178  Anm.  1,  183  Anm.  1  vgl.  Preuß  S.  201,  2,  mit  S.  214  Anm.  1 
vgl.  Preuß  S.  215  f.,  mit  S.  218  Anm.  1  vgl.  Preuß  S.  151  u.  152 
Anm.  45,  mit  S.  147  Anm.  1  vgl.  Preuß  S.  80  Anm.  178,  mit  S.  222 
Anm.  3  vgl.  Preuß  S.  299  u.  264).    Es  fällt  uns  keineswegs  ein,  hier 
etwa  im  Sinne  der  Plagiatriecherei  ein  verwerfliches  Verhalten  aufdecken 
zu  wollen;  nur  das  soll  ausdrücklich  festgestellt  werden,  daß  diesem 
ganzen  Herstellungsverfahren  die  allergrößte  Eile  deutlich  anzumerken 


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Literatur. 


ist  und  daß  sich  Schmidt  nicht  einmal  die  Zeit  nimmt,  die  von  ihm 
angeführten  Bücher  auch  nur  anzusehen!   (So  zitiert  er  z.B.  S.  22s 
Anm.  3  einige  Definitionen  aus:   „Gerber,  Grundzüge  des  deutschen 
Staatsrechts  S.  16",  die  gar  nicht  in  Gerbers  „Grundzügen"  vorkommen  ; 
bei  Preuß  S.  264  steht  nämlich   bei   den  betreffenden  Gerberschen 
Sätzen  „a.  a.  O.  S.  16",  was  sich  jedoch,  wie  man  beim  Zurückblättern 
sieht,  auf  einen  Zeitschriftenaufsatz  von  Gerber  bezieht  1    Bei  anderen 
Autoren  irrtümlich  angegebene  Zitate  werden  von  Schmidt  ohne  jede 
Nachprüfung  reproduziert;  so  wird  z.  B.  Stammler  falsch  zitiert  —  S.  96 
Anm.,  nach  Below,  Histor.  Zeitschr.  Bd.  81,  S.  213,  richtig  Below,  Hist. 
Zeitschr.  Bd.  78,  S.  82  — ,  ebenso  die  Jahreszahl  von  Dahlmanns  „Politik" 
—  S.  27  Anm.,  nach  Rehm,  Allg.  Staatsl.  S.  9  Anm.  2  — ,  und  auch 
sonst  sind  mannigfache  Spuren  der  Herübernahme  falscher  Zitate  zu 
merken.    S.  120  Anm.  heißt  es:  „Dies  ist  vor  allem  durch  B.  Delbrück 
in  der  Historischen  Zeitschrift  Bd.  71  S.  463  ff.,  489  ff.  und  in  den 
Preußischen  Jahrbüchern  Bd.  79,  1895,  S.  16  erwiesen  worden."  In 
Wahrheit  findet  sich  nur  an  der  zuletzt  genannten  Stelle  ein  Aufsatz  von 
Delbrück;  von  den  beiden  anderen  dagegen  ist  die  eine  eine  mit  N.  unter- 
zeichnete Besprechung  einer  Schrift  von  Delbrück,  die  andere  eine  Be- 
sprechung Belows  von  Lamprechts  Deutscher  Geschichte  1  Wieder  andere 
Anmerkungen  von  Schmidt  enthalten  in  der  Eile  irrtümlich  zusammen- 
gedruckte Satzteile  oder  Auslassungen,  z.  B.  S.  176/7  Anm.,  223  Anm.; 
der  Untertitel  „Gewalt  und  Recht"  ist  in  die  Überschrift  von  §  22  ge- 
raten, statt  in  die  von  §  23 ;  usw.) 

Dies  sind  alles  nur  vereinzelte  Proben  von  der  eiligen  Herstellung 
des  Schmidtschen  Werkes,  und  es  könnte  sich  gegen  solche  Ausstellungen 
leicht  der  Vorwurf  der  Kleinlichkeit  erheben.  Deshalb  ist  es  unver- 
meidlich, darauf  hinzuweisen,  daß  solche  äußere  Flüchtigkeit  der  cha- 
rakteristische Grundzug  des  gesamten  Buches  ist,  daß  es  in  den 
Literaturangaben  und  sonstigen  Hinweisen  durchweg  von  stören- 
den Fehlern  wimmelt  und  alles  Weiterforschen  nach  den  Weisungen 
des  Verfassers  zu  einem  äußerst  beschwerlichen  und  oft  Kombinations- 
gabe erfordernden  Unternehmen  wird,  da  man  auf  Schritt  und  Tritt 
irreführenden  Flüchtigkeiten  begegnet.  Wir  verzichten  jedoch  —  der 
Raumersparnis  wegen  —  darauf,  ein  ausgewähltes  Verzeichnis  von  über 
50  (!)  solcher  Fehler  (falsche  Jahreszahlen,  Seitenzahlen  und  Büchertitel) 
hier  folgen  zu  lassen  und  bemerken  nur,  daß  der  Verfasser  durch  zahl- 
reiche Versehen  sogar  das  Nachschlagen  innerhalb  seines  eigenen 
Buches  dem  Leser  nicht  leicht  gemacht  hat.  — 

All  diese  Beobachtungen  bestätigen  es,  wie  sehr  die  äußere  Form 
des  Buches  seinem  Inhalte  adäquat  ist. 

EMIL  LASK. 


Bigitizea  by"GöÖgle 


Fuchs:  Bauer,  Stephan,  Die  gewerbliche  Nachtarbeit  der  Frauen. 


Die  gewerbliche  Nachtarbeit  der  Frauen.  Berichte  über  ihren  Umfang 
und  ihre  gesetzliche  Regelung,  eingeleitet  und  herausgegeben 
von  Prof.  Dr.  Stephan  Bauer;  Verlag  von  Gustav  Fischer, 
Jena-  1903. 

Durch  die  konstituierende  Versammlung  der  internationalen  Ver- 
einigung für  gesetzlichen  Arbeiterschutz,  welche  in  Basel  am  27/28.  Sep- 
tember iooi  tagte,  erhielt  das  Bureau  der  Vereinigung  u.  a.  den  Auf- 
trag, „vergleichende  Untersuchungen  der  bestehenden  Nachtarbeit  der 
Frauen  und  ihrer  Wirkungen  in  der  Industrie  der  verschiedenen  Länder, 
sowie  der  Wirkungen,  welche  die  Aufhebung  der  Nachtarbeit  in  den 
Staaten  gehabt  hat,  in  denen  sie  nicht  mehr  besteht,  anzustellen."  Es 
sollte  das  Material  beschafft  werden,  auf  Grund  dessen  praktische  Schritte 
zu  möglichster  Unterdrückung  der  gewerblichen  Frauen nachtarbeit  unter- 
nommen werden  könnten.  Trotz  aller  Schwierigkeiten  dieses  Problems 
hat  die  Vereinigung  sich  mit  Recht  desselben  zuerst  angenommen;  ist 
doch  die  Überzeugung  heute  fast  allgemein,  daß  der  arbeitenden  Frau 
als  Gattin  und  Mutter  ein  besonderer  Schutz  gebühre;  fast  alle  In- 
dustriestaaten haben  dem  Rechnung  getragen.  Die  Vereinigung  durfte 
daher  gerade  in  dieser  Frage  nicht  allein  in  der  öffentlichen  Meinung, 
sondern,  was  nicht  minder  wichtig  ist,  bei  den  Regierungen  Unter- 
stützung und  Verständnis  erwarten. 

Das  Internationale  Arbeitsamt  in  Basel  hat  in  den  Jahren  1902  und 
1903  mit  Hilfe  der  Sektionen  für  alle  in  Betracht  kommenden  Industrie- 
staaten Berichte  gesammelt,  welche  teilweise  schon  den  Verhandlungen 
des  Komitees  der  Vereinigung  zu  Köln  am  26  27.  September  1902  und 
vervollständigt  jenen  der  vom  Komitee  eingesetzten  Spezialkommission, 
welche  vom  9.,  10.  und  11.  September  1903  zu  Basel  beriet,  als  Grund- 
lage dienten.  Das  Komitee  in  Köln  schöpfte  aus  den  Berichten  die 
Überzeugung,  daß  das  grundsätzliche  Verbot  der  Nachtarbeit  der  Frauen 
in  allen  industriell  entwickelten  Staaten  gerechtfertigt  und  durchführbar 
sei;  die  Spezialkommission  in  Basel  bekräftigte  auf  Grund  des  vervoll- 
ständigten Materials  die  gezogene  Schlußfolgerung  und  erklärte  die 
Forderung  einer  12  stündigen  zusammenhängenden  Nachtruhe  für  ge- 
rechtfertigt und  nach  dem  Stand  der  technisch-wirtschaftlichen  Entwick- 
lung für  alsbald  durchführbar.  Ausnahmen  von  dem  Verbote  der  Frauen- 
nachtarbeit erschienen  gerechtfertigt  bei  drohender  oder  bereits  ein- 
getretener Betriebsgefahr,  bei  der  Verarbeitung  von  Rohmaterialien, 
welche  einem  raschen  Verderben  ausgesetzt  sind  (Fischkonservicrung  und 
Obstverarbeitung),  endlich  für  Saisonindustrien  während  einer  Übergangs- 
zeit, derart  daß  die  ununterbrochene  Arbeitsruhe  auf  10  Stunden  be- 


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48o 


Literatur. 


schränkt  werden  kann. 1 )  Selbst  die  fortgeschrittensten  Gesetzgebungen 
bleiben  hinter  diesen  Postulaten  weit  zurück.  Diese  Tatsache  verleiht 
der  Untersuchung  eine  überaus  wichtige  Bedeutung  für  die  Fortbildung 
des  Arbeiterschutzes.  Für  Deutschland  haben  die  Berichte  im  gegen- 
wärtigen Augenblicke,  von  dem  wir  eine  gründliche  Revision  der  Ar- 
beiterinnenschutzbestimmungen erhoffen,  besonderes  Interesse.  Man  muß 
wünschen,  daß  die  maßgebenden  Faktoren  aus  den  Erfahrungen  in 
anderen  Ländern  die  richtigen  Schlüsse  ziehen. 

Für  Deutschland  lagen  zwei  Berichte  vor.  Fabrikinspektor  Dr.  Fuchs 
behandelt  objektiv  den  bestehenden  gesetzlichen  Zustand,  die  Handhabung 
der  Bestimmungen  unter  leichter  Kritik  der  Ausnahmen  und  schließt 
mit  Hervorhebung  der  durchaus  günstigen  Erfahrungen  des  bestehenden 
Nachtarbeitsverbotes.  Dr.  Hirsch  untersucht  die  Frage  von  dem  Stand- 
punkt der  notwendigen  Reformen;  er  erörtert  deshalb  zuerst  die  be- 
kannten gesundheitlichen  und  sittlichen  Nachteile  und  die  ökonomische 
Minderwertigkeit  der  Frauennachtarbeit.  Er  verlangt  die  radikale  Be- 
seitigung aller  Ausnahmen  von  dem  bestehenden  Verbote  und  will  selbst 
nicht  einmal  für  Unglücksfälle  den  Arbeiterinnen  Nachtarbeit  gestatten. 
Mit  guten  Gründen  bekämpft  er  die  Ausnahmen,  welche  auf  Grund  des 
§  138  a  G.O.  bei  „außergewöhnlicher  Häufung  der  Arbeit"  in  so  weitem 
Umfang  gegeben  werden.  Er  begründet  die  dringende  Notwendigkeit, 
das  Nachtarbeitsverbot  auf  die  bisher  fast  ganz  ungeschützte  Kategorie 
der  Arbeiterinnen  in  der  Bekleidungs-  und  Reinigungsindustrie  auszu- 
dehnen und  lenkt  die  Aufmerkasmkeit  auf  die  Schäden  in  der  Haus- 
industrie. Der  Nachweis,  daß  es  dringend  not  tue,  die  verbreitete 
Frauennachtarbeit  in  den  zahlreichen  kleinen  Betrieben  der  genannten 
Industrien  zu  verbieten  und  gleichzeitig  die  Hausindustrie  gesetzlich  zu 
regeln,  ist  der  wesentliche  Inhalt  des  von  Bse  v.  Arlt  erstatteten  Berichtes 
für  Österreich.  Die  Darstellung  bietet  einen  wenig  erfreulichen  Einblick 
in  die  wirtschaftlichen  und  sozialen  Verhältnisse  der  Hauptarbeitsberufe 
der  Frauen,  vor  allem  in  der  Großstadt  Wien.  Einer  der  vollständigsten 
Berichte  ist  derjenige  des  belgischen  Komitees  zur  Förderung  der  Ar- 
beiterschutzgesetzgebung  von  Louis  Varlez  in  Gent  bearbeitet  Mit  auf- 
fallender Schärfe  geißelt  er  die  merkwürdige  belgische  Gesetzgebung, 
welche  gerade  den  Müttern  den  Schutz  versagt,  den  sie  den  Arbeiterinnen 
unter  2 1  Jahren  gewährt.  Sie  treibt  dadurch  die  Mütter  in  um  so  größerer 
Zahl  zur  Nachtarbeit,  welche  in  Belgien  besonders  in  der  Wollindustrie 
noch  in  großem  Umfang  besteht.  Eine  schwere  Anklage  erhebt  Varlez 
gegen  die  Aufsichtsbehörden,  welche  die  zahlreichen  Gesetzesverletzungen 
in  bewußter  Weise  geschehen  lassen.  Das  belgische  Arbeitsamt  sucht 
durch  eine  längere  Erklärung  einige  Beschuldigungen  zurückzuweisen, 


')  Vgl.  Soziale  Praxis,  Jahrg.  VII,  Nr.  52  vom  24.  Sept.  1903.   Die  Verhand- 
lungen der  ständigen  Kommission  der  I.  V.  f.  g.  ArbeiterschuU. 


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Fuchs:  Bauer,  Stephan,  Die  gewerbliche  Nachtarbeit  der  Frauen.       4g t 


ohne  daß  es  gelingt  den  schlechten  Eindruck,  den  man  von  der  belgi- 
schen Gesetzgebung  und  ihrer  Ausführung  erhalten  hat,  ganz  zu  ver- 
wischen.   Im  Anschluß  daran  gibt  Prof.  Ernst  Dubois  einen  sehr  sach- 
lichen Bericht  über  die  belgischen  Verhältnisse  unter  eingehender  Be- 
rücksichtigung der  Schwierigkeiten,  welchen  die  strenge  Durchführung 
der  Gesetzgebung  und  deren  Ausbau  in  dem  kleinen,  auf  Export  ange- 
wiesenen Industriestaat  begegne;  dies  gilt  vorzugsweise  hinsichtlich  der 
Wollkämmerei,  Kammgarn  und  Streichgarnspinnerei  von  Verviers,  deren 
mißliche  Lage  von  Robert  Centner  und  Prof.  Ernst  Mahaim  in  beson- 
deren Beilagen  geschildert  wird.    Wir  sehen  hier  die  alten  Argumente 
der  rückständigen  Unternehmer  Wiederaufleben:  die  Frauennachtarbeit 
bewahrt  die  Arbeiterinnen  vor  der  Sünde;  sie  ist  zwar  nicht  als  hygie- 
nisches Mittel  zu  empfehlen,  aber  doch  auch  nicht  der  Gesundheit  ge- 
fährlich; denn  man  kann  am  Tage  ebensogut  schlafen  wie  in  der  Nacht. 
Diskutabler  ist  der  Hinweis  der  belgischen  Fabrikanten  auf  die  hohen 
Zölle  einzelner  Staaten,  welche  zu  äußerster  Ausbeutung  der  Arbeitskraft 
zwingen  um  konkurrenzfähig  zu  bleiben.    Hier  liegt  vielleicht  eine  der 
größten  Schwierigkeiten  für  den  Fortschritt  der  Sozialreform  gerade  für 
die  kleinen  Exportstaaten.  Man  wird  schwerlich  ein  Land  zu  einem  Ver- 
such bewegen  können,  der  mit  großer  Wahrscheinlichkeit  eine  große  In- 
dustrie vernichtet,  solange  seine  Nachbarn  durch  hohe  Zölle  seine  Er- 
zeugnisse abhalten.   Die  Vorstellung  von  den  Pflichten  der  Gesetzgebung 
gegen  die  Gattin  und  Mutter,  das  Hervorkehren  der  ethischen  Seite  des 
Gesetzgebungsproblems,  oder  die  einfache  Ablehnung  einer  Verbindung 
des  zollpolitischen  Gesichtspunktes  mit  dem  des  Arbeiterinnenschutzes 
wird  niemals  vermögen  den  Selbsterhaltungstrieb  zurückzudrängen.  So 
klein  auch  die  absoluten  Zahlen  der  nachtarbeitenden  Frauen  sind,  um 
die  es  sich  in  Belgien  handelt,  die  verhältnismäßig  umfangreichen  Be- 
richte, welche  in  keineswegs  angemessenem  Verhältnis  zu  den  gesetz- 
geberischen Fortschritten  des  Landes  stehen,  sind  für  die  Arbeiterschutz- 
bestrebungen auf  internationalem  Wege  unter  die  lehrreichsten  zu  rechnen. 
Sie  haben  dementsprechend  auch  bei  den  mündlichen  Verhandlungen 
der  oben  genannten  Kommission  eine  besondere  Beachtung  gefunden 
und  zu  einer  temperamentvoll  geführten  Debatte  Veranlassung  gegeben. 
Eine  Lösung   hat   dabei  die  angedeutete  Frage  nicht  erfahren.  Die 
Schilderung  der  Arbeiterinnenverhältnisse  in  der  Kleinindustrie  und  Heim- 
arbeit ist  in  anschaulicher  Weise  durch  Fräulein  Gatti  de  Gamond  erfolgt. 
Lediglich  den  Umfang  der  Frauenarbeit  und  den  bestehenden  gesetz- 
lichen  Stand   schildern   die   Berichte   der   Fabrik  inspektorin  Annette 
Vedel  für  Dänemark  und  des  Statistikers  Adna  F.  Weber  für  die  Ver- 
einigten Staaten,  wo  in  den  einzelnen  Staaten  außerordentliche  Ver- 
schiedenheiten bestehen.    Ein  Vorrecht  auf  Beachtung  besitzt  der  Be- 
richt der  französischen  Sektion,  bearbeitet  von  Prof.  P.  Pic.    Er  sucht 
die  Frage  nach  den  wünschenswerten  und  möglichen  Reformen  zu  lösen. 

Archiv  für  So/ialwissenichaft  u.  So*ialpolitik.  I.    (A.  f.  so*.  G.  u.  St.  XIX/>  2.  3» 


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482 


Literatur. 


Aufgebaut  sind  die  Schlüsse  auf  gründlichen  Voruntersuchungen  und 
ernsten  Beratungen  innerhalb  der  Sektion.  Zu  den  fuhrenden  Männern 
der  französischen  Sektion  gehören  bekanntlich  die  hervorragendsten  So- 
zialpolitiker  der  verschiedensten  Parteien,  Theoretiker  und  Praktiker. 
Deshalb  sind  die  Resultate  der  Untersuchung  beachtenswert;  sie  haben 
auch  einen  wesentlichen  Einfluß  auf  die  Beschlüsse  der  Kommission  un- 
verkennbar ausgeübt.  Frankreich  wird  vom  i.  April  1904  an  den 
Zehnstundentag  erhalten;  es  bestehen  aber  noch  Ausnahmsbestimmungen, 
welche  einer  ganzen  Reihe  von  sog.  Saisonindustrien,  deren  Liste  vom 
Senat  immer  mehr  verlängert  worden  ist,  Überarbeit  bis  zu  12  Stunden 
täglich  an  60  Tagen  im  Jahre  gestattet.  Diese  Ausnahmen  sind  die 
schädlichsten ;  sie  ergeben  sich  aus  der  Nachsicht  der  Gesetzgeber  gegen 
die  schlechten  Gewohnheiten  der  Konsumenten ;  sie  können  von  dem 
Augenblicke  an  verschwinden,  wo  man  die  Heimarbeit  gesetzgeberisch 
erfaßt  und  dadurch  verhindert,  daß  ein  Abströmen  der  Werkstätten- 
arbeitcrinnen  an  die  Hausindustrie  erfolgt.  Von  den  sämtlichen  In- 
dustrien ist  nur  die  Fischkonservierung  zur  dauernden  Ausnahme  be- 
rechtigt. In  Fällen  von  Betriebsstörungen  sollen  die  Gesetze  von  den 
Behörden  zeitweilig  suspendiert  werden  dürfen.  Man  hat  den  Ein- 
druck, welcher  bei  Kenntnis  der  in  der  Sozialpolitik  führenden  Persön- 
lichkeiten, die  ihre  Auflassung  aus  tiefinnerster  Überzeugung  vertreten, 
noch  verstärkt  wird,  daß  Frankreich  bald  an  die  Spitze  der  Arbeiter- 
schutzgesetzgebung  getreten  sein  wird;  es  hat  jedenfalls  in  den  letzten 
Jahren  durch  Millerands  Verdienst  ein  stark  beschleunigtes  Tempo  ein- 
geschlagen. England,  der  alte  Industriestaat  mit  seinem  konsolidierten 
und  zurzeit  fortgeschrittensten  Arbeiterinnenschutz  ist  von  Interesse  im 
Hinblick  auf  die  günstigen  Erfahrungen,  welche  von  der  Chefinspektorin 
Miß  Adelaide  Anderson  und  von  George  H.  Wood  übereinstimmend 
mitgeteilt  werden.  Erstere  sagt  kurz:  „Augenscheinlich  sind  sowohl 
ökonomische  als  auch  soziale  und  moralische  Fortschritte  trotz  oder 
infolge  des  Verbotes  der  Frauennachtarbeit  (in  Verbindung  mit  einer  an- 
gemessenen Beschränkung  der  Tagesarbeit)  zu  verzeichnen".  Letzterer: 
„die  moderne  Industrie  gedieh  unter  den  Fabrikgesetzen,  und  ...  sie 
dienten  als  Ansporn  zur  Vervollkommnung  der  Maschinen-  und  Pro- 
duktionstechnik. Die  Verkürzung  des  Arbeitstages  hob  die  Leistungs- 
fähigkeit der  Arbeiter  ...  die  Ausfuhr  nahm  nicht  ab,  sondern  in  fast 
allen  Industrien  bedeutend  zu  .  .  .  die  Regelung  der  Industrie  war  eine 
Wohltat  für  das  ganze  Gemeinwesen."  Selbst  in  den  Wäschereien  wird 
die  demnächst  zu  erwartende  Beseitigung  der  Frauennachtarbeit  keinen 
Schwierigkeiten  begegnen;  nur  die  Fischpökelei  und  Obstkonservierung 
Englands  kann  die  Nachtarbeit  nicht  entbehren.  Über  die  Möglichkeit 
einer  Beseitigung  der  Überarbeit  in  dringenden  Fallen,  welche  in  Nicht- 
Textilfabriken  2  Stunden  täglich  an  höchstens  3  Wochentagen  und  in 
30  Fällen  innerhalb  12  Monaten  erlaubt  ist,  sprechen  sich  die  Berichte 


Fuchs:  Bauer,  Stephan,  Die  gewerbliche  Nachtarbeit  der  Frauen. 


leider  nicht  aus.  Sollte  nicht  gerade  darin  ein  Beweis  liegen  für  die 
Schwierigkeit,  der  französischen  Forderung  schon  jetzt  praktisch  zu  ent- 
sprechen? denn  in  England  ist  ja  die  Schutzgesetzgebung  schon  so- 
lange hoch  entwickelt,  ohne  daß  man  daran  gedacht  hätte,  diese  von 
Theoretikern  auch  in  Deutschland  viel  angefochtene  Ausnahme  ganz  zu 
beseitigen,  obwohl  in  England  das  Publikum  doch  wohl  weit  besser  er- 
zogen ist,  als  in  Deutschland  oder  Frankreich.  Der  sehr  objektiv  gehaltene 
Bericht  des  niederländischen  Arbeitsinspektors  G.  J.  van  Thiemen  be- 
spricht die  geltende  Gesetzgebung  ohne  kritische  Stellungnahme  und 
entkräftet  durch  ausführlichere  Schilderung  der  Wirkungen  des  Gesetzes 
und  der  Zustände  vor  dem  Nachtarbeitsverbot  die  zahlreichen  Scheingründe 
der  Gegner.  Sehr  wenig  erfreulich  ist  die  Darstellung  der  traurigen  Zu- 
stände in  der  industriellen  Bevölkerung  Rußlands  durch  Dr.  Blocher. 
Wenn  irgend  etwas  die  Notwendigkeit  des  Verbots  der  Frauennachtarbeit 
und  der  Reduktion  der  übermäßigen  Tagesarbeit  beweist,  so  ist  es  die 
Mortalität,  insonderheit  die  Kindersterblichkeit  in  den  Industriegegenden. 
In  Rußland  erheischt  das  Interesse  der  Textilfabrikanten  der  entwickelten 
Bezirke  des  Westens  und  Petersburgs  das  Verbot  der  Frauennachtarbeit; 
die  zentralrussische  Konkurrenz,  welche  ihre  Arbeitskraft  aus  den  be- 
völkerten Bauerndörfern  schöpfen  und  ausnutzen  kann,  hat  das  gegen- 
teilige Interesse.  Zwar  wurde  die  Nachtruhe  zwischen  9  Uhr  abends 
und  5  Uhr  morgens  endlich  gesetzlich  festgelegt,  jedoch  unter  derartigen 
Ausnahmebestimmungen,  daß  mit  Hilfe  des  sozialpolitisch  rückständigen 
Beamtentums  eine  Umgehung  sehr  leicht  ist;  der  Gouverneur  kann  „in 
beachtenswerten  Fällen"  die  Nachtarbeit  der  Frauen  unbeschränkt  zu- 
lassen. Eine  kurze  geschichtliche  Darstellung  der  Schutzbestimmungen 
und  eine  klare  Übersicht  über  den  neben  der  schweizerischen  Bundes- 
gesetzgebung hergehenden  kantonalen  Arbeiterinnenschutz  in  der  Schweiz 
gibt  der  leider  verstorbene  hervorragende  Fabrikinspektor  Dr.  F.  Schuler. 
Aus  den  Fortschritten,  welche  einzelne  Kantone,  unbekümmert  um  ihre 
nächsten  Kantonsnachbarn,  gemacht  haben,  darf  man  wohl  den  Schluß 
ziehen,  daß  die  Verbesserung  der  Schutzgesetzgebung  nicht  in  so  hohem 
Maße  von  dem  Stande  der  Gesetzgebung  anderer  Länder  abhängig  ist, 
wie  gemeinhin  und  zumeist  von  den  Industriellen  angenommen  wird. 
Es  wird  wenigstens  in  der  Schweiz  nicht  im  geringsten  Klage  darüber 
geführt,  daß  die  Industriellen  in  Kantonen  mit  strengerer  Gesetzgebung 
hieraus  Nachteile  erlitten  hätten.  In  besonderen  Berichten  behandeln 
Pfarrer  Eugster  die  Frauennachtarbeit  in  der  Stickereiindustrie  des  Kan- 
tons Appenzell  und  Außer-Rhoden  und  Gottlieb  Vogt  jene  in  der  Uhren- 
industrie des  Jura,  beide  unter  Berücksichtigung  der  Heimarbeit.  Die 
Ungarische  Sektion  legt  ein  kurzes  Referat  aus  der  Feder  des  Dr.  Andor 
von  Maday  über  die  Beschäftigung  der  Frauen  in  der  Industrie  vor. 
Das  Land  hat  bisher  nur  die  Nachtarbeit  jugendlicher  Arbeiterinnen 
untersagt;  große  Sympathie  scheint  eine  Fortführung  des  Schutzes  nicht 

3»* 


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4*4 


Literatur. 


zu  genießen,  selbst  nicht  bei  den  Sozialpolitikern,  die  noch  vom 
„Arbeitsrecht"  der  Frauen  sprechen  und  fürchten,  daß  das  Verbot  der 
Nachtarbeit  der  Frau  sie  ins  materielle  und  moralische  Verderben  stürze, 
es  sei  denn  daß  man  ihr  zuvor  neue  Erwerbsquellen  öffne;  nach  den  Er- 
fahrungen anderer  Staaten  sind  das  recht  überflüssige  Sorgen.  Bemerkens- 
wert ist  das  gründliche  Vorgehens  Italiens,  worüber  der  bekannte  Führer 
der  christlichen  Demokraten,  Prof.  Toniolo  berichtet;  mit  dem  Jahre 
1907  wird  die  Arbeit  aller  Arbeiterinnen  zwischen  8  Uhr  abends  und 
6  morgens  in  industriellen  Betrieben,  Steinbrüchen  und  Bergwerken 
radikal  verboten  sein;  die  gesamte  Übergangszeit  von  einem  unge- 
regelten Zustand  beträgt  nur  5  Jahre!  Ein  Bericht  des  Prof.  Matsuzaki 
in  Tokyo  zeigt  uns  die  rasche  Industrieentwicklung  Japans  mit  starker 
Frauenarbeit  in  den  Spinnereien,  welche  ununterbrochenen  Tag-  und  Nacht- 
betrieb haben;  dazu  treten  niedrige  Löhne,  schlechte  Unterkunft,  lange 
Bindung  der  Arbeiterinnen;  es  sind  Zustände,  wie  sie  anfangs  des 
19.  Jahrhunderts  in  England  herrschten.  In  internationalen  Verein- 
barungen wird  man  auf  Japans  Mitwirkung  rechnen  müssen;  ist  es  doch 
auch  derjenige  Staat,  der  die  Durchführung  des  Weißphosphorverbotes 
in  einzelnen  europäischen  Staaten,  welche  noch  eine  große  Zündholzausfuhr 
haben,  erschwert.  Der  Vollständigkeit  wegen  seien  noch  erwähnt  die 
kurzen  Mitteilungen  der  Commission  de  Reformas  Sociales  über  Spanien, 
des  Staatsrats  Dr.  Neumann  über  Luxemburg,  des  Dr.  Kiaer  über  Nor- 
wegen und  des  Departement  of  Labour  and  Industry  of  New  South  Wales. 

Die  sämtlichen  inhaltreichen  Berichte  sind  von  Prof.  Dr.  Bauer, 
dem  Direktor  des  Arbeitsamtes,  zu  einem  vorangestellten  Gesamtbericht 
verarbeitet,  welcher  einen  Überblick  über  die  äußerst  verschiedenartig 
gestalte  Gesetzgebung  gibt  und  in  seinem  Hauptteii  erörtert,  ob  und 
inwieweit  die  Ausnahmen  von  dem  Verbot  der  Nachtarbeit  beseitigt 
werden  können. 

Die  vorliegende  erste  Untersuchung  der  internationalen  Vereinigung 
enthält  zahlreiches  und  vortreffliches  Material  für  die  Fortführung  des 
Arbeiterinnenschutzes  in  allen  Industriestaaten.  Die  Zusammenstellung 
ist  für  den  praktischen  Sozialpolitiker  von  unschätzbarem  Wert.  Als 
erste  große  Arbeit  der  jungen  Vereinigung  darf  sie  als  gelungen  be- 
zeichnet werden.  Als  Mangel  empfindet  man  die  Ungleichartigkeit  der 
Behandlung  der  Frage  durch  die  einzelnen  Berichterstatter;  bezeichnend 
ist,  daß  nur  Herr  Varlez  sich  an  das  vom  Internationalen  Arbeitsamt 
ausgegebene  Fragenschema  gehalten  hat.  Die  Vergleichbarkeit  ist  da- 
durch erschwert,  wenn  nicht  unmöglich  gemacht.  Zu  seiner  Zusammen- 
fassung mußte  Prof.  Bauer  tatsächlich  noch  neues  Material  beschaffen, 
da  es  nicht  vollständig  in  den  Einzelberichten  enthalten  ist.  Das  lag 
vielleicht  teilweise  an  der  Fragestellung  des  Amtes,  welche  mit  der 
Mangelhaftigkeit  der  Gewerbestatistik  nicht  gerechnet  und  deshalb  zu 
viel  gefragt  hat,  noch  mehr  aber  wohl  an  der  unvollkommenen  Funktion 


_J)igiiiz£d  by  Google 


Fuchs:  Bauer,  Stephan,  Die  gewerbliche  Nachtarbeit  der  Frauen. 


des  Apparates  der  Vereinigung.  Die  Sektionen  und  das  Arbeitsamt 
machten  Erhebungen,  welche  nebeneinander  hergingen.  Jedenfalls 
müßte  über  die  Gesichtspunkte,  welche  alle  Einzelberichte  gleichmäßig 
zu  beachten  hätten,  zukünftig  erst  eine  Vereinbarung  getroffen  werden ; 
alsdann  sollten  die  Sektionen  die  Einzelarbeit  leisten,  so  daß  das  Amt  nur 
dort  unmittelbare  Erhebungen  anzustellen  hätte,  wo  sich  noch  keine 
Sektionen  gebildet  haben.  Die  Erhebung  ist  augenscheinlich  eingeleitet 
worden,  ohne  daß  man  sich  vorher  über  das  ungefähre  Ziel  geeinigt 
hatte.  In  einigen  Berichten  ist  der  Heimarbeit  —  und  das  mit  Recht  — 
kein  Raum  gewidmet.  Denn  von  einem  Verbot  der  Nachtarbeit  in  der 
Heimindustrie  kann  keine  Rede  sein.  Dennoch  hat  der  Fragebogen  des  Ar- 
beitsamtes sich  ausdrücklich  auch  auf  die  Heimarbeitsverhältnisse  bezogen. 
Die  Einleitung  einer  Enquete  über  die  gewerbliche  Heimarbeit  ist  eine 
besondere,  sehr  schwierige  Aufgabe  der  Zukunft.  So  dankenswert  auch 
die  Ausführungen  einzelner  Berichterstatter  hierüber  an  sich  sein  mögen, 
für  die  vorliegende  Krage  sind  sie  irrelevant  und  bilden  einen  unnützen 
Ballast.  Es  wäre  ferner  wünschenswert,  daß  vor  der  Erstattung  der  Be- 
richte durch  eine  Vorberatung  das  vorläufige  Ziel  der  Erhebung  auch 
nach  der  positiven  Seite  genauer  festgestellt  würde.  Man  kann  doch 
gewisse  Minimalforderungen  für  den  Arbeiterinnenschutz  z.  B.  zwölf- 
stündige  Nachtruhe  für  alle  gewerblich  außer  ihrem  Hause  beschäftigten 
Arbeiterinnen  a  priori  aufstellen  und  die  Berichterstatter  zur  Prüfung  der 
Verhältnisse  unter  diesem  Gesichtspunkte  auffordern ;  damit  bleiben  Nach- 
erhebungen erspart,  wie  sie  für  einzelne  Länder  gemacht  werden  mußten, 
weil  die  Berichterstatter  sich  auf  objektive  Darstellung  des  bestehenden 
Zustandes  beschränkt  hatten.  Sehr  bedauerlich  ist,  daß  die  Untersuchung 
außer  der  Erörterung  der  Nachtruhe  nicht  auch  zugleich  sich  mit  der 
täglichen  Maximalarbeitszeit  beschäftigt  hat;  der  innige  Zusammenhang 
beider  und  die  Tatsache,  daß  fast  alle  Gesetzgebungen  die  Notwendig- 
keit eines  Maxiraalarbeitstages  für  Arbeiterinnen  anerkannt  haben,  hätte 
der  Vereinigung  Anlaß  geben  können,  das  Problem  nicht  auf  die  Nacht- 
ruhe zu  beschränken.  Der  Maximalarbeitstag  der  arbeitenden  Frau  ist 
für  sie  in  der  Regel  auch  viel  wichtiger  als  die  Festlegung  einer  Nacht- 
ruhezeit innerhalb  bestimmter  Stunden.  Ist  letztere  die  Zeit  zwischen 
8  Uhr  abends  und  6  Uhr  morgens,  so  kann  dazwischen  eine  dreizehn- 
stündige tägliche  Arbeitszeit  liegen ;  bei  zwölfstündiger  zusammenhängender 
Nachtruhe  ist  noch  immer  eine  elfstündige  Tagesarbeit  möglich.  Der 
Wert  einer  internationalen  Vereinbarung  über  eine  zehn-  oder  selbst 
zwölfstündige  Nachtruhe  würde  ohne  Vereinbarung  über  die  Dauer  der 
Tagesarbeit  sehr  gering  sein,  sowohl  für  die  Arbeiterinnen,  welche  nach  wie 
vor  zu  lange  beschäftigt  werden  könnten,  als  auch  für  die  Industrie  fort- 
geschrittener Länder  mit  kurzem  Arbeitstag,  welche  gegenüber  ihrer  Kon- 
kurrenz mit  langem  Arbeitstag  auch  fernerhin  schutzlos  bliebe.  Bei  der 
Beurteilung  der  Untersuchung  darf  allerdings  nicht  vergessen  werden, 


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4S6 


Literatur. 


daß  sie  von  einer  internationalen  Vereinigung  ausgeht ;  die  Grund- 
anschauungen der  einzelnen  Elemente  sind  oft  sehr  heterogen,  eine  Ver- 
ständigung,  welche  meist  nur  auf  schriftlichem  Wege  erfolgen  kann,  ist 
schwer  zu  erzielen. 

Fragt  man  nun,  was  denn  von  den  Kulturstaaten  zum  Schutz  der 
gewerblich   tätigen  Arbeiterinnen   gegen  Nachtarbeit  schon  geschehen 
ist,   so  sind  die  Berichte  geradezu  beschämend  für  das  soziale  Ge- 
wissen.   Prof.  Dr.  Bauer  führt  allerdings  für  einzelne  Staaten  recht  er- 
hebliche Zahlen   als  „geschützte  Arbeiterinnen"  an.    Es  sind  zumeist 
solche  in  den  Großbetrieben.    Diese  Zahlen  haben  aber  praktisch  nicht 
entfernt  die  Bedeutung  für  das  Problem  der  Frauen nachtarbeit,  wie  es 
bei  oberflächlicher  Betrachtung  erscheinen  könnte.    Die  Nachtarbeit  der 
Frauen  hatte  in  den  großen  Kulturstaaten,  Deutschland,  Frankreich, 
England,  Vereinigte  Staaten  von  Amerika,  in  den  Fabriken  auch  vor 
dem  Eingreifen  der  Gesetzgebung  keine  bedeutende  Ausdehnung;  in 
Deutschland  zählte  man  z.B.  im  Jahre  1884  nur  13000  regelmäßig  in 
Nachtschichten  beschäftigte  Fabrikarbeiterinnen.  Im  übrigen  handelte  es 
sich  um  Verlängerung  der  Tagesarbeit  durch  Überstunden  in  die  Nacht 
hinein.    Diese  werden  aber  dank  §  138a  G.O.  noch  immer  in  so  reich- 
lichem Maße  erlaubt,  daß  hinsichtlich  der  Überarbeit  ein  allzugroßer 
Fortschritt  gegen  früher  nicht  eingetreten  sein  dürfte,  wenigstens  nicht 
als  eine  Wirkung  des  Gesetzes  und  seiner  Durchführung.    Es  will  dem- 
nach nicht  viel  besagen,  wenn  789132  Arbeiterinnen  in  Deutschland 
als  „geschützt"   und    nur   203170   als   „ungeschützt"  aufgeführt  sind. 
Klugerweise  gibt  der  Bericht  des  Arbeitsamtes  diese  Zahlen  —  und 
dies  gilt  vorzugsweise  von  den  „ungeschützten"  —  mit  „aller  Reserve" 
wieder.    Denn  gerade  die  letzteren  entziehen  sich  der  Feststellung.  Wo 
aber  die  Frauennachtarbeit  von  je  am  meisten  in  Blüte  stand  und  wo 
sie  unter  den  ungünstigsten  Verhältnissen  vorkam  und  noch  immer  be- 
steht, da  haben  die  meisten  Gesetzgebungen  nicht  daran  gerührt,  das 
sind  die  umfangreichen  Gewerbe  der  Reinigungs-  und  der  Bekleidungs- 
industrie mit  der  großen  Zahl  kleiner  Werkstätten,  gar  nicht  zu  sprechen 
von  der  Heimarbeit.    Die  bisherige  Gesetzgebung  muß  sich  mit  dem 
Erfolg  bescheiden,  in  der  Großindustrie  das  weitere  Umsichgreifen  der 
Frauennachtarbeit  verhindert  zu   haben;   sie  darf  sich  aber  ja  nicht 
blenden  lassen  durch  die  Zahlen  der  sog.  geschützten  Arbeiterinnen, 
sondern  muß  es  als  ihre  Zukunftsaufgabe  betrachten,  nun  auch  an  die 
schwierigere  Arbeit  der  Beseitigung  alteingewurzelter  Gewohnheiten  im 
Kleingewerbe  heranzutreten.  Das  gilt  vor  allem  für  Deutschland,  welches 
auf  seinen  Arbeiterinnenschutz  nicht  besonders  stolz  sein  kann.  Nicht 
allein,  daß  es  hinter  England  zurückbleibt,  selbst  von  Staaten,  die  noch 
vor   wenig  Jahrzehnten  nicht  einmal  zu  den  Kulturstaaten  gerechnet 
werden    konnten,   wird  seine   Gesetzgebung  überflügelt:    von  Italien, 
welches  keinen  Unterschied  zwischen  Groß-   und  Kleinbetrieb  macht, 


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Fuchs:  Bauer,  Stephan,  Die  gewerbliche  Nachtarbeit  der  Frauen. 


von  Neuseeland  mit  seinem  8*  4  stündigen  Maximalarbeitstag,  von  einigen 
Staaten  der  Union  mit  ihrem  zehnstündigen  Arbeitstag  ohne  Unterschied 
der  Betriebsgröße;  es  ist  beschämend  bekennen  zu  müssen,  daß  in 
Deutschland  die  große  Masse  der  Industriellen  gegen  die  gesetzliche 
Festlegung  der  zehnstündigen  Arbeitszeit  der  Arbeiterinnen  sich  stemmt, 
während   der  italienische   Berichterstatter  erklären  kann:   „Es  ist  für 
Italien  charakteristisch  und  ehrenvoll  zugleich,  daß  die  Gesetzgebung  für 
unbedingten  Ausschluß  der  Frauennachtarbeit  von  den  Industriellen 
selbst,  durch  das  Votum  des  Handelsrates  (1897)  befür- 
wortet wurde."  Eine  starke  Abschwächung  erfährt  das  Verbot  der  Frauen- 
nachtarbeit in  den  weitaus  meisten  Staaten  durch  zahllose  Ausnahmen,  deren 
Unbegründetheit  durch  die  Abwesenheit  einer  im  Lande  A  vorhandenen  Aus- 
nahme im  Lande  B  ain  besten  erwiesen  ist.  In  Nachtschichten  werden  Frauen 
in  ununterbrochen  arbeitenden  Betrieben ,  oder  Hochöfen ,  Glasfabriken, 
Walz-  und  Hammerwerken,  Zuckerfabriken  in  einzelnen  Staaten  beschäf- 
tigt,  also  unter   den  ungünstigsten  lokalen  Verhältnissen;   in  einigen 
Staaten  hält  man  Frauen  zum  Herrichten  von  Grubenlampen  für  unent- 
behrlich; bei  uns  kennt  man  diese  Nachtbeschäftigung  nicht;  der  Be- 
seitigung der  Ausnahme  steht  nichts  weiter  im  Wege  als  die  Scheu  sich 
eine  große  Anzahl  von  Lampen  anzuschaffen,  damit  die  Arbeit  am  Tage 
verrichtet  werden  kann.    Deutschland  hat  hier  bereits  gut  aufgeräumt. 
Außer  den  Ausnahmebestimmungen  für  den  Bezirk  Oppeln  bestehen 
zurzeit  keine  mehr  für  ununterbrochene  Betriebe.   Zurückgeblieben  sind 
mit  gutem  Grunde  nur  noch  die  Arbeitszeitverlängerungen  für  die  Ver- 
arbeitung leicht  verderblicher  Rohstoffe:  Milchsterilisierung  und  Kon- 
servenfabrikation.   Die  umfassendste,  in  allen  Gesetzgebungen  außer  in 
derjenigen  der  Schweiz  enthaltene  Ausnahme  betrifft  die  Gewährung  von 
Überarbeit  über  die  normale  Dauer  der  Tagesarbeit  hinaus  für  eine  ge- 
wisse Anzahl  von  Tagen  (30 — 60  im  Jahr)  und  mit  gewöhnlich  2  Über- 
stunden für   den   Fall  außergewöhnlicher   Häufung  der  Arbeit.  Mit 
vollem  Recht  wird  diese  Bestimmung  scharf  bekämpft;  die  Überarbeit 
nach  einem  zehn-  oder  elfstündigen  Arbeitstage  überanstrengt  die  Ar- 
beiterinnen zu  sehr,  nimmt  ihnen  die  Möglichkeit  zur  Besorgung  des 
Hauswesens;  sie  führt  zu  unerlaubter  Ausdehnung  der  Arbeitszeit;  sie 
wird  den  unbescheidenen  Industriellen  gewährt  meist  ohne  Prüfung  — 
denn  eine  solche  ist  selten  möglich  — ,  der  loyale  Fabrikant  hält  sich 
an  die  gesetzliche  Regel;  dadurch  erleidet  er  einen  Nachteil  gegenüber 
seinem  Konkurrenten;  er  kann  sich  und  seine  Arbeiter  gegen  unbillige  An- 
sprüche der  Konsumenten  durch  Hinweis  auf  die  Unbeugsamkeit  des  Ge- 
setzes nicht  schlitzen ;  es  bürgern  sich  im  Geschäftsleben  immer  üblere  Ge- 
wohnheiten in  bezug  auf  Kürze  der  Lieferfristen  ein :  Arbeitsüberhäufung 
wechselt  ab  mit  Geschäftsstillstand.   Die  Arbeiter  haben  naturgemäß  am 
meisten  darunter  zu  leiden.   Das  zeigen  uns  die  Berichte  an  zahlreichen 
Stellen.     Die  Abschaffung  der   Überzeitbewilligungen   ist  somit  eine 


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488 


Literatur. 


durchaus  gerechtfertigte  Forderung.    Die  Schweiz  hat  sie  erfüllt  und 
zwar  sofort  bei  der  Schaffung  ihres  Fabrikgesetzes  i.  J.  1877.    Der  Er- 
folg des  radikalen  Vorgehens  scheint  jedoch  kein  vollkommener  zu  sein  ; 
sagt  doch  der  verstorbene  Fabrikinspektor  Dr.  Schuler  im  Hinblick  auf 
zahlreiche  entdeckte  und  unentdeckte  Gesetzesübertretungen  in  seinem 
Berichte:  „Wir  können  uns  daher  nicht  rühmen,  daß  in  der  Schweiz, 
die  Nachtarbeit  der  Frauen  auch  nur  in  den  Fabriken  gänzlich  ver- 
schwunden sei;  aber  sie  kommt  doch  —  mit  äußerst  seltenen  Aus- 
nahmen —  nur  in  den  ersten  Nachtstunden,  als  ungesetzliche  Verlänge- 
rung des  Normalarbeitstages  vor."    Die  Konsumenten  müssen  erzogen 
werden;  dieser  Prozeß  kann  nur  allmählich  erfolgen;  er  wird  gefördert 
durch  eine  zunehmend  engere  Begrenzung  der  Ausnahmen.    Auf  diesen 
Standpunkt  hat  sich  nach  langen  Debatten,  in  denen  die  Vertreter  der 
Schweiz  und  Frankreichs  die  weitestgehenden  Forderungen  aufstellten,  die 
permanente  Kommission  der  internationalen  Vereinigung  in  Basel  ge- 
einigt.   Nachdem  in  Deutschland  seit  1891  keine  Änderung  eingetreten, 
dürfte  es  an  der  Zeit  sein  zu  prüfen,  ob  nicht  an  Stelle  von  40  Über- 
arbeitstagen 30  Tage  zu  je  2  Überstunden  gesetzt  werden  können  (Eng- 
land).   Eine  weitere  Abschwächung  erfahren  die  bestehenden  Frauen- 
nachtarbeitsverbote durch  eine  weitgehende  Nachsicht  in  der  Ausführung, 
durch   welche  in  einzelnen  Ländern  z.  B.  Belgien  und  Rußland  die 
Wirkung  der  Gesetzesbestimmungen  fast  annulliert  zu  werden  scheint. 
Je  nach  der  Organisation  der  Aufsichtsbehörden  und  der  Einsicht  der 
Gerichte  wirken  die  Gesetze  sehr  verschieden.    Über  mangelndes  Ver- 
ständnis der  Gerichte  wird  fast  allgemein  Klage  geführt;  in  Deutschland 
ist  es  in  den  letzten  Jahren  darin  etwas  besser  geworden.    In  Anbe- 
tracht dieser  Unterschiede  haben  die  Vertreter  der  Niederlande  bei  den 
Basler  Beratungen  die  Frage  aufgeworfen :  „welche  Garantien  für  die 
gleichartige  Durchführung  der  getroffenen  internationalen  Vereinbarungen 
können  gefordert  werden?"  Gleichartige  gesetzliche  Bestimmungen  in 
allen  Staaten  verbürgen  noch  nicht  gleichartige  strenge  Durchführung. 
In  Deutschland  ist  man  gewöhnt  alle  erlassenen  Gesetze  in  vollem  Um- 
fang durchzuführen,  selbst  wenn  es  sich  um  längst  veraltete  Vereins- 
gesetze handelt  und  die  Staatsgewalt  sich  bewußt  ist  sich  lächerlich  zu 
machen.     Für   die  Durchführung  von   Arbeiterschutzbestimmungen  ist 
aber  nicht  nur  die  sozialpolitische  Auffassung  und  das  Pflichtbewußtsein 
der  Beamten  sondern  wesentlich  die  Mitwirkung  der  Arbeiterschaft  maß- 
gebend. In  industriellen  Mittelpunkten  mit  gut  organisierter  Arbeiterschaft 
sind  vermöge  der  Überwachungstätigkeit  der  Organisationen  offene  Über- 
tretungen fast  nicht  möglich;  in  rückständigen  Bezirken  und  in  Ländern 
mit  gleichgültiger,  niedrigkultivierter  Arbeiterschaft  entbehren  die  Be- 
hörden dieser  wichtigen  Mithilfe;    das  Gesetz  bleibt  fast  unwirksam. 
Schon  hieraus  erhellt,  daß  selbst,  wenn  es  gewisse  Garantien  für  die 
gleichartige  Durchführung  der  internationalen  Vereinbarungen  gäbe  — 


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Fuchs:  Bauer,  Stephan,  Die  gewerbliche  Nachtarbeit  der  Frauen. 


vielleicht  denkt  man  an  ein  internationales  Aufsichtsamt  —  diese  in 
keinem  Falle  die  erheblichen  nationalen  Unterschiede  im  Kulturnivcau 
der  Arbeiter,  aber  auch  nicht  die  Unterschiede  der  Qualität  der  lokalen 
Ausführungsbehörden  auszugleichen  vermöchten.  Auch  diese  für  den 
Erfolg  der  Bestrebungen  der  internationalen  Vereinigung  für  gesetzlichen 
Arbeiterschutz  bedeutungsvolle  Frage  bleibt  bis  auf  weiteres  offen. 
Trotz  mancher  vorstehend  geäußerter  Bedenken  besteht  die  Möglich- 
keit, durch  Vereinbarungen  der  hauptsächlichsten  Kulturstaaten  nicht 
nur  eine  gewisse  Gleichartigkeit  in  die  Gesetzgebung  zum  Schutze  der 
Frauenarbeit  zu  bringen  sondern  auch  die  rückständigeren  Staaten  zu 
einem  Nachrücken  zu  veranlassen.  Setzt  man  auch  keine  großen  Hoff- 
nungen auf  die  Schnelligkeit  und  Intensität  des  Fortschrittes,  so  wird 
durch  die  Arbeiten  der  Vereinigung  doch  den  Staaten  Anlaß  zu 
weiteren  Verbesserungen  gegeben,  welche  auf  dem  Boden  der  natio- 
nalen Sozialreform  sehr  wohl  erreicht  werden  können.  Sie  wird  für 
die  nächste  Zeit  noch  immer  das  Hauptarbeitsgebiet  der  Sozialpolitiker 
bleiben ;  dies  liegt  aber  ganz  im  Sinne  der  internationalen  Vereinigung 
für  gesetzlichen  Arbeiterschutz  und  der  rührigen  deutschen  Gesellschaft 
für  soziale  Reform  unter  Führung  ihres  Präsidenten,  Staatsminister  Frei- 
herr von  Berlepsch.  Die  Untersuchungen  über  die  Frauennachtarbeit 
sind  von  dem  Gesichtspunkte  der  kraftvollen  Weiterbildung  des  deutschen 
nationalen  Arbeiterinnenschutzes  von  hervorragender  Bedeutung,  wie  sich 
hoffentlich  auch  bald  durch  eine  entsprechende  Gesetzesvorlage  der 
deutschen  Regierung  erweisen  wird. 

Karlsruhe.  FUCHS. 


Vog  e  Ist  ein ,  Theodor ,  Dr.,  Die  Industrie  der  Rheinprovinz  1888—1900. 
Ein  Beitrag  zur  Frage  der  Handelspolitik  und  der  Kartelle 
mit  einer  Vorbemerkung  von  Walther  Lötz.  Stuttgart  und 
Berlin  1902.  Verlag  J.  G.  Cottasche  Buchhandlung  Nach- 
folger.   112  S.  in  8°. 

Pieper,  Lorenz,  Dr.,  Die  Lage  der  Bergarbeiter  im  Ruhrrevier.  Stuttg. 
und  Berlin  1903.  Verlag  J.  G.  Cottasche  Buchhandlung 
Nachfolger.    266  S.  in  8  °. 

Gottheiner,  Elisabeth,  Dr.,  Studien  über  die  Wuppertaler  Textil- 
industrie und  ihre  Arbeiter  in  den  letzten  20  Jahren.  Verlag 
von  Duncker  und  Humblot.    Leipzig  1903.    96  S.  in  8°. 

Die  in  den  letzten  Jahren  in  Deutschland  zum  Vorschein  gekommene 
Tendenz,  der  Handelspolitik  eine  andere  Richtung  zu  geben,  rief  eine 
reichhaltige  Literatur  hervor,  die  sich  teilweise  mit  den  Wirkungen  der 


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49° 


Literatur. 


vom  Grafen  Caprivi  abgeschlossenen  Handelsverträge  auf  die  allgemeine 
Lage  der  Industrie,  des  Handels  und  der  Landwirtschaft  beschäftigte, 
teilweise  den  Einfluß  dieses  Moments  auf  die  Entwicklung  einzelner 
Industriezweige  und  endlich  dessen  Einwirkung  auf  die  wirtschaftliche 
Lage  der  einzelnen  Gebiete  Deutschlands  erwog. 

Die  Arbeit  von  Vogelstein  beschäftigt  sich  nun  mit  den  Problemen 
der  letzteren  Kategorie  und  zwar  mit  dem  Einfluß  der  Caprivischen 
Politik  auf  die  wirtschaftliche  Entwicklung  der  Rheinprovinz.  Der  be- 
scheidene Titel  bleibt  weit  hinter  der  Bedeutung  der  Arbeit  zurück, 
besonders  wenn  wir  uns  der  Tatsache  erinnern,  daß  die  Rheinprovinz 
nicht  nur  eines  der  Hauptzentren  der  deutschen  Großindustrie,  sondern 
auch  das  Hauptzentrum  der  Tätigkeit  der  mächtigsten  Kartelle  ist, 
deren  engherzig  rücksichtslose  Tätigkeit  bereits  so  viel  Staub  aufgewirbelt 
hat.  Kein  Wunder  daher,  daß  der  Verfasser  im  Laufe  seiner  ganzen 
Untersuchung  stets  den  Syndikaten,  den  von  ihnen  bezahlten  Ausfuhr- 
prämien und  der  Klarlcgung  der  Ursachen  der  letzteren  Erscheinung 
seine  Aufmerksamkeit  widmet. 

Das  Vorwort  und  das  erste  Kapitel  geben  eine  allgemeine  Charak- 
teristik der  Industrie  der  Rheinprovinz  und  ihrer  Lage  in  den  letzten 
12  Jahren,  und  es  ist  zu  ersehen,  daß  im  Laufe  der  letzten  Jahrzehnte 
des  XIX.  Jahrhunderts  die  Großindustrie  dort  nicht  nur  gewaltige  Fort- 
schritte zu  verzeichnen  hatte,  sondern  auch  für  die  dortige  Bevölkerung 
zur  Hauptquelle  des  Unterhalts  geworden  ist.  Um  so  trauriger  mußte 
unter  diesen  Umständen  die  seit  1891  eingetretene  scharfe  Krise  wirken, 
der  sich  noch  die  ungeheure  Steigerung  der  Brotpreise  anschloß,  welche 
bekanntlich,  selbst  von  agrarischer  Seite.  Anträge  zur  Suspension  der 
Getreidezölle  veranlaßte.  Zieht  man  noch  allerlei  Komplikationen  in 
der  allgemeinen  Politik,  den  Einfluß  des  Mac  Kinley  Tarifs  u.  dgl.  mehr 
in  Betracht,  so  wird  es  klar,  daß  viele  Industriezweige  sich  während 
dieser  Zeit  in  einer  schlimmen,  ja  in  einer  verzweifelten  Lage  befanden. 
Es  haben  deshalb  die  vom  Grafen  Caprivi  nach  langen  inneren  und 
äusseren  Konflikten  abgeschlossenen  Handelsverträge  nicht  umsonst  bei 
den  deutschen  Unternehmern  den  Namen  der  „rettenden  Tat"  erhalten. 

Das  zweite  Kapitel  widmet  Vogelstein  der  Textilindustrie  der  Rhein- 
provinz, die  besonders  stark  in  den  Weltverkehr  mit  verflochten  ist,  wie 
das  schon  daraus  zu  entnehmen  ist,  daß  die  Einfuhr  wie  die  Ausfuhr  an 
Materialien  und  Fabrikaten  der  deutschen  Textilindustrie  je  über  eine 
Milliarde  ausmacht.  Seinen  weiteren  Angaben  ist  zu  entnehmen,  daß  in 
der  Spinnerei  das  Rheinland  mit  ca.  3 1 400  Erwerbstätigen  dem 
Königreich  Sachsen  kaum  nachsteht.  In  der  Weberei  übertrifft  es  mit 
103700  dasselbe  um  ein  paar  Hundert.  Mit  seinen  43000  Erwerbs- 
tätigen der  Seidenweberei  stellt  es  vier  Fünftel  dieser  ganzen  Industrie 
usw.  usw.  Sehr  charakteristisch  für  die  dortigen  Verhältnisse  ist  dabei 
die  Tatsache,  daß  von  ca.  31400  Personen,  die  in  den  Spinnereien  der 


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J.  Goldstein:  Theodor  Vogelstein,  Lorenz  Pieper,  Elisabeth  Gotlheiner.    49 1 

Rheinprovinz  beschäftigt  waren,  mehr  als  17000  in  40  Unternehmungen 
mit  mehr  als  200  Arbeitern  beschäftigt  waren  —  ein  Beweis,  daß  die 
Großindustrie  in  diesem  Industriezweig  schon  lange  eine  hervorragende 
Rolle  spielt.  Ohne  auf  die  Einzelheiten  der  interessanten  Tabelle  auf 
S.  34  näher  einzugehen,  können  wir  nur  unser  Bedauern  aussprechen, 
daß  der  Verfasser  die  Rheinprovinz  nur  mit  Elsaß-Lothringen  verglich. 
Auch  macht  sich  die  Abwesenheit  der  Prozentberechnungen  zur  Charak- 
teristik der  Bedeutung  des  Klein-  und  Großbetriebes  unangenehm  fühlbar. 

Im  folgenden  schildert  der  Verfasser  die  allgemeine  Lage  dieses 
Industriezweiges,  wie  sie  sich  unter  dem  Einfluß  der  Taktik  der  Kohlen- 
syndikate einerseits  und  der  allgemeinen  Richtung  der  deutschen  Wirtschafts- 
politik andererseits  gestaltete.  Von  größerem  Interesse  ist  seine  Charak- 
teristik der  Bemühungen  der  Weber,  die  sich  vor  einigen  Jahren 
bekanntlich  unter  Führung  der  interessierten  Handelskammern  im  Ver- 
band deutscher  Baumwollgarnkonsumenten  vereinigt  haben,  um  auf  die 
Ermäßigung  der  Garnzölle  hinzuwirken.  Da  die  Verteuerung  der  Pro- 
duktion sich  besonders  unangenehm  auf  dem  Weltmarkte  fühlbar  machte, 
so  wurde  von  ihnen  vielfach  wenigstens  eine  Rückvergütung  bei  der 
Ausfuhr  von  Webwaren  verlangt.  Mit  Recht  vertritt  der  Verfasser 
dabei  den  Standpunkt,  daß,  wie  erklärlich  dieses  Bestreben  auch  sein 
mag,  es  doch  auf  unüberwindliche  Schwierigkeiten  zu  stoßen  scheine. 
Denn  ganz  abgesehen  von  anderen  Hindernissen,  wird  es  unmöglich 
sein,  die  Identität  bei  der  Ausfuhr  festzustellen  ;  verzichtet  man  aber 
auf  den  Identitätsnachweis,  so  bedeutet  die  Vergütung  zum  Teil  eine 
direkte  Ausfuhrprämie,  die  mit  Ausnahme  von  einigen  landwirtschaft- 
lichen Produkten  als  Staatsmaßregel  in  Deutschland  nie  üblich  war. 

Im  Anschluß  daran  läßt  der  Verfasser  die  Versuche  der  Selbsthilfe 
an  uns  vorüberziehen,  wie  sie  in  Form  der  Kartellbildung  in  der  Textil- 
industrie zum  Vorschein  kamen.  Die  von  ihm  genannten  Verbände  für 
Baumwollgarn,  Kammgarn,  Vigognegarn,  der  Buntweber  usw.  sind  aber 
fast  lauter  Kartelle  niederer  Ordnung,  die  außer  etwa  der  Regelung  der 
Zahlungsbedingungen,  der  Musterabgabe  u.  d  in.  höchstens  noch  prozentuale 
Produktionseinschränkung  vornahmen. 

Indem  wir  den  Leser,  der  tieferes  Interesse  für  die  Ursachen  der 
schwachen  Entwicklung  der  höheren  Kartellformen  in  diesem  Industrie- 
zweig hat,  auf  die  S.  41  ff.  der  Vogelsteinschen  Schrift  verweisen,  wollen 
wir  hier  nur  noch  seiner  Vergleiche  der  deutschen  und  schweizerischen 
Zollsätze  für  die  hier  in  Betracht  kommenden  Waren  gedenken.  Diese 
zeigen  nämlich,  daß  die  deutschen  Zollsätze,  obwohl  in  Deutschland  die 
Großindustrie  weit  stärker  entwickelt  ist,  bei  weitem  die  schweizerischen 
Zollsätze  übertreffen.  Man  kann  nur  lebhaft  bedauern,  daß  die  sehr 
vernünftigen  Ansichten,  welche  i8qo  die  Aachener  Handelskammer  ver- 
trat, neuerdings  von  der  Regierung  nicht  genügend  berücksichtigt  wurden. 
Diese  Ansichten  lauteten  nämlich:  „Es  kann  nicht  oft  genug  betont 


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492 


Litcralur. 


werden,  daß  die  Seiden-  und  Sammtindustric  Deutschlands  hemmenden 
Zollschranken  entschieden  abhold  ist;  sie  kann  jeder  ausländischen  Kon- 
kurrenz die  Spitze  bieten.    Schutzzölle,  die  gegen  Italien,  Frankreich 
und  die  Schweiz  gerichtet  sind  und  von  diesen  Ländern  Repressalien 
hervorrufen  dürften,  werden  der  deutschen  und  speziell  der  nieder- 
rheinischen Seidenindustrie  zweifellos  Schaden   bringen."    Unter  dem 
Einfluß  der  hochschutzzöllnerischen  Manie  der  letzten  Jahre  blieben  diese 
Warnungen  leider  unberücksichtigt,  und  so  haben  auch  andere  Staaten 
als  Antwort  zur  Erhöhung  ihrer  Zollsätze  gegriffen,  deren  Wirkungen 
für  Deutschland  kaum  segensreich  werden  dürften. 

Im  III.  Kapitel  beschäftigt  sich  Vogelstein  mit  der  Montan-  und 
Eisenindustrie.  Die  hervorragende  Bedeutung  des  Großbetriebes  in  diesem 
Industriezweig  läßt  sich  ohne  weiteres  durch  die  Tatsache  charakterisieren, 
daß  von  ca.  133000  dort  beschäftigten  Arbeitern  auf  125  der  größten 
Betriebe  ca.  124000  Arbeiter  entfielen,  d.  h.  mit  anderen  Worten,  daß 
jede  Unternehmung  durchschnittlich  tausend  Arbeiter  zählte.    Unter  dem 
Einfluß  dieser  starken  Konzentration  des  Kapitels  einerseits,  und  einer 
Reihe  anderer  Momente  andererseits,  haben  sich  in  diesen  Industrie- 
zweigen einige  mächtige  Kartelle  entwickelt,  deren  Tätigkeit  der  Verfasser 
eingehend  schildert.     Schon  im  Anfang  dieses  Kapitels  erfahren  wir, 
daß  die  deutschen  Syndikate  bereits  vor  vielen  Jahren  dem  Auslande 
die  Kohlen  um  10  bis  25  Proz.  billiger  lieferten.    Auf  S.  64  schildert 
er  dann  die  rücksichtslose  Preispolitik  dieser  Kartelle  und  insbesondere 
des  Kokssyndikats,  das  im  Sommer  1899  ohne  weiteres  die  alten  Verträge 
aufhob  und  den  Abschluß  von  neuen  Verträgen  mit  zweijähriger  Dauer 
zu  erheblich  gesteigertem  Preise  erzwang. 

Im  IV.  Kapitel,  betitelt:  „Die  Handelspolitik  und  die  Kartelle  der 
Montan-  und  Eisenindustrie"  gelangt  der  Verfasser  zu  folgendem  Ergebnis: 
„Eine  Gewinnerhöhung  ist  nur  auf  zwei  Arten  möglich,  entweder  durch 
Verringerung  der  Kosten  oder  durch  Steigerung  der  Preise.  Beides 
kann  bekanntlich  von  Seiten  der  Kartelle  geschehen,  jedoch  ist  mir  bei 
den  Unternehmerverbänden  der  Rheinischen  Industrie  eine  Ermäßigung 
der  Produktionskosten  von  Kartell  wegen  nur  in  äußerst  wenigen  Fällen 
bekannt  gewotden.  Dagegen  fast  überall  der  Versuch  die  Einnahme  zu 
erhöhen."  Im  Anschluß  daran  macht  der  Verfasser  interessante  Angaben 
über  die  Rentabilität  dieser  Industriezweige.  Die  kolossalen  Dividenden 
von  20,  30,  40  und  noch  mehr  Proz.,  die  von  den  größeren  Unter- 
nehmungen längere  Zeit  hindurch  bezahlt  wurden,  gestatteten  diesen 
Verbänden  den  Luxus,  der  exportierenden  Industrie  einige  Millionen  als 
Ausfuhrprämien  zu  schenken. 

Zum  Schluß  wollen  wir  noch  hinzufügen,  daß  die  Arbeit  Vogelsteins 
auch  in  der  Hinsicht  ein  Interesse  bietet,  wenn  man  sie  den  Ergebnissen  der 
deutschen  Kartellenquete  gegenüberstellt.  Vergleicht  man  das  reichhaltige 
Material  dieser  Schrift  mit  den  oft  ganz  verschwommenen  Darstellungen 


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J.  Goldstein:  Theodor  Vogelstein,  Lorenz  Pieper,  Elisabeth  Gottheiner.  493 

der  offiziellen  Kartellenquete,  so  kann  man  in  bezug  auf  die  letztere 
sich  kaum  des  Eindrucks  erwehren,  daß  man  von  mancher  einflußreicher 
Seite  nur  zu  gerne  dem  Sprichwort :  Den  Pelz  zu  waschen,  ohne  ihn  naß 
zu  machen,  gefolgt  wäre 

Gleich  interessante  Einblicke,  wie  die  Arbeit  Vogelsteins  in  die 
Handelspolitik,  gewährt  die  2.  von  uns  zitierte  Schrift  in  die  Sozialpolitik. 
Im  Vorwort  macht  Dr.  Pieper  interessante  Angaben  über  die  abbau- 
würdigen Flöze  des  Ruhrreviers,  woraus  zu  entnehmen  ist,  daß  da- 
selbst im  ganzen  ca.  1 30  Milliarden  Tonnen  Kohle  vorhanden  sind,  was 
selbst,  wenn  die  Jahresproduktion,  welche  jetzt  etwa  60  Mill.  Tonnen 
beträgt,  auf  100  Mill.  Tonnen  gesteigert  würde,  noch  für  ca.  1300  Jahre 
ausreichen  könnte.  Im  folgenden  schildert  der  Verfasser  die  Veränderungen 
der  Technik  der  Produktion  einerseits  und  der  Berggesetzgebung  anderer- 
seits, wobei  er  eine  rasch  vor  sich  gehende  Konzentration  des  Kapitals 
in  diesem  Industriezweig  feststellt.  Besonders  lebhaft  soll  dieser  Prozeß 
in  den  letzten  drei  Jahren  gewesen  sein,  indem  die  Anzahl  der  Zechen 
deren  Gesamtproduktion  500000  Tonnen  überstieg,  allmählich  von  3S 
im  Jahre  1898  auf  45  im  Jahre  1900  stieg,  während  die  Zahl  der  kleineren 
Zechen  mit  einer  Produktion  von  mindestens  50  000  bis  500  000  Tonnen 
von  99  auf  93  gesunken  ist. 

Zur  Charakteristik  der  Bedeutung  der  Kohlenförderung  des  Ruhr- 
reviers wird  dabei  vom  Verfasser  die  Tatsache  angeführt,  daß  seit  Ende 
des  XVIII.  Jahrhunderts  die  Belegschaft  sich  um  das  140  fache  vermehrte, 
die  Förderung  nach  der  Menge  um  das  288  fache,  nach  dem  Werte  um 
das  545  fache.  Aus  dem  Ruhrvevier  stammt  gegenwärtig  etwa  die 
Hälfte  der  gesamten  Steinkohlenproduktion  Deutschlands.  Allein  seit  1 894 
steigerte  sich  der  Wert  der  Ruhrkohlenproduktion  um  75  Proz.,  die  Menge 
um  ca.  45  Proz.,  die  Arbeiterzahl  um  ca.  44  Proz.  Ebenso  rasch  stieg 
die  Verwendung  der  Dampfkraft,  und  zwar  zählte  man  an  Dampf- 
maschinen um  die  Mitte  des  XIX.  Jahrhunderts  ca.  142  mit  ca.  10000 
effekt.  Pferdekräften  gegen  ca.  5000  mit  ca.  500000  effekt.  Pferde- 
kräften am  Ende  des  Jahrhunderts.  Noch  bedeutender  war  vielleicht  die 
Zunahme  der  Koksproduktion  und  einer  Reihe  von  Nebenprodukten  so- 
wie sonstiger  industrieller  Unternehmungen,  so  daß  gegenwärtig  das 
Ruhrrevier  zu  einem  der  Hauptzentren  des  deutschen  Industrielebens  ge- 
worden ist.  Schon  1890  soll  dort  nämlich  der  Güterverkehr  pro  Kilo- 
meter 25  mal,  pro  Einwohner  56  mal  größer  gewesen  sein  als  der  durch- 
schnittliche Verkehr  Deutschlands. 

Nach  dieser  allgemeinen  Schilderung  der  technischen  und  wirt- 
schaftlichen Entwicklung  des  Ruhrbergbaus  im  XIX.  Jahrhundert  ver- 
sucht der  Verfasser  den  tiefgehenden  Einfluß  zu  beschreiben,  welchen 
diese  Faktoren  auf  die  Morphologie  der  Bevölkerung  und  die  Arbeits- 
gliedcrung  ausgeübt  haben.  Ohne  bei  den  Einzelheiten  stehen  zu  bleiben, 
wollen  wir  uns  nur  mit  der  Hervorhebung  der  Tatsache  begnügen,  die 


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494 


Literatur. 


auch  in  den  weiteren  Erörterungen  des  Verfassers  eine  große  Rolle  spielt. 
Wir  meinen  damit  die  starke  Heranziehung  zur  Bergarbeit  der  Arbeiter 
aus  den  östlichen  Provinzen  des  Reiches,  aus  Österreich  u.  dergl.  m.t 
so  daß  schon  zu  Anfang  des  Jahres  1900  in  den  Bergwerken  mehr  als 
l/„  sämtlicher  Arbeiter  aus  jenen  Gegenden  stammten ;  zusammen  mit 
Frauen  und  Kindern  belief  sich  ihre  Zahl  auf  ca.  175  000. 

Im  zweiten  Kapitel  gibt  der  Verfasser  einen  Überblick  über  die  Gestal- 
tung des  Arbeitsvertrages,  woraus  zu  entnehmen  ist,  daß  der  gewaltige  Auf- 
schwung des  Ruhrbergbaus  seit  Mitte  des  XIX.  Jahrhunderts  wesentlich  auf 
der  erfolgreichen  Geltendmachung  folgender  drei  Forderungen  beruht,  und 
zwar  1)  Verringerung  der  Bergwerksabgaben,   2)  Beseitigung  des  staat- 
lichen Direktionsprinzips  und  3)  Verringerung  der  regalherrlichen  Vor- 
rechte.   Der  Verbesserung  der  Lage  der  Unternehmer  stand  indessen 
keine  entsprechende  Verbesserung  der  Lage  der  Arbeiter  gegenüber ; 
denn  die  Knappen,  die  früher  gewissermaßen  Staatsbeamte  waren  und 
eine  Reihe  weitgehender  Privilegien  hatten,  wurden  durch  das  allgemeine 
Berggesetz  von  1865  ihrer  sämtlichen  früheren  Vorrechte  beraubt,  was 
zu  einer  fortschreitenden  Entrechtung  und  wachsender  Proletarisierung  der 
Bergarbeitermassen  Anlaß  gab.    Eine  Verschlechterung  trat  auch  in  der 
Hinsicht  ein,  daß  der  Arbeitstag  heute  sehr  oft  viel  länger  ist  als  früher, 
indem  die  von  den  Ruhrbergleuten  stets  geforderte  „von  den  Vätern 
ererbte  Achtstundenschicht"  heute  tatsächlich  zu  einer  9 — 10  Stunden- 
schicht ausgeweitet  wurde.   Auch  der  Streik  von  1889  brachte  in  dieser 
Hinsicht  nur  eine  vorübergehende  Besserung.   Aus  den  Mitteilungen  des 
Verfassers  geht  hervor,  daß,  ebenso  wie  vor  1889,  die  Beamten  — 
manchmal  sogar  in  unerlaubter  Form  —  die  Schichtdauer  durch  aller- 
hand Praktiken  verlängerten,  die  Überschichten  nicht  genau  notierten 
u.  dergl.  m.     Als   Beweis  führt   er   auf  S.   52    zahlreiche  Zechen- 
anschläge sowie  die  Tatsache  an,  daß  durchschnittlich  jeder  Ruhrberg- 
mann zu  Anfang  der  neunziger  Jahre  ca.  300  Schichten  anfuhr,  während 
diese  Durchschnittszahl  in  den  Jahren   1899  bzw.   1900  317  und  318 
betragen  hat.    Im  Anschluß  daran  behandelt  Pieper  die  Frage  des 
Arbeitslohns,    wobei  von   ihm    die    außerordentliche  Mangelhaftigkeit 
der  amtlichen  Lohnnotierungen  mit  vollem  Rechte  sehr  scharf  ange- 
griffen wird.    Ohne  bei  den  Einzelheiten  zu  verweilen,  mag  hier  die 
Erwähnung  der  Tatsache  ausreichen,  daß  während  noch   1895  Feier- 
schichten eingelegt  wurden,  im  Jahre  1900  eine  Überschicht  die  andere 
jagte,  so  daß  monatlich  hic  und  da  40 — 45  Schichten  verfahren  wurden. 
Man  kann  Pieper  nur  zustimmen,  wenn  er  den  entsprechenden  Mehr- 
verdienst daraus  nicht  Lohnsteigerung  benannt  haben  will,  da  er  auf 
Mehrarbeit  und  nicht  auf  Erhöhung  des  Gedingelohns  beruht.  Nach 
dem  Eintreten  der  Krise  begannen  die  Löhne,  teilweise  übrigens  unter 
dem  Einfluß  der  verminderten  Zahl  der  Schichten,  zu  sinken.  Sehr 
charakteristisch  sind  in  dieser  Hinsicht  die  nachstehenden  Angaben  des 


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J.  Goldstein:  Theodor  Vogelstein,  Lorenz  Pieper,  Elisabeth  Gotthcincr.  495 

allgemeinen  Knappschaftsvereins  in  Bochum,  die  vom  Verfasser  auf 
Seite  79  angeführt  werden.  Und  zwar  traten  in  der  Lohnhöhe  folgende 
Veränderungen  ein.  Es  erhielten  einen  durchschnittlichen  Tagelohn  in 
Proz.  der  Gesamtbelegschaft : 

bis  2,60  Mk.  von  2,61  bis  3,80  Mk.     von  3,81  bis  5  Mk.      über  5  Mk. 

1900        5,9  Proz.                17,7  Proz.  24,4  Proz.  52,0  Proz. 

190«         6,8    „                  20,0    „  28,9  „  44.3 

»902        7,8    „                 20.9  39,6  „  31,7  „ 

Der  Prozentsatz  der  Arbeiter,  deren  Tagelohn  5  Mk.  übertraf,  sank 
demnach  von  ca.  52  auf  kaum  32  Proz.  der  Gesaratzahl.  Dabei  darf 
folgende  Tatsache  nicht  unerwähnt  gelassen  werden.  Pieper  konstatiert 
nämlich,  daß  bei  Zechen,  deren  spezifische  Kohlensorten  noch  gut  ab- 
gingen, ferner  bei  den  großen  Zechen,  die  durch  ihre  großartigen  Auf- 
bereitungsanstalten die  besten  Stückkohlen  und  Nußsorten  lieferten,  die 
Lohnminderung  nicht  beträchtlich  war,  während  die  kleineren  Zechen 
die  ungünstige  Gestaltung  der  Konjunktur  auf  die  Arbeiter  abzuwälzen 
suchten.  Alle  diese  Angaben  gewinnen  ein  besonderes  Interesse,  wenn 
wir  uns  die  Behauptungen  der  Apologeten  der  Syndikate  in  Erinnerung 
rufen,  denen  zufolge  die  Syndikatsgründung  eine  Verminderung  der 
Lohnschwankungen,  größere  Stetigkeit  der  Beschäftigung  der  Arbeiter 
u.  dergl.  m.  nach  sich  gezogen  hätte.  In  Wirklichkeit  konnte  man  in 
Deutschland  sehr  oft  das  Gegenteil  feststellen,  da  gleichzeitig  mit  dem  Sin- 
ken  der  Löhne  viele  Zechen  erhebliche  Arbeiterentlassungen  vorgenommen 
haben.  Die  Syndikatsgründung  hat  ferner  keineswegs  zu  einer  Besserung 
der  Lage  der  Arbeiter  geführt,  sofern  es  sich  um  die  Organisations- 
bestrebungen der  letzteren  handelt.  Darüber  bemerkt  z.  B.  der  von 
Pieper  zitierte  Berginspektionsbericht  Witten  vom  Jahre  1901:  „Hin  und 
wieder  ist  der  Rückgang  in  der  Geschäftslage  von  den  Werksverwaltungen 
auch  benutzt  worden,  um  ihnen  agitatorisch  lästig  gewordene  oder  her- 
vorragend unbotmäßige  Leute  aus  der  Belegschaft  zu  entfernen."  Außer- 
dem beschwerten  sich  die  Bergarbeiter  darüber,  daß  nicht  einmal  die 
Feierschichten  gleichmäßig  verteilt,  sondern  sog.  Günstlinge  davon  ver- 
schont bleiben.  Außerdem  kommen  auch  jetzt  Fälle  vor,  in  denen  die 
Abkehrzeugnisse  der  Arbeiter  —  trotz  des  gesetzlichen  Verbotes  — 
mit  geheimen  Abzeichen  versehen  werden.  Da  seit  der  Syndikats- 
gründung diese  im  Geheimen  Gemaßregelten  viel  schwerer  eine  neue 
Stelle  finden  können  als  vordem  —  beim  Vorherrschen  der  freien  Kon- 
kurrenz —  so  kann  man  sich  kaum  darüber  wundern,  daß  in  den  Berg- 
arbeiterkreisen überall  eine  tiefe  Erregung  herrscht,  wobei  sich  vielerorts 
sogar  Ansätze  zum  offenen  Streik  zeigten,  indem  man  hie  und  da  die 
Anfahrt  verweigerte.  Nur  der  besonnenen  Leitung  der  beiden  Berg- 
arbeiterverbände ist  es  zu  danken,  meint  Pieper,  daß  die  allgemeine 
Erregung  zurückgehalten  und  verhindert  wurde,  daß  wie  im  Jahre  1889  die 


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496 


Literatur. 


Welle  eines  Riesenstreiks  sich  über  das  Ruhrkohlenbecken  hinwälzte. 
Ihre  Parole  an  die  drängenden  Kameraden  war:  „Haltet  euch  an  der 
Arbeit.  Laßt  euch  nicht  aufreizen !  Sorgt  für  Aufrechterhaltung  der 
Ordnung,  wirkt  beruhigend  auf  die  Erregten  ein,  stärkt  die  Organisation. 
Wenn  es  Zeit  ist,  wird  das  Signal  schon  kommen." 

Wie  die  Arbeiter  diese  Worte  beherzigt  haben,  läßt  sich  aus 
folgenden  Daten  über  die  Mitgliederzahl  und  die  Einkünfte  beider  ge- 
nannten Organisationen  ersehen: 


Alter  Verband 

Christlicher  Gewerkverein 

im  Jahre 

Mitgliedcrzahl 

Hinnahmen 

Mitgliederzahl 

Einnahmen 

1899 

33100 

90100  Mk. 

22000 

48  400  Mk. 

1900 

36400 

215200  „ 

29  300 

«13000  „ 

1901 

38000 

323  3oo  „ 

34000 

206  500  „ 

1902 

48300 

462  600  „ 

40000 

291  300  „ 

Wollte  man  sogar  zugeben,  daß  diese  Angaben  etwas  übertrieben 
sind,  so  läßt  sich  doch  eine  bedeutende  Zunahme  —  trotz  der  Krise  — 
nicht  in  Abrede  stellen.  Bei  dieser  Gelegenheit  muß  noch  betont  werden, 
daß  das  berüchtigte  Nullen  nach  Ansicht  des  Verfassers  sich  bis  auf 
den  heutigen  Tag  nicht  nur  im  alten,  sondern  im  erweiterten  Umfange 
fortgepflanzt  habe,  während  in  England  durch  Einführung  des  Abwiegens 
der  Förderwagen  die  betreffenden  Streitigkeiten  zwischen  den  Unter- 
nehmern und  Arbeitern  schon  lange  ihre  alte  Bedeutung  verloren  haben. 
Mit  Wehmut  konstatiert  Pieper,  daß  alle  Versuche  des  Abgeordneten 
Dasbach  bei  der  Beratung  der  preußischen  Berggesetznovelle,  eine  Besserung 
in  dieser  Hinsicht  durchzusetzen,  von  der  Mehrheit  des  Hauses,  in  deren 
Mitte  sich  viele  Kohlcnbergwerksbesitzer  befanden,  abgelehnt  wurden. 

Ohne  auf  die  Besprechung  des  Verhältnisses  zwischen  der  Lohn- 
steigerung und  der  Steigerung  der  Unternehmergewinne  einzugehen  (in 
seinen  diesbezüglichen  Ausführungen  hat  Pieper  hier  auch  einige  Unter- 
nehmungen erwähnt,  die  außer  der  Kohlengewinnung  noch  die  Her- 
stellung anderer  Artikel  betreiben,  was  die  LTnternehmerpresse  ihm  sehr  übel 
nimmt),  wollen  wir  hier  nur  seine  überaus  interessanten  Mitteilungen  über 
das  Verhältnis  von  Arbeitszeit  und  Arbeitslohn  zur  Arbeitsleistung  er- 
wähnen. Die  von  ihm  zitierten  Untersuchungen  des  Bergwerksdirektors 
Kirschniok  ergaben  nämlich,  daß  in  seinen  oberschlesischen  Kohlengruben 
die  Durchschnittsleistung  der  Pfeilhauer  auf  denselben  Flözen  und  unter 
denselben  Verhältnissen  pro  1 2 -Stundenschicht  von  1881— 1888  ca. 
7,59  t  betragen  hat.  Dagegen  betrug  sie  pro  8-Stundenschicht  in  den 
Jahren  18S9— 1898  ca.  9,28  t  und  in  den  Jahren  1899  —  1901  pro 
8-Stundenschicht  sogar  10,1  t.  Uber  die  erhöhte  Arbeitsenergie  der 
Belegschaft  bemerkte  Kirschniok:  „Es  weiß  wohl  jeder  Bergmann,  vom 
jüngsten  Schlepper  bis  hinauf  zum  Betriebsführer,  daß  der  oberschlesische 
Arbeiter,  wenngleich  er  gezwungen  ist,  12  Stunden  in  der  Grube  zu 
sitzen,  doch  nur  kaum  8  Stunden  arbeitet.    Gibt  man  ihm  nun  Gelegen- 


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f.  Gold  stein:  Theodor  Vogclstein,  Loreni  Pieper,  Elisabeth  Gottheiner.  497 

heit,  die  Leistung  einer  12  stündigen  Schicht  in  8  Stunden  zu  voll- 
bringen, so  verspeist  er  sein  mitgebrachtes  Brot  weit  lieber  erst  nach 
Beendigung  der  Schicht,  nur  um  die  hierfür  notwendige  Zeit  nicht 
während  der  Schicht  zu  verschwenden". 

Von  hervorragendem  Interesse  sind  ferner  die  Mitteilungen  des 
Verfassers  über  die  tötlichen  Verunglückungen  der  Bergleute.  Die  von 
ihm  auf  Seite  134  angeführten  Daten  zeigen,  daß  während  in  England 
und  Belgien  die  Zahl  dieser  Unfälle  außerordentlich  rasch  zurückging, 
die  entsprechenden  Daten  für  Preußen  keinesfalls  gleich  günstig  lauten. 
Leider  hat  der  Verfasser  für  die  neueste  Zeit  nur  die  Daten  für  das 
Jahr  1900  angeführt,  was  den  Wert  seiner  Vergleiche  erheblich  herab- 
mindert und  außerdem  einen  berechtigten  Anlaß  zu  Beanstandungen  seitens 
der  Unternehmerpresse  bietet.  Indirekt  wird  seine  Auffassung  von  der 
Tatsache  bestätigt,  daß  während  um  die  Mitte  des  XIX.  Jahrhunderts 
eine  englische  Kommission  nach  Preußen  kam,  um  die  Ursachen  der 
niedrigen  Unfallziflfer  Preußens  zu  studieren,  gegen  Ende  des  Jahrhunderts 
Preußen  eine  Untersuchungskommission  nach  England  sandte,  um  dort 
die  Gründe  der  geringen  Unfallziflfer  zu  erforschen.  Und  obgleich  die 
Verminderung  der  tödlichen  Unfälle  fast  überall  der  Aufnahme  der 
Arbeiterdelegierten  in  die  Bergwerksinspektion  zugeschrieben  wird,  hat 
sich  die  preußische  Regierung  zur  Durchführung  dieser  Maßnahme  noch 
nicht  entschließen  können,  und  zwar  wesentlich  unter  dem  Einfluß  der 
Berichte  der  Bergwerksinspektion,  die  —  unter  dem  Druck  der  Syndikate 
stehend  —  sich  gegen  eine  beschleunigte  Durchführung  dieser  Reform 
aussprach.  Ebenso  ungünstig  gestaltete  sich  unter  dem  Einfluß  der 
zahlreichen  Überschichten  am  Ende  der  90  er  Jahre  die  Erkrankungs- 
häufigkeit (vgl.  insbesondere  S.  167).  Ohne  uns  mit  allen  anderen  Er- 
krankungen zu  beschäftigen,  wollen  wir  nur  der  neuerdings  so  oft 
besprochenen  Wurmkrankheit  gedenken,  deren  Geschichte  uns  deutlich 
zeigt,  wie  unzureichend  die  preußische  Bergwerksinspektion  die  Interessen 
der  Bergarbeiter  wahrnimmt.  Ärztliche  Autoritäten,  wie  die  Fachblätter 
der  beiden  Bergarbeiterorganisationen  haben  nämlich  schon  seit  Jahren 
auf  die  Größe  der  Gefahr  hingewiesen  und  auf  energische  Maßregeln 
gedrungen.  Trotz  alledem  behauptete  man  amtlicherseits,  die  Krankheit 
sei  in  steter  Abnahme  begriffen  und  hielt  die  eingeleiteten  Maßnahmen 
für  recht  zweckmäßig.  Im  Jahre  1902  erkrankten  aber  pro  10000  Mann 
der  Belegschaft  bereits  53  Bergleute  gegenüber  41  im  Jahre  1901,  ca. 
12  im  Jahre  1900  und  4 — 6  in  den  Jahren  1896—1899.  Neben  diesen 
Schattenseiten,  welche  der  Nachlässigkeit  der  Bergwerksinspektion  und 
der  zu  weitgehenden  Nachsicht  der  Regierung  den  syndizierten  Zechen 
gegenüber  zugeschrieben  werden  müssen,  hebt  der  Verfasser  auch  einige 
Lichtseiten  hervor,  die  man  hauptsächlich  dem  technischen  Fortschritt 
zu  verdanken  hat.  Außer  der  Zunahme  der  Mitgliederzahl  der  Arbeiter- 
organisationen gehört  zu  diesen  Lichtseiten  insbesondere  die  Anwendung 

Archiv  fiii  Sozialwissenschaft  u.  Sozialpolitik,  I.    { A.  f.  soz.  G.  u.  St.  XIX.)  a.  32 


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498 


Literatur. 


der  Schrämmaschinen,  mit  deren  Hilfe  in  Nordamerika  im  Jahre  1900 
bereits  etwa  J/4  der  gesamten  Kohlenproduktion  gewonnen  wurde.  Im 
Ruhrrevier  datiert  ihre  Verwendung  erst  seit  1898  und  zwar  nur  auf 
wenigen  Zechen,  weil  die  amerikanischen  Konstruktionen  sich  hier  als 
untauglich  erwiesen  haben.  Neuere  deutsche  Konstruktionen  haben  diese 
Mängel  gehoben,  so  daß  bei  weniger  Arbeitskosten  eine  um  50 — 80  Proz. 
erhöhte  Arbeitsleistung  und  vor  allem  eine  bedeutende  Herabminderung 
der  Unglücksfälle  erzielt  wurde.  Die  entschädigungspflichtigen  Unfälle 
durch  Stein-  und  Kohlenfall  betrugen  nämlich  pro  1000  versicherte 
Personen : 


im  Jahre 

bei  der  Sektion  II 

»uf  Zeche  Dorstfeld 

1896 

5.87 

7,00 

1897 

5.76 

6.36 

1898 

5.36 

6,13 

1899 

5.56 

3,76 

1900 

5.22 

3.5i 

Seit  der  Verwendung  der  Schrämmaschinen  auf  der  Zeche  Dorst- 
feld (1898)  stürzte  also  die  UnfallzifTer  dort  jäh  ab. 

Das  IV.  und  V.  Kapitel  sind  der  Bergarbeiterbewegung,  der  Knapp- 
schaftskassenreform und  anderen  Forderungen  der  Arbeiter  gewidmet. 
Die  Durchsicht  der  diesbezüglichen  Beschlüsse  des  2.  deutschen  Berg- 
und  Hüttenarbeitertages  (Alter  Verband)  und  des  ersten  Delegiertentags 
der  christlichen  Bergarbeiter,  welche  in  der  Forderung  auf  Einsetzung 
von  gesetzlichen  Arbeitcrausschüssen,  Vereinheitlichung  des  gesamten 
deutschen  Knappschaftswesens,   freier   Ärztewahl,  Selbstverwaltung  der 
Kassen  u.  dgl.  m.  gipfeln,  zeigt  uns  deutlich  genug,  daß  es  sich  im 
großen  und  ganzen  um  durchaus  berechtigte  Ansprüche  der  Arbeiter 
handelt.    Dies  wird  u.  a.  auch  dadurch  erwiesen,  daß  in  den  fiskalischen 
Bergwerken  die  Arbeiterausschüsse  bereits  eingeführt  sind,  während  man 
den  syndizierten  Privatzechen  diese  Verpflichtung  nicht  aufzubürden  wagt, 
obwohl  die  Behandlung  der  Bergarbeiter  durch  die  Vorgesetzten  eine 
nie  abreißende  Kette  von  Beschwerden  und  Klagen  bildet.    In  einer 
Eingabe  des  christlichen  Gewerkvereins  vom  Februar  1900  heißt  es:  „Eine 
ständige  Quelle  der  Klage  ist  die  sehr  oft  inhumane,  teilweise  sogar  unan- 
ständige Behandlung  der  Arbeiter  durch  Betriebsbeamte."  Pieper  berichtet 
sogar,  daß  es  gerichtlich  mehrmals  erwiesen  wurde,   daß  nicht  nur 
Pferdejungen  und  andere  jugendliche  Arbeiter,  sondern  auch  Erwachsene 
Stock-  und  Faustschlägen  ausgesetzt  waren,  wobei  zur  Zeit  ungünstiger 
Geschäftslage  regelmäßig   eine   schlechtere  Behandlung   eintritt.  Die 
Bildung  der  Syndikate  hat  also  auch  in  dieser  Hinsicht  keineswegs  zur 
Besserung  der  Arbeiterlage  beigetragen. 

Im  VI.  Kapitel  behandelt  der  Verfasser  die  Lebenshaltung  und  ins- 
besondere die  Wohnungsverhältnisse  der  Arbeiter.  Wie  wichtig  gerade 
diese  letzteren  sind,  geht  daraus  hervor,  daß  der  Bevölkerungszuwachs 


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J.  Goldstein:  Theodor  Vogelstein,  Lorenz  Pieper,  Elisabeth  Gottheiner,  ^gg 

im  Ruhrrevier  von  1871  — 1900  ca.  200  Proz.  betragen  hat,  während 
die  Einwohnerzahl  Berlins  im  gleichen  Zeitraum  nur  um  ca.  128  Proz. 
zunahm.  Kein  Wunder  daher,  daß  die  Wohnungsverhältnisse  in  den 
letzten  Jahren  sich  erheblich  verschlechterten,  obwohl  die  Zechen  eine 
große  Zahl  von  Arbeiterwohnungen  gebaut  haben. 

Gleich  traurig  klingen  die  Mitteilungen  über  die  Ernährungsverhält- 
nisse der  Arbeiter.  Leider  beschränkte  sich  der  Verfasser  auf  die  Mit- 
teilung der  Lebensmittelpreise  für  einzelne  Jahre,  statt  die  entsprechen- 
den Daten  für  das  ganze  Jahrzehnt  anzuführen,  was  wiederum  der  Unter- 
nehmerpresse Anlaß  zu  mehr  oder  weniger  berechtigten  Beanstandungen 
bietet.  Berücksichtigt  man  die  fast  völlige  Abwesenheit  der  größeren 
Konsumvereine  und  die  trotz  wiederholter  Klagen  der  Arbeiter  noch 
fast  überall  übliche  monatliche  Lohnzahlung,  welche  die  Arbeiter  zur 
Borgwirtschaft  verleitet  einerseits,  und  die  rapide  Steigerung  der  Woh- 
nungspreise andererseits,  so  wird  man  im  großen  und  ganzen  Pieper 
darin  zustimmen  können,  daß  der  Reallohn  der  Arbeiter  sich  keineswegs 
erheblich  gebessert  hat.  Ebenso  ungünstig  lautet  sein  Urteil  über  die 
geistige  Nahrung,  die  den  Arbeitern  geboten  wird;  denn  für  die  allge- 
meine Bildung  der  Bergarbeiter  und  die  Beschaffung  edlerer  Genüsse 
durch  Unterstützung  von  Büdungsvereinen ,  Veranstaltung  von  Volks- 
bildungsabenden, Volksunterhaltungen,  Schriftenverbreitung,  Bibliotheken 
und  Lesehallen  geschieht  seitens  der  Zechen  wenig. 

Das  letzte  Kapitel  handelt  von  dem  Charakter  der  Bergarbeiter  und 
der  Polenfrage  im  Ruhrrevier.  Wegen  Mangelhaftigkeit  der  Arbeiter- 
organisationen, des  starken  Drucks  seitens  der  Zechen  u.  dergl.  m. 
zeichnet  sich  der  Charakter  der  Bergarbeiter  durch  eine  Reihe  unsym- 
patischer  Züge  aus,  so  z.  B.  durch  Eigensinn,  unglaubliches  Mißtrauen, 
Arbeitsneid  usw.  Zusammen  mit  dem  weitverbreiteten  Aberglauben  und 
der  Sprachverschiedenheit  (im  Jahre  1893  waren  im  Ruhrkohlenbecken 
36  Sprachen  vertreten)  erschweren  diese  unsympatischen  Züge  den  Fort- 
schritt der  Arbeiterorganisation,  was  zu  trüben  Betrachtungen  über  die 
künftige  Gestaltung  der  Beziehungen  zwischen  den  Arbeitnehmern  und 
Arbeitgebern  Anlaß  gibt. 

Trotz  mancher  zu  weitgehender  Generalisierungen  und  einer  Reihe 
anderer  Mängel  wird  die  Arbeit  Piepers  in  Deutschland  vielleicht  die- 
selbe Rolle  spielen,  wie  der  berühmte  Roman  Zola's  „Genninal"  vor 
einigen  Jahrzehnten  in  Frankreich,  denn  seine  Schilderungen  verlangen 
gebieterisch  ein  entschiedenes  Eingreifen  der  Staatsgewalt. 

Zum  Schluß  muß  noch  nachstehender  Wirkung  der  Arbeit  Piepers 
gedacht  werden.  Schon  einige  Wochen  nach  deren  Veröffentlichung  hat 
das  Organ  der  Bergwerksbesitzer  „Glückauf"  einen  größeren  Artikel  ver- 
öffentlicht (Jahrg.  1903,  Nr.  48 },  der  die  „Unwissenschaftlichkeit"  der  Pieper- 
schen  Untersuchungen  nachzuweisen  versuchte.  Die  nähere  Betrachtung 
der  Gegenargumente  des  „Glückauf"  spricht  schon  deshalb  für  ihre  fast 

32* 


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5oo 


Literatur. 


völlige  Unhaltbarkeit,  weil  daselbst  die  Tatsache  verschwiegen  wird, 
daß  die  Lohnsteigerung  am  Ende  des  XIX.  Jahrhunderts  wesentlich 
der  Vermehrung  der  Überschichten  zugeschrieben  werden  muß.  Die 
forcierte  Arbeit  erfordert  aber  eine  verbesserte  Ernährung,  so  daß  die 
geringwertige  Steigerung  des  Reallohnes  —  besonders  angesichts  der 
rapiden  Steigerung  der  Mietpreise  —  sich  unmöglich  mit  der  Erhöhung 
der  Dividende  um  100 — 300  Proz.  messen  kann.  Außerdem  sind  die 
Einwände  des  „Glückauf"  auch  deshalb  wenig  stichhaltig,  weil  das  Organ 
der  Unternehmer  nur  die  Maximalpreise  der  Lebensmittel  anführt,  ohne 
die  Minimalpreise  zu  berücksichtigen,  obwohl  die  letzteren  für  die 
Arbeiterklasse  die  wichtigsten  sind,  da  die  Arbeiter  gewöhnlich  die 
schlechteren  Qualitäten  kaufen.  Um  so  größere  Bedeutung  gewinnt 
daher  natürlich  das  Geständnis  des  Unternehmerorgans,  dem  zufolge 
(„Glückauf",  S.  1163)  —  nach  dem  Eintreten  der  Krise  —  die  Lebens- 
haltung der  Arbeiter  im  Jahre  1902  sich  in  einer  ungünstigeren  Lage 
befand  als  in  dem  für  die  Arbeiter  keineswegs  besonders  günstigen 
Jahre  1897. 

Die  letzte  der  obenangeführten  Schriften  wird  wohl  keinen  so 
großen  Eindruck  machen,  wie  die  Arbeiten  Vogelsteins  und  Piepers, 
und  zwar  schon  deshalb,  weil  sie  weniger  originell  ist.  Sie  bildet  sozu- 
sagen die  Fortsetzung  der  bekannten  Schrift  von  Alfons  Thun  „Die 
Industrie  am  Niederrhein  und  ihre  Arbeiter,"  die  vor  25  Jahren  er- 
schienen ist.  Inzwischen  ist  die  Bevölkerung  der  Hauptzentren  dieses 
Gebietes,  der  Städte  Elberfeld  und  Barmen  von  ca.  175  000  auf  über 
300000  gestiegen.  Dies  wie  eine  Reihe  anderer  Umstände  veranlaßte 
die  Verfasserin  eine  erneute  Untersuchung  der  in  Frage  kommenden 
Verhältnisse  vorzunehmen. 

Im  ersten  Teil  wird  von  der  Verfasserin  die  Tatsache  konstatiert, 
daß  seit  der  Zeit  der  Veröffentlichung  des  Thunschen  Werkes  eine 
erhebliche  Besserung  der  Verhältnisse  insofern  eintrat,  als  die  früher 
vielfach  beobachtete  13 — 14  stündige  Arbeitszeit  bei  den  Frauen  wenigstens 
nicht  mehr  anzutreffen  ist.  Im  weiteren  wird  von  ihr  berichtet,  daß  die 
Handarbeit  auch  in  dieser  Provinz  einen  völlig  aussichtslosen  Kampf 
gegen  die  Maschine  gekämpft  hat;  denn  gewisse  Zweige  der  Samt- 
und  Seidenweberei,  welche  die  Handarbeit  als  unveräußerliches  Eigentum 
zu  besitzen  glaubten,  wurden  ihr  entrissen,  und  Gewebe,  die  man  noch 
Anfang  der  80  er  Jahre  nur  auf  Handstühlen  hatte  herstellen  können, 
werden  jetzt  auf  Kraftstühlen  gefertigt.  Leider  fehlen  den  Ausfuhrungen 
der  Verfasserin  die  ziffermäßigen  Grundlagen  über  die  Zahl  der  Hand- 
und  Kraftstühle  in  den  einzelnen  Jahren,  so  daß  der  Entwicklungs- 
prozeß nicht  mit  genügender  Klarheit  hervortritt. 

Das  2.  Kapitel  des  I.  Teils  wird  dem  Einfluß  der  amerikanischen 
Zollpolitik  auf  die  Textilindustrie  von  Elberfeld-Bannen  gewidmet.  Wenn 


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J.  Gold  stein.  Theodor  Vogelstcin,  Lorenz  I'ieper,  Elisabeth  Gottheiner.     50 1 

wir  auch  zugeben,  daß  die  stetigen  Änderungen  der  amerikanischen 
Tarife  —  vor  allem  wegen  der  Tendenz  zur  Erhöhung  der  Zollsätze  — 
auf  die  Textilindustrie  des  Wuppertals  einen  schädigenden  Einfluß  aus- 
üben mußten,  so  kann  man  dennoch  die  Verwunderung  kaum  unter- 
drücken, daß  Fräulein  Gottheiner,  welche  hier,  wie  auf  S.  10,  von  der 
protektionistischen  Manie  spricht,  die  Erwähnung  der  Tatsache  vergessen 
hat,  daß  diese  Erscheinung  wesentlich  Deutschland  selber  durch  seinen 
am  Ende  der  70  er  Jahre  geschaffenen  autonomen  Zolltarif  mit  ver- 
schuldet hat.  Die  Verfasserin  berührt  ferner  kaum  den  großen  Einfluß, 
welchen  die  Rohstoffverbände  —  Kohlen-  und  Eisensyndikate  —  auf 
die  Textilindustrie  ausübten,  obwohl  in  dieser  Hinsicht,  wie  die  Kartell- 
enquete  zeigte,  sehr  reichhaltiges  Material  vorliegt. 

Im  letzten  Kapitel  des  I.  Teils,  sowie  im  II.  Teil  wird  von  der 
Verfasserin  die  Lage  der  Industrie  dieses  Gebietes  von  1895  bis  zur 
Gegenwart  geschildert.  Obwohl  der  durchschnittliche  Arbeitsverdienst 
von  1895  D's  18 99  um  10—15  Proz-  gestiegen  ist,  hat  der  letzte  Auf- 
schwung leider  keineswegs  eine  entsprechende  Verbesserung  der  Lage 
der  Arbeiter  geschaffen;  denn  zu  gleicher  Zeit,  wie  Frl.  Gottheiner  im 
Kapitel  über  die  Wohnungsverhältnisse  (S.  60)  und  Ernährungsver- 
hältnisse (S.  73)  zeigt,  sind  auch  die  Wohnungsmieten  und  die  Lebens- 
mittelpreise erheblich  in  die  Höhe  gegangen.  Nach  dem  Eintreten  der 
Krisis  ist  aber  in  dem  Gesamtverdienst  vieler  Arbeiter  ein  Rückgang  — 
meist  um  x/5  eingetreten  (S.  25).  Leider  hat  die  Verfasserin  es  zu  er- 
wähnen vergessen,  daß  in  den  letzten  Jahren  eine  weitere  Verschlechte- 
rung der  Lage  der  Arbeiter  noch  dadurch  eintrat,  daß  gleichzeitig  mit 
dem  Sinken  der  Löhne  eine  erhebliche  Steigerung  der  Fleischpreise  und 
mancher  anderer  Lebensmittel  stattfand. 

Die  Schilderungen  der  Lohnverhältnisse  führen  die  Verfasserin, 
insbesondere,  sofern  es  sich  um  die  Arbeiterinnen  handelt,  zu  keines- 
wegs rosigen  Schlußfolgerungen.  „Die  wenigsten  Arbeiterinnen",  sagt 
sie,  „werden  imstande  sein,  mit  ihrem  geringen  Verdienst,  ihren  voll- 
ständigen Lebensunterhalt  zu  bestreiten."  Der  Preis  für  volle  Pension 
beträgt  den  Angaben  der  Barmener  Stadtverwaltung  zufolge  heute  im 
Wuppertal  520  bis  550  Mark  jährlich.  Da  die  Löhne  diesen  Be- 
trag nur  selten  erreichen,  so  ist  nur  natürlich,  daß  die  Wuppertaler 
Textilarbeiterinnen  ein  beträchtliches  Kontingent  der  dortigen  Prosti- 
tuierten stellen.  Die  Richtigkeit  dieser  Tatsache  wird  sowohl  seitens 
der  Arbeiter  als  auch  der  Arbeitgeber  und  Gewerbeinspektoren  be- 
stätigt. Einer  von  den  letzteren  erklärte  in  bezug  auf  die  traurigen 
sittlichen  Zustände  des  Bezirkes  schon  vor  vielen  Jahren,  daß  die 
Hauptschuld  auf  die  Länge  der  Arbeitszeit,  auf  unsaubere  und  ge- 
hetzte Arbeit,  heiße  und  mangelhafte  Arbeitsräume,  zahlreiche  Ordnungs- 
strafen, knappe  Löhne  und  Akkordsätze  und  geringe  Vorsorge  von  Seiten 
der  Arbeitgeber  zurückzuführen  ist.    Wenn  auch  in  den  letzten  Jahren 


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502 


Literatur. 


in  dieser  Hinsicht  eine  Besserung  zu  verzeichnen  ist,  so  muß  doch  fest- 
gestellt werden,  daß  das  Vorwiegen  kleiner  und  mittlerer  Betriebe,  so- 
wie älterer  Fabriken  der  Besserung  der  sanitären  Zustände  große  Hinder- 
nisse in  den  Weg  legt.  Kein  Wunder  daher,  daß  die  Gesundheits Ver- 
hältnisse sehr  traurig  sind,  und  die  Mehrzahl  der  Textilarbeiterinnen 
an  Bleichsucht  oder  Schwindsucht  leiden.    (S.  44). 

Im  Kapitel  über  den  Einfluß  des  erhöhten  Arbeiterinnenschutzes 
auf  Arbeitslohn  und  Arbeitsleistung  gelangt  die  Verfasserin  zum  Schluß: 
die  Produktivität  der  Arbeit  sei  während  der  letzten  Jahre  unter  dem 
Einfluß  der  Zeitverminderung  erheblich  gestiegen.  Die  Behauptungen 
der  Fabrikanten,  die  Verkürzung  der  Arbeitszeit  müsse  zum  Sinken  des 
Arbeitsverdienstes  führen,  haben  sich,  wie  die  von  ihr  angeführten  Bei- 
spiele zeigen,  nicht  bewahrheitet.  Wenn  man  überhaupt  von  schädlichen 
Wirkungen  des  Elfstundentages  sprechen  kann,  so  kann  dies  nur  insofern 
geschehen,  als  manchmal  die  früher  von  den  Fabriken  allein  bewältigte 
Arbeit  in  besseren  Zeiten  auf  die  Hausindustrie  abgeschoben  und  diese 
dadurch  überlastet  wurde.  So  war  in  diesem  Fall  —  wegen  nicht  weit 
genug  gehender  Gesetzgebung  —  nichts  erreicht  als  eine  Übertragung 
der  Last  auf  andere  Schultern.  Im  weiteren  Kapitel  werden  die  Arbeiter- 
und Unternehmerorganisationen  geschildert.  Den  diesbezüglichen  Mit- 
teilungen der  Verfasserin  ist  zu  entnehmen,  daß  die  Frauen  nur  wenig 
an  den  Organisationen  beteiligt  sind.  Die  stärkere  Beteiligung  der 
Männer  am  Gewerkvereinsieben  kann  den  Einfluß  des  stetigen  Wechsels 
der  Mode,  der  kurzen  Lehrzeit,  welche  die  Züchtung  einer  grolien 
Reservearmee  begünstigt,  und  anderer  ebenso  schädigender  Momente 
nicht  paralysieren.  Bedenkt  man,  daß  in  Elberfeld  und  Barmen  im  Jahre 
1899  kaum  10  Proz.  aller  Textilarbeiter  Mitglieder  der  Filialen  des 
Textilarbeiterverbandes  waren,  so  wird  man  sich  kaum  wundern,  wenn 
die  Verfasserin  die  Tatsache  feststellt,  daß  seit  der  Gründung  des  neuen 
Arbeitgeberverbandes  die  Arbeiter  bisher  bei  allen  Kämpfen,  bei  denen 
der  Unternehmerverband  eingriff,  unterlegen  sind  (S.  84). 

Zum  Schluß  erübrigt  es  sich,  zu  erwähnen,  daß  die  Verfasserin 
leider  viele  wichtige  Fragen  kaum  einer  Erwähnung  würdigt.  So  wird 
z.  B.  von  den  Kartellen  und  Konventionen  nur  die  „Allgemeine  deutsche 
Zanellakonvention"  etwas  eingehender  besprochen.  Des  ferneren  fehlt  es 
der  Arbeit  an  Schilderungen  persönlicher  Untersuchungen  oder  wenigstens 
Beobachtungen,  was  insbesondere  bei  der  Charakteristik  der  Wohnungs- 
verhältnisse sehr  am  Platze  wäre.  Auch  würde  es  den  Wert  der  Arbeit 
erheblich  erhöhen,  wenn  bei  Vergleichen  mit  England  neuere  Daten 
statt  der  Berufung  auf  die  für  das  Ende  der  80  er  Jahre  geltenden 
Nachweise  von  Schulze-Gaevernitz  angegeben  sein  würden. 

Zürich. 

J.  GOLDSTEIN. 


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503 


Agrarstatistische  und  sozialpolitische  Betrachtungen 
zur  Fideikom mißfrage  in  Preußen. 

Von 

MAX  WEBER. 

Der  längst  erwartete  „Entwurf  eines  Gesetzes  über  Familien- 
fideikommisse"  liegt  seit  dem  Herbst  1903  in  „vorläufiger"  Redaktion 
in  zwei  voneinander  in  einigen  Punkten  abweichenden  Fassungen 
vor,  von  denen  wir  hier  die  im  Verlage  der  „Post"  erschienene,  mit 
einer  Begründung  versehene  spätere  Lesart  zugrunde  legen.1)  Das 


*)  Aus  der  Literatur  über  den  Entwurf  seien  hervorgehoben  die  Aufsätze  von 

1.  Conrad  in  seinen  Jahrbüchern  1903  (Bd.  81)  S.  507  ff.,  mit  dem  ich 
mich  in  allen  wesentlichen  Punkten  in  erfreulicher  Übereinstimmung 
befinde. 

2.  Dr.  Wygodzinski  und 

3.  Sering,  beide  in  Schmollers  Jahrbuch  (1904,  Heft  1  S.  47  f.  bxw.  61  f.) 
auf  die  zurückzukommen  sein  wird. 

4.  Prof.  M.  Wolff  (Berlin),  Die  Neugestaltung  des  Familienfideikommiflrechts 
in  Preußen.  Berlin  1904,  Carl  Heymanns  Verlag  —  eine  sehr  gut  ge- 
schriebene wertvolle  Kritik  der  juristischen  Konstruktion  des  Ent- 
wurfs, die  uns  als  solche  hier  nicht  interessiert,  nebst  kurzem  Resum6 
der  prinzipiellen  Standpunkte  de  lege  ferenda. 

Aus  der  vorhergehenden  Literatur  des  letzten  Jahrzehnts  seien  erwähnt: 
I.  P.  Hager,  Familienfideikommisse,  Jena  1895  (Bd.  VI  Heft  5  der  Elsterscheu 
„Studien"),  —  eine  mäßige  Doktordissertation  ohne  wissenschaftlichen  Wert. 
Den  Motiven  hat  sie  offenbar  ab?  Hauptquellc  gedient,  besonders  für  die 
Ansichten  der  „Gegner"  der  Kideikommisse. 
3.   Eugen  Moritz,  Die  Familienfideikommisse  Preußens.    Berlin  looi. 

Ich  würde  diese  Schrift,  die  mir  erst  jetzt  vor  Augen  kommt,  nicht  er- 
wähnen, wenn  nicht  der  Verf.,  der  seiner  Zeit  die  Arbeit  in  meinem  Seminar 
Archir  für  So/ialwi**enschaft  u.  Sozialpolitik.  I.    (A.  f.  so».  G.  u.  St.  XIX.)  3.  33 


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504 


Max  Weber, 


in  Aussicht  genommene  Gesetz  soll  zunächst  den  überaus  bunt- 
scheckigen Rechtszustand,  der  zurzeit  in  Preußen  besteht,  verein- 
heitlichen und  mit  dem  Bürgerlichen  Gesetzbuch  in  ein  klares  Ver- 
hältnis setzen:  zu  diesem  Zweck  wird  den  bestehenden  Fideikom- 
missen  bei  Strafe  des  Erlöschens  die  Unterwerfung  unter  alle 
wesentlichen  Bestimmungen  des  neuen  Rechts  auferlegt.  Es  ver- 
folgt darüber  hinaus  den  Zweck,  das  Institut  mit  dem  modernen 


begann,  dann  nach  auswärts  ging,  meiner  als  seines  „hochverehrten 
Lehrers"  in  der  Vorrede  gedächte.  Die  Verantwortung  für  die  Art  ihrer 
Ausführung  muß  ich  ablehnen.  Wie  diese  ausgefallen  ist,  dafür  nur  ein 
Beispiel :  der  Verf.  erörtert  die  Bevölkerungsabnahme  in  manchen  Kreisen 
des  Ostens  und  meint  (S.  41):  „Wir  sind  geneigt,  den  Rückgang  der  Be- 
völkerung nicht  auf  Konto  der  Gutsbezirke,  sondern  der  Landgemeinden 
zu  setzen,  welche  beide  bei  dieser  Betrachtung  nicht  zu  trennen  waren,  d  a 
hier  jedes  amtliche  Material  versagt."  Diese  Bemerkung  ist 
seitens  des  Verf.  ein  starkes  Stück.  Aus  dem  Gemcindelexikon,  auf 
welches  der  Verf.  von  mir  hingewiesen  war  und  welches  er  S.  12 
selbst  zitiert,  können  nicht  nur  jene  Zahlen  getrennt  festgestellt,  sondern 
die  Bewegung  der  Bevölkerung  für  jede  einzelne  Gemeinde- 
cinheit,  auch  jedes  Fideikommißgut,  ermittelt  werden,  und  eben  diese 
mühsame,  —  dem  Verf.  zu  mühsame  — ,  aber  unter  Umständen  recht 
lohnende  Aufgabe  hatte  ich  ihm  s.  Z.  gestellt.  —  Ich  meinerseits  mußte 
mich,  da  ich  zur  Zeit  mit  weit  abliegenden  anderen  Arbeiten  befaßt 
bin,  nachstehend  meist  mit  der  Verwertung  einigen  Zahlenmaterials 
begnügen,  welches  ich  vor  Jahren  zum  Zweck  einer  größeren  agrarstatis- 
tischen  Arbeit  über  den  landwirtschaftlichen  Kapitalismus  zusammen- 
gestellt bzw.  überwiegend  selbst  errechnet  hatte.  Wenn  ich  auf  diese 
Arbeiten  demnächst  einmal  zurückkomme ,  hoffe  ich  dasselbe  zu  er- 
gänzen. Wie  lückenhaft  es  ist,  empfinde  ich  selbst  am  peinlichsten.  Mehr 
als  illustrativen  Wert  haben  meine  Zahlen  nicht.  —  Die  Fideikommiß- 
statislik  knüpft  an  die  Arbeiten  Evcrts  (Z.  des  preuß.  Stat.  Bureaus  1897 
S.  I  f.)  und  Kuhnerts  (das.  1902  S.  134  f.)  an,  durch  welche  die  älteren 
bahnbrechenden  Leistungen  Conrads  heute  meist,  jedoch  keineswegs 
in  allen  Punkten,  überholt  sind. 

Wirklich  schlüssige  neue  Ergebnisse  Uber  die  Wirkung  der  Fideikommisse 
könnten  nur  umfassende,  auf  gründlicher  langdauernder  Autopsie  und 
historischen  Studien  beruhende  Spczial arbeiten  über  die  hauptsächlichen 
Fideikommißdistrikte  in  Verglcichung  mit  anderen  geben,  vorausgesetzt, 
daß  die  nötige  Unbefangenheit  des  Arbeiters  außer  Zweifel  steht. 
Heute,  wo  feststeht,  „was  herauskommen  wird",  sind  solche  Arbeiten, 
wenn  amtlich  unterstützt,  nach  allen  Erfahrungen  schwerlich  noch  zu 
gewärtigen. 


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Agrarstatistische  u.  sozialpolit  Betrachtungen  zur  Fideikoramißfragc  in  Preußen.  505 

„Rechtsempfinden"  so  weit  in  Einklang  zu  bringen  —  als  dies  eben 
möglich  ist;  und  endlich  wird  —  wie  wir  noch  sehen  werden  — 
ganz  offensichtlich  beabsichtigt,  das  Institut  zu  propagieren  und  des- 
halb insbesondere  durch  Schaffung  unzweideutiger  einheitlicher  und 
privatwirtschaftlich  zweckmäßiger  Rechtsnormen  die  Fideikommiß- 
interessenten  zu  deren  Benutzung  zu  ermutigen  und  ihnen  jede 
etwaige  Besorgnis  zu  benehmen,  es  könne  eines  Tages  gegen  das 
ganze  Institut  gesetzlich  vorgegangen  werden. 

Die  für  uns  wesentlichsten  Bestimmungen  des  245  Paragraphen 
umfassenden  Entwurfes  sind  in  summarischstem  Auszug  die  folgen- 
den: Jede1)  neue  Errichtung  von  Fideikommissen  soll  künftig 
königlicher  Genehmigung  unterliegen,  Erweiterungen  bestehender 
Fideikommisse  um  Grundstücke  von  mehr  als  10000  Mark  Wert 
nur  ebenso,  andere  mit  ministerieller  Genehmigung  zulässig  sein. 
Die  wichtige  Bestimmung  über  den  bei  der  Errichtung  fälligen 
Fideikommißstempel  fehlt  noch.  Gegenstand  fideikommissarischcr 
Bindung  soll  nur  ein  der  Hauptsache  nach  land-  oder  forstwirt- 
schaftlich genutztes  Grundstück  sein  können,  andere  Vermögens- 
gegenstände nur  als  Zubehör  eines  solchen,  Kapitalien  nur  als 
eine  mit  landwirtschaftlichen  Grundbesitz  verbundene  Kapital- 
stiftung, insbesondere  als  Meliorationskapital  (Verbesserungsmasse), 
als  Abfindungs-  und  Austattungsstiftung  für  die  Angehörigen  des  Be- 
sitzers (s.  u.),  sonst  aber  nicht  in  einer  den  hundertfachen  Betrag  des 
Jahreseinkommens  aus  dem  landwirtschaftlichen  Besitztum  über- 
steigenden Höhe.  Das  Fideikommißgut  muß  ein  Einkommen  von 
mindestens  10000 2)  Mark  (nach  Abzug  aller  Jahresleistungen)  aus 
dem  landwirtschaftlichen  Grundbesitz  nachhaltig  zu  gewähren  im- 
stande sein,  davon  mindestens  5000  Mark  aus  einer  ein  wirtschaft- 
liches Ganze  bildenden  Besitzung,  und  es  dürfen  ferner  die  für 
Schuld,  Zinsen  und  Amortisation,  für  Abgaben  und  gesetzliche 
Verpflichtungen  des  Besitzers,  auch  solche,  die  der  Gesetzentwurf 
ihm  auferlegt,  aufzubringenden  Beträge  nicht  mehr  als  die  Hälfte 
des  Ertrages  des  Grundbesitzes  in  Anspruch  nehmen.8)    Die  Fidei- 


*)  Bisher  nach  dem  Prcuß.  Landrecht  nur  bei  mehr  als  30000  Mk.  Ertrag  und 
Erweiterung  bestehender  Fideikommisse  über  diesen  Betrag  hinaus.  In  Hannover 
bestand  kein  Gcncbmigungserfordernis. 

')  Bisher  nach  Landrecht  7500  Mk.  einschließlich  Kapitalzinsen,  in  Hannover 
3600  Mk. 

')  Ähnlich,  jedoch  im  einzelnen  abweichend,  A.LR.  II  4  §  51  f. 

33* 


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5o6 


Max  Weber, 


kommißerbfolge  ist  stets  agnatische  Primogenitur-Erbfolge,1)  vor- 
behaltlich bestimmter  Fälle  der  Anwartschaftsunwürdigkeit.  Die 
Verfügungsgewalt  des  Fideikommißinhabers  ist  nicht  unerheblich  er- 
weitert. Nach  dem  preußischen  Landrecht  bedarf  es  in  allen  Fällen 
der  Veränderung  der  Substanz  des  Fideikommißgutes,  bei  Abverkauf, 
Verpfändung  oder  sonstiger  Belastung,  eines  von  der  Fideikommiß- 
behörde  aufzunehmenden  und  zu  bestätigenden  einstimmigen  Familien- 
schlusses. Ohne  einen  solchen  ist  eine  Verschuldung  nur  in  be- 
stimmten Fällen  einer  genau  umschriebenen  unverschuldeten  außer- 
ordentlichen Notlage  zur  Erhaltung  des  Fideikommisses,  oder  nach 
Maßgabe  des  Landeskulturrentenbank-Gesetzes  usw.,  Abveräußerung 
nur  bei  Enteignung  und  bei  kleineren  Parzellen  nach  Maßgabe 
der  Rentengutsgesetzgebung  möglich.  Der  Entwurf  setzt  außer 
für  Fälle,  welche  direkt  den  Bestand  des  Fideikommisses  überhaupt 
oder  in  seiner  bisherigen  Beschaffenheit  berühren,  an  die  Stelle 
des  Familienschlusses  die  (in  gewissen  Fällen  der  Genehmigung  der 
Fideikommißbehörde  bedürftige)  Zustimmung  des  Familienrates, 
der  von  der  Fideikommißbehörde  nach  bestimmten  Regeln  aus  der 
Reihe  der  Familienmitglieder  zu  bestellen  ist.  Dies  gilt  namentlich  für 
Belastungen,  —  die  daneben  einmal  regelmäßig  an  eine  Verschuldungs- 
grenze (2/g  des  Ertragswerts)  und  ferner  an  bestimmte  begrenzte 
Voraussetzungen  (nachhaltige  Verbesserungen,  öffentliche  Pflichten) 
geknüpft  sind  — ,  für  die  an  ähnliche  Voraussetzungen  geknüpfte  Ver- 
äußerung „kleinerer  Teile"  des  Besitztums,  ferner  auch  für  die  Auf- 
stellung der  für  Forsten  und  Bergwerke  vorgeschriebenen  Wirt- 
schaftspläne und  für  die  Kapitalanlage.  Er  gestattet  dem  Fidei- 
kommißbesitzer  in  den  wichtigsten  Fällen  einer  grundlosen  Ver- 
weigerung, diese  Zustimmung  durch  Anrufung  der  Fideikommiß- 
behörde ergänzen  zu  lassen.  Der  Abschluß  von  Pachtverträgen  auf 
kürzere  Zeit  (6  Jahre)  und  von  Arbeitsverträgen  wird  dem  Fidei- 
kommißbesitzer  in  Abänderung  des  geltenden  Rechts  auch  ohne 
Konsens  mit  Wirkung  gegen  den  Nachfolger  gestattet  und  für  die 
regelmäßigen  Verwaltungsgeschäfte  bleibt  er  von  jeder  Genehmigung 
entbunden,  die  also  nur  für  wesentliche  Umgestaltungen  der  Wirtschaft 
(z.  B.  Ubergang  zur  Weidewirtschaft  u.  dgl.)  erforderlich  ist.  Der 
Fideikommißbesitzer  ist  —  eine  wichtige  und,  wie  anzuerkennen 
ist,  sehr  wertvolle  Neuerung  im  Anschluß  an  das  allerdings  vom 
Entwurf   in    nicht  durchweg   zweckmäßiger   Weise  abgeänderte 


')  Nach  A.L.R.  entschied  bisher  die  Verfügung  des  Stifters. 


Agrarslatistischc  u.  sozialpoHt.  Betrachtungen  zur  Fideikommißfrage  in  Preußen.  507 

sächsische  Institut  der  Familienkasse J)  —  verpflichtet,  aus  den  Ein- 
künften des  Fideikommisses  3  verschiedene  Kapitalfonds  aufzu- 
sammeln, sofern  nicht  schon  der  Stifter  dieselben  in  einer  bestimmten 
Minimalhöhe  mitgestiftet  hat.  Zur  Ausstattung  und  zur  Abfindung 
bedürftiger  und,  wenn  die  Mittel  reichen,  auch  anderer  Familien- 
angehöriger bestimmterVerwandtschaftsgrade  soll  je  eine  Ausstattungs- 
und eine  Abfindungsstiftung  errichtet  und  durch  jährliche  Beiträge 
von  mindestens  \'Ä  des  Jahreseinkommens  bis  zur  Erreichung  eines 
in  „angemessener"  Höhe  vom  Stifter,  evtl.  von  der  Behörde,  festzu- 
setzenden Höchstbetrages  der  Kapitalien  gespeist  werden.  Daneben 
ordnet  der  Entwurf  die  Ansammlung  einer  „Verbesserungsmasse"  an, 
für  welche  in  „angemessener"  Höhe  und  bis  zur  Erreichung  des  auf  das 
Hundertfache  des  Fideikommißeinkommens  festgesetzten  Höchst- 
betrages Beiträge  vom  Besitzer  zu  leisten  sind.  Sie  soll  regelmäßig  nur 
für  Erhaltung  und  nachhaltige  Verbesserung  des  Fideikommißgutes 
Verwendung  finden  dürfen.  Die  Bestimmung  über  die,  wie  aus 
dem  allem  hervorgeht,  höchst  einflußreiche  Fideikommißbehörde 
fehlt  noch.  Als  unbedingt  souveränes  höchstes  Organ  bleibt  endlich 
die  zum  „Familienschluß"  versammelte  Familie,  welche  alles,  auch 
die  Auflösung  des  Fideikommisses  beschließen  kann,  bestehen. 

Uns  interessiert  nun  hier  von  dem  Inhalt  des  Entwurfes  nur 
sein  Gehalt  an  sozialpolitisch  (im  weitsten  Sinne  des  Worts) 
bedeutungsvollen  Bestimmungen.  Deshalb  bleiben  die  bloß  technisch 
juristischen  Vorschläge  und  ferner  diejenigen  außer  Erörterung, 
welche  die  Sicherung  der  Interessen  der  Fideikommißanwärter  und 
Familienmitglieder  bezwecken.2)  Irgend  welche  „ethische"  Sentimen- 
talität in  bezug  auf  ihr  Schicksal  wäre  übrigens  wenig  am  Platze. 
Sie  sind  damit  nicht  so  unzufrieden,  wie  oft  geglaubt  wird.  Mit 
gutem  Grund :  sie  betrachten,  und  mit  Recht,  die  Zugehörigkeit  zur 
Familie  des  Besitzers  als  Chance  ersten  Ranges  für  die  Bcamten- 

v,  Iber  diese  uns  hier  weniger  interessierenden  Fragen  s.  v.  Koller  in  der  „Kreuz- 
zeitung" 1903  Nr.  383  fr. 

s)  In  dieser  Hinsicht  ist  die  weitgehendste  Bestimmung  des  Entwurfes  der 
Vorschlag,  dem  Familienrat  —  nach  eingeholter  Zustimmung  der  Fideikommißbehörde  — 
die  Befugnis  zu  geben,  vom  Besitzer  Rechnungslegung  über  das  Vermögen  zu  verlangen 
(§  22).  Wenn  Sering  und  andere  diese  Bestimmung  für  Uberflüssig  oder  gar  gegen  die 
„Würde"  des  Fideikommiübesitzcrs  verstoßend  halten,  so  wird  jeder,  der  einmal 
praktisch  die  Interessen  von  Fidcikommißanwärtcm  zu  vertreten  hatte,  sie  für  die  ein- 
zige halten,  die  zu  einer  materiellen  Sicherung  der  Interessen  derselben  führen 
kann.    Alle  anderen  Rechte  funktionieren  stets  erst,  wenn  es  zu  spät  ist. 


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508  Max  Web 

karriere.  Diese  Anweisung  auf  die  „Staatskrippe"  ist  ja  eins  der 
wesentlichsten  Momente,  die  der  Stifter  von  jeher  in  Betracht  zog  und 
künftig,  nach  den  Aussichten,  welche  die  Motive  (S.  13)  eröffnen, 
erst  recht  Anlaß  hat,  in  Betracht  zu  ziehen. 

Von  den  uns  interessierenden  Bestimmungen  des  Entwurfes 
fällt  als,  wenn  auch  praktisch  unwichtig,  so  doch  charakteristisch, 
zunächst  die  (scheinbare)  Unterdrückung  des  G  e  1  d  -Fideikommisses 
und  die  (ebenfalls  scheinbare)  Beschränkung  der  Fideikommisse  auf 
land-  und  forstwirtschaftlich  benutzten  Boden  auf,  welche  die  Motive 
(S.  18)  mit  pathetischen,  aber  sachlich  gehaltlosen,  Worten  begründen. 
Nun  ist  das  reine  Geldfideikommiß  von  praktisch  geringer  Bedeutung. 
Sieht  man  aber  näher  zu,  so  unterdrückt  der  Entwurf  auch  gar  nicht, 
wie  es  scheinen  könnte,  die  Kapitalanhäufung,  auch  nicht  die  An- 
häufung städtischen   oder  bergbaulich  oder   industriell  genutzten 
Bodens  in  Fidcikommißform  —  die  Kapitalanhäufung  erzwingt 
er  vielmehr  geradezu  —  sondern  er  gibt  lediglich  den  ländlichen 
Grundbesitzern  das  Monopol,  nicht  nur  ländlichen  Boden,  sondern 
Boden  jeder  Art  und  Kapitalien  in  sehr  bedeutendem  Umfange 
fideikom missarisch  zu  akkumulieren.    Das  Fideikommiß  soll  also 
lediglich  agrarisches  Sonderrecht  landsässiger  Kapitalisten  sein.1) 
Vergegenwärtigen  wir  uns  also,  welche  Rolle  heute  die  Fidei- 
kommisse in  der  preußischen  Agrar Verfassung  spielen. 

I. 

Die  Fideikommißbildung  hat,  nachdem  das  Verbot,  welches 
noch  die  Verfassung  von  1850  enthält,  bereits  1851  wieder  auf- 
gehoben war,  seitdem  ganz  erhebliche  Fortschritte  gemacht  und 
macht  sie  noch.  Über  die  Hälfte  (599  von  11 19)  der  preußischen 
Fideikommisse  sind  in  den  letzten  50  Jahren  neu  entstanden,  davon 
freilich  ein  Bruchteil  —  nicht  ganz  ein  Drittel  —  durch  Umwand- 
lung von  Lehen  in  Fideikommisse.  Die  Zahl  der  X  e  u  gründungcn 
(also  exkl.  Lehenumwandlungen)  hat  sich  1880 — 95  gegen  1850— 80 

')  Mit  einem  Rittergut  im  Werte  von  300000  Mk.  z.  H.  können  eventuell 
neben  Bergwerken  und  Fabriken  auch  Kapitalstiftungen  von  über  3  Millionen  Mk. 
verbunden  werden.  Man  kann  also  die  Bestimmungen  des  Entwurfs  kurz  auch  dahin 
formulieren:  „Wer  Kapitalien  durch  fideikommissarischc  Bindung  nobilitieren  will, 
muß  '/,0  davon  in  ländlichem  Grundbesitz  anlegen  und  bestimmte  Teile  derselben  für 
Ausstattung  und  Abfindung  von  Angehörigen  sowie  als  „Verbesscrungsmassc"  für 
speziell  landwirtschaftliche  Zwecke  festlegen."  —  Diese  Formulierung  bringt  das, 
was  der  Entwurf  will,  ungeschminkter  zum  Ausdruck. 


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Agrarstatistischc  u.  sozialpolit  Betrachtungen  zur  Fideikomraißfrage  in  Preuflen.  509 

in  den  östlichen  Provinzen  nur  in  Posen  und  Westpreußen  (aus 
politischen  Gründen)  nicht  vermehrt,  sonst  in  allen.  In  Schlesien 
und  Brandenburg  ist  in  den  15  Jahren  1880 — 95  mehr,  —  in 
Schlesien  um  über  1L  mehr  —  Boden  neu  gebunden  worden  als  in 
den  30  Jahren  1850 — 80.  Aber  auch  in  der  letzten  Zeit  schreiten 
die  Fideikommißbildungen  —  und  zwar  im  ganzen  mit  der  Tendenz 
zur  Beschleunigung,  nicht  zur  Verlangsamung  —  vorwärts,  wie  die 
Nachweisungen  für  die  Jahre  1895 — 1900  ergeben.  In  diesen  Jahren 
ist  die  Fideikommißfläche  um  3,58  Proz.  gestiegen.  Der  Zuwachs 
dieser  5  Jahre,  75000  ha,  umfaßt  eine  Fläche,  die  von  der  Durch- 
schnittsfläche eines  ganzen  Landkreises  nur  in  wenigen  Regierungs- 
bezirken mit  sehr  ungünstigem  Boden  übertroffen  wird.  Es  finden 
sich  unter  den  preußischen  Landkreisen  10,  welche  hinter  dem 
bloßen  Jahreszuwachs  z.  B.  des  Jahres  1898  allein  (24098  ha) 
zurückbleiben.  Die  heute  bestehenden  Fideikommisse  umfaßten 
1900:  2177000  ha  oder  1 ,6  des  gesamten  Staatsgebietes. 
Städte,  Wege,  Wässer,  Moore,  Öd-  und  Unland  eingerechnet,  eine 
Fläche,  welche  diejenige  der  Provinz  Westfalen  er- 
heblich übertrifft.  In  33  Kreisen  waren  über  1  Ä,  in  6  über  40  Proz. 
der  Fläche  gebunden.  Den  Höchststand  weist  die  Provinz  Schlesien 
auf.  Von  den  26  Kreisen  mit  je  mehr  als  20000  ha  Fideikommiß- 
fläche  gehören  1 7  der  Provinz  Schlesien,  3  der  Provinz  Sachsen  an, 
also  denjenigen  Provinzen,  in  welchen  der  rein  kapitalistische 
Charakter  des  landwirtschaftlichen  Großbetriebes  am  konsequentesten 
entwickelt  ist  und  speziell  in  ihrer  Arbeitsverfassung  am  deutlichsten 
hervortritt 

Sieht  man  sich  nun  die  B  o  d  e  n  kategorien  an,  welche  die 
Fideikommißbildung  mit  Vorliebe  ergreift,  so  zeigt  sich,  daß  zu- 
nächst der  Waldboden  in  besonders  hohem  Grade  zur  Fidei- 
kommißbildung neigt.  Etwa  46  Proz.  der  Fideikommißfläche  sind 
Waldungen.  Zwar  wäre  es  eine  starke  Übertreibung,  wenn  man 
behaupten  wollte  —  wie  es  früher  geschah  — ,  daß  das  Fidei- 
kommiß in  erheblichem  Maße  einer  drohenden  Entwaldung  steuere. 
In  waldarmen  Kreisen  teilen  auch  die  Fideikommisse  diese  Eigen- 
schaft. Und  selbstverständlich  ist  die  Existenz  jener  46  Proz.  Wald- 
bestände nicht  Folge  der  Fideikommißeigenschaft  des  Bodens, 
sondern  umgekehrt :  die  Eigenart  der  Forstwirtschaft  —  Länge  der 
Umschlagsperiode  und  (relative)  Bedeutungslosigkeit  des  Betriebs- 
kapitals —  drängt  speziell  den  Waldboden  der  fideikommissarischen 
Bindung  zu.   Aber  immerhin  ist  die  Chance,  daß  Walddevastationen 


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JIO  Max  Weber, 

unterbleiben,  bei  Fideikommißen  doch  wohl  eine  relativ  starke  und 
es  entspricht  den  allgemeinen  Erfahrungen,  daß  die  dem  feudalen 
Empfinden  von  jeher  eigene,  kultur-  und  wirtschaftsgeschichtlich 
so  höchst  wichtige  Freude  am  Walde  der  Qualität  der  Fidei- 
kommißwälder  zugute  kommt.  Auch  die  hohen  Durchschnitts- 
reinerträge der  Holzungen  in  manchen  Fideikommißkreisen *) 
sprechen  vielleicht,  soweit  es  sich  um  alte  Fideikommisse  handelt, 
dafür,  obwohl  natürlich  im  allgemeinen  das  Kausalverhältnis  so 
liegt,  daß  gerade  die  besseren  Waldlagen  fideikommissarisch  ge- 
bunden wurden.2)  —  Wie  steht  es  nun  mit  dem  landwirt- 
schaftlich nutzbaren  Boden? 

Die  amtlichen  Publikationen  ergeben,  daß  auch  hier  die  Fidei- 
kommisse die  von  Natur  (oder  durch  Marktnähe)  besser  ausge- 
statteten Bodenlagen  im  allgemeinen  bevorzugen,  und  zwar  da, 
wo  dies  näher  ersichtlich  ist,  in  ganz  auffallender  Weise.3)  Natürlich 
muß  man  hier  zwischen  den  Fideikommissen  alten  Bestandes,  die 
aus  großen  Lehngütern  hervorgegangen  sind,  welche  naturgemäß 
vorzugsweise  den  Verkehrs  ferneren  rein  agrarischen  Gebieten  an- 
gehörten, und  denjenigen  neueren  Fideikommißbildungen  unter- 
scheiden, welche  im  Laufe  der  letzten  Jahrzehnte  vorgenommen 
worden  sind.  Was  aber  diese  letzteren  anlangt,  so  bestätigt  eine 
speziellere  Untersuchung  der  Grundsteuerreinerträge  des  landwirt- 
schaftlichen Bodens,  wie  sie  mit  Hilfe  des  Gemeindelexikons  und 


')  Zu  vergleichen  etwa  die  starke  Differenz  zwischen  den  Reinerträgen  der 
Holzungen  der  Gutsbezirke  gegenüber  den  Dörfern  im  Fidcikommißkreisc  Militsch 
gegenüber  dem  Nachbarkreis  Guhrau. 

*)  Dies  tritt  z.  B.  in  der  gegen  den  Nachbarkreis  Guhrau  besonders  niedrigen 
Qualität  der  Bauernwälder  im  Fideikommißkreisc  Militsch  hervor. 

»)  Wo  immer  der  Grundsteuerreinertrag  des  gebundenen  Bodens  hinter  dem 
Durchschnitt  zurückbleibt,  handelt  es  sich  um  alte  Forstbestände.  Wo  dies  nicht 
der  Fall  ist,  steht  der  durchschnittliche  Reinertrag  der  Fideikommisse  höher,  teil- 
weise ganz  erheblich  höher  als  der  Durchschnitt.  So  betrug  er  z.  B.  per  ha  in  Mk. 
in:  Königsberg  9,13  (gegen  7,47  durchschnittlich),  Potsdam  10,26  (gegen  9,84), 
Stettin  13,68  (gegen  11,12),  Schleswig  24,22  (gegen  19,69),  Hannover  22,36  (gegen 
13,32!),  Stade  41,16  (gegen  21,22 !),  Wiesbaden  23,75  (ßegen  16,71),  Düsseldorf 
32,73  (gegen  29,20).  Man  sieht,  daß  überall  speziell  die  Nähe  großer  Kapital- 
zentren (Berlin,  Hamburg,  Hannover,  Frankfurt,  Rheinland)  die  Qualität  des  ge- 
gebundenen Bodens  in  die  Höhe  treibt.  Mit  steigender  Kapitalkraft  wird  es  natür- 
lich in  steigenderem  Maß  geschehen,  daß  das  Anlage  und  Nobilitierung  suchende 
Kapital  sich  den  besten  Boden  wegfischt  und  den  schlechten  den  Bauern  läßt. 


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Agrarstatistischc  u.  sozialpolit.  Betrachtungen  zur  Fideikommißfragc  in  Preußen.  511 

der  Handbücher  des  Grundbesitzes  möglich  ist,  jene  Beobachtung, 
daß  die  Fideikommisse  gute  Bodenlagen  bevorzugen,  im  ganzen  — 
denn  natürlich  kreuzen  sich  allerhand  „Zufälligkeiten"  des  gegebenen 
Besitzstandes  damit  —  auf  das  eklatanteste.1)  Und  zwar  scheint  es, 
daß  dies  im  Laufe  der  letzten  Zeit  im  ganzen  in  steigendem  Maße 
der  Fall  ist,  wie  dies  auch  für  die  Jahre  1895 — 1900  die  amtlichen 
Publikationen  bestätigen.  Das  Fideikommiß  sucht  den  Boden,  der 
Grundrente,  und  möglichst  hohe  und  risikofreie  Grundrente,  trägt. 
Es  ist,  soweit  es  nicht  früheres  Lehngut  ist,  eine  spezifisch  modern- 
kapitalistische Form  der  Renten  bildung,  ganz  ebenso  wie  die  ver- 
zinslichen Wertpapiere.*)  Im  Vaterlande  der  modernen  kapitalisti- 
schen Landwirtschaft  —  England  —  ist  diese  seine  Funktion :  Schei- 
dung von  Bodenbesitz  und  Betrieb,  von  Rente  und  Unternehmerrisiko, 
am  gründlichsten  durchgeführt.    Es  erwächst  überall  aus  dem  Ver- 


')  Durch  Stichproben  bei  Neugründungen  leicht  zu  erweisen.  —  Eis  wird  im 
ganzen  nicht  der  allerbeste  Boden  gebunden  —  er  ist  zu  teuer,  weil  nur  durch 
sehr  intensive  Kultur  voll  zu  verwerten  und  vor  allem  ist  grade  hier  der  Brutto- 
stcmpcl  von  3  Proz.  bisher  störend  —  sondern  etwa  die  Garnitur  „Ib".  Schlechter 
Boden  gehört  zu  Fidcikommisscn  in  irgend  beträchtlichem  Umfang  nur,  wenn  sie 
alte  Fideikommisse  —  frühere  Lehen  usw.  —  sind. 

*)  Wenn  Scring  a.  a.  O.  die  Anhänger  einer  Ausdehnung  der  Fideikommisse 
als  „Freunde  einer  antikapitalistischen  Agrarreform1',  ihre  Gegner  als  Vertreter  des 
„kapitalistischen  Standpunkts"  bezeichnet,  so  ist  eigentlich  das  Bedauerlichste  daran, 
daß  er  selbst  —  wie  jeder  der  ihn  kennt,  weiß  —  an  die  Bedeutung  solcher  ganz 
inhaltsleeren  Wendungen  aufrichtig  glaubt.  Wenn  der  Minister  v.  Miquel  solche 
Wendungen  zu  politischen  Rcklamezwecken  verwendete,  so  wußte  er,  daß  er  die 
Phrase  in  seinen  Dienst  nahm,  wenn  Nationalükonomen  sie  aussprechen,  so  ist  das 
Dienstverhältnis  das  umgekehrte.  —  Man  kann  nur  bedauern,  daß  z.  B.  auch  in  der 
Frage  des  ländlichen  Erbrechts  mit  solchen  Mitteln  gearbeitet  worden  ist.  Auch 
wer  selbst  stets  durchaus  der  Meinung  gewesen  ist,  daß  sich  für  Gebirgsgegenden, 
marktferne  Gebiete,  Uberhaupt  von  Fall  ru  Fall  sehr  wohl  über  die  Zweckmäßig- 
keit einer  Änderung  im  Erbtax verfahren  und  über  die  Anordnung,  daß  dort  bäuerlicher 
Besitz  in  dubio  —  d.  h.  mangels  Testament  —  ohne  Teilung  unter  Zugrundelegung 
des  „Ertragswerts"  vererbt  werden  solle,  reden  lassen  würde,  ja  daß  es  Fälle  gebe,  wo 
geschlossene  Hofgütcr  ihre  Berechtigung  haben  können,  mußte  durch  die 
widerliche  Miquelschc  Reklame,  welche  solche  nach  lokalen  Verhältnissen  rein 
sachlich  zu  diskutierenden  Maßregeln  der  Erbrechts  t  e  c  h  n  i  k  unter  den  pompösen 
und  in  diesem  Zusammenhang  lächerlichen  Gesichtspunkt  eines  „Kampfes  gegen  den 
Kapitalismus"  stellte,  zum  Protest  gereizt  werden.  Ein  „Kampf  gegen  den  Kapitalis- 
mus" auf  agrarischem  Gebiet  sähe  anders  aus  als  die  Stümpereien,  die  heute  sich 
als  ein  solcher  gebärden. 


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512 


Max  Weber, 


such,  zugleich  dem  Venvertungsinteresse  des  Kapitals  und  den 
Interessen  sozial  herrschender  Schichten  an  einem  relativ  stabilen 
„standesgemäßen"  Einkommen  Raum  zu  schaffen.  Es  ist  die  Form, 
in  welcher  „satte"  kapitalistische  Existenzen  ihren  Erwerb  aus  der 
stürmischen  See  des  ökonomischen  Kampfes  in  den  Hafen  eines 
„Otium  cum  dignitate"  —  einer  briefadligen  Rentnerexistenz  —  zu 
retten  pflegen.  Es  fühlt  sich  daher  am  wohlsten  da,  wo  guter  Boden 
und  Großgrundbesitz  zusammentreffen  mit  einer  starken  bergbau- 
lichen oder  industriellen  Entwicklung,  welche  (wie  in  Schlesien) 
Kapital  für  die  Anlage  in  Grund  und  Boden  „ausschwitzt",  zumal, 
wenn  gleichzeitig  niedrige  Arbeitslöhne  einer  proletarisierten  und 
dennoch  —  durch  Parzellenbesitz  —  an  den  Boden  gefesselten  Land- 
arbeiterschaft (wie  wiederum  in  Schlesien)  die  dauernde  Erzielung 
hoher  Grundrenten  gewährleistet.1)  Die  schlechten  —  d.  h.  die 
rentelosen  —  Böden  meidet  es.  Die  Kreise  mit  den  ungünstigsten 
Bodenverhältnissen  im  Osten  wiesen  1897  überhaupt  keine  Fidei- 
kommisse  auf,  und  die  von  den  Freunden  des  Instituts  früher  ver- 
breitete Legende,  das  Fideikommiß  sei  das  geeignete  Mittel,  auf 
schlechtem  Boden  den  Großbesitz  und  Großbetrieb  als  „Träger 
der  Kultur"  zu  erhalten,  ist  —  solange  man  die  Bindung  besserer 
Böden  nicht  gesetzlich  verbieten  will  —  ein  für  allemal  gründ- 
lich zerstört.  Vielmehr  zeigen  die  Tatsachen,  daß  die  Fideikommisse 
gerade  diejenigen  Boden  zu  okkupieren  trachten,  welche  infolge 
ihrer  Eignung  für  intensive  Betriebsformen,  der  Entwicklung  zur 
Verkleinerung  der  Betriebe  zustreben  müßten  oder,  nach  der 
offiziös-preußischen  Theorie  von  der  „glücklichen  Mischung"  der  Be- 
triebsgrößen, für  bäuerliche,  speziell  „groß bäuerliche"  Existenzen 
die  Unterlage  bilden  könnten,  während  sie  die  schlechten,  angeblich 
nur  in  Großbetrieben  zu  bewirtschaftenden,  Bodenklassen  ihrem 
Schicksal,  das  heißt  der  Besiedelung  durch  rentelose  Wirt- 
schaften, speziell  im  Osten  mehr  oder  minder  stark  naturalwirtschaft- 
liche (namentlich  polnische)  Parzellcnbauern,  überlassen.  In  wesent- 
lich gesteigertem  Maße  wird  dies  natürlich  der  Fall  sein  nach  dem 
etwaigen  Inkrafttreten  der  neuen  Getreidezölle,  die  ja  —  ent- 
sprechend der  Maxime  jedes  Hochprotektionismus:  „wer  da  hat, 
dem  wird  gegeben"  —  speziell  die  Grundrente  der  besten,  der 
VVeizenböden  in  die  Höhe  schrauben  und  speziell  diese  dadurch 
noch  mehr  „fideikommißfähig",  machen. 

')  Die  „günstigen  Abeiterverhältnisse"  haben  hier  bei  der  Grundsteuerbonitie- 
rung  ebenso  wie  bei  den  im  Bodenverkehr  gezahlten  Preisen  ihre  Rolle  gespielt.. 


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Agrarstatistische  u.  sozialpolit.  Betrachtungen  zur  FiJcikommiöfragc  in  Preußen.  513 


Die  Frage:  wie  wirkt  nun  diese  in  großen  Gebieten  schon 
ganz  außerordentlich  vorgeschrittene  fideikommissarische  Bindung  des 
landwirtschaftlich  genutzten  Bodens  ökonomisch  und  sozialpolitisch? 
ist  von  den  Motiven  auf  6  Seiten  in  ganz  und  gar  unzulänglicher 
Weise  behandelt.  Ehe  dazu  Stellung  genommen  wird,  einige 
„theoretische"  Vorbemerkungen. 

Von  den  verschiedenen  Gesichtspunkten,  unter  denen  man  eine 
Agrarverfassung  beurteilen  kann,  kommen,  soweit  sie  in  quantitativen, 
der  Messung  zugänglichen,  äußeren  Massenerscheinungen  ausdrückbar 
sind,  zunächst  drei  in  Betracht,  nämlich:  1.  das  Produktions- 
interesse :  möglichst  viel  Erzeugnisse  von  einer  gegebenen  Fläche,  — 
2.  das  populationistische  Interesse:  viel  Menschen  auf  einer 
gegebenen  Fläche,  —  3.  das  —  um  es  einmal  ad  hoc  so  zu  nennen 
—  „sozialpolitische"  *) :  möglichst  umfassende  und  gleichmäßige  Ver- 
teilung des  Besitzes  a  n  einer  gegebenen  Fläche.  Soweit  das  platte 
Land  in  Betracht  kommt,  sind  die  beiden  Interessen  zu  2  und  3, 
im  allgemeinen  wenigstens,  in  bester  Harmonie  miteinander, 
während  wenigstens  bezüglich  der  Getreide produktion  beide 
mit  dem  Produktionsinteresse  vielfach  kollidieren.  Es  besteht  nicht 
der  mindeste  Zweifel,  daß,  wenn  es  sich  um  die  Erzeugung  von 
möglichst  viel  Getreide  von  der  gegebenen  Fläche  handelt, 
mindestens  alle  mittleren  und  kleineren  bäuerlichen  Besitz-  und  Be- 
triebseinheiten schlechterdings  vom  Übel  sind,  und  wer  die  Deckung 
des  deutschen  Getreidebedarfs  durch  inländische  Produktion  an- 
strebt —  sei  es  auch  nur  als  ideales  Ziel  —  muß  für  deren  Be- 
seitigung, damit  aber  f  ü  r  die  Schärfung  der  sozialen  Gegensätze  auf 
dem  Lande  und  für  die  numerische  Schwächung  der  Landbevöl- 
kerung eintreten  und  er  betrügt  andere  oder  sich,  wenn  er  dies 
verschweigt.  Hier  gibt  es  kein  „sowohl  als  auch",  sondern  wenn 
man  den  technisch  leistungsfähigsten  Groß  betrieb  künstlich  stützen 
will,  so  muß  man  insoweit  die  dauernde  Verdünnung  der  an- 
sässigen Landbevölkerung  wollen.  Und  zwar  würde,  je  kapital- 
intensiver die  Wirtschaft  betrieben  werden  soll,  desto  mehr  sich 
die  Bevölkerung  zuungunsten  wenigstens  der  relativen  Be- 
deutung, oft  auch  der  absoluten  Zahl,  der  Landbevölkerung  ver- 
schieben. Denn  desto  mehr  wird  e  i  n  Teil  des  „Ertrags  des  Gutes" 
in  Wahrheit  in  den  Kaligruben,  Thomas-Hochöfen,  Maschinenwerk- 
stätten etc.  der  industriellen  Gebiete  produziert  und  ein  anderer 

')  Es  soll  damit  hier  noch  gar  kein  Werturteil  zuguusten  dieses  Gesichts- 
punktes kaptiviert  werden. 


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SU 


Max  Weber, 


durch  Saisonarbeiter,  die  auf  dem  Gut  nicht  ansässig  sind,  er- 
zeugt, desto  weniger  also  bleibt  —  relativ  —  Raum  für  die 
Verwendung  einheimischer  mit  der  Scholle  verwachsener  Arbeits- 
kräfte, desto  mehr  von  dem  Arbeitslohn  wird  auswärts  (in 
Russisch-Polen !) ,  desto  mehr  von  dem  Arbeits  p  r  o  d  u  k  t  von 
städtischen  Konsumenten,  desto  weniger  von  der  ansässigen 
Landbevölkerung  verzehrt.  Auf  eine  möglichst  einfache  (und  des- 
halb natürlich  nur  relativ  gültige)  Formel  gebracht :  Der  bäuer- 
liche Betrieb  alten  Schlages  fragte :  wie  mache  ich  es,  um  mög- 
lichst viel  Köpfe  an  Ort  und  Stelle  auf  der  gegebenen  Fläche  durch 
ihre  Arbeit  zu  ernähren?  —  der  kapitalistische  Betrieb  fragt 
(das  ist  sein  Begriffsmerkmal):  wie  mache  ich  es,  um  auf  der 
gegebenen  Fläche  mit  möglichster  E  r  s  p  a  r  n  i  s  an  unnötiger  Arbeit 
ein  möglichst  großes  Quantum  Güter  für  den  Absatz  auf  dem 
Markt  disponibel  zu  machen  ?  *)  Dieser  höchst  einfache  Ausgangs- 


l)  Man  vergleiche  etwa  die  Dichtigkeit  der  Siedlung  auf  guten  und  schlechten 
Böden,  wie  sie  beispielsweise  in  folgenden  sich  in  ähnlichen  Relationen  sehr 
oft  wiederholenden  Zahlen  zutage  tritt: 

Im  Kreise  Militsch  (Kidcikommiflkrcis)  kam  1885  in  den  Reinertrags- 
klassen von  pro  ha  Mk. :  unter  10:      10—15:      über  15: 

auf  1  Wohngebäude  (m  dcn  Dörfern         4,39  5,66  6,29 

ha  Ackerland  und  [ 

Wirscnfläche:       lauf  dcn  Gütern  49,8  43,7  55,6 

Man  sieht:  dem  besten  Boden  entspricht  die  dünnste  Bebauung.  Für  den 
kapitalistischen  Betrieb  auf  den  besseren  Böden  ist  eben  das  Wohnhaus  der  Ar- 
beiter Teil  der  Produktionskosten.  Die  enorme  Differenz  zwischen  Dörfern 
und  Gütern  spricht  hier  für  sich  selbst. 

Es  kam  ferner  in  den  gleichen  Rcinertragsklassen  1  spezifische  Forstgüter  mit 
mehr  als  50  Proz.  Wald  ausgeschlossen): 

unter  10:      10—15:     über  15: 

a)  auf  1  Kopf  ha        [™  dcn  Dörfern  0,79  0,87  0,95 
Gesamtfläche:       |auf  den  Gütern          (5,82)  4,9©  5><>7 

b)  auf  1  Kopf  ha        |in  dcn  Dörfern  0,71  0,78  0,87 
Acker-  u.  Wiesen-  [ 

fläche:  (in  den  Gütern  (3,67)  3.23  3.82 

Eine  Serie  weiterer  ähnlicher  Zahlen  s.  in  anderem  Zusammenhang  unten  S.  537  f. 

Man  sieht,  daß  mit  steigender  Bodcnqualität,  also  steigender  „Produktivität  der 
Arbeit",  die  Besetzung  der  bewirtschafteten  Fläche  nicht  nur  mit  Gebäuden,  sondern 
auch  mit  ortsanwesender  Bevölkerung  (WintcrbevÖlkerungJ  die  Tendenz  zur  Ab- 
nahme zeigt,  wie  die  wegen  des  störenden  Einflusses  der  Forsten  am  besten  ver- 
gleichbaren Zahlen  der  Landgemeinden,  —  innerhalb  deren  hier  viel  aufgekaufter 
und  gebundener  Gutsboden  liegt,  —  beweisen.    Der  schroffe  Gegensatz  zwischen 


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Agrarstatistische  u.  sozial  pol  it.  Betrachtungen  zur  Fideikommißfrage  in  Preußen.  515 

punkt  aller  Betrachtungen  über  die  Wirkung  des  Großbetriebes  und 
die  sozial*  und  bevölkerungspolitische  Kehrseite  des  Produktions- 
interesses  in  der  Landwirtschaft  —  sofern  nämlich  darunter  Ge- 
treide produktion  im  Fruchtwechsel  mit  Hackfrüchten  verstanden 
wird  —  muß  immer  wieder  betont  werden.  Wer  nun  der  Meinung 
ist,  daß  die  sozialen  Kontraste  im  Osten  der  Abschwächung 
bedürftig  seien,  oder  wer  meint,  daß  es  heute  vor  allem  gelte,  so- 
viel selbständige  landwirtschaftliche  Existenzen  wie  nur  irgend 
möglich  auf  den  dünn  besiedelten,  der  Abwanderung  und  der 
Überschwemmung  durch  Ausländer  oder  doch  Stammfremde  preis- 
gegebenen Boden  des  Ostens  zu  setzen,  der  muß  für  den  Osten 
die  Beseitigung  aller  Institutionen  verlangen,  welche  dem  direkt 
entgegengesetzten  Ziele  zustreben,  gleichviel,  ob  dadurch  eine 
Schädigung  der  Produkt ionsinteressen  —  wie  dies  wenigstens  für 
das  Getreide  wahrscheinlich  ist  —  eintritt.  Viele  deutsche  Land- 
leute  müssen  ihm  mehr  wert  sein  als  viel  deutsches  Korn.  — 
Übrigens  läßt  sich  heute  auch  nicht  die  allerentfernteste 
„Gefahr"  eines  Verschwindens  oder  auch  nur  einer  dem  Ge- 
treide-Produktionsinteresse in  fühlbarer  Weise  zuwiderlaufenden 
starken  Reduktion  des  Großbetriebes  für  den  Osten  wahrschein- 
lich machen.  Was  dort  —  z.  B.  etwa  in  Pommern  —  an  Reduktion 
der  G  r  o  ß  betriebsfiäche  vor  sich  geht,  ist  in  weit  überwiegendem 
Maße  eine  Reduktion  der  Betriebsgröße  auf  ein  technisch  erträg- 
liches Maß.  Bei  Aufhebung  aller  Fideikommisse,  stufenweiser  Be- 
seitigung aller  Getreidezölle,  progressiver  Bodenbesitzbesteuerung  und 
einer  noch  sehr  verstärkten  inneren  Kolonisationstätigkeit  würden 

Dorf  und  Gut,  der  diese  Tendenz  besonders  deuUicb  illustriert,  tritt  auch  hier 
hervor.  Die  eingeklammerten  Zahlen  für  die  unterste  Klasse  der  Güter  zeigeu 
mit  der  nächsthöheren  verglichen  die  Wirkung  extensiven  Betriebs.  Die  Abnahme 
der  Siedelungsdichte  auf  der  höchsten  Stufe  zeigt,  daß  Kapitalintensität  und 
Arbeitsintensität  der  Wirtschaften  verschiedene  Wege  gehen.  Der  beste  Boden 
trügt  auch  bei  den  Gütern,  wie  die  Zahlen  ad  b  zeigen,  die  geringste  Zahl  von 
ortsansässigen  Menschen.  Ich  kann  hier  diese  in  mannigfachen  Abschattierungcn  an 
den  sehr  zahlreichen  Beispielen  anderer  Kreise,  die  ich  durchgerechnet  habe,  sich 
wiederholende  Erscheinung  nicht  eingehender  prinzipiell  erläutern,  behalte  mir  dies 
vielmehr  für  künftig  vor.  —  Es  ist  nicht  nur  die  Tendenz  zur  Saisonarbeit, 
sondern  die  Tendenz  zum  Arbeitsparen  überhaupt  welche  diese  Erscheinungen  in 
den  kapitalistischen  Betrieben  hervorbringt.  Auf  den  schlechten  Böden  der  Dörfer 
bat  für  die  Bevölkcrungs  Verdichtung  natürlich  auch  die  gewerbliche  Nebenarbeit 
ihre  Rolle  gespielt.  Vgl.  dazu  die  vortrefflichen  Ausführungen  Sombarts  im 
2.  Band  seines  „Kapitalismus." 


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Max  Weber, 


nach  hundert  Jahren  im  Osten  noch  so  außerordentlich  zahlreiche 
Exemplare  von  Grafen,  Freiherrn  und  Rittergutsbesitzern  übrig  sein, 
daß  jeder  gefühlvolle  Romantiker  sich  an  ihnen  über  Bedarf  erquicken 
könnte.  Daß  die  Bäume  der  Bauernkolonisation  nicht  in  den  Himmel 
wachsen,  dafür  ist  durch  die  historisch  gegebenen,  nur  im  Lauf  vieler 
Generationen  zu  ändernden  Verhältnisse  —  nur  allzu  sehr!  —  ge- 
sorgt. — 

Die  Motive  machen  nun  keinen  Hehl  daraus,  daß  ihnen  vor 
Allem  der  Schutz  des  Großbesitzers  —  wie  wir  später  sehen 
werden,  auch  des  Großbetriebes  —  am  Herzen  liegt.  Seine 
Verminderung  betrachten  sie  als  diejenige  Gefahr,  welcher  der 
Entwurf  entgegentreten  soll.  Sie  heben  hervor,  die  Fideikommiße 
sollten  einen  Schutz  bieten  gegen  die  „fortschreitende  Überschuldung 
des  ländlichen  Grundbesitzes,  sowie  gegen  eine  nicht  der  folge- 
richtigen Entwicklung  der  wirtschaftlichen  Verhält- 
nisse, sondern  der  Notlage  des  Besitzers  entspringende 
Boden  zerStückelung".  Es  wäre  dankenswert,  wenn  die  Motive 
angedeutet  hätten,  was  denn  die  „folgerichtige"  Entwicklung  wäre  und 
woher  für  sie  der  Maßstab  zu  gewinnen  sei  in  einer  auf  Privateigentum 
gegründeten  Gesellschaftsordnung  ?  In  jener  wunderbaren  Wendung  hat 
aber  lediglich  das  unklare  Ineinanderschieben  des  Seienden  mit  dem 
Seinsollenden  und  die  Unfähigkeit  oder  Abneigung,  mit  klaren  Be- 
griffen zu  arbeiten,  wie  sie  der  „romantischen"  Schule  eignet,  ein  Para- 
digma ihren  Konsequenzen  geliefert.  Denn  die  „folgerichtige  Ent- 
wicklung" ist  hier  doch  wohl  einfach  die,  welche  der  Verfasser  der 
Motive  für  erwünscht  hält.  Oder  soll  damit  gesagt  sein,  daß  in 
der  Uberschuldung  —  d.  h.  doch:  in  der  zum  ökonomischen  Zu- 
sammenbruch fuhrenden  Verschuldung  —  gerade  des  Groß besitzes 
individuelle,  vom  ökonomischen  Standpunkt  aus  „zufallige",  Momente 
zum  Ausdruck  kämen,  da  doch  die  technische  Überlegenheit  des 
Großbetriebes  eigentlich  eine  geringere  ökonomische  Ge- 
fährdung des  Groß  besitzes  bedingen  müsse  ?  Dann  wäre  der  Satz 
einfach  falsch  und  beruhte  teils  auf  falschen  tatsächlichen  An- 
nahmen, teils  auf  irrigen  ökonomischen  Ansichten.  Gerade  weil  der 
Großbetrieb  kapitalistische  Markt- Produktion  bedeutet,  ist  der 
ihm  als  Grundlage  dienende  Groß  besitz  —  soweit  Wirtschafter  und 
Besitzer  identisch  sind  —  ganz  „folgerichtiger"  Weise  konjunkturen- 
cmpfindlicher. l)    Tatsächlich  unrichtig  ist  aber  überdies  die 


')  Dies  zeigen  folgende,  nach  den  Angaben  in  der  Publikation  von  Evcrt, 


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Agrarstatistischc  u.  sozialpolit.  Betrachtungen  zur  Fideikommißfragc  in  Preußen.     5  1  y 

Behauptung,  daß  eine  irgend  —  im  Verhältnis  zu  anderen  Besitz- 
gruppen —  ins  Gewicht  fallende  „Bodenzerstückelung"  im 
Bereich  speziell  des  durch  Fideikommisse  zu  schützenden  Groß- 
besitzes  zu  beobachten  wäre,  man  müßte  denn  eine  Zerstückelung,  die 
bei  ungestörtem  Fortgang  in  mehreren  Jahrhunderten  den  Groß- 
besitz dann  ernstlich  bedrohen  würde,  wenn  der  „Zerstückelung" 
keinerlei  Zukauf  gegenüberstände,  eine  solche  nennen.  In 
allen  anderen  Besitzkategorien  umfaßte  1896 — 99  der  Besitzwechsel 
prozentual  mehr  Fälle  von  „Abtrennung"  und  „Zerstückelung"  als 
gerade  im  Großbesitz,  und  zwar  im  ganzen:  je  weiter  nach  unten 
hin,  desto  mehr1),  und  das  wird  so  bleiben,  solange  unsere  Zoll- 


Zeitschr.  des  Prcuß.  Stat.  B.  Bd.  29,  1889  S.  Höf.,  errechnete  Zahlen  über  1.  die 
Zahl  und  2.  die  Gründe,  welche  in  den  Jahren  1 886— 89  zur  Zwangsver- 
steigerung ländlicher  Grundstücke  führten: 


Es  entfallen 

auf  Betriebe  bzw.  Besitzungen 

von 

unter  2  ha      2 — 10  ha 

10—50  ha 

über  50  ha 

a)  von  der  Belriebsflache  Proz. 

'•52 

14,68      |  37,90 

.  45.90 

1886/7 

0.79 

5.t° 

»5.99 

78,12 

b)  von  der  zwangs- 

18878 

0,81 

5.02 

15.50 

78,67 

versteigerten 
Besitzflächc  Proz. 

1888/9 

durch- 
schnitt- 
lich 

o,77 
}  0,79 

5.87 
5.33 

15.72 
15.70 

77.64 
78,14 

Die  Durchschnittsrlächc  zu  b) 
bleibt  hinter  den  nach  der  Be- 
triebsverteilung fa)  auf  die 
Größenklasse  entfallenden  Quo- 
tenbetrag zurück  ( — j  bzw.  über- 
steigt ihn  (-J-)  um  Proz. 

-48,1 

-  63.7 

-  58,6 

+  7o,2 

Als   Gründe    des  Vermögcns- 
verfalles    ist   der   Einfluß  der 
Konjunkturen  angegeben  in 
Proz.  der  Fälle 

>  3,58 

4.03 

7,21 

15,52 

Dagegen  rein  persönliche  Ver- 
hältnisse (Wucher,  Verschulden, 
Familienverhältnisse  usw.  Proz. 

|  71,75 

63.  »5 

57.» 

45,oi 

Also  zunehmende  Bedeutung  der  allgemeinen  Einflüsse  der  Marktkonjunk- 
turen bei  den  größeren  Betrieben.  Ich  habe  mich  über  diese  Frage  und  den 
Wert  dieser  Zahlen  in  meinem  Gutachten  über  das  Heimstättenrecht  für  den  24. 
'uristentag  geäußert. 

J)  Kühnert,  in  der  Ztschr.  d.  Pr.  Stat.  B.  1902  S.  I  f.  Die  Motive,  welche 
die  Arbeit  des  gleichen  Verfassers  über  die  Wanderungen  (s.  il)  sich  nutzbar  zu  machen 


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5i8 


Max  Weber, 


politik  den  nun  seit  20  Jahren  für  den  Osten  ungefähr  gleichmäßig 
hohen  und  jetzt  noch  zu  steigernden,  speziell  den  Großbetrieb  und 
-besitz  fördernden  Getreidezollschutz  nicht  herabsetzt.  Stei- 
gerung des  den  Großbesitzern  zugute  kommenden 
Zollschutzes,  speziell  des  gerade  den  besten  Böden 
zugutekommenden,  und  Anreiz  zu  fideikommisso  - 
rischer  Bindung  gerade  dieser  Böden,  verbunden  mit 
—  wie  noch  zu  erörtern  sein  wird  —  erzwungener  Er- 
haltung und  Schaffung  von  Großbetrieben  ist  aber 
offenbar  das  ganz  bewußte  Ziel  der  Regierungspolitik. 

Inwieweit  dadurch  auch  nur  das  von  den  Motiven  in  den 
Vordergrund  geschobene  Getreide-Produktionsinteresse  gefordert 
wird,  ist  höchst  fraglich.  Denn  es  ist  endlich  auch  unzutreffend,  daß 
die  Verschuld  b  a  r  k  e  i  t  des  freien  Großgrundbesitzes  heute  als  ein 
irgend  wesentlich  ins  Gewicht  fallender  Grund  ökonomischer  Rück- 
ständigkeit gegenüber  den  un verschuldbaren  Fideikommissen  ange- 
sprochen werden  könnte,  so  oft  und  kritiklos  dies  auch  geschieht. 
Daß  die  tatsächliche  Verschuldung  diese  Rolle  spielen  kann, 
ist  durchaus  zuzugeben.  Aber  den  ganz  unzweifelhaft  vorkommenden 
Fällen,  wo  ein  überschuldeter  Grundbesitzer,  der  nicht  verkaufen  will 
und  nicht  verpachten  kann,  sich  in  jahrelanger  Agonie  befindet,  stehen 
ebenso   viele  Fälle   unzulänglichen  Betriebskapitals1)   und  relativ 

versucht  haben,  haben  für  diese  sehr  viel  schlüssigeren  Zahlen  charakteristischer- 
weise  gar  kein  Auge  gehabt,  trotzdem  aber  das  alte  agrarische  Schlagwort  wieder- 
holt. —  Die  wucherische  „Güterschlächterci"  wird  wohl  allseitig  gleichmäßig  beur- 
teilt, ihre  Tragweite  aber,  soweit  der  Groß  besitz  in  Betracht  kommt,  ist  im 
ganzen  eine  schlechthin  minimale.  —  Die  Zahlen  der  oben  zit.  Abhandlung  leiden 
vorläufig  notgedrungen  unter  dem  Mißstand,  daß  wir  nicht  wissen,  welches  Maß  von 
Hinzuscblagungcn  den  Abzweigungen  gegenübersteht  Ferner  natürlich  unter 
einer  gewissen  Divergenz  zwischen  gezählter  Besitzeinheit  und  Eigcntumskomplex. 
Manche  Auffälligkeit  möchte  damit  zusammenhängen.  Auch  würden  wichtige  Resul- 
tate erst  bei  einer  Entzifferung  für  weit  kleinere  Bezirke  (der  einzelnen  Gerichte)  her- 
vortreten, namentlich  stände  erst  dann  die  Erörterung  über  die  Wirkungen  des  Erb- 
rechts auf  etwas  festerem  Boden.  Aber  wenigstens  dieses  Zahlenmaterial  beschafft 
zu  haben,  bleibt  trotzdem  ein  ganz  hervorragendes  Verdienst.  Mehr  darüber  bei 
einer  künftigen  Gelegenheit. 

')  Darin  schafft  natürlich  für  die  Eigenwirtschaft  auch  die  „Vcrbcsserungs- 
raasse"  des  Entwurfs,  so  dankenswert  auch  dieser  obligatorische  Sparzwang  sonst 
ist,  keinen  entscheidenden  Wandel,  denn  eben  als  Betriebskapital  soll  sie  ja 
nich  t  verwendet  werden.  Die  eventuelle  technische  Stärke  des  von  „Besitzschulden" 
freien  Betriebs  wird  nach  wie  vor  durch  Verpachtung  bedingt  sein. 


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Agrarstatistische  u.  sozialpolit.  Betrachtungen  zur  Fideikommißfrage  in  Preußen.  519 

weit  mehr  Fälle  unzulänglicher  landwirtschaftlicher  Kenntnisse 
von  Fideikommißbesitzern  mit  alsdann  noch  viel  länger  dauernder 
Misere  gegenüber,  und  nur  bei  großen  Komplexen  kann 
durch  Verpachtung  oder,  infolge  der  ökonomischen  Potenz  der 
ganz  großen  Grundherrn,  durch  Gewinnung  hervorragender  Kräfte 
für  die  —  heute  keineswegs  mehr  unbedingt  hinter  der  Selbst- 
wirtschaft eines  Offiziers  a.  D.  zurückstehende  —  Administration  *) 
und  deren  Ausstattung  mit  großen  Betriebsfonds  abgeholfen,  und 
dann  freilich  oft  sehr  günstige  Ergebnisse  erzielt  werden :  aber  Vor- 
aussetzung ist  dann  eben,  daß  man  —  worauf  wir  noch  oft  zurück- 
kommen —  den  Lieblingsgedanken  von  den  fideikomm issarisch  ge- 
sicherten „Rücken  besitzern"  aufgibt.  Leider  freilich  werden  notorisch 
und  auch  nach  Ausweis  der  Güterlexika  gerade  auf  großen  Herr- 
schaften immer  noch  Offiziere  a.  D.  als  die  qualifiziertesten  Ad- 
ministratoren und  selbst  Pächter  angesehen.  Eine  Überlegenheit  des 
selbst  wirtschaftenden  kleinen  Fideikommißbesitzers  vom  Stand- 
punkt des  Produktionsinteresses  aus  aber  ist  generell  in  keiner 
Weise  wahrscheinlich.  Die  armen,  chronisch  notleidenden  Güter  der 
östlichen  sandigen  Höhengebiete  (Pommern,  Preußen)  meidet  das 
Fideikommiß,  auf  den  besten  Boden  ist  der  freie  Besitzer  dem 
kleinen  selbstwirtschaftenden  Fideikommißbesitzer  höchstwahr- 
scheinlichganz erheblich  überlegen,  auf  den  mittleren  findet  jedenfalls 
schwerlich  das  Gegenteil  statt.  Die  Statistik  reicht  —  soviel  ich  sehe 
—  nicht  aus,  um  für  die  hier  wesentlich  in  Betracht  kommende  G  e  - 
trei  de  Produktion  etwas  bestimmtes  festzustellen.*)  Es  bleibt  also, 


J)  Eine  nähere  Erörterung  hierüber  muß  hier  unterbleiben. 

')  Der  einzige  spezifische  Fideikommißkreis,  den  ich  bei  Durchsicht  einiger 
früher  gemachter  Notizen  für  die  5  Jahre  1888 — 1892  mit  auffällig  hohen  Getreide- 
erträgen, höheren  als  in  den  Nachbarkreisen  ähnlicher  Reinertragsklassen,  notiert  finde, 
ist  Öls  (große  Herrschaften  des  Königs  von  Sachsen  und  des  preußischen  Kronprinzen, 
also  finanziell  potenter  nicht  selbst  wirtschaftender  Großbesitzer).  Der  Fideikommiß- 
kreis Militsch  stand  hinter  dem  benachbarten  Kreise  Guhrau  im  Weizenertrag  stärker 
zurück,  als  die  Differenz  der  Bodenbonitierung  erwarten  läßt,  ohne  daß  der  ebenfalls 
pro  Fläche  weniger  ertragende  Roggen  die  Divergenz  ausgliche.  Der  Fideikommißkreis 
Franzburg  stand  bei  minimalen  Differenzen  des  Grundsteuerreinertrages  in  allen  jenen 
5  Jahren  hinter  den  Nachbarkreisen  Grcifswald  und  Grimmen  im  Weizenertrage 
zurück  außer  in  einem,  wo  er  wenigstens  den  Kreis  Grimmen  etwas  Ubertraf.  — 
Doch  ist  mit  den  betreffenden  Zahlen  und  ähnlichen  nicht  viel  anzufangen,  da  ent- 
scheidend stets  der  im  Osten  immer  negativ  ins  Gewicht  fallende  Anteil  der  kleineren 
Bauern  an  der  Fläche  ist.  In  den  hauptsächlichsten  Fideikommißkreisen  (speziell 
Archiv  für  Sorialwifienschaft  u.  Sozialpolitik.  1.    (A.  f.  soi.  G.  u.  St.  XIX.)  3.  34 


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520 


Max  Weber, 


wenn  man  irgend  einen  verständigen  Sinn  jener  Worte  der  Motive 
zu  ermitteln  sucht,  nur  die  Annahme  übrig,  daß  dem  Verfasser 
dabei  der  oft  besprochene  Gegensatz  der  „Besitz"-  und  „Betriebs"- 
schulden  vorschwebte  und  er  die  „Besitz"verschuldung  schon  um 
dieses  Charakters  willen  für  verwerflich  erachtet.  Nun  muß  hier  der 
Nachweis,  daß  diese  Unterscheidung  keineswegs  so  einfach  ist,  wie 
die  auf  Rodbertus  fußende,  und  noch  nicht  über  ihn  fortgeschrittene 
Theorie  annimmt,  unterlassen  werden.   Nur  auf  eins  sei  hingewiesen  : 
die  fideikommissarische  Bindung  großer  Teile  des  Bodens  schränkt 
das  für  den  Ankauf  durch  fachmäßig  tüchtig  vorgebildete  Landwirte 
verfügbare  Areal  ein,  steigert  also  natürlich  —  wenn  nicht  die 
Zahl  derartiger  Kaufreflektanten  und  damit  der  Zustrom  von  In- 
telligenz und  Kapital  abnimmt  —  seinen  Preis1)  und  damit  die 
„Besitz "Verschuldung  des  nicht  gebundenen  Bodens. 
Die  später  noch  zu  berührende  Erscheinnng,  daß  in  spezifischen 
Fideikommißkreisen  die  Zahl  der  Kleinbauern   besonders  stark 
steigt,  dürfte  eben  jener  Verringerung  des  Bodenangebots  im  Ver- 
hältnis zur  Nachfrage  zuzuschreiben  sein.    Es  gelangen  nur  d  i  e 
Leute  zum  Bodenkauf,  die  ä  fonds  perdu  Ersparnisse  darin  anlegen, 
um  eine  gesicherte  Stätte  der  Verwertung  ihrer  Arbeitskraft  zu 
gewinnen,  —  es  sei  denn,  daß  die  Fideikommisse  eine  so  starke 
Verminderung  der  landwirtschaftlichen  Bevölkerung  herbeiführen, 
daß  jene  verstärkte  Nachfrage  nicht  eintritt2),  daß  sie  also  ent- 
völkernd wirken. 


Schlesiens)  bat  dieser  aber  allerdings,  wie  noch  zu  erörtern,  die  Tendenz,  stärker  zu 
steigen,  als  derjenige  der  mittlereren  Betriebe,  also  das  Ergebnis  hcrabzudrücken.  — 
Den  Viehstand  lasse  ich  für  diesmal  unerörtert,  obwohl  natürlich  gerade  hier  die 
Stärke  der  Bauern  liegt,  da  für  ihn  wohl  niemand  von  den  Fidcikommisscn  mit 
Großbetrieb  Heil  erwartet. 

')  Schon  die  gesteigerte  Nobilitierung  des  Bodenbesitzes  wirkt  ja  darauf 
hin.  Ist  doch  die  soziale  Position  des  Gutsbesitzers  einer  der  Hauptgründe  der 
Überwertung  des  Bodens  schon  jetzt. 

!)  Über  die  grundsätzlichen  Fragen  der  „Bcsitz"-Verschuldung  ein  andermal.  — 
Richtig  ist  natürlich,  daß  die  Grundrcntenbildung,  die  in  ihr  sich  äußert,  das 
Agens  der  Trennung  von  Besitz  und  Betrieb,  Rente  und  Untcrnchmcrrisiko  ist, 
welches  in  der  Fideikommißbildung  seinen  konsequentesten  Ausdruck  findet.  Eben 
deshalb  ist  diese  ja  —  wie  schon  gesagt  —  ein  echtgeborenes  Kind  des  AgTar- 
kapitalismus,  der  sich  hier  bis  zu  einem  eigentümlichen  Umschlag  in  eine  Ver- 
kehrs lose  Bcsi  tz Organisation  unter  Erhaltung  der  verkehrswirtschaftlichen  Be- 
triebsorganisation aufgipfell.    Daher  die  Vorliebe  mancher  Sozialdemokraten 


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Agrarstatistiscbc  u.  sozialpolit.  Betrachtungen  zur  Fideikommißfragc  in  Preußen.     52 1 

Außer  den  bisher  erörterten  unzutreffenden  theoretischen  Be- 
merkungen beschränken  sich  die  Motive  zur  Begründung  des  öko- 
nomischen Werts  der  Fideikommisse ,  neben  relativ  breiten  Aus- 
führungen über  die  Bedeutung  der  Forstwirtschaft,  auf  die  Hervor- 
hebung der  technischen  Vorzüge  des  Großbetriebes,  schließen  aus 
dem  Umstände,  daß  die  n e u gegründeten  Fideikommisse  gerade 
auf  guten  Böden  zu  entstehen  pflegen,  darauf,  daß  „die  Behauptung, 
die  Fideikommisse  seien  weniger  intensiv  bewirtschaftet"  als  andere 
Güter,  unbegründet  sei,1)  und  sprechen  in  vagen  Redewendungen 
von  jener  sattsam  bekannten  „glücklichen  Mischung"  größerer,  mitt- 
lerer und  kleinerer  Betriebe,  welche  zu  erhalten  und  zu  fördern 
das  Ziel  der  Agrarpolitik  sein  müsse.  Daraus  geht  zunächst  wiederum 
nur  das  eine  hervor,  daß  sie  sich  das  Fideikommiß  speziell  als 
Stütze  des  Großbetriebes  denken,  den  sie,  wie  wir  immer  wieder 
sehen  werden,  mit  dem  Groß  besitz  zu  identifizieren  bemüht  sind. 
Im  übrigen  begnügen  sie  sich  damit,  hervorzuheben,  daß  die  Fidei- 
kommisse nicht,  „wie  die  Gegner  des  Fideikommißwesens  es  dar- 
stellen", die  ländliche  Abwanderung  „in  hervortretendem  Maße" 
mit  veranlassen.  Auf  diesen  letzteren  Punkt  mag,  da  er  eben 
schon  berührt  wurde,  hier  zunächst  kurz  eingegangen  werden. 

Vorauszuschicken  ist  dabei  eins:  Es  ist  kein  Zweifel,  daß  starke 
Bewaldung  eines  Gebietes,  die  natürlich  regelmäßig  mit  sehr 
dünner  Besiedelung  desselben  identisch  ist,  diese  geringere  einmal 
vorhandene  Bevölkerung  in  relativ  hohem  Grade  auf  dem  Lande 
festzuhalten  geeignet  ist  infolge  der  Winterarbeitsgelegenheit,  die 
hier  im  Gegensatz  zu  dem  zunehmenden  Saisoncharakter  rein  land- 
wirtschaftlicher Großbetriebe  geboten  wird.  Da  nun  der  Wald  in 
besonders  hohem  Grade  nach  fideikommissarischer  Bindung  strebt, 
und  also  Kreise  mit  starker  Bewaldung  besonders  häufig  Kreise  mit  viel 


für  das  Fideikommiß,  welches  —  theoretisch  betrachtet  mit  Recht  —  als  eine 
Staffel  des  „Expropriationsprozesses"  aufgefaßt  wird. 

')  Allerdings  ein  wunderbarer  Schluß.  —  Natürlich  ist  unter  Anwendung  der 
nötigen  Vorsicht  die  Annahme  zulässig,  daß  bei  sonst  gleichen  Verhältnissen 
innerhalb  eines  Gebietes  auf  einem  Hodenkomplex  von  höherer  Ertragsfähigkeit  auch 
auf  hohe  Erträge  hingcwirtschaAet  werden  wird.  Auch  ich  werde  sie  hier  mehrfach  zu 
machen  haben.  Aber  daraus,  daß  der  werdenwollendc  Fideikommißbesitzer  heute 
die  guten  Böden  aufkauft,  auf  seine  Qualität  als  Betriebsleiter  zu  schließen, 
ist  denn  doch  ein  starkes  Stück.  Es  fragt  sich  gerade,  was  auf  unter  sich  gleich- 
wertigem Boden  der  freie  und  der  selbst  wirtschaftende  gebundene  Be- 
sitzer im  allgemeinen  als  Betriebsleiter  zu  leisten  pflegen. 

3*' 


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J22  Max  Weber, 

Fideikommissen  sind,  so  müßte  man  in  den  Fideikommißkreisen  g^anz 
allgemein  eine  besonders  niedrige  Abwanderungsziffer  erwarten, 
ohne  daß  aus  einer  solchen  natürlich  für  die  Wirkung  der  Fideiko  m- 
misse,  vollends  der  landwirtschaftlichen  Fideikommisse,  irgend 
etwas  folgen  würde.  Gerade  die  ganz  großen  Fideikommisse  sind  ferner 
alten  Ursprungs.    Ihre  Wirkung  bzw.  ihre  N i c h t Wirksamkeit  auf 
die  Bevölkerungsverhältnisse  kann  nicht  aus  der  jetzigen  Wander- 
bewegung, sondern  muß  aus  den  Dicht igkeitsziffern  geschlossen 
werden.1)  Sie  haben  ihre  Wirkung :  Verhinderung  der  Vermehrung 
der  selbständigen  Bauern  —  schon  in  der  Vergangenheit 
getan.  —  Ein  Mitglied  des  preußischen  statistischen  Büreaus  hat 
gleichwohl  den  Versuch  gemacht,  durch  Nebeneinanderstellung  von 
Kreisen,  deren  Eigenart  in  bezug  auf  Grundbesitzverteilung  und 
Fideikommißbestand  charakteristisch   voneinander  abweicht,  den 
Beweis  zu  erbringen,  daß  die  Fideikommisse  in  der  Gegenwart 
die  Wanderbewegung  günstig,  d.  h.  im  Sinne  der  Verminde- 
rung der  ländlichen  Abwanderung  beeinflußt  hätten.    Ich  gehe 
unter  dem  Strich  *)  auf  diese  übrigens  sehr  verdienstlichen  Aus- 

*)  Wie  es  damit  steht,  kann  daraus  entnommen  werden,  daß  auf  einen  haupt- 
beruflich in  der  Landwirtschaft  Erwerbstätigen  im  Durchschnitt  der  Provinz  Schlesien 
2J2  ha  landwirtschaftliche  Nutzfläche  (also  exkl.  Forsten)  kamen,  im  Durchschnitt 
der  schlesischen  Fidcikommiflkreisc  dagegen  3,26  ha,  daß  also  im  Durchschnitt 
der  Provinz  die  Dichte  der  hauptberuflich  landwirtschaftlichen  Bevölkerung  um 
größer  ist,  als  in  den  Fideikommißkreisen,  trotz  der  in  diesen  letzteren  —  wie  noch 
zu  erörtern  sein  wird  —  so  sehr  zahlreichen  Parzellenwirtschaften.  Die  liederliche 
Art,  in  der  die  schon  früher  erwähnte  Broschüre  von  E.  Moritz  gearbeitet  ist,  tritt 
schon  darin  hervor,  daß  hier  die  ländliche  Volkszunahme  der  Fidcikommiflkreisc  des 
Regierungsbezirks  Oppeln  als  Beweis  dafür  angesprochen  wird,  daß  die  Fidei- 
kommißbesitzer  die  Landarbeiter  durch  „patriarchalc"  Vorsorge  usw.  an  sich  tu 
fesseln  gewußt  hätten.  Ich  entnehme  einigen  gelegentlich  früher  gemachten  Notizen, 
daß  1895  von  den  Inhabern  der  ca.  105  000  Landwirtschaftsbetriebe  dort  17885  Land- 
arbeiter, Knechte,  Mägde,  Tagelöhner,  Forst-  und  Fischerei-Arbeiter,  dagegen 
41319  hauptberuflich  in  anderen  als  landwirtschaftlichen  Berufen  tätig  waren. 
Schon  ein  Blick  in  das  Gcmeindclexikon  zeigt  als  Pcrtinenzcn  der  Gutsbezirke : 
Zinkhütten,  Eisenhütten,  Bergwerke  u.sw.  Das  sind  die  Mittel,  die  dortige  „Land- 
bevölkerung" zu  halten. 

*)  Kuhnert  greift  diejenigen  33  preußischen  Kreise  heraus,  in  denen  mehr 
als  20  Proz.  der  Fläche  fideikommissarisch   gebunden  sind  (Gruppe  a).  Diesen 
werden  20  andere  mit  wenig  Fideikommiß-,  aber  viel  allodialer  Gutsfläche  (Gruppe  b) 
und  endlich  weitere  26  Kreise  mit  sowohl  wenig  Fideikommiß-  als  wenig  Gutsfläche 
Gruppe  c)  gegenübergestellt.    Er  gelangt  nun  zu  dem  Ergebnis,  daß  die  Abwände- 


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Agrarstatistische  u.  sozialpolii.  Betrachtungen  zur  Fideikommißfrage  in  Preußen.  523 


fuhrungen  etwas  näher  ein,  um  zu  zeigen,  daß,  soweit  die  Zahlen 
uns  etwas  Bestimmtes  auszusagen  gestatten,  das  Gegenteil  davon 


rung  der  Bevölkerung  der  Landgemeinden  und  Gutsbezirke  in  den  Fideikommiß- 
kreisen  nicht  sehr  wesentlich  andere  Erscheinungen  aufweise,  als  in  den  anderen. 
Speziell  im  Osten  der  Monarchie,  auf  den  wir  uns  hier  beschränken,  sei  aber  1875 
bis  1900  in  den  Fideikommiflkreisen  die  Abwanderung  sogar  geringer  gewesen, 
als  in  den  beiden  anderen  Gruppen,  wenn  schon  erheblich  höher,  als  im  Durch- 
schnitt der  Monarchie.  Letzteres  führt  der  Verfasser  auf  das  Eindringen  der  In- 
dustrie in  die  Landkreise  des  Westens  zurück,  ohne  aber  zu  berücksichtigen,  daß 
gerade  die  größten  Fideikommißkreise  des  Ostens  in  Schlesien  ganz  spezifische 
Industriekreise  sind.  Er  gibt  in  dieser  Hinsicht  zu,  daß  vielleilcht  „besondere  Örtliche 
Verbältnisse"  die  Zahlen  auch  des  Ostens  beeinflusst  hätten,  meint  jedoch,  daß  diese 
„nicht  ohne  weiteres  feststellbar"  seien.  Das  ist  mir,  offen  gestanden,  unverständlich. 
Wir  haben  doch  die  Zahlen  der  Berufszählungen  von  1882  und  1895  für  jeden  Kreis 
und  es  konnte  daraus  die  weit  vorwiegend  industrielle  Qualität  solcher  Landkreise 
wie  Schmalkalden,  Waldenburg,  Reichenbach  und  der  oberschlesischcn  Fideikommiß- 
kreise ohne  weiteres  ersehen  werden.  Ferner  aber  kann  man  daraus  auch  die 
Ziffern  speziell  der  land-  und  forstwirtschaftlichen  Bevölkerung  für  jeden 
Kreis  berechnen  und  vergleichen.  Und  auf  deren  Berechnung  muß  es  doch  an- 
kommen, da  kein  Verständiger  glauben  wird,  daß  die  fideikommissarische  Bindung 
des  Bodens  die  Zahl  etwa  der  Berg-  und  Hüttenarbeiterbevölkerung  wie  sie  gerade 
in  den  Landgemeinden  und  Gutsbezirken  mancher  der  größten  Fideikommißkreise 
Schlesiens  in  der  großen  Mehrheit  ist,  beeinflusse,  und  da  überhaupt  die  Bewegung 
gerade  der  landwirtschaftlichen  Bevölkerung  das  ist,  was  bei  der  ganzen  Erörterung 
in  Frage  steht.  Dabei  ist  nun  natürlich  die  Beschränkung  auf  ein  möglichst  zu- 
sammenhängendes größeres  Gebiet  mit  in  sich  ähnlichen  Verhältnissen  geboten,  um 
Zufallszahlen,  wie  sie  beim  Herausgreifen  einzelner,  zerstreut  liegender  Fideikommiß- 
kreise unterlaufen  würden,  möglichst  auszuschließen.  Nehmen  wir  also  das  klassische 
Land  der  Fideikommisse,  Schlesien,  das  einzige  größere  Gebiet,  welches  jene  Eigen- 
schaften und  daneben  besonders  große  Kontraste  in  dem  Grade  der  Fidcikommiß- 
bildung  aufweist,  und  vergleichen  wir  die  hauptberufliche  Erwerbstätigkeiten  in 
den  vom  Verfasser  in  Betracht  gezogenen  schlesischen  Kreisen  1882  und  1895, 
so  zeigt  sich,  daß  die  landwirtschaftlich  im  Hauptberuf  Erwerbstätigen  in  den  17 
schlesischen  Kreisen  der  Gruppe  a  sich  von  1882  bis  1S95  um  4,18  Prozent  ver- 
minderten, während  die  landwirtschaftlich  hauptberuflich  Erwerbstätigen  der  zu- 
sammen 12  schlesischen  Kreise  der  beiden  anderen  Gruppen  sich  im  gleichen  Zeit- 
raum nur  um  1,07  Prozent  verminderten.  Auf  die  17  Fideikommißkreise  kommen 
nur  ebensoviele  mit  einer  Zunahme  der  landwirtschaftlich  Hauptberufstätigen  wie 
aut  die  nur  12  Nichtfideikoramißkreisc.  Die  Abnahme  der  hauptberuflich  in  der 
Landwirtschaft  Erwerbstätigen  war  also  in  den  Fidoikommißkreiscn  zusammen  vier- 
mal so  stark,  als  in  den  Kreisen  mit  vorwiegend  freiem  Bodenbesitz,  trotzdem 
doch  die  weit  stärkere  Bewaldung  der  Fideikommißkreise,  (die  hier  wie  Uberall 


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524 


Max  Weber, 


richtig  ist.    Im  übrigen  aber  ist  niemals  behauptet  worden,  daß 
die  Rechts  form  der  fideikommissarischen  Bindung  des  Bodens 
als  solche  unmittelbar  die  Abwanderung  der  Landbevölke- 
rung bedinge,  sondern   es  ist  von  dem  im  Großbetriebe  ge- 
nutzten  Großgrundbesitz   behauptet  worden,   daß  er  bei 
starkem  Vorherrschen  auf  landwirtschaftlich  genutztem  Boden  die 
Entvölkerung  des  Landes  fördere  und  deshalb  auf  gutem,  fiir  baue  r- 
liehe  Besiedelung  geeigneten  Boden  allerdings  direkt  und 
wesentlich  für  sie  verantwortlich  sei. l)  S  o  w  e  i  t  der  gebundene  Groß- 
besitz den  Großbetrieb  mit  sich  führt  oder  begünstigt  —  wie  dies 
der  Entwurf  ausdrücklich  als  seinen  Zweck  hinstellt  —  ist  er  es, 
der  unter  den  erwähnten  Bedingungen  die  Schwächung  der  land- 
wirtschaftlichen Bevölkerung  verschuldet.  Ob  die  Zusammenklamme- 
rung des  Besitzes  durch  Hypotheken  oder  durch  fideikommissarische 
Bindung  herbeigeführt  wird,  wäre  an  sich  gewiß  gleichgültig,  — 
nur  daß  eben  die  Schranken  der  Hypotheken  so  außerordentlich 
viel  leichter  zu  beseitigen  sind.    Das  Institut  des  Fideikommisses 
spielt  also  eine  Rolle  in  diesem  Zusammenhang  und  zwar  eine  recht 


dem  Schwerpunkt  nach  natürlich  nicht  Folge,  sondern  Ursache  der  Fideikommiß- 
bildung  ist)  das  gerade  umgekehrte  Verhältnis  keineswegs  erstaunlich  erscheinen  lassen 
würde.  Jener  Unterschied  der  Abnahme  ist  aber  um  so  bemerkenswerter,  als  bei  den 
bekanntlich  im  Sommer  stattfindenden  Bcrufszählungen  die  Zahlen  speziell  der  großen 
Güter  infolge  der  Mitzählung  der  S  a  i  s  o  n  arbeiter  stets  erheblich  zu  hohe  und  zwar 
infolge  der  steigenden  Verwendung  der  Wanderarbeiter  natürlich  in  steigen- 
dem Maße  zu  hohe  sind,  —  ein  Umstand,  welcher  da,  wo  uns  die  Landkreise  mit 
starkem  Großgrundbesitz  steigende  Zahlen  der  landwirtschaftlichen  Bevölkerung  vor- 
täuschen, stets  sehr  im  Auge  zu  behalten  ist.  Jener  Umstand  kommt  z.  B.  darin 
zum  Ausdruck,  daß  in  den  Kideikommißkreiscn  Mittel-  und  Niederschlesiens  auf 
loo  Erwerbstätige  nur  101,5  Angehörige  kommen.  In  Oberschlesien  ist  das  Ver- 
hältnis besser,  da  hier  die  andersartige  polnische  Lebenshaltung  und  die  Frauen- 
arbeit stark  ins  Gewicht  fallt-  —  Auf  die  Agrarverfassung  der  Fideikommißkreise 
komme  ich  weiterhin  zu  sprechen.  — 

Noch  eine  Einzelheit:  den  Kreis  Habelschwerdt,  dessen  Fideikommißhcstand 
erst  nach  1895  von  8  auf  22  Proz.  stieg  (!),  durfte  der  Verf.  doch  wohl  nicht  in 
die  Vergleichung  einbeziehen.  Auf  eine  weitere  Kritik  der  zur  Verglcichung  heran- 
gezogenen Kreise  verzichte  ich,  da  natürlich  jede  Auswahl,  auch  die  weiterhin  von 
mir  gelegentlich  getroffene,  anfechtbar  ist  und  solche  Zahlen  stets  nur  illustrativ 
verwertet  werden  dürfen. 

')  Daß  die  Abwanderung  vom  Lande  nicht  n  u  r  da  stattfindet,  wo  Großbetrieb 
vorherrscht,  ist  durchaus  richtig.  Daß  sie  durch  das  Vorherrschen  des  Großbetriebs 
exzessiv  gesteigert  wird,  ist  aber  ganz  ebenso  unzweifelhaft. 


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Agrarstatistische  u.  sozialpolit.  Betrachtungen  zur  Fideikoramißfrage  in  Preußen.  525 

erhebliche,  indirekt,  indem  es,  wenn  es  seinen  in  den  Motiven 
ausdrücklich  hervorgehobenen  Zweck  erfüllt,  den  Großbetrieb  künst- 
lich zu  erhalten,  dies  gerade  auf  Böden  tut,  wo  die  Entstehung  von 
mittleren  und  kleineren  Betrieben  wirtschaftlich  möglich,  und  zwar 
—  generell  gesprochen  —  ganz  besonders  gut  möglich  wäre. 
Diese  Behauptung  ist  durch  die  Publikationen  des  preußischen 
statistischen  Bureaus  nicht  etwa,  wie  der  Verfasser  der  Motive  des 
Gesetzentwurfes  sich  einredet,  widerlegt,  sondern  vielmehr  be- 
stätigt worden,  denn  sie  wird  durch  die  unbestreitbare  Tatsache 
bewiesen,  daß  heute  gerade  die  besseren  landwirtschaftlich  nutz- 
baren Bodenlagen  der  Fideikommiß-Neugründung  anheimfallen. 

Mit  dem  Gesagten  sind  wir  bereits  bei  der  entscheidenden 
Frage:  wie  wirkt  die  Fideikommißbildung  auf  die  grundlegenden 
Elemente  der  Agrarverfassung,  Boden  b  e  s  it  z  -  und  Betriebs  Vertei- 
lung und  das  Verhältnis  von  Besitz  und  Betrieb  zueinander.  Obwohl 
es  nun  ganz  unmöglich  ist,  diesen  Punkt,  der  von  den  Freunden 
des  Instituts,  z.  B.  Sering,  einfach  nicht  erörtert  worden  ist,  im 
Rahmen  dieser  Studie  erschöpfend  zu  behandeln,  so  muß  doch 
einiges  wenigstens  über  die  Beeinflussung  des  stets  so  stark  hervor- 
gehobenen Interesses  an  der  „Erhaltung  des  Bauernstandes"  durch 
das  Fideikommiß  auch  hier  gesagt  werden. ') 

Was  zunächst  die  Entwicklung  des  bäuerlichen  Bodenbesitzes, 
speziell  im  Osten  der  Monarchie,  den  wir  hier  allein  heranziehen, 
anlangt,  so  wird  er  heute  durch  zwei  Tendenzen  zuungunsten 
des  Bestandes  speziell  der  größeren  und  mittleren  Bauernstcllen  be- 
einflußt. Einerseits  durch  den  Landhunger  der  Parzellenbesitzer, 2) 
welche  —  und  dies  gilt  insbesondere  für  die  zahlreiche  Klasse  der 
grundbesitzenden  Sachsengänger  —  um  jeden,  auch  einen  gänzlich 
unwirtschaftlichen  Preis  durch  Bodenzukauf  selbständig  zu  werden 

*)  Die  nachstehenden  Zahlen  sind  durchweg  nach  dem  Gctneindclexikon  von 
1885  und  1895,  ferner  nach  den  preußischen  Grundbesitzaufnahmen  von  1878  und 
1892,  den  Berufszühlungcn  von  188a  und  189$,  den  Erntestatistiken  (alles  in  den 
Tabellen  teils  der  amtlichen  preußischen  Statistik,  teils  der  Reichsstatistik  enthalten) 
und  den  im  preußischen  „Statistischen  Jahrbuch"  gegebenen  Ziffern  errechnet,  soweit 
sie  nicht  direkt  entnommen  werden  konnten.  Ich  habe  der  Raumersparnis  halber 
auch  nur  die  Verhältnis-  nicht  die  absoluten  Zahlen  hergesetzt.  Die  nur  begrenzte 
Vergleichbarkeit  der  „landwirtschaftlichen"  mit  den  „Anbau"rlachen  von  1895  bezw. 
1882  steht  der  Vcrglcichung  der  Kreise  untereinander  nicht  im  Wege. 

*J  Der  natürlich  sehr  stark  mitbedingt  ist  durch  das  Verschwinden  der  ge- 
werblichen Nebenarbeit  auf  dem  platten  Lande. 


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526 


Max  Weber, 


trachten  und  dadurch  den  Bodenpreis  in  die  Höhe  treiben :  Abnahme 
der  größeren  unselbständigen,  Zunahme  der  kleinsten  selbständigen 
und  Abnahme  der,  zugunsten  jener  Nachfrage  vorteilhaft  zu  parzellieren- 
den, größeren  selbständigen  Besitzungen  sind  die  Folgen.  Auf  der 
anderen  Seite  ist  es  der  Landhunger  zunächst  des  bürgerlichen 
Kapitals,  welches  Anlage  in  Bodenbesitz  wegen  der  sozialen  Position 
des  Gutsbesitzers  sucht,  daneben  aber  auch  der  Landhunger  des  Fidei- 
kommißbesitzes ,  der  nach  Erweiterung  seiner  Rentenbasis  strebt« 
Soweit  nicht  ganze  Rittergüter,  sondern  Bauernländereien  angekauft 
werden,  verkleinern  beide  naturgemäß  nicht  den  Bereich  des  seiner- 
seits selbst  landhungrigen  Parzellenbesitzes,  sondern  gerade  den  der 
größeren  und  mittleren  Bauernbesitzungen,  —  dies  auch  deshalb,  weil 
naturgemäß  überall  die  mit  Gebäuden  weniger  belastete  Fläche 
billiger  zu  erstehen  ist.  Beiden  Tendenzen  zur  Seite  steht  nun  die 
Benachteiligung  derjenigen  Eigentümer  betriebe,  welche  nicht 
entweder  ganz  oder  annähernd  ganz  durch  die  eigene  Familie 
bestellt  werden  können,  oder  aber  den  regelmäßigen  Bezug  großer 
Scharen  wandernder  Saisonarbeiter  lohnen,  infolge  der  Steigerung 
der  Löhne  und  der  bekannten  Entwicklungstendenzen  der  Arbeits- 
verfassung im  Osten.  —  Dem  Umsichgreifen  der  Bodenbesitz- 
Akkumulation  wirkt  nun  auf  dem  Gebiete  des  ungebundenen 
Bodens  zurzeit  die  unzweifelhafte  Tendenz  zur  Verkleinerung  unwirt- 
schaftlich großer  Betriebe  derart  entgegen,  daß  heute  auch  in 
der  Sphäre  der  nicht  gebundenen  großen  Besitzungen  im  ganzen 
die  Tendenz  zur  Abnahme  der  Durchschnittsgrößen  überwiegt 
Allein  diese  Abnahme  erfolgt,  bei  der  größeren  Rentabilität  der 
Ausbeutung  des  Landhungers  der  Parzellisten,  in  weitaus  stärkerem 
Maß  zugunsten  ganz  kleiner  Bauernstellen  als  zugunsten  mittlerer 
oder  größerer.  —  Wie  sich  nun  die  Fideikommißbildung  zu  diesen 
Entwickungstendenzen  stellt,  versuchen  wir  uns  wieder  an  dem 
Beispiel  Schlesiens  zu  verdeutlichen  und  greifen  auch  hier  als  Fidei- 
kommißkreise,  die  in  der  erwähnten  amtlichen  Publikation  ausge- 
wählten 17  schlesischen  Kreise  heraus.  Die  Grundbesitzverteilung 
dieser  schlesischen  Fideikommißkreise  weicht  nun  von  dem  durch- 
schnittlichen Zustande  Schlesiens  zunächst  darin  ab,  daß  die  Zahl 
der  selbständigen  im  Verhältnis  zu  den  unselbständigen  Besitzungen 
eine  erheblich  kleinere  ist:  1878  1  13,4  in  der  Provinz,  1  :  4,9  in 
den  Fideikommißkreisen ,  1893:  1:2,9  in  der  Provinz,  1:3,8  in 
den  Fideikomißkreisen.  Zwar  hat,  wie  diese  Relationen  zeigen, 
von  1878— 1893  die  Zahl  der  selbständigen  Besitzungen  in  allen 


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Agrarstaüslischc  u.  sozialpolit.  Betrachtungen  zur  Fideikommiflfrage  in  Preußen.  527 

Fideikommißkreisen  zusammengerechnet  schneller  zugenommen  als 
im  Durchschnitt  der  Provinz,  aber  diese  Zunahme  ist  weit  über- 
wiegend nicht  durch  Neuentstehung  von  mittleren  Bauernbesitzungen, 
sondern  dadurch  herbeigeführt,  daß,  besonders  in  den  industriellen 
Fideikommißkreisen,  in  überdurchschnittlich  hohem  Maße  der 
Bruchteil  derjenigen  Parzellenbesitzungen  von  ungefähr  60  Talern 
Reinertrag  gestiegen  ist,  welche  als  „selbständige"  Nahrungen 
gezählt  wurden,  verbunden  mit  einer  teils  absoluten,  teils  relativen 
Abnahme  der  unselbständigen,  früher  auf  gewerbliche  Nebenarbeit 
sich  stützenden  Parzellenbesitzungen.  Die  Zunahme  kam  also  lediglich 
den  eben  über  die  Schwelle  der  Selbständigkeit  herausragenden 
Kleinstbaucrn  zugute.  —  Das  entsprechende  zeigt  sich  bei  spezieller 
Betrachtung  des  bäuerlichen  Grundbesitzes.  Wenn  man  als  Grenzen 
der  bäuerlichen  Besitzungen  nach  unten  das  Nichtvorkommen  „un- 
selbständiger" in  der  betreffenden  Reinertragsklasse,  nach  oben 
das  Auftreten  von  Gutsbezirken  im  Umfang  von  mehr  als  1 10 
der  Fläche  der  betreffenden  Reinertragsklasse  annimmt,  so  stellen 
die  Besitzungen  zwischen  60  und  300  Talern  Reinertrag  im  Pro- 
vinzialdurchschnitt  und  (mit  nur  zwei  Ausnahmen)  auch  in  allen  Fidei- 
kommißkreisen „bäuerlichen"  Besitz  dar.  Wie  in  der  ganzen  Provinz, 
so  sind  nun  1878  — 1893  auch  in  den  Fideikommißkreisen  Zahl  und 
Fläche  der  Besitzungen  dieser  Klasse  gesunken,  aber  der  Zahl 
nach  langsamer,  als  im  Provinzialdurchschnitt  (minus  1,3  Proz. 
gegen  minus  2,4  Proz.),  dagegen  der  Fläche  und  also  auch  der 
Gesamtbedeutung  innerhalb  der  Agrarverfassung  nach  schneller 
(minus  5,3  Proz.  gegen  minus  3,8  Proz.),  d.  h.  —  wie  auch  ein 
näheres  Eingehen  auf  die  Zahlen  lehrt:  —  es  ist  in  den  Fidei- 
kommißkreisen in  stärkerem  Maße  als  im  Provinzialdurchschnitt 
die  Schicht  der  kleinen  Bauern  begünstigt  gewesen,  also  erhalten 
geblieben  oder  (teilweise)  gewachsen,  dagegen  sind  die  mittel-  und 
großbäuerlichen  Besitzungen  schneller  gesunken,  als  im  Provinzial- 
durchschnitt, und  zwar  obwohl  sie  ohnedies  in  den  Fideikommiß- 
kreisen im  allgemeinen  am  schwächsten  vertreten  waren.  Die  Er- 
haltung und  weitere  Verbreitung  der  Fideikommisse,  welche  das 
Angebot  käuflichen  Bodens  dauernd  und  zunehmend  künstlich 
herabsetzt  und  die  Masse  der  Bevölkerung  in  verstärktem  Maße 
auf  die  ungünstigsten  Böden  zusammendrängt,  würde,  soweit  sich 
urteilen  läßt,  in  den  Bodenbesitzverhältnissen  die  Tendenz  zum 
Nebeneinander  großer  Bodenkomplexe  und  kleiner  Stellen,  die  zur 
Beschäftigung  und  Ernährung  einer  Familie  mit  möglichst  niedriger 


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528 


Max  Weber, 


Lebenshaltung  eben  ausreichen,  fühlbar  verstärken,  wie  dies  ja 
dem  früher  theoretisch  Entwickelten  entspricht.  —  Die  Bewegungen 
innerhalb  der  Sphäre  des  großen  Besitzes  sollen,  da  hier  die  ge- 
zählten Besitzeinheiten  am  wenigsten  mit  den  Eigentumseinheiten 
koinzidieren,  für  jetzt  beiseite  bleiben.  Wir  wenden  vielmehr  unsere 
Aufmerksamkeit  der  Betriebs  Verteilung  zu. 


Von  der  gesamten 

WirLschaftsfläche  umfaßten  1895  Proz. 

die  Betriebe  von  ha 

■ 

o— 2 

2—5 

i\J—  IW 

über  100 

5—100 

Regierungsbezirk  Breslau1) 

2,90 

8,27 

24,66 

23,82 

40,35 

48,48 

Kreise :  Groß-Wartenberg 

4,71 

10,97 

29,52 

9.89 

44,91 

39.41 

Öls  

2,40 

6,74 

20,05 

17.97 

52.84 

48,02 

Militsch     .    .  . 

3,37 

7.99 

32,07 

13.89 

42.68 

45  96 

Reichenbach  .  . 

2,46 

7,61 

19.98 

26,75 

43,20 

46,73 

Waldenburg  .  . 

4,91 

9,44 

52,40 

27,74 

5.5« 

80,14 

Reeierunesbczirk  Lictrnitz 

3,95 

11,36 

30,28 

26,01 

28,40 

56,29 

Kreise :  Freistadt    .    .  . 

2,50 

7.85 

29.74 

22,58 

3  4. 33 

52.32 

Sagan  .... 

3>87 

13,01 

32,36 

26,76 

24,00 

59,12 

Sprottau    .    .  . 

2,05 

6,91 

26,71 

32,16 

32,17 

85,87 

Hirschberg     .  . 

6,94 

17,42 

37,74 

30,39 

7.5i 

68,13 

Regierungsbezirk  Oppeln 

7,29 

1346 

33.29 

»4.74 

3  ^  t** 

A  80  X 

Kreise:  Rosenberg.    .  . 

5.92 

10,89 

33,86 

8,o8 

41,25 

41,96 

Lublinitz    .    .  . 

6,36 

15,16 

34,44 

7.o8 

30,96 

41.51 

Tost-Gleiwitz .  . 

6,x6 

13.12 

28,57 

5.39 

46,76 

33.96 

Tarnowitz  .    .  . 

19,64 

17,92 

14.91 

3.51 

44,02 

21,42 

Pleß  

10,73 

17,57 

34,38 

9,38 

27.34 

43,76 

Ratibor.    .    .  . 

11,31 

14,37 

30,76 

6,27 

87,29 

37,05 

Kosel  .... 

7,59 

12,92 

3«.27 

7.86 

40,36 

39,13 

Die  vorstehende  Tabelle  zeigt  die  Betriebsverteilung  der  Fidei- 
kommißkreise  im  Jahre  1895  nach  den  5  Größenklassen,  welche 
die  Reichstatistik  unterscheidet,  im  Vergleich  mit  den  Durchschnitts- 
zahlen der  betreffenden  Regierungsbezirke.    Es  zeigt  sich  zunächst, 


')  Der  Kreis  Habclschwcrdt  ist  hier  aus  den  früher  angegebenen  Gründen  fort- 
fortgelassen. Fett  gedruckt  sind  die  Zahlen  in  den  Kreisen,  wo  die  betreffende 
Größenklasse  die  Proportion  des  Regierungsbezirks  übersteigt. 


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Agrarstatistische  u.  sozialpolit.  Betrachlungen  zur  Fidcikommißfrage  in  Preußen.  529 

daß  in  12  von  den  16  Fideikommißkreiscn  die  Großbetriebe  und 
zwar  zum  Teil  recht  erheblich,  mehr  von  der  gesamten  Wirt- 
schaftsfläche okkupieren,  als  im  Durchschnitt  der  einzelnen  Re- 
gierungsbezirke. Dagegen  stehen  sie  in  zwei  Kreisen  (Waldenburg 
und  Hirschberg)  ganz  auffallend  und  in  einem  weiteren  (Sagan) 
merklich  dahinter  zurück  und  diese  selben  sowie  ein  benachbarter 
Kreis  (Sprottau)  sind  die  einzigen  schlesischen  Fideikommißkreise,1) 
in  denen  der  „großbäuerliche"  Betrieb  eine  Tür  Schlesien  überdurch- 
schnittliche Stelle  einnimmt  In  allen  diesen  Kreisen  sind 
nun  die  Fideikommißkreise  zu  mehr  als  ,/4,  in  einem 
zu  9/10,  der  Fläche  Forstfideikommisse.  —  Die  Gruppe  des 
kleineren  bäuerlichen  Besitzes  (5  —  20  ha)  ist  allerdings  in  der  Hälfte 
(8)  der  Kreise  stärker  als  im  Durchschnitt  der  Regierungsbezirke 
vertreten,  darunter  aber  3  jener  spezifischen  Forst  fideikommiß- 
kreise, während  4  weitere  auf  den  Regierungsbezirk  Oppeln  —  die 
Region  der  Polen  —  fallen.  Vergleicht  man  in  den  Kreisen  mit 
besonders  starker  Vertretung  dieser  Klasse  die  Betriebsgrößenent- 
wicklung zwischen  den  Zählungen  von  1882  und  1895,  so  zeigt 
sich,2)  daß  die  durchschnittliche  Betriebsgröße  in  den  vergleichbaren 
Größenklassen  der  bäuerlichen  Betriebe  sich  dort  derart  verschoben 
hat,  daß  —  wiederum  mit  Ausnahme  eines  F  o  r  s  t  fideikommiß- 
kreises  —  die  Zunahme  gerade  den  kleineren,  noch  eben  selb- 
ständigen, Betrieben  zugute  gekommen  ist.3)  Aus  dem  gleichen 
Grunde  zeigen  auch  die  an  bäuerlicher  Betriebsfläche  stabilen 
oder  abnehmenden  Kreise  meist  eine  Zunahme  der  Zahl  der 
Betriebe.  —  Abgenommen  hat,  wie  in  der  Provinz  überhaupt,  so 
auch  in  der  überwiegenden  Mehrzahl  der  Fideikommißkreise,  Fläche 
und  Zahl  der  unselbständigen  Betriebe  unter  2  ha,  jedoch  sind  anderer- 
seits in  einer  Anzahl  von  Fidcikommißkreisen  eine  erhebliche  Zahl  von 
K 1  ei nstparzellisten  (unter  1  ha)  neu  entstanden.  Beginnt  man  nun, 
wie  es  notwendig  geschehen  muß,  in  die  lokale  Einzelvergleichung 
einzutreten,  so  erfordert  die  Deutung  der  dabei  z.  T.  etwas  mühsam 

*)  Nur  im  Kreise  Reichenbach  ist  neben  den  Betrieben  über  100  ha  auch  die 
Klasse  20—100  ha  überdurchschnittlich  vertreten.  Von  ihm  wird  später  besonders 
tu  reden  sein.  Hier  sei  nur  bemerkt,  dafl  nach  seinen  Bodenverhältnissen  hier 
die  gröfleren  Betriebe  dieser  Klasse  bereits  als  Großbetriebe  gelten  müssen. 

*)  Ich  will  diese  wei^äufigen  Rechnungen  nicht  auch  noch  hier  abdrucken. 

*)  So  hat  z.  B.  im  Kreise  Militscb  die  Zahl  der  Betriebe  in  der  Klasse  von 
10 — 50  ha  um  14  Proz.,  die  Fläche  nur  um  io'/g  Proz.  zugenommen,  in  der  Klasse 
von  2 — 10  ha  die  Zahl  um  10,8  Proz.,  die  Fläche  nur  um  61/,  Proz. 


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53o 


Max  Weber, 


zu  errechnenden  Zahlen  eine  eingehendere  Darlegung,  als  sie  hier 
gegeben  werden  kann.    Es  muß  genügen,  hier  unter  dem  Strich  l) 

')  1.  Latifundien  und  freier  Grundbesitz  in  rein  agrarischen  Kreisen.  —  In  den 
Kreisen  Guhrau  und  Militsch  sind  beiderseits  über  s4  der  wirtschaftlich  über- 
haupt Tätigen  (Gruppen  A.  B.  C.  der  Berufsstatistik)  landwirtschaftlich  h au pt berufs- 
tätig.   Der  etwas  bessere  Boden  in  Guhrau  wird  durch  das  von  der  Kavalleriegarnison 
in  Militsch  repräsentierte  große  Konsumzentrum  ausgeglichen,  Guhrau  ist  wesentlich 
schwächer  bewaldet  als  Militsch,  dagegen  sehr  viel  stärker  unter  den  Pflug  ge- 
nommen |  Verhältnis  der  Ackerfläche  von  Guhrau  zu  Militsch  (1885)  gleich  9,1  :  10, 
der  gesamten  Kreisfläche  dagegen  nur  wie  7,3:10  und  der  Waldflächc  nur  wie 
5,3 :  10).    Die  Großbetriebe  über  100  ha  umfaßten  180.5  in  Guhrau  50,8,  in  Mi- 
litsch 42,7  Proz.  der  Fläche.    Dagegen  sind  in  Guhrau  5'/j  Proz.,  in  Militsch  da- 
gegen 43  Proz.  der  ganzen  Kreisfläche  fideikommissarisch  gebunden  und  zwar  dem 
Schwerpunkt  nach  in   5  großen  Herrschaften  mit  80  einzelnen  Rittergütern  und 
Vorwerken.    In  Guhrau  hat  der  Großbetrieb  1882— 1895  an  Umfang  der  Wirt- 
schaftsfl iiche  sich  behauptet,  an  Durchschnittsgröße  der  Betriebe  etwas  abgenommen, 
im  Fidcikommißkrcisc  Militsch  ist  er  an  Fläche  etwas  gestiegen,  an  Zahl  der  Groß- 
betriebe hat  er  ab-  und  also  an  Durchschnittsfläche  des  Großbetriebes  z  u  genommen. 
Die   bäuerlichen  Besitzgruppen  zwischen    10  und    100  ha  haben    1882 — 1895  in 
beiden  Kreisen  an  Gesamtflächenquote  130  Proz.)  sich  so  gut  wie  nicht  verändert, 
dagegen  an  Zahl  beiderseits,  in  Militsch  aber  doppelt  so  stark  als  in  Guhrau  zu- 
genommen, so  daß  die  Durchschnittsflächc  pro  bäuerlichen  Betrieb  in  diesen 
Klassen  jetzt  in  Guhrau  20,2,  im  Fidcikommißkrcisc  Militsch  nur  17,8  ha  beträgt, 
trotzdem  in  Militsch  Anerbensitte,  in  Guhrau  Vererbung  ohne  Bevorzugung  eines 
Erben  vorherrscht.    In  der  Klssse  2-10  ha  hat  die  Gesamtfläche  beiderseits  zuge- 
nommen, in  Guhrau  um  5,  in  Miliisch  aber  um  16  Proz.    Da  die  Zahl  der  Be- 
triebe in  Militsch  um  10  Proz.  gestiegen  ist,  in  Guhrau  aber  um  l1/,  Proz.  ab- 
genommen hat  fdurchschnittliche  Betriebsgrüße  4,9  ha  in  Militsch  gegen  5,1  ha  in 
Guhrau)  und  da  endlich  bei  den  Parzellisten  unter  2  ha  ebenfalls  die  Zunahme  der 
Zahl  in  Militsch  (-(-  7  Proz.)  einer  Abnahme  in  Guhrau  ( —  16  Proz.)  gegenübersteht, 
so  zeigt  alles  in  allem  der  Fideikommißkreis  im  Gegensatz  zu  dem  Kreise  mit  nicht 
gebundenen  Boden  heute  die  Tendenz  der  Steigerung  der  Extreme  auf  beiden 
Seiten,  Parzellisten  und  Kleinbauern  mit  abnehmender  Durchschnitlsfläche  einerseits, 
Großbetrieb  mit  zunehmender  Fläche  andererseits,  auf  Kosten  der  mittleren  Betriebe. 
Dementsprechend  ist  1895  der  Kleinstbctrieb  unter  5  ha  in  Militsch  mit  II1/,  Proz.  gegen 
7,9  Proz.  in  Guhrau  vertreten,  die  bäuerliche  Besitzklassc  5 — 20  ha  zwar  in  Militsch 
jetzt   noch  starker  als  in  Guhrau  (32  gegen  24  Prozent),  wobei  aber  zu  berück- 
sichtigen  ist,   daß   in   Militsch   noch  in  der   Größenklasse    14 — 18   ha    ljl0  der 
Besitzungen  als   unselbständig   gezählt  sind.     Dagegen  ist  die  Betricbsklasse 
20—100  ha,   also  der  selbständige  Bauernbetrieb,  in  Guhrau  stärker,  als  im 
Fidcikommißkreise   vertreten.   —   Eine   Ergänzung    des  Bildes  bietet   die  Boden- 
besitzstatistik, welche   folgendes  ergibt:  der  unselbständige  ParzellcnbesiU  bis  zu 
5  ha  (bis  zu  welcher  Größe  beide  Kreise  nur  je  2  selbständige  Besitzungen  aufweisen), 


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Agrarstatistiscbe  u.  sozialpolit.  Betrachtungen  zur  Fideikommißfrage  in  Preußen.     53  \ 

an  drei  Beispielen  benachbarter  Kreise  mit  in  bestimmter  Beziehung 
charakteristisch  differierenden,  im  übrigen  möglichst  ähnlichen  Ver- 
zeigt in  der  Zahl  der  Besitzungen  in  beiden  Kreisen  keine  nennenswerte  Veränderung. 
Die  Bcsitzklassc  zwischen  5  und  18  ha,  in  denen  selbständige  und  unselbständige 
Besitzungen  nebeneinander  stehen,  hat  sich  der  Zahl  nach  im  Fideikommißkrcisc 
Militsch  etwas  stärker  als  im  Kreise  Guhrau  vermehrt.  Innerhalb  dieser  Klasse  ist 
die  Zahl  derjenigen  Besitzungen,  die  als  selbständige  gezählt  wurden,  im  Kreise 
Guhrau,  wo  sie  bis  dahin  schwach  vertreten  waren,  von  29,7  auf  56,5  Proz.,  dagegen 
im  Kreise  Militsch,  wo  sie  der  Zahl  nach  auch  jetzt  noch  größer  ist  als  in  Guhrau, 
nur  von  38,8  auf  45,9  Proz.  gestiegen,  wahrend  die  unselbständigen  Besitzungen 
im  Kreise  Guhrau  absolut  und  relativ  weit  stärker  abgenommen  haben.  Die  so 
gut  wie  ausschließlich  selbständigen  Besitzungen  zwischen  18  und  50  ha  weisen  in 
beiden  Kreisen  der  Zahl  nach  eine  Verminderung:  im  Kreise  Guhrau  um  —  12,3, 
in  Militsch  um —  11,9  Proz.  auf;  der  absoluten  Zahl  nach  ist  diese  Klasse  jedoch  in 
Guhrau  noch  immer  stärker  vertreten,  als  in  Militsch.  Das  Verhältnis  der  selb- 
ständigen zu  den  unselbständigen  Besitzungen  stellte  sich  im  Kreise  Guhrau  1 878 
l;3»37.  '893  we  1:2,20,  in  Militsch  1878  wie  1:3,96,  1893  wie  1:2,82. 
Die  relative  Bedeutung  der  selbständigen  Besitzungen  ist  also  gleichmäßig  gestiegen, 
in  Militsch  aber  immer  noch  erbeblich  geringer  als  in  Guhrau.  —  Die  Bevölke- 
rungszahl der  Dörfer  ist  im  Kreise  Militsch  seit  1871  stetig  zurückgegangen,  bis  1895 
um  —  14  Proz.,  in  Guhrau  um  —  12,9  Prozent,  wovon  jedoch  */4  erst  auf  die  Zeit 
seit  1885  fallen.  Die  Güter  weisen  im  gleichen  Zeitraum  in  Militsch  eine  Ab- 
nahme ( —  1,7  Proz.),  in  Guhrau  eine  erhebliche  Zunahme  (-{-  10,7  Proz.)  auf:  die 
Gutsbevölkerung  hatte  sich  in  Militsch  bis  Anfang  der  1 880  er  Jahre  aufsteigend  be- 
wegt (1880  -f-  io  Proz.  gegen  1871)  und  war  dann  rasch  gesunken,  in  Guhrau 
hatte  der  Anstieg  bis  1885  angehalten  f-f-  13  Proz.  gegen  187 1)  und  dann  eine 
kleine  Abnahme  eingesetzt.  Hiernach  zu  urteilen  vollzog  sich  in  Guhrau  die  Ein- 
schränkung der  Großbetriebe  auf  das  für  intensive  Wirtschaft  zweckmäßige  Ausmaß, 
ohne  daß  sie  in  ihrer  Stellung  irgend  erschüttert  worden  wären,  während  sie  in 
Militsch  nach  Flächen  expansion  strebten. 

Der  Unterschied  der  Volksdichte  zwischen  Dörfern  und  Gütern  war  1885  —  wo 
wir  Areal  und  Volkszahl  vergleichen  können  —  in  Militsch  mehr  als  doppelt  so  groß 
als  in  Guhrau  (l  :  9  dort,  1  : 4' /a  hier)  und  selbst  wenn  man  den  in  Militsch  quali- 
tativ weit  besseren  Wald  abzieht  und  die  Gesamtbevölkerung  einschließlich  aller 
direkt  und  indirekt  durch  ihn  in  Nahrung  Gesetzten  nur  zu  dem  Acker-  und  Wiesen- 
land in  Beziehung  setzt,  waren  in  Militsch  die  Dörfer  4 mal,  in  Guhrau  nur 
3  mal  dichter  besiedelt  als  die  Güter.  Die  stärkeren  Kontraste  des  Fideikommis- 
kreises  treten  auch  hier  hervor.  —  Die  landwirtschaftlich  (h  a  u  p  t  beruflich)  erwerbs- 
tätige Bevölkerung  hatte  1882—95  in  Militsch  um  etwas  stärker  zugenommen 
(H~  3i3^  Proz.  gegen  -f-  3,25  in  Guhrau)  und  war,  auf  den  Grundsteuerreinertrag  be- 
zogen, in  Militsch  dichter  (pro  Kopf  58,5  Mk.  gegen  75,6  Mk.  in  Guhrau),  weil 
Bewaldung  und  Parzellisten  in  Militsch  die  Quote  herabdrücken.  Neben  der  Arbeits- 
intensität (=  Kapitalarmut)   der  Militscher  Kleinbetriebe   kommt  darin   aber,  da 


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532 


Max  Weber, 


hältnissen  einige  wichtigere  Entwicklungsmomente  zu  illustrieren, 
—  nicht:  zu  „beweisen",  denn  dazu  bedürfte  es  der  Vor- 

die  Zählungen  im  Juni  stattfanden,  offenbar  die  stärkere  S  a  i  s  o  n  arbeiterver- 
wendung  zum  Ausdruck,  denn  die  Abnahme  der  Angehörigen  der  landwirtschaftlich 
Erwerbstätigen  ist  im  Kreise  Militsch  auffallend  stark  (21  Proz.)  und  mehr  als 
doppelt  so  hoch  als  in  Guhrau.  (Auch  in  der  Provinz  Posen  sind  die  Fideikommissc 
stärker  als  der  Durchschnitt  der  Güter  an  der  Verdrängung  deutscher  durch  polnische 
Arbeiter  beteiligt). 

Bei  alledem  ist  zu  beachten,  daß  es  sich  im  Kreise  Militsch  um  Fideikommissc 
alten  Bestandes  und  sehr  großen  Umfangs  auf  relativ  nicht  allzu  hoch  klassifiziertem 
Boden  handelt  (der  Ernteertrag  der  Gutsbezirke  in  Weizen  war  regelmäßig  in 
Militsch  niedriger  als  in  Guhrau).  Nicht  nur  ist  unter  solchen  Verhältnissen  die 
Neigung  zum  Bauernauskaufen  wenigstens  regelmäßig  geringer  als  bei  kleinen,  auf 
Zuwachs  ausgehenden  Fideikommisscn  auf  Boden  hoher  Ertragsfähigkeit,  sondern  es 
besteht  auch  häufiger  die  Möglichkeit,  bäuerliche  Pachtstellen  mittleren  Umfangs 
zu  scharfen,  wo  der  kleine  Betrieb  privatwirtschaftlich  begünstigt  ist.  Daher  die 
(relativ)  noch  immer  starke  Vertretung  größerer  bäuerlicher  Betriebe  in  Militsch, 
aber  auch  die  starke  Vertretung  der  Pacht,  trotz  des  nicht  besonders  guten  Bodens. 
Die  Pachtquote  war  1882  —  eine  Vcrgleichung  mit  späteren  Zahlen  war  nicht  mög- 
ich  —  in  den  beiden  Kreisen  nach  den  5  Betricbsgrößcnklasscn :  Uber  100  ha: 
Guhrau  11,0,  Militsch  33,1  Proz.;  50 — 100  ha:  G.  0,4,  M.  11,8  Proz.;  10 — 50  ha: 
G.  3,0,  M.  5,1  Proz.;  2—10  ha:  G.  8,5,  M.  16,6  Proz.;  unter  2  ha:  G.  16,1,  M. 
57,9  Proz.  Bei  den  Großbetrieben  hat  inzwischen  in  der  Provinz  Schlesien  die 
Verpachtung  zugunsten  der  Selbstbcwirtschaftung  abgenommen.  Wie  es  in  dieser 
Hinsicht  mit  den  Fideikommissen  speziell  steht,  ist  leider  nicht  bekannt.  — 

2.  Fo  rst fideikommissc:  Die  Kreise  Waldenburg  und  R eichen bach  stim- 
men in  der  Quote  der  Fideikommißflächc  und  in  der  stark  überwiegenden  Bedeutung  der 
industriellen  Bevölkerung  (Waldenburg  Bergbau,  Rcichenbach  Textilindustrie)  Uberein. 
Entsprechend  der  weit  ungünstigeren  Bodenqualität  des  Kreises  Waldenburg  (Acker- 
reinertrag 12  Mk.  pro  ha  gegen  28  in  Rcichenbach)  hat  in  Waldenburg  nicht  der 
landwirtschaftliche,  sondern  der  Forstboden  die  fideikommissarischc  Bindung  gesucht 
Die  Forstquote  beträgt  in  Reichenbach  nur  */,  von  derjenigen  in  Waldenburg.  In 
Reichenbach  nimmt  im  Gegensatz  zur  Mehrheit  der  umliegenden  Kreise  und  zum 
Durchschnitt  des  Bezirks  die  Fläche  der  Betriebe  über  100  ha,  wie  in  Militsch, 
trotz  gleichbleibender  Zahl  zu  (1882 — 1895  um  -f-  37  Proz.)  und  beträgt  jetzt  über 
43  Proz.  der  Fläche,  in  Waldenburg  ist  sie  stabil  und  beträgt  Proz.  der  Fläche. 
Dagegen  umfaßt  der  bäuerliche  Betrieb  (5  —  100  ha)  in  Rcichenbach  43,  in  Walden- 
burg aber  80  Proz.  der  Fläche.  Die  selbständigen  bäuerlichen  Betriebe  zwischen 
10  und  100  ha  nehmen  in  Rcichenbach  an  Zahl  und  Fläche  ab,  in  Waldenburg  in 
beiden  zu,  während  die  überwiegend  unselbständige  Betriebe  zwischen  2  und  10  ha 
in  Waldenburg  im  Gegensatz  zu  Reichenbach  a  b  nehmen.  Die  Durchschnittsbctriebs- 
flächc  der  bäuerlichen  Betriebe  steigt  in  Waldenburg,  in  Rcichenbach  sinkt  sie,  in 
beiden  Fällen  freilich  nur  unbedeutend.    Dabei  ist  zu  beachten,  daß  in  Rcichenbach 


Agrarstatistische  u.  sozialpolit.  Betrachtungen  zur  Fideikommiflfrage  in  Preußen,  533 

führung  eines  weit  umfassenderen  Materials,  die  ich  mir  gern  für 
eine  künftige  Erörterung  dieser  Dinge  unter  wissenschaftlich  wert- 
schon sehr  zahlreiche  Betriebe  unter  100  ha  im  sozialen  Sinne  Großbetriebe  sind. 
Die  Parzellisten  endlich,  speziell  die  Betriebe  unter  I  ha,  sind  infolge  der  starken 
landsässigen  Bergarbeiterbevölkerung  in  Waldenburg  stärker  als  in  Reichenbach  ver- 
treten, wo  sie  infolge  der  Verschiebung  der  Textilindustrie  abnehmen.  In  dem 
Forstfidcikommißkrcise  also  Stärkung  des  bauerlichen  Betriebes,  in  Reichenbach 
Schwächung  desselben  zugunsten  der  Großbetriebe,  deren  Durchschnittsgrößc 
steigt.  Die  geschlossene  Vererbung  mit  Vorzugsquote  herrscht  in  Reichenbach  im 
Gegensatze  zu  Waldenburg  vor.  —  Die  Lage  des  bäuerlichen  Besitzes  in  dem 
immerhin  noch  stark  bewaldeten  Fidcikommißkreisc  Reichenbach  ist  dabei  freilich  noch 
immer  wesentlich  günstiger,  als  in  dem  anstoßenden  waldarmen  Oderebenenkreise 
Nimptsch,  in  dem  der  sehr  fruchtbare  Boden  zu  60  Proz.  in  den  Händen  der  Groß- 
betriebe haftet.  Allein  die  Großbetriebe  haben  in  Nimptsch  seit  1882  an  Zahl  weit 
langsamer  zu-,  und  im  Gegensatz  zu  Reichenbach  an  Durchschnittsflächc  abge- 
nommen, die  bäuerlichen  Betriebe  aber  (to— 100  ha)  weisen  ebenfalls  im  Gegen- 
satz zu  Reichenbach  eine  Flächen  z  u  nähme  auf.  Und  in  dem  in  diesen  Grund- 
verhältnissen (Bewaldung,  Industriebevölkerung)  Rcichcnbach  und  Waldenburg  nahe- 
stehenden, aber  nur  zu  7  Proz.  der  Fläche  gebundenen  Kreise  Lan^eshut  liegen  die 
hier  in  Betracht  kommenden  Verhältnisse :  relativ  weit  geringere  Quote  der  Groß- 
bctricbtrlächc  (5  Proz.),  stärkerer  Bauernstand  (77 \.»  Proz.  der  Fläche),  ähnlich  wie 
in  Waldenburg,  nur  ist  im  Kreise  Landeshut  mit  freiem  Boden  gerade  der  mittlere 
und  größere  bäuerliche  Vertrieb  noch  stärker  vertreten,  als  in  Waldenburg  (Betriebe 
zwischen  20  und  100  ha  in  Landeshut  33'  i  Proz.  gegen  27^  Proz.  in  Waldenburg). 
Kine  Erleichterung  oder  auch  nur  ein  weiteres  Fortschreiten  der  Fideikommißbildung 
würde  hiernach  die  rein  kapitalistische  Agrarverfassung  der  oderebenen  Kreise,  wie 
Nimptsch,  Strehlen  usw.  dauernd  festlegen  und  sie  in  die  Bahn  des  Kreises  Reichen- 
bach  (T 1  äc  h  e  n  ausdehnung  der  Großbetriebe)  treiben.  Nimptsch  hat  bereits  10  Proz. 
Fideikommißfläche.  Die  landwirtschaftlich  im  Hauptberuf  Erwerbstätigen  haben  infolge 
der  erwähnten  entgegengesetzten  Entwicklung  der  mit  Landwirtschaft  kombinierten 
Industriearbeit  der  Parzellisten  und  infolge  der  Mitzählung  der  Saisonarbeiter  in 
Rcichcnbach,  wie  sie  sich  in  der  dort  erheblich  geringeren  Zahl  von  Angehörigen  aus- 
spricht, in  Waldenburg  ziffernmäßig  schneller  als  in  Rcichcnbach  abgenommen,  da- 
gegen in  den  Nachbarkreisen  mit  geringerem  Fideikommißbcstand  (Landeshut,  Nimptsch) 
zugenommen.  (Die  sehr  bedeutende  Zunahme  der  gesamten  Landbevölkerung  in 
Waldenburg  im  Gegensatz  zu  Reichenbach  ist  durch  die  industrielle  Entwicklung 
bedingt.) 

3.  Latifundien  in  landwirtschaftlichen  und  Latifundien  in  industriellen  Kreisen : 
Die  nahe  beieinander  gelegenen  Kreise  Pleß  und  Tarnowitz,  beide  der  Bevöl- 
kerung und  dem  Gesamtcharakter  nach  spezifisch  oberschlcsisch,  umfassen  beide 
sehr  große  Fidcikommissc  (Tarnowitz  45,  Pleß  31  Proz.  der  Fläche)  mit  starker 
Waldquote  (Tarnowitz  73,  Pleß  62  Proz.).  Das  Fürstentum  Pleß  ist  seinem 
Schwerpunkt    nach    eine    Grundherrscbaft    landwirtschaftlichen    Charakters,  die 


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534 


Max  Weber, 


volleren  Gesichtspunkten  als  dem  Augenblickszweck  einer  Gesetz- 
gebungskritik, vorbehalten  möchte.  Zu  jenen  Punkten,  auf  die  es  hier 
ankommt,  gehört  zunächst  die  sehr  verschiedene  Bedeutung  von  Fors  t  - 
fldeikommissen  und  landwirtschaftlichen  Fideikommissen.  Das 
landwirtschaftliche  Fideikommiß  ist  der  weitaus  schärfste  Feind  des 
bäuerlichen  Besitzes.    Roseggers  „Geschichte  Jakobs  des  Letzten" 


Grafen  Henckel-Donnersmarck  in  Tarnowiu  sind  spezifische  Repräsentanten  der 
schlesischen  „Starostenindustrie".  Die  beiden  Kreise  verhalten  sich  in  berug  auf 
die  Quote  der  landwirtschaftlich  Hauptberufstätigen  entgegengesetzt:  in  Plefl  beträgt 
das  Verhältnis  der  Gruppen  B.  und  C.  der  Berufsstatistik  zur  Gruppe  A.  (Land- 
wirtschaft usw.)  rund  l  :  2,3,  in  Tarnowitz  dagegen  umgekehrt  das  der  Landwirt- 
schaft zu  jenen  Gruppen  nur  rund  l  :  3,2.  Die  Verteilung  der  Fläche  auf  die  Be- 
triebe war  1895  folgende: 

Betriebe:      unter  2  ha     2  — 5  ha     5— 20  ha     20— 100  ha     über  100  ha 
Plefl  10,7  Proz.     17,6  Proz.  34,4  Proz.     9,4  Proz.   27,9  Proz.  d.  Fläche 

Tarnowitz  19,6  „  17,9  „  »4,9  „  3-5  «»0 
Also  ungemein  viel  stärkere  Vertretung  der  größten  und  kleinsten  Betriebe  in 
dem  industriellen,  relativ  starke  Vertretung  wenigstens  der  kleinen  Bauernstellen  in 
dem  agrarischen  Latifundienkreise.  In  Tarnowitz  stehen  62  „selbständige"  1650  „un- 
selbständigen'1 Besitzungen  gegenüber,  in  Plefl  947  der  ersteren  7976  der  letzteren. 
Die  landwirtschaftlich  hauptberuflich  Erwerbstätigen  nehmen  in  beiden  Kreisen  ab, 
in  Tarnowitz  aber,  obwohl  dort  nach  der  gegen  Plefl  weit  geringeren  Zahl  der 
Angehörigen  zu  schließen,  ungleich  mehr  Saisonarbeiter  gezählt  sind,  viermal  so 
stark.  Während  in  Tarnowitz  eine  gewaltige  im  Hauptberuf  industriell  tätige 
Parzellistenbcvölkerung  mit  landwirtschaftlichem  Nebenberuf  sich  entwickelt  hat, 
welche  die  hauptberuflich  landwirtschaftlich  Tätigen  an  Zahl  um  fast  »/*  überragt, 
ist  dies  letztere  in  Pleß  trotz  ebenfalls  starker  Nebenberufsentwicklung  umgekehrt. 
Alles  in  allem  eine  wescnüichc  Schärfung  der  Extreme  in  dem  industriellen  Lati- 
fundienkreise und  damit  eine  Steigerung  der  charakteristischen  Eigenart  der  Agrar- 
Verfassung  Schlesiens,  welche  im  schroffsten  Kontrast  zu  dem  angeblich  „Natür- 
lichen" den  Großbetrieb  auf  den  besten  Boden  und  nahe  an  die  Märkte,  die 
kleinen  Bauern  aber  auf  schlechten  Boden  und  in  die  Gebirgstäler  legt.  Eine 
weitere  Vermehrung  der  Fideikommisse  würde  jetzt  in  Schlesien  wesentlich  der 
Ebene  und  den  Industriegebieten  und  damit  der  immer  weiteren  Verschärfung  dieses 
Kontrastes  zugute  kommen.  Dagegen  wird  auf  ungünstigen  Böden  in  rein  agrarischer 
Gegend  eine  große  Standesherrschaft  weit  eher  die  großen  Betriebe  wenigstens 
innerhalb  eines  betriebstechnisch  zweckmäßigen  Umfangs  halten.  Das  ist  offen- 
bar im  Kreise  Pleß,  wo  die  Standesherrschaft  erst  letzthin  eine  Neueinteilung  ihres 
großen  Areals  unter  betriebstechnischen  Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten  vorgenommen 
hat,  in  der  Tat  der  Fall  gewesen,  wie  namentlich  auch  der  Gegensatz  gegen  den 
Nachbarkreis  Rybnik  (mit  allerdings  etwas  stärkerer  gewerblicher  Bevölkerung  als 
Pleß)  zu  zeigen  scheint. 


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Agrarstatistische  u.  sozial polit.  Betrachtungen  rur  Fideikommiöfrage  in  Preußen.  535 


ist  ein  Vorgang,  der  in  Gebieten  mit  gutem,  für  moderne 
kräftige  Bauernwirtschaften   überhaupt  qualifiziertem  Boden  sich 
wenigstens  nicht  allzu  oft  ereignen  wird.    Die  kapitalisierte  Forst- 
rente ist  im  allgemeinen  doch  zu  erheblich  niedriger,  als  der  Kauf- 
wert der  Bauerngüter.    Das  Expansionsbedürfnis  des  regelmäßig 
den  besseren  Boden  aufsuchenden  landwirtschaftlichen 
Fideikommisses  dagegen  richtet  sich,  wie  gesagt,  naturgemäß  gerade 
auf  die  mit  weniger  und  älteren  Baulichkeiten  bestandene  Fläche 
des  großen  und  mittleren  Bauernbesitzes  weit  stärker,  als  daß  es  den 
Versuch  machte,  mit  der  landhungrigen  Bodennachfrage  der  Kleinsten 
zu  konkurrieren.    Die  Fideikommißkreise  Schlesiens  zeigen,  auch 
da,  wo  die  ganz  großen  Fideikommisse  alten  Bestandes  in  stark 
vorwiegend  oder  gänzlich  landwirtschaftlichen  Gegenden  noch 
ein  anderes  Bild  aus  der  Vergangenheit  konserviert  haben,  heute  die 
Tendenz,  die  charakteristischen  Eigenarten  der  kapitalistisch  degene- 
rierten schlesischen  Agrarverfassung  weiter  zu  steigern,  deren 
soziale  Kontraste  zu  schärfen  und  zwar  am  meisten  da,  wo  in- 
dustriell akkumulierte  Kapitalien  auf  den  Weg  zur  Bodenanhäufung 
instradiert  werden.  Aufsaugung  des  guten  landwirtschaftlichen  Bodens, 
—  es  kann  nicht  oft  genug  gesagt  werden:  gerade  desjenigen 
Bodens,  auf  dem  nach  der  Meinung  der  modernen  Theoretiker  von 
der  „glücklichen  Mischung  der  Betriebsgrößen"  die  Bauern  sitzen 
„sollten",  —  durch  das  Kapital  und  seine  Festklammerung  in 
Fideikommissen,  daneben  kleine,  selbstgenügsame  und  —  an  der 
Ostgrenze  —  kulturfeindliche  Bauernwirtschaften  zusammengedrängt 
auf  den  rentelosen  Bodenklassen,  das  sind  jene  beiden  Tendenzen 
der  östlichen  ländlichen  Entwicklung,  welche  die  Fideikommisse 
zwar  sicherlich  nicht  etwa  geschaffen  haben,  welche  sie  aber,  statt 
ihnen  entgegenzuwirken,  verstärken. 

Der  Entwurf  scheint,  in  seinem  Eifer,  nur  ja  den  Großbesitz 
und  -Betrieb  zusammenzuklammern,  eine  solche  Entwicklung  geradezu 
zu  wollen.  Denn  er  will  die  Möglichkeit,  auf  Grund  von  „Un- 
schädlichkeitsattesten" gemäß  §  1  des  Gesetzes  vom  27.  Juni  1891 
über  die  Errichtung  von  Rentengütern,  auch  größere  Trennstücke 
aus  dem  Fideikommißnexus  zwecks  Abveräußerung  zu  entlassen, 
beseitigen  und  nur  die  Veräußerung  von  „kleineren  Teilen"  des 
Fideikommißgutes  zur  Errichtung  von  bäuerlichen  Stellen  „kleinen 
und  mittleren  Umfanges"  und  zur  Ansiedlungvon  Arbeitern 
zulassen  (§  29),  welche  überdies  vom  Stifter  beschränkt  oder  be- 
seitigt werden   kann.    Mit  Recht   tritt  Sering  in  Ausfuhrungen, 

Archiv  für  Sozial wUtentchaft  u.  Sozialpolitik.  I.    t A.  f.  soz.  G.  u.  St  XIX.)  3.  35 


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536 


Max  Weber, 


denen  man  sich  freut  durchweg  zustimmen  zu  können,  dieser  Be- 
schränkung entgegen:  es  ist  kein  Gesichtspunkt  erkennbar,  der  sie 
rechtfertigt.  — 

Endlich  die  Wirkungen  auf  die  Arbeitsverfassung.  Hier 
können  ohne  Zweifel,  wie  namentlich  das  Beispiel  der  Holsteiner 
„Grafenecke"  beweist,  wenigstens  die  großen  Fideikommisse  — 
regelmäßig  nur  diese,  denn  die  kleineren  unterschieden  sich  darin  in 
nichts  von  den  anderen  Gütern  —  im  eigenen  Interesse  die  Erhaltung 
einer  ansässigen  und  doch  nicht  Schollenpflichtigen  Arbeiterschaft  durch 
Eingehung  günstiger  kombinierter  Pacht-  u.  Arbeitsverträge  in  höherem 
Grade  fördern,  als  ein  einzelner  Gutsbesitzer,  dem  mehr  die  Ver- 
suchung nahe  liegt,  schlechte  Außenschläge  in  dieser  Form  abzu- 
stoßen. Geschehen  wird  es  freilich  wesentlich  nur  da,  wo  die  Boden- 
qualität niedrig,  das  Opfer  an  wertvollem  Land  also  nicht  erheb- 
lich ist:  —  auf  gutem  Boden  hat  die  Steigerung  der  Grundrente 
die  ansässige  Arbeiterschaft  auf  Fideikommißboden  im  allgemeinen 
ganz  ebenso  wie  auf  freiem  Boden  enteignet.  Und  tatsächlich 
läßt  sich  aus  der  großen  Zahl  der  Parzellenkleinpächter  in  manchen 
Fideikommißkreisen  mit  nicht  zu  gutem  Boden  —  so  in  MUitsch  — 
auf  eine  ähnliche  Entwicklung  schließen.  Aber  der  Bedarf  der 
durch  die  Fideikommisse  gestützten  Großbetriebe  an  Saison- 
arbeitern und  der  allgemeine  Zug  der  kapitalistischen  Betriebe  zur 
Verdünnung  und  Zusammendrängung  der  Bevölkerung  —  Ver- 
dünnung: nach  der  Zahl  der  Köpfe  auf  die  Fläche  gerechnet,  Zu- 
sammendrängung: nach  der  Zahl  der  Haushaltungen  und  Köpfe 
auf  die  Wohngebäude  berechnet1)  —  überwiegt  im  Effekt  jene 

')  Daß  es  sich  bei  den  erwähnten  Tendenzen  um  einen  spezifischen  Zug 
agrarkapitalistischcr  Entwicklung  handelt,  mag  —  vorbehaltlich  einer  künftigen 
eingehenderen  Darstellung,  auch  hier  etwas  näher  erläutert  werden. 

Man  kann  die  Dörfer  und  Güter  von  Landkreisen,  die  sich  als  Untersuchungs- 
objekt eignen,  nach  ihrer  Bodengüte  (d.  h.  nach  ihrem  Grundstcuerrcinertrag) 
klassifiziert  mit  der  Dichte  ihrer  Besiedclung  vergleichen.  Alsdann  zeigt  sich  nicht 
nur  die,  wie  längst  bekannt,  durchweg  außerordentlich  viel  geringere  Volksdichtc  der 
Güter,  sondern  ferner  der  Umstand,  daß  dieselbe,  während  die  östlichen  Dörfer 
darin  keine  Regelmäßigkeiten  zeigen,  auf  den  Gütern  mit  zunehmender  Ertragsfähig- 
keit des  Bodens  keineswegs  regelmäßig  zu-,  sondern  gar  nicht  selten  abnimmt,  daß 
aber  mit  großer  Regelmäßigkeit  die  Zusammendrängung  der  Bevölkerung  in 
den  Behausungen  —  die  in  den  Dörfern  sich  ebenfalls  ganz  individuell  gestaltet,  — 
auf  den  Gütern  mit  zunehmender  Ertragsfähigkeit  zunimmt.  Je  mehr  möglicher, 
„Mehrwert"  aus  der  Arbeitskraft  nach  Lage  der  natürlichen  Produktionsbedingungen 
zu  gewinnen  ist,  desto  stärker  für  den  Großbetrieb  der  Anreiz  zur  vollen  Ausbeutung 


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Agrarstatistiscbe  u.  sozialpolit.  Betrachtungen  zur  Fideikommißfrage  in  Preußen.  537 


der  Arbeitskräfte  und  damit  desto  größer  die  Haushaltungs-  und  Kopfzahl  pro 
Wohngebäude,  die  Kopfzahl  pro  Haushaltung.  Beispiele: 


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35# 


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538 


Max  Weber, 


individualistische  Entwicklung  weit,  ganz  abgesehen  davon,  daß  jene 

Eingeklammert  sind  Zahlen,  bei  denen  in  der  betreffenden  Reinertragsklasse 
bei  einigen  Gütern  nicht  sicher ,  aber  wahrscheinlich  Parzellen  Verpachtung, 
industrielle  Betriebe  usw.  die  Vergleichbarkeit  stören.  Die  Zahlen  sind  aber  am 
schlüssigsten  und  dem  „Typus"  entsprechendsten  Überall  da,  wo  ich  mir  die  (recht 
erhebliche !)  Mühe  gemacht  habe,  an  der  Hand  des  Handbuches  des  Grundbesitzes 
Gemeindeeinheiten,  bei  denen  dies  offenbar  der  Fall  war,  auszuscheiden.  Es  ist 
ganz  charakteristisch,  kann  aber  hier  nicht  auch  noch  erörtert  werden,  daß  und 
warum  auch  im  Osten  zuweilen  gewisse  Kreise  (z.  B.  Goldap,  Angerburg,  Kreise 
in  national  gemischten  Bezirken  usw.)  a  b  weichende  Erscheinungen  zeigen.  Trotz 
vereinzelter  Abweichungen  —  die  sich  namentlich  durch  das  Hineinspiclen  von 
Parzellenverpachtungcn  erklären  —  ist  das  Bild  schon  nach  diesen,  älteren  Notizen 
entnommenen  Beispielen  ein  sehr  gleichmäßiges.  Je  besser  der  Boden,  desto  stärker 
die  Belegschaft  der  Gebäude  mit  Haushaltungen  und  Köpfen,  der  Haushaltungen 
mit  Köpf  cn  (daß  hier  die  persönliche  herrschaftliche  Dienerschaft  und  die  über 
durchschnittliche  Größe  des  herrschaftlichen  Haushalts  erheblich  ins  Gewicht  fiele, 
muß  bei  der  absoluten  Höhe  der  Zahlen  —  es  sind  eben  deshalb  nur  größere  Güter 
gewählt  —  namentlich  aber,  wenn  man  die  Gestaltung  des  Verhältnisses  zwischen 
Haushaltungen  und  Wohngebäuden  beachtet,  ausgeschlossen  erscheinen).  —  Dem 
entspricht  es,  daß,  während  die  einstöckigen  Häuser  in  den  Gutsbezirken  des  Re- 
gierungsbezirks Königsberg  1878  98,8  Proz.  aller  betrugen,  die  Produktion  von 
Cercalicn  1884—88  in  den  Gutsbezirken  pro  Kopf  ihrer  1885  er  Bevölkerung  854, 
an  Hackfrüchten  985  kg,  —  in  den  Regierungsbezirken  Breslau  und  Liegnitz  die  ent- 
sprechende Quote  der  einstöckigen  Häuser  70,4  bzw.  66,1  Proz.f  die  Produktions- 
quoten in  den  Gutsbezirken  pro  Kopf  in  der  Provinz  Schlesien  (im  ganzen)  2768  kg 
Ceralien,  5622  kg  Hackfrüchte  ausmachten.  Die  Gutsarbeiterkasernen  Schlesiens  ent- 
sprechen der  hohen  „Produktivität"  der  Arbeit  in  den  kapitalistischen  Betrieben. 
So  kommen  auch  von  den  oben  behandelten  Kreisen  nach  Rcinertragsklassen  von 
unten  herauf  gestaffelt  z.  B.  im  Kreis  Fischhausen  auf  den  Kopf  der  Bevölkerung 
M.  Reinertrag:  25,7,  —  35,2,  —  43,5,  —  67,5  bei  einer  von  15,8  bis  zu  25  Köpfen 
pro  Wohngebäude  ansteigenden  Zusammendrängung.  —  Für  Schlesien  muß  ich  mich 
z.  Z.  auf  die  folgenden  Durchschnittszahlen  beschränken : 


Es  kamen 

Köpfe  auf  I  ha 

Haushalt, 
auf  ein 

Köpfe  auf 

im  Reg.-Bez. 

in  den 

Fläche 

Acker  und 

Wiese 

Wohn- 
gebäude 

l  Haus- 
halt 

1  Wohn- 
gebäude 

Breslau  j 

Landgemeind. 
Gutsbezirken 

o,7 
4,8 

0,63 
2,79 

1.73 
3>25 

4.35 
4.58 

7.55 
M.95 

Liegnitz  j 

Landgemeind. 
Gutsbezirken 

1,0 
9,o 

o,75 
3.59 

1.36 
2,26 

4,12 
4,63 

5.63 
10,49 

('Landgcmcind. 
Oppeln  <Ci 

(  Gutsbezirken 

o,5 
4.* 

°<49 
1.77 

1,72 

3.3i 

4.56 
4,85 

7,88 
16,09 

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Agrarstatistischc  u.  sozialpolit.  Betrachtungen  zur  Fideikommißfrage  in  Preußen.  539 

neugeschaffenen  Pachtstellen  der  Güter  im  Osten  heute  da,  wo  sie 


Die  Fi dei kommißkreise  im  speziellen  anlangend,  so  stehen  sie  in  bezug 
auf  die  Wohndichtigkcitsvcrhältnisse  ihrer  Gutsbezirke  verschieden,  und  zwar  im 
ganzen  je  nach  der  Bodenqualität  unter  oder  über  den  vergleichbaren  Nachbar- 
kreisen. Der  auf  schlechterem  Boden  gelegene  Fideikommißkreis  Militsch  z.  B. 
steht  mit  (auf  den  Gütern)  2,92  Haushaltungen  und  12,8  Köpfen  pro  Wohnhaus 
unter  dem  besser  gestellten  freien  Kreis  Guhrau  mit  bzw.  3,47  und  14,1  ;  der  auf 
gutem  Boden  belegene  Fidcikommitikreis  Öls  dagegen  überragt  bedeutend  den 
letztgenannten  Kreis  ebenso  wie  den  Bezirksdurchschnitt;  und  so  öfter.  Analysiert 
man  den  Kreis  Militsch  spezieller  —  vgl.  dazu  oben  S.  514  Anm.  —  so  zeigt  sich 
folgendes  Bild : 


Es  kamen  in  den  Reinertragsklassen  von  pro  ha  Mk. : 


unter  10 

10 — 15 

über  15 

Haushaltungen  auf 

f  in  den  Dörfern 

1.7» 

1,66 

1,69 

I  Wohngcbäude 

|  auf  den  Gütern 

3»i6 

3.ia 

3.2» 

Köpfe  auf  I  Wohn- 

( in  den  Dörfern 

7.43 

7,26 

7,22 

gebäude 

(  auf  den  Gütern 

13,5 

»3.5 

»4,5 

Nicht  nur  die  typisch  stärkere  Belegung  der  Wohngebäude  auf  den  Gütern, 
sondern  auch  die  Steigerung  der  Belegung  auf  den  besten  Böden  der  großen 
Güter  treten  deutlich  hervor,  ebenso  die  abweichende  Gestaltung  in  den  Dörfern. 

Außerhalb  Schlesiens  fügt  sich  Kr.  Franzburg  in  den  Unterschieden  zwischen 
den  Keinertragsklassen  durchaus  der  Regel.  -  -  Die  Verhältnisse  auf  der  Holsteiner 
Grafenecke  (Kreis  Plön,  Oldenburg,  Eckernförde)  mit  ihren  großen  und  alten  landes- 
herrlichen Fideikommisscn  und  modernen  bäuerlichen  Pachtbetrieben  sind  in  dieser 
Hinsicht  nicht  ganz  so  konsequente,  immerhin  nicht  grundsätzlich  abweichende.  (Im 
ganzen  steigende  Belegung  der  Wohngebäude  mit  Köpfen  und  Haushaltungen,  aber 
geringere  Kopfzahl  der  Haushaltungen  auf  besseren  Böden:  keine  Scharwerkerl). 
Aber,  verglichen  mit  anderen  Kreisen  aus  anderen  Gebieten  sind  in  diesem  ganzen 
Winkel  —  Ostholstein,  Mecklenburg,  Neuvorpommern  —  die  Verhältnisse  der  an- 
sässigen Arbeiter,  wie  die  Enquete  von  1892  zeigte,  noch  mit  die  günstigsten 
Deutschlands  aus  Gründen,  die  hier  nicht  zu  wiederholen  sind.  Diese  günstigen 
Verhältnisse  teilen  die  Fideikommißkreise. 

Bei  den  obigen  Zahlen,  welche  die  Vcrdünnungs-  und  Zusammcnhäufungs- 
tendenz  der  Güter  deutlich  illustrieren,  ist  nun  noch  im  Auge  zu  behalten,  daß  die 
Insassen  der  Wanderarbeiterkasernen  dabei  noch  gar  nicht  mitgezählt  sind, 
da  die  Zählung  im  Dezember  stattfand,  auch  die  Saisonarbeit  erst  nach  Bismarcks 
Rücktritt  ihre  jetzige  Ausdehnung  gewann.  —  Ein  Institut,  welches  den  Großbetrieb 
stützt,  wirkt  dem  Individualismus  des  Wohnens  entgegen.  Im  Westen  fallen  auf 
dem  Lande  Haushalt  und  Wohngebäude  der  Zahl  nach  fast  zusammen,  und  von 
Regierungsbezirk  zu  Regierungsbezirk  steigt  mit  der  durchschnittlichen  Betriebsgröße 
die  Zusammendrängung  der  Landbevölkerung  in  den  Wohngebäuden  —  die  dann 


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54Q 


Max  Weber, 


bestehen,  sehr  klein  sind  (unter  i  ha)  und  nichts  mit  den  alten 
Heuerlingsstellen  des  Nordwestens  zu  schaffen  habe. 

im  Osten  auf  den  Gütern  wesentlich  höher  ist  als  in  den  kleineren  Städten  und 
zwar  im  allgemeinen  cetcris  paribus  um  so  höher,  je  besser  der  Boden. 

Es  ist  also  absolut  unwahr,  daß  das  ländliche  Wohnungselcnd  Folge  der 
„schlechten  Lage"  der  Gutsbesitzer  sei. 

über  die  in  den  vorstehenden  Zahlen  nur  gestreiften  Zusammenhänge  künftig 
einmal  unter  adäquateren  Gesichtspunkten.  Nur  das  eine  sei  hier  noch  bemerkt: 
Die  Tendenz  des  bürgerlichen  Kapitals  zum  Bodenerwerb  besteht  nicht  nur  im 
Osten,  sie  ist  eine  durchaus  allgemeine  und  wäre  nur  abzuschwächen,  wenn  die 
gesellschaftliche  Bevorzugung  des  Grundbesitzes  schwände.  Aber  im  Westen 
bleibt,  auch  wo  sie  sich  geltend  macht,  gleichwohl  weit  häufiger  der  Kleinbetrieb 
(als  Pachtbetrieb)  und  damit  die  ländliche  Volksdichtc  auf  den  günstigen  Böden  und 
vor  den  Toren  der  Städte  und  mit  ihm  der  allmähliche  Übergang  zwichen  Stadt  und 
Land,  erhalten,  und  es  ist  denn  doch  sehr  fraglich,  ob  ein  beweglicher  nicht 
schollcnfestcr  Kleinpächterstand  nicht  unter  fast  allen  in  Betracht  kommenden  Ge- 
sichtspunkten in  diesem  Rayon  kleinen  Eigentümern  sogar  vorzuziehen  wäre. 
Im  Osten  okkupiert  dagegen  der  bevülkerungsverdünnendc  Großbesitz  gerade  die 
marktnahen  besten  Böden.  (Über  den  Kampf  dieser  Vcrdichtungs-  und  Verdünnungs- 
tendenz miteinander  in  der  Provinz  Sachsen  siehe  die  Arbeit  von  Dr.  Goldschmidt 
in  der  von  mir  edierten  Enquete  des  Ev.  Soz.  Congr.  Heft  I  S.  I J.)  Der  Gesetzentwurf 
würde,  da  er  den  Großbetrieb  erzwingt,  die  östliche  Entwicklung  verschärfen  und 
auch  in  den  Westen  verpflanzen,  soweit  das  Kapital  zur  Bodenbindung  greift  Es 
sind  nicht  „natürliche",  sondern  zunächst  historisch  gewordene,  dann  aber  durch 
bestimmte  „Gesetze"  agrarkapitalistischer  Entwicklung  gesteigerte  Verhältnisse,  welche 
den  Gegensatz  in  dem  Siedlungscharakter  etwa  der  Oberrheinebene  gegen  die  Oderebene 
bedingen.  Auch  wer  aus  irgend  welchen  Gründen  eine  stärkere  Vertretung  größerer 
Betriebe  auf  dem  Lande  wünscht,  als  sie  am  Rheine  vorhanden  sind,  wird  sie  und 
den  geschlossenen  Besitz  nicht  vor  die  Tore  der  Stadt  legen  und  die  Kleinbetriebe 
in  die  Berge  und  auf  die  schlechten  Böden  drängen  wollen.  Man  setze  für  die 
Fideikommisse  —  und  übrigens  z.  B.  auch  für  das  Anerbenrecht,  wo  es  gelten 
soll  —  Rayons  nach  Maßgabe  der  heute  dafür  noch  immer  brauchbaren  Grund- 
stcuerr  ein  ertrage  und  der  Nähe  der  Großstädte  und  Industriezentren  fest,  derart  daß 
sie  nur  in  Gebieten  mit  unterdurchschnittlichem  und  marktfernem  Boden  gelten  und 
schreibe  unter  Authebung  aller  hiernach  unzulässigen  landwirtschaftlichen 
Fideikommisse  für  die  letzteren  eine  entsprechende  Prüfung  als  Vorbedingung 
der  Weitergabe  zur  Genehmigung  gesetzlich  vor,  wenn  man  durch  jene  Institute 
nicht  die  spezifisch  modernen  „Entwicklungstendenzen",  die  man  beklagt,  ver- 
schärfen will.  —  Aber  freilich,  den  kapitalistischen  Interessen,  mit  denen  man 
rechnen  muß  und  welche  die  heutige  Gesetzgebungsmaschinerie  in  ihren  Dienst 
zwingen,  wäre  damit  nicht  gedient,  und  deshalb  wird  die  amtliche  Terminologie  den 
Vorschlag  „mechanisch"  oder  dergl.  nennen  und  auf  die  „Prüfung  des  konkreten 
Falls"  verweisen,  obwohl  deren  Wirkungslosigkeit  ja  genugsam  aus  der  Statistik 


Agrarstatistische  u.  sozialpolit.  Betrachtungen  zur  Fidcikommißfragc  in  Preußen.  541 


Gerade  für  die  Fideikommißbesitzcr  liegt  nun  aber  die  Ver- 
suchung nahe,  die  „ Ansässigmachung"  der  Landarbeiter  auf  R  e  n  t  e  n  - 
gütern  zu  versuchen,  zu  der  sich  der  freie  Großgrundbesitz  immer- 
hin nicht  so  leicht  entschließt,  da  sie  ein  für  den  Fideikommiß- 
besitzer  leichter  mögliches  systematisches  Vorgehen  erfordert, 
wenn  sie  erhebliche  Resultate :  —  billige  Arbeiter  —  erzielen  soll.  Wenn 
nun  die  Landarbeiterenquete  von  1893  irgend  ein  sicheres  Er- 
gebnis gehabt  hat,  so  war  es  die  sozialpolitische  Verwerflichkeit 
des  Grund eigentums  bei  Landarbeitern  in  Gegenden  mit  starkem 
Großbesitz  und  wenig  Bauern.  Es  bedeutet  dort  das  Angewiesensein 
auf  die  Arbeitsgelegenheit  allein  des  oder  der  wenigen  unmittel- 
bar benachbarten  Rittergüter  und  Schollenfestigkeit,  also  absolute 
Auslieferung  an  die  Ausbeutung  durch  die  Gutsherren.  Das  un- 
erhört niedrige  schlesische  Lohnniveau  ist  der  Ausdruck  dessen.1) 
Bei  Renten  gütern  ist  das  natürlich  in  noch  viel  gesteigertem 
Maße  der  Fall.  Nur  Polen  würden  sich  —  bei  Kenntnis  der 
Verhältnisse  —  als  Reflektanten  für  solche  melden.  Selbst  der 
damalige  Landwirtschaftsminister  v.  Heyden  hatte  auf  Grund  des 
Ergebnisses  der  Enquete  damals  im  Landtage  eindringlich  vor  den 
Gefahren  eines  „grundbesitzenden  Proletariats"  gewarnt.  Nur  die 
Parzellen  p  a  c  h  t  kann  Bodenständigkeit  und  Freiheit  des  Arbeiters 
vereinigen.  —  Das  hindert  den  Entwurf  nicht,  gerade  die  kleinen 
Rentengüter  zuzulassen2)  und  die  Motive  sprechen  von  der  Mög- 
lichkeit, sich  dadurch  einen  „Stamm"  ansässiger  Arbeiter  zu  schaffen, 


hervorgeht,  —  und  obwohl  vor  allem,  nach  S.  60  der  Motive  ja  die  Vorlegung  an 
den  König  zur  Entscheidung  erfolgen  muß,  wenn  die  formalen  Bedingungen  er- 
füllt sind.    Hierüber  s.  weiter  unten. 

l)  Die  Durchschnittstagelöhne  männlicher  dauernd  beschäftigter  Arbeiter  betrugen 
1 892  in  der  Provinz  Ostpreußen  (Durchschnittsreinertrag  pro  ha  Ackerland  M.  9,40) 
je  nach  Bezirken  1,10 — 1,50  M-,  in  Pommern  (Durchschnittsreinertrag  M.  13,32), 
1,22 — 1,76  M.,  im  Regierungsbezirk  Oppeln  (Durchschnittsreinertrag  M.  16,06 
0,87-0,95  M.),  im  Regierungsbezirk  Breslau  (Durchschnittsreinertrag  M.  22,32)  0,94 
bis  1,18  M.  Lohndrücker  sind  hier  auch  außerhalb  des  polnischen  Rayons  überall 
die  ParzcllenbesiUer,  wie  die  Enquete  mit  vollkommenster  Deutlichkeit  ergab.  (S. 
Schriften  der  V.f.  Sozialpolitik  Band  55.)  Vorstehende  Nebeneinanderstcllung  der 
Löhne  und  des  Reinertrags  möge  auch  den  Wert  der  Behauptung  beleuchten,  daß 
die  Landwirte  ihrer  schlechten  Lage  wegen  schlechte  Löhne  zahlten.  Das 
Umgekehrte  ist,  so  paradox  es  klingt,  wahr. 

•)  Sering,  der  jene  Ergebnisse  genau  kennt,  hat  (a.  a.  O.)  gegen  diese  Zulassung 
gleichwohl  nichts  zu  erinnern ! 


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542 


Max  Weber, 


ganz  wie  es  der  von  den  Landwirtschaftskammern  vertretene  Agrar- 
kapitalismus  zu  tun  pflegt  Für  diese  Gesetzmacherei  sind  eben  alle 
Erfahrungen  nicht  vorhanden,  nicht  nur  weil  sie  oberflächlich,  sondern 
weil  sie,  wo  die  Interessen  der  Großgrundbesitzer  in  Frage  stehen, 
sozialpolistisch  schlechthin  ohne  Gewissen  ist. 

TL 

Wollten  die  Freunde  des  Fideikommisses  die  vorstehend  dar- 
gestellten Konsequenzen  der  Fideikommißbildung,  namentlich  die 
Bindung  gerade  des  guten  Bodens,  vermeiden,  so  gäbe 
es  dafür  ein  einfaches  Mittel:  Beschränkung  der  Fidei- 
kommisse  auf  Wald  und  aufWTohngebäude  (nebst  Per- 
tinenzen)  in  direktem  räumli chen  Anschluß  an  Fidei- 
kommißwaldungen.  Die  Konsequenz  einer  solchen  Bestimmung 
würde  sein,  daß  jenes  Kapital,  welches  Boden  zum  Zweck  fidei- 
kommissarischer  Bindung  sucht,  nicht  wie  jetzt  dem  besten,  sondern 
dem  ärmsten,  für  kräftige  moderne  Bauern  wirtschaften  ungeeigneten 
zur  Beforstung  geeigneten  Boden  zugute  käme,  daß  also  diejenigen 
ärmeren  und  dünn  besiedelten  Kreise,  für  welche  die  Ansässig- 
machung  kaufkräftiger  und  intelligenter  deutscher  Familien  wirklich 
etwas  in  ökonomischer  und  nationaler  Hinsicht  bedeuten  kann,  mit 
solchen  Landsitzen  besetzt  würden.  Und  kann  man  sich  zu  einer 
absoluten  Beschränkung  auf  Forsten  nicht  entschließen,  so  läßt  sich 
eine  gewisse  Annäherung  an  diesen  Effekt  vielleicht  schon  dadurch 
erreichen,  daß  landwirtschaftlicher  Boden  nur  in  Verbindung  mit 
mindestens  80  Proz.  Waldfläche  gebunden  werden  dürfte.1) 
23  Proz.  der  Fläche  des  Staates  sind  Wald,  noch  nicht  ein  Viertel 
der  Privatwaldungen  (mit  Ausschluß  der  genossenschaftlichen)  ist 
fideikommissarisch  gebunden:  es  ist  Platz  genug  für  noch  sehr  viel 
Forstfideikommißbesitzer  vorhanden.  —  Auf  die  Verwirklichung  dieses 
Vorschlages  rechne  ich  natürlich  nicht.  Denn  ganz  abgesehen  von 
der  Macht  der  agrarkapitalistischen  Interessen  geht  aus  den  Motiven 


')  Noch  in  der  Forst be tri e b s -Größenklasse  von  1000  bis  2000  ha  sind 
mit  800000  ha  Forstflächc  1 40  000  ha  landwirtschaAliehc  Fläche  in  272  Betrieben 
verbunden.  —  Ich  sehe  übrigens,  daß  schon  Dade  (bei  Roscher,  Nat.  Ok.  des 
Ackerbaus,  13.  Aufl.  S.  777)  einen  ähnlichen  Vorschlag  gemacht  hat:  vorzuschreiben, 
daß  stets  50  Proz.  der  Fideikommißnache  Forsten  sein  müssen.  Das  ist,  wie  die 
schlesischen  Verhältnisse  zeigen,  ganz  ungenügend,  um  die  spezifischen  Wirkungen 
der  Waldfideikommisse  zu  sichern. 


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Agrarstatistischc  u.  sozialpolit.  Bclrachtungen  zur  Fideikommißfrage  in  Preußen.  543 

des  Entwurfes  zur  Genüge  hervor,  daß  fiir  die  Zulassung  und  Be- 
günstigung der  Fideikommisse  ganz  andere  Beweggründe  als  irgend 
eine  agrarpolitische  Sorge  für  eine  (unter  irgend  welchen  Ge- 
sichtspunkten) „gesunde"  soziale  Verfassung  des  platten  Landes  den 
Ausschlag  geben,  und  daß  die  preußische  Regierung  gar  nicht 
daran  denkt,  der  weiteren  Verbreitung  der  Fideikommisse  irgend 
welche  ernstlich  fühlbaren  Hemmnisse  in  den  Weg  zu  legen. 

Der  Entwurf  weist  den  Gedanken,  die  Errichtung  von  Fidei- 
kommissen  allgemein  für  jeden  Fall  an  einen  Akt  der  Gesetzgebung 
(nach  Art  englischer  „private  bills")  zu  binden  —  was  in  Österreich 
geltendes  Recht  ist  —  ab.  Er  würde,  nach  den  Motiven,  voraus- 
sichtlich eine  Einschränkung  der  Fideikommißgründungen  zur  Folge 
haben  und  das  genügt  charakteristischerweise,  um  über  diesen 
denn  doch  im  höchsten  Grade  erwägenswerten  Vorschlag,  der  vor 
allem  allein  die  Sicherheit  geben  würde,  daß  auch  andere 
Interessenten,  als  die  Fideikommißstifter  zu  Gehör  gelangten,  und 
daß  überhaupt  die  Vorgänge  der  Fideikommißbildung  einer  gewissen 
Publizität  unterworfen  würden,  hinweg  zu  gehen.  Ob  zu  hoffen 
ist,  daß  die  Mehrheit  des  Abgeordnetenhauses  hierin  anderer  Ansicht 
sein  wird,  muß  hier  dahingestellt  bleiben.  Der  Entwurf  glaubt  eine 
hinlängliche  Kontrolle  über  die  Entwicklung  der  fkleikommissarischen 
Bindung  des  Bodens  zu  schaffen,  indem  er  dieselbe  auch  da,  wo 
dies  bisher  nicht  der  Fall  war,  an  die  Genehmigung  des 
Königs  bindet.  Es  ist  fast  unglaublich,  daß  die  Motive  es  wagen 
können,  dies  Erfordernis  als  eine  Schranke  der  Fideikommiß- 
bildung anzusprechen.  Dasjenige  Gebiet,  für  welches  —  da  hier 
95  Proz.  aller  Fideikommisse  ursprüngliche  Fideikommisse,  nicht 
Lehensumwandlungen  sind  —  schon  b  ish  er  die  dort  für  große  Fidei- 
kommisse erforderliche  königliche  Genehmigung  ihre  Wirksamkeit 
hätte  erproben  können,  ist  Schlesien,  das  Land  mit  dem  absolut 
und  relativ  größten  Fideikommißbesitz  an  Latifundien,  deren  Um- 
fang selbst  den  leidenschaftlichsten  Vertretern  des  Instituts  Bedenken 
erregt,  und  der  ein  konstantes  weiteres  Umsichgreifen  zeigt.  Gar 
keine  Genehmigung  fordert  das  hannoversche  Recht  und  Hannover 
hat  die  geringste  Fideikommißfläche.  Die  gesellschaftlichen  Gründe, 
aus  denen  gerade  die  Hereinziehung  des  persönlichen 
Entschlusses  des  Königs  anstatt  der  verantwort- 
lichen Entschließung  der  Minister1)  völlig  das  Gegenteil 


')  Denn  darum  bandelt  es  sich:   Die  Minister  dürfen,  mögen  sie  das 


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344 


Max  Weber, 


einer  Erschwerung  der  Fideikommißgründung  bedeutet,  ist  es  wohl 
nicht  nötig,  hier  näher  zu  erörtern. 

Die  einzige  wirksame  Schranke  der  Fideikommißgründung  ist 
heute  der  Fideikommißstempel  von  3  Proz.1)  des  Bruttowertes. 
Die  Frage  seiner  künftigen  Höhe  ist  für  die  weitere  Entwicklung 
der  Fideikommißbildung  ausschlaggebend  und  man  kann  dreist  be- 
haupten, daß  für  die  Fideikommißinteressenten  der  Entwurf  in  seinem 
übrigen   Inhalt  nur  Kulisse  ist  für  die  anderweitige  Regulierung 
dieses  Punktes.    Ominöserweise  läßt  der  Entwurf  den  Abschnitt, 
der  vom  Stempel  handeln  soll,  offen  mit  dem  Bemerken,  derselbe 
solle  im  Einvernehmen  mit  dem  Finanzminister  „demnächst"  fest- 
gestellt werden.  —  Der  Fideikommißstempel   hat  nun  zunächst 
(aber  nur  nebenher)  den  Sinn,  die  steuerliche  Begünstigung  des 
Fideikommißbesitzes  gegenüber  den  anderen  Grundstücken  abzulösen. 
In  Betracht  kommt  zunächst  die  Stempelsteuer  von   I  Proz.  bei 
Verkäufen  von  Grund  und  Boden,  welche  für  Fideikommißboden 


formell  korrekt  nachgesuchte  Fideikommiß  für  noch  so  schädlich  ansehen,  die 
Vorlegung  des  Gesuchs  an  den  König  zur  Entschließung  nicht  ablehnen!  Dies 
sprechen  die  Motive  S.  60  ausdrücklich  aus.  Jeder  weiß,  was  das  praktisch  bedeutet, 
und  es  ist  —  rund  herausgesagt  —  eine  selbst  das  bei  amtlichen  Äußerungen  neuerdings 
üblich  gewordene  Maß  überschreitende  Un a u fri c  h  ti  g k ei  t,  eine  solche  Rechtslage 
für  eine  erhöhte  Gewähr  gegen  ein  Überhandnehmen  der  Fidcikoramisse  auszugeben. 
Im  Landtage  würde  daraufhin  natürlich  die  übliche  Verweisung  auf  die  Person  des 
Königs  jeder  Kritik  entgegengesetzt  werden.  Es  handelt  sich  also  hier  lediglich  um  ein 
Mittel,  den  Ministern  Deckung  hinter  dem  Könige  zu  schaffen.  Es  hat 
noch  keinen  Monarchen  gegeben,  der  —  Napoleon  nicht  ausgenommen  —  nicht  ge- 
glaubt hätte,  seine  Stellung  durch  Befriedigung  der  Eitelkeit  der  Leute  mit  dem  großen 
Geldbeutel  zu  festigen.  Und  bei  der  subalternen  Auffassung,  welche  —  eine  Erbschaft 
des  Bismarck'schen  Regimes  —  heutige  Minister  in  Preußen  von  ihrer  Stellung  und 
Verantwortung  haben,  ist  damit  das  ganze  „Genehmigungsverfahren"  zur  Farce  ge- 
stempelt. Es  wäre  wirklich  zu  viel  verlangt ,  daß  man  in  höflicher  Form  mit 
solchen  Äußerungen  der  Motive  diskutieren  sollte,  wie  S.  58  oben :  „Sollten  sie", 
(nämlich  gewisse  bedenkliche  aber  formal  zulässige  Bestimmungen  des  Stifters)  „sich 
ereignen,  so  wird  ihnen  durch  Versagen  der  Genehmigung  (§  8)  zu  begegnen  sein." 
Die  Naivität  sondergleichen,  dem  sie  volo  sie  jubeo  des  Königs,  welches  §  8  in  Ver- 
bindung mit  §  20  statuiert,  in  diesem  Ton  Vorschriften  zu  machen,  wäre  höchst 
achtbar,  wenn  man  glauben  könnte,  daß  sie  „echt"  wäre.  In  Wahrheit  soll  der 
schrankenlosen  Expansion  der  Fideikommisse  der  Weg  geebnet  und  jeder  etwaige 
Widerspruch  durch  Ilereinziehung  des  Königs  erstickt  werden. 

')  Zur  Würdigung  seiner  Höhe  (oder  vielmehr  des  Gegenteils)  sei  erinnert,  daß 
der  badischc  gewöhnliche  Boden  um  satzstempcl  schon        Proz.  beträgt. 


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Agrarstatistische  u.  sozialpolit.  Betrachtungen  zur  Fidei  kommißfrage  in  Preuflen.  545 

ganz  entfallt  und  weiter  die  Erbschaftssteuer,  welche  nur  nach  der 
Lebenserwartung  des  Fideikommißerben  berechnet  wird,  während 
der  überschießende  Bodenwert  ganz  frei  bleibt,  —  es  sei  denn,  daß 
der  Gesetzentwurf  mit  dem  Satz,  daß  das  Fideikommiß  dem  Fidei- 
kommißbesitzer  „gehört",  auch  insteuerlicherBeziehungfür 
künftig  ernst  machen  und  jenes  Privileg  beseitigen  wollte, 
woran  (natürlich!)  nicht  zu  denken  ist.  Der  Umsatzstempel  allein 
könnte  rein  technisch,  nach  der  Umsatzgeschwindigkeit  des  ge- 
samten Bodens  der  großen  Besitzungen  bemessen,  wohl  durch 
eine  jährliche  Abgabe  von  etwa  */«  Promille  abgelöst  werden  ')  Die 
Erbschaftssteuer  ist  heute,  wo  sie  nur  von  Seitenverwandten  er 
hoben  wird,  von  noch  nicht  allzu  großem  Gewicht,  die  Begünstigung 
wird  aber  sehr  bedeutend  werden,  wenn,  was  ja  früher  oder  später 
unvermeidlich  ist,  die  gerade  Linie,  sei  es  seitens  des  Staats  oder 
des  Reichs  in  die  Besteuerung  einbezogen  wird.  Alsdann  würde2) 
bei  einer  Höhe  von  1  Proz.  der  Steuer  die  Begünstigung  schon 
der  heutigen  rund  1000  Fideikommißfamilien  in  jeder  Generation 
etwa  8  bis  io  Millionen  Mk.  betragen.3)  Man  wird  annehmen 
dürfen,  daß  heute  zur  bloßen,  nach  den  dem  Fiskus  entgehenden 
Durchschnittsbeträgen  kapitalisierten  Steuerablösung  etwa  2  Proz. 
ausreichen  würde,  wenn  es  eben  mit  dem  Gedanken  einer 
wirklichen  Steuer  verträglich  wäre,  daß  sie  abgelöst  wird 
nach  rein  privatwirtschaftlichen  Kapitalisierungsprinzipien.4)  Allein 
die  rein  steuerliche  Gerechtigkeit  ist  ja  in  keiner  Weise  der 
wesentliche  Sinn  des  Fideikommißstempels.  Derselbe  war  vielmehr, 
wie  schon  die  ganze  Art  seiner  Bemessung  zeigt,  als  eine  sozial- 
politische  Maßnahme  gedacht  und  sollte  diese  extremste  Form  der 
Monopolisierung  des  Bodens  in  Schranken  halten.  Nur  ein  alsbald 
zahlbarer  und  hoher,  d.  h.  den  gewöhnlichen  Kaufstempel  von 

')  Die  Berechnung  nach  der  Besitzwcchselstatistik  gibt  dabei  aus  mehrfachen 
hier  nicht  zu  erörternden  Gründen  zu  niedrige  Zahlen. 

■)  Wenn  man  ein  Durchschnittsalter  des  Nachfolgers  von  35 — 40  Jahren  an- 
nimmt. 

*)  Daß  auch  heute  schon  gelegentlich  ganz  gewaltige  Beträge  in  Betracht 
kommen  können,  beweist  wohl  der  bekannte  Millioncnprozcfl  des  Fürstenberger 
Fidcikommisses  gegen  den  badischen  Fiskus. 

*)  Wie  unangemessen  es  ist,  zeigt  sich  daran,  daß  z.  B.  eine  durchschnittlich  in 
Zukunft  seltener  als  alle  30  Jahre  fällige  Abgabe  von  I  Proz.  nach  diesen  Grund- 
s&tzen  mit  einmaliger  Zahlung  des  Betrages  von  1  Proz.  müßte  abgelöst  werden 
können,  selbst  wenn  man  den  heutigen  Zinsfuß  zugrunde  legt 


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546 


Max  Weber, 


i  Proz.  um  ein  vielfaches  überragender  Betrag  des  Stempels  bürgt 
dafür,  daß  nicht  die  nichtigste  und  erbärmlichste  Eitelkeit  irgend 
eines  Grundbesitzes,  die  kindischste  Sucht  nach  dem  ländlichen 
Hof lieferantentitel :  dem  Adel,  und  ähnliches  den  Sieg  selbst  über 
alle  ernsteren  und  sachlichen  privaten  Erwägungen  davon  trägt-1) 
Diese  Kontrolle  durch  eine  hohe  Abgabe  kann  durch  keinerlei 
staatliche  Einmischung  ersetzt  werden,  am  wenigsten  natürlich 
dann,  wenn  die  Staatsverwaltung,  wie  ja  der  Entwurf  ausdrücklich 
als  wünschenswert  bezeichnet,  mit  agrarischen  Interessenten  möglichst 
stark  durchsetzt  ist.  — 

Den  naheliegenden  Gedanken,  da,  wo  —  wie  in  fast  allen  Teilen 
des  preußischen  Ostens  —  der  Großgrundbesitz  bereits  eine  die 
Agrarverfassung  beherrschende  Stellung  einnimmt,  durch  Festsetzung 
einer  Maximal flächenquote,  die  in  jedem  Kreise  (oder  etwa 
innerhalb  ad  hoc  gebildeter  etwas  größerer  Bezirke  von  je  3 — 6 
Kreisen)  nicht  überschritten  werden  dürfte  —  etwa  5  Proz.  der 
landwirtschaftlich  nutzbaren  Fläche 2)  —  die  ndeikommissarische 

'}  Traurige  Beispiele  dafür  hübe  ich  selbst  aus  der  Nähe  gesehen.  —  Wenn 
also  Sering,  nachdem  er  die  Herabsetzung  des  Stempels  für  bedenklich  erklärt  hat, 
seine  Umwandlung  in  eine  Abgabe  suggeriert,  so  steht  das  im  Widerspruch  mit- 
einander. —  Man  würde  den  Stempel  wohl  auf  etwa  5  Proz.  festzusetzen  haben, 
wenn  eben  sachliche  Gründe  hier  etwas  bedeuteten. 

*j  Im  ganzen  Staat  ständen  danach  1620000  ha  landwirtschaftlich  nutzbare 
Fläche  zur  Bindung  zur  Verfügung,  d.  h.  an  landwirtschaftlicher  Fläche  reichlich 
600000  ha  mehr  als  sie  deren  heute  (ungefähr)  schon  umfassen.  Da  aber  dir 
Masse  der  Fideikommisse  sich  heute  in  einigen  wenigen  Bezirken  zusammendrängt, 
so  wäre  faktisch  in  den  anderen,  bisher  nicht  so  stark  mit  Fidcikommissen  durch- 
setzten Gegenden  noch  einer  sehr  viel  größere  Vermehrung,  meist  eine  Verdoppelung 
möglich.  Dazu  würden  dann  noch  3  Millionen  ha  bisher  noch  nicht  gebundener 
Privatforsten  kommen.  —  Wie  Sering  es  miteinander  vereinigen  kann,  in  einem  Atem 
die  obcrsclilcsischen  Zustände  als  „übergroße  Ausdehnung  der  Fideikommisse"  zu 
bezeichnen  und  dann  alsbald  vorzuschlagen,  eine  Grenze  der  Bindung  erst  da  ein- 
treten zu  lassen,  wo  ein  Viertel  ^!)  der  landwirtschaftlichen  Fläche  sich  in  toter 
Hand  befinde  oder  die  Betriebe  über  250  (!)  ha  mehr  als  die  Hälfte  derselben  um- 
fassen —  selbst  da  noch  wegen  möglicher  „Unbilligkeit"  (!)  Dispens  zulassend,  — 
das  ist  mir  absolut  unverständlich.  Fin  Blick  in  die  Statistik  kann  ihn  belehren, 
daß  dies  nichts  anderes  bedeutet,  als  eben  die  obersch  lesischen  Zustände 
für  den  ganzen  Staat  als  Norm  zu  proklamieren.  Von  seinen  Bauern- 
kolonisationsidealen  ist  eben  Sering  —  trotzdem  er  sie  für  „weitaus  wichtiger"  er- 
klärt —  gänzlich  abgekommen:  man  kann  nicht  zween  Herrn  dienen.  Eine  solche 
„Schranke"  hätte  lediglich  den  Sinn  einer  Attrappe. 


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Agrarstatistiscbe  u.  sozialpolit.  Betrachtungen  zur  Fideikomraißfragc  in  Preußen.  547 

Bodenhäufung  zu  hemmen,  weist  der  Entwurf  mit  dem  Bemerken 
ab,  dies  würde  zur  Folge  haben,  daß  seitens  der  Behörden  alsdann 
bis  an  diese  Grenze  ausnahmslos,  also  auch,  wenn  das  Gesetz  sach- 
liche Prüfung  vorschreibt,  ohne  Berücksichtigung  der  besonderen 
Verhältnisse  herangegangen  würde.1)    Vielleicht  beurteilt  der  Ent- 
wurf die  Art,  wie  preußische  Fideikommißbehörden   unter  den 
heutigen  Verhältnissen  arbeiten  würden,  richtig.    Bei  einer  so  wenig 
schmeichelhaften  Einschätzung  der  Wirksamkeit  ihres  Pflichtgefühls 
aber  erscheint  dann  die  Notwendigkeit,  durch  Mitwirkung  des  Land- 
tages, dem  sicherlich  prinzipielle  Fideikommiß feindschaft  ebenso 
fern  liegt,  wie  dem  österreichischen  Reichsrat  (der  bisher  noch  kein 
Fideikommißgesuch  abschlägig   beschieden   hat),   wenigstens  ein 
gewisses  Maß  von  Öffentlichkeit  zu  schaffen,  um  so  unabweislicher. 
Alles  in  allem  ergibt  sich,   daß  der  Entwurf,  der  z.  B.  an  die 
Möglichkeit,  gelegentlich  der  Umformung  der  bestehenden  Fidei- 
kommisse  wenigstens  für  Gebiete,  wie  Schlesien,  die  Frage  des 
Fortbestehens  der  dortigen  Latifundien  erneut  zu  prüfen,  offen- 
bar gar  nicht  im  entferntesten,  auch  nur  gedacht  hat,  irgend  eine 
praktisch   wirksame   Schranke  der   Bodenanhäufung  eben 
einfach  nicht  will.  Dies  fällt  besonders  deutlich  ins  Auge,  wenn 
man  berücksichtigt,  daß  die  Bodenanhäufung,  durch  die  Fidei- 
kommisse  keineswegs  nur  im  Wege  der  Bildung  von  Fideikom- 
mißen erfolgt.    Zunächst  steht  neben  der  Begründung  neuer  die 
Erweiterung  bestehender  Fideikommisse.    Von  1100  bestehenden 
haben  fast  200,  also  zwischen  l/6  und  V«  aller  allein  in  den  Jahren 
1895 — 1900  eine  Erweiterung  erfahren,  im  Jahre  1900  allein  46. 
Man  kann  getrost  sagen,  jedes  bestehende  Fideikommiß  ist  normaler- 
weise ein  Zentrum  der  Bodenakkumulation:  die  „Psychologie"  (wie 
man  heute  zu  sagen  pflegt)  des  Fideikommißbesitzers  macht  es  auch 
durchaus  plausibel,  daß  sein  Streben  nun  einmal  in  der  Richtung 
auf  Land  und  immer  mehr  Land  ausgerichtet  ist.    Er  denkt 
(normalerweise)  gar  nicht  daran,  landwirtschaftlicher  Unternehmer 
sein  zu  wollen,  er  will  Rente,  stand  es  gern  äße  Rente,  mehr 
standesgemäße  Rente  haben  und  dazu  braucht  man  eben  Land. 

J)  Wenn  übrigens  auch  hier  wieder  —  wie  noch  sonst  gelegcnüich  —  die 
Motive  den  flüchtigen  Leser  (der  die  Bemerkungen  auf  S.  60  nicht  beachtet)  in  die 
Täuschung  versetzen,  daß  eine  sachliche  Prüfung  formal  korrekter  Fideikommiß- 
gesuche  und  eine  Ablehnung  der  Weitergabe  an  den  König  im  Fall  eines  un- 
günstigen Resultats  überhaupt  zulässig  sein  soll,  so  sucht  man  auch  hier  wieder 
vergebens  nach  einem  parlamentarischen  Ausdruck  dafür. 


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548 


Max  Weber, 


Er  will  eine  —  nach  Sombarts  Ausdruck  —  „seigneurial e",  keine 
Unternehmer-Existenz ')  führen.  Der  Vergleich  mit  den  ebenfalls 
(und  der  bloßen  Zahl  nach  sogar  recht  zahlreich)  vertretenen  Ver- 
kleinerungen bestehender  Fideikommissc  zeigt,  daß  es  sich  bei 
diesen  um  weitaus  kleinere  Flächen  handelt.  —  Bei  diesem  ganzen 
Prozeß  steht  wiederum  Schlesien  oben  an:  Hier  tritt  die  Neu- 
begründung gegenüber  dem  Umsichgreifen  schon  bestehender  Fidei- 
kommisse  ganz  in  den  Hintergrund.  Ähnlich  steht  es  in  einigen 
westfälischen  Distrikten,  wo  gleichfalls  Kapital  in  den  Händen  der 
—  im  eigentlichsten  Sinne  des  Wortes  —  „Schlotbarone"  sich  an- 
sammelt und  im  Boden  Anlage  sucht.  Es  wird  bei  weiterer  wohl- 
wollender Behandlung  der  Fideikommißbildung  immer  häufiger 
werden,  daß  ein  Fideikommiß  relativ  klein  anlangt,  und  „auf  Zu- 
wachs" begründet  wird.2)    Die  Zukäufe  werden  dann  meist  sehr 


'}  Das  soll  heißen :  wo  er  irgend  kann,  wird  er  —  gerade  wenn  er  tüchtig 
ist  —  den  Nachdruck  darauf  legen,  seiner  Familie  eine  in  gesteigertem  Maße 
sichere  Basis  ihrer  standesgemäßen  und  möglichst  immer  noch  standesgemäßeren 
Existenz  zu  hinterlassen,  und  kraft  der  sozialen  Schätzung,  die  der  Bodenbesitz,  zu- 
mal in  Fideikommißform,  genießt,  wird  er  —  normalerweise  —  nicht  daran  denken, 
ihn  um  betriebstechnischer  Vorteile  willen  zu  verkleinern,  sondern  ihn  oft  selbst 
trotz  betriebstechnischer  Schwierigkeiten  im  Interesse  des  splcndor  familiae  zu  ver- 
größern. Jedermann  fragt  nun  einmal  bei  einem  großen  Gut  zuerst,  wie  groß 
es  ist  und  nicht,  mit  wieviel  Kenntnissen  und  Betriebskapitalien  es  wohl  bewirt- 
schaftet werden  möge,  und  taxiert  nach  jener  Fläche  die  soziale  Position  des 
Mannes.  Das  wissen  die  Fideikommißbcsitzer  so  gut  wie  jeder  andere.  Die, 
natürlich  auch  vorkommenden,  Ausnahmen  „bestätigen"  hier  so  gut  wie  irgend- 
wo die  Regel.  Die  Zunahme  der  Durchschnittsflächc  der  Großbetriebe  in  Fidei- 
kommißkreisen,  die  wir  oben  (Fußnote  zu  S.530f.)  beobachteten  und  die  der  normalen 
Entwicklung  des  nicht  gebundenen  Betriebs  entgegenlaufen,  sind  keine  „Zufällig- 
keiten". 

«)  Ein  Drittel  der  939  Fideikommißbesitzcr  entfiel  1897  auf  die  regierenden 
Häuser,  Standesherren  und  Grafen  (unter  diesen  bekanntlich  mehrfach  briefadlige) 
etwas  über  *'9  sind  „sonstiger  Adel"  (darunter  viel  Briefadel)  nicht  ganz  1!l0  (90) 
sind  bürgerlich.  Die  Masse  der  Grafen  befindet  sich  in  der  Größenklasse  iooo  bis 
5000  ha,  der  Adel  hat  seinen  Schwerpunkt  in  den  Klassen  von  200  bis  tooo  ha, 
*'f,  der  Bürgerlichen  in  der  Besitzgruppc  unter  IOO  ha,  —  natürlich  nicht,  weil  Bürger- 
liche überhaupt  arme  Schlucker  wären  im  Gegensatz  zum  Adel,  sondern  weil  je  nach 
der  Größe  des  Geldbeutels  —  nach  vorgenommener  Metamorphose  in  Grundbesitz 
und  Fideikommißbildung  —  die  Chance  steigt,  adlig,  Freiherr,  Graf  zu  werden. 
Die  Bürgerlichen  sehen  sich  also  darauf  hingewiesen,  durch  Bodenanhäufung  (Bauern- 
auskaut  usw.)  die  Qualifikation  zu  etwas  Höherem  zu  erwerben.    Und  ebenso  für 


Agrarstatistische  u.  sozialpolit.  Betrachtungen  zur  Fideikommißfrage  in  Preußen, 

leicht  als  p  r  i  v  a  t  wirtschaftlich  zweckmäßig  zu  rechtfertigen,  der 
Konsens  zur  Einverleibung  in  das  Fideikommiß,  zumal  nachdem 
der  Kauf  doch  einmal  erfolgt  ist,  schwerlich  je  zu  verweigern 
sein.  Die  Bestimmung  des  Entwurfes,  daß  die  Einverleibung  von 
Boden  in  schon  bestehende  Fideikommisse  konsensbedürftig  sein 
soll,  ist  daher  schon  an  sich  von  —  auf  die  Dauer  —  sehr  ge- 
ringer praktischer  Bedeutung.  Denn  die  Bodenakkumulation  durch 
die  Fideikommißbesitzer  erfolgt  eben  keineswegs  nur  im  Wege  der 
Einverleibung  in  das  Fideikommiß,  oder  hat  diese  notwendig  zur 
Folge.  Es  sind  ganz  beträchtliche  Latifundien  im  Osten  entstanden, 
von  denen  nur  ein  Bruchteil  fideikomm issarisch  gebunden  ist.  Das 
von  Sering  befürwortete  Verbot,  stiftungsmäßig  die  Neu- 
erwerbung von  Grundbesitz  vorzuschreiben,  und  die  Beschränkung 
des  Bodenerwerbes  aus  Fideikommiß  m  i  1 1  e  1  n  genügt  aber  natürlich 
absolut  nicht;  es  wäre  ein  Verbot  jedes  Bodenerwerbes  durch 
Fideikommißbesitzer,  außer  in  Fällen  nachweislicher  Beseitigung 
gemeinwirtschaftlicher  Schäden  und  etwa  gegen  Zahlung  sehr  hoher 
Spczialabgaben  erforderlich  und,  bei  der  rechtlichen  Sonderstellung, 
welche  die  Fideikommißbesitzer  nun  einmal  überhaupt  einnehmen, 
natürlich  auch  mehr  als  gerechtfertigt 

Die  alte  Forderung  endlich,  daß  für  die  einzelnen  Fidei- 
kommisse ein  Maximal  u  m  fa  n  g  gesetzlich  festgestellt  werde,  er- 
ledigt der  Entwurf  mit  der  Bemerkung,  daß  damit  ja  nicht  die 
Herbeiführung  des  gleichen  Gesamtergebnisses  durch  Entstehung 
mehrerer  kleiner  Fideikommisse  gehindert  würde.  Der  große  Be- 
sitzer, der  Boden  zukauft,  will  ja  aber  gar  nicht  neue  kleinere 
Fideikommisse  gründen,  und  jenes  gerade  im  Munde  des  angeblich 
so  latifundienfeindlichen  Verfassers  der  Motive  höchst  sonderbare 
Argument  spräche  eben  wieder  für  die  Festsetzung  einer  Maximal- 
flächenquote,  für  deren  Ablehnung  aber  der  Entwurf,  wie 
wir  sahen,  ähnlich  nichtige  Vorwände  bereit  hält.  In  Wahrheit 
will  man  eben  den  großen  Fideikommißfamilien  nicht  an  den  Leib 
und  wo  immer  es  sich  um  ernstliche  Schranken  der  Fideikommisse 
handelt,  sind  dem  Entwurf  die  Gründe  dagegen  sehr  billig  und 
scheut  er  —  wie  wir  schon  sahen  —  vor  direkten  Unaufrichtig- 
keiten  nicht  zurück. 

die  höheren  Staffeln,  —  denn  warum  sollte  die  Eitelkeit  bei  dem  Erreichten  Halt 
machen?  —  Abhilfe  gäbe  es  nur,  wenn  man,  nach  badischem  Vorbild,  nur 
A 1 1  adlige  zur  Fidcikommißstiftung  zuließe.  Aber  —  wir  werden  davon  noch  reden  — 
so  ziemlich  das  gerade  Gegenteil  ist  das  Ziel  des  Entwurfs. 


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I 


550  M**  Weber, 

Indessen  praktisch  weit  wichtiger  ist  die  Frage,  welche  M  i  - 
n  i  m  a  1  erfordernisse  in  bezug  auf  den  Umfang  des  landwirtschaftlich 
nutzbaren  Bodens  eines  Fideikommißgutes  gestellt  werden.  Die 
Motive  lassen  die  Frage,  ob  in  Zukunft  ein  dem  Fideikommißrecht 
analoges  Recht  („Stammgüterrecht")  auch  dem  Bauernstand  zu- 
gänglich zu  machen  sei,  ausdrücklich  dahingestellt:  in  der  Konse- 
quenz des  Geistes  der  jetzigen  preußischen  Agrarpolitik  würde  es 
unzweifelhaft  liegen.  Für  die  Fideikommisse  fordert  der  Entwurf, 
wie  wir  sahen,  den  Nachweis  eines  „nachhaltigen"  Minimal-Netto- 
einkommens  von  ioooo  Mk.  (nach  Abzug  auch  der  Beiträge  für 
die  verschiedenen  „Massen"),  wovon  5000  Mk.  aus  einem  ge- 
schlossenen „wirtschaftlichen  Ganzen".  Für  die  Beurteilung  dieser 
Bestimmungen1)  kommt  für  die  Zukunft  folgendes  in  Betracht: 

Das  traditionelle  große  Gut  des  Ostens,  auf  den  wir  uns  auch 
hier  beschränken,  stellte  1885  in  Ostpreußen5)  eine  Fläche  von 
durchschnittlich  590  ha,  (davon  280  ha  Acker  und  Wiesen),  in 
Pommern  von  720  ha  (davon  420  ha  Acker  und  Wiesen),  und  in 
Schlesien  von  500  ha  (davon  225  ha  Acker  und  Wiesen)  dar.  Es 
herrscht  unter  den  Agrarpolitikern  wohl  Einstimmigkeit  darüber, 
daß  selbst  die  schlesische,  jedenfalls  aber  die  nordöstliche,  Fläche 
als  Durchschnitt  für  eine  modernen  Anforderungen  entsprechende 
Bewirtschaftung  von  einem  Zentrum  aus  technisch  zu  groß  ist. 
Diesen  betriebstechnischen  Motiven  zur  Verkleinerung  der 
Fläche  der  kapitalistischen  großen  Betriebe  steht  nun  aber  der 


*)  Für  die  Gegenwart  bedeutet  die  Anforderung  von  ioooo  M.  Ertrag 
natürlich  eine  F.rhöhung  der  Erfordernisse.  Seinerzeit  waren  selb  verstand  lieh 
die  2500  Tlr.  des  A.L.R.  ein  nach  der  Kaufkraft  des  Geldes,  noch  mehr  aber  nach 
dem  Verhältnis  zum  Durchschnittseinkommen  gerechnet,  ganz  außerordentlich  viel 
höherer  Betrag. 

*)  Nach  dem  Umfang  der  Gutsbezirke  gerechnet.  Diese  geben  im  ganzen 
oft  ein  sichereres  Bild  der  sozialen  Qualität  des  Besitzes  als  irgend  ein  Umfang 
der  Betriebe.  Natürlich  befindet  sich  viel  Grofibesitz  und  -Betrieb  auch  in  den 
Dörfern  und  die  Beziehungen  zwischen  Rittergut  im  administrativen  und  im  öko- 
nomisch-sozialen Sinn  sind  auch  nach  Provinzen  schwankend.  Vergleicht  man  z.  B. 
die  Fläche,  welche  von  Betrieben  über  loo  ha  einerseits,  von  Gutsbezirken  anderer- 
seits okkupiert  wird,  so  stand  1885  die  ersterc  hinter  der  letzteren  in  Schlesien  um 
—  3,7  Proz.  zurück,  in  Pommern  übertraf  sie  dieselbe  um  -j-  4.4,  in  Ostpreußen 
um  -f-  21,1  Proz.  und  in  Sachsen  um  -J-  40,5  Proz.  Im  letztgenannten  Falle  war 
also  eine  Identifikation  der  administrativen  mit  der  ökonomischen  Kategorie  völlig 
ausgeschlossen,  in  Pommern  und  Schlesien  im  ganzen  durchaus  zulässig. 


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Agrarstatistische  u.  sozialpolit.  Betrachtungen  zur  Fidei  kommißfrage  in  Preußen.  551 

privatwirtschaftliche  Zwang  zur  Vergrößerung  des  Umfangs  des 
großen  Besitzes  gegenüber.  Das  traditionelle  Rittergut  des  Ostens 
„trägt  keine  Herrschaft  mehr",  wie  sich  der  Minister  Miquel,  der 
ja,  wenn  er  wollte  und  namentlich  privatim,  äußerst  zutreffende 
Bemerkungen  machen  konnte,  mir  gegenüber  einmal  äußerte.  Das 
heißt:  eine  Familie,  welche  eine  die  „großbürgerliche"  erreichende 
und  sogar  überragende  Lebensführung  sich  erhalten  will  und,  wie 
dies  ja  beim  Fideikommißbesitzer  der  Fall  ist,  soll  —  welche  also 
ihre  erwachsenen  Söhne  (im  ganzen  etwa  12  Jahre  lang)  studieren 
lassen  und  durch  die  Zeit  bis  zur  Anstellung  mit  Gehalt  „standes- 
gemäß" erhalten  will,  welche  ferner  in  den  gesellschaftlichen 
Formen  der  „oberen"  Klassen  verkehren  will,  usw.  — ,  kann  bei  den 
heutigen  Kosten  einer  solchen  Lebensführung  sich  aus  dem  Ertrag 
eines  rein  landwirtschaftlich  oder  gar  zu  einem  erheblichen  Teile 
forstwirtschaftlich  genutzten  Gutes  von  jener  Durchschnittsgröße 
auf  ungünstigen  Böden  nur  sehr  mühsam  erhalten.  Die  Lebens- 
kosten steigen  und  erfordern  mehr  Rente  und  das  bedeutet  für  eine 
Fideikommißfamilie:  mehr  Land  als  Unterlage  für  eine  wirklich 
„sturmfreie"  Existenz,  das  heißt  eine  solche,  die  sich  eben  auf  ein 
sicheres  Einkommen,  eine  Rente,  nicht  auf  den  schwankenden 
Gewinn,  der  durch  Verwertung  von  hohen  Betriebskapitalien  etwa 
zu  gewinnen  wäre,  gründet  Und  eine  solche  Existenz  soll  doch 
der  Fideikommisbesitzer  darstellen.  Der  intensive  Betrieb  erfordert 
mehr  Betriebskapital,  was  dem  Fideikommißbesitzer,  je  mehr  er 
der  Tendenz  zur  Bodenanhäufung  nachgibt,  desto  häufiger,  und  je 
mehr  er  wirklich  eine  dem  Schwerpunkt  nach  rein  landwirtschaft- 
liche Existenz  ist,  desto  sicherer  fehlt.1)  Ein  Reinertrag  von  nach 
Abzug  aller  Lasten  und  Ausstattungspflichten  10  000  Mk.  ist  heute 
auf  den  ungünstigeren  Böden  des  Ostens  aus  einem  einzelnen 


')  Die  Motive  können  Betriebs-  und  Meliorationskapital  nicht  unterscheiden, 
wenn  sie  die  Verbesserungsraasse  als  Betriebskapital  bezeichnen,  ihren  Zweck 
aber  in  der  „nachhaltigen  Besserung"  des  Gutes  finden.  Gewiß  kann  sie  -  und 
ebenso  Grundstücksabverkaufe  nach  §  30*  —  auch  zu  einer  erstmaligen  Inventur- 
beschaffung verwendet  werden,  aber  doch  offenbar  nicht  als  Kapital  für  einen 
„Umschlagsbetrieb',.  Das  entspräche  ihrem  Sinn  nicht  und  stellte  jederzeit  ihre 
Existenz  aufs  Spiel.  —  Übrigens  könnte  gerade  Meliorations kapitalien  der  selbst- 
wirtschaftende Fideikommißbesitzer  sehr  leicht  und  billig  anders  als  durch  Kapital- 
aufspeieberung  erhalten.  Vielleicht  könnte  aber  diese  Masse  im  Sinn  des  englischen 
Joint  business"  bei  Meliorationen  verpachteter  Guter  eine  Rolle  spielen,  ferner 
beim  Bau  von  Brennereien,  Zuckerfabriken  u.  dgl. 

Archiv  für  Soiialwi»*en»chaft  u.  Sozialpolitik.  I.  ( A.  f.  soz.  G.  u.  st.  xix.)  3.  36 


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552 


Max  Weber, 


Rittergut  von  betriebstechnisch  zweckmäßigem  Umfang  selbst  beim 
Mangel  irgend  erheblicher  Schulden  nicht  als  „nachhaltiges" 
Einkommen  eines  Besitzers,  der  nicht  selbst  mit  allen  seinen  Fa- 
milienmitgliedern in  Stall  und  Feld  nach  Bauernart  ständig  mit- 
arbeitet, derart  zu  gewährleisten,1)  daß  die  Fideikommißbehörden 
bei  gewissenhafter  Prüfung  sich  zur  Konzessionierung  des  Fidei- 


l)  Nimmt  man  an,  daß  durchschnittlich  etwa  das  21  9-  oder  etwas  mehrfache  des 
Grundsteucrrcinertrags  als  „nachhaltiges  Einkommen"  angesetzt  werden  dürften, 
daß  ferner  mindestens  etwa  30  Proz.  Forstflächc  (gegen  jetzt  im  Durchschnitt  45  Proz.) 
mitgestiftet  werden  und  daß  eine  Verschuldung  von  25  Proz.  eingebracht  wird,  so 
kommt  man  für  den  Osten  für  einen  Ertrag  von  jedenfalls  über  1 2  500  M.  —  wie 
dies  zur  Erzielung  eines  dem  Besitzer  verbleibenden  Einkommens  von  loooo  M. 
nötig  ist  —  auf  eine  durchschnittliche  Minimal  fläche  von  ca.  7c»  ha,  für 
Schlesien  natürlich  auf  wesentlich  weniger,  für  den  Nordosten  aber,  wo  die 
Reinerträge  bis  dicht  an  4  M.  im  Kreisdurchschnitt  herabgehen,  auf  den  ungünstigen 
Böden,  die  gerade  die  ndeikommißbedürftigen  wären,  auf  jedenfalls  über  3000  ba 
als  Minimum  zur  Erziclung  jener  Rente.  Für  einen  einheitlich  geleiteten  Betrieb  ist 
schon  jene  erstgenannte  Fläche  als  M  i  ni  m  um  jedenfalls  zu  groß.  Wollte  man  ernstlich 
„Rückenbesitzer4  im  eigentlichen  Sinn  des  Wortes  auf  Fideikommissen  wachsen 
lassen,  dann  bliebe  diese  Art  von  Fideikommissen  im  Osten  Privileg  der  Böden 
der  schlesischcn  Ebene,  des  unteren  Weichsel-  und  Odcrtals  und  einzelner  Striche 
in  der  Provinz  Brandenburg.  Auf  ihnen  würde  der  erzwungene  Großbetrieb  seine 
Stätte  finden,  während  die  Theorie  von  der  „glücklichen  Mischung"  der  Besitz-  und 
Betriebsgröße  ihn  auf  die  schlechten  Böden  verweisen  möchte  —  und,  wenn  nicht 
alle  nationalen  und  Kulturinteresscn  dem  Agrarkapitalismus  geopfert  werden  sollen, 
—  auch  müßte.  — 

Sering  (S.  70  a.  a.  O.)  glaubt,  beiläufig  bemerkt,  die  geringe  Wahrscheinlich- 
keit, daß  eine  erhebliche  Kideikommißbildung  zu  erwarten  stehe,  durch  den  Hinweis 
darauf  begründen  zu  können,  daß  in  den  4  Nordostprovinzen  auf  dem  Lande  nur 
923  und  nach  Abzug  von  etwa  100  Fabrikanten  (?)  u.  dgl.  nur  etwa  800  Personen 
von  mehr  als  12500  M.  Einkommen  ansässig  seien  bei  einer  Anzahl  von  schon 
jetzt  216  Fideikommissen.  Da  sicher  die  Mehrzahl  der  600  hiernach  Fideikommiß- 
fähigen  mit  mehr  als  der  Hälfte  des  Wertes  verschuldet  seien  (?  gerade  die  ver- 
mögendsten Leute?!)  so  sei  eine  erhebliche  Fideikommißgründung  nicht  zu  er- 
warten. —  Gewiß:  Nicht  die  verschuldeten  heutigen  Landwirte,  wohl  aber  potente 
Käufer  kommen,  wenn  der  Fideikommißstcmpel,  der  das  Entscheidende  ist,  herab- 
gesetzt wird,  zwar  nicht  in  den  ersten  paar  Jahren,  wohl  aber  nach  Sermgs  eigenem 
Vorschlag  schon  nach  10  Jahren  als  Reflektanten  in  Betracht.  In  Schlesien  ferner 
stehen  nach  Serings  eigener  Rechnung  155  Fideikommissen  1079  Personen  jener 
Einkommensklassc  gegenüber,  und  gerade  das  industrielle  Kapital  ist  es  hier,  welches 
(wie  im  Saarbezirk)  landwirtschaftliche  Besitzungen  und  Großbetriebe  aufsaugt  und 
„nebenamtlich"  zu  „betreiben"  weiß. 


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Agrarstatistischc  u.  sozialpolit.  Betrachtungen  zur  Fideikommififrage  in  Preußen.  553 

kommisses  entschließen  dürften.  So  kleine  Fideikommisse  wären 
das  Privileg  der  Besitzer  der  besten  Böden.  Der  Entwurf  „ge- 
stattet" nun,  daß  ein  Fideikommiß  auf  eine  halb  so  große  *)  Einheit, 
kombiniert  mit  Streubesitz,  gegründet  werde,  und  die  Motive  be- 
gründen dies  charakteristischerweise  damit,  daß  sonst  im  Westen, 
da  hier  Güter  größeren  Umfangs  nicht  sehr  häufig  seien,  zu  wenig 
Fideikommisse  gegründet  werden  würden.  Unter  einem  „wirt- 
schaftlichen Ganzen"  aber  versteht  der  Entwurf  nach  Seite  50  der 
Motive  einen  einheitlich  geleiteten  Großbetrieb,  wobei  auch  ein 
Zentralbetrieb  mit  Vorwerken  zusammen  als  ein  Betrieb  angesehen 
werden  soll.  Nicht  zulässig  ist  also  z.  B.  eine  Verpachtung  dieses 
Stammgutes  an  mehrere  selbständige  bäuerliche  Wirtschaftsleiter. 
Man  sieht:  hier  ist  der  Zweck  der  Schaffung  Ökonomisch 
„sturmfreier"  Existenzen  mit  der  Absicht  der  künst- 
lichen Stützung  des  Großbetriebes  verkoppelt.  Das 
Ergebnis  kann  im  Falle  des  Erfolges  für  den  Westen,  z.  B.  das 
Rheinland,  nur  sein,  daß  das  Kapital,  welches  dort  im  Boden  An- 
lage gesucht  hat,  um  nun  auch  „fideikommißfahig"  zu  werden,  die 
als  Pächter  auf  dem  gekauften  Land  sitzenden  kleinen  Wirt- 
schaften „legen"  muß,  und  daß  überall  Besitztümer,  die  für 
sich  allein  mit  $000  Mk.  Ertrag  jedenfalls  kaum  mehr  als  eine 
großbäuerliche  Lebenshaltung  gewähren,  um  die  vorgeschriebene 
Basis  der  Lebenshaltung  eines  Fideikommißbesitzers  zu  bieten,  mit 
einem  Strahlenkranz  von  damit  nicht  zusammengehörigen  Parzellen, 
die  rund  umher  zugekauft  und  verpachtet  worden  sind,  kombiniert 
werden,  und  daß  die  Besitzer  sich  auf  stetigen  Zukauf  weiterer  Parzellen 
hingewiesen  sehen.  Daß  derartige  Gebilde  unter  irgend  welchen 
Gesichtspunkten  auch  nur  im  mindesten  erfreulicher  sein  sollten, 
als  ein  Rentenfonds  von  reinem  Streubesitz,  leuchtet  denn  doch 
wahrlich  nicht  ein.  Wohl  aber  sind  sie  natürlich  als  Boden- 
anhäufungszentren  höchst  wirksam  und  zugleich  ein  Mittel, 
Betrieben,  die  für  sich  allein  „keine  Herrschaft  tragen",  deren  Inhaber 
vielmehr  schlecht  und  recht  als  „Klutenpetter"  ein  bürgerliches  Er- 
werbsleben mit  scharfer  Mitarbeit  in  Stall  und  Feld  führen  müßten, 
die  Qualifikation  zu  verleihen,  in  Verbindung  mit  Parzellenpacht- 
wucher  eine  Basis  prätenziöser  „herrschaftlicher"  Existenzen  zu 
werden,  die  dann  in  den  Augen  der  Romantiker  als  „Rückenbesitzer" 


»)  In  Wahrheit  weniger  als  halb  so  grofie,  da  die  Lastenanrechnung  anders 
geregelt  ist. 

36* 


I 


554  Max  Weber, 

glänzen.  Der  Entwurf  fordert  die  Erhaltung  bzw.  Schaffung  von 
Betrieben  bestimmter  Minimalgröße,  anstatt,  wenn  er  Streufidei- 
kommisse  nicht  liebt,  Geschlossenheit  oder  nachbarliches  Zusammen- 
liegen der  Fideikommißbesitzu  ngen  zu  verlangen.  — 

Andererseits  ist  natürlich  der  Betrag  von  ioooo  Mk.  Netto- 
einnahme ganz  und  gar  unzulänglich,  um  darauf  irgend  welchen 
„splendor  familiae"  zu  gründen.  Ein  Einkommen  von  ioooo  Mk. 
bedeutet  heute  eine  einfache  bürgerliche  Existenz.  Einen  Mann  mit 
10 — 15000  Mk.  zum  Fideikommißbesitzer  stempeln,  heißt  jemanden, 
der  durch  seine  Verhältnisse  auf  bürgerliche  Lebenshaltung  hin- 
gewiesen wäre,  mit  albernen  feudalen  Ansprüchen  erfüllen,  denen 
er  nicht  ohne  fortgesetzte  Gefahr  nachleben  kann. 

Sollten  weiterhin  derartig  kleine  Fideikommisse  in  erheblicher 
Anzahl  entstehen,1)  so  sind,  wenn  der  Umfang  klein  bleibt,  und 
die  Besitzer  wirklich  ländliche  Existenzen  sind,  diese  entweder 
dem  Schwerpunkt  nach  Schnapsbrenner,  Zuckersieder,  Stärke-  oder 
Ziegelfabrikanten  und  dergleichen,  oder  wenn  sie  dazu  zu  kapital- 
schwach bleiben,  so  entsteht  bei  irgend  erheblicheren  pekuniären 
Extravaganzen  eine  mir  aus  der  Anwaltspraxis  wohl  bekannte 
chronische  Misere,  die  zu  ganz  unglaublich  widerlichen  und  nament- 
lich mit  den  sozialen  Ansprüchen  übel  kontrastierenden  Erschei- 
nungen fuhrt.  Oder  aber,  das  kleine  Fideikommis  bildet  eben  als 
Luxusgut  einen  Bestandteil  des  Vermögens  von  großindustriellen 
Familien,  die  mit  den  Interessen  des  platten  Landes  nichts  zu  tun 
haben.  In  Schlesien  sind  von  den  Inhabern  der  Betriebe  über  100  ha 
schon  jetzt  im  Regierungsbezirk  Breslau  11,54  Proz.,  im  Regierungs- 
bezirk Oppeln  12,06  Proz.  in  andern  als  landwirtschaftlichen  Be- 
rufen hauptberuflich  tätig,  im  Saargebiet  (Regierungsbezirk  Trier) 
25,0  Proz.  Der  Anreiz  dazu  wird  natürlich  durch  die  Möglichkeit 
fideikommissarischer  Bindung  bedeutend  gesteigert.  —  Wo  irgend  ein 
kleiner  Fideikommißbesitzer  aber  ökonomisch  bei  Kräften  ist  oder 

')  Ob  dies  geschieht,  hängt  für  die  Gegenwart  noch  wesentlich  von  der 
Regelung  der  Stempel  frage  ab.  Wird  der  derzeitige  Stempel  erhöht  oder 
mindestens  erhalten,  so  ist  die  Gefahr  wenigstens  zurzeit  geringer,  als  die  andere, 
welche  durch  das  Umsichgreifen  der  bestehenden  Fideikommisse  geschaffen  wird. 
Für  die  Zukunft  liegt  es  m.  E.  freilich  anders.  Unsere  ganze  Wirtschaftspolitik 
züchtet  Rentner,  und  die  Neigung,  bürgerlichem  Kapital  ein  otium  cum  dignitate 
durch  Anlage  in  Hoden  zu  verschaffen,  wird  mit  der  Sättigung  Deutschlands  an 
Kapitalbcsitz  und  der  Steigerung  des  protektionistischen  Abschlusses  der  Staaten 
gegeneinander  rasch  zunehmen. 


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Agrarstatistiscbe  u.  sozialpolit.  Betrachtungen  zur  Fideikommififragc  in  Preußen.  555 

z.  B.  durch  eine  reiche,  wenn  auch  „unstandesgemäße"  Heirat 
ökonomisch  zu  Kräften  kommt,  da  wird  er  —  wenn  dem  nicht 
ein  absolutes  V  e  r  b  o  t  im  Wege  steht  —  um  sich  greifen  und  Boden 
kaufen,  wo  immer  er  zu  haben  ist,  sei  es,  daß  derselbe  formell  zum 
Fideikommiß  geschlagen  wird  oder  daß  er  formell  ungebunden 
bleibt.  Die  Behörden  würden  wie  gesagt  wohl  nie  in  die  Lage 
kommen,  den  Konsens  zur  Bindung  des  Zugekauften  zu  verweigern,  da 
ja  jede  Arrondierung  hier  eine  Verbesserung  der  Existenzchance 
bedeutet.  Die  Mehrzahl  aller  Fideikommisse  strebt  normalerweise 
nach  Vergrößerung,  für  die  kleinen  aber  ist  sie  auf  die  Dauer 
geradezu  Existenzfrage.  Sie  bilden,  wenn  sie  überhaupt  prosperieren, 
Bodenaufkaufszentren.  Und  dies  Aufkaufen  geschieht,  dem  Schwer- 
punkt nach,  nicht  unter  betriebstechnischen  Gesichtspunkten, 
sondern  lediglich  unter  dem  Gesichtspunkt  der  Verbreiterung  der 
Rentenbasis.  Nur  eine  wesentlich  höhere  Mindestgrenze  des  Er- 
trages —  etwa  30000  Mk.,  —  oder  noch  besser  eine  Mindestgrenze 
des  Umfangs,  sagen  wir  3—4000  ha,1)  verbunden  mit  der  noch  zu 
erörternden  Beschränkung  auf  altadlige  oder  wenigstens  altansässige 
Familien  und  vor  allem  mit  dem  Verbot,  außer  etwa  in  Fällen 
nachweislicher  g  e  m  e  i  n  wirtschaftlicher  Vorteile  (Möglichkeit  der 
Urbarmachung  von  Ödland  und  dergleichen  eng  zu  begrenzende 
Fälle),  überhaupt  weiteren  landwirtschaftlich  genutzten  Boden 
(Forsten  sind  natürlich  anders  zu  behandeln)  zu  kaufen,  könnte 
hiergegen  schützen.  Aber  das  Phantom  des  Rückenbesitzes 
—  wenn  man  darunter  ständige  eigene  Betriebsleitung  versteht  — 
müßte  freilich  bei  jener  Mindestgrenze  fallen  gelassen 
werden. 

Ich  vermag,  wenn  man  den  Glauben  aufgibt,  ein  moderner 
Landwirt  könne  dauernd  dem  Typus  des  altpreußischcn  Junkers 
vergangener  Zeiten  entsprechen,2)  in  Übereinstimmung  mit  Conrad, 
keinerlei  ökonomische  oder  sozialpolitische  Gesichtspunkte  zu 
erkennen,  unter  denen  dies  zu  bedauern  wäre. 

Was  zunächst  die  ökonomische  Seite  der  Sache  anlangt,  so 


')  Natürlich  vertrüge  sie  sich  aufs  beste  mit  einer  gleichzeitig  festzusetzenden 
Maximalflächengrenzc  (etwa  8000—10000  ha)  und  besonders  einer  Maximal q u o t e 
der  in  den  einzelnen  Bezirken  zu  bindenden  Fläche. 

')  Dafl  man  diesen  Glauben  aufgeben  muß,  darüber  siehe  meine  Ausführungen 
in  Bd.  55  der  Schriften  des  V.  f.  Sozialpolitik,  gegen  die  von  keiner  Seite  etwas 
Stichhaltiges  gesagt  worden  ist,  so  viel  ich  sehe. 


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556 


Max  Weber, 


bieten  gerade  die  großen,  zumal  die  geschlossen  zusammen- 
liegenden Fideikommißherrschaften,  bei  denen  der  weit  überwiegende 
Teil  der  landwirtschaftlich  genutzten  Fläche  verpachtet,  ein  Teil  des 
Rests  administriert  wird,  eben  das,  worauf  es  den  Verfassern  des 
Entwurfes  (angeblich,  und  vielleicht  auch  vermeintlich)  ankommt :  wirt- 
schaftlich wirklich  „sturmfreie"  Existenzen  mit  der  gesicherten 
Möglichkeit  hoher  Lebenshaltung  und  entwickelter  geistiger  und 
ästhetischer  Kulturbedürfnisse,  vor  allem  aber  auch  mit  der  Mög- 
lichkeit und  dem  Anreiz,  auf  landwirtschaftlichem  Gebiet  wirklich 
in  großemStile  ökonomisch  zu  schalten.  Die  Elastizität  gegen- 
über Krisen,  wie  sie  die  englische  Agrarverfassung  gezeigt  hat, 
beruht  auf  der  Verteilung  des  Stoßes  auf  zwei  starke  Schultern. 
Das  „joint  business"  von  Landlord  und  Pächter,  wie  es  sich  in  Eng- 
land entwickelte,  hatte  ebenfalls  die  bedeutende  Größe  der  dortigen 
Fideikommisse  und  die  ökonomische  Potenz  der  Landlords  zur 
Voraussetzung.  Die  ökonomische  Aufgabe,  den  einzelnen  landwirt- 
schaftlichen Betrieb  dem  Markt  und  der  Entwicklung  der  Technik 
anzupassen,  ist  bei  gebundenem  Boden  nur  da  wirklich  sicher 
realisierbar,  wo  es  dem  Grundherrn  auf  längere  Zeiträume  hinaus 
gleichgültig  sein  kann,  ob  die  Rente  des  einzelnen  Betriebes 
unter  das  Maß  dessen  sinkt,  was  für  den  traditionellen  Unterhalt 
einer  Familie  erforderlich  ist  Und  das  gleiche  gilt  von  der  Ge- 
staltung des  Umfangs  der  Betriebe:  auch  sie  wird  gerade  da  in 
produktionstechnisch  zweckmäßigster  Form  erfolgen  können,  wo 
nicht,  wie  beim  Eigentümerbetrieb  und  natürlich  ganz  ebenso 
beim  kleinen  Fideikommiß,  die  Rente  eines  oder  weniger  einzelner 
Betriebe  gerade  das  Ausmaß  dessen  darstellen  muß,  was  als  Ein- 
kommen einer  Familie  von  bestimmter  Lebenshaltung  erfordert 
wird.  Diese  Unabhängigkeit  des  Betriebsausmaßes  von  dem 
erforderlichen  Ausmaß  eines  privatwirtschaftlichen  Einkommens 
ist  es  ja,  welche  unter  der  kapitalistischen  Wirtschaftsorganisation 
die  Stärke  des  Fideikommisses  darstellt.  Das  große  Fideikommiß 
wirkt  eben,  wenn  man  es  rein  technisch  betrachtet,  wie  eine  Art 
Vergesellschaftung  des  Produktionsmittels  Boden,  verbunden  mit 
einer  monarchischen  und  privatwirtschaftlich  interessierten  und  ver- 
antwortlichen Spitze.  Mit  jeder  Herabminderung  des  Ausmaßes 
des  Fideikommisses  mindert  sich  naturgemäß  dies  Element  der 
Stärke,  und  wo  das  Fideikommiß  mit  dem  Umfang  eines  oder 
zweier  Rittergüter  zusammenfällt,  da  ist  jener  Konflikt,  der  in  der 
Natur  unserer  privatwirtschaftlichen  Produktionsordnung  liegt:  daß 


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Agrarstatistischc  u.  sozialpolit.  Betrachtungen  zur  Fideikommißfragc  in  Preußen.  557 


technisch  zweckmäßiges  Betriebsausmaß  und  standes- 
gemäße Rente  je  ihre  eigenen  Wege  gehen,  in  voller,  ja  trotz 
aller  Privilegien  des  von  Erb-  und  Kaufschulden  freien  Besitzers  in 
gesteigerter  Schärfe  vorhanden,  da  ja  keine  Macht  der  Welt 
durch  die  Generationen  hindurch  die  Speisung  des  Eigenbetriebes 
mit  dem,  zumal  für  eine  im  Sinne  schnelleren  Kapitalumschlages 
intensivere  Wirtschaft  erforderten,  Betriebskapital  gewährleisten 
kann,  und  da  der  Übergang  zur  Verpachtung,  je  kleiner  der  Besitz, 
um  so  weniger  sicher  gerade  jenes  Ausmaß  von  Rente  einträgt. 

Ganz  ähnlich  steht  es  auf  sozialpolitischem  Gebiet.  Der  große 
Fideikommißbesitzer,  je  größer  je  mehr,  kann  seinem  Besitz  ohne 
Gefährdung  seiner  eigenen  ökonomischen  Lebensinteressen  in  ähn- 
licher Weise  gegenüberstehen,  wie  etwa  ein  Mecklenburger  Groß- 
herzog seinem  Domanium,  er  kann,  wie  dieser  es  getan  hat, 
„Agrarpolitik"  treiben,  und  ist  bei  der  großen  Zahl  der  von  ihm 
Abhängigen,  bei  seiner  der  Öffentlichkeit  und  ihrer  Meinung  immer- 
hin exponierten  Stellung,  bei  seiner  relativen  Entrücktheit  aus  den 
konstanten  Spannungen  des  wirtschaftlichen  Alltagskampfes  darauf 
sogar  in  gewissem  Maße  hingewiesen.  Tut  er  es  nicht,  preßt  er 
seine  Pächter  aus,  baut  schlechte  Arbeiterwohnungen  usw.  so  hat 
das  eben  in  der  Tat  vorwiegend  persönliche,  nicht  aber  den 
ganz  allgemeinen  Grund,  der  bei  den  kleinen  Grundherren  solche 
sozialpolitische  Arbeit  großen  Stils  normalerweise  ausschließt:  daß 
sie  selbst  ihre  Maut  zu  Markte  tragen  und  es  deshalb  Selbstbetrug 
oder  Phrase  ist,  wenn  man  ihnen  irgend  andere  Motive  als  normaler- 
weise maßgebend  andichtet,  als  diejenigen,  die  jeden  kapitalistischen 
Unternehmer  irgendwelcher  Art  irgendwo  und  irgendwann'  be- 
seelt haben  und  beseelen.  Ein  großer  Fideikommißbesitzer  k a n n 
z.  B.,  auch  in  seinem  eigenen  Interesse,  auf  die  von  ihm  ab- 
hängigen Mittelbetriebe  erziehlich  wirken  und  so  Vorbilder  für 
kleinere  Wirtschaften  schaffen,  worauf  die  Motive  solches  Gewicht 
legen.  Was  die  Bauern  von  einem  durchschnittlichen  Rüben-  oder 
Branntweinbaron  eigentlich  ökonomisch  lernen  sollten,  leuchtet  da- 
gegen nicht  ein,  und  um  ihnen  die  technischen  Fortschritte,  deren 
Anwendung  ihnen  möglich  wäre,  vor  Augen  zu  führen,  dazu  genügt 
ein  Zehntel  der  jetzt  im  Osten  vorhandenen  Großbetriebe.  Ein 
Dutzend  kleiner  Fideikommißbesitzer,  etwa  von  je  400  ha  an,  an 
Stelle  eines  großen  von  4 — 5000  ha  sind  selbstverständlich  schlecher- 
dings  nicht  in  annähernd  ähnlichem  Maße  anpassungsfähig  wie 
dieser  es  ist.    Schlechte  Zeiten  werden  sie  wohl  zur  Abstoßung  von 


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558 


Max  Weber, 


Außenschlägen  an  kleine  Rentengutserwerber  oder  Parzellenpächter 
führen  —  beides  Formen  des  Bodenwuchers,  die  der  Güterschlächterei 
wesensgleich  sind  —  oder  der  künstlich  in  der  einmal  gegebenen 
Verteilung  festgeklammerte  Betrieb  muß  an  einen  möglichst  viel 
bietenden  Pächter  zur  Ausraubung  vergeben  werden.  Aber  eine 
planvolle  Neugestaltung  der  Betriebsgrößen  unter  umfassenderen 
technisch-ökonomischen  Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten  ist  ihnen 
einfach  unmöglich.')  Überhaupt  aber  ist  irgend  ein  spezifisch  „weit- 
sichtigeres" Verhalten  eines  solchen  kleinen  Fideikommißbesitzers 
gegenüber  irgend  einem  anderen  Betriebsleiter,  allgemein  gesprochen, 
so  unwahrscheinlich  wie  möglich,  denn  dazu  gehört  nun  einmal 
ein  Besitz  mit  nicht  nur  zeitlich,  sondern  vor  allem  auch  räum- 
lich weiterer  Perspektive.  Die  ökonomische  Elastizität  und  An- 
passungsfähigkeit gegenüber  dem  Stoß  der  Konjunktur,  welche,  bei 
Zusammenfassung  des  Bodens  in  einer  ganz  großen  Fideikommiß- 
besitzung  mit  vielen  Einzelbetrieben  in  Pacht  oder  Administration, 
gegenüber  der  Verteilung  des  Bodens  unter  lauter  freie  Eigentümer- 
betriebe  in  der  Tat  erheblich  erhöht  sein  kann,  ist  bei  der 
Fesselung  des  Landes  in  der  Hand  vieler  einzelner  kleiner  Fidei- 
kommisse  vielmehr  verringert.  Zahlreiche  kleine  Fideikommisse 
können  hier  in  den  entscheidenden  Punkten  geradezu  entgegen- 
gesetzt wirken,  wie  einzelne  große. 

Es  ist  angesichts  alles  dessen  geradezu  ein  Unheil,  daß  die 
Motive  dieFideikommmißpolitik  unter  den  Gesichtspunkt  der  Stützung 
des  Eigentümergroßbetriebes  und  vollends  unter  die  sattsam  be- 
kannte Spießbürgerphrase  von  der  Beförderung  einer  „glücklichen 
Mischung"  der  verschiedenen  Betriebsgrößen  stellen.  Diese  Redens- 
art sollte  wirklich  schon  aus  dem  Grunde  endlich  aus  der  Diskussion 
verschwinden,  weil  die  Frage  ja  eben  ist,  welche  Mischung  denn 
nun  die  „glückliche"  sei,  die  im  Westen  vorhandene,  die  Westfalens 
oder  Hannovers,  oder  die  in  Schlesien  oder  die  in  Ostpreußen  be- 
stehende: —  denn  mit  Ausnahme  ganz  weniger  Gegenden  sind  hier, 
wie  überall  in  Preußen,  die  Betriebsgrößen  irgendwie  „gemischt", 

')  Wenn  Sering  den  Fideikommißbcsitzern  die  Abveräußerung  auch  größerer 
Besitzteile  gegen  Rente  wie  Kapital  gestatten  will,  so  wird  man  zwar  gern  zustimmen. 
Aber  daß  bei  „Kückenbesitzern"  dabei  etwas  Erhebliches  und  Verständiges  (vom 
ag rarpolitischen  Standpunkt  aus!)  herauskomme,  ist  (generell  wenigstens)  aus- 
geschlossen, wie  ich  schon  vor  13  Jahren  einmal  ausführte.  Nur  ganz  große  Grund- 
herren können  Kolonisationspolitik  treiben.  Andere  werden  allenfalls  Hungerbauern 
abzweigen. 


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Agrarstatistische  u.  sozialpolit.  Betrachtungen  zur  Fideikommiflfrage  in  Preußen.  559 

und  auch  mit  Großbetrieben  untermischt  — oder  welche  andere? 
Nach  früheren  Äußerungen  von  Berliner  Agrarpolitikern  durfte  man 
annehmen,  daß  wohl  der  deutsche  Nordwesten,  etwa  Hannover, 
das  gelobte  vorbildliche  Land  sei.  Nun:  —  die  Provinz  Hannover 
ist  diejenige  Provinz,  welche  der  Fläche  nach  im  ganzen 
Staat  das  Minimum  von  Fideikommissen  aufweist: 
2, 1 3  Proz.  Nimmt  man  aber  vollends  an,  daß  die  Ausgleichung 
der  vorhandenen  schroffen  Kontraste  in  der  preußischen  Agrar- 
verfassung  der  Sinn  jener  Redewendung  sei  —  worüber  sich  ja 
recht  wohl  reden  ließe  — ,  so  muß  es  geradezu  als  ungeheuerlich 
erscheinen,  einem  Institut  im  deutschen  Osten  irgendwelche  weitere 
Ausdehnung  zu  gestatten,  welches  ausgesprochenermaßen  bezweckt, 
den  Großbetrieb,  dessen  Überwiegen  dort  gerade  jenen  Kontrast 
gegen  den  Westen  hervorruft,  zu  stützen. 

Will  man  also  das  Fideikommiß-Institut  beibehalten,  gleichzeitig 
aber  doch  nicht  den  Parvenüintercssen  die  sozialpolitischen,  und 
den  Interessen  der  Großgrundbesitzer  die  populationistischen  In- 
teressen, die  auf  dem  Lande,  zumal  im  Osten,  wahrzunehmen 
sind,  in  allzu  starkem  Maße  opfern,  dann  wäre  etwa  zu  fordern: 

1.  Beseitigung  aller  Fideikommisse  außer  den  F  o  r  s  t  fideikom- 
missen; eventuell  —  wenn  man  denn  durchaus  nicht  soweit  gehen 
will  —  unter  Gestattung  der  Kombination  von  20  Proz.  land- 
wirtschaftlich nutzbarer  Fläche  mit  80  Proz.  Forstfläche,  —  dabei 
aber 

2.  Beschränkung  der  Bindung  1  a  n  d  wirtschaftlich  nutzbaren  Bodens 
auf  solche  Böden,  die  um  —  sagen  wir:  —  >jA  unter  dem  durch- 
schnittlichen Grundsteuerreinertrag  des  betreffenden  Kreises 
stehen,  und  auf  Kreise,  in  denen  mindestens  *ja  der  wirtschaftlich 
erwerbstätigen  Bevölkerung  hauptberuflich  in  der  Landwirtschaft 
erwerbstätig  sind. 

3.  Netto  -  Ertrags  m  i  n  i  m  u  m  von  30000  Mk.  und  Flächen  - 
m i n i m u m  von  3000  ha,  sofern  landwirtschaftlicher  Boden 
mitgebunden  werden  soll;  — Flächenmaximum  pro  Fideikommiß 
von  8 — 10000  ha;  außerdem  und  vor  allem  Maximalquote  der 
Bindung  landwirtschaftlich  nutzbaren  Bodens  in  einem  und 
demselben  Kreise  von  5  Proz.  der  landwirtschaftlich  genutzen  Kreis- 
fläche außer  in  Kreisen,  mit  abnorm  ungünstiger  Durchschnitts- 
bodenqualität:  etwa  unter  1/2  des  Durchschnittsreinertrags  des  Re- 
gierungsbezirks. Aufhebung  aller  dem  nicht  entsprechender  Fidei- 
kommisse. 


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56o 


Max  Weber, 


4.  Beschränkung  der  Ausdehnung  eines  Fideikommisses  auf 
höchstens  zwei  unmittelbar  benachbarte  Kreise.1) 

5.  Beschränkung  der  Fideikommisse  auf  Familien,  die  seit  100 
Jahren  adlig  und  seit  ebenso  langer  Zeit,  oder  doch  seit  mehr 
als  2  Generationen  im  Besitz  der  größeren  Hälfte  des  betreffenden 
Grundbesitzes  oder  —  wenn  man  selbst  das  nicht  will  —  wenigstens 
seit  diesem  Zeitraum  im  Kreise  als  Besitzer  landwirtschaftlich  nutz- 
baren Bodens  von  einem  erheblichen  Umfang  ansässig  sind.  (Aus- 
nahmen etwa  zugunsten  verdienter  Staatsmänner  und  Feldherrn  durch 
Spezial  g  e  s  e  t  z.) 

6.  Erfordernis  der  Zustimmung  des  Landtages.  Verbot,  dem 
Landtage  —  bzw.  dem  Könige  —  Fideikommißgesuche  vorzulegen, 
bei  denen  die  vorstehenden  Erfordernisse  fehlen  und  bei  denen 
nicht  außerdem  nach  dem  Ermessen  der  Generalkommissionen  der 
Nachweis  geliefert  ist,  daß  „gemeinwirtschaftliche"  Interessen  nicht 
gefährdet  werden. 

7.  Verbot,  selbst  oder  durch  Dritte  weiteren  Grundbesitz  zu 
erwerben,  für  den  Fideikommißbesitzer. 

8.  Beseitigung  des  Zwanges,  eine  „wirtschaftliche  Einheit",  d.  h. 
einen  landwirtschaftlichen  Großbetrieb  aufrecht  zu  erhalten;  Zu- 
lassung des  Abschlusses  auch  langjähriger  Pachtverträge  durch  den 
Besitzer  allein. 

9.  Beseitigung  der  Beschränkung  der  zulässigen  Abveräußerungen 
auf  „kleine  und  mittlere"  Stellen,  dagegen  Beschränkung  auf 
selbständige,  bäuerliche  Stellen. 

10.  5  Proz.  Brutto- Verkehrswert-Stempel  (natürlich  mit  Ausschluß 
des  Erlasses  im  Gnadenwege!). 

Eine  Fideikommißreform,  die  nicht,  wenn  auch  etwa  in  anderer 
Fassung  der  Bestimmungen  —  denn  auf  die  Form  und  die  Einzelheiten 
kommt  es  nicht  an  — ,  den  vorstehenden  Bedenken  Rechnung 
trägt,  wäre  lediglich  eine  erneute  Kapitulation  des  Staatsinteresses 
vor  dem  Agrarkapitalismus,  die  Hunderttausende  von  Hektaren 
deutschen  Bodens  dem  verächtlichen  Streben  nach  Adelsprädikaten 

r)  Denn  was  soll  es  für  eine  Schranke  des  „Streubesitzes"  sein,  wenn  man 
den  Fideikommissen,  wie  der  Entwurf,  tut,  die  Ausdehnung  über  eine  ganze  Pro- 
vinz (!)  gestattet.  Das  ist  auch  eine  der  vielen  reinen  Attrappen,  die  der  Entwurf 
enthalt.  Wie  man  dabei  noch  von  „Rückenbesitzern"  sprechen  kann,  ist  vollends 
dunkel.  Von  positiver  ökonomischer  Bedeutung  im  Sinne  der  früheren  Ausführungen 
ist  nur  ein  geschlossenes  großes  Fidcikommißareal.  Nur  ein  solches  bindet 
auch  die  Familie  irgendwie  an  eine  bestimmte  Gegend  mit  ihrem  Interesse. 


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Agrarstatistischc  u.  sozialpolit.  Betrachtungen  zur  Fideikommißfragc  in  Preußen.     56 1 


oder  einer  adelsartigen  Position  opfert.  Allein  es  liegt  im  Zuge  der 
heute  in  Preußen  fuhrenden  Staatsweisheit,  den  bürgerlichen  Geld- 
beutel mit  dem  minimalen  politischen  Einfluß  des  Bürgertums  durch 
Gewährung  einer  Art  von  „HofiTähigkeit  zweiter  Klasse"  zu  versöhnen, 
und  in  den  dafür  empfanglichen  Kreisen  wäre  nichts  unpopulärer, 
als  wenn  der  „Nobilitierung"  von  Kapitalien,  die  im  Handel,  in  der 
Industrie,  an  der  Börse  erworben  sind,  durch  deren  Metamorphose 
in  die  Form  des  Ritterguts  Schwierigkeiten  gemacht  würden. 

Wie  wenig  Chancen  daher  heute  solche  Vorschläge,  wie  sie 
vorstehend  gemacht  werden,  oder  ähnliche,  haben,  weiß  ich  natürlich 
nur  zu  wohl.  Den  Urhebern  des  Entwurfes  liegt  ja  in  Wahrheit 
nichts  ferner,  als  die  agrarpoli tische  Fürsorge  für  eine  —  unter 
welchem  Gesichtspunkt  immer  —  „gesunde"  soziale  Verfassung  des 
platten  Landes.  Eingestandenermaßen  entscheiden  hier  (vermeint- 
liche) politische  Tagesinteressen.  Da  die  Motive  selbst  solche  in 
den  Vordergrund  stellen  und  die  Freunde  des  Entwurfes  erst  recht, 
so  kann  leider  auch  hier  nicht  vermieden  werden,  auch  auf  diese 
Seite  der  Sache  noch  etwas  einzugehen. 

Vorher  nur  noch  eine  Bemerkung. 

Die  Freunde  des  Fideikommißinstituts  —  wie  namentlich 
Sering  —  beruhigen  sich  gern  mit  der  Betrachtung,  daß  der  Entwurf 
ja  doch  trotz  allem  eine  Erschwerung  der  Fideikommißerrichtung, 
namentlich  immerhin  eine  Erhöhung  der  Minimalanforderungen 
in  finanzieller  Hinsicht,  bedeute.  Demgegenüber  sei  zunächst  erneut 
mit  allem  Nachdruck  betont,  daß  der  entscheidende  Punkt  in 
dieser  Hinsicht  die  Frage  des  Stempels  ist.  An  seine  Er- 
höhung ist  leider  kaum  zu  denken,  man  muß  vielmehr  fürchten, 
daß  er  nicht  einmal  in  seiner  jetzigen  Höhe  erhalten  bleibt.  Wird 
er  aber  herabgesetzt,  so  gibt  das  eine  Anreizune  zur  Fideikommiß- 
bildung,  der  gegenüber  alles  andere,  was  der  Entwurf  verlangt, 
Nebensache  ist.  Die  Mitglieder  des  Herrenhauses  müssen  in  diesem 
Punkt  doch  wohl  sachverständig  sein:  nichts  als  die  Stempelfrage 
hat  sie  interessiert.  Dazu  kommt  nun  aber,  daß  die  Hereinziehung 
der  persönlichen  Entschließung  des  Königs  die  Eitelkeit 
fideikommißfahiger  Familien  aufs  äußerste  kitzeln  muß.  Der  Ge- 
danke, daß  die  allerhöchste  Person  sich  mit  den  Verhältnissen  und 
der  „Würdigkeit"  der  eigenen  Familie  ganz  speziell  befaßt,  sie  in 
Ordnung  befunden  und  danach  an  dem  Stiftungsakt  des  Familien- 
hauptes sich  gutheißend  beteiligt  habe,  muß  ein  wohltuendes  Emp- 
finden für  jedes  „königstreue"  Herz  bedeuten,  —  ein  Empfinden, 


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562 


Max  Weber, 


welches  eben  in  vermehrter  Fideikommißbildung  zum  Ausdruck 
kommen  wird.  Man  vergleiche  nur,  wie  oben  geschehen,  Hannover, 
wo  keine  königliche  Genehmigung  erfordert  wird  und  die  finanziellen 
Anforderungen  die  geringsten  sind,  mit  Schlesien.  Und  endlich 
sind  wir  denn  doch  wohl  berechtigt,  den  Entwurf  unter  dem  Gesichts- 
punkt zu  betrachten :  daß  er  eine  geeignete  Grundlage  für  eine 
dauernd  gültige  Fideikommiß  reform  darstellen  soll  und  will, 
und  ihn  darnach,  nicht  aber  durch  Vergleichung  mit  dem  Gegen- 
wartszustand, zu  kritisieren. 

III. 

Die  Motive  (S.  13)  fuhren  aus,  es  komme  darauf  an,  „Familien 
zu  erhalten,  die  dem  Staat  eine  Gewähr  dafür  bieten,  daß  sich 
jederzeit  Kräfte  finden,  die  geeignet  und  bereit  sind,  die  immer 
steigenden  Anforderungen  freiwilliger  Beschäftigung  auf  politischem 
und  sozialem  Gebiet  in  staatserhaltendem  Sinne  zu  erfüllen". 
An  einer  anderen  Stelle  (S.  49)  wird  auf  die  „Anforderungen  des 
öffentlichen  Lebens  in  Gemeinde,  Kreis,  Provinz  und  Staat"  angespielt. 
Was  heißt  das  nun?  In  der  Gemeinde  ist  der  Fideikommiß- 
besitzer  bekanntlich  nicht  tätig,  —  er  bildet  seinen  „Gutsbezirk" 
für  sich,  überläßt,  wie  der  Großgrundbesitz  überhaupt,  den  Bauern 
zum  guten  Teil  die  Erziehung  seiner  Arbeitskräfte  in  der  Volks- 
schule und  möglichst  auch  deren  Unterhalt  im  Falle  der  Verarmung, 
und  wenn  sich  z.  B.  einmal  die  Bauern  über  die  schweren  Miß- 
stände, welche  die  ausländischen  Saisonarbeiter  des  Ritterguts  für 
sie  mit  sich  bringen,  beklagen,  so  erklärt  der  Vertreter  des  Land- 
wirtschaftsministers im  Herrenhause,  daß  die  „Interessen  der  Ge- 
meinden (lies :  der  Bauern )  hinter  den  Interessen  der  Landwirtschaft 
(lies :  des  Großgrundbesitzes)  zurückstehen  müßten."  Die  Gemeinde 
hat  also  wohl  auszuscheiden.  Sind  nun  etwa  für  die  Verwaltung  der 
Kreise  und  Provinzen  nicht  mehr  die  nötigen  Kräfte  zu  finden? 
Das  müßte  ja  in  dem  großgrundbesitzlosen  Westen  des  Staates  ver- 
hängnisvoll hervorgetreten  sein,  Nachweisungen  oder  selbst  An- 
deutungen darüber  fehlen  aber  und  würden  auch  schwer  zu  beschaffen 
sein.  Oder  sollte  es  gar  an  Referendaren  mangeln:  oder  etwa  an 
Kandidaten  für  die  Wahlen  ?  —  Oder  endlich  —  was  das  einzig  ernst 
zu  nehmende  wäre  —  an  Nachwuchs  für  das  Offizierkorps?  Auch 
hierfür  fehlt  jeder  Anfang  eines  Nachweises.  Die  oben  von  mir 
gesperrten  Worte  sind  eben  wohl  die  allein  aufrichtig  gemeinten : 
es  handelt  sich  um  einen  Versuch  der  Sicherung  agrarischer  und 


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Agrarstatistischc  u.  sozialpolit.  Betrachtungen  zur  Fideikommißfragc  in  Preußen.  563 

konservativer  Parteiherrschaft  innerhalb  der  Lokalverbände 
und  des  Beamtentums  —  und  um  sonst  gar  nichts.  Das  allein  bedeuten 
auch  die  „hohen  Erwartungen",  denen  gerecht  zu  werden  „der  Groß- 
grundbesitzerstand besonders  berufen"  erscheint  —  eine  Bemerkung 
übrigens,  die  vor  2  Jahrzehnten  lediglich  als  eine  Dreistigkeit  ge- 
wirkt hätte  und  in  einem  anderen  deutschen  Staat  (Mecklenburg 
und  Sachsen  etwa  ausgenommen)  auch  heute  nicht,  ohne  den 
schärfsten  Widerspruch  zu  finden,  gewagt  werden  könnte. 

Sehen  wir  nun,  wie  sich  diese  in  ihrer  Durchsichtigkeit  immerhin 
verständlichen  Ziele  in  den  Köpfen  der  agrarpolitischen  Romantiker 
idealisieren.  —  Sering  singt  zunächst  das  Loblied  dessen,  der  „durch 
gebundenen  Besitz  auf  alle  Zeiten  für  sich  und  seine  Familie  eine 
Heimat  gefunden"  habe.  Das  Heimatsgefühl  der  1000  Fidei- 
kommißbesitzer  ist  aber  teuer  erkauft.  Denn  wie  steht  es  dabei 
mit  dem  Heimatsgefühl  der  übrigen  Bevölkerungsschichten  ?  Auf  dem 
Grund  und  Boden  des  Fideikommisses  werden  neben  Proletariern  nur 
Pächter  hausen,  und  soweit  des  Fideikommiß  seinen  Zweck,  den  Groß- 
betrieb künstlich  zu  erhalten,  erreicht,  konserviert  es  auch  alle  Folgen, 
die  der  Großbetrieb  für  das  Heimatsgefühl  der  ländlichen  Bevölkerung 
hat.  Welches  diese  sind,  ergibt  jede  Nebeneinanderstellung  der 
Durchschnittsgrößen  der  landwirtschaftlichen  Betriebe  in  vergleich- 
baren Gebieten  mit  der  Quote  der  Landbevölkerung,  die  in  dem 
Kreise,  in  dem  sie  gezählt  wurde,  geboren  war.  Der  Grad,  in  dem 
die  ländliche  Bevölkerung  sich  aus  Leuten  rekrutiert,  denen  die 
Stätte  der  Arbeit  als  ihre  Heimat  gelten  kann,  ist  ceteris  paribus 
Funktion  des  Grades,  in  dem  dieselbe  am  Bodenbesitz  bzw. 
am  selbständigen  Landwirtschaftsbetrieb  beteiligt  ist.1)  Jedes 


*)  Ein  eingehender  Nachweis  läßt  sich  natürlich  nur  an  der  Hand  der  Zahlen 
für  die  einzelnen  Kreise  führen,  worauf  hier  verzichtet  werden  muß.  Es  ist  in 
dieser  Hinsicht  vorläufig  auf  einige  in  den  von  mir  herausgegebenen  Arbeiten  über 
die  Landarbeiterverhältnisse  (Enquete  des  Ev.  Soz.  Kongresses)  gegebenen  Zahlen 
zu  verweisen.    Einige  Angaben  mögen  ihnen  immerhin  beigefügt  werden. 

Es  kamen  z.  B.       auf  1  landwirtschaftlichen       auf  100  Ortsanwesende 

1885:  Betrieb  ha  landw.  Fläche    auf  dem  Lande  Kreisgebürtige 

im  Reg.-Bez.  Minden  3,8  90,7 

Osnabrück  4,1  89,1 

„        „        Hannover  4,6  81,9 

„        „        Münster  5,2  8 1,8 

Also :  je  größer  der  Durchschnitt  der  Betriebe  desto  ortsfremder  die  Bevölkerung. 
Diese  4  Regierungsbezirke   sind  ihrer  untereinander  nicht  grundsätzlich  ab- 


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564 


Max  Weber, 


Institut,  welches  durch  künstliche  Stützung  des  Großbesitzes  und 
-Betriebes  und  seiner  Erweiterung  die  Anteilnahme  am  Boden  er- 
schwert, gräbtdemHeimatsgefühlderLandbevölkerung 
die  Wurzel  ab. 

Die  Fideikom misse,  so  meint  nun  Sering  weiter,  sollen  „Pflege- 
statten einer  edlen  Lebensführung"  sein,  indem  sie  „die  Tugenden 
der  Voreltern  gewissermaßen  verdinglichen".  Gesetzt,  daß  hinter 
diesem  Satze  irgend  erhebliche  Realitäten  des  Lebens  steckten  — 
was  dahingestellt  bleiben  mag  — ,  so  müßten  die  Fidcikommisse 
eben  auf  altpreußische  „historische"  Geschlechter  und  daneben  etwa 


weichenden  Agrarverfassung  wegen  gewählt  Die  einzelnen  agrarischen  Kreise 
der  Rheinprovinz  mit  noch  kleinerer  Durchschnittsbetriebsfläche  bewegen 
sich  in  noch  wesentlich  hühcren  Zahlen,  hie  und  da  bis  dicht  an  loo  Proz.  Von 
den  rheinischen  Regierungsbezirken  mit  stärker  agrarischem  Charakter  bat  z.  B. 
Koblenz  mit  2J  ha  Durchschnittsfläche  88,7,  Trier  mit  3,3  Proz.  Durchschnittsfläche 
86,6  Proz  Kreisgebürtige. 

In  den  Gegenden  kapitalistischen  Landwirtschaftsbetriebs  stellt  sich  die  Sache 
in  einigen  Beispielen  folgendermaßen : 

Es  betrugen  1885  die  Kreisgebürtigen  in  Proz.  in  den: 


Dörfern 

Gütern 

im 

Rcg.-Bcz. 

Erfurt 

89,4 

59,8 

Magdeburg 

81,0 

65,7 

11 

Merseburg 

62,4 

52,9 

•1 

n 

Liegnitz 

79,6 

55,8 

11 

Breslau 

78,3 

60,7 

•» 

Oppeln 

85,5 

63,0 

In  Schlesien  ist  die  Hcimatsqnotc  der  Polen  die  größte.  Die  Oppelner 
Stellenbesitzer  sind  ähnlich  seßhaft  wie  die  Erfurter  Kleinbauern  und  die  west- 
deutsche Bauernschaft.  Dagegen  stehen  die  Güter  nicht  nur  überall  tief  unter  den 
Dörfern,  sondern  auch  tief  unter  den  industriellen  Landbezirken  des  Westens  mit 
starkem  Klcinbcsitz:  —  es  haben  Düsseldorf  75,2  Proz.,  Arnsberg  72»4  Proz.,  Köln 
85,0  Proz.,  Aachen  88,8  Proz.  Kreisgebürtige  —  und  ebenfalls  unter  dem  Durch- 
schnitt der  meisten  mittleren  Industriestädte,  sowie  —  wenn  man  die  Zu- 
wanderungs quote  in  Anrechnung  bringt,  —  selbst  der  Großstädte  wie  z.  B. 
Berlins.  Der  landwirtschaftliche  Kapitalismus  steht  in  bezug  auf  Bevölkerung*- 
mobilisicrung  allen  anderen  voran. 

Aber  auch  im  „patriarchalischen"  Nordosten  ist  die  Erscheinung  überall  dieselbe. 

Die  Zahlen  waren  z.  B.  Dörfer  Güter 

im  Reg.-Bcz.  Stettin  82,5  Proz.  68,8  Proz.  t  Kreis- 

Köslin  84,9    „  72,8    „  /gebürtige 

und  so  fort. 


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Agrarslatistischc  u.  sozial polit.  Betrachtungen  zur  Fideikommiflfragc  in  Preußen.  565 

auf  Nachfahren  unserer  größten  Staatsmänner  und  Feldherren  be- 
schränkt bleiben.1)  Sering  selbst  macht  —  freilich  wenig  glücklich 
formuliert 2)  —  einige  Bedenken  gegen  das  Parvenü-Fideikommiß 
geltend  und  es  entspricht  durchaus  meiner  Ansicht,  wenn  er  mit 
energischen  Worten  eine  gewisse  Besitzdauer  als  Vorbedingung 
zur  fideikommissarischen  Bindung  festgelegt  haben  möchte,  —  in  der 
Tat  die  einzig  mögliche  Schranke  gegen  das  Überhandnehmen  des 
Zusammenkaufs  von  Boden  ad  hoc  zum  Zweck  der  Fideikommiß- 
bildung  und  späteren  Erlangung  des  Briefadels.  Aber  freilich: 
10  (!)  Jahre  als  eine  solche  Frist  vorschlagen  heißt  auch  hier  wieder 
„den  Pelz  waschen,  ohne  ihn  naß  zu  machen".  Denn  zehn- 
jähriger Bodensitzer  steht  tief  unter  der  heutigen  durchschnittlichen 
Besitzzeit  der  von  Sering  an  den  Pranger  gestellten  „Besitzer  ad 
interim"8)  und  selbst  unter  der  üblichen  Pachtfrist.  Will  man 
nicht  bis  auf  100  Jahre  gehen,  so  müßte  doch  mindestens  Besitz  seit 
mehr  als  zwei  Generationen  erfordert  werden.   Will  man  aber  jenen 


')  Niemand,  der  historisch  empfindet,  wird  sich  dem  Gefühlswert  einer  „Ver- 
dinglichung"  solcher  Reminiszenzen  verschließen,  obwohl  ich  gerade  hier  um  Bei- 
spiele für  den  Satz,  daß  der  Apfel  unter  Umständen  oder  vielmehr  auffallend  oft 
sehr  weit  vom  Stamme  fallt,  nicht  verlegen  wäre  und  obwohl  es  mir  —  wie  wohl 
den  meisten  —  nicht  fraglich  ist,  daß  z.  ß.  heute  unsere  tüchtigsten  Offiziere,  so- 
weit sie  überhaupt  dem  Adel  entstammen,  aus  dem  Nachwuchs  der  oft  sehr  be- 
scheiden bemittelten  alten  preußischen  Ofhzicrsfamilien,  nicht  aber  der  reichen 
Fideikommißherrcn ,  noch  weniger  freilich  aus  den  Parvcnü-Fideikommißbcsitzern 
hervorgehen. 

?)  Denn  was  soll  es  heißen,  wenn  Sering  (S.  68)  meint,  der  Besitzer  solle 
Gelegenheit  gehabt  haben,  sich  „als  guter  Arbeitgeber"  auszuweisen?  Soll  etwa  ein 
Plebiszit  der  Instlcute  oder  Saisonarbeiter  veranstaltet  werden.  Derartige  rein  de- 
korative Äußerungen  fordern  doch  den  Spott  heraus.  —  S.  weiß  übrigens  so  gut 
wie  ich  oder  konnte  es  erfahren,  daß  z.  B.  die  Polenimportkonzessionen  in  den 
90  er  Jahren  —  von  den  letzten  5 — 6  Jahren  weiß  ich  nichts  —  auch  gegen  das 
Votum  der  Dezernenten  an  notorisch  „schlechte"  Arbeitgeber  gegeben  wurden, 
wenn  es  sich  um  Leute  handelte,  die  Uber  parlamentarische  Patronagc  oder  gesell- 
schaftlichen Einfluß  verfügten.  —  Wir  haben  alle  Schäden  des  Parlamentarismus 
ohne  dessen  Lichtseiten.  —  Und  was  die  „nationale  Gesinnung"  im  Osten  betrifft, 
von  der  S.  auch  spricht  (S.  67),  so  sind  gerade  die  FidcikommißgUter  in  der  Pro- 
vinz Posen,  wie  Wegcncr  in  seiner  Schrift  über  den  „Wirtschaftlichen  Kampf  der 
Deutschen  mit  den  Polen"  nachweist,  mit  der  Polonisierung  ihrer  Arbeiterschaft  an 
der  Spitze  marschiert 

*)  Vgl.  den  früher  zitierten  Aufsatz  Kühnerts  in  der  Zeitfchr.  d.  Pr.  Stat.  B. 
f.  1902. 


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566 


Max  Weber, 


Anreiz  nicht  vermindern,  dann  ist  es  schon  aufrichtiger,  von  der- 
artigen ostensiblen  und  dekorativen  Bestimmungen  abzusehen. 

Aber  Serings  Schätzung  der  gewaltigen  Bedeutung  des  Fidei- 
kommißinstitutes  erreicht  ihren  Höhepunkt  erst  in  den  nun  folgen- 
den Säuen:  „Kurz,  die  ratio  der  Fideikommisse  liegt  in  dem  sitt- 
lich (!)  politischen  Wert  aristokratischer  Überlieferung  und  Gesinnung. 
In  letzter  Linie  ist  die  Fideikommißgesetzgebung  ...  ein  Problem 
der  nationalen  Charakterbildung."    Ungern  nimmt  maxi  in 
einer  Zeitschrift  wissenschaftlichen  Charakters  von  solch  vagen  Be- 
merkungen, die  sich  jeder  wissenschaftlichen  Diskussion  entziehen, 
Notiz,  —  aber  schließlich  ist  es  nicht  zu  vermeiden,  auch  sie  auf 
ihren  Gehalt  hin  zu  prüfen.    Es  hat  nun  zunächst  die  Meinung 
etwas  Groteskes,  dadurch,  daß  man,  sagen  wir:  2000  (zum  guten 
Teil   voraussichtlich    sehr  neugebackene)  Grundbesitzer  rücklings 
an  je  einige  hundert  oder  tausend  Hektar  deutsche  Erde  festklebt, 
ihnen  aristokratische  Gesinnung  und  ihren  Kindern  aristokratische 
Traditionen  einzuflößen  und  durch  diese  2000  Familien  wiederum  den 
„Charakter"  der  Nation  mit  dieser  Gesinnung  zu  durchtränken. 
Kann  man  etwa  behaupten,  die  Bauern  des  Ostens  —  von  den 
Landarbeitern  zu  schweigen  —  seien  in  irgend  einem  Sinne  „Höhen- 
menschen ?"   Doch  wohl  eher  das  Gegenteil,  verglichen  mit  anderen 
Gebieten.     Wenn   irgendwo,  dann  ist  ein,  hier  nicht  weiter  zu 
analysierendes,  Etwas  von  einer  solchen  Art  Bauernstolz,  wie  ihn 
die  agrarpolitischen  Romantiker  lieben  —  und  wer  empfände  in 
diesem  Punkte  nicht  mit  ihnen  ?  —  in  dem  früher  auch  von  ihnen 
mit  so  viel  Liebe  in  den  Vordergrund  gestellten  deutschen  Nord- 
westen, also  Hannover  und  Teilen  von  Westfalen,  zu  Hause.  Nun 
umfassen  aber  gerade  hier  die  Fideikommisse  einen  so  kleinen 
Bruchteil  der  Fläche  wie  sonst  nirgends  im  preußischen  Staate.1) 
Und  ist  es  denn  so  wunderbar,  daß  sich  ein  ähnlicher  Bauernstolz 
im  Osten  —  generell  gesprochen  —  nicht  resp.  so  sehr  viel 
weniger  findet?  Wo  die  mittleren  und  größeren  Bauern  nicht  nur 
in  allen  Selbstverwaltungskörpern  —  außer  dem  Dorf,  dem  der 
Gutsherr  vornehm  fernbleibt  —  die  Hand  des  Herrn  über  sich  fühlen, 

')  Andererseits  gibt  es  dort  eine  —  ihrer  verschwindend  kleinen  Fläche 
wegen  sozialpolitisch  gänzlich  belanglose  —  Anzahl  wahrer  Karrikaturen  von 
Fideikommisscn ;  so  im  Regierungsbezirk  Hildesheim  ein  Fideikommiß  von  i  ha, 
anderwärts  einige  Dutzend  Bauernfideikommisse  von  20 — 60  ha.  Daher  die  relativ 
große  Zahl  an  Fideikommisscn  in  der  Provinz  {119)  trotz  gänzlichen  Zurücktretens 
ihrer  Bedeutung. 


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Agrarstatistische  u.  sozialpolit.  Betrachtungen  zur  FideikommißTragc  in  Preußen,  tßj 

wo  den  dicht  gedrängt  sitzenden  kleinen  Leuten  der  Dörfer  die 
breiten  Flächen  der  Güter,  durch  eine  staffellose  Lücke  in  der 
sozialen  Stufenleiter  geschieden,  gegenüberstehen,  —  und  wir  sahen, 
daß,  wie  es  ja  auch  selbstverständlich  ist,  die  Fideikommissc  diesen 
Zustand  fördern,  —  da  könnte  doch  wohl  auch  nach  Serings 
Ansicht  nur  ein  Schwätzer  von  einer  „aristokratischen  Gesinnung" 
reden,  welche  den  Bauern  jetzt  innewohnte  oder  künftig,  wo- 
möglich infolge  der  Zunahme  der  Fideikommisse,  innewohnen 
werde.  Soziales  und  ökonomisches  Gedrücktheits-  und  Abhängig- 
keitsgefühl ist  die  einem  solchen  Zustand  adäquate,  keineswegs 
immer  klar  bewußte,  aber  auf  die  Dauer  immer  wieder  wirksam 
werdende  Empfindung,  —  wobei  man  sich  sehr  wohl  vor  der  Illusion 
hüten  möge,  daß  dies  Gefühl  etwa  normalerweise  und  dauernd  in 
politischer  Obödienz leistung  sich  äußern  werde,  —  im  Gegen- 
teil! —  Oder  ist  etwa  der  königlich  sächsische  „Volkscharakter"  in 
Stadt  und  Land  durch  die  Geschlossenheit  der  Rittergüter  zu  einem 
Vorbild  deutschen  Unabhängigkeitssinnes  oder  gar  irgendwelcher 
heroischer  Tugenden  entwickelt  worden?  Oder  ist  Sachsen  ein 
Vorbild  von  „Staatsgesinnung"  der  Massen?  —  Folglich  kann  es  sich 
in  der  Tat  nur  um  die  „aristokratische  Gesinnung"  der  Fidei- 
kommißbesitzer  selbst  und  etwa  ihrer  Angehörigen  handeln.  Ver- 
weilen wir  —  so  trivial  solche  Erörterungen  notwendig  ausfallen 
müssen  —  dennoch  etwas  bei  diesem  Punkt,  da  in  Serings  Be- 
merkungen sich  ja  nur  wiederspiegelt,  was  sehr  viele  andere,  und 
zwar  ziemlich  ebenso  unklar  wie  er,  empfinden,  bei  der  Frage  also : 
was  wird  hier  unter  dem  Wort  „aristokratische  Gesinnung"  an  Re- 
alitäten des  Lebens  eigentlich  vorgestellt? 

Zunächst  jedenfalls  nicht  ein  besonders  hoher  Standard  ge- 
schäftlich loyaler  und  reeller  Gesinnung.  Den  Tanz  um  das 
goldene  Kalb  in  den  Gründerjahren  haben  diejenigen  Schichten, 
welche  das  Hauptkontigent  der  Fideikommißbesitzer  stellen,  in 
Preußen  und  Österreich  weit  stärker  mitgemacht,  als  irgendeine 
andere  Volksklasse.  Jeder  Geschäftsmann,  der  mit  den  östlichen 
Gutsbesitzern  —  etwa  als  Getreidehändler  —  dauernd  zu  schaffen 
hatte,  kann  Sering  die  Nachweise  dafür  liefern,  wie  unendlich  schwer 
es  war  und  wenigstens  zum  Teil  bis  heute  ist,  diese  Herren  zur 
Reellität  im  bürgerlichen  Sinne  zu  erziehen.  Nicht  deshalb  weil 
sie  schlechtere  Menschen  wären,  sondern  weil  das,  was  Sering  in 
seiner  Art  „vornehme  Berufsauffassung"  nennt,  —  eine  gewisse 

Archiv  für  So*ialwivsen*cha(t  u.  Sozialpolitik.  1.    <  A.  f.  so*.  G.  u.  St.  XIX.)  3.  37 


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Mai  V.  *;  ?r. 


Nichtachtung  strenger  und  nüchterner  bürgerlicher  Rechtlichkeit  1  *  — 
nun  einmal  in  der  Luft  liegt  in  der  sie  leben.    Ich  persönlich  habe- 
zufällig  in  ziemlich  ausgedehnten  Ma;ie  Gelegenheit  gehabt,  in  der 
gerichtlichen  und  namentlich  der  hierin  weit  lehrreicheren  Anwalts- 
praxis mit  Fideikommi^besitzem  zu  tun  zu  haben,  darunter  Namen 
deren  Klang  jedem  Kenner  der  preußischen  Geschichte  das  Herz  im 
Leibe  lachen  macht.    Es  wäre  gewiß  höchst  verwerflich,  die  zum 
Teil  kaum  glaublichen  Erfahrungen,  die  ich  wie  wohl  recht  viele, 
die  in  gleicher  Lage  waren,  dabei  in  immerhin  auffallender  Häufig- 
keit zu   machen   hatte,  in  irgend  einem  Sinn   zu  generalisieren  : 
damit  geschähe  vielen  Hunderten  höchst  ehrenhafter  Familien  ganz, 
ebenso  bitteres  Unrecht,  wie  den  Bankiers  und  Börsenhändlern  mit 
dem  so  beliebten  Hinweis  auf  die  —  im  Gegensatz  zu  jenen 
agrarischen  Fäulnisprozessen  —  im  vollen  Licht  der  Öffentlichkeit 
katastrophenartig  sich  abspielenden  Bankbrüche  zu  geschehen  pflegt- 
Aber  eins  steht,  für  mich  wenigstens,  fest:  könnte  man  diese  Dinge 
überhaupt  ziffernmäßig  schätzen  und  von  ..Durchschnitten"  reden, 
so  könnte  jedenfalls  von  einem  höheren  Geschäftsstandard  gerade 
der  Fideikommißbesitzer  etwa  gegenüber  der  vielgeschmähten  „Börse** 
in  ke i  n e m  wie  immer  gedachten  Sinn  auch  nur  im  allerentferntesten 
die  Rede  sein. 2 > 

•j  Seine  Meinung  über  das  Wesen  d«-s  Handels  schöpft  der  in  ostelbischea 
Eindrucken  aufwachsende  junge  aktive  oder  Rcserveoiüricr  zum  nicht  geringen  Teil 
aus  den  Erfahrungen  mit  Vieh-  und  Roä-„Tauscr.crn'*  oder,  wenn  er  Kavallerist  ist, 
aus  den  Erfahrungen  beim  Pferdekauicn  ..unter  Kameraden".  Daö  bei  diesem 
letzteren,  unbeschadet  aller  sonstigen  gesellschaftlichen  Qualitäten  der  Beteiligten, 
der  SaU  „caveal  cmpior"  in  des  Wortes  verwegendstcr  Bedeutung  gilt,  ist  bekannt 
und  eine  kulturgeschichtlich  leicht  ru  rubrizierende  Erscheinung.  Fürst  Bismarck  bat, 
wie  bekannt,  seine  Vorstellung  von  dem  Wesen  der  Handelspolitik  nach  Analogie 
solcher  Eindrücke  gebildet.  Diese  Nonchalance  tritt  auch  außerhalb  des  rein  wirt- 
schaftlichen Verkehrs  überall  in  die  Erscheinung.  Jedermann  weiß  —  wenn  er  es 
wissen  will  — dutt  Personen,  die  nach  ihren  ökonomischen  Antezedenxien  von  jeder 
Börse  mit  Protest  ausgeschlossen  würden,  es  in  den  agrarischen  Organisationen  — 
so,  wie  sie  heute  in  Preuöcn  sind  —  zu  Ehren-  und  Vertrauensstellungen 
bringen,  ja  auch  in  das  Herrenhaus  einziehen  können.  Der  Agrarkapitalismus  auf 
dem  Boden  alter  Kulturländer  ist  eben  unter  den  heutigen  Verhältnissen  dazu  ver- 
urteilt, eine  Mischung  „seigneurialer*4  Prätensionen  mit  „bourgeois"mänigem  Trieb 
zum  Golde  zu  sein.  Lnd  in  unserer  Zeit  der  „mittleren  Linie"  rindet  dies  seinen 
durchaus  adä-juaten  Ausdruck  in  einer  KideikommißgeseUgcbung,  welche  diesen 
beiden  Trieben  gerecht  zu  werden  trachtet. 

*i  Es  mag  überflüssig  oder  selbst  kleinlich  erscheinen,  dies  so  ausführlich  ru 


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Agrarstatistische  u.  sozialpolit.  Betrachtungen  zur  Fidcikommißfrage  in  Preußen.  ij6c> 

Etwas  anderes  ist  es,  wenn  man  die  ökonomische  Unab- 
hängigkeit der  Fideikommißbesitzer  als  ein  Element  von  poli- 
tischem Wert  anspricht.  Man  kann  unter  den  verschiedensten  Ge- 
sichtspunkten die  Teilnahme  ökonomisch  unabhängiger  Persönlich- 
keiten am  politischen  Parteileben  —  die  sozialdemokratische  Partei 
wäre  dabei  nicht  ausgenommen,  vielmehr  ein  hervorragendes  Bei- 
spiel —  als  außerordentlich  bedeutsam  für  die  Aufrechterhaltung 
politischer  Überzeugungen  gegenüber  dem  reinen  Fraktions- 
Opportunismus  ansehen.  Daß  gerade  der  Fideikommißbesitz  in 
diesem  Zusammenhang  erheblich  mitspiele,  ist  freilich  sehr  zu 
bezweifeln,  da  in  der  konservativen  Partei,  der  dies  heute  vor- 
nehmlich zugute  käme,  gerade  er  sich  den  gesellschaftlichen  Ein- 
flüssen des  Hofes  am  wenigsten  entzieht.  Er  würde  eventuell  eher  in  der 
staatlichen  und  militärischen  Karriere  wirksam  werden  können.  Um 
nun  die  Dinge  etwas  konkreter  zu  erörtern,  so  ist  z.  B.  für  jeden, 
der  die  betreffenden  Verhältnisse  näher  kennt  —  möchten  auch  seine 
Überzeugungen  noch  so  „waschecht"  demokratische  sein  —  es  keinem 
Zweifel  unterworfen,  daß  ein  pekuniär  unabhängiger,  vermögender 
Beamter  oder  Offizier  seine  großen  Lichtseiten  namentlich  vom 
Standpunkt  der  ihm  Untergebenen  aus,  also  als  Vorgesetzter,  hat. 
Jeder,  der  weiß,  was  ein  „nervöser"  und  opportunistischer  Oberst 
für  ein  Offizierkorps  bedeutet,  der  etwa  Gelegenheit  hatte  zu  sehenr 
wie  außerordentlich  diese  seit  1888  epidemische  „Nervosität"  und 
Ängstlichkeit  bei  sonst  gleichen  Charakterqualitäten  naturgemäß  durch 
Vermögenslosigkeit  gesteigert  wird,  muß  dies  zugeben.  Aber 
auch  vom  Standpunkt  der  sachlichen  Interessen  liegt  die  Sache 


erwähnen.  Allein  w  i  e  sich  die  agrarische  Welt  in  den  Köpfen  der  Romantiker 
malt,  dafür  statt  vieler  nur  ein  ergötzliches  Beispiel:  Der  Entwurf  bestimmt,  in  An- 
wendung bekannter  Grundsätze  unseres  bürgerlichen  Rechts,  in  §  49 :  „Hat  der  Fidei- 
kommißbesitzer dem  anderen  Teile  gegenüber  der  Wahrheit  zuwider  die  Genehmigung 
des  Familienrats  behauptet,  so  ist  der  andere  Teil .  . .  zum  Widerruf  berechtigt."  Dazu 
bemerkt  entrüstet  Herr  Dr.  Wygodzinski  (a.  a.  O.  S.  60):  „Den  stärksten  Ausdruck 
findet  das  Mißtrauen,  mit  dem  der  Entwurf  augenscheinlich  (!)  den  Fideikommiß- 
besitzer betrachtet,  in  §  49,  wo  ausdrücklich  (!)  der  Fall  vorgesehen  ist,  daß  der 
Fideikommißbesitzer  lügt."  —  Dann  wäre  es  doch  wohl  an  der  Zeit,  dem  Reichs- 
strafgesetzbuch,  welches  allen  Reichsangehörigen  ohne  alle  Standesunterschiede 
mehrere  hundert  zum  Teil  höchst  abscheuliche  Strafuten  zutraut,  im  Einführungs- 
gesetz einen  Artikel  vorauszuschicken  etwa  des  Inhalts:  „Fideikommißbesitzer  und 
andere  Personen  „aristokratischer  Gesinnung"  bleiben  von  den  nachstehenden  Vor- 
schriften unberührt." 

37* 


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5/0 


Max  Weber, 


vielfach  ähnlich :  selbst  in  der  Tätigkeit  etwa  von  Fabrikinspektoren 
ist  rücksichtslose   Unabhängigkeit  billiger  für  den  vermögenden 
Mann.    Nur  ist  wenigstens  mir  wiederum  nichts  davon  bekannt,  daß 
gerade  das  Fideikommiß  hier  eine  nennenswerte  Rolle  spielte  : 
die  prosaischen  Konsols  taten  es,  soweit  ich  sehen  konnte,  auch, 
in  gewissem  Sinn  sogar  noch  besser.    Und  vor  allem:  damit  das 
Fideikommiß  diese  Rolle  spielte,  müßten  eben  die  Fideikommißbesitzer 
selbst  in  das  Heer  oder  die  höhere  Beamtenschaft  eintreten,  könnten 
also  unmöglich  die  Rolle  von  „Rückenbesitzern"  spielen  wollen, 
müßten  namentlich  auch  wirklich  „sturmfreie"  ganz  große  Besitzer 
sein,  die  12000  MIc  Gehalt  leicht  verschmerzen  können.  —  Es 
kämen  sonst  ja  nur  die  Seitenverwandten  der  Fideikommiß- 
besitzer in  Betracht  und  mit  ihnen  dürfte  die  Sache  wohl  so  liegen, 
daß  nicht  sowohl  der  Staat  auf  sie,  als  sie  auf  den  Staat  ange- 
wiesen sind  und  schwer  ersichtlich  ist,  woher  bei  ihnen  ein  spezifisches 
Unabhängigkeitsgefuhl  kommen  sollte.   Daß  es  zahlreiche  Gesichts- 
punkte gibt,  unter  denen  die  Rekrutierung  des  Beamtentums  aus 
einem  Nachwuchs,  der  nicht  ausschließlich  oder  auch  nur  sehr  stark 
vorwiegend  in  städtischer  Luft  aufgewachsen  ist,  erwünscht  er- 
scheinen kann,  ist  (m.  E)  gänzlich  unbestreitbar.    Aber  es  wäre 
wiederum  geradezu  grotesk,  heute  eine  Gefahr  zu  sehen,  daß  in  irgend- 
welchen noch  so  großen  Zeiträumen  jener  Zustand  eintreten  könnte 
Der  gegenteilige  Zustand  —  eine  Beamtenschaft,  die  den  breiten 
Schichten  der  modernen  bürgerlichen  und  Arbeiterklassen  kenntnis- 
und  verständnislos  und  mit  nichts  als  einer  unklar  empfundenen 
agrarisch  gefärbten  Antipathie  gegenübersteht  —  ist  doch  wohl 
sehr  viel  näher  daran  verwirklicht  zu  werden.    Daß  die  Ange- 
hörigen von  Fideikommißbesitzern  sich  je  durch  Entwicklung 
besonderer  Charakterqualitäten  ausgezeichnet  hätten,  ist  mir  un- 
bekannt. Urteile  mit  dem  Anspruch  auf  generelle  Geltung  wären  hier 
ungerecht  gegen  die  zweifellos  zahlreichen  vortrefflichen  einzelnen 
Persönlichkeiten  dieser  Art,  aber  unter  sonst  gleichen  Verhältnissen 
ist  es  an  sich  wahrscheinlich  und  stimmt,  soviel  mir  bekannt,  mit 
zahlreichen  Erfahrungen,  daß  das  Bewußtsein,  bei  gleichen  oder  selbst 
geringeren  Leistungen  unbedingt  einer  bevorzugten  Behandlung 
in  der  Beförderung  sicher  zu  sein  —  und  daß  dem  so  ist,  wird  vielleicht 
einmal  vom  Ministertisch,  nie  aber  unter  vier  Augen  bestritten 
werden  —  seine  Wirkung  nicht  zu  verfehlen  pflegt.    Eine  noch 
weitere  Steigerung  der  Schwerkraft  der  privilegierten  Talentlosigkeit 
in  der  preußischen  Verwaltung  kann  heute  wahrlich  niemand  für 


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Agrarstatistische  u.  sozialpolit  Betrachtungen  zur  Fidcikommißfrage  in  Preußen.  571 

ein  Bedürfnis  ansehen.  Und  von  den  alten  preußischen  „Traditionen" 
ist  heute  in  Preußen  nicht  mehr  viel  übrig,  —  sie  leben,  wie  auch 
der  entschiedenste  Feind  jedes  „Partikularismus"  anerkennen  muß,, 
in  manchem  kleineren  Staat  reiner  fort  als  in  Preußen  und  sind 
etwas  ganz  anderes  als  was  heute  dort  so  genannt  wird.  Vollends 
die  Produkte  des  modernen  Parvenü-Fideikommisses  sind  wahrlich 
nicht  ihre  Träger.  Sie  sind  vielmehr  —  wiederum  ohne  erfreuliche 
E i n z e  1  ausnahmen  irgendwie  zu  bestreiten  —  man  kann  sagen: 
notorisch  und  aus  sehr  verständlichen  Gründen,  dazu  prädisponiert, 
die  eifrigsten  (aber  allerdings  nicht  die  einzigen)  Vertreter  jener 
immer  weiter  um  sich  greifenden  absolut  Charakter-  und  gesinnungslosen 
„Schneidigkeit"  zu  werden,  welche  ihre  „Satisfaktionsfähigkeit"  in 
der  Presse  affichiert  und  dies,  verbunden  mit  dem  läppischsten 
Mandarinen-Hochmut  im  dienstlichen  Verkehr  nach  „unten",  als 
„preußische  Tradition"  oder,  wie  manche  elsässischen  Beamten 
preußischer  Provenienz  es  in  den  80  er  Jahren  in  stolzem  Über- 
legenheitsgefühl  ihren  badischen  Kollegen  gegenüber  taten,  als  „preu- 
ßische Verwaltungspraxis"  auszugeben.  Der  Fehler  liegt  eben  nicht 
darin,  daß  jene  Herren  z  u  „vornehmer,,  Abkunft  wären,  sondern  darin, 
daß  sie  es  nicht  sind.  Die  breite  Masse  der  bürgerlichen  Beamten 
sucht  ihren  bürgerlichen  Ursprung  zu  vergessen,  ohne  es  zu  können.  Das 
Mittel  des  Reserveoffiziers-  und  Korpsstudenten wesens1)  dient  zur 

')  Für  viele  sind  diese  studentischen  Verbindungen  ja  keineswegs  in  erster  Linie 
Pflegestätten  studentischer  Ehre  und  Sitte,  sondern  einfach  Avancements-Versicherungs- 
Anstalten.  Die  kümmerlichsten  Sprößlinge  deutscher  Geheimrätinnen  oder  auch 
Kommerzienrätinnen  müssen  darin  den  bei  der  heutigen  Praxis  recht  bescheidenen 
„Mut"  prästieren,  sich  durch  einige  Narben  abstempeln  tu  lassen,  weil  —  mir 
sind  selbst  solche  Fälle  wiederholt  von  den  betreffenden  besorgten  Eltern  geklagt 
worden  —  es  für  die  „Konnexionen"  unentbehrlich  ist  —  Aber  schlimmer  ist,  daß 
dies  Treiben  nunmehr  die  Techniker  und,  wie  es  fast  scheint,  —  wenigstens 
Anfänge  dazu  sind  bemerkbar  -  auch  die  Zöglinge  der  Handelshochschulen  ergreift. 
Die  Vermutung,  daß  mit  der  Gründung  der  letzteren  zuweilen  in  erster  Linie 
nicht  dem  Wissensbedürfnis  der  Kaufleute,  sondern  ihrem  Wunsch,  an  der  pa- 
tentierten „akademischen"  Bildung  teilzunehmen,  dadurch  „satisfaktionsfähig" 
und  damit  u.  a.  auch  Rcrscrve-Offizicr  =  fähig  zu  werden,  entgegengekommen 
werden  soll,  ist  leider  recht  naheliegend.  Ich  kann  mich  den  vortrefflichen  Be- 
merkungen von  Wittich  in  seinem  Aufsatt  „Deutsche  und  französische  Kultur  im 
Elsaß"  nur  anschließen.  Daß  wir  uns  mit  einer  Entwöhnung  von  der  intensiven 
Arbeit,  wie  sie  dies  „akademische"  Treiben  heute  regelmäßig  mit  sich  bringt,  als 
Macht  neben  den  großen  Arbeitsvölkern  der  Erde,  speziell  den  Amerikanern,  auf 
die  Dauer  behaupten,   ist  mehr  als  fraglich.    Feudale  Prätensionen  ersetzen  den 


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572 


Max  Weber, 


Aneignung  gewisser  äußerer  Formen  der  Schichten,  zu  denen  man 
sich  gern  zählen  möchte,  ohne   doch  das  Parvenügefühl  ganz  zu 
beseitigen.   Je  mehr  die  autoritäre  Position,  in  die  sich  der  moderne 
preußische  Beamte  dieses  Schlages  den  „Untertanen"  gegenüber 
gestellt  fühlt,  von  diesen  letzteren  und,  im  Grunde  seines  Herzens, 
auch  von  ihm  selbst,  als  Prätension  empfunden  wird,  um  so  mehr 
wird  sie  betont.   Vorurteilslose  Mitglieder  des  heutigen  preußischen 
Beamtentums  pflegen  die  Degeneration  der  altpreußischen  Tradition 
zu  jenem  charakterlosen,  nach  unten  „schneidigen",   nach  oben 
geschmeidigen  „Assessorismus"  der  Gegenwart  mit  seiner  über- 
zeugungslosen Pflege  der  rein  formalen  „Staatserhaltung"  ohne  alle 
inhaltlichen  Ziele1)  stets  zuzugeben,  mit  dem  typischen  Zusatz: 
„aber  die  Bürgerlichen   sind   immer   die  schlimmsten".  Gewiß: 
Bürgerliche  mit  feudalen  Prätensionen,  eben  solche,  wie  sie  der 
Fideikommißentwurf  in  Reinkultur  massenhaft  züchten  will. 

Es  gibt  m.  E.  schlechthin  keinen  Gesichtspunkt,  unter  welchem  die 
weitere  Durchsetzung  des  preußischen  Beamtentums  mit  jenem  Typus 
der  „Gernegroßen"  als  ein  Gewinn  erscheinen  könnte.  Durch  die  Zu- 
Geist rücksichtsloser  bürgerlicher  Arbeit  nicht.  —  Der  Begriff  der  „Satisfaktions- 
fäbigkeit"  übrigens,  speziell  in  seiner  wechselnden  Beziehung  zu  den  in  Deutschland 
k  1  as  sc  n  bildenden  Bildungspatenten  (Maturität,  F.injährigenzcugnis  etc.)  wäre  seiner  ganz 
erheblichen  Kulturbcdeutung  wegen  einer  historischen  Spezialuntersuchung  wohl  wert. 

')  In  „ideallypischer"  Reinheit  spricht  sich  dieser  Banausen-Standpunkt  auch  in 
dem  folgenden  schönen  Satz  der  Motive  (S.  17)  aus:  „Denn  für  ein  gesetzgeberisches 
Vorgehen   können  nicht  allgemeine  philosophische  Erwägungen,  sondern  nur  die 
Rücksichten  auf  die  tatsächlichen  Verhältnisse  maßgebend  sein."  —  Es  möchte 
freilich  wenig  Ersprießliches  an  den  Tag  kommen,  wenn  der  Verfasser  dieses  Scnti- 
ments  sich  auf  das  Philosophieren  verlegen  würde.    Aber  man  möchte  gern  wissen, 
was  unter  „Rücksichtnahme  auf  die  tatsächlichen  Verhältnisse"  verstanden  ist,  —  es 
sei  denn  ganz  einfach  die  Rücksicht  auf  die  im  preußischen  Landtag  ausschlag- 
gebenden Interessen  des  Agrarkapitalismus.    Vermutlich  liegt  die  übliche  Anspielung 
auf  die  „Realpolitik"  darin,  wie  man  sich  denn  in  Deutschland  regelmäßig  dann 
auf  Bismarck  zu  berufen  pflegt,  wenn  es  sich  um  ein  Feigenblatt  für  die  ödeste 
Ideal-  und  Gesinnungslosigkeit  handelt.  —  Es  mag  hier,  am  Schluß  unserer  Be- 
trachtungen,  doch   dem   Erstaunen  darüber  Ausdruck  gegeben  werden,   daß  das 
preußische  Landwirtschaftsministerium,  welches  doch  mindestens  über  eine  wissen- 
schaftlich ausgezeichnet  geschulte  und  verdiente  Kraft  verfügt,  die  Abfassung  der 
wirtschaftlichen  Teile  der  „Motive"  dieses  Entwurfes  offenbar  irgend  einem  völlig 
unreifen  Anfänger  überlassen  konnte.    Der  Kontrast  gegen  die  —  bei  allen  auch 
in  dieser  Hinsicht  bestehenden  Bedenken  —  scharf  und  gründlich  durchdachten  rein 
juristischen  Partien  ist  geradezu  blamabel.    Es  war  ein  Ding  der  Unmöglichkeit,  diesen 
Plattheiten  gegenüber  überall  höflich  zu  bleiben. 


Agrarstatistischc  u.  sozialpolit.  Betrachtungen  zur  Fidcikommißfragc  in  Preußen.  573 

lassung  zahlreicher  kleinerer  Fideikommißgründungen  vollends 
wird  nicht  „aristokratische  Gesinnung"  in  irgend  einem  Sinn  des  Wortes 
erzeugt,  sondern  —  wie  immer  wieder  gesagt  werden  muß  —  es 
werden  Familien,  die  nach  ihren  Einkommensverhältnissen  auf  be- 
scheidene bürgerliche  Lebensführung  hingewiesen  wären,  mit  feu- 
dalen Prätensionen  erfüllt.  Die  Möglichkeit  bürgerlicher  und 
briefadliger  Fideikommißgründung  überhaupt  aber  lenkt,  indem  sie 
die  verächtlichste  Eitelkeit  kitzelt,  das  bürgerliche  deutsche  Kapital 
von  dem  Wege  ökonomischer  Eroberungen  in  der  weiten  Wrelt 
in  verstärktem  Maße  auf  die  Bahn  der  Schaffung  von  Rentiers- 
existenzen,  die  ohnehin  im  Zuge  unserer  protektionistischen  Politik  liegt. 

Denn  Renten  schütz  ist  ja  die  Signatur  unsereriWirtschaftspolitik. 
Welchen  allgemeineren  Gesichtspunkten  sich  die  Konsequenzen 
dieses  Systems  fügen,  ist  hier  nicht  zu  erörtern.  Nur  auf  einen 
Punkt,  der  auch  in  unseren  Zusammenhang  gehört,  sei  hingewiesen. 
Die  Gefahren  des  sog.  „Industriestaates":  —  „Abhängigkeit"  vom 
fremden  Markt  bei  industriellem  Export,  von  fremder  Zahlungs- 
bereitschaft beim  Kapitalexport,  von  fremden  Getreideüberschüssen 
bei  beiden,  da  beide  den  Getreide-Import  mit  sich  ziehen  —  pflegen 
düster  und  in  den  lächerlichsten  Übertreibungen  geschildert  zu  werden. 
Unsere  Wirtschaftspolitik  sperrt  das  ausländische  Korn  aus  —  und 
läßt  das  eigene  durch  Hunderttausend  ausländische  Menschen  mit- 
produzieren, die  importiert  werden  und  ohne  welche  ein  großer  Bruch- 
teil der  Großbetriebe  des  Ostens,  eben  derer,  welche  die  großen  Ge- 
treideüberschüssc  liefern,  heute  nach  ihrer  eigenen  Behauptung  nicht 
mehr  bestehen  können.  Ein  Federstrich  der  russischen  Regierung 
ist  also  imstande,  sie  zu  Boden  zu  schleudern  und  ich  möchte  denn 
doch  eine  Form  der  „Abhängigkeit  vom  Ausland"  kennen  lernen, 
die  an  verhängnisvoller  Tragweite  an  diese  heranreichte.  Eine 
Politik,  welche  diese  Großbetriebe  künstlich  zu  stützen  sucht, 
wie  der  Entwurf  es  will,  verknechtet  uns  russischer  Polizeiwillkür. 
Das  hier  keine  Gespenster  an  die  Wand  gemalt  werden,  haben 
gewisse,  nach  meinem  Gefühl  für  uns  entwürdigende  Vorgänge,  die 
sich  abspielten  als  ein  russisches  Sachsengängerverbot  zu  drohen 
schien,  jedem,  der  sehen  will,  deutlich  genug  zeigen  können. 1 )  Dem 
politischen  System,  unter  dem  wir  zu  leben  haben:  —  der  inter- 

')  Hei  dem  heutigen  Gang  unserer  Politik  würde  es  nicht  überraschen,  wenn 
man  uns  unter  Berufung  auf  den  italienisch-französischen  Vertrag  —  unter  der 
Etikette  „internationale  Sozialpolitik"  ein  Abkommen  mit  Kußland  bescherte, 
durch  welches  —  feigen  Konzessionen !  —  die  Russen  den  Gutsbesitzern  die  ver- 


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Max  Weber,  Agrarstatistische  u.  sorialpolit  Betrachtungen  usw. 


nationalen  Solidarität  der  „staatserhaltenden"  Interessen,  welche  uns, 
durch  imaginäre  dynastische  und  sehr  materielle  kapitalistische  Inter- 
essen getragen,  zu  einem  Vasallenstaat  machen  wird  und  der  Gering- 
schätzung der  Welt  preisgegeben  h  ajt  —  diesem  System  fugten  sie 
sich  nur  zu  gut  ein.  Wer  aber  die  beneidenswerte  Stirn  besitzt,  eine 
solche  Politik  im  Gegensatz  zu  irgend  einer  anderen  eine  „natio- 
nale" zu  nennen,  mit  dem  mag  diskutieren,  wer  Zeit  und  Lust  zu 
dem  Versuch  hat,  die  ekelerregende  Herrschaft  der  „konser- 
vativen Phrase"  bei  Leuten  zu  bekämpfen,  deren  materielles 
Interesse  damit  verknüpft  ist,  daß  sie  selbst  oder  daß  wenigstens  — 
diejenigen,  „deren  kein  Ende  ist",  an  diese  Phrasen  glauben. 

Möchten  schließlich  die  politischen  Gründe  für  die  Beibehaltung 
der  fideikommissarischen  Sicherung  eines  gewissen  Bestandes  groß- 
grundbesitzlicher Familien  noch  so  gewichtige  sein  —  und  wir  haben 
uns  nicht  davon  zu  überzeugen  vermocht,  daß  dies  unter  den 
heutigen  Verhältnissen  unter  irgend  welchen  Gesichtspunkten 
der  Fall  sei,  —  so  würde  es  dennoch  unter  allen  Umstanden 
jetzt  hohe  Zeit  sein,  das  „goldene  Buch"  zu  schließen.  Mehr 
als  der  Flächeninhalt  einer  ganzen  Provinz  ist  jenen  angeblichen 
Interessen  bereits  geopfert:  das  muß  auch  dem  extremsten  Fana- 
tiker für  dies  Institut  genügen.    Der  vorgelegte  Gesetzentwurf  aber, 
anstatt  materielle  Schranken  zu  schaffen  gegen  die  Gelüste  des 
Kapitals,  Boden  als  Rentenfonds  zu  Nobilitierungszwecken  aufzu- 
häufen, frönt  in  dieser  Hinsicht  dem  gewissenlosesten  „Manchester- 
tum",  offenbar  in  der  dunklen  Vorstellung,  durch  Bindung  des 
Bodens  und  Nobilitierutig  seiner  Besitzer  an  die  Stelle  des  unbe- 
quemen Geschreies  agrarischer  Interessenpolitiker  von  heute  bequeme 
und  satte  Parvenüs  zu  setzen,  die  das  Bedürfnis  haben,  sich  in  der 
Gnade  der  Hofes  zu  sonnen.    Ob  auch  nur  diese  —  natürlich  un- 
ausgesprochene —  Hoffnung  auf  dem  betretenen  Wege  zu  erfüllen 
wäre,  bleibe  hier  dahingestellt.    Es  genügt,  konstatiert  zu  haben, 
daß  die  Auslieferung  der  besten  Böden  an  die  Eitelkeits-  und 
Herrschaftsinteressen  des  Agrarkapitalismus  —  das  Ergebnis  der 
vom  Entwurf  sanktionierten  materiellen  Fideikommißgründungs- 
freiheit  —  einem  Lebensinteresse  der  Nation :  dem  an  einer  zahl- 
reichen und  kräftigen  Bauernbevölkerung  jede  Zukunft 
abgräbt 

tragsmäfligc  Sicherheit  geben  würden,  Polen  zu  importieren.  —  In  dieser  Hinsicht 
ist  heut  schlechthin  Alles  möglich. 


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575 


Dreizehn  Jahre  sozialen  Fortschrittes  in  Neuseeland. 

Von 

RICHARD  H.  HOOPER, 

London. 

Von  dem  Beginn  der  Selbstverwaltung  an  bis  zum  Jahre  1891 
ist  die  Richtung  der  inneren  Politik  Neuseelands  vorwiegend  be- 
stimmt durch  die  Interessen  der  Großgrundbesitzer  und  der  Finanz- 
kreise, die  in  der  Kolonie  festen  Fuß  gefaßt  hatten  und  die  die 
Verhältnisse  der  alten  Welt,  aus  denen  sie  entsprungen  waren,  auf 
die  neue  übertrugen. 

Es  soll  damit  nicht  gesagt  sein,  daß  es  dem  alten  Regime  an 
weitsichtigen  Maßnahmen  und  großdenkenden  Staatsmännern  fehlte, 
wenn  auch  die  letzteren  durch  Parteieinflüsse  oft  gelähmt  wurden. 
Neuseeland  verdankt  ihnen  sein  Staatsbahnsystem,  ein  staat- 
liches Lebensversicherungsamt,  ein  geregeltes  Grundbuchwesen, 
Diäten  für  die  Parlamentsmitglieder  u.  a.  m.  Auch  das  allge- 
meine Wahlrecht  für  alle  mündigen  männlichen  Personen  wurde 
unter  ihrem  Regime  erkämpft.  Freilich  waren  einige  dieser  Maß- 
nahmen weniger  die  Folgen  einer  überlegten  Politik  als  des  Zwanges 
der  Verhältnisse ;  die  Wahlrechtsreform  insbesondere  war  dem  Druck 
der  öffentlichen  Meinung  und  dem  Einfluß  Sir  George  Greys  zu 
verdanken,  der  sich  zum  Verfechter  liberaler  Ideen  machte. 

Das  so  gewonnene  allgemeine  Wahlrecht  war  es  vor  allem, 
das  den  Sturz  des  alten  Regimes  herbeiführte. 

Das  Ende  der  80er  Jahre  brachte  schlechte  Zeiten  für  Neu- 
seeland. Die  Kolonie  litt  unter  den  Nachwirkungen  einer  Hausse- 
periode, die  Finanzlage  des  Staates  war  ungünstig,  die  Preise  der 
Stapelprodukte  fielen  und  der  Handel  stand  im  Zeichen  der  De- 
pression.   In  dem  jungen,  dünn  bevölkerten  I^ande,  mit  seinen 


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5;6 


Riebard  II.  Hooper, 


reichen,  noch  unentwickelten  natürlichen  Hilfsmitteln  sahen  sich  da- 
mals Tausende  der  besten  Arbeiter  durch  die  Ungunst  der  Verhält- 
nisse zur  Auswanderung,  meist  nach  Australien,  gezwungen.  Durch 
eine  drastische  Einschränkung  der  Ausgaben  im  Zusammenhang 
mit  Erhöhung  der  Steuern  gelang  es  der  Regierung,  das  Budget 
ins  Gleichgewicht  zu  bringen;  mehr  war  nicht  zu  erreichen,  weil 
die  wirtschaftlichen  Reformen,  welche  allein  eine  Besserung  bringen 
konnten,  im  direkten  Widerspruch  zu  den  Traditionen  und  Prin- 
zipien der  herrschenden  Partei  standen.  Die  Unzufriedenheit  mit 
der  Verwaltung  war  auf  ihrem  Höhepunkt  angelangt  und  die  Zeit 
für  eine  durchgreifende  Änderung  gekommen. 

Die  im  Jahre  1890  stattfindende  allgemeine  Wahl  bot  den  An- 
laß zum  gemeinsamen  Vorgehen  aller  fortschrittlich  gesinnten  Ele- 
mente.   Die  Wahl  drehte  sich  vor  allem  um  die  Ersetzung  der  all- 
gemeinen Vermögenssteuer  durch  eine  Grundwertsteuer  wie  sie  die 
Liberalen  der  damaligen  Oppositionspartei  forderten.  Die  bestehende 
Vermögenssteuer  verdankte  ihre  Entstehung  den  persönlichen,  staats- 
sozialistisch angehauchten  Ideen  des  Führers  der  Regierungspartei, 
Sir  Harry  Atkinson,  welcher  sie  als  die  am  meisten  der  Gerechtig- 
keit entsprechende  Steuer  betrachtete,  sie  lastete  mit  besonderer 
Schwere  auf  den  Landwirten,  weil  alle  Meliorationen  von  ihr  ge- 
troffen wurden.    Die  Gegenagitation  zugunsten  einer  reinen  Grund- 
wertsteuer basierte  auf  den  Ideen  von  Henry  George,  die  damals 
zum  ersten  Male  Einfluß  gewannen;  auch  konnte  sie  sich  frühere 
lokale  Erfahrungen  zunutze  machen,  denn  Sir  George  Grey  hatte 
1878 — 1879  eine  kurzlebige  Grundsteuer  eingeführt. 

Abgesehen  von  der  Landfraee  standen  viele  unter  dem  Ein- 
fluß  der  allgemeinen  sozialistischen  Ideen ,  welche  damals  die 
angelsächsische  Welt  überfluteten,  jener  Bewegung,  in  welcher 
Bücher  wie  Bellamys  „Looking  Backward"  und  die  „Fabian  Essays" 
eine  so  hervorragende  Rolle  spielten.  Endlich  gab  der  große 
Streik  der  Seeleute  im  Jahre  1890,  der  die  Demokratie  Austral- 
asiens  energisch  aufrüttelte  und  erst  kurz  vor  den  Wahlen  in 
Neuseeland  ein  Ende  fand,  der  oppositionellen  Richtung  einen 
mächtigen  Aufschwung.  Die  organisierten  Arbeiter,  die  im  Streik 
unterlegen  waren,  nahmen  nun  die  politische  Arbeit  mit  einem 
bestimmten  Endziel,  das  ihnen  bis  dahin  gefehlt  hatte,  auf  und 
machten  gemeinsame  Sache  mit  der  liberalen  Partei  Das  Resultat 
der  Wahl  war  ein  entscheidender  Sieg  der  vereinigten  demo- 
kratischen Kräfte.    Das  Ministerium  Atkinson  demissionierte  im 


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Dreizehn  Jahre  sozialen  Fortschrittes  in  Neuseeland. 


577 


Januar  1891  und  eine  neue  Regierung  kam  unter  der  Führung  von 
John  Ballance  ans  Ruder;  zu  seinen  Mitarbeitern  zählten  Richard 
Seddon,  John  McKenzie,  W.  P.  Reeves  und  J.  G.  Ward,  alles  Männer, 
die  bestimmt  waren  eine  bedeutsame  Rolle  in  der  Geschichte  der 
Kolonie  zu  spielen. 

Der  neuen  parlamentarischen  Partei  gehörten  etwa  6  Arbeiter- 
vertreter an,  aber  die  liberalen  Elemente  des  Mittelstandes,  wozu 
auch  die  Vertreter  der  kleinen  Landwirte  zu  rechnen  sind,  bildeten 
den  an  Zahl  und  Einfluß  ausschlaggebenden  Teil.  Die  Partei  als 
ganzes  nennt  sich  selbst  die  „liberale",  obgleich  manchmal  der 
Doppelname  „liberale  Arbeiterpartei"  gebraucht  wird.  Die  Bezeich- 
nungen: „Radikal"  und  „Sozialistisch"  sind  in  der  neuseeländischen 
Parteiphraseologie  niemals  im  Schwung  gewesen.  Auf  europäische 
Verhältnisse  angewendet  würde  indessen  die  Bezeichnung  „sozial- 
radikal" die  neue  Partei  besser  kennzeichnen.  Des  weiteren  hat 
die  alte  Partei,  die  seit  1891  die  Opposition  bildet,  den  ent- 
sprechenden Namen  der  „Konservativen"  nie  akzeptiert  oder  unter 
ihm  gekämpft;  sie  betrachtet  ihn  als  Beleidigung,  da  sie  ebenso 
vom  Geiste  des  wahrhaften  Liberalismus  erfüllt  sei,  wie  die  Re- 
gierungspartei. Von  einigen  Schriftstellern  ist  die  demokratische 
Partei  Neuseelands  auch  nach  dem  Beispiel  der  fortschrittlichen 
Partei  in  der  Londoner  Gemeindepolitik  die  „progressive"  genannt 
worden.  Indessen  wollen  wir  in  diesem  Artikel,  um  der  lokalen 
Korrektheit  und  der  Kürze  willen,  die  Bezeichnung  „liberal"  für  die 
seit  1891  herrschende  Partei  festhalten. 


x.  Die  liberale  Politik:  X891 — 1903. 

Die  neue  Regierung,  der  politische  Propheten  nur  ein  kurzes 
Leben  voraussagten,  zögerte  nicht  ihr  sozialreformatorisches  Pro- 
gramm zu  verwirklichen.  Eine  scharfe  Opposition  war  im  volks- 
tümlichen Unterhaus  zu  bekämpfen,  doch  der  konnte  man  offen 
entgegentreten.  Schwerwiegender  war  die  Obstruktion  im  Ober- 
haus, das  aus  lebenslänglichen  Mitgliedern  bestand  (später  wurde 
die  Dauer  der  Mitgliedschaft  auf  7  Jahre  reduziert)  und  durch  seine 
Feindseligkeit  der  Arbeit  des  ersten  Parlaments  sehr  hinderlich  war. 
Sir  Harry  Atkinson  hatte  nach  seiner  Niederlage  bei  den  Wahlen 
vor  seiner  Abdankung  noch  sich  und  ein  Dutzend  seiner  Anhänger  zu 
Mitgliedern  des  Oberhauses  ernannt,  dessen  Präsident  er  wurde. 
Diese  eigenartige  Taktik  hatte  zur  Folge,  daß  die  Liberalen  im  Ober- 


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57S 


Richard  H.  Hooper, 


bause  nur  auf  etwa  6  Stimmen  von  den  vorhandenen  46  rechnen 
konnten.  Da  der  hauptsächlichste  Punkt  des  Regierungsprogrammes 
jedoch  die  Abänderung  der  Steuer  betraf,  auf  welche  das  Oberhaus 
verfassungsgemäß  nur  einen  geringen  Einfluß  ausüben  konnte,  so 
gelang  es  die  Vermögenssteuer  abzuschaffen  und  durch  eine  Hin- 
kommens-  und  Grundwertsteuer  zu  ersetzen. 

Ferner  tat  die  Regierung  den  ersten  Schritt  auf  dem  Gebiete 
des  Arbeiterschutzes  durch  die  Einführung  eines  primitiven  Fabrik- 
gesetzes. Wir  werden  später  auf  die  wichtigsten,  den  Grundbesitz 
und  die  Arbeitsverhältnisse  betreffenden  Gesetze  der  neuen  Re- 
gierung zurückkommen.  Kleinere  Gesetze  usw.  werden  wir  kurz 
im  Laufe  dieser  Einleitung  erwähnen. 

Im  folgenden  Jahre  (1892)  war  das  Parlament  vor  allem  mit 
einem  Niederlassungsgesetz  beschäftigt  Das  Gesetz  John  McKenzies 
änderte  die  Niederlassungsbedingungen  zugunsten  der  bona  fide 
Ansiedler  und  führte  ein  auch  dem  kleinen  Mann  zugängliches  staat- 
liches Erbpachtrecht  ein.  Durch  das  Gesetz  über  Landerwerb 
zu  Niederlassungszwecken  wurde  der  Staat  in  die  I-age  ver- 
setzt große  private  Besitzungen  einer  dichteren  Besiedelung  wieder 
zugänglich  zu  machen.    Sir  Harry  Atkinson  starb  in  diesem  Jahr. 

Ehe  die  Sessionsperiode  von  1893  begann,  erlitt  die  Regierung 
einen  schweren  Verlust  durch  den  Tod  des  Premierministers  Ballance. 
Das  Ministerium  wurde  unter  der  Leitung  Seddons,  aber  ohne 
weitere  wesentliche  Änderungen,  neu  gebildet.  In  dieser  Sessions- 
periode war  nach  mancherlei  parlamentarischem  Hin  und  Her  in 
beiden  Parteien  vor  allem  die  Ausdehnung  des  Stimmrechtes 
auf  die  Frauen  zu  verzeichnen.  Des  weiteren  wurde  das  öffent- 
liche Interesse  stark  durch  die  Alkoholfrage  in  Anspruch  genommen, 
die  durch  energische  Anhänger  der  Abstinenzbewegung  in  der 
liberalen  Partei  in  den  Vordergrund  gerückt  wurde.  Die  Regierung 
erledigte  die  Frage  durch  das  Gesetz  über  die  Überwachung 
des  Verkaufes  von  alkoholhaltigen  Getränken,  durch 
welches  ein  System  direkter  lokaler  Abstimmung  eingeführt  wurde, 
welche  alle  drei  Jahre  über  die  Beibehaltung,  Beschränkung  oder 
Abschaffung  der  Schankkonzessionen  entscheidet  und  die  zugleich  mit 
den  Parlamentswahlen,  nach  dem  gleichen  Stimmrecht  und  mit  der- 
selben Wahlkreiseinteilung  stattfindet  Obgleich  für  die  Abschaffung 
der  Konzessionen  eine  Zweidrittelmajorität  erforderlich  ist,  wurde 
sie  in  mehreren  Distrikten  durchgeführt,  während  zugleich  die 
Stimmenzahl  der  Prohibitionisten  ständig  wächst. 


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Dreizehn  Jahre  sozialen  Fortschrittes  in  Neuseeland. 


579 


Unter  den  kleineren  Arbeiterschutzgesetzen,  die  dieses  erste 
liberale  Parlament  zustande  brachte,  können  wir  noch  verzeichnen :  ein 
Truckgesetz,  ein  Gesetz  über  die  Priorität  der  Lohn- 
forderungen der  Arbeiter  bei  Submissionsarbeiten,  das  ihnen  ein 
Pfandrecht  sicherte,  ein  Gesetz  über  die  Auszahlung  der  Löhne, 
das  eine  prompte  regelmäßige  Auszahlung  der  Löhne  durch  die 
Unternehmer  sicherstellen  sollte.  Im  Bergwerksgesetz  und  im 
Gesetz  über  Kohlenbergwerke  befassen  sich  besondere  Ab- 
schnitte mit  den  Interessen  der  Arbeiter;  Frauen  und  Kinder 
dürfen  in  Kohlengruben  nicht  beschäftigt  werden.  Das  Gesetz  über 
die  Haftpflicht  der  Unternehmer  wurde  ebenfalls  verschärft. 

Auch  in  der  Verwaltung  brachte  die  Periode  von  1 891 — 93 
mancherlei  Bemerkenswertes,  so  die  Errichtung  eines  Ackerbau-  und 
eines  Arbeitsamtes.  Des  weiteren  ist  die  Einführung  der  genossen- 
schaftlichen Arbeit  bei  der  Herstellung  öffentlicher  Bauten  zu  er- 
wähnen. Das  System  wird  hauptsächlich  beim  Straßen-  und  Eisen- 
bahnbau angewandt  und  hat  dem  Privatunternehmerwesen  mit  seiner 
häufig  minderwertigen  Arbeit  so  ziemlich  ein  Ende  gemacht.  Die 
Arbeit  wird  an  genossenschaftliche  Gruppen  im  Akkord  zu  „ge- 
rechten" Lohnsätzen  vergeben,  das  Verdienst  beträgt  im  Durch- 
schnitt 7,/9  bis  8  sh.  täglich.  Das  System  ermöglicht  der  Regierung, 
die  Arbeitslosigkeit  zu  kontrollieren  und  ihr  abzuhelfen.  Es  hat 
sich  im  Laufe  der  Jahre  bewährt,  nachdem  einige  schwache  Punkte 
mit  zunehmender  Erfahrung  verbessert  worden  sind  und  besteht 
heute  in  voller  Wirksamkeit.  Dann  ist  die  Erwerbung  des  84000 
acres  umfassenden  Cheviot  Estates  durch  die  Regierung  zu  er- 
wähnen, zu  welcher  das  Gesetz  über  die  Grundsteuer  die  Veran- 
lassung bot.  Der  Eigentümer  hatte  sich  nämlich  über  die  zu  hohe 
Steuerveranlagung  beklagt;  die  fragliche  Summe  betrug  260000^,  aber 
die  Regierung,  die  ein  Exempel  statuieren  wollte,  gab  nicht  nach  und 
der  Erfolg  hat  für  sie  gesprochen.  Zur  Zeit  der  Übergabe  er 
nährte  der  Besitz  einige  Schäfer  und  Landarbeiter,  im  ganzen  etwa 
80  Personen;  heute,  nachdem  die  Regierung  Tür  eine  dichte  Be- 
siedelung  gesorgt  hat,  sind  dort  tausend  Personen  ansässig ;  schmucke 
Heimstätten  sind  über  das  Land  verstreut  und  die  Siedelung  bringt 
dem  Staat  eine  gute  Rente.  Die  anderen  Großgrundbesitzer  haben 
sich  dies  zur  Lehre  dienen  lassen. 

Ende  1893  mußte  die  Regierung  den  ersten  VVahlkampf  durch- 
fechten. Sie  konnte  sich  auf  einen  guten  Anfang  berufen  und  die 
Handlungsweise  des  Oberhauses  sorgte  für  eine  wirksame  Wahl- 


58o 


Richard  H.  Hooper, 


parole.    Ein  Element  der  Ungewißheit  wurde  durch   das  neue 
Frauenstimmrecht  in  den  Kampf  hineingetragen,  da  jede  Seite  auf 
diese  Unterstützung  rechnete.    Die  Wahl  brachte  den  Liberalen 
einen  entscheidenden  Sieg  und  eine  verdoppelte  Majorität  Nach 
dieser  nachdrücklichen  Bejahung  der  fortschrittlichen  Politik  durch 
das  Volk  —  die  das  Oberhaus  wohl  nachdenklich  stimmen  konnte  — 
ist  es  nicht  erstaunlich,  daß  das  Jahr  1894  besonders  ereignisreich 
wurde.    An  erster  Stelle    unter  den  wiederaufgenommenen  und 
diesmal  angenommenen  Gesetzen  steht  das  Gesetz  über  die  ge- 
werblichen Einigungsämter  undSchiedsgerichte.  Ein 
sehr   fortschrittliches   Arbeiterschutzgesetz  ersetzte  dasjenige  von 
1 891.    Das  Gesetz  über  „Kaufläden  und  kaufmännische 
Angestellte"  sorgte  auf  ähnliche  Weise  für  eine  andere  Klasse 
von  Arbeitern.    Den  Interessen  der  Seeleute  wurden  wichtige  Er- 
weiterungen des  Gesetzes  über  Schiffahrt  und  Seeleute  ge- 
recht.   Das  Koalitionsrecht  wurde  durch  einen  Zusatz  zu  dem 
Gesetz  über  Verschwörungen  (Conspiracy  law)  freiheitlicher  ge- 
staltet.   Auch  für  die  agrarischen  Interessen  (unter  denen  man  in 
Neuseeland  im  allgemeinen  diejenigen  der  kleinen  Ansiedler  ver- 
steht) wurde  gesorgt.   Bei  dem  großen  Preissturz  der  landwirtschaft- 
lichen Rohstoffe  sahen  sich  die  Landwirte  durch  die  noch  herr- 
schenden hohen  Hypothekenzinsen  sehr  benachteiligt.    Der  Staat 
griff  deshalb  ein  und  benutzte  in  dem  Gesetz  über  die  Vorschüsse 
an  Ansiedler  seinen  Kredit  um  den  Bauern  billiges  Geld  unter  be- 
quemen Bedingungen  und  mit  geringer  Amortisationsquote  zu  ver- 
schaffen.   Das  Gesetz  über  Landerwerb  wurde  durch  die  Einführung 
einer  Zwangsenteignungsklausel  verschärft.    Durch  ein  Gesetz  über 
die  Molkerei-Industrie  wurde  der  erste  Schritt  auf  dem  Gebiete 
einer  staatlichen  Förderung  und  Kontrolle  des  Exportes  von  Landes- 
produkten getan.    Zu  erwähnen  ist  ferner  das  Garantiegesetz  für 
die  Bank  von  Neuseeland,  durch  welche  die  Regierung  den  Zu- 
sammenbruch des  führenden  Finanzinstitutes  verhinderte  und  Neu- 
seeland vor  einer  Bankkrisis,  wie  sie  damals  in  Australien  ausbrach, 
bewahrte. 

Zwei  kleinere  Arbeiterschutzgesetze  kamen  1895  zustande: 
dasjenige  über  Lohnpfändung,  welches  die  Pfändung  eines  Lohnes, 
von  weniger  als  2  £  die  Woche  verbot  und  das  Gesetz  über  Ar- 
beitsvermittlung, welches  die  privaten  Stellenvermittler  einer  strengen 
staatlichen  Kontrolle  unterwarf. 

Im  Jahre  1896  gelang  es  der  Regierung  nach  längerem  Wider- 


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Dreizehn  Jahre  sozialen  Fortschrittes  in  Neuseeland. 


58l 


stand  des  Oberhauses  das  Prinzip  der  Grundwertbesteuerung  für 
die  Kommunalsteuern  in  Anwendung  zu  bringen,  allerdings  nur 
fakultativ.  Die  Landfrage  wurde  auch  indirekt  berührt  durch  das 
Gesetz  über:  „Government  Valuation  of  Land",  durch  welches  das 
Prinzip  der  staatlichen  Taxierung  des  Grundwertes  ausgesprochen 
wurde,  um  eine  einheitliche  Bewertung  sowohl  zum  Zwecke  der 
Staats-  und  Kommunalbesteuerung,  wie  auch  für  Beleihungen  zu  er- 
zielen. Das  Gesetz  war  speziell  dazu  bestimmt  eine  klare  Definition 
und  eine  möglichst  vollständige  Erfassung  des  unmeliorierten  Wertes 
neben  demjenigen  des  in  den  Boden  gesteckten  Kapitals  zu  ermög- 
lichen, in  Übereinstimmung  mit  den  von  dem  Lande  aufgestellten 
Prinzipien  der  Besteuerung. 

Die  Arbeitergesetzgebung  bestand  in  einem  freiheitlich  gefaßten 
Zusatz  zu  dem  Gewerkschaftgesetz.  Eine  Änderung  des  Wahlgesetzes 
schaffte  die  letzte  Spur  des  Privilegs  des  Eigentums  in  politischen 
Dingen  ab,  indem  es  den  Grundbesitzer  das  Recht  nahm,  welches 
ihnen  gestattet  hatte,  entweder  dort  zu  wählen,  wo  ihr  Grundbesitz 
lag  oder  da,  wo  sie  ihren  Wohnsitz  hatten.  Dies  war  der  Ab- 
schluß des  vollständig  gleichen  allgemeinen  Wahlrechts. 

Zu  Beginn  dieses  Jahres  hatte  der  Arbeitsminister  dem  das 
Gesetz  über  die  obligatorischen  Einigungsämter  u.  a.  m.  zu  ver- 
danken war,  Mr.  Reeves  die  wichtige  Stellung  als  Generalagent  für 
Neuseeland  in  London  übernommen,  die  er  noch  heute  inne  hat- 
Das  Portefeuille  des  Arbeitsministeriums  ging  an  Mr.  Seddon  über, 
der  heute  noch  an  der  Spitze  dieses  Departements  steht. 

Gegen  Ende  des  Jahres  1 896  fand  wieder  eine  allgemeine  Wahl 
statt,  die  zugleich  einen  der  kritischsten  Punkte  in  der  Geschichte 
der  liberalen  Partei  bezeichnet.  Aus  ihrer  einigermaßen  schwer- 
fälligen Majorität  hatte  sich  ein  linker  Flügel  ausgeschieden,  haupt- 
sächlich bestehend  aus  Radikalen  und  Unzufriedenen,  dem  es  jeden- 
falls nicht  an  Tüchtigkeit  mangelte,  die  aber  mit  einem  guten  Teil 
von  Verschrobenheit  durchsetzt  war.  Die  eigentliche  Oppositions- 
partei machte  sich,  indem  sie  sich  auf  verschiedene  angebliche 
Sünden  der  Verwaltung  berief,  zu  einem  starken  Widerstand  bereit. 
Trotz  alledem  ging  die  Regierung  aus  dem  Kampfe  mit  einer  wenn 
auch  stark  reduzierten  Majorität  hervor,  die  jedoch  zur  Führung 
der  Geschäfte  vollständig  ausreichte;  der  linke  Flügel  war  in  den 
Wahlen  fast  gänzlich  in  die  Brüche  gegangen. 

Das  neue  Parlament  widmete  sich  im  Jahre  1897  mit  einem 
bedeutenden  Aufwand  von  Zeit  und  Energie  einem  Altersversorgungs- 


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582 


Richard  H.  Hooper, 


gesetz,  welches  jedoch  vom  Oberhaus  verworfen  wurde.  Im  fol- 
genden Jahre  wurde  dasselbe  Gesetz  nochmals  von  der  Regierung 
eingebracht,  und  nach  langen  und  schwierigen  Kämpfen,  welche 
bedeutende  Änderungen  zur  Folge  hatten,  im  Unterhaus  ange- 
nommen. Im  I^aufe  der  letzten  Jahre  hatte  die  Regierung  nach 
und  nach  so  viele  ihrer  Anhänger  zu  Mitgliedern  des  Oberhauses 
ernannt,  daß  die  Parteien  sich  hier  so  ziemlich  die  Wage  hielten; 
trotzdem  waren  die  Gegner  des  Gesetzes  noch  stark  genug.  Die 
Sache  ging  jedoch  sehr  zahm  aus,  indem  der  Präsident  des  Ober- 
hauses den  Gesetzentwurf  als  einen  finanziellen  bezeichnete,  der 
verfassungsgemäß  im  Oberhaus  nicht  abgeändert  werden  dürfte, 
sondern  in  der  vorliegenden  Form  anzunehmen  oder  zu  ver- 
werfen sei.  Die  Folge  war  die  Annahme  des  Gesetzes,  welches 
die  erste  Altersversicherung  ohne  Beiträge  der  versicherten  Per- 
sonen darstellt  In  derselben  Legislaturperiode  wurde  auch  ein 
Gesetz  üher  die  Reform  des  Kommunalwahlrechts  perfekt,  welches 
dasselbe  auf  die  Höhe  des  englischen  Wahlrechtes  erhob.  Die 
Kommunalpolitik  war  bis  dahin  ziemlich  vernachlässigt  worden, 
da  die  Reformpartei  ihre  ganze  Kraft  der  staatlichen  Gesetzgebung 
gewidmet  hatte;  auch  heute  noch  ist  das  Interesse  für  kommunale 
Angelegenheiten  ein  weit  geringeres  als  dasjenige  für  staatliche 
Maßnahmen. 

In  demselben  Parlament  (1897—1899)  wurde  noch  ein  Gesetz 
erlassen,  welches  die  Sonntagsarbeit  in  Bergwerken  verbot,  weil 
die  Bergwerksgesellschaften  nach  und  nach  den  sonntäglichen 
Ruhetag  für  sich  in  Anspruch  genommen  hatten;  ferner  ein  Ge- 
setz ,  welches  die  Errichtung  genügender  Schutzhäuser  für  die  Schaf- 
scherer  auf  den  großen  Schafzüchtereien  vorschrieb,  sodann  ein  Ge- 
setz, welches  das  im  Oktober  gefeierte  Arbeitsfest  zu  einem  öffent- 
lichen Feiertag  machte;  endlich  ein  Gesetz,  das  den  Unternehmern 
verbot  von  den  Lohnzahlungen  Abzüge  für  Unfallversicherung  zu 
machen,  ein  Gesetz,  welches  jedoch  teilweise  nur  fakultativ  ist. 

Die  Regierungsmajorität  war  gegen  Ende  der  parlamentarischen 
Session  allmählich  stark  zusammengeschrumpft  und  die  Hoffnungen 
der  Opposition  wurden  neu  belebt.  Die  Wähler  blieben  jedoch 
dem  fortschrittlichen  Programme  treu  und  nach  der  Wahl,  die 
Ende  1899  stattfand,  sah  sich  die  Regierung  wiederum  an  der 
Spitze  einer  Majorität,  welche  der  am  Beginne  der  Session  1896 
ungefähr  gleich  war. 

Das  neue  Parlament  beschäftigte  sich  im  Jahre  1900  mit  einem 


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Dreizehn  Jahre  sozialen  Fortschrittes  in  Neuseeland. 


5  «3 


Gesetzentwurf  über  die  Entschädigung  von  Arbeitern  für  Unfälle  usw. 
In  der  Form,  in  welcher  dieser  Entwurf  Gesetz  wurde,  kann  er  als 
sehr  weitgehend  angesehen  werden.  Da  der  Wortlaut  es  zweifel- 
haft erscheinen  ließ,  ob  auch  die  ländlichen  Arbeiter  unter  seine 
Bestimmungen  fielen,  so  wurden  dieselben  1902  ausdrücklich  ein- 
bezogen. Es  sei  hier  erwähnt,  daß  bereits  1899  die  Errichtung 
«ines  staatlichen  Unfallversicherungamtes  erfolgt  war,  hauptsächlich 
um  die  Versicherung  desjenigen  Risikos  zu  ermöglichen,  welches 
das  Gesetz  den  Arbeitgebern  für  Unfälle  ihrer  Arbeiter  auferlegt 
hatte.  Im  Jahre  1900  wurde  ferner  ein  Gesetz  erlassen,  welches 
die  Zahlung  bestimmter  Minimallöhne  bei  allen  von  öffentlichen 
Körperschaften  vergebenen  Submissionen  vorschrieb. 

In  demselben  Jahre  wurde  der  Landwirtschaftsminister  John 
Mc  Kenzie  durch  Krankheit  genötigt  sein  Amt  niederzulegen;  er 
starb  im  Jahre  1901,  nachdem  er  —  wie  vor  ihm  Ballance  und 
Atkinson  —  seine  Gesundheit  dem  Staatsdienst  geopfert  hatte. 

Das  Jahr  1901  brachte  ein  Gesetz,  durch  welches  die  Regierung 
in  den  Stand  gesetzt  wurde,  Kohlenbergwerke  zu  erwerben  und  zu 
betreiben.  Es  sollten  in  erster  Linie  die  Bedürfnisse  der  Staats- 
eisenbahn und  Staatsdampfer  hierdurch  befriedigt  werden,  etwaige 
Überschüsse  dürfen  auf  dem  Markt  verkauft  werden;  die  Absicht 
war,  ein  drohendes  Kohlenmonopol  zu  verhindern. 

Im  Jahre  1902  ist  nur  ein  Gesetz  über  Beaufsichtigung  von 
Maschinen  zu  erwähnen,  welches  eine  Anzahl  früherer  Bestimmungen 
konsolidierte.  Das  neue  Parlament  (1900 — 1902)  hat  sich  weniger 
mit  neuen  Maßnahmen  als  vielmehr  mit  dem  Ausbau  der  alten  be- 
faßt, es  wurde  besonders  die  Fabrikgesetzgebung  und  diejenige 
über  die  Einigungsämter  weiter  ausgebaut,  wobei  die  letzteren  von 
der  Opposition  stark  angegriffen  wurden. 

Am  Schlüsse  des  Jahres  1902  gelang  es  der  liberalen  Partei, 
zum  vierten  Male  siegreich  aus  der  allgemeinen  Wahl  hervorzugehen, 
ihre  Majorität  stieg  sogar  unerwarteterweise  auf  die  Höhe  der  bis 
dahin  unerreichten  von  1893.  Das  neue  Parlament  ist  dasjenige, 
welches  heute  im  Amte  ist.  Es  hat  bereits  gute  Arbeit  geleistet :  das 
Arbeitsamt  wurde  gesetzlich  konstituiert  und  ihm  die  Befug- 
nisse verliehen,  deren  es  zu  seiner  Arbeit  bedarf.  Es  steht  unter 
der  Leitung  von  E.  Tregear,  der  es  bereits  mit  so  großem  Erfolg 
in  seiner  früheren  Form  geleitet  hatte.  Es  mag  sonderbar  er- 
scheinen, daß  man  diesem  so  wichtigen  Amte  erst  jetzt  eine  gesetz- 
liche Basis  gab;  man  muß  jedoch  bedenken,  daß  bei  seiner  Ein- 
Archiv für  Sozialwissemchaft  u.  Soiialpolitik.  I.    ( A.  f.  sox.  G.  u.  St.  XIX.)  3.  3& 


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5  84 


Richard  H.  Hoope r, 


richtung  die  Arbeiterschutzgesetzgebung  noch  in  den  Kinderschuher» 
steckte  und  die  Regierung,  die  damals  ihrer  Majorität  durchaus, 
nicht  sicher  war,  hielt  es  für  richtiger  dies  so  viel  angefeindete  Amt 
nicht  den  Angriffen  in  der  Kammer  auszusetzen.    Später  war  mar» 
zufrieden,  keine  Änderungen  zu  machen,  jetzt  aber  ist  auch  dieses 
Amt  in  den  Verwaltungskörper  der  Kolonie  fest  eingegliedert,  so 
daß  auch  ein  reaktionäres  Ministerium  ihm  nicht  viel  schaden  kann. 
Ein  sozialistisches  Gepräge  trägt  die  Gesetzgebung  über  staatliche 
Feuerversicherung,  die  schon  seit  Jahren  zur  Diskussion  gestanden 
hat.    Sie  wird  jedenfalls  dazu  beitragen,  daß  kein  Syndikat  der 
Versicherungsgesellschaften  die  Prämien  allzusehr  in  die  Höhe  treiben 
kann;  dem  Widerstand  der  Gesellschaften  ist  es  zu  verdanken,  daß 
diese  Maßregel  erst  jetzt  zur  Durchführung  gelangte.  Die  Regierung 
ist  zurzeit  mit  der  Organisation  dieses  neuen  Amtes  beschäftigt. 
Durch  das  Gesetz  über  den  Export  von  Landesprodukten  sowie 
durch  dasjenige  gegen  die  Schädlinge  in  den  Obstplantagen  usw. 
erhielt  die  Regierung  eine  weitgehende  Kontrolle  über  den  Ausfuhr- 
handel; sie  hat  jetzt  genügende  Befugnisse  um  die  Ausrottung  von 
Schädlingen  der  Obstindustrie  in  die  Wege  zu  leiten.  Ein  weiteres 
Gesetz  gab  der  Regierung  einen  Anteil  und  die  Kontrolle  über  die 
Bank  von  Neuseeland,  wir  werden  hierauf  noch  zurückkommen. 

Wir  haben  hiermit  die  wichtigsten  Maßnahmen  des  neuen  Re- 
gimes bis  auf  den  heutigen  Tag  Revue  passieren  lassen ;  es  ist  selbst- 
verständlich, daß  die  besprochenen  Maßnahmen  nur  einen  geringen 
Teil  der  Gesetze  und  Verordnungen  umfassen,  die  während  dieser 
Periode  erlassen  wurden  und  unter  denen  sich  manche  interessante 
halbsozialistischen  Maßnahmen  befinden.  Zu  erwähnen  wäre  viel* 
leicht  noch  die  imperialistische  Politik  der  liberalen  Regierung,  be- 
sonders die  tatkräftige  Unterstützung,  die  dem  Mutterlande  während 
des  Transvaalkrieges  zuteil  wurde  und  ebenso  die  Schaffung  eines 
Zolltarifes,  durch  welchen  Großbritannien  eine  bevorzugte  Stellung 
eingeräumt  wird.  Neuseeland  hat  hierdurch  gezeigt,  daß  sich  eine 
imperialistische  Politik  auf  breiter  Grundlage  wohl  vereinigen  läßt 
mit  der  Durchführung  weitgehendster  sozialer  Reformen  im  Innern. 

2.  Der  wirtschaftliche  Aufschwung. 

Wenn  wir  die  Wirkungen  der  geschilderten  Politik  untersuchen 
wollen,  so  ist  vor  allem  zu  sagen,  daß  Neuseeland  sich  während 
der  letzten  Jahre  eines  allgemeinen  Wohlergehens  erfreut  hat  und 


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Dreizehn  Jahre  sozialen  Fortschrittes  in  Neuseeland. 


daß  die  Kolonie  sich  in  einer  günstigen  Lage  befindet  Das  müssen 
selbst  die  erbittertsten  Gegner  der  liberalen  Regierung  zugeben. 
Seit  dem  Beginn  des  neuen  Regimes  im  Jahre  1891  ist  der  Wert 
der  in  der  Kolonie  hergestellten  Fabrikate  von  8  auf  17  Mill.  £ 
gestiegen;  der  Außenhandel  von  16  auf  27  Mill.  £,  die  Sparkassen- 
einlagen von  3  auf  8  Mill.,  die  Erträgnisse  der  Einkommensteuer 
von  67000  £  auf  200000  £.  Die  staatlichen  Einkünfte  sind  in 
ständiger  Zunahme  begriffen  und  werfen  seit  Jahren  Überschüsse  ab» 
die  hauptsächlich  zu  öffentlichen  Bauten  verwendet  werden ;  die  Be- 
siedelung  des  Landes  ist  entsprechend  dichter  geworden  und  die 
Arbeitslosigkeit  hat  sich  in  engen  Grenzen  gehalten. 

Die  Zunahme  des  Volksreichtums  ist  nicht  das  Resultat  einer 
starken  Bevölkerungsvermehrung  durch  Einwanderung  oder  Geburten- 
überschuß, sondern  ist  vielmehr  einer  gesteigerten  Produktivität  zu 
verdanken.  Im  Jahre  1902  schätzte  man  das  Privatvermögen  per 
Kopf  im  Durchschnitt  auf  297  £  gegen  232  £  im  Jahre  1893. 
Zahlen  wie  die  obigen  können  natürlich  ein  sehr  irreführendes  Bild 
der  Lage  eines  Volkes  geben;  aber  man  darf  wohl  behaupten,  daß 
in  Neuseeland  die  produzierende  Bevölkerung  —  sowohl  die  Lohn- 
arbeiter wie  die  Bauern  —  sich  einen  großen  Teil  dieses  zahlen- 
mäßig dargestellten  Zuwachses  gesichert  haben  und  daß  die  Ver- 
teilung tatsächlich  eine  einigermaßen  gerechte  ist.  Dies  ist  zum 
großen  Teil  der  Gesetzgebung  des  neuen  Regimes  zu  verdanken, 
die  die  Monopolisierung  des  Grundbesitzes  eingeschränkt  und  die 
den  Arbeitern  durch  die  Wirkungen  des  Einigungsamtes  und  ähn- 
licher Gesetze  eine  bessere  Bezahlung  gesichert  hat. 

Betrachten  wir  die  Zunahme  des  Wohlstandes  ohne  Rücksicht 
auf  seine  Verteilung,  so  scheint  es  fast  unnötig  auf  die  befruchtende 
Wirkung  der  liberalen  Politik  hinzuweisen,  die  eine  dichtere  Be- 
siedelung  förderte,  billiges  Geld  und  sachverständigen  Rat  für 
Meliorationen  schaffte,  den  Staatseisenbahnbetrieb  nach  den  Wün- 
schen der  Produzenten  gestaltete  und  den  Exporthandel  über- 
wachte, lassen  wir  uns  mit  diesem  Hinweis  auf  den  Anteil  der 
liberalen  Politik  an  dem  Gedeihen  des  lindes  genügen.  Andere 
Faktoren  sollen  nicht  vergessen  werden  —  unter  diesen  ist  vor 
allem  zu  erwähnen  die  Möglichkeit,  leicht  verderbliche  Nahrungs- 
mittel in  Kühlräumen  auf  weite  Strecken  zu  transportieren,  des 
weiteren  die  günstigen  Preise,  welche  die  neuseeländischen  land- 
wirtschaftlichen Produkte  auf  dem  Weltmarkte  erzielt  haben. 

Da  Neuseeland  auf  den  Zufluß  fremder  Kapitalien  angewiesen 

3»* 


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Richard  H.  Hooper, 


ist,  so  muß  es  mehr  exportieren  als  importieren,  um  seinen  Ver- 
pflichtungen nachkommen  zu  können.  Bis  jetzt  sind  Ackerbau  und 
Viehzucht  die  Haupterwerbsquellen  des  Landes.  Für  den  Export 
kommen  vor  allem  Wolle,  gefrorenes  Fleisch  sowie  Butter  und  Käse 
in  Frage,  die  gewerbliche  Produktion  (besonders  die  Herstellung  von 
gebrauchsfertigen  Gegenständen)  kommt  erst  in  zweiter  Reihe, 
nimmt  aber  unter  der  Herrschaft  des  Schutzzolles  ständig  zu,  doch 
kommen  ihre  Erzeugnisse  nur  auf  die  lokalen  Märkte.  Obgleich 
der  Goldexport  ziemlich  beträchtlich  ist,  so  ruht  doch  die  Gold- 
produktion Neuseelands  auf  keiner  durchaus  sicheren  Basis  und 
mit  einigen  Ausnahmen  ist,  in  Ansehung  des  zu  verzinsenden 
Kapitals,  der  Ertrag  der  Minen  zu  ungleich  und  unzuverlässig,  um 
den  Goldexport  in  der  Handelsbilanz  der  Kolonie  in  den  Vorder- 
grund zu  stellen.  Die  Kohlenproduktion  genügt  eben  für  den 
lokalen  Konsum;  die  Eisenindustrie  ist  noch  unentwickelt. 

So  ist  die  Kolonie  hauptsächlich  auf  den  Verkauf  landwirt- 
schaftlicher Produkte  angewiesen.  Als  vor  etwa  30  Jahren  der 
große  Preissturz  in  Wolle  und  Weizen  stattfand,  wurde  Neuseeland 
hart  getroffen  und  eine  allgemeine  Depression  trat  ein.  Gerade  zu  der 
ungünstigen  Zeit,  anfangs  der  80  er  Jahre,  wurde  die  künstliche 
Konservierung  durch  Kühlmaschinen  auf  den  überseeischen  Dampfern 
eingeführt  und  dadurch  die  Antipoden  in  den  Stand  gesetzt,  die 
Versorgung  des  großen  englischen  Marktes  mit  frischem  Fleisch  usw. 
zu  übernehmen.  Die  ganze  Situation  war  verändert.  Fleisch, 
Butter  u.  v.  w.  konnten  nur  gefroren  ausgeführt  werden  und  der 
Handel  mit  diesen  Produkten  hat  in  den  letzten  Jahren  zum  Segen 
Neuseelands  ungeheuer  zugenommen.  Auf  den  Überscemärkten  — 
womit  in  Neuseeland  tatsächlich  England  gemeint  ist  —  haben  die 
Produzenten  durchschnittlich  recht  lohnende  Preise  erzielt,  besonders 
in  den  letzten  zwei  oder  drei  Jahren.  Zeiten  mit  niederen  Preisen 
wären  natürlich  ein  negativer  Faktor  in  der  Entwicklung  der 
Kolonie. 

3.  Die  gewerblichen  Schiedsgerichte.1) 

Wir  sind  nun  genügend  orientiert  um  einige  der  wichtigsten 
den  Grundbesitz  und  die  Arbeitsverhältnisse  betreffenden  Gesetze 
näher  zu  betrachten.   In  der  Gruppe  der  letzteren  ist  unstreitig  das 

*)  Vgl.  die  Ahhandlung  von  \V.  P.  Recvcs:  „Die  obligatorischen  Schieds- 
gerichte in  einigen  englischen  Kolonien";  in  diesem  Archiv  Bd.  XI,  S.  635—57. 


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Dreizehn  Jahre  sozialen  Fortschrittes  in  Neuseeland. 


587 


wichtigste  das  Gesetz  über  die  gewerblichen  Einigungsämter  und 
Schiedsgerichte  (Industrial  Conciliation  and  Arbitration  Act),  oder 
wie  wir  es  kürzer  und  bezeichnender  nennen  können,  das  Gesetz 
über  die  obligatorischen  Schiedsgerichte,  denn  der  Zwang  ist  sein 
vitales  Prinzip.  Obgleich  dieses  neuseeländische  Gesetz  den 
Nationalökonomen  bekannt  sein  wird,  sollen  hier  seine  Hauptpunkte 
kurz  aufgeführt  werden.  Das  Gesetz  hat  zur  Voraussetzung  das 
Vorhandensein  gewerblicher  Vereinigungen,  welche  aus  zwei  oder 
mehr  Unternehmern  oder  aus  7  oder  mehr  Arbeitern  bestehen, 
die  behördlich  eingetragen  werden  können  und  dann  den  Be- 
stimmungen des  Gesetzes  unterstehen.  Jede  solche  Vereinigung 
kann,  wenn  sie  bestimmte  Bedingungen  erfüllt  hat,  einen  Streitfall 
vor  das  für  den  industriellen  Distrikt  bestehende  Einigungsamt 
bringen.  Wenn  das  Amt  keine  Einigung  zustande  bringt,  kann 
der  Fall  vor  das  Schiedsgericht  gebracht  werden,  dessen  Entschei- 
dung Rechtskraft  hat  wie  diejenige  des  obersten  Gerichtshofes. 
Die  Entscheidung  des  Schiedsgerichtes  kann  gegen  einen  einge- 
tragenen Verein  von  Arbeitgebern  oder  Arbeitnehmern  oder  gegen 
einen  einzelnen  Unternehmer  bis  zu  einer  Summe  von  500  £  an- 
gerufen werden. 

Das  Gesetz  ist,  wie  schon  erwähnt,  1894  angenommen  worden; 
doch  dauerte  es  einige  Zeit,  bis  die  Arbeiter  seine  Tragweite  er- 
kannt und  noch  länger  währte  es,  bis  die  Unternehmer  sich  in  die 
neue  Sachlage  fanden  und  sich  demgemäß  organisierten.  In  den 
letzten  Jahren  haben  indessen  die  Arbeiter  ihre  anfängliche  Zu- 
rückhaltung reichlich  wieder  gut  gemacht,  ja  es  ist  ihnen  sogar,  selbst 
von  Freunden  des  Gesetzes,  die  an  seinem  Zustandekommen  stark 
beteiligt  waren,  vorgeworfen  worden,  daß  sie  zu  weit  in  ihren 
Forderungen  gingen.  Doch  kann  man  dies  ruhig  für  eine  vorüber- 
gehende Phase  halten.  Das  Gesetz  sollte  vor  allem  Streiks  und 
Aussperrungen,  die  sich  aus  Streitigkeiten  zwischen  Arbeit  und 
Kapital  entwickeln,  verhindern;  die  Schiedsgerichte  sind  aber  in 
praxi  die  Instanz  geworden,  die  über  Löhne,  Arbeitszeiten  und 
alle  Arbeitsbedingungen  in  der  ganzen  Industrie  entscheidet  und 
die  gelegentlich  die  geheiligte  Lehre  von  Angebot  und  [Vachfrage 
ziemlich  respektlos  behandelt  Wir  heben  hervor,  daß  die  zur- 
zeit im  Gesetz  enthaltene  Definition  von  „Arbeiter"  so  lautet :  jede 
Person  jeglichen  Alters  und  Geschlechts,  die  von  irgend  einem 
Unternehmer  gedungen  ist,  gelernte  oder  ungelernte,  Hand-  oder 
Schreibarbeit  für  Lohn  oder  Entgeld  zu  verrichten."  —  Für  fast 


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Richard  H.  Hoopcr, 


jedes  Gewerbe  in  der  Kolonie  besteht  so  eine  besondere  Lohn-  und 
Arbeitsordnung  in  Gestalt  eines  gesetzlich  zustande  gekommenen 
Einigungsbeschlusses  oder  Schiedsspruches,  ihre  Zahl  beträgt  zur 
Zeit  über  200. 

Während  tatsächlich  alle  Gewerbe  in  der  Kolonie  unter  dem 
Gesetz  organisiert  sind,  überwiegen  doch  die  unorganisierten  Ar- 
beiter; auch  bei  den  Unternehmern  verhält  es  sich  ähnlich.  Da 
das  ursprüngliche  Gesetz  die  Bildung  gewerblicher  Vereinigungen 
unterstützen  wollte,  so  hat  das  Schiedsgericht  den  Ansprüchen  der 
organisierten  Arbeiter  auf  Bevorzugung  gegenüber  den  nichtorgani- 
sierten  meistens  Rechnung  getragen.  Bedenkt  man,  daß  die  un- 
organisierten Arbeiter  bei  jeder  anderen  Gelegenheit  die  von  ihren 
organisierten  Genossen  erkämpften  Vorteile  mitgenießen,  so  scheint 
dies  nur  gerecht  und  vernünftig. 

Die  Lage  des  Arbeiterstandes  hat  sich  durch  die  Wirkungen  des 
Gesetzes  erheblich  verbessert.  Wo  die  Arbeiter  nicht  alles  erreicht 
haben,  was  sie  wollten,  haben  sie  doch  meist  einen  guten  Teil 
ihrer  Forderungen  durchgesetzt.  Doch  darf  man  nicht  glauben,  daß 
die  Arbeiter  nur  den  Mechanismus  des  Gesetzes  in  Bewegung  zu 
setzen  brauchen,  um  erhöhte  Löhne  oder  andere  Vorteile  zu  er- 
langen. Um  einzelne,  gegenteilige  Beispiele  anzuführen,  wurden 
Minenarbeiter  in  den  Auckland- Goldfeldern  ebenso  wie  die  Arbeiter 
an  den  Setzmaschinen  von  dem  Schiedsgericht  energisch  abgewiesen. 
Ja  selbst  Herabsetzung  der  Löhne  oder  dementsprechende  Maß- 
nahmen sind  vorgekommen.  In  solchen  Fällen  haben  sich  die 
Arbeiter  dem  Schiedsspruch  loyal  unterworfen  und  wenn  auch  im 
Ärger  drohende  Äußerungen  gefallen  sind,  hat  die  Vernunft  zuletzt 
doch  immer  die  Oberhand  behalten.  Desgleichen  haben  die  Arbeit- 
geber das  Gesetz  und  seine  Bestimmungen  respektiert. 

So  sind  die  pessimistischen  Vorhersagungen  der  kapitalistischen 
Kritiker  des  Gesetzes  nicht  in  Erfüllung  gegangen:  Das  Gesetz 
sollte  die  Industrie  lähmen;  wir  rinden  aber,  daß,  während  1895,  als 
das  Gesetz  in  Kraft  trat  29  879  Fabrikarbeiter  in  der  Kolonie  gezahlt 
wurden,  ihre  Zahl  im  Jahre  1903  59049  betrug,  außer  den  etwa 
2200  Arbeitern  der  Regierungswerkstätten.  Solche  Zahlen  zugleich 
mit  den  oben  angeführten  Zahlen  über  den  allgemeinen  Wohlstand 
sprechen  für  sich  selbst. 

Neuerdings  ist  vielfach  behauptet  worden,  daß  das  Gesetz  den 
Arbeitern  nicht  wirklichen  Nutzen  gebrachr  habe,  da  es  eine  Ver- 
teuerung der  Lebenshaltung  verursacht  habe.    In  den  letzten  zwei 


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Dreizehn  Jahre  sozialen  Fortschrittes  in  Neuseeland. 


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bis  drei  Jahren  ist  unleugbar  eine  starke  Preissteigerung  eingetreten, 
doch  können  wir  der  Wirkung  des  Gesetzes  nach  dieser  Richtung 
hin  keinen  so  starken  Einfluß  einräumen.  Der  Durchschnittskritiker 
übersieht  andere  handgreifliche  Ursachen,  vor  allem  die  große  Zu- 
nahme des  Produktenexportes.  Wenn  die  Erträgnisse  der  Kolonie 
an  Nahrungsmitteln  wie  Fleisch,  Butter,  Käse  mit  Profit  exportiert 
werden  können,  anstatt  wie  früher  den  lokalen  Markt  zu  über- 
schwemmen, versteht  es  sich  von  selbst,  daß  eine  Preissteigerung 
auf  dem  letzteren  eintreten  muß.  Auch  hat  eine  solche  Zu- 
nahme des  Wohlstandes,  wie  die,  deren  sich  die  Kolonie  nun  seit 
Jahren  erfreut,  gewöhnlich  überall  ein  Anwachsen  der  Lebenskosten 
zur  Folge.  Die  Mieten  sind  z.  B.  in  Neuseeland  stark  in  die  Höhe 
gegangen  und  zwar  viel  stärker,  als  die  Erhöhung  der  Baukosten 
durch  Entscheidungen  des  Schiedsgerichtes  auch  nur  entfernt  be- 
tragen könnte.  Ferner  ist  auch  zu  bemerken,  daß  nicht  alle  Güter, 
deren  Produktion  sich  unter  der  Herrschaft  der  schiedsgerichtlichen 
Entscheidungen  vollzieht,  teurer  geworden  sind.  Dies  zeigt  ebenfalls, 
daß  andere  Faktoren  die  Verteuerung  der  Lebenshaltung  bedingen. 
Welches  auch  immer  die  Ursachen  dieser  Verteuerung  sein  mögen, 
so  behaupten  die  organisierten  Arbeiter  doch,  daß  das  Gesetz 
ihnen  Vorteile  gebracht  habe,  die  Löhne  sind  eben  noch  stärker 
gestiegen  als  die  Preise. 

Das  Schiedsgerichtgesetz  ist  stetig  verbessert  und  sein  Wirkungs- 
kreis mit  zunehmender  Erfahrung  vergrößert  worden.  Das  Gesetz 
wurde  1900  kodifiziert,  doch  erhielt  es  1901  und  1903  weitere  Zu- 
sätze. Die  Einigungsämter  waren  eine  Zeitlang  etwas  in  Mißkredit 
geraten,  da  sie  wenig  freiwillige  Übereinkommen  zustande  brachten 
und  die  Tätigkeit  eines  derselben  sogar  berechtigte  Mißbilligung  hervor- 
rief. Das  Zusatzgesetz  von  1901  gab  jeder  Partei  in  einem  gewerb- 
lichen Streit  das  Recht,  unter  Umgehung  des  zuständigen  Einigungs- 
amtes sogleich  das  Schiedsgericht  anzurufen.  Eine  Folge  davon 
war  die  Geschäftsüberhäufung  des  Schiedsgerichtes  und  die  An- 
sichten über  diese  Ausschaltung  der  Einigungsämter  sind  noch  geteilt. 
Die  Freunde  der  Einigungsämter  weisen  unter  anderem  darauf 
hin,  daß  selbst  wo  sie  keine  Einigung  erzielten,  die  Ämter  doch 
wertvolle  Arbeit  leisteten,  indem  sie  das  Material  beschafften  und 
sichteten  und  so  dem  Schiedsgericht  viel  fruchtlose  Mühe  ersparten. 
Jetzt  kann  das  ordentliche  Schiedsgericht  auch  noch  auf  andere 
Weise  ausgeschaltet  werden,  indem  nämlich  ein  Fall,  auf  Wunsch 
einer  der  Parteien  einem  besonderen,  nur  für  diese  Gelegenheit 


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vorübergehend  konstituierten  und  aus  Sachverständigen  zusammen- 
gesetzten Einigungsamt  vorgelegt  werden  kann. 

Andere  wichtige  Zusätze  zu  dem  Gesetz  unterstellen  die  auto- 
matische Ausdehnung  der  Schiedssprüche  auf  ganze  industrielle 
Distrikte  resp.  ihre  Beschränkung  auf  gewisse  Teile  desselben  der 
Entscheidung  des  Schiedsgerichtshofes.  Um  der  schwierigen  Frage, 
wie  der  Konkurrenz  zwischen  zwei  Distrikten  abzuhelfen  sei,  zu 
begegnen,  hat  der  Gerichtshof  die  Macht  erhalten,  den  Schieds- 
spruch, der  in  einem  Distrikt  gefällt  wurde,  auf  andere  mit  jenem 
konkurrierende  auszudehnen. 

Die  Regierung  von  Neuseeland  hat  sich  mit  Konsequenz  und 
nicht  ohne  gute  Gründe  gegen  die  Einbeziehung  der  Staatsange- 
stellten unter  die  Gerichtsbarkeit  der  Schiedsgerichte  gewehrt.  Diese 
ablehnende  Haltung  mußte  gegen  den  fortschrittlichen  Flügel  der 
Liberalen  und  seltsamerweise  auch  gegen  die  Opposition  verteidigt 
werden.  Die  letztere  hatte  aber  wohl  nur  die  Absicht,  die  Re- 
gierung in  Verlegenheit  zu  setzen.  Es  ist  indessen  bemerkenswert, 
daß  die  Regierung  in  einem  Falle  nachgab:  nach  dem  Gesetz  von 
1900  gilt  die  vereinigte  Gesellschaft  der  Eisenbahnangestellten  als 
eingetragener  Gewerkverein  und  der  Eisenbahnminister  ihm  gegen- 
über als  Unternehmer.  Diese  Gesetzgebung  würde  einen  Streik,  wie 
denjenigen  der  vor  kurzem  in  Ungarn  den  Verkehr  hemmte  und 
so  bedauerliche  Resultate  zeigte,  in  Neuseeland  auf  alle  Zeiten  un- 
möglich machen.  Die  betr.  Paragraphen  des  Gesetzes  sind  jedoch 
bis  jetzt  noch  nicht  in  Kraft  getreten. 

Die  wichtigste  neuerliche  Entscheidung  des  Schiedsgerichtes 
bestimmt,  daß  verabredete  Handlungen  beider  Parteien,  wie  Streiks 
oder  Aussperrungen,  nach  dem  Gesetz  strafbar  sind.  Früher  hatte 
man  angenommen,  daß  solche  Handlungen  nur  strafbar  seien,  so- 
lange der  Streitfall  bei  Gericht  anhängig  war,  aber  nicht  nach  der 
Fällung  des  Urteils.  Jetzt  kann  man  wohl  ohne  Einschränkung 
sagen,  daß  in  der  organisierten  Industrie  Neuseelands  Streiks  und 
Aussperrungen  ungesetzlich  sind.  Die  obige  Entscheidung  wurde 
im  Zusammenhang  mit  einem  Streik  in  der  Möbelindustrie  in  Auck- 
land,  der  viel  Aufsehen  erregte,  gefällt.  Das  Gesetz  hat  aber  seit 
seinem  Bestehen  den  Streiks  und  Aussperrungen  organisierter  Ar- 
beiter tatsächlich  schon  ein  Ende  gemacht;  ein  oder  zwei  un- 
bedeutende Arbeitsniederlegungen  haben  bei  den  unorganisierten 
Arbeitern  stattgefunden,  sie  verdienen  aber  nicht  der  Erwähnung. 

Das  Gesetz  über  Schiedsgerichte  hat  das  Glück  gehabt,  sich  in 


Dreizehn  Jahre  sozialen  Fortschrittes  in  Neuseeland. 


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Neuseeland  unter  günstigen  Bedingungen  einzubürgern.  Eine  ver- 
ständnisvolle Verwaltung  und  die  günstige  parlamentarische  Lage 
haben  ihm  über  die  ersten  kritischen  Stadien  hinweggeholfen.  Seit- 
dem es  in  Kraft  ist,  haben  Handel  und  Gewerbe  zugenommen, 
während  zugleich  die  Produkte  Neuseelands  im  Preise  stiegen. 
Des  weiteren  hat  es  den  Vorteil,  in  einem  gut  geleiteten,  die  Ge- 
setze achtenden  Staatswesen  gehandhabt  zu  werden,  dessen  Ein- 
wohner einen  stark  entwickelten  Bürgersinn  besitzen. 

Wir  können  hier  nicht  entscheiden,  ob  obligatorische  Schieds- 
gerichte nach  dem  Neuseeländischen  System  in  älteren  und  volks- 
reicheren Ländern  denselben  Erfolg  haben  würden.  Das  beste 
Zeugnis  ist  dem  neuseeländischen  System  von  Neusüdwales  und 
Westaustralien  ausgestellt  worden,  die  nach  seinem  Vorbild  ähn- 
liche Gesetze  erlassen  haben.  Die  Vereinigten  Staaten  von  Australien 
bereiten  ein  Gesetz  über  Schiedsgerichte  vor  und  Victoria  scheint 
seine  Lohnämter  durch  Schiedsgerichte  ersetzen  zu  wollen. 

Alles  in  allem  kann  man  ruhig  sagen,  daß  das  Gesetz  über 
Schiedsgerichte  in  Neuseeland  mit  bemerkenswertem  Erfolg  funk- 
tioniert hat  und  noch  funktioniert 

4.  Die  Arbeiterschutzgesetzgebung. 

Die  Fabriken.  In  seinem  im  Jahre  1901  kodifizierten  Fabrik- 
gesetze besitzt  Neuseeland  eine  ausgezeichnete  und  fortgeschrittene 
Regelung  dieser  Verhältnisse.  Nur  wenige  Arbeiter  fallen  nicht 
unter  das  Gesetz,  da  das  letztere  als  Fabrik  oder  Werkstätte  jeden 
Ort,  wo  zwei  oder  mehrere  Personen  für  Lohn  gewerblich  ar- 
beiten, bezeichnet.  Kein  Kind  unter  14  Jahren  darf  in  Fabriken 
arbeiten.  Der  Schulgesetzgebung  der  Kolonie  entsprechend  muß 
jedes  Kind,  ehe  es  in  eine  Fabrik  geht,  die  4.  Klasse  der  staatlichen 
Schule  besucht  oder  ein  entsprechendes  Examen  abgelegt  haben. 
Die  Arbeit  von  jungen  Leuten  beiderlei  Geschlechts  und  von  Frauen 
in  gefahrlichen  oder  gesundheitschädlichen  Gewerben  unterliegt 
weitgehenden  Beschränkungen.  Die  Arbeitswoche  für  Frauen  und 
Knaben  unter  16  Jahren  beträgt  45  Stunden;  wird  über  diese  Zeit 
hinaus  gearbeitet,  so  müssen  Uberstunden  bezahlt  werden,  doch 
ist  auch  die  Zahl  der  jährlichen  gestatteten  Uberstunden  beschränkt. 
Für  Männer  ist  keine  Maximalarbeitszeit  vorgeschrieben,  doch  muß 
die  Arbeitszeit,  die  48  Stunden  in  der  Woche  überschreitet,  be- 
sonders bezahlt  werden.    Gewöhnlich  sind  die  Arbeitsstunden  so 


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Richard  H.  Hoopcr, 


eingerichtet,  daß  der  Samstag  ein  halber  Feiertag  ist.   Knaben  und 
Mädchen  dürfen  unter  keinerlei  Vorwand  ohne  Lohn  beschäftigt 
werden,  der  Lohn  darf  nicht  unter  5  Shilling  per  Woche  betragen. 
Dem  „Schwitzsystem"  ist  durch  das  Verbot  des  Zwischenmeister- 
wesens in  der  Bekleidungsindustrie  so  ziemlich  ein  Ende  gesetzt 
worden,  und  die  Vorschrift,  daß  Kleidungsstücke  usw.,  welche  in 
Privathäusern    oder   nicht   eingetragenen  Werkstätten  angefertigt 
worden  sind,  ein  sichtbares  Abzeichen  tragen  müssen,  haben  dem 
System  den  letzten  Stoß  versetzt;  so  wird  auch  das  Publikum  vor 
Ansteckungsgefahr  geschützt.  Für  sanitäre  und  hygienische  Arbeits- 
bedingungen, desgleichen  für  Unfallschutz  wird  aufs  beste  gesorgt. 

Die  Fabrikgesetzgebung  hat  sich  bei  Arbeitgebern  und  Arbeit- 
nehmern vollkommen  eingebürgert,  sie  ist  auch  nicht  wie  das  Ge- 
setz über  Schiedsgerichte  ein  Gegenstand  der  öffentlichen  Dis- 
kussion. Es  ist  daher  auch  an  dieser  Stelle  nicht  nötig,  näher  auf 
sie  einzugehen. 

Kaufläden  und  kaufmännische  Angestellte.  Das 
Gesetz  über  Kaufläden  und  kaufmännische  Angestellte  hat,  nach- 
dem es  1894  in  Kraft  getreten  war,  mehrere  Jahre  lang  sehr  viel 
von  sich  reden  gemacht.    Dies  erklärt  sich  aus  der  Tatsache,  daß 
der  Geltungsbereich  des  Gesetzes,  der  Detailhandel,  sich  in  steter 
Fühlung  mit  dem  großen  Publikum  befindet.    Auch  ist  der  Durch- 
schnittsladenbesitzer ein  empfindliches  Individuum,  das  die  Gabe  zu 
haben  scheint,  über  ihm  angeblich  zugefügte  Benachteiligungen 
mehr  Geschrei  zu  erheben  als  die  meisten  anderen  Sterblichen. 
Doch  ist  man  allmählich  über  dieses  Stadium  hinausgekommen; 
die  Beteiligten  haben  sich  nach  und  nach  an  die  neuen  Vor- 
schriften gewöhnt  und  das  Gesetz  funktioniert  jetzt  ohne  erhebliche 
Reibung.    Die  wichtigste  Bestimmung  des  Gesetzes  schreibt  einen 
wöchentlich  halben  Feiertag  vor,  den  jede  Stadt  selbst  bestimmen 
kann  und  an  dem  die  Läden  geschlossen  sein  müssen.    Es  sind 
natürlich  Ausnahmen  vorgesehen,  aber  alle  Angestellten  müssen  an 
irgend  einem  Wochentag  einen  halben  Feiertag  erhalten.   Als  „An- 
gestellte" werden  alle  im  Detailhandel  beschäftigten  Personen  be- 
zeichnet, auch  diejenigen,  welche  die  Waren  abliefern  oder  die  Auf- 
träge einsammeln.    Abgesehen  von  den  halben  Feiertagen  bringt 
das  Gesetz  den  kaufmännischen  Angestellten  manche  der  Wohl- 
taten, welche  die  Fabrikgesetzgebung  den  Arbeitern  verschafft  hat, 
hygienische  Arbeitsbedingungen,  Sitzgelegenheiten  usw.  sind  vor- 
geschrieben.   Ein  früher  Ladenschluß  ist  durch  das  Gesetz  nicht 


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Dreizehn  Jahre  sozialen  Fortschrittes  in  Neuseeland. 


593 


vorgesehen,  doch  dürfen  Frauen  und  junge  Leute  beiderlei  Ge- 
schlechts unter  1 8  Jahren  nicht  mehr  als  52  Stunden  in  der  Woche 
arbeiten,  nur  während  der  Inventuraufnahme  sind  Ausnahmen  hier- 
von gestattet.  Allen  Angestellten  muß  mindestens  eine  Stunde 
zur  Einnahme  der  Mittagsmahlzeit  gewährt  werden. 

Bureaus  sollen  um  5  Uhr  geschlossen  werden  außer  an  Sonn- 
abenden, wo  um  1  Uhr  geschlossen  wird;  natürlich  sind  auch  hier 
Ausnahmen  vorgesehen,  so  z.  B.  beim  Bücherabschluß.  Das  Gesetz 
ist  jedoch  in  den  Bureaus  nie  streng  durchgeführt  worden;  vor 
einiger  Zeit  zeigte  man  in  Wellington  in  dieser  Beziehung  be- 
sonderen Eifer,  doch  erregte  dies  einen  Sturm  der  Entrüstung.  Die 
Mehrzahl  der  Angestellten  wünschte  offenbar  ein  Eingreifen  der 
Gesetzgebung  nicht,  da  sie  glaubten,  sich  besser  zu  stehen,  wenn 
sie  sich  direkt  mit  ihren  Arbeitgebern  auseinandersetzten,  im  all- 
gemeinen sind  die  Bureaustunden  und  sonstigen  Gepflogenheiten 
(inkl.  des  allgemein  gewährten  jährlichen  Urlaubs)  recht  günstige, 
so  daß  die  meisten,  die  dem  Gesetz  widerstrebten,  selber  nie  unter 
dem  Druck  ungünstiger  Bedingungen  gestanden  hatten.  Am 
schlechtesten  sind  die  Verhältnisse  bei  den  Banken,  welche  von 
ihren  Angestellten  viel  Nachtarbeit  ohne  Extrabezahlung  fordern. 

Das  Arbeitsamt  ist  bestrebt,  die  Arbeitsbedingung  der  in  Läden 
Angestellten  möglichst  mit  den  in  Fabriken  und  Werkstätten  vor- 
geschriebenen in  Ubereinstimmung  zu  bringen,  besonders  soweit 
die  Arbeitszeit  für  Frauen  und  Jugendliche  in  Betracht  kommt. 
Man  sieht  nicht  ein,  warum  in  den  Kautläden  52  Stunden  ge- 
arbeitet werden  soll,  wenn  die  Arbeitszeit  in  Fabriken  45  Stunden 
beträgt,  besonders  da  die  Arbeit  in  den  ersteren  oft  schwerer  ist 
als  diejenige  in  manchen  Fabriken.  Auch  die  Festsetzung  einer 
Minimalaltersgrenze  von  14  Jahren  für  Ladenbedienstete,  sowie  die- 
jenige eines  Minimallohnes  wurde  vorgeschlagen;  ein  Gesetz- 
entwurf, der  eine  Reihe  von  diesen  Bestimmungen  enthielt, 
wurde  im  vorigen  Jahre  eingebracht,  gelangte  aber  infolge  der  Über- 
häufung mit  Geschäften  nicht  zur  Verhandlung,  ein  entsprechendes 
Gesetz  wird  wahrscheinlich  in  diesem  Jahre  erlassen  werden. 

Das  Gesetz  über  Kaufläden  ebenso  wie  das  Fabrikgesetz  er- 
heischen, soweit  die  Beaufsichtigung  in  Betracht  kommt,  nicht  die 
Anstellung  von  besonderen  Aufsichtsbeamten.  In  den  kleineren 
Städten  und  auf  dem  Lande  geschieht  die  Beaufsichtigung  durch 
bestimmte  Polizeibeamte  im  Nebenamt,  die  Polizei  ermangelt  in 
Neuseeland  des  militärischen  Charakters,  den  sie  auf  dem  euro- 


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Richard  II.  Hoopcr, 


päischen  Kontinente  trägt.  Sie  steht  in  freundlicher  Beziehung  zu 
dem  Publikum  und  eignet  sich,  was  Intelligenz  und  Befähigung  an- 
betrifft, sehr  wohl  zur  Ausübung  von  Pflichten  wie  die  obigen. 

Der  Arbeitstag.  Die  drei  wichtigen  Gesetze,  mit  denen 
wir  uns  soeben  beschäftigt  haben:  Einigungsämter,  Fabrik-  und 
Ladenaufsicht  beschäftigten  sich  sämtlich  direkt  oder  indirekt  mit 
der  Länge  der  Arbeitszeit;  ein  Gesetz,  welches  nur  auf  diese  Be- 
zug hätte,  existiert  nicht.  In  den  letzten  zehn  Jahren  sind  ver- 
schiedentlich Gesetzentwürfe  über  den  Achtstundentag  eingebracht 
worden,  keiner  von  ihnen  ist  Gesetz  geworden.  Als  Grund  hat  man 
die  Abneigung  der  Regierung  ihre  eigenen  Angestellten  einem 
solchen  Gesetze  zu  unterstellen  angegeben,  der  wahre  Grund  ist 
jedoch,  daß  kein  besonderes  Bedürfnis  für  ein  derartiges  Gesetz 
vorhanden  ist  und  daß  selbst  die  Arbeiterpartei  sich  nicht  be- 
sonders für  ein  solches  interessiert.  Und  zwar  deshalb,  weil  seit 
langen  Jahren  der  gewohnheitsmäßige  Achtstundentag  das  normale 
in  den  meisten  Gewerben  ist;  dadurch  daß  das  Fabrikgesetz  be- 
stimmt, daß  über  48  Stunden  in  der  Woche  hinausgehende  Arbeit 
als  Überzeit  zu  bezahlen  sei,  wird  die  Gewohnheit  gesetzlich  be- 
stätigt. Auch  die  Entscheidungen  der  Einigungsämter,  die  sich 
fast  durchgehend  auf  die  Regulierung  der  Arbeitszeit  beziehen, 
nehmen  den  Achtstundentag  als  Basis.  Das  Resultat  ist,  daß  mit 
wenigen  Ausnahmen  dieser  den  gewerblichen  und  anderen  Arbeitern 
in  Neuseeland  auch  gesetzlich  so  ziemlich  gesichert  ist  Nur  die 
Landarbeiter  haben  an  diesen  Vorteilen  noch  keinen  Anteil;  selbst 
Neuseeland  hat  bis  jetzt  die  Lösung  des  schwierigen  Problems  der 
I>age  der  Landarbeiter  noch  nicht  in  Angriff  genommen.  Letztere 
haben  auch  selbst  noch  keine  Schritte  getan,  um  sich  zu  organi- 
sieren, trotzdem  sind  die  Bedingungen,  unter  denen  sie  leben,  keines- 
wegs besonders  schlechte.  Ihre  Löhne  und  Lebenshaltung  stehen 
über  denjenigen  ihrer  europäischen  Berufsgenossen,  aber  im  Ver- 
gleich mit  den  gewerblichen  Arbeitern  der  Kolonie  stehen  sie 
doch  zurück.  Der  Grund  hierfür  liegt  in  der  durch  ihren  Beruf  er- 
zwungenen eigentümlichen  Art  der  Lebensweise  und  der  Arbeit, 
die  auch  für  die  sie  beschäftigenden  Bauern  und  Pächter  gilt. 

5.  Die  Landfrage. 

Die  Besteuerung  des  Grund  und  Bodens.  Auf  die 
große  Bedeutung,  welche  der  Landfrage  für  die  Eroberung  der 


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Dreizehn  Jahre  sozialen  Fortschrittes  in  Neuseeland. 


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politischen  Macht  seitens  der  liberalen  Partei  zukam,  ist  bereits  oben 
hingewiesen  worden;  wir  wollen  hier  zuerst  auf  die  verschiedenen 
Stadien  der  Besteuerung  des  Grundwertes  eingehen,  deren  Resultat 
in  einem  kombinierten  Grundwert-  und  Einkommenveranlagungs- 
gesetze kodifiziert  sind. 

Die  „gewöhnliche  Grundsteuer"  wird  auf  den  unmeliorierten 
Wert  („unimproved  value")  des  Landes  unter  Abzug  der  Hypotheken- 
schulden erhoben;  soweit  die  sich  ergebende  Summe  weniger  als 
1 500  £  beträgt,  bleiben  weitere  500  £  steuerfrei.  Die  Steuerrate 
beträgt  seit  dem  Bestehen  der  Steuer  1  d  per  £  (rund  4  %0). 

Hypotheken  unterliegen  ebenfalls  der  Grundsteuer  und  zwar 
gilt  der  Hypotheken  g  1  ä  u  b  i  g  e  r  prinzipiell  in  der  Höhe  des 
Wertes  der  Hypothek  als  Eigentümer,  doch  hat  er  seit  1902 
statt  I  d  nur  s/4  d  vom  £  zu  zahlen.  Zu  der  gewöhnlichen 
Grundsteuer  kommt  noch  eine  progressive  hinzu,  die  von  Be- 
sitzungen erhoben  wird,  deren  unmeliorierter  Wert  5000  £  oder 
mehr  beträgt.  Hypotheken  dürfen  natürlich  bei  dieser  zweiten  Steuer 
nicht  nochmals  abgezogen  werden.  Von  1893  bis  1902  betrug  der 
Steuersatz  für  die  Zuschlagsteuer  V8  d  Dei  Steuersummen  zwischen 
5000  und  10 000  £  und  stieg  in  Stufen  von  ljs  d  bis  auf  2  d 
vom  £  bei  einem  Steuerkapital  von  210000  £  und  darüber. 
Letztes  Jahr  wurden  die  Steuersätze  vom  Parlament  revidiert;  die 
Skala  ist  verfeinert  worden  und  beginnt  jetzt  mit  J/I€  d  vom  £ 
bei  einem  Wert  von  5000  £  und  steigt  dann  in  Sechzehntel  pence 
bis  zu  einem  Maximum  von  3  d,  wenn  die  Steuersumme  210000  £ 
und  darüber  beträgt. 

Alle  Eigentümer,  deren  Land  auf  weniger  als  500  £  unmelio- 
rierten Wert  geschätzt  wird,  sind  also  vollständig  von  jeder  Grund- 
wertsteuer befreit.  So  sind  tatsächlich  alle  kleinen  Grundbesitzer 
in  den  Städten  steuerfrei ;  und  da  auf  dem  Land  in  vielen  Teilen 
der  Kolonie  der  unmeliorierte  Wert  des  Grund  und  Bodens 
ziemlich  niedrig  ist,  so  sind  auch  viele  Bauern,  die  IOO — 300 
acres  besitzen,  in  derselben  günstigen  Lage.  Von  ungefähr 
1 15000  Grundbesitzern  in  der  Kolonie  werden  nur  etwa  18500 
von  der  Steuer  getroffen.  Unter  den  von  der  Steuer  Befreiten  be- 
finden sich  etwa  24000  ländliche  Grundbesitzer,  deren  Besitz  im 
ganzen  einen  unmeliorierten  Wert  von  4  500000  £  hat  und  66726 
Besitzer  von  städtischen  Grundstücken  im  Wert  von  6  500000  £. 
Dies  repräsentiert  für  den  Staat  einen  Einkommensverlust  von 
etwa  45000  £,  wobei  der  obenerwähnte   Abzug,   welchen  die 


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Richard  H.  Hooper, 


mittleren  Grundbesitzer  für  die  ersten  500  £  machen  können,  noch 
nicht  eingerechnet  ist.    Abgesehen  vom  prinzipiellen  Standpunkt 
indessen,  liegt  es  auf  der  Hand,  daß  die  Erhebung  der  Steuer  von 
den  kleinen  Grundbesitzern  im  Vergleich  zum  Ertrage  sehr  kost- 
spielig sein  würde.    Die  steuerzahlende  Minderheit  der  Grund- 
besitzer kontrollieren  zusammen  Land  im  Wert  von  50 — 60  Mill. 
so  daß  die  Steuer  auf  wirklich  leistungsfähige  Schultern  fällt.  Die 
gewöhnliche  Grundsteuer  bringt  jetzt  ungefähr  eine  Jahreseinnahme 
von  220000  £  und  die  progressive  Zusatzsteuer  etwa  80000  j£*. 

Die  Absicht,  welche  man  mit  der  geschilderten  Besteuerung 
verfolgte,  war  einmal,  den  unverdienten  Mehrzuwachs  zu  treffen 
und  dann  eine  Aufteilung  der  in  den  ersten  Dezennien  entstandenen 
großen  Besitzungen  herbeizuführen ;  hierfür  rechnete  man  besonders 
auf  die  graduierte  Zusatzsteuer.   Eine  1 2  jährige  Erfahrung  hat  aber 
gezeigt,  daß  die  Steuer  in  dieser  Beziehung  wenig  Erfolg  gehabt 
hat.    Die  Zahl  der  allergrößten  Güter  hat  allerdings  etwas  abge- 
nommen, aber  dies  ist  hauptsächlich  auf  das  Vorgehen  der  Re- 
gierung zurückzufuhren,  die  einige  der  größten  Besitzer  auskaufte. 
Die  Steuer  wird  allerdings  die  Aufteilung  und  Veräußerung  wert- 
voller  brachliegender  Ländereien    beschleunigt  haben,   aber  wo 
es   sich    um  gute   sorgfältig  bebaute  und  ordentlich  verwaltete 
Besitzungen    handelte,  haben   die  Besitzer   die  Steuer  bezahlen 
können  und  ihre  Ländereien  festgehalten.     Einige  Grundbesitzer 
zahlen  allein  an  Grundsteuer  über  1000  £.  jährlich  und  kommen 
doch  voran.    Wenn  so  die  Wirkungen  der  Steuer  nicht  sehr  ein- 
schneidende waren,  so  hat  sie  doch  sehr  heilsam  gewirkt,  wenigstens 
in  den  letzten  10  Jahren.    Wir  müssen  nun  abwarten,  welchen 
Einfluß  die  neuerdings  erhöhten  Raten  der  höheren  Stufen  der 
progressiven  Zusatzsteuer  haben  werden.    Um  das  Steigen  des  un- 
verdienten Mehrzuwachses  zu  zeigen,  können  wir  erwähnen,  daß 
von  1891  — 1003  der  Wert  der  Liegenschaften  in  Neuseeland,  nach 
Abzug  der  Meliorationen  von  75  Millionen  auf  103  Millionen  ge- 
stiegen ist.    Wie  schon  erwähnt,  hat  das  Parlament  den  Steuersatz 
für  die  gewöhnliche  Grundsteuer,  der  jährlich  festgesetzt  wird,  nie 
über  den  ursprünglichen  Penny  vom  £  erhöht.    Man  hätte  an- 
nehmen können,  daß  die  Schraube  bald  fester  angezogen,  daß  etwa 
ein  zweiter  Penny  vom  £  gefordert  oder  die  steuerfreie  Summe 
herabgesetzt  worden  wäre,  um  so  mehr,  als  Henry  Georges  „Single- 
tax"  Theorie  in  der  Kolonie  eine  wachsende  Zahl  von  Anhängern 
besitzt.   Indessen  zeigen  die  Tatsachen,  wie  wenig  eine  ökonomische 


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Dreizehn  Jahre  sozialen  Fortschrittes  in  Neuseeland. 


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Doktrin,  selbst  wenn  sie  im  Prinzip  richtig  ist,  das  Volk  und  die 
Politiker  beeinflußt;  allerdings  muß  erwähnt  werden,  daß  die 
kleinen  und  mittleren  Grundbesitzer  in  der  gesetzgebenden  Körper- 
schaft stark  vertreten  sind. 

Des  weiteren  hat  die  Kolonie  niemals  die  Grundsteuer  als  Haupt- 
einnahmequelle betrachtet,  denn  diese  liegt  seit  langem  in  den 
Zöllen.  Die  Industriearbeiter  aber  sind  allgemein  an  der  Auf- 
rechterhaltung des  Zolltarifes  interessiert  und  die  freihändlerisch 
gesinnten  Bauern  fühlen,  daß,  wenn  derselbe  erheblich  herabgesetzt 
würde,  die  Grundsteuer  entsprechend  steigen  müßte.  Aus  der  in- 
direkten Besteuerung  (Zölle  und  Verbrauchsabgaben)  fließen  etwa 
drei  Viertel  des  Staatseinkommens,  aus  der  direkten  Besteuerung 
(Grund-,  Einkommen-  und  Stempelsteuer)  nur  ein  Viertel.  Das 
Einkommen  aus  den  Zöllen  ist  in  den  letzten  Jahren  besonders 
stark  gestiegen.  So  sind  auch  einige  Zölle  auf  Thee,  Kaffee,  Kakao 
und  dgl.  durch  die  gegenwärtige  Regierung  herabgesetzt,  oder  ganz 
aufgehoben  worden,  ohne  daß  es  nötig  war,  für  den  Ausfall  Ersatz 
zu  schaffen.  Auch  in  anderer  Beziehung  sind  Konzessionen  ge- 
macht worden  und  doch  hat  das  Einkommen  der  Kolonie  in  den 
letzten  IO  Jahren  die  Ausgaben  beträchtlich  überstiegen. 

Jedenfalls  scheint  eine  Erhöhung  der  gewöhnlichen  Grundsteuer 
nicht  in  Aussicht  zu  stehen,  die  Verstärkung  der  Progression  für 
die  ganz  großen  Besitzungen  hat  aber  allgemeinen  Beifall  gefunden. 
Selbstverständlich  werden  davon  verhältnismäßig  wenig  Personen 
betroffen. 

Ein  anderer  sehr  populärer  Zusatz  zu  der  Grundsteuer  hat 
die  Extrabesteuerung  der  nicht  im  Lande  wohnenden  Grundbesitzer 
von  20  Proz.  auf  50  Proz.  erhöht,  da  man  fand,  daß  die  bisherige 
Belastung  keinerlei  Wirkung  ausübte. 

Es  sei  hier  noch  kurz  erwähnt,  daß  die  Einkommensteuer  nur 
von  Einkommen  über  300  £  erhoben  wird,  diese  Summe  bleibt 
auch  bei  höherem  Einkommen  steuerfrei.  Seit  dem  Bestehen  der 
Steuer  betrug  die  Rate  6  d.  vom  £  für  die  ersten  versteuerbaren 
1000  £  (2  Va  Proz.)  und  1  sh.  für  alles  was  1000  /  übersteigt 
(5  Proz.).  Aktiengesellschaften  und  nicht  im  Lande  wohnende  Per- 
sonen zahlen  1  sh.  per  £  und  dürfen  keinerlei  Abzüge  machen. 
Die  Einkommensteuer  bringt  etwa  200  000  £  jährlich  ein,  die 
Land-  und  Einkommensteuer  zusammen  500  000  £. 

Die  Agrarverfassung.  In  Neuseeland  werden  zurzeit  etwa 
36000000  acres  Land  bewirtschaftet,  davon  etwa  16  Mill.  von 


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Richard  II.  Iloopcr, 


den  Eigentümern;  der  Rest  ist  Pacht-  und  Erbpachtland  und  zwar 
gehören :  3  */»  Mill.  Privaten  oder  öffentlichen  Körperschaften, 
1  */4  Mill.  den  Eingeborenen  und  1 5  Mill.  dem  Staat.  Zu  diesem 
letzteren  gehören  aber  n  Mill.  acres  von  der  Regierung  verpach- 
tetes Weideland  (große  Strecken  von  rauhen,  bergigen  und  ent- 
legenen Ländereien),  es  bleiben  dann  noch  4  Mill.  acres  staatl. 
Renten-  und  Erbpachtgüter  auf  Boden,  der  für  dichtere  Besicdelung 
geeignet  ist. 

Aus  obigem  ist  ersichtlich,  daß  der  Staat  noch  der  größte 
Grundbesitzer  ist;  zu  den  erwähnten  15  Mill.  acres  kommen  noch 
weitere  Kronländereien,  über  die  noch  keine  Verfügung  getroffen 
ist.  Unter  der  früheren  Verwaltung  wurden  die  Kronländereien 
stetig  verringert  und  zwar  ohne  wirksame  Vorschriften  über  die 
Aufteilung,  über  Meliorationen  u.  dgl.  So  gelangten  die  besten 
Ländereien  in  Privatbesitz.  In  den  80  er  Jahren  wurde  ein  Erb- 
pachtsystem mit  periodischer  Neufestsetzung  der  Pachtsumme  fakul- 
tativ eingeführt,  doch  wurde  eine  Kaufklausel  eingefügt,  die  es  ziem- 
lich wirkungslos  machte. 

Das  Gesetz  über  Grundbesitz  von  1892  eröffnete  eine  neue 
Ära  in  der  Verwaltung  der  Regierungsländereien.  Nicht  daß  es 
etwa  eine  Umwälzung  hervorgerufen  und  dem  Weiterverkauf  von 
Regierungsländereien  ein  Ende  gesetzt  hätte,  aber  es  bewirkte  eine 
ungeheuere  Änderung  zugunsten  der  bona  fide  Ansiedler.  Es  be- 
grenzte das  Areal,  das  von  einer  Person  vom  Staat  erworben  oder 
gepachtet  werden  konnte,  es  stellte  wirksame  Bedingungen  auf  in 
bezug  auf  Ansiedelung  und  Melioration  und  machte  so  die  Speku- 
lation und  das  Strohmännertum  unmöglich.  Bei  den  gewöhnlichen 
Kronländereien  steht  es  dem  Reflektanten  frei,  zu  welcher  Art  von 
Eigentum  er  das  Land  erwerben  will.  Folgende  drei  Möglichkeiten 
sind  vorhanden:  I.  Erwerb  zu  freiem  Eigentum  gegen  Barbezahlung; 
das  volle  Eigentumsrecht  wird  aber  erst  erteilt,  wenn  gewisse 
Meliorationen  vorgenommen  worden  sind.  2.  Ansiedelung  mit  Vor- 
kaufsrecht, d.  h.  Pacht  zu  5  Proz.  des  Wertes.  Die  Pacht  dauert 
25  Jahre  mit  dem  Recht  nach  dem  10.  Jahre  das  Land  zu  dem  ur- 
sprünglichen Wert  zu  kaufen  oder  es  auf  Grund  dieses  Wertes  in 
ein  Erbpachtgut  zu  verwandeln.  3.  Erbpacht  (auf  999  Jahre)  zu 
einem  Pachtzins  von  4  Proz.  des  ursprünglichen  Wertes. 

Dieses  Erbpachtsystem  war  das  vollständig  neue  an  dem  Ge- 
setze. Erhöhungen  der  Pacht  sind  ausgeschlossen  und  das  in 
Verbcsserungen  angelegte  Kapital  geht  dem  Ansiedler  nicht  ver- 


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Dreizehn  Jahre  sozialen  Fortschrittes-  in  Neuseeland. 


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loren.  Ferner  ermöglicht  es  Verkauf,  Verpfändung,  Teilpacht  und 
testamentarische  Verfügung.  Der  Ansiedler  wird  tatsächlich  zum 
Eigentümer,  aber  er  braucht  Kapital  nur  zu  Melioriationszwecken 
u.  dgl.  —  Der  Staat  reserviert  sich  jedoch  gewisse  Befugnisse, 
mittels  deren  er  Zusammenlegungen  und  sonstige  mißbräuchliche 
Benutzung  verhindern  kann. 

Um  diese  Art  der  Ansiedelung  populär  zu  machen,  wurde  die 
Rente  auf  4  Proz.  festgesetzt,  während,  wie  schon  gesagt,  der  An- 
siedler mit  Vorkaufsrecht  5  Proz.  zahlt.  In  den  ersten  Jahren  nach 
Einführung  des  Erbpachtsystems  zogen  es  die  Ansiedler  auf  Re- 
gierungsländereien  allem  anderen  vor.  Jetzt  scheint  aber  die  An- 
siedelung mit  Vorkaufsrecht  beliebter  zu  sein.  Ohne  Zweifel  hat 
der  zunehmende  Wohlstand  der  letzten  Jahre  den  Käufern  mehr 
Mut  gemacht.  Die  Zahl  der  auf  Regierungsländereien  ansässigen 
Siedler  und  der  Umfang  der  Siedelungen  ist  ungefähr  für  beide 
Systeme  die  gleiche,  doch  zeigt  die  Zählung  von  1902/03  ein  nume- 
risches Überwiegen  der  Ansiedler  mit  Vorkaufsrecht.  Werden  in- 
dessen die  nach  dem  Gesetz  über  Landerwerb  zu  Ansiedelungs- 
zwecken Angesiedelten  zugezahlt,  so  überwiegen  die  Erbpächter. 
Besitzungen,  welche  nach  diesem  Gesetz  erworben  und  zerschlagen 
werden,  können  nur  in  Erbpacht  vergeben  werden.  Der  Grund 
hierfür  liegt  auf  der  Hand:  es  wäre  eine  traurige  Politik,  wollte 
der  Staat  große  Privatbesitzer  mit  großen  Kosten  auskaufen  und 
kleinere  Besitzungen  ins  Leben  rufen,  um  nachher  alle  Kontrolle 
über  das  Land  zu  verlieren  und  so  neue  Anhäufungen  in  einer 
Hand  zu  ermöglichen.  Der  Flächeninhalt  des  gegen  bar  erwor- 
benen Regierungslandes  ist  gering  im  Vergleich  mit  demjenigen, 
das  auf  Erbpacht  oder  mit  Vorkaufsrecht  vergeben  wurde. 

Es  ist  stark  kritisiert  worden,  daß  die  Erbpachtländereien 
nicht  periodisch  neu  taxiert  werden,  dem  Doktrinär  erscheint  dies 
natürlich  als  eine  arge  Verfehlung  gegen  das  richtige  Prinzip.  Es 
läßt  sich  allerdings,  besonders,  wo  es  sich  um  unbebaute  oder  stark 
bewaldete  Ländereien  handelt,  viel  dafür  sagen.  Natürlich  sollten 
solche  Erbpächtereicn  der  Grundsteuer  unterworfen  werden,  sobald 
der  Wert  des  Landes  entsprechend  gestiegen  ist,  hiergegen  liegt 
kein  gesetzliches  Hindernis  vor. 

John  McKenzie  hat  nachher  seine  Schöpfung,  das  Erbpacht- 
system, als  einen  durch  die  damalige  politische  Lage  bedingten 
Kompromiß  hingestellt.  Es  ist  richtig,  daß  die  Regierung  damals 
verhältnismäßig  schwach  war,  aber  auch  später,  als  die  Majorität 

Archiv  für  Soiialwis*en»chaft  u.  Sozialpolitik.  I.    (A.  f.  soz.  G.u.St.  XIX.)  3.  39 


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Richard  H.  Hoopcr, 


starker  und  das  Oberhaus  regeneriert  war,  hat  die  Regierung  doch 
keinen  Versuch  gemacht,  die  periodische  Neueinschätzung  zwecks 
Revision  der  Pachten  einzuführen  und  noch  weniger  hat  sie  an  das 
Aufhören  der  Ansiedelung  von  Eigentümern  gedacht.   In  Anbetracht 
der  agrarischen  Einflüsse  in  der  liberalen  Partei  würden  die  Neuein - 
Schätzungsvorschläge  wohl  wenig  Chancen  haben,  im  Gegenteil,  man 
hat  neuerdings  dafür  agitiert,  daß  die  Erbpächter  berechtigt  sein  sollten, 
das  volle  Eigentum  an  ihren  Pachtstellen  zu  erwerben.  Einer  der  Vor- 
schläge geht  dahin,  daß  es  dem  Erbpächter  gestattet  sein  solle,  Abzah- 
lungen auf  den  Kaufpreis  in  beliebigen  Raten  zu  leisten  unter  ent- 
sprechender jedesmaliger  Verringerung  dre  Pachtsumme  für  den  noch 
verbleibenden  Rest,  dabei  soll  aber  dem  Staate  doch  ein  dauernder 
Einfluß  gesichert  bleiben.    Andere  wollen  nur  den  Umfang  des 
von  einer  Person  zu  freiem  Eigentum  erwerbbaren  Bodens  in  be- 
stimmten Grenzen  halten,  sind  aber  auch  für  gewisse  Beschrän- 
kungen in  bezug  auf  Wohnsitz  usw.  Konzessionen  nach  dieser  Seite 
hin  würden  aber  sicher  am  Ende  zum  Verschwinden  der  Erb- 
pächter und  damit  zu  einer  dauernden  Veräußerung  der  Regicrungs- 
ländereien  fuhren,  die  nicht  wünschenswert  ist.    Jedenfalls  zeigen 
die   auch   von  Befürwortern  der  reinen  Eigentumssiedelung  ge- 
forderten Kautelen,  daß  alle  Kreise  von  der  Notwendigkeit  gewisser 
Landreformen  durchdrungen  sind. 

Im  Jahre  1903  betrug  die  Zahl  der  Erbpächter  auf  Regierungs- 
land 3569  mit  1052365  acres;  dazu  kommen  auf  von  der  Re- 
gierung aus  Privatbesitz  erworbenen  Ländereien  angesiedelte  2229 
mit  370  549  acres.  Dies  scheint  für  europäische  Begriffe  eine  kleine 
Zahl,  aber  sie  sind  über  die  ganze  Kolonie  zerstreut  Eis  wäre  in- 
dessen ein  Fehler,  wollte  man  sie  alle  als  Agitatoren  für  das  freie 
Eigentum  und  die  Anullierung  ihres  Vertrages  mit  dem  Staat 
halten.  Viele  sind  zu  dankbar,  um  die  Leiter,  welche  ihnen  hinauf- 
geholfen hat,  nun  wegzustoßen,  wo  sie  ihre  Hilfe  nicht  mehr  brauchen. 
Die  Agitation  wird  hauptsächlich  durch  Elemente,  die  außerhalb 
des  Kreises  der  Kronpächter  stehen,  geschürt.  Wir  werden  darauf 
noch  zurückzukommen  haben. 

VerstaatlichungdesBodcns.  Die  Verstaatlichung  großer 
Privatbesitzungen  zu  Ansiedelungszwecken  geht  erfolgreich  voran. 
Bis  März  1903  sind  127  Güter  mit  600000  acres  für  2l/2  Millionen  £ 
angekauft  worden.  Etwa  2500  Personen  hatten  sich  auf  dem  aufge- 
teilten I-and  angesiedelt,  die  Familien  usw.  mitgerechnet  etwa 
7500  Seelen.  Der  Jahresabschluß  wies  für  den  Staat  einen  Überschuß 


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Dreizehn  Jahre  sozialen  Fortschrittes  in  Neuseeland. 


6or 


von  27  369  £  auf,  nach  Abzug  der  Zinsen  des  Ankaufkapitals  und 
der  Verwaltungskosten.  Auch  aus  den  vorhergehenden  Jahren 
haben  sich  beträchtliche  Uberschüsse  angesammelt.  Die  Pachten 
betrugen  5  Proz.  auf  den  ermittelten  Wert,  der  Ankaufspreis  und 
Kosten  für  Vermessung,  Verwaltung  und  Anlage  von  Wegen  decken 
muß.  Die  nötigen  Gelder  werden  durch  Anleihen  aufgebracht,  die 
Regierung  hat  die  Befugnis,  entsprechend  den  Bestimmungen  des 
Gesetzes  über  Landerwerb,  jährlich  eine  halbe  Million  £  aufzuwenden. 

Im  Anfang  hat  man  einige  Fehler  begangen,  doch  sind  in  der 
letzten  Zeit  nur  vorteilhafte  Ankäufe  gemacht  worden.  Die  Re- 
gierung gibt  den  ersten  Anstoß  zu  den  Ankäufen,  die  unter  ihrer 
Kontrolle  erfolgen.  Doch  steht  ihr  in  allen  Fällen  ein  Sachver- 
ständigen-Ausschuß, der  sehr  sorgfaltig  ausgewählt  wird,  zur  Seite. 
Viele  Güter  werden  der  Regierung  freiwillig  zum  Kauf  angeboten, 
bei  anderen  werden  die  Besitzer  und  die  Regierung  auf  ein  Angebot 
der  letzteren  hin  handelseinig. 

Dies  ist  gewöhnlich  der  Fall,  wo  eine  bekannte  Besitzung 
infolge  eines  Ausdehnungsbedürfnisses  des  betreffenden  Ortes  zum 
Ankauf  kommen  soll.  Außerdem  hat  die  Regierung  im  Notfall 
die  Zwangsbestimmungen  des  Gesetzes  in  Reserve,  welche  den 
Besitzer  immerhin  beeinflussen;  bis  jetzt  sind  erst  4  Besitzungen 
zwangsweise  erworben  worden.  In  diesen  Fällen  wird  die  Kauf- 
summe durch  einen  speziellen  Gerichtshof  (compensation  court) 
festgesetzt,  der  aus  einem  Richter  des  obersten  Gerichtshofes  und 
zwei  Beisitzern  besteht,  von  denen  der  eine  von  der  Regierung, 
der  andere  vom  Grundstücksbesitzer  ernannt  wird  Diese  Ein- 
richtung tritt  ebenfalls  in  Kraft,  wenn  der  mit  dem  Erwerb  be- 
traute Ausschuß  über  die  Ankaufsbedingungen  sich  mit  dem  Eigen- 
tümer nicht  einigen  kann.  Die  Entscheidungen  dieses  Gerichts- 
hofes haben  sich  bis  jetzt  als  ziemlich  kostspielig  für  die  Regierung 
erwiesen,  indem  den  Besitzern  höhere  Preise  als  die  ihnen  ursprünglich 
offerierten  zugesprochen  worden  sind;  es  ist  nicht  ausgeschlossen, 
daß  dieser  Umstand  dazu  beigetragen  hat,  daß  die  Regierung  die 
oberen  Sätze  der  progressiven  Grundsteuer  bedeutend  erhöht  hat. 

Die  angekauften  Besitzungen  bestehen  meist  aus  sehr  extensiv 
bewirtschaftetem  Lande,  das  zwar  zum  Ackerbau  geeignet,  aber  vor 
dem  Ankaufe  hauptsächlich  zur  Viehzucht  verwendet  wurde,  was 
bei  zunehmender  Bevölkerung  und  dem  relativ  beschränkten  zu- 
gänglichen Areal  dieser  Art,  eine  Anomalie  war.  Das  Vorhanden- 
sein eines  wirklichen  Landhungers  offenbart  sich  in  dem  großen 

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Richard  H.  Moopcr, 


Andrang  zu  den  von  der  Regierung  erworbenen  Ländereien ;  häufig 
waren  hunderte  von  Reflektanten  vorhanden,  so  daß  man  zur  Aus- 
losung schreiten  mußte.  Bemerkenswert  ist  hierbei  die  große  An- 
zahl von  Ansiedlersöhnen,  die  eigene  Bauernhöfe  erwerben  wollen, 
statt  wie  in  anderen  Ländern  in  die  Städte  zu  ziehen.  Ein  Teil 
des  so  erworbenen  Landes  besteht  aus  Grundstücken  in  der  Nähe 
der  Städte,  auf  denen  Arbeiter  ihre  Heimstätten  erbauen.  Der 
Maximalumfang  für  derartige  Stellen  beträgt  5  acres,  die  Regierung 
gibt  Vorschüsse  zum  Hausbau,  zur  Einzäunung  usw.  Die  Idee,  dem 
städtischen  Arbeiter  eine  Stätte  zu  geben,  wo  er  seine  freie  Zeit 
zur  Kleinkultur  verwenden  kann,  ist  keine  neue.  Bis  jetzt  haben 
aber  die  neuseeländischen  Ansiedler  wenig  Interesse  dafür  gezeigt 
Da  die  Landankäufe  auf  Anleihen  basieren,  so  hat  man  darauf 
hingewiesen,  daß  ihre  Ausdehnung  an  enge  Grenzen  gebunden  sei. 
Solange  sich  der  Staat  jedoch  darauf  beschränkt,  nur  solche  Lände- 
reien zu  erwerben,  deren  er  zu  einer  dichten  Besiedelung  durchaus 
bedarf,  ist  kein  Grund  vorhanden,  warum  das  System  nicht  gesund 
bleiben  soll. 

Staats-Hypotheken.  Die  Motive  und  die  Ausdehnung 
der  staatlichen  Hypothekengewährung  sind  bereits  oben  in  dem 
Gesetz  über  Vorschüsse  an  Ansiedler  (1894)  kurz  erwähnt  worden. 
Das  hierfür  errichtete  Amt  ersetzt  zum  größten  Teil  die  ländlichen 
Kreditinstitute  anderer  Länder.  Darlehn  können  auf  Land  zu 
freiem  Eigentum  und  darauf  verwendete  Meliorationen  bis  zu  */* 
des  Wertes  gewährt  werden,  wie  auch  auf  staatliche  Rentengüter 
bis  zur  Hälfte  des  vom  Inhaber  erworbenen  Anrechtes,  wodurch 
den  Staat  in  der  Lage  ist,  seinen  eigenen  Pächtern  billiges  Geld  zur 
Meliorierung  ihrer  Stellen  zu  verschaffen.  Die  Darlehnssummen 
dürfen  zwischen  25  und  3000  j£  betragen;  der  Zinsfuß  ist  5  Proz., 
reduziert  sich  jedoch  bei  prompter  Zinszahlung  auf  41/2  Proz.  Die 
Darlehnsnehmer  können  sich  für  ein  Amortisationssystem  ent- 
scheiden, bei  welchem  durch  halbjährliche  Abzahlungen  die  Darlehn 
in  36  Jahren  amortisiert  werden.  Außerdem  können  sie  jederzeit 
das  Darlehn  ganz  oder  teilweise  zurückzahlen.  Das  Gesetz,  welches 
ursprünglich  nur  für  das  flache  Land  galt,  wurde  1 899  auf  städtisches 
Eigentum  ausgedehnt.  Das  System  ist  jetzt  seit  10  Jahren  in  Kraft 
und  das  Resultat  kann  als  ein  praktischer  und  finanzieller  Erfolg 
bezeichnet  werden.  Außerdem  hat  es  dazu  gedient,  den  Hypotheken- 
zinsfuß im  allgemeinen  niedrig  zu  halten,  eine  Wirkung,  die  sich 
sofort  nach  Erlaß  des  Gesetzes  fühlbar  machte. 


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Dreizehn  Jahre  sozialen  Fortschrittes  in  Neuseeland. 


603 


Bis  zum  März  1903  sind  3  581  660  ^  an  11  293  Personen  aus- 
geliehen worden.  Davon  sind  925  741  £  zurückgezahlt  worden, 
2  590  543  £  stehen  noch  aus.  Von  den  1 1  293  Darlehnsnehmern 
haben  nicht  weniger  als  10  534  Summen  unter  500  £  geborgt  — 
ein  Beweis,  daß  das  System  gerade  den  kleinen  Ansiedlern  zugute 
kommt.  Die  Darlehn  sind  so  vorsichtig  gewährt  worden,  daß 
Verluste  nicht  zu  verzeichnen  sind,  auch  der  Betrag  der  rück- 
ständigen Zinsen  ist  gering. 

Der  Staat  und  die  landwirtschaftlichen  Produ- 
zenten. Da  Neuseeland  vor  allem  auf  Ackerbau  und  Viehzucht 
angewiesen  ist,  so  ist  es  natürlich,  daß  der  Staat  diesen  Erwerbs- 
zweigen seine  besondere  Aufmerksamkeit  widmet  und  daß  ihr 
Interesse  ihm  ebenso  am  Herzen  liegt  wie  dasjenige  der  In- 
dustriearbeiter. Das  Landwirtschaftsamt,  dessen  Errichtung  wir  er- 
wähnt haben,  ist  eine  weitverzweigte  Einrichtung  mit  wissenschaft- 
lichen Versuchsstationen  und  beaufsichtigenden  und  belehrenden 
Funktionen.  Seine  Sachverständigen  stehen  mit  den  Rohstoffpro- 
duzenten  in  steter  Fühlung.  Am  meisten  befaßt  sich  aber  die  Regierung 
neuerdings  mit  dem  Exporthandel,  den  man  eine  der  Lebensadern 
der  Kolonie  nennen  kann.  Die  Regierung  überwacht  ihn  sehr  ener- 
gisch, um  auf  gute  Qualität,  Gleichmäßigkeit,  volles  Gewicht  usw. 
hinzuwirken.  Die  Überwachung  besteht  hauptsächlich  in  einer 
Zwangsinspektion  der  Waren  im  Verschiffungshafen,  wo  sie  klassi- 
fiziert und  mit  entsprechenden  Abzeichen  versehen  werden.  Völlig 
minderwertige  Ware,  die  dem  Handel  schaden  könnte,  kann  ver- 
nichtet werden.  Diese  Überwachung  gelangte  zuerst  für  Butter 
und  Käse  zur  Anwendung,  deren  Produktion  von  der  Regierung 
durch  Genossenschaftsgründungen  erst  in  die  Wege  geleitet  worden 
war.  Die  Klassifizierung  erregte  im  Anfang  das  höchste  Mißfallen 
der  Verlader,  die  darin  eine  ungehörige  Einmischung  in  den  freien 
Verkehr  und  in  Privatunternehmungen  u.  dgl.  mehr  sahen.  Doch 
hatte  das  System  den  Erfolg  für  sich.  Abgesehen  von  seinem 
erzieherischen  Einfluß,  erleichterte  es  durch  die  Garantien,  die  es 
hat,  den  Abschluß  der  Geschäfte  ungemein.  Heute  ist  das  Zertifikat 
der  neuseeländischen  Warenabschätzer  tatsächlich  ein  Handels- 
dokument in  dem  Molkereiproduktenhandel  der  Kolonie  geworden 
und  bildet  zusammen  mit  dem  Klassifizierungsmaßstab  die  übliche 
Unterlage  für  die  Kontraktabschlüsse.  Butter  aus  Neuseeland  kann 
nach  England  auf  die  Regierungsklassifizierung  hin  verkauft  werden, 
ehe  sie  gemacht  ist.    Neuerdings  hat  man  das  System  auf  neu- 


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Richard  H.  Hoopcr, 


seeländischen  Flachs  (Phormium  tenax),  Getreide,  Früchte,  Hopfen 
und  Geflügel  ausgedehnt,  jetzt  aber  mit  uneingeschränkter  Zu- 
stimmung des  Handels  und  der  Produzentenkreise.  Mehrere  Jahre 
lang  wurden  in  den  Verschiffungshäfen  unentgeltlich  Kühlräume 
zur  Lagerung  zur  Verfügung  gestellt,  jetzt  werden  die  Kosten  da- 
für allmählich  auf  den  Produzenten  und  Exporteur  abgewälzt  Das 
für  den  Export  präparierte  Fleisch  wird  von  staatlichen  Inspek- 
toren geprüft  und  mit  einem  entsprechenden  Etikett  versehen;  in 
England,  dem  Hauptmarkt  für  Neuseeland,  ist  ein  Beamter,  der 
„Produce  Commissioner",  stationiert,  der  die  Interessen  der  Produ- 
zenten wahrnimmt,  die  Ladungen  bei  der  Ankunft  inspiziert  und 
Winke  zur  Hebung  des  Exportes  gibt.  Neben  seinen  regelmäßigen 
schriftlichen  Berichten,  telegraphiert  er  jede  Woche  der  Regierung 
die  Marktpreise  und  Absatzverhältnisse  der  hauptsächlichsten  Pro- 
dukte. Die  so  erhaltenen  Informationen  werden  sofort  in  den 
neuseeländischen  Zeitungen  veröffentlicht  und  dienen  den  neusee- 
ländischen Produzenten  als  Richtschnur  beim  Verkauf  und  bei  der 
Verladung  ihrer  Ware.  Zum  gleichen  Zwecke  ist  ein  Beamter 
auch  in  Südafrika  stationiert 


6.  Kommunale  Besteuerung. 

Trotzdem,  wie  wir  sahen,  die  Regierung  nie  versucht  hat,  die 
gewöhnliche  Grundsteuer  zu  erhöhen,  so  hat  sie  sich  es  doch  früh- 
zeitig zur  Aufgabe  gemacht,  das  dieser  zugrunde  liegende  Prinzip 
in  die  kommunale  Besteuerung  einzuführen.  Das  Oberhaus  hat  dieses 
eine  Zeitlang  verhindert,  aber  im  Jahre  1896  wurde  das  Gesetz  über 
die  Besteuerung  des  unmeliorierten  Wertes  endgültig  angenommen; 
dies  gestattete  den  Lokalbehördcn  die  fakultative  Anwendung  des 
Systems.  Die  Initiative  muß  von  den  Steuerzahlern  ausgehen,  von 
denen  eine  gewisse  Anzahl  eine  Abstimmung  über  den  Vorschlag 
verlangen  kann.  Das  Resultat  dieser  Abstimmung  entscheidet  die 
Frage  auf  drei  Jahre,  d.  h.  vor  Ablauf  dieser  Periode  darf  eine 
neue  Entscheidung  für  oder  gegen  nicht  getroffen  werden.  Ur- 
sprünglich verlangte  das  Gesetz,  daß  ein  Drittel  der  Steuerzahler 
sich  an  einer  solchen  Abstimmung  beteiligte,  da  es  sich  aber 
herausstellte,  daß  die  Widersacher  des  Systems  sich  einfach  der 
Wahl  enthielten,  so  wurde  bestimmt,  daß  die  Majorität  der  abge- 
gebenen Stimmen  die  Entscheidung  herbeiführen  solle. 

Die  Einführung  des  Systems  wird  sehr  erleichtert  dadurch,  daß 


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Dreizehn  Jahre  sozialen  Fortschrittes  in  Neuseeland. 


605 


die  von  dem  staatlichen  Schätzungsamt  aufgestellten  Schätzungen 
den  unmeliorierten  Wert  festlegen.  Der  Steuerfuß  wird  so  nor- 
miert, daß  die  Steuer  ebenso  hoch  ist,  als  wenn  der  volle  Wert 
des  Grundstücks  versteuert  würde;  wo  früher  eine  Ertragssteuer 
eingeführt  war,  beträgt  die  Steuer  dreiviertel  Pence  per  £  auf  den 
unmeliorierten  Wert,  statt  1  Schilling  per  i:  des  jährlichen  Er- 
trages. 

Der  Vorzug  einer  Besteuerung  des  unmeliorierten  Wertes, 
wird  hauptsächlich  darin  gesehen,  daß  sie  eine  Strafe  auf  die 
Grundspekulation  besonders  in  den  Städten  darstellt,  welche  leere 
Baustellen  aus  dem  Markte  hält  und  so  die  Entwicklung  des  be- 
treffenden Ortes  behindert  Die  große  Anzahl  der  kleinen  Grund- 
besitzer in  den  Städten  war  bis  jetzt  insofern  benachteiligt,  als 
unter  dem  System  einer  Ertragssteuer  jede  Verbesserung,  die  sie 
an  ihrem  Grundstücke  anbrachten,  eine  entsprechende  Steuerer- 
höhung mit  sich  brachte,  sie  waren  daher  dem  neuen  System  ge- 
neigt, trotz  des  ev.  zukünftigen  Verlustes  des  unverdienten  Wert- 
zuwachses, der  aus  demselben  resultieren  kann.  Die  Feinde  des 
neuen  Systems  argumentierten  im  Parlamente,  daß  Banken,  Ver- 
sicherungsgesellschaften und  ähnliche  reiche  Institute,  die  wertvolle 
Baulichkeiten  in  den  Städten  besitzen,  unter  dem  neuen  System 
weniger  Steuer  zahlen  würden,  aber  da  es  bekannt  war,  daß  die 
Opposition  sich  vor  allem  aus  interessierten  Kreisen  rekrutierte,  so 
war  der  Eindruck  dieses  Argumentes  gering.  Nur  in  einer  Hinsicht 
wurde  die  Wirksamkeit  des  Gesetzes  beschränkt:  es  kommt  nur 
für  die  allgemeinen  Steuern  zur  Anwendung  und  nicht  für  die 
speziellen  Umlagen  für  Wasser,  Beleuchtung,  Hospitäler  usw. 

Bis  März  1903  war  das  neue  System  in  51  lokalen  Verwaltungs- 
körpern, nämlich  in  30  Städten  (Boroughs),  12  Grafschaften,  einem 
Stadtbezirk  und  8  Straßenverbänden  eingeführt  worden,  nur  in 
S  Städten  war  eine  Majorität  für  dasselbe  nicht  zu  erreichen.  Die 
bis  jetzt  gesammelten  Erfahrungen  sprechen  zugunsten  des  neuen 
Systems.  In  den  meisten  Ortschaften,  in  denen  eine  Abstimmung 
vorgenommen  wurde,  war  die  Majorität  zugunsten  des  neuen  Systems 
so  bedeutend,  daß  die  Regierung  sich  veranlaßt  sah,  die  obliga- 
torische Einführung  desselben  zu  beantragen;  aber  gerade  in  dem 
Augenblick,  als  der  betr.  Gesetzentwurf  dem  Parlamente  vorlag, 
fand  eine  Abstimmung  in  Auckland,  einer  der  vier  großen  Städten 
der  Kolonie  statt,  und  zwar  wurde  hier  die  Einfuhrung  mit  einer 
Zweidrittelmajorität  verworfen;  die  Folge  war,  daß  die  Regierung 


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Richard  H.  Hoopcr, 


den  Entwurf  zurückzog.  Die  Abstimmung  in  Auckland  ergab  das 
genannte  Resultat  deshalb,  weil  es  den  Widersachern  des  neuen 
Systems  gelang,  die  Sache  so  darzustellen,  als  ob  die  Einführung 
der  neuen  Steuer  nur  der  Anfang  einer  völligen  Konfiskation  wäre ; 
es  gelang  ihnen  dies,  weil  die  für  die  Einführung  Stimmenden 
sämtlich  Anhänger  des  Singletaxsystems  von  Henry  George  waren 
und  es  so  ein  Leichtes  war,  den  Durchschnittssteuerzahler  glauben 
zu  machen,  daß  es  sich  um  Einführung  einer  Bodenreform  handle, 
wie  sie  Henry  George  befürwortet  hat,  und  die  gerade  in  Auckland 
sehr  viele  Anhänger  findet. 

Höchst  wahrscheinlich  wird  trotz  alledem  innerhalb  der  nächsten 
10  Jahre  auf  dem  Wege  der  fakultativen  Annahme  die  Besteuerung 
des  unmeliorierten  Wertes  für  Zwecke  der  Kommunen  in  der 
ganzen  Kolonie  zur  Anwendung  gelangt  sein.  Die  Abstimmung 
in  Auckland  ist  die  einzige  schwere  Niederlage,  welche  das  Prinzip 
bis  jetzt  erlitten  hat  und  in  keinem  Falle  hat  dort,  wo  das  neue 
System  einmal  eingeführt  worden  ist,  eine  Rückkehr  zum  alten 
stattgefunden.  Unter  den  Ortschaften,  welche  das  neue  System 
eingeführt  haben,  befinden  sich  zwei  der  anderen  Großstädte  der 
Kolonie,  nämlich  Wellington  und  Christchurch. 

7.  Die  Altersversorgung  („Old  age  pensions"). 

Wie  bereits  erwähnt  wurde,  hat  Neuseeland  im  Jahre  1 898  die 
erste,  nicht  auf  Beiträgen  der  Versicherten  beruhende  staatliche 
Altersversorgung  eingeführt.  Da  die  Kolonie  nicht  in  der  Lage 
war,  eine  allgemeine  Altersversorgung  zu  gewähren,  trotzdem  die- 
selbe natürlich  das  Ideal  bilden  muß,  so  wollte  man  sich  doch 
nicht  auf  die  Schwierigkeiten  und  Verzögerungen,  die  eine  Ver- 
sicherung mit  Beiträgen  der  zu  Versichernden  mit  sich  bringen 
muß,  einlassen.  Man  entschloß  sich  deshalb,  nur  denjenigen  eine 
Pension  auszuzahlen,  welche  keine  genügenden  Einkommensquellen 
besitzen  und  moralische  Ansprüche  auf  eine  solche  haben,  nämlich 
alte  Kolonisten  in  schlechten  Verhältnissen  und  von  gutem  Ruf. 
Die  Kosten  dieser  Pension  trägt  die  Regierung.  Bedingung  ist  ein 
Alter  von  65  Jahren,  von  denen  25  in  der  Kolonie  verbracht  worden 
sind  (kürzere  Abwesenheiten  werden  nicht  berücksichtigt).  Die 
Normalpension  beträgt  18  jährlich,  der  Besitz  eines  kleinen 
Privat  Vermögens,  sofern  es  270  J?  Kapital  oder  52  £  Jahresein- 
kommen nicht  übersteigt,  macht  den  Anspruch  auf  die  Pension 


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Dreizehn  Jahre  sozialen  Fortschrittes  in  Neuseeland. 


607 


nicht  hinfallig.  Doch  wird  für  jedes  £  Einkommen  über  34  £ 
oder  für  jede  15  £  Vermögen  über  15  £  von  der  genannten 
Pension  1  £  in  Abzug  gebracht  bis  zur  Erreichung  des  erwähnten 
Limits. 

Das  Gesetz  von  1898  beschränkte  die  Dauer  dieses  Versuches 
auf  3  Jahre.  Da  die  Regierung  durch  die  Wahlen  von  1899  in 
ihrer  Politik  bekräftigt  wurde,  verlor  der  Minister  Seddon  keine 
Zeit,  das  Gesetz  zu  einem  dauernden  zu  machen,  das  nur  durch 
Parlamentsbeschluß  außer  Kraft  gesetzt  werden  kann.  Es  wurden 
zugleich  eine  Anzahl  kleinerer  Verbesserungen  vorgenommen.  Im 
Jahre  1902—03  betrug  die  Zahl  der  Pensionsberechtigten  12  481 
(darunter  892  Maoris),  die  zusammen  211  591  £  vom  Staat  be- 
zogen. 

Das  Gesetz  wird  ohne  große  Kosten  durchgeführt,  sie  be- 
trugen  im  Jahre  1902—03  nur  3805  £.  Die  Verwaltung  besteht 
aus  einem  Inspektor  („Registrar")  mit  einigen  Unterbeamten,  die 
lokalen  Beamten  rekrutieren  sich  meist  aus  den  Sekretären  der 
Lokalgerichte;  die  Entscheidung  über  zu  gewährende  Pensionen 
liegt  in  den  Händen  der  Lokalgerichte  und  die  Post  besorgt  die 
Auszahlungen. 

Man  kann  jetzt,  nachdem  das  Gesetz  5  Jahre  funktioniert  hat, 
sagen,  daß  es  günstig  wirkt.  Obgleich  die  Armenpflege  der  Lokal- 
behörden nicht  in  dem  erwarteten  Maß  entlastet  wurde,  sind  doch 
die  vielen  pessimistischen  Prophezeiungen  der  Feinde  des  Gesetzes 
nicht  in  Erfüllung  gegangen. 

8.  Praktische  Politik  der  nächsten  Zukunft. 

Trusts  und  Kartelle.  Obgleich  die  liberale  Partei  einen 
großen  Teil  ihres  Programmes  verwirklicht  oder  doch  in  Angriff 
genommen  h*t,  fehlt  es  der  Regierung  doch  nicht  an  Initiative  neu 
auftauchenden  Problemen  gegenüber.  Ein  Beweis  hierfür  ist  die 
Art,  in  welcher  man  die  Frage  der  Trusts  und  Kartelle  in  Handel 
und  Gewerbe  behandelt  hat  Diese  neuesten  Produkte  der  kapita- 
listischen Entwicklung  zeigen  sich  neuerdings  auch  in  Neuseeland. 
Das  Vorgehen  eines  umfassenden  Korn-Mühlensyndikats  hat  z.  B. 
(ob  mit  Recht  oder  Unrecht  bleibe  dahingestellt)  bei  den  Händlern 
und  dem  Publikum  weitgehende  Befürchtnngen  hervorgerufen.  Der 
Premierminister  Seddon  trug  der  öffentlichen  Meinung  Rechnung, 
indem  er  erklärte,  daß  Kartelle  und  Syndikate  amerikanischer  Art 


Richard  H.  Hooper, 


in  Neuseeland  nicht  geduldet  werden  würden ;  er  brachte  demgemäß 
auch  letztes  Jahr  den  Entwurf  eines  Gesetzes  über  die  „Verhinderung 
von  Handelsmonopolen"  ein,  der  aber  nicht  durchgebracht  wurde. 
Man  hatte  wohl  vorerst  nur  die  Absicht  gehabt,  die  vorhandenen 
Ansichten  über  den  Gegenstand  zur  Klärung  zu  bringen  und  eine 
fruchtbare  Kritik  wachzurufen.  Jedenfalls  hatten  die  Kreise,  auf  die 
das  Gesetz  gemünzt  war,  eine  Warnung  erhalten. 

Einige  Einzelheiten  des  Entwurfes  werden  für  den  National- 
ökonomen von  Interesse  sein.  Das  Gesetz  soll  den  rechtmäßigen 
Handel  und  das  Gewerbe  schützen,  indem  es  Monopole,  die  dem 
öffentlichen  Interesse  zuwiderlaufen,  verhindert  Als  „Handels- 
monopol" gilt  eine  Vereinbarung,  welche  zum  Zweck  hat,  „die  freie 
(reasonable)  Konkurrenz  anderer  Händler  zu  nichte  zu  machen,  zu 
beschränken  oder  zu  verhindern  und  den  Preis  der  Waren  über  den 
durch  die  freie  Konkurrenz  entstehenden  hinaus  zu  treiben."  Die 
Bildung  von  Trusts  oder  Syndikaten  mit  abnorm  großem  Kapital 
oder  abnorm  ausgedehnten  Geschäften  gilt  auch  als  Monopol.  Das 
Gesetz  kann  auf  den  Antrag  von  50  Bürgern  oder  auf  denjenigen 
des  Arbeitsministers  oder  des  Handelsministers  in  Funktion  treten. 
Dann  sollen  die  Kronjuristen  den  Fall  einer  vorläufigen  Unter- 
suchung unterziehen ;  entscheiden  sie,  daß  ein  prima  facie  Fall  vor- 
liegt, so  wird  er  einem  „Monopolgericht"  überwiesen,  daß  aus  dem 
Chief  Justice  und  zwei  Richtern  des  obersten  Gerichtshofes  besteht ; 
diese  haben  ausgedehnte  Befugnisse  Zeugen  vorzuladen,  Bücher  ein- 
zusehen und  dgl.  Unter  anderem  gilt  abnormer  Gewinn  als  be- 
lastendes Moment.  Sollte  das  Gericht  entscheiden,  daß  ein  Monopol 
vorliegt,  so  können  sie  das  Ende  dieses  Monopols  und  seiner  Ge- 
schäfte aussprechen,  abgeschlossene  Verträge  aufheben  usw.,  Aktien- 
gesellschaften können  aufgelöst  werden.  Eine  Geldstrafe  von  nicht 
über  1000  £  und  die  Tragung  der  Kosten  kann  auferlegt  werden. 
Wird  die  angeklagte  Partei  freigesprochen,  so  trägt  die  Regierung 
die  Kosten. 

Das  Gesetz  wird  ohne  Zweifel  dieses  Jahr  wieder  vorgelegt 
werden.  Neuseeland  mag  einmal  zum  Kollektivismus  kommen, 
aber  jedenfalls  nicht  auf  dem  Wege  der  Syndikate  und  Trusts. 

Das  Staatsbankwesen.  Auf  dem  Gebiet  des  Geldwesens 
hat  Neuseeland,  trotz  seiner  sonstigen  kühnen  wirtschaftlichen  Ge- 
setzgebung keine  besonderen  Neuerungen  eingeführt.  Fortgeschrittene 
Politiker  rechnen  schon  seit  langem  auf  die  Zeit,  wenn  die  Kolonie 
für  ihre  innere  Entwicklung  von  dem  großen  internationalen  Geld- 


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Dreizehn  Jahre  sozialen  Fortschrittes  in  Neuseeland. 


609 


markt  möglichst  unabhängig  sein  wird.  Zu  wiederholten  Malen  ist 
die  Errichtung  einer  staatlichen  Notenbank  und  die  Ausführung 
öffentlicher  Arbeiten  mit  Hilfe  von  Staatskassenscheinen  oder  anderer 
staatlicher  Kredite  geplant  worden.  Doch  ist  diese  schwierige 
Frage,  abgesehen  von  einer  kleinen  Ausdehnung  des  Scheckwesens, 
nicht  über  das  akademische  Stadium  gefördert  worden. 

Indessen  sind  neuerdings  Anzeichen  vorhanden,  daß  man  zu 
praktischen  Maßregeln  übergehen  will.  Letztes  Jahr  erwarb  der 
Staat  fast  V«  Mill.  £  Anteile  der  Bank  von  Neuseeland,  dem 
fuhrenden  Institute  der  Kolonie.  Seitdem  die  Regierung  vor  etwa 
10  Jahren  die  Bank  vor  dem  Zusammenbruch  bewahrt  hat,  übte 
sie  ein  weitgehendes  Aufsichtsrecht  über  dieselbe  aus.  Indessen  be- 
nutzte die  Bank  die  Wiederkehr  günstigerer  Zeiten  dazu,  die  Re- 
gierungsvorschüsse zürückzuzahlen  und  sich  so  allmählich  von  der 
Kontrolle  freizumachen  und  im  vergangenen  Jahre  erwies  sich  eine 
Neuordnung  des  Verhältnisses  als  notwendig.  Die  Regierung  konnte 
drei  Wege  einschlagen:  1.  Die  Bank  übernehmen  und  sie  zu  einer 
Staatsanstalt  machen.  2.  Die  bestehende  Kontrolle  und  die  Be- 
teiligung des  Staates  vergrößern  und  zu  einer  dauernden  machen. 
3.  Jede  Verbindung  des  Staates  mit  der  Bank  auflösen  und  diese 
sich  selbst  überlassen.  —  Die  Regierung  schlug  den  Mittelweg  ein ; 
so  daß,  obgleich  keine  besondere  neue  Verwaltungsabteilung  ge- 
schaffen wurde,  doch  .ein  mächtiger  finanzieller  Apparat  zur  Ver- 
fügung steht,  mittels  dessen  eine  allmähliche  und  vorsichtige 
Reform  des  Geld-  und  Kreditwesens  in  die  Wege  geleitet  werden 
kann. 

Die  andauernde  ungünstige  Lage  und  Haltung  des  Londoner 
und  anderer  führender  Geldmärkte  haben  diese  Frage  aktuell  ge- 
gemacht. Neuseeland,  das  sich  der  Größe  seines  öffentlichen  Ver- 
mögens und  der  reproduktiven  Anlage  des  größten  Teiles  seiner 
Anleihen  wohl  bewußt  ist,  empfindet  die  neuerliche  Zurückhaltung 
des  englischen  Kapitals  als  ungerecht  und  wird  versuchen,  sich  von 
diesem  unabhängig  zu  machen. 

Die  Regierun gsmaschinerie.  Hier  sind  seitens  der 
Liberalen  fast  keine  Neuerungen  eingeführt  worden.  Ein  Gesetz- 
entwurf, welcher  die  Wahl  des  Kabinetts  durch  das  Parlament  vor- 
schreibt, ist  Jahr  für  Jahr  von  einigen  Liberalen  eingebracht  worden, 
jedoch  ohne  Erfolg,  da  die  Regierung  dagegen  ist.  Auch  kennt 
die  Kolonie  die  Initiativanträge  und  das  Referendum  nicht.  Vor- 
schläge, für  das  proportionale  Wahlsystem  haben  wenig  Beifall  ge- 


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Richard  H.  Hooper, 


funden.  Der  Kern  der  Sache  ist,  daß  die  Regierung  bis  jetzt  sich 
bei  dem  bestehenden  System  gut  gestanden  hat  und  sich  daher 
mit  diesen  Angelegenheiten  nicht  befassen  wollte.  Sollte  sie  je- 
mals ihre  günstige  Stellung  verlieren,  so  würde  das  die  Situation 
allerdings  ändern. 

Nach  einer  Richtung  hin  scheinen  allerdings  diese  Änderungen 
nahe  bevorzustehen.  Der  Minister  Seddon  hat  neuerdings  die 
politische  Welt  Neuseelands  überrascht,  indem  er  sich  für  die  Ab- 
schaffung des  Oberhauses  und  seinen  Ersatz  durch  eine  kleine  revi- 
dierende Körperschaft  von  Juristen  und  anderen  Sachverständigen 
aussprach.  Das  Oberhaus  besteht  jetzt  zum  größten  Teil  aus  von 
Seddon  selbst  ernannten  Mitgliedern  und  gilt  als  demokratische 
Körperschaft,  auf  welche  die  Regierung  mit  Sicherheit  zählen  kann. 
Mr.  Seddon  behauptet  aber,  daß  die  Atmosphäre  des  Oberhauses 
unweigerlich  auf  seine  Mitglieder  einen  konservativen  Einfluß  hat 
und  daß  es  außerdem  überflüssig  geworden  sei.  So  ist  die  alte 
Bewegung  gegen  das  Oberhaus,  welche  nach  seiner  Regeneration 
eingeschlafen  war,  wieder  entfacht,  zur  Freude  des  radikalen  Flügels 
der  Liberalen. 

Die  politische  Lage.  Die  etwas  heterogene  Zusammen- 
setzung der  neuseeländischen  liberalen  Partei  hat  sich  seit  1891 
kaum  geändert  Eine  besondere  Arbeiterpartei  wie  in  den  australi- 
schen Staaten  hat  sich  in  den  13  Jahren  nicht  entwickelt.  In  der 
Partei  hat  das  liberale  Element  stets  die  Oberhand  behalten;  wo 
vereinzelte  Repräsentanten  der  Arbeiter  der  Partei  nicht  treu  blieben, 
sind  sie  meist  bald  von  der  politischen  Bildfläche  verschwunden. 
Gelegentlich  haben  die  Arbeiter  nach  größerer  Unabhängigkeit  von 
der  Partei  gestrebt,  doch  sind  diese  Bemühungen  bis  jetzt  sporadisch 
und  resultatlos  geblieben.  Die  Arbeiter  haben  tatsächlich  einge- 
sehen, daß  der  fortgeschrittene  Liberalismus  ihre  Interessen  am 
besten  vertritt  und  gewiß  hat  das  Bündnis  für  beide  Teile  die  besten 
Früchte  gezeitigt  Es  darf  auch  nicht  vergessen  werden,  daß  die 
Regierung  das  Feld  nicht  so  lange  behauptet  hätte,  wäre  sie  haupt- 
sächlich von  den  Arbeiterstimmen  abhängig  gewesen.  Man  sollte 
denken,  daß  die  Städte  mit  ihrem  großen  Prozentsatz  industrieller 
Bevölkerung  die  Hochburgen  der  Regierung  seien  —  die  Erfahrung 
hat  gezeigt,  daß  dies  ein  Irrtum  ist.  Die  großen  Städte  haben  in 
gewissen,  für  die  liberale  Partei  kritischen  Momenten  versagt,  und 
zu  diesen  Zeiten  verdankte  die  Regierung  den  Sieg  der  Unter- 
stützung der  ländlichen  Kreise.   Um  die  Städte  zu  gewinnen,  muß 


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Dreizehn  Jahre  sozialen  Fortschrittes  in  Neuseeland.  öl  I 

die  Regierung  außer  auf  die  Arbeiter  auf  die  tatkräftige  Unter 
Stützung  des  Mittelstandes  rechnen. 

Diese  Mittelklassen  fühlen  sich  mehr  und  mehr  zu  der  liberalen 
Partei  hingezogen.  Im  Anfang  waren  die  Angehörigen  des  Handels- 
standes auf  der  Oppositionsseite.  Nach  und  nach  änderte  sich  die 
Stimmung,  als  es  sich  erwies,  daß  die  liberale  Politik  Handel  und 
Gewerbe  nicht  hemmte,  sondern  eher  förderte.  Heute  gehören 
viele  führende  Geschäftsleute  der  liberalen  Partei  an.  Es  mag  sein, 
daß  diese  Annäherung  an  die  Kreise  des  „Privatunternehmertums" 
die  Regierung  etwas  von  dem  bisher  innegehaltenen  Weg  ablenken 
wird.  Doch  ist  hervorzuheben,  daß  die  liberalen  Führer  sich  nie- 
mals unumschränkt  für  den  Kollektivismus  ausgesprochen  haben 
und  daß  einige  von  ihnen  Geschäftsverbindungen  und  Geschäfts- 
interessen haben. 

Das  sind  die  Faktoren,  die  auf  einen  weiteren  Zusammenschluß 
hinwirken  —  doch  fehlt  es  auch  nicht  an  Zeichen  der  Auflösung. 
Da  ist  vor  allem  die  drohende  Absplitterung  der  agrarischen 
Parteigänger  zu  erwähnen.  Seit  zwei  bis  drei  Jahren  bildet  sich 
ein  Gegensatz  zwischen  Stadt  und  Land  heraus,  hauptsächlich  durch 
die  Wirksamkeit  einer  über  das  ganze  Land  verbreiteten  agrarischen 
Organisation,  der  „Farmers'  Union".  Ihr  angeblicher  Zweck  ist  die 
Förderung  der  Interessen  der  Landwirte,  ihr  unpolitischer  Charakter 
wird  betont  —  merkwürdigerweise  sind  aber  die  meisten  der  ton- 
angebenden Organisatoren  und  Führer  Gegner  der  Regierung. 
Man  verbreitet  den  Gedanken,  daß  die  Bauern  nicht  genügend  be- 
rücksichtigt worden  sind  und  daß  die  Arbeiterpolitik  der  Regierung 
ihren  Interessen  zuwiderläuft 

Vor  allem  wird  für  das  freie  Eigentum  im  Gegensatz  zur  staat- 
lichen Erbpacht  agitiert.  Die  „Farmers'  Union"  hat  sich  im  allgemeinen 
für  das  freie  Eigentum  ausgesprochen  und  auch  einige  liberale  Parla- 
mentsmitglieder für  sich  gewonnen ;  wir  haben  von  dieser  Bewegung 
bereits  weiter  oben  in  dem  Abschnitt  über  die  Landfrage  berichtet 
Sollte  die  Frage  im  Parlament  zur  Abstimmung  kommen,  so  läge 
eine  große  Gefahr  vor,  da  ja  die  Opposition  einstimmig  gegen  die 
Erbpacht  ist.  Indessen  hat  sich  Premierminister  Seddon  nicht  ein- 
schüchtern lassen.  Er  erklärte  in  einer  Ansprache,  daß,  wenn  die 
Regierung  in  dieser  Frage  überstimmt  würde,  er  die  Kammer  auf- 
lösen werde  und  gewiß  werde  sich  das  Volk  für  die  Beibehaltung 
der  Erbpacht  aussprechen.  Abgesehen  von  dieser  offiziellen  Ab- 
wehr,  betreiben   einige  fortgeschrittene  Liberale,  Anhänger  der 


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612 


Richard  H.  Hooper, 


Lehren  Henry  Georges,  eine  energische  Gegenagitation.  Sie  wider- 
setzen sich  jedem  Landverkauf  durch  den  Staat  und  sprechen  sich 
für  die  periodische  Pachtfestsetzung  der  Erbpächtereien  aus. 

Bei  den  Wahlen  von  1902  konnten  die  Drohungen  der 
„Farmers  Union"  dem  Minister  Seddon  nichts  anhaben.  Er  konnte 
den  Bauern  klar  beweisen,  wieviel  die  Regierung  für  sie  getan  habe. 
Aber  damals  war  die  „Farmers'  Union"  noch  verhältnismäßig  neu, 
ihre  Kräfte  noch  nicht  gesammelt  und  ihre  Propaganda  noch  nicht 
so  wirksam.  Die  Krisis  steht  noch  bevor.  Doch  hat  Mr.  Seddon, 
nach  der  Aufnahme  zu  urteilen,  die  er  neuerdings  bei  einer  Reise 
in  den  ländlichen  Distrikten  der  Südinsel  fand,  an  Popularität  bei 
den  Bauern  noch  nichts  eingebüßt. 

Auch  von  der  anderen  Seite  wird  die  Solidarität  der  liberalen 
Partei  bedroht  Es  scheint  zweifelhaft,  ob  die  Arbeiter  auf  die 
Dauer  zu  halten  sein  werden ;  so  sprach  sich  der  jährliche  Gewerk- 
vereinskongreß  letzte  Ostern  für  eine  unabhängige  Arbeiterpartei 
aus.  Natürlich  werden  Konkreßbeschlüsse  nicht  sofort  zur  Wirk- 
lichkeit, doch  wird  der  Erfolg  der  Arbeiterpartei  im  australischen 
Bundesparlament  die  Bewegung  verstärken.  Das  politische  Pro- 
gramm des  Kongresses  geht  ziemlich  weit  —  es  umfaßt  folgende 
Punkte:  I.  Staatsnoten  mit  gesetzlicher  Zahlungskraft;  2.  keine 
weiteren  Verkaufe  des  Kronlandes  und  periodische  Pachtfestsetzungen 
der  Erbpächtereien;  3.  Ausdehnung  des  parlamentarischen  Wahl- 
rechtes auf  die  Kommunalwahlen.  NichtSteuerzahler  sollen  sich 
auch  bei  Abstimmungen  über  Steuermaßregeln  beteiligen  dürfen; 
4.  Initiative  und  Referendum;  5.  gesetzlich  festzulegende  Bevor- 
zugung von  Gewerkvereinlern  bei  den  Entscheidungen  des  Schieds- 
gerichts; 6.  Abschaffung  des  Oberhauses. 

Seddon,  der  1 1  Jahre  lang  Premierminister  von  Neuseeland 
war,  ist  auch  heute  noch  der  unbestrittene  Führer  der  Liberalen. 
Große  Begabung  und  arbeitsfreudige  Leistungsfähigkeit,  ein  prak- 
tischer Blick,  parlamentarische  Gewandtheit,  ein  reiches  Maß  demo- 
kratischer Überzeugung  und  eine  volkstümliche  Liebenswürdigkeit  — 
das  sind  die  Eigenschaften,  denen  „König  Dick"  seine  lange  Re- 
gierungszeit zu  verdanken  hat.  Kein  anderer  Mann  hätte  die  libe- 
rale Partei  auf  ebensolange  Zeit  zusammenhalten  können.  Ge- 
wiß haben  immer  einzelne  Parteimitglieder  sich  gegen  die  Herr- 
schaft ihres  Führers  empört,  schon  die  Kraft  seiner  Persönlichkeit 
hat  das  mit  sich  gebracht,  aber  keiner  hat  sich  auf  die  Dauer  ihm 
gewachsen  erwiesen.    Andere  Führer  hätten  vielleicht  Größeres 


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Dreizehn  Jahre  sozialen  Fortschrittes  in  Neuseeland. 


613 


versucht  und  die  Partei  ruiniert  oder  aber  weniger  Initiative  gehabt 
und  sich  die  Avantgarde  entfremdet.  Seddon,  der  ein  feines  Ge- 
fühl für  die  Strömungen  der  öffentlichen  Meinung  hat,  wußte  wie 
weit  er  gehen  konnte  und  hatte  seine  Maßregeln  in  Bereitschaft, 
wenn  die  Gelegenheit  kam.  Das  mag  nach  Opportunismus  klingen, 
aber  es  ist  viel  damit  erreicht  worden. 

Den  größten  Einfluß  nach  Seddon  hat  im  Ministerium  Sir 
Joseph  Ward,  der  verglichen  mit  seinem  Chef  suaviter  in  modo 
ist ;  er  ist  der  Schöpfer  des  Gesetzes  über  die  Darlehn  an  Ansiedler 
und  ein  geschickter  Verwaltungsbeamter.  Im  Privatleben  ist  er 
Kaufmann  mit  weitverzweigten  Geschäftsinteressen.  Er  scheint  An- 
wartschaft auf  die  Nachfolgerschaft  Seddons  zu  haben.  Doch  würde 
wohl,  sollte  der  letztere  abdanken,  bald  eine  allgemeine  Umwälzung 
eintreten,  besonders  im  Hinblick  auf  die  jetzt  schon  vorhandenen 
Tendenzen  zur  Auflösung  der  Partei.  Man  ersieht  hieraus, 
wieviel  von  Seddons  Persönlichkeit  abhängt  Wenn  er  seine  alte 
Frische  behält,  so  kann  er  seine  Partei  wohl  noch  auf  lange  Zeit 
zusammenhalten.  Sein  Gesundheitszustand  erfüllt  indessen  seine 
Freunde  mit  Sorge,  die  Ärzte  mußten  ihm  Ruhe  vorschreiben  — 
elf  Jahre  angestrengter  Arbeit  als  verantwortungsvoller  Leiter  der 
Kolonie  sind  eben  auch  an  ihm,  trotz  seiner  eisernen  Konstitution, 
nicht  spurlos  vorübergegangen. 

Die  Führerschaft  in  der  Opposition  hat  sich  vor  kurzem  auf 
bezeichnende  Weise  verändert.  Seit  letztem  Jahr  ist  W.  J.  Massey 
ein  kleinerer  Grundbesitzer,  einer  der  Freunde  der  Farmers'  Union 
und  Vertreter  eines  ländlichen  Kreises  an  die  Stelle  von  Sir  William 
Russell,  einem  großen  Viehzüchter  und  alten  Anhänger  der  ehe- 
maligen Atkinsonschen  Regierung  getreten. 

Die  Oppositionspartei  selbst  ist  nicht  mehr  die  alte  vom  Jahr 
1891,  denn  die  ist  unter  dem  Einfluß  des  seit  13  Jahren  herrschenden 
liberalen  Geistes  auf  immer  verschwunden.  Das  alte  Regime  wäre 
jetzt  in  der  Kolonie  undenkbar.  Eine  Reaktion  kann  ja  bis  zu 
einem  gewissen  Grad  eintreten,  aber  sie  wird  nur  der  zurück- 
weichenden Welle  gleichen  —  der  Fortschritt  wird  darum  nicht 
gehemmt. 

Internationale  Faktoren.  Neuseeland  gilt  allgemein  als 
ein  besonders  bequemes  Versuchsobjekt  für  sozialpolitische  Experi- 
mente. Die  Jugend  der  Kolonie  und  die  Elastizität  ihrer  Institu- 
tionen, auch  ihre  verhältnismäßig  kleine  Bevölkerungszahl  sprechen 
dafür.    Es  ist  aber  ein  großer  Fehler  anzunehmen,  daß  die  sozialen 


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Riebard  H.  Hoopcr, 


Probleme  in  Neuseeland  nur  auf  lokaler  Basis  zu  behandeln  seien. 
Neuseeland  ist  keine  unabhängige,  sich  selbst  genügende  Republik 
auf  genossenschaftlicher  Grundlage.  Durch  die  Art  ihrer  Besiedelung 
und  Entwicklung  ist  sie  in  das  verwickelte  Getriebe  des  Welt- 
marktes, auf  dem  sie  kaufen  und  verkaufen  muß,  mit  hineinbezogen. 
Die  staatlichen  Eingriffe  zur  Verbesserung  der  sozialen  Verhält- 
nisse dürfen  deshalb  nicht  ohne  Berücksichtigung  der  Arbeits- 
bedingungen anderer  Länder  geschehen,  denn  so  etwas  wie  geo- 
graphische Isolierung  gibt  es  heute  nicht  mehr.  Um  so  mehr  muß 
man  anerkennen,  wie  viele  von  den  Übelständen,  mit  denen  die 
menschliche  Gesellschaft  heute  zu  kämpfen  hat,  in  Neuseeland  ge- 
mildert worden  sind.  Auch  hier  tritt  der  internationale  Charakter 
der  Arbeiterfrage  in  den  Vordergrund,  denn  große  Fortschritte  sind 
nur  möglich  wenn  sie  überall  einigermaßen  gleichmäßig  erfolgen. 

Die  bemerkenswerten  Erfolge  der  neuseeländischen  Gesetz- 
gebung sind  vor  allem  der  verständnisvollen  und  gleichmäßigen 
Handhabung  durch  die  Regierung  zu  verdanken,  aber  auch  dem 
Interesse  des  Parlamentes,  das  nie  versagte,  wenn  die  gemachten 
Erfahrungen  die  Notwendigkeit  von  Verbesserungen  und  Zusätzen 
erwiesen.  Wäre  die  liberale  Partei  vor  einigen  Jahren,  als  die 
Gesetze  eben  erlassen  waren  und  noch  etwas  den  Charakter  von 
Experimenten  an  sich  trugen,  verdrängt  worden,  so  würden  wir 
heute  nicht  von  einem  so  großen  Erfolge  berichten  können.  Selbst 
wenn  die  Gesetze  dann  von  der  Opposition  nicht  gerade  auf- 
gehoben worden  wären,  so  hätte  doch  eine  verständnislose  Hand- 
habung außerordentlich  viel  schaden  können.  Auch  die  allgemeine 
günstige  finanzielle  Lage  war  für  die  Anfangsstadien  der  sozialen 
Gesetzgebung  von  Vorteil.  Wir  haben  alle  diese  Punkte  schon 
erwähnt,  hier  soll  nur  hervorgehoben  werden,  daß  Neuseeland  nicht 
wesentlich  mehr  für  eine  fortgeschrittene  soziale  Gesetzgebung  ge- 
eignet ist,  als  andere  Länder. 

Schluß. 

Man  darf  nicht  annehmen,  daß,  weil  in  Neuseeland  die  soziale 
Gesetzgebung  sehr  ausgebildet  ist,  nun  der  Durchschnitts-Neusee- 
länder ein  Kollektivist  oder  doktrinärer  Landreformer  sei.  Auch 
die  liberalen  Führer  sind  das  nicht  Gewiß  haben  fortschrittliche 
sozialökonomische  Theorien  die  öffentliche  Meinung  stark  beein- 
flußt, doch  war  die  neuseeländische  Gesetzgebung  eher  das  Resultat 


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Dreizehn  Jahre  sozialen  Fortschrittes  in  Neuseeland.  615 

praktischer  Bestrebungen  die  Probleme,  die  dem  Volk  täglich  ent- 
gegentraten, zu  lösen. 

Weder  das  kollektivistische  Programm:  „Verstaatlichung  der 
Produktions-,  Verteilungs-  und  Umlaufsmittel"  noch  die  Gesamt- 
theorien Henry  Georges  spielen  als  solche  eine  große  Rolle  in  der 
praktischen  Politik  der  Kolonie.  Aber  man  strebt  doch  in  manchem 
nach  ähnlichen  Zielen,  vor  allem  nach  einem  möglichst  gleich- 
mäßig verteilten  Volkswohlstand,  ohne  sich  an  besondere  Methoden 
oder  Theorien  zu  halten.  Bis  jetzt  hat  Neuseeland  noch  keinen 
Millionär  hervorgebracht  und  wird  es  wohl  auch  nicht  tun.  Die 
Antimonopolbewegung  ist  dafür  zu  stark. 

Man  kann  Neuseeland  im  Vergleich  zu  anderen  Ländern  das 
„Arbeiterparadies"  nennen.  Freilich  nur  sehr  vergleichsweise;  in 
Wirklichkeit  fehlt  daran  noch  viel.  Doch  berechtigen  die  weit- 
gehenden Befugnisse  des  Staates  als  Aufsichts-  und  Kontrollbchörde 
und  die  gesunden  durch  die  Arbeits-  und  Landgesetzgebung  ge- 
gebenen Grundlagen  der  allgemeinen  Entwicklung  zu  dem  Glauben, 
daß  Neuseeland  auf  dem  rechten  Wege  ein  gutes  Stück  voran- 
geschritten ist. 


ArchW  für  Soxialwiitenschaft  u.  Sozialpolitik.  I.    (A.  f.  sox.  G.  u.  St.  XIX.)  3.  40 


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GESETZGEBUNG. 

Die  neuere  Kinderschutzgesetzgebung  in  Deutschland 

und  in  Großbritannien. 

Von 

Prof.  Dr.  STEPHAN  BAUER 

in  Basel. 

In  den  Tagebüchern  Lord  Shaftesburys  ist  ein  merkwürdiges 
Gespräch  des  großen  Sozialreformers  mit  König  Friedrich  Wil- 
helm IV.  von  Preußen  vom  Januar  1842  verzeichnet  „Welche 
Aussichten  haben  Sic,"  fragte  ihn  der  König,  „Ihr  Fabrikgesetz  im 
Parlamente  durchzubringen  ?"  „Keine  Aussicht,  Sire,"  erwiderte  Lord 
Shaftesbury,  „nicht  die  geringste.  Der  Premierminister  hat  mir  heute 
geschrieben,  er  werde  mir  opponieren."  „Indeed,"  sagte  der  König; 
dann  nach  einer  Pause:  „Wir  haben  das  Gesetz  für  Sie  in  Preußen 
gemacht."  „Ja,  Sire,  ich  weiß  es  und  tausend  und  zehntausend 
Herzen  segnen  dafür  Eure  Majestät."  Darauf  der  König:  „Ich  habe 
das  Gesetz  nicht  erlassen;  es  ging  von  unseren  Kaufleutcn  und 
Fabrikanten  aus,  ich  habe  es  nicht  veranlaßt."  „Nein,  Sire,  es  war 
das  Werk  des  Vaters  Euer  Majestät."  „Ja,  alles  Große  und  Gute 
in  Preußen  ist  das  Werk  meines  Vaters."  Damit  schloß  das  Ge- 
spräch. x) 

Die  preußische  Gesetzgebung  von  1839  war  m  der  Tat  über 
ihr  englisches  Vorbild  von  1833  in  mancher  Hinsicht  hinaus- 
gegangen. Bezog  sich  Lord  Althorps  Act  nur  auf  Baumwoll-  und 
Wollwarenfabrikcn,  so  schützte  das  preußische  Regulativ  die  Ar- 


»)  E.  H  od  der:  The  Life  and  the  Work  of  the  seventh  Earl  of  Shaftesbury, 
K.  G.  1886,  vol.  I,  p.  401. 


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St.  Bauer,  Kinderschutzgesctzgebung  in  Deutschland  und  Großbritannien.  617 

beiter  in  allen  Fabriken,  Berg-  und  Hüttenwerken ;  es  stellte  ferner 
den  Grundsatz  auf,  daß  der  obligatorische  Elementarschulunterricht 
unter  der  Fabrikarbeit  nicht  leiden  dürfe.  Das  englische  Gesetz 
verlangte  dagegen  zwar  täglich  zwei  Stunden  Unterricht  für  die 
Arbeiterkinder,  traf  aber  für  die  Erteilung  des  Schulunterrichtes 
keinerlei  Anstalten.  In  der  Tat  war  nach  den  Aussagen  der  In- 
spektoren dieser  Schulzwang  „ein  Hohn  auf  jeden  Unterricht". l) 

Ein  Fabrikschulmeister  stellte  zumeist  Zeugnisse  über  die  Prä- 
senz der  Kinder  aus,  die  in  Wirklichkeit  in  der  Fabrik  gearbeitet 
hatten.  Wo  solche  Betriebsschulen  nicht  eingerichtet  waren,  konnten 
die  Kinder  in  die  National  Schools,  oder  in  jene  der  British  and 
Foreign  School  Society  nicht  geschickt  werden,  da  diese  nicht  vor 
9  Uhr  morgens  begannen  und  vor  5  Uhr  nachmittags  schlössen. 
Gänzlich  ungeschützt  und  ausgebeutet  waren  Kinder  in  Seiden* 
und  Spitzenfabriken. 

Das  britische  wie  das  preußische  Gesetz  ließ  die  Fabriksarbeit 
nach  vollendetem  9.  Lebensjahre  zu.  Für  die  9— 13  jährigen  führte 
das  englische  Gesetz  einen  Maximalarbeitstag  von  9  Stunden  täg- 
lich, 48  Stunden  in  der  Woche  ein.  Für  die  13 — 1 8  jährigen  galt 
der  Zwölfstundentag.  Das  preußische  Regulativ  fuhrt  dagegen  den 
von  Shaftesbury  so  energisch  verfochtenen  Zehnstundentag  für  die 
Jugendlichen  ein,  ist  also  für  die  13 — 16  jährigen  Arbeiter  günstiger 
als  das  englische  Vorbild. 

Beide  Gesetze  verbieten  die  Nachtarbeit  der  Jugendlichen ;  das 
Verbot  erstreckt  sich  allerdings  in  England  bis  zum  18.,  in  Preußen 
bis  zum  16.  Lebensjahre  und  die  Dauer  der  Nachtruhe  beträgt  hier 
acht,  dort  neun  Stunden.  Aber  im  ganzen  genommen  hätte  eine 
Ausdehnung  des  Zehnstundentages  nach  der  damaligen  Rechtslage 
in  Preußen  näher  gelegen  als  in  England.  Dennoch  hat  im  Jahre 
1847  England  diesen  Fortschritt  vollzogen,  der  im  Deutschen  Reiche 
noch  heute  der  Vollendung  harrt. 

Inzwischen  sind  in  Großbritannien  die  Wirkungen  der  fünfzig- 
jährigen Kinderschutzgesctzgebung  immer  deutlicher  geworden.  Vor 
allem  hat  die  Gesetzgebung  auf  den  Altersaufbau  der  Fabrik- 
bevölkerung einen  eingreifenden  Einfluß  ausgeübt.  In  Großbritannien 
betrug  in  den  Textilfabrikcn  der  Anteil  der  Arbeiter  im  Alter  von 
weniger  als  13  Jahren  im  Jahre  1835:  13;  1885:9;  1895  jener  der 


*)  Report  from  the  sclect  Commiltee  on  the  act  for  the  regulation  of  Mills 
and  Factories  18.  February  1841,  p.  12. 

40* 


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Gesetzgebung. 


weniger  als  14jährigen:  5,2  vom  Hundert  aller  Arbeiter.1)  Es  stieg 
sodann  in  England  die  Relativzahl  der  erwachsenen  Männer;  kon- 
stant blieb  seit  1847  jene  der  männlichen  Jugendlichen.  Im  Deutschen 
Reiche  ging  in  der  gesamten  Fabriksindustrie  die  Vertretung  der 
Kinderarbeit  von  1890,  wo  ihre  Zahl  27485  betrug,  auf  8077  im 
Jahre  1902  herab.  In  der  Textilindustrie  beträgt  ihr  Anteil  in  den 
Fabriken  nur  drei  Zehntel  vom  Hundert  aller  Arbeiter.2) 

Zugleich  ist  nun  zwar  die  Fabrikbevölkerung  ein  immer  erheb- 
licherer Anteil  der  gesamten  gewerblichen  Arbeiterschaft  geworden ; 
diese  selbst  umfaßt  aber  infolge  der  Abnahme  der  landwirtschaft- 
lichen Bevölkerung  einen  stärkeren  Bruchteil  der  gesamten  Berufs- 
tätigen als  früher.  Man  hat  daher  leicht  übersehen  können,  daß 
neben  der  geschützten  und  gesetzlich  verbotenen  für  eine  unge- 
schützte  und  gefährliche  Kinderarbeit  im  Erwerbsleben  reichlich 
Platz  sei. 

Zwar  haben  schon  die  Gegner  der  ersten  Schutzgesetze  in 
England  darauf  hingewiesen,  daß  nicht  in  den  Fabriken  die  ärgste 
Kinderausnützung  stattfinde.  Man  konnte  ihnen  aber  damals  er- 
widern, daß  innerhalb  der  neuen  Fabriken  die  Kinderarbeit  in 
einem  der  letzten  Generation  unbekannten  Maße  vertreten  sei. 
So  führt  der  Bericht  Dr.  Mitchells  vom  Jahre  1834:  19690  Baum- 
wollindustriearbeiter auf,  von  welchen  über  ein  Drittel  weniger  als 
16  Jahre  alt  war.  Kaum  ein  Drittel  war  über  21  jährig  und 
daraus  schloß  man,  daß,  wenn  die  Gesetzgebung  im  Interesse  der 
Jugendlichen  eingreife,  sie  von  selbst  auch  die  Arbeitsbedingungen 
für  die  Erwachsenen  regle.8) 

Dazu  kam  die  Beobachtung  des  ruinösen  Einflusses  ununter- 
brochener Arbeit  der  Kinder  in  feuchten,  selten  gelüfteten  Fabrik- 
lokalen. Von  je  350  jugendlichen  Arbeitern  in  Lancashire,  die 
Dr.  Hawkins  untersuchte,  waren  nur  143  gesund,  während  von  je 
350  in  anderen  Berufen  tätigen  Jugendlichen  241  hygienisch  nicht 
zu  beanstanden  waren. 4) 

Bis  zum  Gesetze  von  1844  zum  Schutze  der  Jugendlichen  ist 

*)  George  H.  Wood,  Factory  Legislation,  Journal  R.  Statistical  Society,  1902. 

»)  Jahresberichte  der  Gcwerbeaufsichtsbeamten  und  Bergbehörden  für  das  Jahr 
1902.    Bd.  IV,  S.  80. 

*)  Factorics  Inquiry.  Supplementary  Report  from  Commissioners,  pari  1, 
March  1834,  p.  38. 

*)  Factories  Inquiry  Commission.    Second  Report,  15.  July  1833,  D.  3,  p.  2. 


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St.  Bauer,  Kinderschutzgesetzgebung  in  Deutschland  und  Großbritannien.  619 

nach  allen  Berichten  die  Hygiene  der  Fabrikskinder  eine  schlechtere 
gewesen  als  jene  in  anderen  Berufen,  ja  selbst  als  die  der  in  der 
Heimarbeit  beschäftigten  Kinder.  So  ergab  sich  denn  die  größte 
Dringlichkeit,  nicht  nur  die  leichtere  Durchführbarkeit  des  Fabriks- 
kinderschutzes als  Konsequenz. 

Durch  das  Werkstättengesetz  von  1867  wurde  der  Kinderschutz 
formell  und  durch  Übertragung  der  Inspektion  der  Werkstätten  an 
die  staatliche  Inspektion  seit  1870  faktisch  im  Kleingewerbe  ein- 
geführt. Für  die  8— 13  jährigen  wurde  eine  tägliche  Maximal- 
arbeitszeit von  6V2  Stunden  und  wöchentlich  10  Stunden  Schul- 
unterricht, zusammen  49  Stunden  vorgeschrieben.  Hierzu  kamen 
besondere  Vorschriften,  die  den  Kinderschutz  in  besonderen  Be- 
schäftigungen regelten.  Wie  dringend  es  z.  B.  in  der  Bäckerei  war, 
schützend  vorzugehen,  bewies  die  Tatsache,  daß  Kinder,  welchen 
die  Ärzte  die  Zulassung  in  Fabriken  verweigerten,  in  den  Bäcke- 
reien Aufnahme  fanden,  wo  sie  ununterbrochen  durch  16  Stunden 
arbeiteten.  Der  Arbeiterwitz  nannte  das:  „die  Kinder  zur  Reife 
ins  Treibhaus  schicken". ') 

Dagegen  wollte  man  von  einer  Ausdehnung  des  Kinderschutzes 
auf  Berufe,  die  nicht  in  geschlossenen  Räumen  betrieben  wurden 
(out-door  employments)  nichts  wissen.  Im  Kaminfegergewerbe 
hatte  man  allerdings  bereits  das  Zulassungsalter  auf  21  Jahre  fest- 
gesetzt und  die  Konzessionierungspflicht  den  Meistern  auferlegt 
(1834,  1840,  1864,  1875).  Vom  Straßenhandel  und  der  Verwendung 
auf  Kanalschiffen  hoffte  man  den  Zuzug  von  Kindern  durch  das 
neue  Schulgesetz  abzulenken.  In  der  Landwirtschaft  hatte  bereits 
die  Kinderschutzenquete  von  1862 — 1867  die  Mißstände  langer 
Arbeitszeiten  und  der  Ausnützung  durch  Gangmeister  aufgedeckt; 
es  folgte  ihr  die  Konzessionierung  der  Gangmeister  und  das  Verbot 
der  Beschäftigung  von  Kindern  unter  8  Jahren  durch  die  Agricultural 
Gangs  Acts  1867.  Diesem  Gesetze  folgte  das  Kinderschutzgesetz  für 
die  Landwirtschaft  (Agricultural  Children  Act)  von  1873,  das  durch 
das  Schulgesetz  (Elementary  Education  Act)  von  1876  aufgehoben 
wurde.  Das  Gesetz  dehnte  das  Zulassungsalter  von  acht  Jahren, 
das  früher  nur  für  die  von  Gangmeistern  angeworbenen  Kinder 
galt,  auf  alle  Kinder  aus,  die  nicht  von  ihren  eigenen  Eltern  oder 
auf  dem  elterlichen  Grundstück  verwendet  wurden,  und  erhöhte  das 
Zulassungsalter  für  die  im  Gangsystem  verwendeten  Kinder  auf 


*)  Factory  and  Workshops  Act  Comraission.    Report  Vol.  I,  p.  XVII,  1876. 


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620 


Gesetzgebung. 


zehn  Jahre.  Kinder  von  zehn  bis  zwölf  Jahren  sollten  vor  ihrer 
Verwendung  in  der  Landwirtschaft  sich  über  ein  bestimmtes  Bildungs- 
minimum ausweisen.  Dieses  Gesetz  erwies  sich  als  undurchführbar; 
man  war  außerstande,  die  Inspektion  mit  dieser  Aufgabe  zu  be- 
lasten und  erhoffte  auch  hier  alles  von  der  Schule. 

Was  nun  die  ungeschützte  Arbeit  der  Kinder  in  geschlossenen 
Räumen  betrifft,  so  erhoffte  man  im  Handelsgewerbe  alles  von  den 
freien  Vereinbarungen  mit  den  Prinzipalen  und  von  der  Frühladen  - 
Schlußbewegung;  in  diesem  Sinne  war  die  National  Early  Closing 
League  tätig.  In  der  Heimarbeit,  sofern  nur  die  Wohnungsinsassen 
beschäftigt  werden,  erklärte  man  nichts  vorkehren  zu  können  und 
der  Handhabung  der  Sanitätsgesetze  durch  die  Gesundheitsbehörden 
alles  überlassen  zu  müssen. 

Indessen  blieb  trotz  der  Schulgesetze  die  Tatsache  bestehen, 
daß  selbst  Kinder,  die  in  geschützten  Betrieben  verwendet  wurden, 
nach  der  Fabriksarbeit  zu  ungeschützter  Lohnarbeit  verwendet 
werden  konnten.  Diese  Lohnarbeit  fand  hie  und  da  selbst  in 
lebensgefährlichen  Berufen  statt  und  fiel  hier  zuerst  ins  Auge.  Das 
Zulassungsalter  für  Kinder  bei  öffentlichen  Schaustellungen  oder 
Produktionen,  die  von  Hause  aus  Leben  oder  Gesundheit  gefährden 
können,  wurde  durch  die  Children's  Dangerous  Performances  Act 
1879  auf  14  Jahre  und  durch  die  Dangerous  Performances  Act  1897 
auf  16  Jahre  für  männliche  und  auf  18  Jahre  für  weibliche  Per- 
sonen erhöht.  •» 

Indessen  war  man  auf  die  Zunahme  der  Kinderarbeit  im  De- 
tailhandel, in  Gastwirtschaften  und  im  Straßenhandel  aufmerksam 
geworden.  Die  Shops  Hours  Regulation  Acts  1886  sowie  jene 
von  1892 — 1895  schrieben  für  Personen  unter  18  Jahren,  welche  in 
I^äden,  Märkten,  Buden,  Warenhäusern,  Wirtshäusern  und  sonstigen 
Erquickungsgewerben  gegen  Lohn  beschäftigt  werden,  eine  Maximal- 
arbeitszeit  von  74  Stunden  in  der  Woche  mit  Einschluß  der  Mahl- 
zeiten vor.  Die  eigenen  Kinder  und  Familienmitglieder  sowie  das 
häusliche  Gesinde  wurden  von  diesem  Schutze  ausgenommen. 

Die  Zunahme  der  in  die  Form  des  Straßenhandels  oder 
des  Straßensängertums  sich  hüllenden  Kinderbettelei,  der  Kinder- 
bedienung in  Kneipen,  der  Verwendung  von  Kindern  in  Theatern 
und  Varietes,  die  Fälle  der  Mißhandlung  solcher  Kinder  durch 
brutale  Arbeitgeber  und  ihrer  Vernachlässigung  durch  die  Eltern 
führte  zu  den  Prcvention  of  Cruelty  to  Children  Acts  von  1889  und 
1894.    Sie  verbieten  bei  Strafe  der  die  Kinder  dazu  veranlassenden 


Di 


St.  Bauer,  KinderschuUgesetigebung  in  Deutschland  und  Großbritannien.    62 1 

Personen  Knaben  unter  14,  Mädchen  unter  16  Jahren  den  ver- 
steckten Straßenbettel,  den  Aufenthalt  in  Gastwirtschaften,  in  denen 
geistige  Getränke  verabreicht  werden,  die  aktive  Teilnahme  an 
Theatervorstellungen  zwischen  9  Uhr  abends  und  6  Uhr  morgens 
und  allen  noch  nicht  16jährigen  Kindern  die  Ausbildung  als 
Akrobaten,  Schlangenmenschen,  Zirkusleute  oder  ihre  Verwendung 
bei  anderen  von  Natur  gefahrlichen  Schaustellungen.  Doch  ge- 
stattete das  Gesetz  von  Fall  zu  Fall  gegen  Konzession  der  Ver- 
waltungsbehörde (der  Schulbehörde  in  Schottland)  Kinder  im  Alter 
von  mehr  als  7  Jahren  in  Theatern  oder  Zirkussen  bei  ungefähr- 
lichen Produktionen  zu  verwenden  (Art.  3). 

Alle  diese  Maßregeln  milderten  wohl  die  augenfälligsten  Schäden 
der  ungeschützten  Kinderarbeit,  konnten  aber  ihrer  Zunahme  keinen 
Einhalt  gebieten.  Um  die  Mitte  der  neunziger  Jahre  begann  man 
daher  in  den  Kreisen  der  Lehrerschaft  systematisch  die  Kinder- 
lohnarbeit zu  beobachten. 

Der  Erziehungsausschuß  des  Womens  Industrial  Council  pflog 
Erhebungen,  deren  Ergebnisse  im  August  1897  in  der  Nineteenth 
Century  von  Mrs.  Hoggs  veröffentlicht  wurden.  Im  folgenden  Jahre 
setzte  dieser  Verein  ein  eigenes  Committee  on  Wage-Earning  Children 
ein,  das  sich  zunächst  an  das  Erziehungsamt  mit  der  Bitte  um 
Veranstaltung  von  Erhebungen  über  Beschäftigung,  Zahl,  Alter, 
Arbeitszeit  und  Entlohnung  der  gewerbetätigen  schulpflichtigen 
Kinder  wandte. 

Diese  Enquete  war  unvollständig;  schlüssig  ist  sie  wohl 
nur  für  London,  wo  von  425000  über  7jährigen  Schulkindern 
30  800,  also  über  7  Prozent,  vor  oder  nach  der  Schule  in  Fabriken 
oder  Werkstätten  gegen  Entgelt  beschäftigt  waren.  Hiervon  waren 
12  130  Kinder,  fast  3  Proz.  also,  über  20  Stunden  wöchentlich  be- 
schäftigt; für  rund  40000  Schulkinder  in  England  wurde  diese 
Dauer  der  Beschäftigung  nachgewiesen;  in  3000  Fällen  wurde 
sogar  mehr  als  40  Stunden  hindurch  gearbeitet. l)  Angesichts 
dieser  zwar  unvollständigen,  aber  überraschenden  Tatsachen  setzten 
das  Home  Office,  das  Erziehungs-  und  das  Handelsamt  gemeinsam 
eine  Regierungskommission  ein,  welche  über  die  Beschäftigung 
schulpflichtiger  Kinder,  über  die  bestehenden  Kinderschutz-  und 
Schulgesetze  und  deren  Vollzug  Bericht  erstatten  sollte.  Die 
Kommission  vernahm   vom    13.  Februar  bis  22.  Juli  1901  128 


')  Elementary  Scbools  (Children  Working  for  Wages).  1899. 


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622 


Gesetzgebung. 


Zeugen,  insbesondere  Lehrer,  und  erstattete  am  25.  November  1901 
ihren  Schlußbericht.1) 

Das  Ergebnis  dieser  Enquete  ist  sehr  bemerkenswert ;  von  etwa 
585000  schulpflichtigen  Kindern  im  Alter  von  13— 14  Jahren  waren 
nur  208000  in  die  Schulregister  eingetragen.    Die  Enquete  wies 
150000  schulpflichtige  Kinder  aus,  die  in  Fabriken  oder  Werk- 
stätten Vollzeit,  und  103978,  welche  Halbzeit  arbeiten.    Da  die 
Gesamtheit  aller  Schulkinder  3V9  Millionen  betrug,  konnte  man  die 
Vollzeit  arbeitenden  und  daneben  noch  berufstätigen  Schulkinder  auf 
4  Proz.  veranschlagen.    In  London  stieg  ihre  Zahl  auf  6lj9  Proz.; 
in  Liverpool  auf  7  */«  Proz.;  Spezialerhebungen  ergaben,  daß  die 
offiziellen  Ziffern  um  fast  2  Proz.  unter  der  Wirklichkeit  geblieben 
waren.    Die  Enquetekommission  schätzt  aber  die  Zahl  der  Kinder, 
um  welche  es  sich  handelt,  auf  300000.    Die  Feststellungen  der 
Arbeitszeit   ergaben  ähnliche  Differenzen;  an  Samstagen  kamen 
Fälle  von   13 — I7stündiger  Arbeit  vor;  endlich  wurden  einzelne 
Fälle  excessiver  Arbeit  bei  häuslichen  Diensten,  sowie  beim  Aus- 
tragen von  Zeitungen  festgestellt. 

Nach  Erwerbszweigen  und  Betriebsformen  ergab  sich  für  die 
Beschäftigung  von  Kindern  in  Großbritannien  das  folgende  Bild: 

1.  In  den  Fabriken  und  Wer  ks  tätten  beträgt  das  Zulassungs- 
alter 12  Jahre  für  die  Halbzeit,  13  Jahre  für  die  Vollzeit  arbeitenden 
Kinder.  Die  Halbzeitarbeit  (nur  am  Vormittage,  nur  an  Nach- 
mittagen, oder  nur  jeden  zweiten  Tag)  beträgt  in  Textilfabriken 
27%,  in  anderen  Fabriken  und  in  Werkstätten  30  Stunden  in  der 
Woche;  dazu  kommen  13 — 1 4  Schulstunden.  Im  Jahre  1898  betrug 
die  Zahl  der  Halbzeitarbeiter  in  Fabriken  41 000,  in  Werkstätten 
gegen  2000.  Im  Jahre  1889  hatte  sie  noch  82000  in  Fabriken 
betragen.  Die  Zahl  der  13— 14  jährigen  Vollarbeiter  in  den  Fabriken 
betrug  50059. 

2.  In  die  gewerbliche  Heimarbeit  hat  die  Gesetzgebung  auch 
insoweit  regelnd  eingegriffen  (Factory  Act  1901,  Section  Iii,  115), 
als  es  sich  um  Familienbetriebe,  domestic  factories  and  Workshops, 
handelt 

Darunter  versteht  das  Gesetz  nichtmotorische  Betriebe,  die  in 
Räumen,  die  als  Wohnung  dienen,  von  Mitgliedern  der  dort 
wohnenden  Familie  betrieben  werden.    Die  Arbeitszeit  für  Kinder, 


l)  Employment  of  School  Children  Committce.    Minutes  of  Evidence  taken 
before  the  Inter-Departmental  Committce  on  Employment  of  School  Children.  190a. 


Bauer,  Kinderschutzgesetzgebung  in  Deutschland  und  Großbritannien.  623 

darf  nur  von  6  Uhr  morgens  bis  1  Uhr  nachmittags  oder  von  1  Uhr 
bis  8  Uhr  abends  (Samstags  bis  4  Uhr  nachmittags)  dauern;  nach 
5  stündiger  Arbeit  muß  eine  halbstündige  Mahlzeitspause  eintreten. 
Das  Gesetz  beschränkt  also  hier  die  Kinderarbeit  auf  39  Stunden 
in  der  Woche.  Sie  ist  unbeschränkt  in  der  Strohflechterei,  Polsterei, 
Handschuhmacherei  und  der  Fertigstellung  von  Waren  für  den  Ver- 
kauf; ebenso  treten  für  unregelmäßige  Nebenarbeit  der  Kinder  die 
Schutzbestimmungen  außer  Kraft.  Inspektoren  wie  private  Beob- 
achter sind  über  den  geringen  Wert  dieser  Vorschriften  einig.1) 

In  England  scheint  allerdings  außer  in  den  kleinen  dem  Gesetze 
nicht  unterworfenen  Wäschereien  die  Zahl  der  Kinder  in  der  Heim- 
arbeit gering  zu  sein;  es  gehören  aber  die  Fälle  der  schwersten 
Überarbeitung  der  Kinder  hierher. 

3.  Die  Zahl  der  schulpflichtigen,  erwerbstätigen  Kinder  in 
Bergwerken  und  Brüchen  ist  ganz  unbedeutend, 

4.  dagegen  ist  über  die  Hälfte  dieser  Kinder  (über  iooooo)  in 
Handelsbetrieben  tätig.  Etwa  40000  sind  Zeitungsausträger, 
der  Rest  trägt  in  die  Häuser  der  Kunden  Milch,  Kohle,  Petroleum, 
Kram  waren,  oft  in  großen  Quantitäten  und  zwar  durch  2 — 3  Stunden 
vor  und  2  Stunden  nach  Schluß  der  Schule.  Am  langwierigsten 
und  moralisch  am  verderblichsten  ist  die  Beschäftigung  in  Barbier- 
stuben, die  in  den  armen  Quartieren  hier  und  da  als  Spielhöllen 
fungieren. 

5.  Gegen  50000  Kinder  finden  als  häusliche  Aushilfen 
(beim  Messer-  und  Schuhereinigen,  Kohlentragen)  gegen  Lohn  Be- 
schäftigung. Den  schwersten  Arbeiten  waren  nach  den  Erhebungen 
aber  Kinder  ausgesetzt,  die  bei  den  eigenen  Eltern  solche  Arbeit 
verrichteten;  niemand  konnte  dagegen  eine  Abhilfe  finden. 

6.  In  der  Land  Wirtschaft  konstatierte  man  nur  6  115  Voll- 
zeit arbeitende  und  zugleich  schulpflichtige  Kinder;  mit  den  Halb- 
zeit arbeitenden  Kindern  zusammen  steigt  aber  ihre  Ziffer  auf  etwa 
40000 — 50000.  Aus  der  Enquete  ging  hervor,  daß  mit  Ausnahme 
des  Steinabsammelns  und  Jätens  im  Akkord  die  landwirtschaftliche 
Arbeit  keine  ungesunde  sei;  daß  bei  der  Hopfenernte  die  Arbeits- 
zeit eine  zu  lange,  aber  keine  übermäßige,  daß  auch  ihre  Wirkung 
auf  den  Charakter  der  Kinder  eine  gute  sei,  außer  in  denjenigen 
Fällen,  wo  sie  mit  dem  Auswurf  der  Städte  oder  Stromern  zu- 


')  Miss  G.  Tu  ck  well,  The  morc  obvious  defects  in  our  factory  code,  in: 
The  casc  for  the  factory  Acts,  Edited  by  Mrs.  Sidney  Webb  1902,  p.  146. 


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624 


Gesetzgebung. 


sammen  arbeiten.  Schwer  geklagt  wird  dagegen  über  die  Un- 
regelmäßigkeit ihres  Schulbesuches;  es  wird  empfohlen,  die  Dispense 
vom  Schulbesuch  im  Sommer  nur  als  Belohnung  regelmäßiger 
Frequenz  im  Winter  zu  erteilen. 

7.  Im  Straßenhandel  sind  es  weniger  die  von  den  Eltern 
beschäftigten  als  die  auf  eigene  Rechnung  als  Zeitungsjungen,  Zünd- 
hölzchenverkäufer u.  dgl.  tätigen  Kinder,  —  etwa  25000  an  der 
Zahl  —  die  in  den  Zentren  der  Großstädte  den  größten  Ver- 
suchungen ausgesetzt  sind;  die  hygienischen  Bedenken  treten  diesen 
gegenüber  in  den  Hintergrund. 

8.  Etwa  15000  Kinder  werden  gegen  Lohn  als  Treiber,  Golf- 
jungen, zum  Wecken  der  Arbeiter  am  frühen  Morgen,  bei  dem  Zu- 
tragen ihres  Essens,  dem  Milchaustragen  u.  dgl.  verwendet.  Manche 
dieser  Verrichtungen  rauben  den  Kindern  den  Morgenschlaf  und  ihre 
Schulbildung  leidet  darunter. 

Es  handelt  sich  also  im  ganzen  um  etwa  300000  Kinder;  und 
aus  der  Tatsache,  daß  die  unbestritten  günstige  Wirkung  der  Fabrik- 
gesetzgebung diesen  Kindern  nicht  zuteil  wird,  schloß  die  Kom- 
mission, daß  eine  Erweiterung  des  Kinderschutzes  notwendig  sei. 
Selbst  rein  wirtschaftlich  gesprochen,  sei  die  ständige  Arbeit  von 
Ii  —  13jährigen  Kindern  eine  Vergeudung,  denn  ein  Verdienst  von 
zwei  Shillings  in  der  Woche  können  sie  später  selbst  als  unge- 
lernte Arbeiter  in  einigen  Monaten  reichlich  einbringen.  Sie  war 
aber  ebenso  überzeugt,  daß  ganz  mäßige  Beschäftigung  viele  Kinder 
vor  Verwahrlosung  bewahre.  Ein  hervorragender  Pädagoge,  Mr. 
Chilton  Thomas,  erklärt  es  für  geradezu  grausam,  ein  Kind  von 
14  Jahren  nicht  an  physische  Arbeit  zu  gewöhnen,  um  sodann 
von  ihm  ein  volles  Tagewerk  zu  verlangen. 

Der  Kommission  lagen  im  übrigen  Ansätze  zu  einer  Kodifikation 
bereits  vor.  Die  Regelung  der  Kinderarbeit  in  England  war  auf  dem  Ge- 
biete des  Straßenhandels  bereits  zum  Teil  erfolgt.  Der  Chefinspektor 
der  Zwangserziehungsanstalten  hatte  schon  in  seinem  Jahresbericht 
von  1896  (p.  51 — 54)  auf  die  Verkommenheit  der  häuslichen  Ver- 
hältnisse der  meisten  Straßenkinder  in  Liverpool  hingewiesen,  die, 
kaum  entlassen,  immer  wieder  in  die  Anstalt  zurückkehrten.  Die 
Hälfte  dieser  Kinder  waren  Mädchen.  Die  Knaben  frönten  dem 
Spiel.  Für  manche  Mädchen  gab  der  Straßenhandel  den  Vorwand 
für  Diebstahl,  Prostitution  und  Erpressungen  ab.  Eine  eigene  von 
der  Polizei  unterstützte  Vereinigung  zur  Bekleidung  der  Straßen- 
kinder wurde  gegründet;  sie  hatte  in  5  Jahren  in  10500  Fällen 


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St.  Bauer,  Kindersehutzgcsetzgebung  in  Deutschland  und  Großbritannien.  625 

einzuschreiten;  viele  Kinder  weigerten  sich,  Kleider  anzunehmen, 
„weil  das  Geschäft  darunter  leiden  würde".  Es  wurde  daher  ein 
Subkomitee  von  der  Stadtverwaltung  im  Jahre  1897  eingesetzt,  das 
den  Antrag  stellte,  es  möge  die  Stadt  sich  an  das  Home  Office  um 
Gewährung  zweier  Vollmachten  wenden:  um  Gestattung  der  Kon- 
zessionierung des  Straßenhandels  durch  Kinder,  sowie  um  die  der  Er- 
richtung von  Logierhäusern  für  dieselben.  Der  Staatssekretär  des 
Innern  erklärte  seine  Zustimmung,  da  die  besonderen  Verhältnisse 
Liverpools  außerordentliche  Vollmachten  erheischten.  Es  wurde  aus- 
drücklich erklärt,  daß  die  Verweigerung  der  Konzessionierung  nur 
etwa  dann,  wenn  ein  Kind  die  Annahme  ordentlicher  Kleidung  ver- 
weigere, erfolgen,  dagegen  keine  begünstigte  Klasse  von  Straßen- 
händlern geschaffen  werden  solle.  Die  Bedingungen  der  Konzessionie- 
rung (Tragen  von  Abzeichen,  Bezeichnung  der  Plätze  und  Stunden, 
Bußen)  sollten  der  Genehmigung  des  Staatssekretärs  unterliegen.  Die 
Liverpooler  Corporation  Act  1898  gab  ferner  der  Stadtverwaltung 
die  Befugnis,  die  Wohnungen  der  Eltern  und  Vormünder  der  Kinder 
zu  besuchen,  um  für  ihre  gute  Behandlung  zu  sorgen  und  Logier- 
häuser für  sie  zu  errichten.  Die  genehmigten  Regulative  vom  31.  Mai 
1899  bestimmten,  daß  kein  Kind  unter  II  Jahren  die  Konzession 
erhalten,  und  daß  Knaben  unter  14,  Mädchen  unter  16  Jahren  der 
Konzessionierung  unterliegen  sollten.  Der  Versuch,  diese  Konzes- 
sionierung in  einzelnen  Fällen  von  dem  Wohnen  in  städtischen 
Logierhäusern  abhängig  zu  machen,  schlug  fehl;  die  katholischen 
Mitglieder  des  Stadtrates  verlangten,  es  sollten  Kinder  ihrer  Kon- 
fession nur  in  Logierhäuser  geschickt  werden,  die  unter  Kontrolle 
von  Katholiken  ständen.  Die  Stadtverwaltung  lehnte  es  ab,  in 
jedem  Falle  Nachforschungen  über  die  konfessionelle  Angehörigkeit 
eines  Kindes  vorzunehmen. 

Ähnliche  Bestimmungen  erflossen  in  den  nächsten  Jahren  in 
Huddcrsfield,  Bradford,  Halifax,  Scarborough,  Southport,  Manchester, 
Bolton,  Bury,  Swansea,  Lowestoft.  In  Liverpool  wurden  vom  1.  Juni 
bis  31.  Dezember  1899  1049  Konzessionen  gewährt,  284  verweigert; 
am  31.  Dezember  machten  565  Kinder  von  der  Konzession  Ge- 
brauch; 647  waren  wegen  Übertretung  der  Bedingungen  gebüßt 
worden,  61  Kindern  hatte  man  die  Konzession  entzogen.  Es  wurde 
die  Erhöhung  des  konzessionspflichtigen  Alters  für  Knaben  bis  zu 
16  Jahren  und  die  Erschwerung  der  Konzessionierung  für  Mädchen 
in  Antrag  gebracht. 

Als  die  britische  Kinderschutzkommission  ihren  Schlußbericht 


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626 


Gesetzgebung. 


erstattete,  war  im  Deutschen  Reiche  ein  Gesetz  erflossen,  das,  viel- 
fach auf  den  Ergebnissen  der  britischen  Fabrik-  und  Werkstätten - 
gesetze  von  1891  bis  1901  beruhend,  gleichfalls  die  Regelung  der 
ungeschützten  Kinderarbeit  sich  zum  Ziele  setzte.  Es  ist  dies  das 
Gesetz  betreffend  Kinderarbeit  in  gewerblichen  Betrieben  vom  30.  März 
1903.1)    Es  knüpft  an  eine  ziemlich  bewegte  Vorgeschichte  an. 

In  Preußen,  Sachsen,  Baden  und  in  der  Schweiz  beförderte  die 
Einführung  des  Schulzwanges  die  Notwendigkeit  des  Fabrikkinder- 
schutzes. Sollten  Lehrlingsgesetze  und  Schulmandate  durchgeführt 
werden,  so  mußte  den  Fabrikskindern  und  ihren  Eltern  die  Mög- 
lichkeit ihrer  Befolgung  ermöglicht  werden.  Allerdings  hören  wir 
von  Eltern,  die  ihre  Kinder  nach  zehnstündiger  Arbeitszeit  zweimal 
wöchentlich  in  die  Schule  schicken,  sie  aber  an  den  übrigen  Tagen 
in  der  Wohnung  nach  der  Fabriksarbeit  arbeiten  lassen.4) 

Jedenfalls  waren  es  diese  Motive,  die  dann  in  Preußen  zu  einer 
Verschärfung  des  Fabrikkinderschutzes  im  Jahre  1853  führten. 

In  der  industriellen  Entwicklung  der  nächsten  dreißig  Jahre 
ging  aber  jene  Wandlung  vor  sich,  die  zur  Folge  hatte,  daß  die 
Kinderarbeit  in  der  Heimarbeit  und  in  der  Landwirtschaft  ihren 
früheren  Charakter  einer  leichten  Hilfsarbeit  veränderte  und  daß 
ein  Teil  der  Kinder  in  Berufen  Aufnahme  fand,  in  welchen  sie  bis- 
her nicht  Verwendung  gefunden  hatten.  Hatte  man  beim  Erlasse 
der  älteren  Kinderschutzgesetzgebung  vielfach  geglaubt,  es  könne 
durch  Erschwerung  der  Kinderarbeit  das  Anwachsen  des  Fabrik- 
systems unterbunden  oder  doch  verlangsamt  werden,  so  zeigten  sich 
jetzt  ihre  Schrecken  gerade  in  denjenigen  Gebieten  des  Erwerbs- 
lebens, die  man  gegen  das  Fabriksystem  zu  stärken  gehofft  hatte. 

Dennoch  wurden  die  im  Reichstage  am  14.  Januar  1885  ein- 
gebrachten Anträge  auf  weitere  Beschränkung  der  Kinderarbeit 
(Hertling,  Schorlemer-Alst,  Lieber)  nach  eingehender  Kommissions- 
beratung und  Annahme  durch  den  Reichstag  vom  Bundesrate  188S 
verworfen.8) 

')  Der  Text  des  deutschen  Gesetzes  im  Bulletin  des  internationalen 
Arbeitsamts  Bd.  II  (1903)  S.  1—7,  des  britischen  Gesetzes  S.  375— 380.  Die 
Bibliographie  ist  in  demselben  Bulletin  unter  dem  Stichworte  „Kinderarbeit"  S.  785 
verzeichnet. 

*)  C  a  r  n  o  t ,  Lettre  ä  Mr.  le  Ministre  du  commerce  sur  la  legislation  qui  regle 
dans  quelques  etats  de  l'AUemagne  les  conditions  du  travail  des  jeunes  ouvriers.  1840. 

•)  K.  Agahd,  Kinderarbeit  1902,  S.  14  und  in  diesem  Archiv  Bd.  XII, 
(1898)  S.  419. 


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St.  Bauer,  Kinderschutzgesetzgebung  in  Deutschland  und  Großbritannien.  627 


Insofern  diese  Anträge  auf  weitere  Beschränkung  der  Kinder- 
arbeit sich  auf  Kinder  in  Fabriken  bezogen,  trug  ihnen  dann  die 
Gewerbenovelle  vom  1.  Juni  1 891  Rechnung.  Das  Zulassungsalter 
der  Kinder  wird  durch  sie  (vom  9.  Juli  1900  an  auch  in  motorisch 
betriebenen  Werkstätten)  auf  das  13.  Lebensjahr  angesetzt,  darüber 
hinaus  von  der  Absolvierung  der  Schulpflicht  abhängig  gemacht ;  die 
Beschäftigung  der  Kinder  unter  14  Jahren  wurde  auf  6  Stunden 
beschränkt,  die  Nachtarbeit  (8Va  Uhr  abends  bis  5  Uhr  morgens), 
verboten. 

Der  glänzende  Aufschwung  der  deutschen  Industrie  ist  von  dem 
seither  vollzogenen  Rückgang  der  Kinderarbeit  in  Fabriken  unberührt 
geblieben.  Dagegen  wies  die  Berufszählung  von  1895  nicht  weniger 
als  rund  215000  erwerbstätige  Kinder  unter  14  Jahren  auf,  von 
welchen  über  drei  Fünftel  auf  die  Landwirtschaft,  fast  ein  Fünftel 
(38267)  auf  die  Industrie  entfielen;  der  Rest  stand  zu  überwiegen- 
dem Teile  in  häuslichen  Diensten.  Somit  war  von  sämtlichen  in 
der  Industrie  tätigen  Kindern  nur  etwa  ein  Sechstel  oder  ein  Siebentel 
gesetzlich  geschützt.  Da  aber  eingestandenermaßen  die  von  der 
Berufszählung  für  die  Kinderarbeit  angegebenen  Ziffern  unter  der 
Wirklichkeit  blieben  und  über  den  Grad  der  Inanspruchnahme  der 
kindlichen  Arbeitskraft  keine  Auskunft  gaben,  war  es  geboten,  durch 
Nacherhebungen  diese  Lücken  zunächst  auszufüllen. 

Vorarbeiten  hierfür  waren  bereits  im  Jahre  1894  von  den 
Lehrern  zu  Rixdorf  auf  Anregung  Konrad  Agahds  getroffen 
worden ;  und  die  Geschichte  dieser  Bestrebungen,  die  der  deutschen 
Lehrerschaft  zur  bleibenden  Ehre  gereichen,  ist  in  Agahds  Schriften 
und  namentlich  im  XII.  Bande  dieser  Zeitschrift  nachzulesen. 

Den  Erhebungen  des  deutschen  Lehrervereins  von  1897,  die 
hieran  anknüpften,  und  welche  alle  Erwerbszweige  umfaßten,  folgte 
die  durch  den  Erlaß  des  Reichskanzlers  vom  7.  Dezember  1900 
angeordnete  Erhebung.  Die  Beschäftigung  der  Kinder  in  Land- 
wirtschaft und  Gesindedienst  wurde  bei  dieser  Erhebung  nicht 
weiter  verfolgt.  Dagegen  ergab  sich  eine  Gesamtziffer  von  306  823 
in  der  Industrie  tätigen  Kinder  und  im  ganzen  von  532283  er- 
werbstätigen Kinder.  Dazu  kommen  noch  rund  140000  Kinder, 
die  nach  Angaben  der  Berufszählung  von  1895  im  Gesindedienst 
oder  in  der  Landwirtschaft  beschäftigt  sind,  also  zusammen  rund 
70OOOO  Schulkinder,  die  zugleich  erwerbstätig  sind. 

Vergleicht  man  nun  die  Erhebungen  in  Großbritannien  und  in 
Deutschland  über  den  Umfang  der  ungeschützten  Kinderarbeit,  so 


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628 


Gesetzgebung. 


erhellt  aus  ihnen,  daß  in  beiden  Ländern  die  Aufgaben  der  Gesetz- 
gebung verschiedene  sein  müssen.    Die  Gesamtziffer  von  300000 
lohnarbeitenden  Kindern  ist  in  England  geringer  als  die  der  un- 
geschützten in  Deutschland,  die  rund  700000  beträgt;  da  aber  die 
gesamte  hauptberufstätige  Bevölkerung  hier  im  Jahre  1895  rund 
23  Millionen,  in  England  und  Wales  (ohne  Schottland)  dagegen 
1 3  Millionen  Personen  betrug,  ist  diese  Differenz  von  relativ  geringer 
Bedeutung.    Der  Anteil  der  lohnarbeitenden  Kinder  an  der  Er- 
werbstätigkeit des  Volkes  ist  hier  wie  dort  fast  derselbe.  Aber 
die  Art  dieser  Erwerbstätigkeit  ist  eine  verschiedene.    In  Deutsch- 
land sind  rund  drei  Siebentel  dieser  Kinder  in  der  Industrie  tätig; 
in  England  ist  es  nur  rund  ein  Fünftel.    Ein  ganz  geringfügiger 
Anteil  der  Kinder  ist  in  Deutschland  nach  der  Berufszählung  mit 
häuslichen  Diensten  beschäftigt;  in  England  ist  es  ein  Sechstel. 
Nur  etwas  über  zwei  Siebentel  aller  erwerbstätigen  Kinder  sind  in 
Deutschland  in  Handel,  Verkehr,  Gast-  und  Schankwirtschaften  mit 
Austrage-  und  Laufdiensten  beschäftigt ;  in  England  ist  es  über  die 
Hälfte   der  erwerbstätigen    Kinder.     In  beiden  Ländern  scheint 
endlich  rund  ein  Sechstel  dieser  Kinder  in  der  Landwirtschaft  tätig 
zu  sein. 

Das  Land  des  älteren  Kinderschutzes  hat  jedenfalls  den  Vorteil 
errungen,  daß  seine  Kinder  in  physisch  weniger  anstrengenden  Be- 
rufen tätig  sind,  als  im  Lande  des  jüngeren  Industrialismus  und 
Arbeiterschutzes. 

Das  gilt  selbst  von  der  Verteilung  der  Kinder  auf  Fabriksindustrie 
und  Heimarbeit.  In  England  schätzt  man  die  Zahl  der  Kinder  in 
der  Hausindustrie  auf  15000  unter  60000  industrietätigen  Kindern. 
Dagegen  sind  83  Proz.  der  in  der  deutschen  Industrie  nachgewiesenen 
Kinder  in  vorwiegend  hausindustriellen  Erwerbszweigen  tätig. 

Ein  Vergleich  beider  Enqueten  zeigt  ferner,  daß  in  England 
aus  dieser  Verschiedenheit  vorwiegend  Mißstände  moralischer,  wirt- 
schaftlicher und  erziehlicher  Natur  hervorgehen.  In  Deutschland 
überwiegt  die  Gefahrdung  der  Gesundheit  durch  Überarbeitung  und 
Verwendung  in  gesundheitsschädlichen  Betrieben. 

In  beiden  Ländern  haben  endlich  die  Mißstände  der  Heimarbeit 
dazu  geführt,  daß  mit  dem  in  der  Gewerbeordnung  und  in  früheren 
Fabrikgesetzen  noch  gewahrten  Grundsatze  der  Nichteinmischung 
in  den  häuslichen  Familienbetrieb  gebrochen  werden  mußte.  Die 
Erfahrung,  daß  die  Not  des  Erwerbes  auch  Eltern  zur  Ausnützung 
der  Kinder  im  eigenen  Heime  treibt,  hat  zum  Abbruch  dieser  letzten 


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St  Bauer,  Kinderschutzgesctzgebung  in  Deutschland  und  Großbritannien. 


Bastion  der  „Arbeitsfreiheit"  geführt.  Denn  je  stärker  sich  die 
Gesetzgebung  gezwungen  sieht,  in  die  Arbeitsverhältnisse  der  kleinen 
Werkstätten  einzugreifen,  desto  größer  ist  in  gewissen  Industrien 
die  Tendenz  zur  Auflösung  dieser  Zwergwerkstätten  in  Familien- 
betriebe. Gegenwärtig  scheint  in  manchen  Hausindustrien  der  Fa- 
milienbetrieb bereits  völlig  zu  überwiegen.  Es  ist  selbst  von  der 
Handelskammer  zu  Sonneberg  bekannt  worden:  „abgesehen  von 
202  Kindern  seien  sämtliche  obengenannte  Kinder  (5106)  in  den 
Arbeitsstätten  der  eigenen  Eltern  beschäftigt;  damit  stimme  es 
überein,  daß  die  Lehrer  nichts  von  Beschwerden  über  fremde  Ar- 
beitgeber, dagegen  sehr  viel  von  übermäßiger  Inanspruchnahme 
der  kindlichen  Arbeitskraft  durch  die  eigenen  Eltern  zu  berichten 
hätten."  ») 

Welche  Wirkungen  hat  nun  in  beiden  Ländern  die  Schutz- 
losigkeit  erwerbstätiger  Kinder  hervorgebracht? 

Vor  allem  werden  die  Bildungsziele  der  Schule  nur  mangelhaft 
oder  gar  nicht  erreicht.  Dies  war  in  England  in  ungeschützten 
Betrieben  um  so  mehr  der  Fall,  als  wenigstens  eine  formale  Kontrolle 
des  Schulbesuches  nur  den  Arbeitgebern  in  Fabriken  und  Werk- 
stätten bei  Buße  vorgeschrieben  ist.  In  allen  übrigen  Betrieben 
hatte  der  Arbeitgeber  eines  Kindes  nur  ein  für  allemal  sich  davon 
zu  überzeugen,  daß  das  Kind  den  teilweisen  Dispens  vom  Schul- 
besuche erhalten  habe.2) 

Die  deutsche  Lehrerenquete  zeigt  wieder,  daß  40 — 70  Proz. 
der  erwerbstätigen  Schüler  in  Industriebezirken  unternormale  Lehrer- 
ergebnisse aufwiesen.  Diese  Kinder  sind  träge,  schläfrig,  teilnahms- 
los. Daran  mag  ja  zum  Teile  auch  unser  Schulbetrieb  selbst  Schuld 
tragen,  der  nach  der  Anschauung  hervorragender  Physiologen  zu 
Ermüdungsnarkosen  führt,  welche  die  Schüler  unfähig  machen,  ihre 
natürlichen  Kräfte  zur  Erfassung  des  Unterrichtsstoffes  auszunutzen.8) 

Ob  aber  diese  Monotonie  des  Schulbetriebes  durch  starke 
körperliche  Anstrengungen  mit  Vorteil  unterbrochen  würde,  ist  noch, 
nicht  klargestellt  und  wird  von  denselben  Physiologen  stark  an- 
gezweifelt. Man  verweist  zwar  in  England  auf  die  Vorzüge  des 
gewerblichen  Vorunterrichtes,  die  namentlich  in  den  schwedischen 


M  K.  Agahd:  Kinderarbeit  und  Kinderschutz,  1902,  S.  120. 
*)  Education  Departement.    Report  of  Departmental  Coramittee  appointed  to 
inquire  into  Conditions  of  School  Attendance  and  Child  Labour  1893  p.  26. 
J)  E.  Kraepelin,  Cber  geistige  Arbeit    Jena  1903,  S.  17. 


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■63O  Gesetzgebung. 

Kinderwerkstätten  (Arbeitsstugor  fbr  Barn)  hervorgetreten  seien.1} 
Es  unterliegt  aber  keinem  Zweifel,  daß  die  Erwerbstätigkeit 
im  Straßenhandel  den  Widerwillen  gegen  die  Schuldisziplin  nicht 
minder  erhöht  wie  die  übermäßige  gewerbliche  Kinderarbeit  die 
Aufnahmsfahigkeit  der  Kinder  beim  Unterricht  untergräbt. 

Inwiefern  die  Erwerbstätigkeit  der  Kinder  zur  Erhöhung  der 
jugendlichen  Kriminalität  beiträgt,  ist  schwer  festzustellen.  Jugend- 
liche Verbrecher  geraten  vor  allem  durch  die  Not  des  Hauses  oder  durch 
das  Beispiel  erwachsener  Mitarbeiter  auf  die  Bahn  des  Lasters.  Wenn 
wir  aber  finden,  •  daß  zwei  Drittel  der  Kinder,  welche  in  England 
in  Zwangserziehungsanstalten  übergeben  werden  mußten,  Straßen- 
handel getrieben  hatten,  so  läßt  dies  doch  auf  die  mit  dem  spezifisch 
Gewerbebetriebe  verbundenen  Versuchungen  schließen. 

Die  starke  Kriminalität  der  Jugendlichen  in  hausindustriellen 
•Gebieten  im  Deutschen  Reiche  bietet  hierzu  das  natürliche  Gegen- 
stück. Die  Versuchung  zum  kleinen  Diebstahl,  die  geschlechtliche 
Frühreife  hier,  der  Anblick  des  städtischen  Nachtlebens  dort,  die 
Zusammerpferchung  in  elenden  Wohnstätten  fuhren  hier  wie  dort 
zur  physischen  und  moralischen  Entartung.  Daß  die  Abbüßung 
der  Freiheitsstrafen  jugendlicher  Übeltäter  in  Gesellschaft  alter  Häft- 
linge ihre  Rückfälligkeit  nur  fördert,  ist  allbekannt.  So  wirkt  denn 
hier  eine  Reihe  von  Einflüssen  zusammen,  deren  Wirksamkeit 
Stück  für  Stück  abzuschwächen  die  Aufgabe  der  sozialen  Fürsorge 
bildet. 

Die  Schwächung  der  Leistungsfähigkeit  der  aufwachsenden 
Arbeitergeneration  ist  jedenfalls  eines  der  gewichtigsten  Motive  ge- 
wesen, das  zur  Regelung  der  ungeschützten  Kinderarbeit  geführt 
hat.  Die  Intensität,  mit  welcher  Kinder  zur  Erwerbstätigkeit  in 
Deutschland  und  England  herangezogen  werden,  illustrieren  ganz 
ungefähr  die  folgenden  Zahlen:  In  England  waren  1898  von  140000 
Kindern  30  vom  Hundert  über  20  Stunden  wöchentlich,  in  Preußen 
von  1 10682  Kindern  68,61  Proz.  vier-  bis  siebenmal  wöchentlich 
durch  mehr  als  3  Stunden  beschäftigt.  In  Sachsen-Meiningen  wird 
in  einigen  Schulgemeinden  bis  2,  3,  4  Uhr  morgens  und  gegen 
AVeihnachten  die  ganze  Nacht  hindurch  von  Kindern  gearbeitet. 
Bedenkt  man,  daß  die  hausindustrielle  Beschäftigung  der  deutschen 
Kinder  weit  anstrengender  ist,  als  jene  der  englischen,  vorwiegend 


'}  Employment  of  School  Children  Committee   1902,  Mioutes  of  Evidence. 
Appendix  53,  S.  473. 


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St.  Bauer,  KinderscbuUgeseUgebung  in  Deutschland  und  Großbritannien.  £31 


im  Handel  tätigen  Kinder,  so  geht,  soweit  bei  der  Verschiedenheit 
der  Fragestellung  Schlüsse  zulässig  sind,  die  ungemein  starke 
Belastung  des  deutschen  Kindes  durch  Erwerbstätigkeit  hieraus 
hervor. 

Auch  in  Deutschland  waren  nun  Ansätze  zu  einer  Regelung 
der  Erwerbstätigkeit  schulpflichtiger  Kinder  in  den  Polizeiverord- 
nungen einer  Reihe  von  Städten  vorhanden.  Sie  verbieten  die 
Beschäftigung  von  Kindern  bald  unter  zehn,  bald  unter  12  Jahren, 
nach  einer  bestimmten  Stunde  (bald  acht,  bald  neun  Uhr  abends) 
in  Gastwirtschaften,  beim  Kegelaufsetzen,  Austragen  von  Backwaren, 
Milch,  Zeitungen,  bei  Schaustellungen  und  in  Theatern.  In  einzelnen 
Fällen  wird  schulpflichtigen  Kindern  jede  gewerbliche  Nachtarbeit 
d.  h.  bald  nach  7,  bald  nach  9  Uhr  und  bald  bis  5*/,  bis  6ljt  Uhr 
morgens,  in  Düsseldorf  bis  zum  Beginn  des  Unterrichtes  verboten. 
Hier  und  da  finden  diese  Verbote  nur  auf  Kinder  Anwendung,  die 
nicht  von  ihren  Eltern  oder  den  Personen,  in  deren  Haushalt  sie 
leben,  beschäftigt  werden.  Wie  man  sieht,  waren  diese  städtischen 
Verordnungen  ziemlich  ungleichartiger  Natur;  ihre  Rechtsgrundlage 
wurde  ihnen  durch  einige  Oberlandsgerichte  1897  abgesprochen, 
dann  wieder  durch  das  Kammergericht  zuerkannt;  1901  war  sie 
wieder  in  Frage  gestellt  worden.  In  einzelnen  Gemeinden  waren 
frühere  Kinderschutzverordnungen  in  Vergessenheit  geraten. 

So  kann  man  wohl  sagen,  daß  diese  unbefriedigende  Regelung 
durch  die  städtische  Selbstverwaltung  nach  Abhilfe  drängte.  Sie 
lag  in  dem  Erlasse  eines  Reichsgesetzes,  das  gleichartige  Normen 
schaffen  sollte.  Aus  dem  verschiedenartigen  Ergebnisse  der  städtischen 
Kinderschutzpolitik  in  Großbritannien  und  im  Deutschen  Reiche 
erklärt  sich  auch  der  Unterschied,  den  die  Reichsgesetze  hüben 
und  drüben  in  bezug  auf  die  Befugnisse  der  Selbstverwaltung 
statuieren. 

Vergleichen  wir  nunmehr  die  beiden  Gesetze  selbst,  so  beant- 
wortet jedes  der  Gesetze  schon  die  Frage  des  Umkreises  des 
Schutzes  verschiedenartig. 

I.  Das  deutsche  Kinderschutzgesetz  bezieht  sich  auf  die  Ver- 
wendung in  gewerblichen  Betrieben  im  Sinne  der  Gewerbeordnung 
(§  1),  also  nicht  auf  Landwirtschaft  und  Gesindedienst.  Der  Kreis 
dieser  Betriebe  wird  nur  erweitert  auf  Räume,  die  zum  Schlafen, 
Wohnen  oder  Kochen  dienen,  wenn  darin  gewerbliche  Arbeit  ver- 
richtet wird,  sowie  auf  im  freien  gelegene  gewerbliche  Arbeits- 
stellen (§  18).  Diese  Kinder  schützt  nun  bereits  die  englische  Fabrik- 
Archiv  für  Sozialwilsenschaft  u.  Sozialpolitik.  I.    (A.  f.  »oz.  G.  u.  St.  XIX.)  3.  41 


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Gesetzgebung. 


und  Werkstättengesetzgebung  von  1901 ;  während  daher  im  wesent- 
lichen der  deutsche  Gesetzgeber  bemüht  ist,  Versäumtes  nachzuholen 
und  den  Schutz  auf  die  Heimarbeit  auszudehnen,  ist  es  vielmehr 
die  Ausdehnung  auf  Handelsgewerbe  und  auf  die  Landwirtschaft, 
sowie  auf  die  noch  ungeschützten,  durch  das  Fabrikgesetz  ausge- 
nommenen Familienbetriebe  (Wäschereien  usw.),  die  dem  britischer» 
Gesetzgeber  obliegt.  Er  definiert  daher  den  Kreis  der  zu  schützenden 
Beschäftigungen  als  „Beschäftigung  mit  irgend  einer  Arbeit,  die 
gewerbsmäßig  oder  mit  Gewinnabsicht  betrieben  wird,  mag  der 
Gewinn  dem  Kinde  oder  irgend  einer  anderen  Person  zufließen" 
(Art.  13).  Nicht  zu  schützen  sind  lediglich  die  in  den  Handarbeits- 
schulen und  Zwangserziehungsanstalten  beschäftigten  Kinder  (Art.  10). 
Es  ist  somit  die  gesamte  Produktions-  und  Handelstätigkeit  der  Kinder 
der  Möglichkeit  einer  Regelung  unterworfen. 

II.  Beide  Gesetze  enthalten  Minimalbestimmungen,  welche, 
natürlich  unter  Berücksichtigung  derjenigen  reichsrechtlichen  Be- 
stimmungen, zu  welchen  die  Kinderschutzgesetze  ergänzend  hinzu- 
treten, im  Deutschen  Reiche  durch  die  Bundesstaaten  (§  30),  in 
Großbritannien  durch  die  Lokalbehörden  mit  Genehmigung  des 
Staatssekretärs  des  Innern  erweitert  werden  können  (Art.  1 — 4,  9). 
In  bezug  auf  diesen  Minimalschutz  unterscheidet  das  deutsche 
Gesetz  zwischen  zwei  Kategorien  von  Kindern:  zwischen  fremden 
und  eigenen  Kindern  (§§  1 — 3).  Der  Schutz  der  eigenen  Kinder 
betrifft  die  mit  dem  Arbeitgeber  oder  dessen  Ehegatten  bis  zum 
dritten  Grade  verwandten,  die  an  Kindesstatt  angenommenen,  bevor- 
mundeten sowie  die  zur  Fürsorgeerziehung  zugewiesenen,  mit  eigenen 
Kindern  im  Haushalte  des  Arbeitgebers,  ferner  die  im  Auftrage 
dritter  Personen  im  Haushalte  der  Eltern,  Vormünder  beschäftigten 
Kinder  (§  3).  Zwar  ist  es  weder  bei  eigenen  noch  bei  fremden 
Kindern  notwendig,  daß  ein  Arbeitsvertrag  mit  dem  Arbeitgeber 
abgeschlossen  sei.  Aber  die  größere  Leichtigkeit  der  Kontrolle  der 
Beschäftigung  fremder  Kinder  hat  den  deutschen  Gesetzgeber  ver- 
anlaßt in  denjenigen  Fällen  beide  Arten  von  Kindern  ungleichartig 
zu  behandeln,  in  welchen  nicht  die  Gefahr  der  Begünstigung  des 
Familienbetriebes  allzu  offenkundig  war,  oder  jene  Schwierigkeiten 
der  Kontrolle  nicht  bestanden. 

Diesen  Unterschied  macht  die  britische  Gesetzgebung  nicht; 
sie  überläßt  es  den  Lokalbehörden,  über  die  Schwierigkeiten  der 
Kontrolle  hinwegzukommen.  Es  ist  vorauszusehen,  daß,  sobald  die 
Zahl  der  fremden  erwerbstätigen  Kinder  in  Deutschland  stark  ab- 


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St.  Bauer,  Kinderschutzgesetzgcbung  in  Deutschland  und  Großbritannien.  633 

genommen  haben  wird,  eine  Revision  des  Gesetzes  im  Sinne  mög- 
lichst gleichartiger  Behandlung  der  eigenen  und  fremden  Kinder 
wird  Platz  greifen  können. 

III.  Innerhalb  der  so  abgesteckten  Anwendungsgebiete  wird 
der  Begriff  des  erwerbstätigen  schutzpflichtigen 
Kindes  ähnlich  abgegrenzt,  soweit  die  Verschiedenheiten  der 
Volksschulpflicht  dies  gestatten.  Das  deutsche  Gesetz  betrachtet 
als  „Kinder"  Knaben  und  Mädchen  unter  dreizehn  Jahren,  sowie 
solche  Knaben  und  Mädchen  über  dreizehn  Jahren,  welche  noch 
zum  Besuche  der  Volksschule  verpflichtet  sind  (§  2). 

Das  britische  Gesetz  versteht  unter  Kindern  Personen  unter 
14  Jahren  (Art.  13)  und  gibt  den  Lokalbehörden  die  Befugnis, 
die  Beschäftigung  von  Kindern  im  Straßenhandel  bis  zum  16.  Lebens- 
jahre zu  untersagen  (Art.  2) ;  überhaupt  wird  nur,  insofern  nicht  die 
Vorschriften  der  Bergwerksgesetze  und  des  Fabriksgesetzes  ent- 
gegenstehen, den  Lokalbehörden  in  bezug  auf  das  Zulassungsalter, 
die  Normierung  der  Arbeitsdauer  oder  die  Höchstzahl  der  Stunden 
der  zulässigen  Verwendung  in  der  Woche  freie  Hand  gelassen 
(Art.  1,  9).  Auch  im  Deutschen  Reiche  gibt  das  Kinderschutzgesetz 
den  Polizeibehörden  die  Befugnis,  bestimmte  Beschäftigungen  zu 
beschränken  und  zu  untersagen;  so  können  auch  eigene  Kinder 
beim  Austragen  der  Waren  ihrer  Kitern  und  bei  Botengängen 
solchen  Regelungen  unterworfen  werden  (§  17);  ebenso  in  Gast- 
und  Schankwirtschaften  zur  Beseitigung  erheblicher  die  Sittlich- 
keit gefährdender  Mißstände;  endlich  überhaupt  auch  in  zu- 
lässigen Beschäftigungen,  sofern  dabei  erhebliche  Mißstände  zutage 
getreten  sind,  und  zwar  auf  Antrag  oder  nach  Anhörung  der  Schul- 
behörde (§  20).  Diese  Bestimmung  gehört  zu  den  erfreulichsten 
des  Gesetzes,  da  sie  die  Initiative  und  Kontrolle  der  Lehrerschaft 
wachruft.  Sie  deckt  sich  mit  jenen  des  britischen  Gesetzes,  das 
aber  allerdings  den  Lokalbehörden  das  Recht  gibt,  bis  zum  16.  Jahre 
Regulative  und  Verbote  zu  erlassen,  und  sogar  direkt  die  Wünsch- 
barkeit  solcher  Verbote  für  Mädchen  unter  16  Jahren  in  bezug  auf 
den  Straßenhandel  ausspricht. 

IV.  Zwischen  den  einzelnen  Minimalschutzvorschriften  lassen 
sich  folgende  Vergleiche  ziehen:  Die  Kinderbeschäftigung  wird  in 
beiden  Gesetzen  geregelt :  erstens  durch  Festsetzung  eines  bestimmten 
Zulassungsalters  bei  gewissen  Berufen,  zweitens  durch  völlige  Ver- 
bote jeder  Kinderarbeit  bis  zum  13.  oder  14.  Lebensjahre. 

Das  Zulassungsalter   wird  fixiert:    in  Werkstätten,  im 


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^34 


Gesetzgebung. 


Handels-  und  Verkehrsgewerbe  auf  zehn  Jahre  für  eigene,  auf 
12  Jahre  für  fremde  Kinder  im  Deutschen  Reiche. 

In  den  Werkstätten  Großbritanniens  gelten  hier  die  Vorschriften 
des  Fabrikgesetzes  19  01  Art.  62;  für  eigene  wie  fremde  Kinder 
gilt  das  12.  Lebensjahr  als  Beginn  der  Ge Werbetätigkeit.  Das 
gilt  auch  von  der  Heimarbeit,  soweit  sie  nicht  durch  Gesetz 
(Art.  114)  oder  Verordnung  ausdrücklich  ausgenommen  ist.  Da- 
gegen macht  das  deutsche  Gesetz  eine  subtile  Unterscheidung: 
fremde  Kinder  dürfen  vom  Heimarbeiter  nicht  vor  dem  12.,  eigene 
Kinder,  welche  für  die  Eltern  zu  Hause  arbeiten,  vom  10.,  dagegen 
wenn  sie  für  Dritte  arbeiten,  auch  nur  vom  1 2.  Jahre  an  beschäftigt 
werden.  Es  ist  abzuwarten,  ob  nicht  gerade  hierdurch  die  Kontrolle 
erschwert  wird. 

Für  Handelsgewerbe  und  Gastwirtschaften  ist  durch  die  britische 
Gesetzgebung  kein  Zulassungsalter  festgesetzt ;  nur  für  den  Straßen- 
handel setzt  das  neue  Gesetz  (Art.  3)  ein  solches  Minimalalter  von 

1 1  Jahren  für  eigene  wie  für  fremde  Kinder  fest.  Das  deutsche 
Kinderschutzgesetz  verbietet  dagegen  Kinder  unter  12  Jahren 
—  eigene  wie  fremde  —  im  Betriebe  von  Gast-  und  Schankwirt- 
schaften zu  verwenden  und  von  Mädchen  unter  1 3  Jahren  die  Gäste 
bedienen  zu  lassen.  Nur  auf  dem  flachen  Lande  und  in  kleinen 
Landstädten  (Orten  mit  unter  20000  Einwohner)  werden  zugunsten 
der  eigenen  Kinder  Ausnahmen  zugelassen;  es  dürfen  also  hier  be- 
reits die  zehnjährigen  Kinder  des  Wirtes  bedienen,  Kegel  auf- 
setzen u.  dgl.  (§§  7,  16).  Das  Minimalalter  der  beim  Austragen 
von  Waren  und  sonstigen  Botengängen  beschäftigten  Kinder  ist 
nur  in  Deutschland  geregelt  worden;  hier  ist  das  Minimalalter  von 

12  Jahren  für  eigene  wie  für  fremde  Kinder  festgesetzt;  nur  wenn 
die  eigenen  Kinder  von  ihren  Eltern  beschäftigt  werden,  ist  die  Be- 
schäftigung eigener  Kinder  reichsrechtlich  uneingeschränkt  zulässig 
<"§  1 7).  Sowohl  in  dieser  Hinsicht,  als  insbesondere  in  bezug  auf  den 
Schutz  der  Theaterkinder  ist  das  deutsche  Gesetz  weitergehender 
als  das  britische.  Nach  hartem  Kampfe  hat  man  in  England  durch- 
gesetzt, daß  Kindern  unter  zehn  Jahren  Konzessionen  zu  Schau- 
stellungen nicht  erteilt  werden  sollen  (Art.  11).  Im  Deutschen 
Reiche  ist  das  Verbot  der  Kinderbeschäftigung  bei  öffentlichen 
theatralischen  Vorstellungen  und  anderen  öffentlichen  Schau- 
stellungen bis  zum  13.  Lebensjahre  für  fremde  wie  für  eigene 
Kinder  ausgesprochen  worden  (§§6,  15).  Ausnahmen  werden  nach 
Anhörung  der  Schulaufsichtsbehörde  nur  dann  zugelassen,  wenn 


St.  Bauer,  Kinderschutzßesetzgcbung  in  Deutschland  und  Großbritannien.  635 


ein  höheres  Interesse  der  Kunst  oder  Wissenschaft  obwaltet.  Diese 
sollen,  den  Motiven  des  Gesetzes  gemäß,  daher  an  Akrobaten, 
Artisten  oder  für  Zirkusvorstellungen  nicht  erteilt  werden  können. 

Die  Dauer  der  täglichen  Kinderarbeit  zu  bestimmen 
ist  in  England  der  Ortsbehörde  überlassen  worden.  Es  bestehen 
gesetzliche  Vorschriften  nur  für  Kinder  in  der  Heimarbeit,  im 
Detailhandel  und  in  den  Gast-  und  Schankwirtschaften.  In  der 
Heimarbeit  gestattet  das  englische  Fabriksgesetz  den  Kindern  eine 
Nettoarbeitszeit  von  2  !/2  Stunden  (Art.  1 1 1  c  u.  d) ;  in  Läden  und 
Wirtschaften  dürfen  Personen  unter  18  Jahren  wöchentlich  mit  Ein- 
schluß der  Mahlzeiten  durch  höchstens  74  Stunden  beschäftigt 
werden  (Shop  hours  act  1892  art.  3).  Hier  liegt  also  noch  für  die 
Lokalbehörden  ein  weites  Feld  brach.  Dagegen  hat  das  deutsche 
Gesetz  die  Heimarbeit  der  Kinder  zwar  weniger  eingeschränkt,  aber 
kontrollierbarer  gestaltet,  als  der  britische  Gesetzgeber.  Es  gestattet 
fremden  Kindern  über  12  Jahren  nicht  länger  als  drei  Stunden, 
während  der  Schulferien  nicht  länger  als  vier  Stunden  zu  arbeiten 
(§  5).  Dagegen  dürfen  eigene  Kinder  von  zehn  Jahren  ange- 
fangen für  ihre  Eltern,  und  von  12  Jahren  an  für  Dritte  nach 
dem  Vormittagsunterricht,  dann  zwei  Stunden  nach  der  Mittagszeit 
und  eine  Stunde  nach  beendetem  Nachmittagsunterrichte  bis  8  Uhr 
abends  beschäftigt  werden.  In  den  Ferien  tritt  in  diesem  Falle 
nur  der  durch  das  Verbot  der  Nachtarbeit  und  das  Gebot  der 
zweistündigen  Mittagspause  hergestellte  Zehnstundentag  in  Kraft 
(§§  5  u-  Diese  Bestimmungen  betreffen  auch  den  Betrieb  von 
Werkstätten,  das  Handels-  und  Verkehrsge werbe. 

In  bezug  auf  das  Verbot  der  Sonn-  und  Festtagsarbeit 
ist  der  deutsche  Gesetzgeber  für  die  bisher  ungeschützten  Betriebe 
strenger  als  der  englische.  Während  dieser  das  Verbot  der  Sonntags- 
arbeit (Art.  34  des  Fabrikgesetzes)  für  domestic  Workshops  nicht  auf- 
recht hält  (Art.  Iii  4c),  wird  es  durch  das  deutsche  Kinderschutz- 
gesetz  neu  eingeschärft  (§  9).  Nur  beim  Austragen  von  Waren  und 
Botengängen  durch  fremde  Kinder  ist  Sonntags  eine  längere  als 
zweistündige  Beschäftigung,  jede  Arbeit  während  des  Gottesdienstes 
oder  in  der  letzten  halben  Stunden  vor  Beginn  desselben  und  nach 
ein  Uhr  mittags  untersagt.  Dasselbe  gilt,  wenn  sie  durch  die 
Eltern  für  Dritte  beschäftigt  werden;  dagegen  ist  in  Gast-  und 
Schankwirtschaften  und  bei  Botengängen  die  Sonntagsarbeit  eigener 
Kinder  gestattet. 

Wir  wenden  uns  nunmehr  den  Beschäftigungsverboten  zu. 


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636 


Gesetzgebung. 


Das  Verbot  der  Nachtarbeit  erstreckt  sich  in  Großbritannien  auf  alle 
Kinder  bis  14  Jahren  (Art.  3).    In  Deutschland  gilt  es  für  fremde 
Kinder  von  12 — 13  Jahren,  für  eigene  Kinder  von  10 — 13  Jahren 
(§§  5  u-  !3)-    Als  Nacht  betrachtet  in  diesem  Falle  das  deutsche 
Gesetz  die  Zeit  von  8  Uhr  abends  bis  8  Uhr  morgens  und  die 
Zeit  vor  dem  Vormittagsunterrichte,  der  britische  Gesetzgeber  die 
Zeit  von  9  Uhr  abends  bis  6  Uhr  morgens  (Art.  3),  und  er  gestattet 
von  Fall  zu  Fall  der  Lokalbehörde  diese  Stundeneinteilung  abzu- 
ändern.   Nur  in  der  Heimarbeit  Englands  bleibt  es  natürlich  bei 
der  Bestimmung  des  Fabrikgesetzes,  der  Nachtruhe  von  8  Uhr  abends 
bis  6  Uhr  morgens  (Gesetz  von  1901  Art.  Iii,  1  d).    Verboten  ist 
ferner  eigenen  wie  fremden  Kindern  im  Deutschen  Reiche  die  Be- 
schäftigung in  motorischen  Betrieben  (Bekanntmachung  vom  9.  Juli 
1900  R.G.B1.  S.  565,  und  Kinderschutzgesetz  §  12),  ferner  in  einer 
Reihe  von  gesundheitschädlichen  und  gefahrlichen  Betrieben,  die 
das  Gesetz  taxativ  aufzählt  (§  4  und  Verzeichnis)  und  die  der 
Bundesrat  zu  erweitern  ermächtigt  ist.  An  Stelle  dieser  Aufzählung 
verfugt  das  britische  Gesetz  (Art.  3,  Abs.  4,  5) :  „Kein  Kind  soll  mit 
dem  Heben,  Tragen  oder  Schieben  von  Gegenständen,  die  infolge 
ihrer  Schwere  dem  Kinde  Schaden  zufügen  können,  und  kein  Kind 
in  irgend  einem  Berufe  beschäftigt  werden,  der  sein  Leben,  seinen 
Organismus,  seine  Gesundheit  oder  Erziehung  nach  Maßgabe  seiner 
körperlichen  Entwicklung  schädigen  könnte."    Das  Zeugnis  eines 
approbierten,    registrierten    Arztes    dient    der    Lokalbehörde  in 
diesem  Falle  als  Beweisstück  gegen  Zuwiderhandlungen  der  Arbeit- 
geber. 

In  einer  Reihe  von  gefahrlichen  Industrien  ist  in  Großbritannien 
jedoch  bereits  durch  Art.  77  und  auf  Grund  des  Art.  78  des  Fabrik- 
gesetzes von  1901  das  Verbot  der  Kinderbeschäftigung  ausgesprochen 
worden.  Mit  dem  Verbote  der  Kinderbeschäftigung  in  den  durch 
die  Bleiglasurarbeiten  gefahrlichen  Töpfereien,  in  Glasbläsereien, 
Spiegelbelegen,  Metallschleifereien,  in  Bleibctrieben  und  Gummi- 
fabriken ist  England  vorausgegangen.  Die  reichsrechtlichen  Spezial- 
verbote  werden  derzeit  in  Großbritannien  einer  Revision  unterworfen, 
bei  welcher  die  deutsche  Liste  wertvolle  Dienste  leisten  dürfte.  In 
mancher  Hinsicht  geht  bereits  die  Gesetzgebung  Englands  hier 
weiter;  so  schließt  sie  von  der  Arbeit  in  Ziegeleien  auch  die  unter 
16jährigen  Mädchen  aus;  in  Deutschland  sind  nunmehr  alle  unter 
13  jährigen  Kinder  beiderlei  Geschlechts  ausgeschlossen.  Die  leichte 
Individualisierung  der  Fälle,  die  durch  das  Vorgehen  der  englischen 


St.  Bauer,  Kinderschutzgesetzgcbung  in  Deutschland  und  Großbritannien.  637 


Lokalbehörden  ermöglicht  wird,  bildet  einen  gewissen  Vorzug  des 
britischen  Gesetzes. 

Die  Eigenart  des  britischen  Fabrikgesetzes,  welches  Kindern 
von  12—14  Jahren  die  Halbzeitarbeit  gestattet,  hat  endlich  ein 
Verbot  der  Verwendung  von  Kindern  nach  vollendeter  Halbzeit- 
arbeit notwendig  gemacht  (Art.  3).  Solche  Verbote  bestanden  bis- 
her: für  die  Arbeit  von  Kindern  in  Fabriken  und  Werkstätten  nach 
Verrichtung  von  Halbzeitarbeit  (Fabrikgesetz  Art.  31)  und  für  die 
Verwendung  in  Läden  und  Gastwirtschaften  nach  solcher  gewerb- 
licher Halbzeitarbeit  (Shops  hours  Act  1892  Art  3).  Im  Grunde 
genommen  handelt  es  sich  für  diese  Kategorie  von  Kindern  um 
eine  Ausdehnung  des  Verbotes  auf  Landwirtschaft,  Gesindedienst 
und  Straßenhandel.  Da  das  deutsche  Gesetz  die  Verwendung  von 
Kindern  in  Fabriken  und  Werkstätten  von  der  Absolvierung  der 
Schulpflicht  abhängig  macht,  genießt  hier  die  Verwaltung  den  Vor- 
teil, der  schwierigen  Überwachung  der  Arbeit  der  Halbzeitkinder 
enthoben  zu  sein. 

Uberblickt  man  das  ganze  System  der  Minimalschutzbestim- 
mungen in  beiden  Ländern,  so  ist  es  kaum  möglich  zu  sagen, 
welches  Land  für  seine  Kinder  mehr  getan  habe.  In  bezug  auf 
den  Kreis  der  möglicherweise  in  Landwirtschaft  und  Gesindedienst 
geschützten  Kinder  gebührt  England  der  Vorrang;  in  bezug  auf 
die  Strenge  des  Schutzes  der  fremden  Kinder,  insbesondere  in  ge- 
sundheitsgefahrlichen  Betrieben,  aber  nicht  der  eigenen,  ist  das 
Deutsche  Reich  vorgeschrittener.  Aber  auch  hier  können  in 
einigen  Jahren  der  Bundesrat,  die  Bundesstaaten  sowie  die  Polizei- 
behörden, dort  die  Lokalbehörden  die  Unterschiede  ausgeglichen 
haben.  Von  ihnen  sowie  von  den  Aufsichtsbehörden  hängt  bis  zur 
nächsten  Revision  der  Kinderschutzgesetze  alles  ab.  Wir  haben 
daher  noch  die  Vorschriften  beider  Länder  über  die  A  u  f s  i  c  h  t  und 
die  Ausführung  der  Gesetze  zu  betrachten.  Das  britische  Gesetz  legt 
seine  Durchführung  grundsätzlich  in  die  Hände  der  Lokalbehörden ; 
es  sind  dies  die  borough  Councils,  city  Councils,  county  Councils  in 
England;  in  Schottland  werden  die  Lokalverordnungen  über  Kinder- 
beschäftigung  und  über  Beschäftigungs verböte  vom  Erziehungsamte 
erlassen;  dieses  hat  auch  die  Aufsicht  über  ihre  Durchführung  zu 
besorgen,  alle  anderen  Bestimmungen  werden  vom  Stadtrate  durch- 
geführt; in  Irland  liegt  sie  den  Distrikts-  und  Grafschaftsräten  ob 
(Art.  13,  14,  16).  Die  staatliche  Gewerbeinspektion  interveniert 
nur  dann,  wenn  eine  Übertretung  des  Verbotes  der  Beschäftigung 


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638 


Gesetzgebung. 


von  Halbzeitkindern  der  Fabriken  und  Werkstätten  in  früher  unge- 
schützten Berufen  stattfindet  (Art.  9).  Die  Beamten  der  Lokal- 
behörden erhalten  durch  das  Gesetz  die  Befugnis,  binnen  drei 
Monaten  (ebenso  §  18  des  deutschen  Gesetzes)  nach  erfolgter  Über- 
tretung darüber  beim  Friedensrichter  Klage  zu  erheben. 

Dieser  kann  den  Beamten  beauftragen,  binnen  48  Stunden  die 
Arbeitsstelle  des  Kindes,  „sei  dies  ein  Gebäude  oder  nicht,  zu  irgend 
welcher  Tageszeit"  (at  any  reasonable  time)  aufzusuchen  und  den 
Tatbestand  aufzunehmen.  Bei  Einlaßverweigerung  kann  bis  zu 
20  Pfd.  Sterling  Buße  verhängt  werden. 

Das  deutsche  Kindcrschutzgesetz  legt  grundsätzlich  die  Ge- 
werbeaufsicht in  die  Hände  der  Polizei  und  der  einzelstaatlichen 
Gewerbeinspektion,  insoweit  nicht  durch  Bundesratsbeschluß  oder 
durch  die  I Landesregierungen  die  Aufsicht  anderweitig  geregelt  ist 
(§  21).  In  Privat  Wohnungen,  in  denen  ausschließlich  eigene  Kinder 
beschäftigt  werden,  dürfen  Revisionen  während  der  Nachtzeit  nur 
stattfinden,  „wenn  Tatsachen  vorliegen,  welche  den  Verdacht  der 
Nachtbeschäftigung  dieser  Kinder  begründen". 

Es  ist  von  vornherein  klar,  daß  die  Belastung  der  Inspektion 
einerseits,  die  Belästigung  der  Polizei  andererseits  die  meisten  Bundes- 
staaten dazu  führen  dürfte,  die  Lehrer,  die  Ärzte,  und  nach  dem 
Vorschlage  des  Gewerbeinspektors  Lösser  auch  intelligente  Arbeiter 
zur  Mitaufsicht  heranzuziehen.  Diese  Elemente  sind  gegenwärtig 
bereits  in  den  britischen  Lokalbehörden  vertreten.1)  In  der  Tat  haben 
z.  B.  Hamburg  und  Hessen  die  Mitwirkung  der  Lehrer  durch  Er- 
teilung von  Auskünften,  durch  Führung  von  Verzeichnissen  der 
gewerblich  tätigen  Kinder,  durch  Stellung  von  Anträgen  bei  Be- 
schwerden gegen  behördliche  Verfügungen  bereits  verfügt.4) 

Das  deutsche  Kinderschutzgesetz  verpflichtet  ferner  die  Arbeit- 
geber, welche  fremde  Kinder  nicht  bloß  zu  gelegentlicher  Beschäf- 
tigung mit  einzelnen  Dienstleistungen  (also  wohl  ständig  oder 

')  „Im  allgemeinen  werden  die  aus  dem  neuen  Gesetze  fließenden  Kompetenzen 
denjenigen  durchaus  verwandt  sein,  welche  den  von  den  Stadträten  ernannten  Schul- 
aufsichtsbeamten übertragen  sind,  und  infolge  dieser  ihrer  Pflichten  werden  diese 
Beamten  jedem  Inspektor  oder  Funktionär,  der  dieses  Gesetz  oder  die  Durchfiihrungs- 
erlasse  in  Kraft  zu  setzen  hat,  die  größten  Dienste  leisten,  wenn  sie  nicht  über- 
haupt selbst  damit  direkt  betraut  werden."  Rundschreiben  des  Home  Office  vom 
14.  November  1903  p.  8. 

a)  Bulletin  des  internationalen  Arbeitsamts,  Bd.  II  (1903)  S.  602, 
Bd.  III  (1904)  S.  16. 


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St.  Bauer,  Kinderschutzgcsetzgcbung  in  Deutschland  und  Großbritannien.  (J^cj 

periodisch  oder  in  intensiver  Weise  in  längeren  Zeitabschnitten) 
verwenden,  zur  schriftlichen  Anzeige  bei  der  Ortspolizeibehörde 
und  zur  Lösung  einer  Arbeitskarte  (§  Ii).  Diese  kann,  wenn  sich 
bei  der  Beschäftigung  erhebliche  Mißstände  ergeben,  entzogen  und 
die  weitere  Beschäftigung  untersagt  werden  (§  20).  Wie  man  sieht, 
will  man  in  erster  Reihe  sich  einen  Einblick  über  die  Ab-  oder 
Zunahme  der  Arbeit  der  fremden  Kinder  verschaffen  und  zu  ihrer 
Verringerung  beitragen.  Für  die  reinen  Familienbetriebe  der  Heim- 
arbeit ist  diese  Anzeigepflicht  ohne  Belang. 

Dagegen  kennt  das  britische  Fabrikgesetz  den  Registrierungs- 
zwang auch  für  die  Heimarbeit  (Fabrikgesetz  von  1891  Art.  27,  von 
1895  Art.  42,  von  1901  Art.  107);  man  verzeichnete  im  Inspektoren- 
berichte für  1899  (S.  78)  3804  solcher  Listen  mit  73  174  Outworkers; 
67  344  entfielen  davon  auf  das  Bekleidungsgewerbe.  Auf  Vorschrift 
des  Staatssekretärs  kann  dieser  Zwang  auch  auf  Familienbetriebe, 
also  auch  auf  die  Verwendung  der  eigenen  Kinder  ausgedehnt 
werden  (Gesetz  von  1901  Art.  in,  Abs.  2). 

Der  Straßenhandel  der  Kinder  kann  durch  die  Lokalbehörden 
in  England  von  einer  Konzession  abhängig  gemacht  werden  (Art.  2). 
Auch  hier  wird  zwischen  eigenen  und  fremden  Kindern  ein  Unter- 
schied nicht  gemacht.  In  diesem  Falle  gibt  es  hier,  wie  beim 
Gangsystem  in  der  Landwirtschaft,  volle  Anzeigepflicht.  Die  Straf- 
vorschriften des  britischen  Gesetzes  treffen  sogar  die  Kinder  selbst, 
welche  die  Vorschriften  über  den  Straßenhandel  übertreten  (Art.  5, 
Abs.  3),  jene  des  deutschen  Gesetzes  betreffen  nur  die  Arbeitgeber 
und  die  Eltern,  diese  minder  streng,  als  jene  (§§  23,  29). 

Man  kann  sich  nicht  verhehlen,  daß  der  große  Fortschritt,  den 
die  Kindergesetzgebung  in  Deutschland  wie  in  England  grund- 
sätzlich gemacht  hat,  eine  Fülle  neuer  Verwaltungsaufgaben  ge- 
schaffen hat,  deren  Lösung  erst  abzuwarten  ist.  Der  Rechtszustand 
wird  sich  in  beiden  Staaten  zunächst  noch  weiter  komplizieren,  und 
erst  die  Erfahrungen  der  nächsten  Jahre  werden  lehren,  welches 
Land  den  Kinderschutz  am  wirksamsten  durchgeführt  hat;  die  Trag- 
weite dieser  Erkenntnis  für  Volkswirtschaft,  Schule  und  Verwaltung 
wird  keine  geringe  sein.  Daß  der  Schutz  der  Kinder  in  der  Heim- 
arbeit gegen  Überarbeit,  vor  allem  das  Verbot  ihrer  Nachtarbeit, 
sich  als  durchführbar  erweisen  wird,  darf  am  ehesten  erwartet 
werden.  An  solche  Erfahrungen  wird  eine  Regelung  der  Heim- 
arbeit auch  international  anknüpfen  können. 

Ein  Rückblick  auf  die  Anfänge  des  Kinderschutzes  läßt  aber 


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640 


Gesetzgebung. 


die  Tragweite  der  neuen  Gesetzgebung  für  jede  Nation  unschwer 
erkennen.  Vor  zwei  Menschenaltern  galt  es  noch,  die  Kinder  der 
Arbeiter  den  Klauen  der  Maschinerie  zu  entreißen;  heute  gilt  es, 
ihre  physische  und  moralische  Entartung  im  Erwerbsleben  zu  ver- 
hüten und  für  die  Charaktergrundlagen  des  jugendlichen  Arbeiters 
Vorsorge  zu  treffen.  Aus  vereinzelten  Maßregeln  polizeilicher  Ab- 
wehr ist  so  im  Laufe  der  Entwicklung  ein  Stück  nationaler  Selbst- 
erziehung geworden. 


641 


Die  Fortschritte  auf  dem  Gebiete  des  Arbeiter- 
Schutzes  in  den  Niederlanden. 

Von 

Dr.  PH.  FALKENBURG, 

Amsterdam. 

Die  Redaktion  dieser  Zeitschrift  ersucht  mich  eine  Übersicht 
zu  geben  über  die  Fortschritte  der  niederländischen  Arbeiterschutz- 
gesetzgebung  in  den  letzten  Jahren.  Diese  Einladung,  so  ehrenvoll 
sie  für  mich  ist,  bringt  mich  in  nicht  geringe  Verlegenheit.  Denn 
von  Fortschritten  ist  in  den  letzten  Jahren  unter  dem  Ministerium 
Dr.  Kuypers  nicht  die  Rede  mehr.  Seit  1897  sind  keine  Fort- 
schritte aufzuweisen  mit  Ausnahme  einiger  wenig  wichtigen  Ab- 
änderungen und  Erweiterungen  der  Schutzgesetze.  Im  Gegenteil, 
was  über  die  Wirksamkeit  des  am  Ruder  stehenden  Kabinetts  auf 
diesem  Gebiet  zu  berichten  ist,  sind  keine  Fortschritte,  son- 
dern Rückschritte.  Vielleicht  bringt  aber  die  Zukunft  im  laufenden 
Jahre,  dem  letzten  der  jetzigen  Legislaturperiode  1901 — 1904,  noch 
etwas  erfreuliches  und  deshalb  erachte  ich  es  angebracht,  den 
heutigen  Stand  der  Arbeiterschutzgesetzgebung  kurz  zusammen- 
zufassen, damit  ich  dann  später  an  das  schon  hier  Gesagte  an- 
knüpfen kann. 

Etwa  1897  war  die  niederländische  Arbeiterschutzgesetz- 
gebung zum  vorläufigen  Abschluß  gelangt.  Es  lagen  damals  drei 
Gesetze  vor,  die  man  später  zu  kodifizieren  gedachte.    Es  waren: 

I.  das  Gesetz  vom  5.  Mai  18891)  gegen  übermäßige  und  ge- 

')  Wortlaut  des  sogenannten  Arbeitsgeseties  in  deutscher  Übersetzung, 
s.  Band  II  dieses  Archivs  p.  510. 


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642 


Gesetzgebung. 


fährliche  Arbeit  von  Frauen  und  Jugendlichen.  Es  erstreckt  sich 
auf  Frauen  und  Kinder  unter  16  Jahren,  die  in  Fabriken  und  Werk- 
stätten (einschließlich  der  Hausindustrie)  arbeiten. 

Bis  1874  hatte  jeder  Arbeiterschutz  gefehlt;  von  1874  ab  war 
die  gewerbliche  Beschäftigung  von  Kindern  unter  12  Jahren  ver- 
boten.   Erst  das  Gesetz  von  1889,  eine  Folge  der  Arbeitsenquete 
von  1886 — 87,  brachte  eingehendere  Bestimmungen.    Unter  Arbeit 
versteht  das  „Arbeitsgesetz"  von  1889  alle  gewerbliche  Beschäftig-ung- 
mit  Ausnahme  von  Land-  und  Gartenwirtschaft,  Forstbetrieb,  Vieh- 
zucht und  Torfgraberei.  Arbeit  von  Kindern  unter  12  Jahren  bleibt 
untersagt.    Durch  königlichen  Erlaß  kann  die  Beschäftigung  jugend- 
licher Arbeiter  unter  16  Jahren  und  Frauen  jeglichen  Alters  für 
gewisse  Arbeiten,  welche  mit  besonderen  Gefahren  für  Leben  und 
Gesundheit  verbunden  sind,  entweder  gänzlich  untersagt  oder  von 
gewissen  Bedingungen  abhängig  gemacht  werden  (Erlaß,  in  letzter 
Abfassung,  vom  16.  Mai  1903). l) 

Ein  absolutes  Verbot  spricht  dieser  Erlaß  nur  aus  für  Arbeit 
in  a)  Bergwerken  unter  Tag,  b)  Arbeitsräumen,  in  welchen  Blei- 
oxyd, Bleizucker,  Bleiweiß,  Mennig  oder  Chromatstoffe  erzeugt,  elek- 
trische Akkumulatoren  verfertigt  oder  Quecksilber,  Quecksilberfolie 
oder  weißer  Phosphor  verarbeitet  werden.  Jugendlichen  Personen 
ist  verboten  die  Arbeit  als  selbständiger  Maschinenführer  oder 
Heizer,  weiter  die  Bearbeitung  von  Explosivstoffen  und  das 
Ziehen,  Schieben  oder  Tragen  einer  Last,  wenn  diese  augenschein- 
lich die  Kräfte  übersteigt,  und  schließlich  die  Ausübung  gefährlicher 
artistischer  Produktionen. 

Frauen  und  Jugendlichen  in  Ziegelbrennereien  ist  außerdem 
verboten  das  Führen  beladener  Schubkarren,  das  Entnehmen  der 
Steine  aus  den  Formen,  die  mehr  als  einen  Stein  fassen,  das  Ver- 
laden der  Steine  durch  Zuwerfen  oder  Tragen,  das  Herausnehmen 
der  noch  nicht  ganz  abgekühlten  gebrannten  Ziegel  aus  den  Öfen 
(Erlaß  vom  4.  November  1903).  *) 

Arbeiterinnen  dürfen  während  vier  Wochen  nach  der  Nieder- 
kunft nicht  beschäftigt  werden. 

Die  tägliche  Arbeitszeit  der  Frauen  und  Jugendlichen  ist  auf 
11  Stunden  beschränkt  und  zwar  zwischen  5  Uhr  morgens  und 


J)  Wortlaut  in  deutscher  Übersetzung  im  Bulletin  des  Internationalen 
Arbeitsamts,  Bd.  II,  Nr.  10,  S.  544—549. 
•)  Wortlaut  ebendaselbst  S.  549. 


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Ph.  Falkenburg,  Fortschritte  des  Arbeiterschutzes  in  den  Niederlanden.    64 3 


7  Uhr  abends  mit  wenigstens  einer  Stunde  Mittagspause.  Wegen 
besonderer  Umstände  kann  der  Provinzialgouverneur,  in  dringenden 
Fällen  auch  der  Bürgermeister,  für  die  Dauer  von  6  Tagen  täglich 
2  Überstunden,  oder  für  14  Tage  jeden  zweiten  Tag  Überstunden 
gestatten.  Nach  Verlauf  von  8  Tagen  kann  eine  neue  Überzeit- 
bewilligung  nachgesucht  werden. 

Nachtarbeit  nach  10  Uhr  abends  ist  gänzlich  untersagt.  Sonn- 
tagsarbeit, ausgenommen  bei  der  Butter-  und  Käsefabrikation,  ist 
den  Arbeiterinnen  gleichfalls  verboten.  Die  Sonntagsruhe  ist  den 
Jugendlichen  wenigstens  von  6  Uhr  morgens  an  während  23  Stunden 
gewährt 

II.  Das  Gesetz  vom  20.  Juli  1895  zum  Schutz  der  Personen, 
welche  in  Fabriken  und  Werkstätten  arbeiten,  gegen  Krankheit  und 
Gefahren  (über  die  Sicherheit  beim  Verbleiben  in  Fa- 
briken und  Werkstätten  und  darum  kurz  „Sicherheitsgesetz" 
genannt).  Mit  diesem  Gesetze  wurde  zum  ersten  Male  auch  den 
erwachsenen  männlichen  Arbeitern  ein  legaler  Schutz  verliehen. 
Es  beschränkt  sich  auf  Fabriken  und  Werkstätten,  in  denen  eine 
Kraftmaschine  oder  ein  Ofen  benutzt  wird  oder  mindestens  zehn 
Personen  dauernd  beschäftigt  sind. 

Die  Beschäftigungszeit  Erwachsener  ist  dabei  nicht  geregelt. 
Nur  ist  bestimmt,  daß  in  Räumen,  wo  hohe  und  niedrige  Tempera- 
turen, schädliche  Dünste,  Gase  oder  Staub  vorkommen,  vom  Ar- 
beitsinspektor die  Arbeitszeit  beschränkt  werden  kann.  Die  eigent- 
lichen Hauptbestimmungen  über  die  Einrichtung  der  Arbeitsstätte 
findet  man  nur  in  zwei  Artikeln.  Der  eine  (Art.  6)  bestimmt,  daß 
eine  königliche  Verordnung  nähere  Bestimmungen  erlassen  muß, 
der  andere  (Art.  7),  über  welche  Gegenstände  eine  königliche  Ver- 
ordnung den  Arbeitgebern  Verpflichtungen,  welchen  diese  nach  den 
näheren  Vorschriften  der  Arbeitsinspektoren  nachzukommen  haben, 
auferlegen  kann.  All  dieses  ist  durch  den  königlichen  Erlaß  vom 
7.  Dez.  1896  geregelt.  Die  Bestimmungen  des  letztgenannten  Er- 
lasses beziehen  sich  auf:  a)  Luftraum,  b)  Ventilation,  c)  Beleuchtung, 
d)  Vorkehrung  gegen  Feuersgefahr,  e)  Ankleide-  und  Speiseräume, 
f)  Aborte,  g)  Reinlichkeit,  h)  Temperatur,  i)  schädliche  Dünste, 
Gase  oder  Staub,  k)  Unfallverhütung,  1)  Trinkwasser.  Für  jede 
neu  zu  errichtende  Fabrik  oder  Werkstatt  müssen  Pläne  und  Be- 
schreibung der  Einrichtung  der  Arbeitsinspektion  zur  Begutachtung 
vorgelegt  werden,  welche  zu  beurteilen  hat,  ob  diese  mit  den  Be- 
stimmungen des  Gesetzes  in  Einklang  stehen  oder  nicht. 


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644 


Gesetzgebung. 


Mit  der  Ausführung  beider  Gesetze  ist  die  seit  1889  be- 
stehende und  durch  das  Gesetz  vom  20.  Juli  1895  und  den  Erlaß 
vom  18.  Mai  1900  *)  reorganisierte  Fabrikinspektion  betraut.  Das 
ganze  Land  ist  in  neun  territorial  begrenzte  Arbeitsinspektionen 
eingeteilt.  In  jeder  Inspektion  fungieren  ein  Inspektor,  ein  oder 
mehrere  Hilfsinspektoren  und  Hilfsinspektorinnen  und  Aufseher. 

Zu  dieser  gedrängten  Auseinandersetzung  der  Arbeiterschutz- 
gesetzgebung in  engerem  Sinne  sei  hinzugefügt,  daß  ein  Gesetz 
vom  28.  Mai  1901  die  Verfertigung  der  Phosphorstreichhölzer  gänz- 
lich untersagte  und  die  Verwendung,  die  Einfuhr  und  den  zum 
Verkauf  vorhandenen  Vorrat  regelte.  *) 

III.  das  Gesetz  vom  2.  Mai  1897  betreffend  die  Errichtung- 
von  Arbeitskammern. 8) 

Wo  das  Bedürfnis  dafür  vorliegt  und  eine  vorschriftsmäßige 
Zusammensetzung  sich  ermöglichen  läßt,  wird  durch  königlichen 
Erlaß  für  eine  oder  mehrere  Gemeinden  und  für  ein  einziges  Ge- 
werbe oder  für  eine  Mehrzahl  von  Gewerben  eine  Arbeitskammer 
errichtet.  Die  Arbeitskammern  haben  die  Aufgabe,  die  Interessen 
der  Arbeitgeber  und  Arbeitnehmer  zu  gemeinschaftlichem  Zu- 
sammenwirken zu  fördern  und  zwar: 

a)  durch  Sammeln  von  Informationen  über  Arbeitsangelegen- 
heiten; 

b)  durch  Erstatten  von  Gutachten  über  alle  das  Arbeitsver- 
hältnis angehenden  Fragen  an  die  öffentlichen  Behörden 
sowie  an  Interessenten; 

c)  durch  Vorbeugung  und  Beilegung  von  Streitigkeiten  über 
Arbeitsangelegenheiten  und,  sofern  es  nötig,  durch  Herbei- 
führung einer  schiedsrichterlichen  Aussprache  zwischen  den 
Parteien. 

Eine  Kammer  besteht  zur  Hälfte  aus  Arbeitgebern  —  gewählt 
von  denjenigen  Arbeitgebern,  deren  Betriebe  in  der  Kammer  ver- 

')  Wortlaut  in  französischer  Übersetzung  im  Annuaire  de  la  legislation 
du  travail,  public  par  l'Officc  du  travail  deBclgique.  Tome  IV, 
p.  811. 

")  Wortlaut  in  deutscher  Übersetzung  im  Bulletin  des  Internationalen 
Arbeitsamts,  Bd.  I,  Nr.  I,  2,  3.  S.  56—59. 

*)  Wortlaut  der  hauptsächlichsten  Artikel  des  Gesetzes  in  diesem  Archiv 
Bd.  XI,  S.  758  ff.  und  ausführlicher  in  Nr.  12  der  Schriften  der  Gesellschaft 
für  Soziale  Reform. 


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Ph.  Falkenburg,  Fortschritte  de»  Arbeiterschutzes  in  den  Niederlanden.  645 


treten  sind  —  und  zur  anderen  Hälfte  aus  Arbeitnehmern,  deren 
Wahl  durch  die  in  den  vertretenen  Betrieben  beschäftigten  Arbeit- 
nehmer bewirkt  wird.  Mitglieder  einer  Kammer  können  nur  die- 
jenigen Männer  und  Frauen  sein,  welche  die  Staatsangehörigkeit 
besitzen,  das  30.  Lebensjahr  erreicht  haben  und  in  einem  in  der 
Kammer  vertretenen  Betriebe  während  einer  bestimmten  Zeit  im 
Kammerbezirk  als  Arbeitgeber  oder  Arbeitnehmer  tätig  waren. 
Wahlberechtigt  sind  männliche  und  weibliche  Staatsangehörige, 
welche  das  25.  Lebensjahr  erreicht  haben  und  während  einer  be- 
stimmten Zeit  innerhalb  des  Gebietes  der  Kammer  in  einem  der 
in  der  Kammer  vertretenen  Gewerbe  tätig  gewesen  sind. 

Die  Kammer  hat  zwei  Vorsitzende,  die  je  von  den  Arbeit- 
gebern und  Arbeitnehmern  gewählt  werden  und  abwechselnd  ein 
halbes  Jahr  amtieren. 

Jede  Kammer  versammelt  sich  mindestens  viermal  im  Jahre. 
Das  Beratungslokal  wird  unentgeltlich  von  den  Gemeinden  zur 
Verfügung  gestellt. 

Ihre  Wirksamkeit  gipfelt  nach  dem  Gesetze  in  der  Auf- 
gabe Streitigkeiten  beizulegen.  Wenn  in  einem  Gewerbe  ein 
Streit  zu  entstehen  droht  oder  entstanden  ist,  so  kann  durch  die 
Parteien  die  Vermittlung  eines  Versöhnungsrates  angerufen  werden. 
Die  Mitglieder  dieses  Rates  werden  aus  dem  Kreise  der  Kammer 
gewählt,  zu  gleicher  Zahl  Arbeitnehmer  und  Arbeitgeber,  unter 
Vorsitz  eines  Kammermitglieds  oder  eines  außerhalb  der  Kammer 
Stehenden.  Der  Versöhnungsrat  versucht,  die  Parteien  zu  einigen. 
Von  vornherein  strebt  der  Vorsitzende  zu  erreichen,  daß  die  Par- 
teien sich  verpflichten,  während  der  Dauer  der  Verhandlung  weder 
die  Arbeit  niederzulegen  noch  eine  bei  dem  Konflikt  beteiligte  Person 
zu  entlassen.  Nach  beendeter  Untersuchung  und  Beratung  teilt  der 
Versöhnungsrat  seine  Ansicht  und  seine  Vorschläge  schriftlich  mit 
und  kann  seinen  Bericht  ganz  oder  teilweise  veröffentlichen.  Dies 
ist  das  einzige  ihm  zugestandene  Mittel,  um  einen  gewissen  mo- 
ralischen Druck  auf  die  Parteien  auszuüben. 

Über  die  Erfolge  und  die  Praxis  der  drei  genannten  Gesetze 
kann  ich  mich  kurz  fassen.  In  den  ersten  Jahren  nach  1889  hatte 
die  Arbeiterschutzgesetzgebung  mit  der  Einwendung  zu  kämpfen, 
sie  benachteilige  die  Konkurrenzfähigkeit  der  Industrie.  Erst  all- 
mählich verschwindet  auch  ein  anderer  Übclstand,  nämlich  das  Fehlen 
des  richtigen  Verständnisses  Tür  die  Arbeiterschutzgesetzgebung  beim 


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I 


646  Gesetzgebung. 

Richterstand.  Immer  und  immer  wiederholten  sich  die  Klagen  der 
Gewerbeinspektoren  über  zu  niedrige  Strafen  für  selbst  wiederholte 
Übertretungen  der  Schutzbestimmungen. 

Und  was  die  Arbeitskammern  betrifft,  so  kann  man  leider 
nicht  behaupten,  daß  sie  den  auf  sie  gesetzten  Erwartungen  ent- 
sprochen haben,  wiewohl  erfreuliche  Einzelleistungen  verzeichnet 
werden  müssen. 

So  war  der  Stand  der  Arbeiterschutzgesetzgebung,  als  das 
Kabinett  Kuyper  nach  den  Wahlen  vom  Sommer  1901  die  Regierung 
antrat.  Das  Unfall  Versicherungsgesetz  vom  2.  Januar  1901  y)  war 
noch  durch  das  vorige  Ministerium  Pierson  zu  glücklichem  Ende 
gebracht  und  die  Absicht  bestand  schon  seit  Jahren,  die  be- 
deutendsten Arbeiterschutzbestimmungen  zu  einem  einzigen  Arbeits- 
gesetz zusammenzufassen. 

Seit  diesem  Augenblicke  hat  das  niederländische  Staatsblatt 
weder  Gesetze  noch  Erlasse  veröffentlicht,  die  einen  Fortschritt  auf 
diesem  Gebiete  bedeuten.  Ich  lasse  kleinere  Umänderungen  älterer 
Bestimmungen  außer  Betracht.  Vielmehr  ist  ein  gewisser  Rückgang 
zu  verzeichnen. 

Erstens  ist  bei  dem  Gesetz  vom  21.  Oktober  1902  der  Art.  5 
des  Arbeitsgesetzes  (Schutz  von  Frauen  und  Jugendlichen)  in  reak- 
tionärem Sinne  ergänzt  worden. 2) 

Das  Arbeitsgesetz  verbot,  wie  gesagt,  die  weibliche  Nacht- 
arbeit zwischen  10  Uhr  abends  und  5  Uhr  morgens.  Trotz  des 
Verbots  schien  die  Frauennachtarbeit  beim  Heringspeilern  üblich 
gewesen  zu  sein.  Eine  Strafverfolgung  fand  aber  nie  statt.  Es 
kann  —  so  bestimmte  nun  das  neue  Gesetz  —  unter  gewissen  Be- 
dingungen in  einigen  Gemeinden  durch  königlichen  Erlaß  gestattet  . 
werden,  daß  die  beim  Heringspeilern  beschäftigten  Arbeiterinnen 
über  16  Jahren  in  der  Zeit  vom  1.  Oktober  bis  zum  15.  März  bis 
12  Uhr  nachts  und  in  der  Zeit  vom  15.  März  bis  1.  Juni  bis 
höchstens  2  Uhr  nachts  beschäftigt  werden  dürfen,  wenn  die  Ar- 
beitsdaucr  innerhalb  24  Stunden  8  Stunden  nicht  überschreitet. 
Der  königliche  Erlaß  vom  18.  März  1903  dekretierte,  daß  der  Ar- 
beitgeber bei   der  Nachtarbeit  zugegen  sein  muß,  damit  er  im 


')  Wortlaut  in  französischer  Übersetzung  im  Annuaire  de  la  leg  isla tion 
du  travail,  public  par  l'Office  du  travail  de  Bclgique,  1901,  p.  439. 

«)  Wortlaut  in  deutscher  Übersetzung  im  Bulletin  des  Internationalen 
Arbeitsamts  Bd.  I,  Nr.  11/12,  S.  668  ff. 


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Ph.  Falkenburg,  Fortschritte  des  ArbeiterschuUes  in  den  Niederlanden.  647 


Interesse  der  eigenen  Nachtruhe  nicht  länger  arbeiten  lasse,  als 
unbedingt  notwendig  ist,  daß  weiter  ein  erhöhter  Lohn  bezahlt 
wird  und  die  Frauen  nach  der  Nachtarbeit  in  den  ersten  7  Stunden 
nicht  mehr  beim  Speilern  beschäftigt  werden. 

Zweitens  sind  leider  noch  gesetzliche  Bestimmungen  zu  ver- 
zeichnen, die  für  die  Arbeiterbewegung  und  die  ruhige  Weiter- 
entwicklung einer  gesunden  Sozialpolitik  weit  schwerwiegender  und 
verhängnisvoller  sind  als  die  vorn  erwähnte. 

Der  bekannte  allgemeine  Eisenbahnarbeiterstrike  vom  31.  Jan. 
1903  bot  den  dem  Emporkommen  des  Arbeiterstandes  wenig 
freundlich  Gesinnten  die  erwünschte  Gelegenheit,  das  ziemlich 
unbeschränkte  Koalitions-  und  Strikerecht  zu  beschränken.  Die 
Regierung  brachte  am  25.  Februar  des  vorigen  Jahres  bei  der 
Zweiten  Kammer  drei  Vorlagen  ein.  Unter  dem  Einfluß  der 
Opposition  der  liberalen  Partei  gegen  gewisse  besonders  drakonische 
Bestimmungen  des  gegen  das  Strikerecht  gerichteten  Gesetzent- 
wurfs hatte  die  Regierung  sich  zu  einigen  nicht  unwesentlichen 
Abschwächungen  desselben  bestimmen  lassen,  die  aber  keineswegs 
ausreichten,  um  dem  Gesetz  seinen  gefahrlichen  Charakter  zu 
nehmen.  Gegen  die  abgeänderten  Vorlage  wurde  im  Parlamente 
nur  noch  von  sozialdemokratischer  und  von  radikaler  Seite  oppo- 
niert und  dies  besonders  weil  die  Gewerkvereine  während  einiger 
Tage  einen  Generalstrike  durchzusetzen  versucht  hatten.  Die  Vor- 
lagen wurden  vom  Parlament  angenommen  und  bilden  die  Gesetze 
vom  1 1.  April  1903. !) 

Zwei  dieser  Gesetze  bestimmen  die  Schaffung  einer  militä- 
rischen Eisenbahnbrigade  und  die  Einsetzung  einer  Staatskommission, 
welche  die  Rechts-  und  Dienstverhältnisse  der  Eisenbahnbediensteten 
untersuchen  sollte.  Mit  beiden  Gesetzen  waren  fast  alle  Parteien 
einverstanden.  Anders  aber  mit  dem  Gesetz  zur  Ergänzung  und 
Änderung  des  Strafgesetzbuches. 

Mit  Gefängnis  bis  zu  neun  Monaten  oder  Geldstrafe  bis  zu 
300  Gulden  wird  bestraft  derjenige,  welcher  einen  anderen  durch 
■Gewalt  oder  irgend  eine  andere  Tätlichkeit,  oder  durch  Drohung 
mit  Gewalt  oder  irgend  eine  andere  Tätlichkeit,  sei  es  gegen 
diesen  anderen,  sei  es  gegen  dritte  Personen,  widerrechtlich  etwas 
zu  tun,  zu  unterlassen  oder  zu  dulden  nötigt  und  gleichfalls  der- 


*)  Wortlaut  in  deutscher  Übersetzung  im  Bulletin  des  Internationalen 
Arbeitsamts  Bd.  II,  Nr.  10,  S.  176fr. 

Archir  für  Sozialwiwetuchaft  u.  Sozialpolitik.  I.    ( A.  f.  «oz.  C.  u.  St.  XIX.)  3.  4* 


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648 


Gesetzgebung. 


jenige,  welcher  einen  anderen  durch  Drohung,  Beleidigung  oder 
Schmähschrift  nötigt,  etwas  zu  tun,  zu  unterlassen  oder  zu 
dulden. 

Derjenige,  welcher  widerrechtlich  auf  einem  öffentlichen  Wege 
einen  anderen  an  seiner  freien  Bewegung  hindert  oder  sich  mit 
einem  oder  mehreren  Dritten  einem  anderen  gegen  dessen  ausdrück- 
lich ausgesprochenen  Willen  fortgesetzt  aufdrängt  oder  ihm  auf 
hinderliche  Weise  fortgesetzt  folgt,  wird  mit  Haft  bis  zu  I  Monat 
oder  mit  Geldstrafe  bis  zu  100  Gulden  bestraft. 

Durch  diese  Bestimmungen  ist  das  Postenstehen  bei  Strikes 
sehr  erschwert,  ja  fast  unmöglich  gemacht,  zumal  weil  das  Reichs- 
gericht im  Haag  in  letzter  Zeit  ein  „auf  hinderliche  Weise  folgen" 
schon  annahm,  wenn  der  Gefolgte  das  Folgen  an  sich  unangenehm 
findet,  ohne  daß  ein  objektives  Element  in  der  Weise  des  Folgens 
anwesend  zu  sein  braucht. 

Überhaupt  ist  das  Niederlegen  der  Arbeit  Beamten  eines  öffent- 
lichen Dienstes  oder  in  dem  öffentlichen  Eisenbahnverkehr  bei 
Strafe  von  6  Monaten  Gefängnis  oder  bei  Geldstrafe  bis  zu 
300  Gulden  verboten  worden.  Wenn  drei  oder  mehr  Personen 
infolge  einer  Verabredung  striken,  so  werden  die  Schuldigen,  sowie 
die  Anführer  oder  Anstifter  mit  Gefängnis  bis  zu  2  Jahren  bestraft. 

Beamten  in  öffentlichen  Diensten,  Reichs-,  Provinzial-  oder 
Gemeindearbeitern  ist  also  jeder  Strikeversuch  untersagt.  Da  nun 
das  Disziplinarverfahren  gegen  solche  Beamten  in  den  meisten 
Diensten  und  bei  den  privaten  Eisenbahnen  ungeregelt  war  und 
deshalb  Schiedsgerichte,  bei  denen  Berufung  gegen  auferlegte 
Strafen  eingelegt  werden  konnten,  völlig  fehlten,  war  es  die  Pflicht 
der  Regierung  das  Versäumnis  nachzuholen,  soweit  es  ihr  mög- 
lich war.  Bis  jetzt  sind  nur  Bestimmungen  getroffen  für  die  Eisen- 
bahnbeamten.  ') 

Für  die  Gemeindearbeiter,  welche  in  großen  Städten  schon 
jetzt  durch  ausfuhrliche  Arbeitsordnungen  geschützt  sind,  wird 
außerdem  gesorgt  durch  eine  bis  jetzt  noch  nicht  zur  Verhandlung 
gekommene  Vorlage  zur  Abänderung  des  Gemeindegesetzes. 

Das  Urteil  über  die  sozialpolitische  Tätigkeit  der  jetzigen  Re- 


')  Wortlaut  der  Ergänzung  der  Vorschriften  für  den  Dienst  auf  den  Eisen- 
bahnen und  der  Bestimmungen  betr.  die  Dienstordnung  des  Eisenbahnpcrsonals  in 
deutscher  Übersetzung  im  Bulletin  des  Internationalen  Arbeitsamts, 
Bd.  II,  S.  177  f.  und  404  ff. 


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Ph.  Falkenburg,  Fortschritte  des  Arbeiterschutzes  in  den  Niederlanden.  649 


gierung  kann  also  nur  ungünstig  sein.  Wird  die  nächste  Zukunft 
zu  einer  Besserung  Anlaß  geben?  Das  ist  kaum  zu  erwarten. 
Gegen  die  in  letzter  Zeit  eingebrachte  Vorlage  eines  allgemeinen 
Arbeiterschutzgesetzes  erheben  sich  schon  viele  Stimmen  und  nicht 
nur  aus  der  sozialdemokratischen  Partei.  Ein  neuer  Gesetzentwurf 
über  den  Arbeitsvertrag,  eine  Umarbeitung  des  vom  freisinnig- 
demokratischen Prof.  Dr.  Drucker  verfaßten  Entwurfes  hat  ebenso- 
wenig überall  Beifall  gefunden.  Ich  unterlasse  es  über  beide  Ent- 
würfe Näheres  mitzuteilen,  weil  in  letzter  Zeit  die  sozialpolitischen 
Entwürfe  während  der  schriftlichen  und  mündlichen  parlamentarischen 
Behandlung  so  vielen  Umänderungen  unterzogen  worden  sind,  daß 
selbst  eine  kurze  Berichterstattung  über  einen  ersten  Entwurf  in 
dieser  Zeitschrift  nicht  am  Platze  wäre.  Hoffentlich  werden  im 
nächsten  Jahre  die  Verhandlungen  über  diese  Entwürfe  weit  genug 
fortgeschritten  sein,  um  eine  Besprechung  an  dieser  Stelle  zu  recht- 
fertigen. 


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650 


MISZELLEN. 

Die  neue  Arbeiterpartei  in  England. 

Von 

EDWARD  R.  PEASE, 

London. 

In  den  letzten  drei  oder  vier  Jahren  beginnt  in  der  englischen  Po- 
litik ein  Faktor  sich  geltend  zu  machen ,  dessen  Bedeutung  nur  verein- 
zelte Engländer  und  natürlich  noch  weniger  Fremde  richtig  bewerten. 

Bei  den  Hauptwahlen  von  1900  war  die  Arbeiterpartei  nur  ein 
Kind  von  wenigen  Monaten.  Seitdem  hat  sie  ihre  Kräfte  in  einer  be- 
trächtlichen Anzahl  von  Nachwahlkämpfen  gezeigt.  Bei  den  nächsten 
Hauptwahlen  wird  jedermann  die  neue  politische  Macht  vor  Augen 
sehen. 

Die  Arbeiterpartei  ist  ein  Resultat  der  Gewerkschaftsbewegung.  Die 
britischen  und  irischen  Gewerkschaftsvereine  sind  für  politische  Zwecke 
seit  langem  lose  zusammengehalten  durch  einen  jährlichen  Kongreß,  der 
das  „parlamentarische  Komitee"  wählt,  das  ihre  politischen  Interessen 
vertritt.  Diese  Körperschaft  ist  insofern  von  Einfluß,  als  sie  die  offizielle 
Vertretung  von  beinahe  2  Mill.  organisierter  Arbeiter  darstellt,  aber  die 
Gelder,  die  sie  zur  Verfügung  hat,  sind  unbedeutend  und  sie  hat  selten 
mehr  versucht  als  Deputationen  an  die  Regierung  zu  organisieren  oder 
Zusammenkünfte  zu  veranstalten,  um  dem  Parlament  vorliegende  Gesetz- 
entwürfe, welche  die  arbeitenden  Klassen  unmittelbar  berührten,  zu  be- 
sprechen. 

Schon  lange  ist  es  aufmerksamen  Beobachtern  der  treibenden  Kräfte 
in  der  politischen  Bewegung  Englands  klar,  daß  dort  eine  einflußreiche 
sozialistische  oder  Arbeiterpartei  mit  einiger  Aussicht  auf  Erfolg  nur  durch 
die  Gewerkvereine  geschaffen  werden  kann,  weil  diese  fast  alle  besser  be- 
zahlten Arbeiter  der  zentralisierten  Industrien  umfassen  und  sowohl  über 
außerordentlich  große  Kapitalien  verfügen  als  auch  den  nötigen  Apparat 
besitzen,  um  alle  benötigten  weiteren  Summen  zu  sammeln. 


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Edward  R.  Pcasc,  Die  neue  Arbeiterpartei  in  England.  651 

Im  Jahre  1901  betrug  die  Mitgliederzahl  der  1236  eingetragenen 
Gewerkvereine  1  922  780  und  das  vorhandene  Kapital  der  100  größten 
mit  ungefähr  2/a  der  Gesamtmitgliederzahl  betrug  4  161  916  £,  während 
ihr  jährliches  Einkommen  sich  auf  2  061  So  1  £  belief.  Dazu  kommen 
zahlreiche  meist  kleinere  Gewerkvereine,  welche  vorerst  von  den  Vor- 
teilen der  Eintragung  keinen  Gebrauch  gemacht  haben. 

Geschichte   der  parlamentarischen  Arbeiter  Vertretung. 

Vor  30  Jahren  wurden  zum  erstenmal  Arbeiter  als  Arbeitervertreter 
in  das  britische  Unterhaus  gewählt.  Bei  den  Haupt  wählen  von  1874 
wurde  Macdonald  für  denjWahlkreis  Staribrd  gewählt  und  Thomas  Burt  von 
den  Bergleuten  von  Northumberland  für  den  Kreis  Morpeth,  den  er  heute 
noch  vertritt.  Seit  dieser  Zeit  war  stets  eine  Anzahl  von  Arbeitern  im  Parla- 
mente vertreten,  von  drei  im  Jahr  1880  bis  zu  15  in  den  Jahren  1892, 
1899  und  1904.  Alle  früheren  Arbeitervertreter  waren  indessen  Mit- 
glieder der  liberalen  Partei  und  wollten  auch  nichts  anderes  sein.  Nur 
einmal  hat  ein  Gewerkvereinler  sich  als  konservativer  Kandidat  aufstellen 
lassen  und  zwar  1899,  als  der  allmächtige  Generalsekretär  der  Lancashire 
Baumwollarbeiter  James  Maudesley  bei  einer  doppelten  Nachwahl  in 
Oldham  sich  zusammen  mit  einem  Tory  aufstellen  ließ ;  beide  Sitze 
gingen  durch  sie  der  Partei  verloren. 

Eine  Änderung  begann  sich  zu  zeigen ,  als  bei  den  Wahlen  von 
1892  die  Londoner  Liberalen  in  Battersea  zugunsten  von  John  Burns 
und  in  West  Harn  von  Keir  Hardie,  dem  jetzigen  Führer  der  „unab- 
hängigen Arbeiterpartei"  sich  der  Aufstellung  eines  Kandidaten  enthielten  ; 
beide  wurden  mit  großer  Majorität  gewählt,  obgleich  sie  sich  keineswegs 
der  liberalen  Partei  verpflichtet  hatten. 

John  Burns  hat  seinen  Sitz  noch  heute  inne,  Keir  Hardie  verlor 
den  seinigen  1895  u"d  gehört  erst  seit  1900  wieder  dem  Parlamente  an. 

Wir  müssen  hier  unsere  Leser  vor  einer  Verwechselung  von  zwei  ganz 
verschiedenen  Körperschaften,  deren  Namen  aber  sehr  ähnlich  lauten, 
warnen.  Die  „unabhängige  Arbeiterpartei"  (Independent  Labour  Party) 
ist  eine  sozialistische  Vereinigung,  die  größte  in  England,  hat  aber  nur 
etwa  13000  Mitglieder.  Diese  sozialistische  Vereinigung  wollen  wir  von 
jetzt  ab  mit  ihren  wohl  bekannten  Initialen  I.L.P.  nennen.  Die  „Arbeiter- 
partei" (Labour-Party),  welche  ebenfalls  Wert  darauf  legt  unabhängig  zu  sein, 
ist  der  offizielle  Name  der  neugegründeten  Gewerkvereinspartei,  deren  Ge- 
schichte wir  jetzt  erzählen  wollen. 

Im  Jahre  1899  wurde  die  handarbeitende  Bevölkerung  im  Unterhaus 
durch  etwa  15  Gewerkvereinler  vertreten,  die  offiziell  alle  Mitglieder 
der  liberalen  Partei  waren,  mit  Ausnahme  von  John  Burns,  der  immer 
gewissermaßen  für  sich  allein  eine  Partei  bildete.  In  diesem  Jahr  nahm 
der  Gewerkvereinskongreß    eine   Resolution   an,    welcher   sein  parla- 


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Miszellen- 


mentariches  Komitee  beauftragte,  einen  Kongreß   von  Gewerkvereinen 
und  sozialstischen  Gesellschaften  einzuberufen  um  die  politische  Ver- 
tretung der  Arbeiter  zu  organisieren.    Das  Resultat  war,  daß  die  drei 
sozialistischen  Vereine,  die  I.L.P.,  die   sozialdemokratische  Föderation 
und  die  Fabian  Society  von  dem  parlamentarischen  Komitee  aufgefordert 
wurden ,  die  Tagung  miteinzuberufen.    Diese  konstituierende  Zusammen- 
kunft wurde  im  Februar  1900  in  London  abgehalten  und  war  von  129 
Delegierten  als  den  Vertretern  von  etwa  6  7  Gewerkvereinen  mit  545  316 
und  den  3  sozialistischen  Vereinen  mit   22861  Mitgliedern  besucht. 
John  Burns  und  andere  parlamentarische  Arbeitervertreter  nahmen  eben- 
falls teil.    Auf  dieser  Versammlung,  die  sich  durch  eine  enthusiastische 
Stimmung  und  im  ganzen  durch  eine  allgemeine  Übereinstimmung  aus- 
zeichnete, wurde  beschlossen  ein  Komitee  zu  bilden,  welches  das  Arbeiter- 
Vertretungskomitee  (Labour  Representation  Comittee)  heißen  sollte;  von 
den  Mitgliedern  sollten  die  Gewerk vereine  7,  die  I.L.P.  und  die  sozial- 
demokratische Föderation  je  2  und  die  Fabian  Society  eines  wählen. 
Ein  Generalsekretär  (J.  Ramsay  Macdonald)  wurde  ebenfalls  damals  ge- 
wählt. 

Zwei  Jahre  später  traten  die  Sozialdemokraten  aus  und  ihre  Sitze 
in  der  Exekutive  fielen  den  Gewerkvereinen  zu.  Man  kam  überein,  die 
„Trade  Councils"  (lokale  Vereinigungen  der  Gewerkvereine  in  den  ein- 
zelnen Städten)  aufzufordern,  sich  dem  Komitee  anzuschließen  und  einen 
Vertreter  in  die  Exekutive  zu  wählen.  Diese  besteht  demnach  zurzeit 
aus  9  Delegierten  der  Gewerk  vereine,  1  der  „Trade-Councils"  und  3 
der  beiden  sozialistischen  Gesellschaften. 

Die  Hauptfrage  bei  der  ersten  Zusammenkunft  und  auch  später 
war  die  Stellung  der  neuen  Vereinigung  gegenüber  den  bestehenden 
Parteien.  Wie  schon  gesagt,  waren  (und  sind  in  der  Tat  noch)  die 
Masse  der  Gewerkvereinler,  besonders  die  Bergleute,  welche  den  größten 
und  geschlossensten  Gewerkverein  bilden,  Liberale,  aber  in  Lancashire, 
in  Belfast  und  etwas  weniger  an  manchen  anderen  Orten,  sind  eine 
große  Zahl  von  Gewerkvereinlern  Konservative,  oder  jedenfalls  Anti- 
Liberale,  wie  denn  auch  alle  großen  Städte,  vor  allem  London,  Glasgow, 
Liverpool  ganz  oder  zum  größten  Teil  durch  Konservative  vertreten 
werden,  während  die  liberale  Partei  ihren  Rückhalt  in  den  Grafschafts- 
Wahlbezirken  hat,  besonders  in  den  alten  keltischen  Ländern,  Wales, 
Schottland  und  Cormvall  und  in  den  kleineren  Landstädten. 

Da  beide,  konservative  und  liberale  Gewerkvereinler,  in  die  Ge- 
werkvereinskasse  zahlen,  scheinen  zwei  Lösungen  möglich.  Entweder 
muß  die  parlamentarische  Gewerkvereinspartci  als  neue  und  unabhängige 
Partei  für  sich  allein  stehen;  oder  ihre  Mitglieder  müssen  eine  Gruppe 
bilden,  die  für  bestimmte  Zwecke,  d.  h.  für  Arbeiterfragen,  zusammen- 
hält und  sonst  die  Freiheit  hat,  sich  bei  anderen  Fragen  einer  der  be- 
stehenden Parteien  anzuschließen.     Aber  gegen  beide  Auswege  lassen 


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Edward  R.  Pease,  Die  neue  Arbeiterpartei  in  England. 


653 


sich  triftige  Einwände  erheben :  Für  den  ersten  wäre  Geld  und  eine  be- 
sondere Organisation  nötig  gewesen,  und  die  wenigen  Siege,  auf  die 
man  zu  hoffen  wagte,  hätten  viele  fruchtlose  Kämpfe  gekostet.  Auf  der 
anderen  Seite  konnte  man  einwenden,  daß,  obgleich  die  Gewerkvereins- 
kandidaten  sich  ja  sowohl  als  Liberale  als  auch  als  Konservative  auf- 
stellen lassen  könnten,  sie  faktisch  doch  alle  oder  zum  weitaus  größten 
Teil  als  Liberale  kandidieren  würden  und  so  würden  die  konservativen 
Gewerkvereinler  beständig  fiir  liberale  Arbeitervertreter  zu  stimmen  und 
zu  zahlen  haben,  während  von  den  Liberalen  ein  ähnliches  Opfer  kaum 
je  verlangt  werden  würde. 

Diese  letztere  Schwierigkeit  schien  indessen  der  ersten  Versamm- 
lung nicht  so  gewichtig  wie  die  erste  und  so  wurde  denn  beschlossen, 
eine  Arbeitergruppe  von  Parlamentsmitgliedern  zu  schaffen,  die  zu  ge- 
meinsamer Arbeit  in  allen  die  Arbeiter  betreffenden  Fragen  verpflichtet, 
im  übrigen  aber  frei  sein  sollten  sich  entweder  den  Liberalen  oder  den 
Konservativen  anzuschließen  und  in  anderen  Fragen  nach  Gutdünken  zu 
stimmen. 

Als  die  Wahlen  von  1900,  die  mitten  in  den  südafrikanischen 
Krieg  fielen,  auszukämpfen  waren,  war  das  Labour  Representation  Comittee 
erst  wenige  Monate  alt  und  seine  Organisation  nichts  weniger  als  voll- 
ständig. 1 5  Kandidaten,  welche  seine  Unterstützung  annahmen  und  sich  zu 
seinem  Programm  bekannten,  wurden  aufgestellt.  Einige  waren  Liberale; 
andere  von  den  Sozialdemokraten  und  der  I.L.P.  nominierte  Sozialisten, 
noch  andere  waren  einfach  Arbeitervertreter.  Die  Konservativen  siegten 
auf  der  ganzen  Linie  und  nur  zwei  von  den  L.R.C.-Kandidaten  hatten 
Erfolg,  Richard  Bell,  der  Generalsekretär  des  Vereinigten  Bundes  der 
Eisenbahnangestellten  (Amalgamated  Society  of  Railway-Servants) ,  der 
mit  Hilfe  der  Liberalen  in  Derby  gewählt  wurde,  und  Keir  Hardie  von 
der  I.L.P.,  der  in  Merthyr  Tydvill  in  Wales  einen  Sitz  gewann. 

Keiner  von  diesen  Siegen  war  bemerkenswert.  Die  erstaunlichen 
Wahlerfolge  der  neuen  Partei  wurden  in  den  Nachwahlen  der  letzten 
zwei  Jahre  errungen. 

Während  des  Jahres  1901  beteiligte  sich  das  L.R.C.  an  keiner 
Wahl.  Aber  1902  wurde  in  dem  Wahlkreis  Clitheroe,  einem  abge- 
legenen Distrikt  von  Lancashire,  der  hauptsächlich  von  der  Baumwoll- 
industrie lebt,  ein  Sitz  frei.  Bis  jetzt  hatte  ihn  unumstritten  ein  Liberaler 
innegehabt,  der  ihn  1892  mit  einer  Majorität  von  21 51  gewonnen  hatte. 
Die  L.R.C. -Exekutive  berief  schleunig  eine  Konferenz  von  Gewerkver- 
einlern  nach  dem  Hauptplatze  Colne  und  dort  wurde  einstimmig  be- 
schlossen, D.  J.  Shackleton  von  dem  Textilarbeiter-Gewerkverein  als 
L.R.C.-Kandidaten,  unabhängig  von  der  liberalen  oder  konservativen  Partei 
aufzustellen.  Die  Liberalen  suchten  umsonst  einen  Gegenkandidaten  zu 
rinden.  Die  Tories  hatten  keine  Aussichten,  wenn  kein  liberaler  Gegner 
da  war;  und  so  konnte  zuletzt  die  neue  Partei  ihren  Mann  tatsächlich 


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654  Miszcllen. 

ohne  jeden  Kampf  wählen,  ein  Ereignis,  das  in  der  langen  Geschichte 
der  englischen  Parlamentswahlen  einzig  dasteht. 

Der  zweite  VVahlkampf  verlief  beinahe  ebenso  überraschend.  YVool- 
wich,  ein  Londoner  Wahlkreis,  der  von  dem  königlichen  Arsenal  mit 
seinen  Tausenden  gut  organisierter  Arbeiter  beherrscht  wird,  war  seit 
Jahren  eine  konservative  Hochburg,  die  1896  mit  2805  Stimmen  Mehr- 
heit behauptet  und  seitdem  nicht  wieder  angegriffen  worden  war.  Im 
Januar  1903  legte  der  Admiral  Lord  Charles  Beresford  seinen  Sitz 
nieder  und  die  lokale  Arbeiterpartei  beschloß  William  Crooks  aufzu- 
stellen, einen  Böttcher,  bekannt  als  Vorsitzender  der  Armenverwaltung, 
in  deren  Schule  er  als  Armenkind  seine   Erziehung  erhalten  hatte. 
Liberale  unterstützten  Crooks  kräftig  mit  Geld  und  persönlichen  Diensten, 
aber  er  hatte  sich  zur  Unabhängigkeit  ihnen  sowohl  wie  den  Konser- 
vativen gegenüber  verpflichtet  und  gewann  den  Sitz  mit  der  über- 
raschenden Mehrheit  von  3229  gegen  einen  Konservativen,  der  durch- 
aus nicht  etwa  ein  unbekannter  Mann  war. 

Darauf  folgte  eine  Niederlage  in  Preston  und  dann  kam  eine  andere 
Nachwahl,  diesmal  in  Barnard  Castle,  Durham,  wo  die  Bergleute  seit 
den  letzten  30  bis  40  Jahren  einen  liberalen  Minenbesitzer  gewählt 
hatten.  Bei  seinem  Tod  beschloß  Arthur  Henderson,  ein  am  Ort  wohl- 
bekanntes Mitglied  des  Eisengießervereins,  sich  als  Arbeiterkandidat  auf- 
stellen zu  lassen.  Diesmal  beschlossen  sowohl  die  Liberalen  als  auch 
die  Tories  den  Kampf  aufzunehmen,  aber  Henderson  besiegte  beide, 
den  Tory  mit  der  kleinen  Mehrheit  von  47  und  den  Liberalen  mit  563 
Stimmen  bei  einer  Gesamtstimmenabgabe  von  9502. 

Eine  Niederlage  in  einem  Kampf  nach  zwei  Seiten  in  Norwich  im 
Dezember  war  das  Resultat  bei  der  letzten  Wahlbeteiligung,  aber  das 
Verzeichnis  der  Erfolge,  3  Siege  in  4  aufeinanderfolgenden  Wahlen  ist 
ohne  Parallele  bei  einer  so  jungen  Partei  und  fast  unbekannten  Männern. 

Die  Wahlpolitik  der  Partei. 

Unterdessen  hat  sich  in  den  Grundlagen  der  Partei  eine  Änderung 
vollzogen.  Der  Kampf  zwischen  der  Mehrheit,  die  eine  Allianzpolitk 
mit  einer  der  beiden  anderen  Parteien  (tatsächlich  mit  der  liberalen) 
vorzog  und  der  von  der  I.L.P.  geführten  Minorität,  welche  für  völlige 
Unabhängigkeit  war,  wurde  unablässig  innerhalb  und  außerhalb  der  Or- 
ganisation fortgeführt.  Im  Anfang  des  Jahres  1903  schlössen  sich  die 
Textilarbeiter  von  Lancashire,  103000  an  der  Zahl,  dem  Komitee  an 
und  bei  der  jährlichen  Zusammenkunft  in  Newcastle  wandte  sich  das 
Blatt.  Nach  einer  lebhaften  Debatte  wurde  mit  659  gegen  154  Stimmen 
(für  je  Tausend  Mitglieder  wurde  eine  Stimme  abgegeben ;  das  ange- 
brochene Tausend  galt  für  voll)  eine  Resolution  angenommen  des  Inhalts, 
daß  alle  Kandidaten  und  Beamten  des  Komitees  „streng  davon  absehen 


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Edward  R.  Pease,  Die  neue  Arbeiterpartei  in  England. 


sollten,  sich  mit  der  liberalen  oder  konservativen  Partei  zu  identifizieren 
oder  deren  Interessen  zu  fördern",  ferner  sollten  alle  Kandidaten  allein 
•  das  Wort  „Labour"  als  ihren  Parteinamen  gebrauchen.  ') 

Dieser  überwältigende  Sieg  machte  der  Frage  ein  Ende.  Die  Mi- 
norität war  zu  klein,  den  Kampf  fortzuführen  und  die  oben  betrichteten 
Wahlsiege  waren  ein  Beweis  dafür,  daß  die  Politik  der  Unabhängigkeit 
weniger  Schwierigkeiten  hatte,  als  ihre  Gegner  erwarteten.  Vom 
Februar  1903  datiert  also  die  Gründung  einer  neuen  politischen  Partei 
in  England. 

Die  Organisation  der  Partei. 

Die  neue  Partei  hat  sich  nach  dem  bewährten  Muster  der  eng- 
lischen Gewerkvereine  organisiert.  Ihr  Parlament  ist  eine  jährliche  Ge- 
neralversammlung in  irgend  einer  großen  Provinzstadt. 

Die  Tagung  in  Bradford,  im  Februar  1904  wurde  von  355  Dele- 
gierten beschickt,  die  121  Gewerk vereine,  43  Trade-Councils  und  2  so- 
zialistische Gesellschaften  vertraten.  Die  Delegierten  haben  eine  Stimme 
für  je  1000  Mitglieder  der  von  ihnen  vertretenen  Körperschaften. 
Vereine  unter  1000  Mitglieder  haben  eine  Stimme. 

Die  Befugnis,  die  einzuschlagende  Politik  zu  bestimmen,  die  Statuten 
zu  ändern,  Gelder  zu  bewilligen  usw.  steht  allein  der  jährlichen  General- 
versammlung zu.  Während  ihrer  Tagung  tun  sich  die  Delegierten  der 
4  verschiedenen  großen  Körperschaften,  der  Gewerkvereine,  Trade-Coun- 
cils, I.L.P.  und  Fabian-Society  gesondert  zusammen,  um  die  ihnen  zu- 
stehende Zahl  von  Mitgliedern  für  die  Exekutive  zu  wählen.  Die  ver- 
einigte Generalversammlung  wählt  dann  den  Generalsekretär.  Die  Dele- 
gierten der  Gewerkvereine  und  Trade-Councils  sind  nach  heißem 
Kampfe  gewählt  worden;  der  Generalsekretär  J.  Ramsay  Macdonald  hat 
seinen  Posten  seit  Beginn  inne,  ohne  einen  Gegenkandidaten  gefunden 
zu  haben. 

Finanzen  und  Mitgliedschaft. 

Das  Komittee  besitzt  zwei  Fonds ,  einen  allgemeinen  für  die  laufenden 
Ausgaben,  der  durch  eine  Umlage  von  10  sh.  pro  1000  Mitglieder  von 
den  Gewerkvereinen  und  Sozialisten  und  von  £  1  von  jedem  Trade- 
Council  aufgebracht  wird.  Bei  der  letzten  Generalversammlung  wurden 
diese  Beiträge  auf  15  resp.  30  sh.  erhöht.  Das  Einkommen  aus  dieser 
Quelle  betmg  1 903 — 4  :  646  £.  1 903  wurde  ein  Parlamentsfonds  er- 
richtet, um  jedem  in  das  Parlament  gewählten  Parteimitglied  jährlich 
200  £  zu  zahlen,  außerdem  jedem  Kandidaten  2  5  Proz.  der  offiziellen  Wahl- 


')  Wir  haben,  dem  deutschen  Sprachgebrauch  gemiß,  Labour-party  usw.  stets 
mit  Arbeiterpartei  übersetzt.    Anm.  d  Übers. 


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656 


Miszellen. 


ausgaben,  die  seitens  der  Regierung  im  voraus  von  jedem  Kandidaten  er- 
hoben werden.  Die  Beiträge  zu  diesem  Fonds  waren  auf  1  Penny  per 
Mitglied  festgesetzt  und  sollten  jährlich  etwa  4000  £  einbringen-  Im 
ersten  Jahr  war  die  Leistung  der  Zahlung  freiwillig,  die  Generalversamm- 
lung von  1904  machte  sie  obligatorisch. 

Man  beschloß,  daß  der  Fonds  nicht  angegriffen  werden  dürfe,  ehe 
2500  £  vorhanden  seien;  diese  Summe  ist  jetzt  erreicht  und  so  wird 
mit  der  Zahlung  von  Diäten  an  die  Arbeitervertreter  begonnen  werden. 
Die  Trade-Councils  steuern  nicht  zu  den  Parlamentsfonds  bei,  ihre  Kan- 
didaten erhalten  auch  keine  Unterstützung  aus  diesem. 

Das  Wachstum  der  Partei  ist  bemerkenswert:  Man  vergleiche  die 
nachfolgende  Tabelle: 

Gewerkvereine     Trade-Councils    Sozialist.  Vereine     Jährl.  Zunahme 


Jahr 

Zahl 

Mitglieder 

Zahl 

Zahl 

Mitglieder 

in  Vrot. 

1900—1 

41 

353070 

7 

3 

22861 

1901  —  2 

65 

455450 

21 

2 

13861 

24.8 

1902—3 

127 

847315 

49 

2 

13835 

83Ö 

1903-4 

165 

956025 

76 

2 

«3775 

12,6 

Die  Mitgliederschaft  der  Trade-Councils  kann  nicht  in  Rechnung 
gestellt  werden,  da  sie  hauptsächlich  aus  Personen  bestehen ,  die  schon 
als  Mitglieder  ihrer  Gewerkvereine  angeführt  sind,  aber  man  kann  mit 
Sicherheit  sagen,  daß  eine  Million  englischer  und  irischer  Arbeiter  sich 
dem  L.R.C.  angeschlossen  haben.  Unter  diesen  sind  verhältnismäßig 
wenige  Iren.  Die  Schotten  haben  eine  ähnliche,  aber  gesonderte  Organi- 
sationen mit  denselben  Zielen.  Die  unter  ihren  Auspizien  gewählten 
Parlamentsmitglieder  werden  ohne  Zweifel  im  Einklang  mit  der  englischen 
Arbeiterpartei  handeln. 

Zwei  Kategorien  von  Arbeitern  muß  sich  das  L.R.C.  noch  erobern : 
Man  kann  sagen,  daß  im  großen  ganzen,  die  Masse  der  englischen  Ge- 
werksvereinler  sich  dem  L.R.C.  angeschlossen  haben,  mit  einziger  Aus- 
nahme der  Bergleute.  Von  diesen  gehören  nur  37  700  Lancashire-  und 
Cheshire  -  Kohlengrubenarbeiter  und  6700  Bergleute  aus  den  Cleveland- 
Eisenerzgruben  dazu;  die  450000  anderen  Bergleute,  die  zurzeit  schon 
6  Vertreter  im  Parlament  haben,  halten  an  ihrer  Zugehörigkeit  zur  liberalen 
Partei  noch  fest.  Die  zweite  Kategorie  bilden  die  (1903)  2  116  127  Mit- 
glieder der  Genossenschaften  ;  Konsumvereine  u.  a.  m.)  mit  ihrem  Kapital 
von  37  158  239  J?.  Es  sind  natürlich  zum  großen  Teil  dieselben  Leute 
in  einer  neuen  Kombination.  Es  sind  Zeichen  dafür  vorhanden,  daß 
sie  sich  anschließen  werden,  doch  bis  jetzt  halten  sie,  mit  einer  Aus- 
nahme, an  ihrem  Grundsatz  fest,  Politik  und  Erwerbsleben  nicht  zu  ver- 
mengen. 


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Edward  R.  Pease,  Die  neue  Arbeiterpartei  in  England. 


657 


Das  Programm  der  Partei. 

Hier  können  wir  uns  kurz  fassen:  die  Arbeiterpartei  hat  kein 
offizielles  Programm,  ihre  Kandidaten  und  Anhänger  haben  sich  auf 
keinerlei  spezielle  politische  Ziele  festgelegt. 

Die  Partei  als  Ganzes  hat  für  den  Gesetzentwurf  der  Gewerkvereine 
gearbeitet,  welcher  die  „Taff-Vale"  und  andere  neuere  richterliche  Ent- 
scheidungen, die  dem  Gewerkvereinswesen  feindlich  sind,  annullieren  sollte 
und  so  groß  ist  der  Einfluß  der  Gewerkvereine ,  daß  das  Unterhaus  vor 
kurzem  den  Entwurf  in  der  zweiten  Lesung  mit  einer  Mehrheit  von  39 
annahm,  obgleich  die  Regierung  mit  der  sie  unterstützenden  großen 
Mehrheit  sich  ablehnend  verhielt  und  ohne  Zweifel,  weil  ohne  die  Unter- 
stützung der  Regierung  die  von  Mitgliedern  eingebrachten  Entwürfe  wenig 
Aussicht  haben,  die  Endstadien  zu  durchlaufen. 

Die  Partei  hat  offiziell  eine  Anzahl  von  politischen  Flugblättern  her- 
ausgegeben, aber  diese  wenden  sich  fast  alle  gegen  konservative  Maß- 
nahmen, wie  Schutzzölle,  chinesische  Arbeit  in  Südafrika  usw.  Außer 
der  Verstaatlichung  der  Eisenbahnen  und  der  Reform  der  Tradeunion- 
Gesetzgebung  geht  nichts,  was  die  Partei  erstrebt,  irgendwie  über  das 
liberale  Programm  hinaus. 

Das  Ziel  der  Partei  ist,  eine  Partei  zu  gründen.  Sie  ist  sich  Selbst- 
zweck. Ob  ein  so  engbegrenztes  Ziel  in  der  Zukunft  genügen  wird,  ist 
eine  andere  Frage. 

Die  Arbeiterpartei  und  der  Sozialismus. 

Die  Beziehung  der  neuen  Partei  zum  Sozialismus  ist  eine  merk- 
würdig komplizierte  Sache.  Die  Sozialisten  als  solche  haben  nur  etwa 
14  Stimmen  von  992,  der  größten,  auf  der  Generalversammlung  von 
1904  abgegebenen!  Stimmenzahl,  obgleich  sie  3  von  den  13  Mitgliedern 
der  Exekutive  wählen.  Aber  die  I.L.P.  hat  seit  vielen  Jahren  einen 
großen  Einfluß  in  den  Gewerkvereinen  ausgeübt  und  eine  große  Anzahl 
der  hervorragenden  Gewerkvereinler  sind  Mitglieder  irgend  eines  sozialisti- 
schen Vereins  Diese  Männer  werden  natürlich  als  Delegierte  zu  den 
Generalversammlungen  entsandt  und  gelangen  so  in  andere  verantwort- 
liche Stellungen.  Die  ausgesprochensten  Sozialisten  des  L.R.C.  waren 
meist  die  Vertreter  nicht  der  Sozialsiten,  sondern  der  Gewerkvereine. 
Die  positiven  Ideen  der  Sozialisten  gewinnen  immer  mehr  Boden  unter 
den  Gewerkvereinlern ;  eine  Feindschaft  gegen  den  Sozialismus  existiert 
kaum.  Die  Stellungnahme  des  nicht-sozialistischen  Teiles  bedeutet:  „Ich 
bin  zu  alt,  um  meinen  Glauben  zu  ändern,  aber  wenn  ihr  weiter  voran 
wollt,  so  tut  es!" 

Den  Sozialisten  paßt  das  natürlich  sehr.  Sie  haben  Ideen  und  eine 
Politik ;  aber  ihre  Truppen  sind  wenig  zahlreich  und  ihre  Finanzen  völlig 


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658 


Miszcllcn. 


ungenügend.  Ein  Bündnis,  bei  welchem  sie  die  Führer  und  die  Ideen, 
die  Gewerkvereinler  das  Geld  und  die  Stimmen  stellen,  paßt  der  sozia- 
listischen Partei  natürlich  durchaus.  Wenn  sie  warten  können  und  nicht  all- 
zuschnell vorwärts  drängen,  ist  die  Zukunft  der  Arbeiterpartei  unzweifel- 
haft in  ihren  Händen. 

Die  Zukunft. 

Was  wird  die  Zukunft  bringen  ?    Bei  den  nächsten  Wahlen  wird  die 
neue  Partei  etwa  50  Kandidaten  aufstellen.    Ihre  Liste  zählt  jetzt  4  7 
mit  Einschluß  der  5  gegenwärtigen  Abgeordneten.    Einige  von  diesen 
werden  wohl  wegfallen,  dafür  werden  andere  eintreten  und  es  wird  die 
Gesamtsumme  nicht  viel  unter  50  sein.    Eine  beträchtliche  Zahl  von 
diesen  darf  sicher  auf  Erfolg  hoffen,  weil  die  Liberalen  ihnen  ihre  Sitze 
abtreten  werden.    In  Leicester  z.  B.,  wo  die  Liberalen  selbst  in  schlechten 
Zeiten  eine  sehr  große  Majorität  haben ,  werden  sie  nur  einen  Kandidaten 
für  zwei  Sitze  aufstellen  und  den  anderen  Macdonald,  dem  Generalsekretär 
des  L.R.C.  überlassen.    Außerdem  können  die  Arbeitervertreter  einige 
Sitze  in  Schottland  gewinnen.    So  darf  die  neue  Partei  mit  ziemlicher 
Sicherheit  auf  20,  vielleicht  30,  möglicherweise  sogar  40  Anhänger  im 
neuen  Parlament  rechnen. 

Zurzeit  stellen  sich  ihr  zwei  Schwierigkeiten  entgegen:  vor  allem 
der  alte  Streit  über  die  Unabhängigkeit.  Allerdings  ist  in  der  Organi- 
sation als  solcher  diese  Frage  erledigt;  aber  die  Kandidaten  kommen  bei 
einer  Wahl  in  die  Versuchung,  die  Hilfe  der  Liberalen  anzunehmen,  ohne 
die  ihre  Aussichten  ihnen  hoffnungslos  erscheinen  könnten.  Auch  das 
Geld  der  Liberalen  ist  eine  Verlockung.  Die  Kandidaten  der  großen 
Gewerkvereine  verfügen  über  genügende  Gelder,  aber  einige  der  hervor- 
ragendsten Gewerkvereinler  gehören  ganz  kleinen  Vereinen  an,  die  absolut 
nicht  in  der  Lage  sind,  die  400  oder  500  £  auszugeben,  die  der  Wahl- 
kampf für  einen  billigen  Sitz  kostet,  ganz  abgesehen  von  den  1000  bis 
1200  £,  die  in  den  großen  Grafschaftswahlkreisen  nötig  sind.  Andere 
sind  Gegner  der  Unabhängigkeit  aus  anderen  Gründen :  so  hat  sich  z.  B. 
Richard  Bell  M.  P.  niemals  mit  der  neuen  Politik  ausgesöhnt  und  es  ist 
ganz  möglich,  daß  er  seinen  bedeutenden  Gewerkverein  dazu  bringt,  aus- 
zutreten. Und  wenn  so  etwas  erst  einmal  geschehen  ist,  läßt  sich  das 
Ende  nicht  leicht  vorhersehen. 

Eine  andere  Schwierigkeit  liegt  darin,  daß  die  I.L.P.,  als  politische 
Körperschaft,  viele  Kandidaten  aufstellt  —  das  ist  ihr  Hauptzweck;  ihre 
Mitglieder  zahlen  verhältnismäßig  wenig  und  können  doch  große  Kosten 
verursachen.  —  Des  weiteren  hat  die  neue  Partei  keine  ausgesprochene 
Politik  und  hat  bis  jetzt  noch  keine  Führer  entdeckt.  John  Burns, 
der  einzige  englische  Arbeiter,  dem  in  hervorragendem  Maße  jene  ge- 
heimnisvolle Macht  gegeben  ist,  welche  andere  zur  Gefolgschaft  zwingt, 
hält  sich  fern. 


Edward  R.  Peasc,  Die  neue  Arbeiterpartei  in  England. 


Vielleicht  findet  sich  unter  den  20  oder  30  zukünftigen  Abge- 
ordneten ein  Führer.  Viele  von  ihnen  sind  Männer  von  ausgesprochener 
Begabung  und  fast  alle  haben  ihren  Weg  zur  Front  ohne  die  Vorteile 
einer  wissenschaftlichen  Bildung  und  ohne  ererbtes  Vermögen  erkämpft. 
Aber  keiner  von  ihnen  ragt  bis  jetzt  als  der  Feldherr  hervor,  der  be- 
rufen ist,  seine  treuen  Truppen  zum  siegreichen  Kampf  gegen  die  zahl- 
reichen, wenn  auch  schlecht  organisierten  Mächte,  die  den  Arbeitern 
entgegenstehen,  zu  führen. 


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Wohnbedarf  und  Kinderzahl. 


(Ein  Beitrag  zur  Wohnungsfrage.) 


Von 


HENRIETTE  FÜRTH, 


Frankfurt  a.  Main. 


I.   Material  und  Methode. 


Die  nachfolgende  Untersuchung:  in  welchem  Grad  die  Kinderzahl 
in  einer  bestimmten  Bevölkerungsschicht  die  Befriedigung  des  Wohn- 
bedürfnisses und  die  Höhe  der  dafür  aufzuwendenden  Mittel  beeinflußt, 
beruht  in  erster  Linie  auf  dem  urschriftlichen  Material  des  Hauspflege- 
vereins in  Frankfurt  am  Main.  Seinen  Büchern  und  Aufzeichnungen 
wurde  ein  Auszug  entnommen,  der  die  verpflegten  Familien  nach  ihren 
Einkommensverhältnissen  und  zugleich  nach  ihrer  Kinderzahl  und  ihren 
Mietausgaben  erfaßt. 

Das  verarbeitete  Material  muß  insofern  als  ein  besonders  ge- 
eignetes angesprochen  werden,  als  die  Pflegeobjekte  des  Hauspflege- 
vereins sich  fast  ausschließlich  aus  jenen  Bevölkerungsschichten  rekru- 
tieren, die,  ohne  der  öffentlichen  Armenpflege  zur  Last  zu  fallen,  doch 
nicht  „in  der  Lage  sind  zu  ersparen,  weil  ihr  Lohn  eben  ausreicht,  die 
laufenden  Bedürfnisse  zu  decken."  *)  Hier  ist  es,  wo  jede  Erhöhung  der 
Anforderungen,  sei  sie  nun  durch  Familienzuwachs,  Mietsteigerung, 
Krankheit  oder  was  auch  immer  veranlaßt,  durch  Ersparnisse  an  irgend 
einer  anderen  Stelle  ausgeglichen  werden  muß  und  das  auf  die  Gefahr 
hin,  dadurch  unter  das  Niveau  des  zum  Leben  eigentlich  Unumgänglichen 
herabgedrückt  zu  werden. 

Hier  werden  sich  daher  auch  in  geradezu  typischer  Reinheit  die 
inneren  Beziehungen  zwischen  den  von  uns  angezogenen  Faktoren  des 
Familienlebens  herausstellen  und  dies  um  so  sicherer,  als  alle  die  Fälle 
ausgeschieden  wurden,  in  denen  es  sich  um  Familien  handelte,  die  in 


)  Fl  esc  h,  Die  Hauspflege  und  ihre  Organisation.    Jena  1901,  S.  16. 


Henriette  Fürth,  Wohnbedarf  und  Kinderrahl. 


661 


öffentlicher  Armenpflege  waren  und  ferner  alle  die,  die  nachweisbar 
durch  Aftervermietung  sich  die  Mietlast  zu  erleichtern  suchten.  Auf 
die  ersteren  wurde  verzichtet,  weil  der  gewohnheitsmäßige  Unterstützungs- 
empfänger nicht  als  Typ  jener  Volksschichten  betrachtet  werden  kann, 
die  sich  redlich,  wenn  auch  kärglich  durch  ihrer  Hände  Arbeit  ernähren. 
Von  jenen,  die  Teile  ihrer  Wohnung  in  Aftermiete  geben,  wurde  darum 
abgesehen,  weil  hier,  in  Erwägung  der  in  Frage  kommenden  Kreise,  von 
vornherein  anzunehmen  ist,  daß  von  einer  schon  beschränkten  Wohnung, 
des  Mieterträgnisses  willen,  der  oder  die  besten  Räume  abgegeben 
werden,  indes  die  Familie  sich  in  irgend  einem  Winkel  zusammendrängt. 
Von  menschenwürdigem  Wohnen  kann  da  überhaupt  nicht  die  Rede 
sein.  Höchstens  kann  und  muß  man  diese  Fälle  als  Beweistitel  dafür 
registrieren,  wie  bitternotwendig  die  Beschaffung  solcher  Wrohnungen  ist, 
die  es  auch  dem  Ärmsten  ermöglichen,  eine  Heimstatt  zu  besitzen,  die 
diesen  Namen  halbwegs  verdient  und  familienfremde  Elemente  aus- 
schließt. Schließlich  blieben  noch  die  vereinzelten  Fälle  unberück- 
sichtigt, in  denen  es  sich  um  kinderlose  Familien  handelt,  da  ja  für 
diese  unsere  Untersuchung  belanglos  ist. 

Wir  hatten  sonach  von  den  1574  Familien,1)  die  in  den  Jahren 
1901  und  1902  vom  Hauspflegeverein  verpflegt  wurden,  248  auszu- 
scheiden. Da  indes,  trotz  der  vorgenommenen  Sichtung,  sich  unter  den 
übrigbleibenden  1326  eine  ganze  Reihe  von  Fällen  befanden,  über  die 
nur  höchst  seltsame  oder  widerspruchsvolle  Angaben  vorlagen,  sei  es 
daß  Miete  und  Verdienst  oder  daß  Miete  und  Kinderzahl  in  einem  aller 
Erfahrung  zuwiderlaufenden  Verhältnis  zueinander  standen,  wurden 
Stichproben  veranstaltet  und  nähere  Auskünfte  und  Aufklärungen  bei- 
gebracht. Dabei  wurde  der  Versuch  gemacht,  soweit  das  irgend  mög- 
lich und  gegen  das  Mißtrauen  der  Befragten  durchzusetzen  war,  gleich- 
zeitig Angaben  über  die  gesamte  Lebensführung,  die  Verteilung  der 
Ausgaben,  die  Küchenbehandlung  der  Lebensmittel  und  ähnliches  mehr 
zu  erlangen. 

Schließlich  wurde  auch  die  eine  und  andere  Wohnung  der  Aktien - 
baugesellschaft  für  kleine  Wohnungen  einer  eingehenden  Prüfung  unter- 
zogen und  durch  C Gegenüberstellung  der  Preise,  der  Bedingungen  und 
der  sonstigen  Beschaffenheit  einer  Wohnung  alten  Stiles  mit  jenen,  die 
die  genannte  Gesellschaft  für  ihre  Mieter  bereit  hält,  die  Schaffung  einer 
Grundlage  dafür  versucht,  in  welcher  Richtung  und  nach  welchem  Ziele 
hin  die  Tätigkeit  gemeinnütziger  Baugesellschaften  sich  zu  entwickeln 
habe,  und  zwar  mit  besonderer  Berücksichtigung  kinderreicher,  der 
untersten  Mieterschicht  angehörender  Familien.  Die  vorliegenden  Jahres- 
berichte der  Gesellschaft  wie  auch  der  ähnliche  Zwecke  verfolgenden 
„Stiftung  für  Erbauung  billiger  Wohnungen  in  Leipzig"  enthalten  neben 


>)  Siehe  Berichte  von  190:  u.  1902,  S.  3  bez.  5. 


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662 


Miszellen. 


einer  Fülle  von  Anregungen  ein  schätzbares  Beweismaterial  dafür,  daß 
es  möglich  ist,  in  gewissem  Sinne  selbst  unter  Wahrung  des  fiskalischen 
Standpunktes,  zweckmäßige  und  billige  Wohnungen  auch  für  kinderreiche 
Familien  zu  schaffen. 

Der  Behandlung  des  eigentlichen  Themas  schicken  wir  eine  Über- 
sicht voraus,  die  auf  den  Berichten  des  Hauspflegevereins  beruht  und 
die  während  der  letzten  vier  Jahre  Verpflegten  nach  Beruf,  Einkommen 
und  Kinderzahl  klassifiziert.    Eine  solche  Zusammenfassung  erwies  sich 
als  notwendig,  um  jedem  Leser  eine  selbständige  Urteilsbildung  darüber 
zu  ermöglichen,  ob  es  sich  hier  in  der  Tat  um  diejenige  Bevölkerungs- 
schicht handelt,  für  die  die  Wohnfrage  zu  einer  Kalamität  geworden  ist, 
weil  ihr  Einkommen  eine  sachgemäße  Befriedigung  des  Wohnbedürf- 
nisses unmöglich  macht,  während  trotzdem  die  Höhe  der  Mietpreise  für 
schlechte   und   in  jedem  Sinn   unzulängliche  Wohnungen  ihnen  eine 
Lebenshaltung  aufzwingt,  die  hart  an  die  Grenze  des  Hungers  heran- 
reicht und  manchmal  unter  diese  Grenze  sinkt.    Und  dies,  weil  es  sich 
andererseits,  nicht  durchweg  aber  zum  großen  Teil,  um  Bevölkerungs- 
elemente handelt,  die  lieber  die  äußersten  Entbehrungen  ertragen  als 
daß  sie  die  öffentliche  Armenunterstützung  mit  ihren  degradierenden 
Folgen  auf  sich  nehmen. 

Wer  je  Gelegenheit  hatte,  solche  Zustände  aus  der  Nähe  zu  sehen, 
der  wird  der  sittlichen  Kraft  und  Widerstandsfähigkeit,  die  sich  in 
solchem  Verhalten  offenbart,  seine  Anerkennung  nicht  versagen  können. 
Aber  er  wird  sich  auch  der  Einsicht  nicht  verschließen  dürfen,  daß  die 
hier  verpflichteten  Instanzen  alles  tun  müssen,  um  die  Wohnfrage  einer 
allseitig  befriedigenden  Lösung  entgegenzuführen  und  dies  ebenso  im 
Interesse  der  körperlichen  wie  der  sittlichen  Kraft  und  Gesundheit  des 
Volksganzen. 

II.  Zusammensetzung  der  Pfleglinge  des  Hauspflege- 
vereins nach  Beruf,  Einkommen  und  Kinderzahl. 

Unseren  Ausführungen  liegen  die  Berichte  über  die  Jahre  1899 
bis  1902  inklusive  zugrunde.    Innerhalb  dieser  4  Jahre  wurden  2950 


Familien  verpflegt.    Davon  waren  : 

Taglöhner   819 

Gelernte  Arbeiter   1488 

Kaufleute  bzw.  Angestellte     ...  85 

Beamte   237 

Diener,  Kellner   194 

Musiker,  Künstler   21 

Witwen   76 

Mann  in  Haft   3 

Ohne  Beruf   20 

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Summa  2950 


Henriette  Fürth,  Wohnbedarf  und  Kindcrzahl. 


663 


Über  die  Hälfte  der  Verpflegten  sind  gelernte  Arbeiter,  das  heißt 
also  solche,  von  denen  man  in  einem  so  blühenden  Gemeinwesen,  wie 
Frankfurt  es  ist,  annehmen  darf,  daß  sie  von  Ausnahmefällen  abgesehen, 
in  regelmäßiger  Arbeit  stehen  oder  als  kleine  Handwerker,  Schuhmacher, 
Schneider,  teils  für  Geschäfte,  teils  für  eine  kleine  Privatkundschaft 
arbeiten.  Ihnen  zunächst  kommen  die  Taglöhncr,  deren  Familien  mit 
819,  das  sind  knapp  2S  Proz.,  als  verpflegt  figurieren.  Diese  Leute, 
wie  auch  die  mit  stark  6.  Proz.,  also  einer  recht  geringen  Quote  be- 
teiligten Diener  und  Kellner,  werden  zuerst  von  allen  Schwankungen 
des  Wirtschafts-  und  Arbeitsmarktes  getroffen.  Sie  repräsentieren  immer- 
hin einen  ziemlich  beträchtlichen  Teil  der  für  unseren  besonderen  Zweck 
in  Frage  kommenden  Bevölkerung,  wennschon  jenen,  der  teilweise 
unter  die  Zahl  derer  zu  rechnen  ist,  denen  selbst  durch  gemeinnützigen 
Wohnungsbau  auf  breitester  Grundlage  nicht  zu  helfen  ist,  da  ihr  Ein* 
kommen,  auf  die  Kopfzahl  der  Familie  umgerechnet,  keine  so  große 
Aufwendung  für  Miete  gestattet  als  erforderlich  wäre,  um  Bau-  und  Ge- 
ländekosten mäßig  oder  selbst  niedrig  zu  verzinsen. 

In  Frankfurt  a.  M.  beträgt  der  ortsübliche  Tagelohn  3,10  Mk.  Da- 
von sind  die  Beträge  für  Kranken-  und  Invaliditätsversicherung  in  Ab- 
zug zu  bringen.  Von  dem  verbleibenden  Betrag,  selbst  bei  kleiner  Kopf- 
zahl der  Familie,  neben  allem  übrigen  auch  noch  die  Miete 
für  eine  auskömmliche  Wohnung  zu  bestreiten,  ist  nach 
meiner  Erfahrung,  soviel  Gegenteiliges  auch  ständig  geredet  oder  ge- 
schrieben wird,  durchaus  unmöglich.  Die  237  Beamten  gleich 
&  Proz.  der  Verpflegten  sind  meistens  subalterne  Bedienstete  der  Polizei 
oder  der  städtischen  Ämter. 

Nach  Kinderzahl  und  Einkommen  gliedern  sich  die  verpflegten 
Familien  in  folgender  Weise: 


Wöchentliches 
Einkommen 

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4  Kinder  5  Kinder 

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Kinder 

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1620  —  das  sind  55  Proz.  der  innerhalb  4  Jahren  Verpflegten  — 
hatten  danach  mit  einem  Wocheneinkommen  von  iÜ  Mk.  und  weniger 
zu  rechnen.  Lassen  wir  aber  selbst,  als  völlig  unfähig  aus  eigenen 
Mitteln  durchzukommen,  jene  209  außer  Betracht,  die  weniger  als  ijj  Mk. 
vereinnahmten,  so  bleibt  immer  noch  reichlich  die  Hälfte,  die  in  der 
teuersten  Großstadt  Deutschlands  mit  ijj  bis  i_8  Mk.  pro  Woche  wirt- 

Archiv  für  Sorialwisscnschaft  u.  Sozialpolitik.  I»   (A.  f.  soz.  G.  n.  St.  XIX.)  3.  43. 


664 


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666 


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Schäften  sollen.  Und  selbst  von  den  435  Familien,  die  23  und  mehr 
Mk.  Wocheneinkommen  haben,  müssen  231,  also  mehr  als  die  Hälfte 
für  4  und  mehr  Kinder  sorgen.  Wir  werden  festzustellen  haben,  welche 
Lebenshaltung  sich  auf  Grund  solcher  Verhältnise  ermöglichen  läßt  und 
wollen  einstweilen  nur,  zur  Ehre  der  Verpflegten  konstatieren,  daß  in 
einer  ganzen  Anzahl  der  204  Pflegefälle,  in  denen  es  sich  um  besser- 
gestellte Familien  mit  wenig  Kindern  handelte  und  in  denen  Hauspflege 
wegen  länger  andauernder  Erkrankung  oder  aus  sonstigen  Ausnahme- 
gründen eintrat,  die  Kosten  der  Hauspflege  ganz  oder  teilweise  zurück- 
erstattet wurden. 


III.  Einkommen,  Mietpreis  und  Kinderzahl. 

Aus  vorstehender  Tabelle  (S.  664 — 65)  geht  hervor,  daß  von  den  1326 
Familien,  die  nach  Abzug  der  auf  Rechnung  des  Armenamtes  Verpflegten, 
und  jener,  die  Zimmer  in  Aftermiete  geben,  noch  übrig  bleiben,  291 
das  sind  21,8  Proz.  mit  einem  Einkoramen  unter  18  Mk.  zu  rechnen 
haben.  Davon  zahlen  83,  das  ist  die  Hälfte  aller  Familien,  die  bei 
1  —  3  Kindern  ein  Einkommen  unter  18  Mk.  haben,  bis  zu  4,40  Mk. 
Wochenmiete,  ßei  den  Familien,  die  4  und  mehr  Kinder  haben,  finden 
wir  nur  noch  43  —  34,5  Proz.  in  den  unteren  Mietstufen.  In  der 
Mietoberstufe,  das  heißt  bei  jenen,  die  wöchentlich  6  Mk.  und  mehr  für 
Miete  verausgaben,  ist  hier  das  Verhältnis  umgekehrt.  Den  38  = 
22,5  Proz.  der  Familien,  die  bei  r — 3  Kindern  6  Mk.  und  mehr  an 
wöchentlicher  Miete  zahlen,  stehen  33  =  27  Proz.  der  hier  zu  zählenden 
gegenüber,  die  bei  4  und  mehr  Kindern  6  Mk.  und  mehr  für  wöchent- 
liche Miete  verausgaben.  Während  sonach  auf  dieser  geringen  Ein- 
kommenstufe die  Zahl  der  Familien,  die  mehr  für  Miete  ausgeben,  mit 
der  Kinderzahl  absolut  fällt,  steigt  sie  relativ,  das  heißt  im  Verhältnis 
der  hier  überhaupt  zu  zählenden  Familien.  Hier  bestätigt  sich  also  die 
Auffassung,  daß  mit  wachsender  Kinderzahl  auch  die  Mietaufwendung 
vergleichsweise  wächst.  Dabei  sind  indes  verschiedene  Einschränkungen 
zu  machen.  Die  erste  und  wesentlichste  ist  die,  daß  mit  Sicherheit  an- 
zunehmen und  durch  überzeugende  Beispiele  zu  belegen  ist,  daß  bei 
größerer  Kinderzahl  und  einem  Einkommen  unter  18  Mk.  die  Lebens- 
haltung, und  sei  sie  noch  so  ärmlich,  nicht  ausschließlich  aus  eigenen 
Kräften  bestritten  werden  kann.  Es  bleibt  daher  der  Einzeluntersuchung 
vorbehalten,  zu  ergründen,  ob  und  welche  Unterstützungen  in  Gestalt 
von  Geld,  Kleidern  oder  Naturalien  selbst  in  den  Fällen  bezogen  wurden, 
in  denen  der  Bezug  von  Unterstützungen  nicht  sofort  nachweisbar  oder 
in  Abrede  gestellt  ist.  Ferner  bleibt  am  Einzelbeispiel  zu  prüfen,  in 
welcher  Weise  das  Wohnbedürfnis  im  einen  oder  anderen  Falle  be- 
friedigt wurde. 

Ein  Einkommen  von  18  Mk.,  mit  dem  bekanntlich  weite  Bevölke- 


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Henriette  Fürth,  Wohnbedarf  und  Kindercah).  *  667 


rungsschichten  regelmäßig  auskommen  müssen,  bezogen  von  1326  Familien 
339  =  24,6  Proz.  Nahezu  ein  Viertel  aller  Verpflegten  hat  mit  diesem 
für  Frankfurter  Verhältnisse  völlig  unzulänglichen  Einkommen  zu  rechnen. 
Die  Zustände  gestalten  sich  denn  auch  ganz  ähnlich  wie  bei  der  ersten 
Kategorie.  51  Proz.  der  Familien  mit  1 — 3  Kindern  zahlen  wöchentlich 
bis  zu  4,40  Mk.  Miete.  16  Proz.  zahlen  6  Mk.  und  mehr.  Von  den 
Familien  mit  4  und  mehr  Kindern  37  Proz.  bis  zu  4,40  und  23  Proz. 
6  Mk.  und  mehr. 

Von  den  327  Familien  (25,6  Proz.),  die  19 — 20  Mk.  Wochenein- 
kommen hatten,  wandten  30  Proz.  jener,  die  1  —  3  Kinder  hatten,  bis 
zu  4,40  Mk.  wöchentlich  für  Miete  auf  und  28  Proz.  6  Mk.  und  mehr. 
Von  denen  mit  4  und  mehr  Kindern  31  Proz.  bis  zu  4,40  und  26  Proz. 
6  Mk.  und  mehr. 

Hier  finden  wir  also  bei  einer  an  sich  nur  unwesentlichen,  in  dem 
vorliegenden  Fall  aber  höchst  bedeutungsvollen  Erhöhung  des  Ein- 
kommens eine  prozentual  ziemlich  beträchtliche  Mehrausgabe  für  Miete. 
Die  unteren  Mietstufen  partizipieren  nicht  mehr  mit  5o,  sondern  nur 
noch  mit  30  Proz.  an  der  Mietausgabe,  während  die  höchsten  Miet- 
stufen  statt  mit  16  bzw.  23  Proz.  nunmehr  mit  28  bzw.  31  Proz.  ver- 
treten sind.  Eine  Tatsache,  die  jenen  zur  Beachtung  empfohlen  sei,  die 
immer  wieder  mit  dem  Märchen  hausieren  gehen,  daß  in  Arbeiterkreisen 
jeder  etwaige  Mehrverdienst  für  Alkoholika,  Putz  und  dergleichen 
draufginge. 

Als  eine  in  gleichem  Sinne  bemerkenswerte  Nebenerscheinung,  ist 
zu  verzeichnen,  daß  bei  den  Familien,  die  über  ein  Wocheneinkommen 
von  19 — 20  Mk.  verfügen,  44  bzw.  40,5  Proz.  jener,  die  1 — 3  Kinder  , 
haben,  in  der  mittleren  Mietstufe  (4,60 — 5,80  Mk.  pro  Woche)  zu  finden 
sind.  Daraus  geht  doch  wohl  auch  hervor,  daß,  wer  es  irgend  kann, 
vor  allen  anderen  Dingen  das  Wohnbedürfnis  in  angemessener  Weise  zu 
befriedigen  sucht. 

Nicht  der  gleiche  Schluß  ist  aus  der  Tatsache  zu  ziehen,  daß  auch 
die  Familien  mit  5  und  mehr  Kindern  bei  einem  Einkommen  von  1 9  bis 
20  Mk.  mit  48  Proz.  in  dieser  Mittelstufe  anzutreffen  sind.  Hier  drängt 
sich  vielmehr  unabweisbar  der  Rückschluß  auf,  daß  diese  Familien,  wenn 
sie  27  Proz.  ihres  Einkommens  für  Miete  aufwandten,  bis  an  die 
äußerste  Grenze  ihrer  ökonomischen  Leistungsfähigkeit  gegangen  sind, 
um  nur  das  Minimum  an  Wohngelegenheit  zu  bekommen,  das  minder 
kinderreichen  Familien  für  weniger  Geld  zu  Gebote  steht. 

Wir  kommen  nun  zu  den  265  Familien  (20  Proz.),  die  21 — 24  Mk. 
Wocheneinkommen  beziehen.  Hier  finden  wir  nur  22,5  Proz.  der 
Familien  mit  1 — 3  Kindern  in  den  unteren  Mietklassen,  in  den  obersten 
dagegen  43,5  Proz.  Die  Familien  mit  4  und  mehr  Kindern  nehmen 
mit  29  Proz.  an  den  untersten  und  mit  31,5  Proz.  an  den  obersten 
Mietstufen  teil.    Hier  tritt  zum  ersten  Mal  mit  aller  Schärfe  die  Er- 


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668 


Miszcllrn. 


scheinung  auf,  daß  bei  gleichem  Einkommen  bei  wachsender  Kinderzahl 
die  Aufwendung  für  Miete  nicht  wächst,  sondern  herabgeht. 
Absolut,  das  heißt  im  Vergleiche  zu  den  Familien  mit  gleicher  Kinder- 
zahl aber  auf  geringerer  Einkommenstufe,  ist  der  Anteil  an  der  höheren 
Mietquote  auch  bei  den  kinderreichen  Familien  um  ,/2  Proz.,  also  ganz 
unbedeutend  gestiegen,  relativ  aber,  das  heißt  im  Vergleich  zu  den 
kinderarmen  Familien,  ist  er  herabgegangen,  da  die  Beteiligung  an  den 
höchsten  Mietsätzen  sich  bei  den  kinderarmen  Familien  von  23  Proz. 
auf  der  niedrigen  Einkommenstufe  auf  43,5  Proz.,  also  um  reichlich 
20  Proz.  erhöht  hat. 

Halten  wir  dagegen,  daß  eine  große  Familie  zweifellos  einer 
größeren,  d.  i.  also  teureren  Wohnung  bedarf  oder  sie  wenigstens 
haben  sollte,  und  vergegenwärtigen  wir  uns  andererseits,  daß  der  Haus- 
besitzer noch  nicht  geboren  ist,  der  aus  reiner  Menschenliebe  kinder- 
reiche Familien  um  einen  billigeren  als  den  üblichen  Preis  wohnen  läßt, 
so  bleibt  nur  die  Schlußfolgerung  übrig,  daß  kinderreiche  Familien  um 
so  viel  schlechter  wohnen,  als  sie  weniger  Miete  bezahlen.  Ja,  noch 
mehr:  Die  Hausbesitzer  vermieten  an  kinderreiche  Familien  nicht  nur 
nicht  billiger:  sie  lassen  sich  die  nämliche  Wohnung,  die  sie  kinderlosen 
oder  kinderarmen  Familien  um  den  ortsüblichen  Preis  vermieten  würden, 
von  kinderreichen  Leuten,  sofern  sie  sich  überhaupt  herbeilassen  solche 
zu  nehmen,  weit  höher  bezahlen.  Sie  machen,  von  ihrem  Standpunkt 
aus  mit  Recht,  geltend,  daß  die  Wohnung  stärker  abgenützt,  die  Ruhe 
des  Hauses  beeinträchtigt  würde  u.  ähnl.  m.,  so  daß  eine  Familie  mit  4 
und  mehr  Kindern  lange  suchen  kann,  bis  sie  überhaupt  eine  Wohnung 
findet.  Aus  alledem  geht  hervor,  daß  Familien  mit  vielen  Kindern  bei 
gleicher  Mietzahlung  schlechter  behaust  sind  als  kinderarme  Familien, 
während  die  von  uns  zahlenmäßig  erfaßte  Tatsache  eines  geringeren 
Mietaufwandes  nur  den  Rückschluß  mangelhaftester  und  ungenügendster 
Behausung  zuläßt,  eine  Annahme,  die  durch  die  vorgenommenen  Einzel- 
untersuchungen in  vollem  Umfang  bestätigt  wird. 

Noch  schärfer  treten  die  gekennzeichneten  Einzelheiten  bei  der 
5.  Kategorie  von  Familien  hervor,  jenen  104  (8  Proz.),  die  25  Mk.  und 
mehr  Einkommen  haben. 

Hier  finden  wir  die  Familien,  die  bis  zu  3  Kindern  haben,  nur  mit 
6  Proz.  in  den  untersten  Mietstufen  vertreten  gegen  63,5  Proz.  in  den 
obersten.  Bei  den  Familien  mit  4  und  mehr  Kindern  stellt  sich  das 
Verhältnis  mit  10  Proz.  in  den  unteren  zu  68  Proz.  in  den  oberen 
Mietklassen.  Vergleichen  wir  diese  Zahlen  mit  unseren  51  bzw.  16  Proz. 
bei  einem  Einkommen  von  18  Mk.  und  kinderarmen  und  37  bzw. 
23  Proz.  bei  18  Mk.  und  kinderreichen  Familien,  so  ergibt  sich  als 
völlig  zweifellos,  daß  die  Aufwendung  für  Miete  vergleichsweise  noch 
stärker  steigt  als  der  Zuwachs  an  Einkommen.  Die  Gleichung  heißt 
demnach :  Wenige  Kinder  gleich  mehr  Aufwand  an  Miete,  gleich  besseres 


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Henriette  Fürth,  Wohnbedarf  und  Kindcrzabl. 


669 


Wohnen.  Viele  Kinder  gleich  die  sachgemäße  Befriedigung  des  Wohn- 
bedürfnisses ist  unmöglich,  da  das  Geld  für  andere  notwendige  Dinge 
gebraucht  wird:  daher  schlechte  und  unzureichende  Befriedigung  des 
Wohnbedürfnisses.  Damit  wird  der  Vorwurf  hinfällig,  daß  das  Wohn- 
bedürfnis bei  der  arbeitenden  Bevölkerung  nur  schwach  entwickelt  sei. 
Ja  es  erhellt  sogar  aus  diesen  unantastbaren  Zahlen  für  jeden,  der  die 
Dinge  ohne  Voreingenommenheit  zu  betrachten  weiß,  daß  der  kleine 
Mann,  sobald  nur  erst  einmal  Hunger  und  Kälte  abgewehrt  sind,  großen 
Wert  auf  eine  menschenwürdige  Wohnung  legt.  Und  wir  können  selbst 
sehen,  daß  manchmal  sogar  etwas  Hunger  aus  diesem  Grunde  mit  in 
Kauf  genommen  wird,  wenn  man  als  Hunger  eine  qualitativ  und  teil- 
weise auch  quantitativ  unzureichende  Ernährung  bezeichnen  darf. 

Noch  besser  illustriert  wird  die  Feststellung,  daß  mit  der  Kinder- 
zahl der  Mietaufwand  nicht  entsprechend  steigt,  durch  folgende  Zu- 
sammenstellung : 

Von  394  Kam.  mit  1—2  Kindern  zahlten  Miete  bis  4,40  Mk.  wochentl.  139  =  35,3  Proz. 

»1  343  •>  "  3  »»  »»  1  ti  4>4°  »  »1  I35  =  39<3  •< 
•1  287  „  „  4  „  „  „  „  4,40  „  „  92  =  32  „ 
„   303     „     ,l5u.mehr„  „         „      „   4,40  „         .,        101  =  33,3  » 

Vergegenwärtigen  wir  uns  dasselbe  unter  Ausschluß  der  Familien, 
die  weniger  als  18  Mk.  Einkommen  angaben  (wir  haben  oben  darauf 
hingewiesen,  daß  das  einer  ungenügenden  Aufklärung  über  die  Ein- 
koramensverhältnisse  gleichkommt  und  daß  hier  unbedingt  noch  andere 
Einkommenquellen  unterstellt  werden  müssen),  so  ergibt  sich  das 
folgende  Bild: 

Von  304  Farn,  mit  1—2  Kindern  zahlten  Miete  bis  4,40  Mk.  wöchentl.  98  =  32,2  Proz. 

>t  203    >>     "      3        »»  »        '»     »  4»4°  »        i>       94  —  35*7  •< 

ti  232    „     „      4        1,  ,,        ,,     „  4»4°  t>        i>       75  —  32'3  >• 

„   234    „     „5U.  mehr,,  „         „      „  4,40  „         „        75  =32  „ 

Die  Zahl  der  Familien,  die  (bei  Ausschluß  der  Einkommen  unter 
1 8  Mk.)  mehr  als  4,40  Mk.  aufwenden,  d.  h.  also  das  Wohnbedürfnis  besse 
befriedigen  können,  beläuft  sich  sonach  auf  67,8  bzw.  64,3  °/0  bei  den 
Familien  mit  1 — 2  und  mit  3  Kindern,  und  auch  die  Familien  mit  4,  5 
und  mehr  Kindern  weisen  kein  anderes  Verhältnis  auf,  das  heißt 
auch  sie  bleiben  trotz  des]  infolge  der  größeren  Kopfzahl  verstärkten 
Wohnbedürfnisses  mit  einem  Drittel  der  Fälle  unterhalb  des  Miet- 
aufwandes der,  von  Ausnahmen  abgesehen,  eigentlich  als  der  minimale 
zu  gelten  hat. 

Von  besonderem  Interesse  ist  die  Einkommensklasse  von  21  bis 
24  Mk.  Hier  haben  wir  es  unstreitig  mit  der  regulären  Arbeiterschicht 
in  gesicherten  und  keineswegs  ungünstigen  Einkommensverhältnissen  zu 
tun,  da  ein  Tagelohn  von  3,50 — 4  Mk.  im  Jahresdurchschnitt  nur  vom 


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6;o 


Miszcllen. 


qualifizierten   Arbeiter  bezogen  zu  werden  pflegt.    Wir  dürfen  daher 
diese  Arbeiterschicht  als  typisch  behandeln  und  können  auf  Grund  der 
hier  festzustellenden  Wohnverhältnisse  und  Mietpreise  uns  ein  für  weite 
Kreise  zutreffendes  Bild  des  in  dieser  Beziehung  auch  unter  relativ  gün- 
stigen Umständen  erreichbaren  machen.    Da  finden  wir  denn,  daß  von 
den  265  in  diese  Abteilung  gehörigen  Familien  nur  67  =  25,3  °0  bis 
zu  4,40  Mk  Wochenmiete  zahlen.    Und  von  diesen  67  Familien  gehören, 
bezeichnenderweise,  35  —  also  mehr  als  dieHälfte  —  derZahl 
jener  an,  die  4,  sund  mehrKinderhaben.  Wäre  die  Bedürfnis- 
frage das  Entscheidende,  so  müßte  das  Verhältnis  mindestens  das  umge- 
hehrte oder  vielmehr  der  Mietaufwand  der  kinderreichen  Familien  un- 
vergleichlich höher  sein.    Bei  den  Familien,  die  25  Mk.  und  mehr  Ein- 
kommen haben,  verhält  sich  die  Sache  ganz  anders.    Hier  scheiden  die 
kinderreichen  Familien,  die  durch  ihr  Einkommen  in  der  glücklichen 
Lage  sind,  sich  eine  einigermaßen  angemessene  Wohnung  zu  sichern, 
aus  der  unteren  Mietklasse  fast  völlig  aus.    Von  104  Familien  sind  es 
hier  nur  12 — 11,5  °/0,  die  bis  zu  4,40  Wochenmiete  zahlen,  und  von 
diesen  gehören  10  der  Gruppe  mit  5  und  mehr  Kindern  an.    Hier  tritt 
deutlich  hervor,  daß  trotz  guten  Einkommens  die  Aufwendungen  für 
andere  dringliche  Dinge  so  viel  Raum  einnehmen,  daß  dadurch  die  Be- 
friedigung des  Wohnbedürfnisses  beeinträchtigt  wird. 

Wir  sehen  also,  daß  die  Mietausgabe  selbst  in  den  höheren  Ein- 
kommensklassen mit  der  Kinderzahl  nicht  so  wächst,  als  man  im  Interesse 
einer  ausreichenden  Befriedigung  des  Wohnungsbedürfnisses  wünschen 
müßte,  während  naturgemäß  die  kinderreichen  Familien  der  unteren  Ein- 
kommenklassen  nicht  mehr,  sondern  weniger  Tür  Miete  aufwenden  können, 
als  ihre  kinderarmen  Kollegen  der  gleichen  Einkommenstufe. 

Besonders  lehrreich  sind  auch  die  bezüglichen  Ergebnisse  in  der 
Normalschicht,  die  über  ein  Einkommen  von  19—20,  bzw.  von  21 — 24  Mk. 
verfügt.  Hier  finden  wir  44  bzw.  40,5  und  35  bzw.  33  °/0  der  Familien 
mit  1 — 3  Kindern  in  der  mittleren  Mietstufe  (4,60 — 5,80  Mk.  pro  Woche), 
während  die  kinderreichen  Familien  derselben  Klasse  mit  36  und  50,5 
bzw.  mit  38,5  und  4T  °/0  in  der  mittleren  Mietstufe  figurieren.  Auch 
hier  wieder  der  Beweis,  daß  die  kinderreichen  Familien  nicht  mehr,  sondern 
relativ  weniger  für  ihre  Wohnung  aufwenden  können:  Demnach  auch 
hier  wieder  eine  starke  Mahnung,  Mittel  und  Wege  zu  finden,  die  diesem 
Übelstand  abzuhelfen  oder  vielmehr  für  das  verfügbare  Geld  sachgemäße 
Wohngelegenheit  zu  beschaffen  vermögen. 

IV.  Reformbestrebungen  und  ihre  Ergänzung. 

Die  Wohnfrage  ist  eine  Lohnfrage.  Aber  sie  ist  nicht  nur  das.  Zahl- 
reiche Einzelforschungen,  wie  auch  die  fortgesetzte  verdienstliche  Tätig- 
keit des  Vereins:  „Reichs- Wohnungsgesetz"  haben  längst  den  Nachweis 


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Henriette  Fürth,  Wohnbedarf  und  Kinder* ahl. 


671 


erbracht,  daß  die  Wohnfrage  zugleich  eine  Frage  des  Bodenbesitzes,  das 
ist  der  Grundrente,  der  Baukosten,  der  Bebauungspläne  und  Ordnungen, 
der  Verkehrserleichterung  und  Dezentralisation  und  ähnlicher  Dinge  mehr 
ist.  Wir  haben  in  den  voraufgehenden  Darstellungen  den  Nachweis 
hinzugefügt,  daß  die  Wohnfrage  ebenso  eine  Frage  der  Geburten- 
frequenz ist. 

Will  man  nun  nicht  aus  der  Unvereinbarkeit  des  Kindersegens  mit 
den  Mietpreisen  ein  Recht  auf  Herabsetzung  der  Geburtenfrequenz  her- 
leiten, so  hat  man  in  erster  Linie  sein  Augenmerk  darauf  zu  richten, 
wie  den  üblen  Folgen  des  Kinderreichtums  auf  diesem  Gebiet  zu  begegnen 
sei.  Es  liegt  auf  der  Hand,  daß  die  übrigen  Mittel  der  Wohnungsfürsorge 
hier  versagen,  bezw.  nicht  den  vorgesetzten  Zweck  erreichen.  Einer  Lohn- 
erhöhung folgt  die  Mietsteigerung,  einer  Verschärfung  der  Bauordnung 
die  Wertsteigerung  des  bebauten  Bodens  und  damit  die  Erhöhung  der 
Mieten,  dem  Ausbau  des  Vorortverkehrs  das  Anschwellen  der  Mietpreise 
auch  dort  und  an  der  Peripherie  der  Städte. 

Ebenso  wird  die  Zonenenteignung,  die  Kommunalisierung  des  Grund- 
besitzes, die  Propagierung  des  Erbbauwesens  und  die  Beförderung  des 
gemeinnützigen  Wohnungsbaues  den  mit  der  Sorge  für  zahlreiche  Kinder 
belasteten  Familien  nur  insofern  zugute  kommen,  als  eine  allgemeine 
Herabsetzung  des  Mietzinses  auch  ihre  Lage  zu  verbessern  geeignet  ist. 
Soll  ihnen  indes  so  geholfen  werden,  wie  es  im  Interesse  der  Gesundheit 
der  heranwachsenden  Generation  und  einer  sinngemäßen  Verteilung  des 
Einkommens  auf  die  Befriedigung  der  verschiedenen  Lebensbedürfnisse 
wünschenswert  erscheint,  dann  muß  anderweitge  Vorsorge  in  der  Weise 
getroffen  werden,  daß  die  gemeinnützige  und  genossenschaftliche,  und  vor 
allen  Dingen,  daß  die  kommunale  Bautätigkeit  sich  die  Aufgabe  stellt, 
ausreichend  große,  gesunde  und  zugleich  billige  Wohnungen  für  kinder- 
reiche Familien  zu  bauen. 

Als  ein  äußerst  bemerkenswerter  Versuch  in  dieser  Richtung 
charakterisiert  sich  die  Unternehmung  der  Aktienbaugesellschaft  für  kleine 
Wohnungen  in  Frankfurt  am  Main.  Es  verlohnt  sich  der  Mühe,  die 
Prinzipien,  auf  denen  sie  aufgebaut  ist,  die  Richtung,  in  der  sie  wirkt 
und  die  Ergänzungen,  die  sie  durch  die  Munifizenz  Privater  erfährt, 
einer  näheren  Betrachtung  zu  unterziehen.  Ich  folge  dabei  den  vor- 
liegenden Jahresberichten  und  einem  Artikel  der  Frankfurter  Zeitung,1) 
in  dem  es  heißt: 

„Der  Ausgangspunkt  der  Gesellschaft  war  von  dem  vieler  anderer 
Wohnungsunternehmungen  wesentlich  verschieden.  Es  ward  nicht  zu- 
erst gefragt:  Wie  soll  die  zu  erbauende  Arbeiterwohnung  beschaffen 
sein?  und  wie  stellt  man  diese  Wohnung  möglichst  billig  her?, 


')  „Von  kleinen  Wohnungen  und  wie  sie  ergänzt  werden."  Von  Stadtrat  Dr. 
Karl  Flesch,  Frankfurt.    Frankfurter  Zeitung  vom  7.  11.  02. 


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6j2  Misicllcn. 

sondern  gerade  umgekehrt:  Was  kann  der  Tagelöhner  zahlen?,  und  wie 
fängt  man  es  an,  für  den  ermittelten  Preis  möglichst  viel  zu  bieten.** 

Und  sie  fugte  diesen  Erwägungen  die  weitere  hinzu,  wie  man  drei- 
räumige  Wohnungen  für  kinderreiche  Familien  um  einen  billigen  Preis 
erstellen  könne,  ohne  sich  indes  der  Einsicht  zu  verschließen,  daß  zwei 
Wohnräume  und  ein  kleines  Schlaf kabinett  bei  einer  großen  Familie 
irgendwie  „höheren"  Kulturansprüchen  nicht  genüge.  So  war  die  Ge- 
sellschaft von  Anfang  an  darauf  hingewiesen,  die  Wohnung  zu  ergänzen. 

„Die  Einrichtung  einer  Kellerabteilung  zur  gemeinschaftlichen  Bade- 
und  Waschküche  war  relativ  leicht",  während  die  Vorteile  dieser  Ein- 
richtung, die  in  regelmäßigem  Turnus  den  Mietern  zu  Gebote  steht, 
ungemein  schätzbar  sind.  Ebenso  der  Gasautomat,  der  Brief-  und 
Brötchenkasten  Air  jeden  Mieter. 

Noch  wertvoller  aber  sind  andere  Ergänzungen,  die  in  erster  Linie  gerade 
den  von  der  Gesellschaft  bevorzugten  und  ohne  Rücksicht  auf  das 
religiöse  oder  politische  Bekenntnis  ausgewählten  kinder- 
reichen Familien  zugute  kommen.  Da  ist  zuerst  die  günstige  Lage  der 
Blocks,  die  dem  Licht  und  der  Luft  von  allen  Seiten  freien  Zutritt  ge- 
währt. Und  während  z.  B.  durch  die  städtische  Bauordnung  eine  un- 
bebaute Fläche  von  33,  40  und  50  Proz.,  je  nach  Lage  in  der  Innen- 
stadt, Vorstadt  oder  Peripherie  vorgeschrieben  ist,  bleiben  bei  den 
Häusern  der  Aktienbaugesellschaft  50 — 60  Proz.  unbebaut.  Diese  freien 
Flächen  sind  in  Spiel-  und  Bleichplätze,  Gartenanteile  für  die  Mieter  usw. 
umgewandelt. 

Wird  auf  diese  Weise  schon  eine  willkommene  Ergänzung  der 
Wohnung  geschaffen,  die  völlig  den  Charakter  einer  Vergrößerung  trägt, 
so  ist  das  noch  mehr  der  Fall  durch  die  sonstigen  Veranstaltungen,  die 
in  Gestalt  von  Vereinshäusern  den  Bewohnern  der  Blocks  zugänglich 
sind.  Diese  Vereinshäuser,  die  ihre  Erbauung  und  Ausstaltung  den  Zu- 
wendungen der  Frankfurter  Herren  Speyer,  Wertheim,  Hallgarten  u.  a. 
danken,  enthalten  Krippe,  Kindergarten-  und  Hort,  Volksküchen,  Biblio- 
theken, Flickschulen,  Versammlungssälc  usw.1) 

Die  Aktienbaugesellschaft  für  kleine  Wohnungen  verfügt  heute  über 
832  Wohnungen  zu  zwei  und  drei  Zimmern.  Die  Bevölkerung  der  Häuser, 
die  sich  auf  5  Baublocks  verteilen,  betrug  am  1.  Januar  1904:  875  Fa- 
milien mit  4303  Personen,  daher  auf  die  Familie  5  Personen.  Darunter 
befanden  sich  über  2000  Kinder  unter  14  Jahren.    „Bei  anderen  ähn- 


l)  Erwähnt  sei  auch  noch  die  Hauspflegekasse,  die  ihren  Mitgliedern  gegen 
einen  geringen  Beitrag  (30  Pfg.  monatlich)  das  Recht  auf  eine  Hauspflegerin  in 
Krankhcits-  und  Wochcnbettfallen  sichert,  und  deren  Aufgabe  darin  besteht,  durch 
Besorgung  der  Hausgeschäfte  und  der  Kinder  in  allen  Stücken  für  die  arbeits- 
unfähige Hausfrau  einzutreten.  Weiter  die  Ermöglichung  des  gemeinsamen  und 
billigen  Bezuges  von  Kohlen  und  Kartoffeln. 


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Henriette  Fürth,  Wohnbedarf  und  Kinderzahl.  673 

liehen  Zwecken  dienenden  Gesellschaften  stellt  sich  das  Verhältnis 
wesentlich  niedriger.  So  hat  beispielsweise  die  „Gemeinnützige  Bau- 
gesellschaft" bei  450  Familien  mit  1690  Personen  im  Jahre  1902 
588  Kinder  unter  14  Jahren,  d.  h.  auf  die  Familie  1,3  Kinder,  die 
A.-B.-G.  dagegen  auf  die  Familie  2,54  Kinder  unter  14  Jahren." 

Wir  ersehen  daraus,  daß  die  Gesellschaft  ihrer  Aufgabe,  kinder- 
reiche Familien  unterzubringen  nach  Möglichkeit  gerecht  zu  werden 
sucht  Nun  bleibt  zu  untersuchen,  ob  ihr  dies  ebenso  in  bezug  auf 
Flächenraura  und  Preise  gelingt. 

Bei  einer  Höhe  von  durchgehends  3,10  Metern  haben  die  Zwei- 
zimmerwohnungen einen  Flächeninhalt  von  37 — 48  qm,  die  von  drei 
Zimmern  41 — 51  qm.  Die  Preise  stellen  sich  auf  14—22  Mk.  für  die 
Zwei-  und  auf  22 — 26  Mk.  für  die  Dreizimmerwohnungen.  Vereinzelt 
kommen  auch  Mansardenwohnungen  vor.  Die  Preise  richten  sich  einmal 
nach  den  Stockwerken  und  außerdem  nach  der  Lage  der  Blocks,  da 
der  der  Mietberechnung  zugrunde  liegende  Bodenpreis  im  Zentrum  der 
Stadt  natürlich  wesentlich  höher  ist  als  an  der  Peripherie.  Trotzdem 
stellen  sie  sich  durchgängig  billiger  als  die  schlechten  Wohnungen  in 
der  Altstadt  und  die  besseren  der  Vorstadt,  denen  überdies  auch  noch 
die  von  uns  aufgeführten  Ergänzungen  fehlen.  So  kostet  der  Quadrat- 
meter Fläche,  in  den  drei  ersten  Fällen  70,  77  und  87  Pfg.,  in  den 
Häusern  der  A.-B.-G.  dagegen  durchschnittlich  49  Pfennige. 

Noch  klarer  wird  dies,  wenn  wir  an  der  Hand  des  Berichtes  für  1902 
einen  vergleichenden  Blick  auf  die  von  den  Mietern  des  neubezogenen 
Erbbaublocks  früher  innegehabten  Wohnungen  und  die  dafür  gezahlten 
Preise  werfen.  Eine  sehr  übersichtliche  Tabelle  gibt  uns  darüber  Aus- 
kunft. 

(Siehe  Tabelle  S.  674,  675.) 

Folgen  wir  nun  noch  einen  Augenblick  den  Ausführungen  des  Be- 
richts. Es  heißt  dort  in  bezug  auf  den  eben  dem  Verkehr  übergebenen 
Erbbaublock:  „Von  486  Mietgesuchen  wurden  162  berücksichtigt. 
Diese  162  Familien  beziehen  ein  Wocheneinkommen  von  3546  Mk., 
d.  h.  also  durchschnittlich  21,89  Mk.  Die  frühere  Mietausgabe  betrug 
4329  Mk.,  durchschnittlich  also  26,72  Mk.  pro  Monat.  Während  so- 
nach früher  ein  knappes  Drittel  des  Einkommens  für  Miete  aufge- 
wandt werden  mußte,  wird  heute  nur  !/5  des  Einkommens  dafür  ver- 
ausgabt. 

Neben  der  eigentlichen  Mietersparnis  kommt  nun  noch  die  be- 
deutende Verbesserung  der  Wohnverhältnisse  in  Betracht.  Früher  dunkle, 
kleine  Kammern,  heute  für  weniger  Geld  luftige,  geräumige,  helle  Zimmer, 
ausgestattet  mit  allen  Annehmlichkeiten  einer  bürgerlichen  Wohnung. 
Das  Waschen  und  Trocknen  der  Wäsche  aus  der  Wohnung  hinaus  ver- 
legt und  Vorsorge  getroffen,  daß  die  Kinder  tagsüber  sich  in  geräumigen 
Spielsälen  oder  ebensolchen  Spielplätzen  tummeln  können.  Außerdem 


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674 


Miszcllen. 


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Henriette  Fürth,  Wohnbedarf  und  Kindcrzahl. 


675 


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676 


Miszellcn. 


fand  die  weitere  Absicht  der  A.-B.-G.,  insbesondere  kinderreiche  Familien 
zu  berücksichtigen,  ihre  Verwirklichung." 

Wie  wohltuend  diese  Art  der  Fürsorge  empfunden  wird,  und  wie 
groß,  trotz  des  Verbotes  der  Aftervermietung,  die  Nachfrage  nach  solchen 
Wohnungen  ist,  selbst  wenn  sie  wie  der  Erbbaublock,  an  der  äußersten 
Grenze  der  Stadt  liegen,  geht  daraus  hervor,  daß  für  324  im  Jahre 
1902  verfügbare  Wohnungen  etwa  1000  Meidungen  einliefen. 

Aus  alledem  erhellt,  wie  segensreich  die  Gesellschaft  wirkt,  aber 
auch,  wie  bitter  notwendig  gerade  diese  besonders  die  kleinen  Leute 
mit  zahlreicher  Familie  berücksichtigende  Art  der  Wohnungsfürsorge  ist. 

Vielleicht  ließe  sich  hier  künftig  noch  eine  Verbesserung  anbahnen, 
indem  man  bei  zu  erwartenden  Neubauten  die  Mietpreise  so  kalkuliert, 
daß  sie  sich  noch  besser  als  es  jetzt  der  Fall  ist,  der  Kinderzahl  und 
den  verschiedenen  Einkommensstufen  anpassen.  Ein  bedeutsamer  An- 
fang in  dieser  Richtung  ist  in  Leipzig  gemacht  worden.  Dort  besteht 
eine  „Stiftung l)  für  Erbauung  billiger  Wohnungen",  als  deren  Leitsatz 
gilt:  „daß  der  auf  die  Wohnung  zu  verwendende  Betrag  in  einem  ge- 
sunden Verhältnis  zum  Gesarateinkommen  stehen  muß",  und  „der  Finan- 
zierung des  Unternehmens  liegt  der  Gedanke  zugrunde,  daß  bei 
gleicher  Kopfzahl  der  Familien,  Mieter  mit  1600  Mk.  oder 
900  Mk.  Verdienst  gleiche  Raumbedürfnisse  haben,  und  der 
besser  situiertc  Mieter  zugunsten  des  weniger  gut  situierten  Mieters  höhere 
Miete  zahlen  muß." 

Ihre  Verwirklichung  findet  diese  Absicht  durch  eine  ziemlich  be- 
trächtliche Abstufung  nach  Stockwerken,  so  daß  z.  B.  die  Mieter  des 
Parterre-  und  ersten  Stockes  für  die  gleiche  Wohnung,  die  in  den  oberen 
Stockwerken  187  bzw.  145  Mk.  kostet,  210  Mk.  zu  zahlen  haben.  Wir 
haben  auch  bei  der  Frankfurter  Gesellschaft  eine  ähnliche  Abstufung,  die 
aber  keine  so  großen  Dimensionen  annimmt,  sondern  sich  im  Rahmen 
Örtlicher  Gepflogenheit  hält. 

Dies  erklärt  sich  daraus,  daß  es  sich  in  Leipzig  in  erster  Linie  um 
eine  Wohltätigkeitssache  handelt,  die  mit  einem  ungemein  billligen  Ver- 
waltungsapparat arbeitet  und  im  Jahre  1902  für  Verzinsung  und  Tilgung 
der  investierten  Gelder  nur  2,75  Proz.  ergab;  infolgedessen  absorbiert 
auch  dort  die  Miete  nur  des  Einkommens,  gegen  Va  in  Frankfurt 
Unter  heutigen  Verhältnissen  kann  aber  an  eine  wenigstens  teilweise 
Lösung  des  Problems  auf  breiter  Grundlage  nur  gedacht  werden,  wenn 
es  gelingt,  unter  Wahrung  des  fiskalischen  Standpunktes  durch  Heraus- 
wirtschaftung  einer  bescheidenen  Rente  (3  bis  3  */•  Proz.)  eine  sinn- 
gemäße Abstufung  der  Mietpreise  nach  Stockwerken  herbeizuführen. 

Denn  mit  einer  geringeren  Verzinsung  kann  sich  die  A.B.G.,  die  fast 
ausschließlich  mit  verzinslichem  Gelde  arbeitet,  nicht  begnügen,  sowie  es 


•)  Achter  Bericht,  März  1903. 


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Henriette  Fürth,  Wohnbedarf  und  Kinclorzahl. 


677 


keine  andere  auf  gleicher  Basis  errichtete  und  in  gleicher  Weise  ver- 
waltete Veranstaltung  könnte.  Es  müßte  daher,  wenn  die  Sache  in  der 
nötigen  weit  ausgreifenden  Weise  betrieben  werden  soll,  sehr  billiges 
Geld  beschafft  oder  umfassende  Bauten  in  städtischer  Regie  aufgeführt 
werden. 

Nun  ist  gegen  das  Bauen  in  städtischer  Regie  der  Einwand  zu 
erheben,  daß  es  sich  gemeinhin  teurer  stellt  als  die  private  Bautätigkeit. 
Ferner  fällt  ins  Gewicht,  daß  es  leicht  dahin  kommen  könnte,  daß  dem 
Wohnen  in  solchen  städtischen  Häusern,  soweit  es  sich  nicht  um  An- 
gestellte der  Stadt  handelt,  das  Odium  der  Armenunterstützung  in  an- 
derer Form  anhaftete.  Darum  erscheint  es  zweckdienlicher,  wenn  die 
Städte  mit  allen  Kräften  den  Ausbau  und  die  Anwendung  des  Erbbau- 
rechtes betreiben  und  der  gemeinnützigen  Bautätigkeit  große  Beträge 
zu  außerordentlich  billigem  Zinsfuß  (vielleicht  21/.,  Proz.)  mit  der  aus- 
drücklichen Bedingung  der  Wohnungsfürsorge  für  kinderreiche  Familien 
zur  Verfügung  stellen.  Eine  starke  Verpflichtung  für  die  Städte  liegt 
hier  zweifellos  vor.  Davor  müßte  der  fiskalische  Standpunkt  zurück- 
treten, wennschon  auch  dieser  zu  seinem  Recht  käme  in  Ansehung  der 
Tatsache,  daß  nicht  nur  das  Armenbudget  eine  wesentliche  Erleichterung 
erfahren,  sondern  auch  der  körperliche  und  moralische  Habitus  größerer 
Bevölkerungsteile  eine  begrüßenswerte  und  dem  Gedeihen  des  Gemein- 
wesens nützliche  Förderung  erfahren  würde. 

Nicht  in  gleichem  Grade  besteht  eine  Verpflichtung  zur  Hergabe 
extra  billigen  Geldes  für  die  Alters-  und  Invaliditätsversicherungsanstalten, 
die  heute  in  beträchtlichem  Umfang  am  gemeinnützigen  Wohnungsbau 
beteiligt  sind,  wiewohl  auch  ihre  Inanspruchnahme  durch  Renten- 
empfänger nicht  unbedeutend  verringert,  das  heißt  also  ihre  Leistungs- 
fähigkeit erhöht  würde,  wenn  der  städtische  Arbeiter  gesund  und  billig 
wohnen  und  infolgedessen  den  Pflichten  gegen  seine  Familie  wie  gegen 
sich  selbst  besser  nachkommen  könnte. 

Das  Volk  ist  ein  vielverzweigter  und  in  allen  seinen  Teilen  und 
Beziehungen  von  einander  abhängiger  Organismus,  und  die  Wohnungs- 
fürsorge ist  eine  der  stärksten  Wurzeln  seiner  Kraft. 


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6;8 


LITERATUR. 

Die  Entwickelung  der  italienischen  Nationalökonomie 

in  jüngster  Zeit 

Von 

ACHILLE  LORIA. 

Ich  komme  um  so  lieber  dem  Wunsche  der  Herausgeber  dieser  Zeit- 
schrift nach,  eine  Darstellung  der  Entwickelung  der  italienischen  National- 
ökonomie zu  geben,  als  die  Wissenschaft,  welcher  ich  mich  gewidmet 
habe,  in  letzter  Zeit  hervorragende  und  tüchtige  Vertreter  gefunden 
hat  und  durch  eine  ansehnliche  Reihe  ausgezeichneter  Publikationen  be- 
reichert worden  ist.  Ein  beredter  Beweis  für  den  bedeutenden  Platz,  den 
Italien  in  der  ökonomischen  Literatur  der  Welt  einnimmt,  ist  die  Tatsache, 
daß  einer  der  größten  österreichischen  Nationalökonomen,  Karl  Menger. 
von  seinen  Schülern  das  Studium  der  italienischen  Sprache  verlangt,  als 
ob  diese  jetzt  grundlegend  für  ein  tieferes  Eindringen  in  die  ökonomischen 
Disziplinen  wäre.  Ein  deutlicherer  Beweis  aber  sind  die  immer  häufiger 
werdenden  Übersetzungen  italienischer  Werke,  und  den  Einfluß,  welchen 
die  italienischen  Nationalökonomen  auf  das  zeitgenössische  Denken  aus- 
üben, kann  kein  Unj>arteiischer  leugnen.  Das  flüchtige  Bild,  das  wir 
zu  entwerfen  suchen,  wird,  schmeichle  ich  mir,  diese  Behauptung  be- 
kräftigen und  wird  ein  weiterer  Beweis  für  die  Reife  und  die  fort- 
schreitende Entwicklung  der  soziologischen  Studien  auf  unserem  frucht- 
baren italienischen  Boden  sein. 

Der  Reifegrad,  den  die  ökonomische  Wissenschaft  bei  uns  bereits 
erreicht  hat ,  wird  vor  allem  durch  die  Tatsache  bewiesen,  daß  auch  in 
unserer  Literatur  endlich  das  Lehrbuch  erschienen  ist. 

Unglaubliche  Tatsache!  Bis  zur  jüngsten  Zeit  hatte  Italien  wohl 
national-ökonomische  Handbücher,  wie  das  sehr  gelungene,  aber  heut 
veraltete  Buch  von  Boccardo,  sowie  die  ausgezeichneten  Werke  von 
Gossa  und  Nazzani  und  das  kürzere  und  zusammenfassendere  von  Pantaleoni, 


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Ach ille  Lorta,  Die  Entwicklung  d.  Hai.  Nationalökonomie  in  jüngster  Zeit  679 

aber  wir  besaßen  kein  Lehrbuch  der  Volkswirtschaft,  denn  man  kann 
zu  unserer  Literatur  nicht  die  französierten  Schriften  aus  der  Zeit  von 
Pellegrino  Rossi  oder  von  Reymond  und  neuerdings  von  Pareto  rechnen. 
Erst  in  diesem  Jahre  ist  unsere  Literatur  durch  ein  schönes  und  aus- 
führliches Lehrbuch  von  Supino  bereichert  worden,  das  seinen  außer- 
ordentlichen buchhändlerischen  Erfolg  wohl  verdient  hat,  ferner  erschien 
ein  starkes  und  vollständiges  Handbuch  aus  der  Feder  des  Prof.  Graziani, 
ein  ausgezeichnetes  Werk,  in  dem'seltene  und  glänzende  Gaben  von  Geist 
und  Gelehrsamkeit  zutage  treten.  Die  Methode  und  die  Absichten 
dieses  Werkes  unterscheiden  sich  wesentlich  von  denen  der  deutschen 
Lehrbücher.  Während  diese  ein  subjektives  und  persönliches  Gepräge 
tragen,  oder  sich  vornehmen,  die  Nationalökonomie  so  darzustellen,  wie 
sie  der  Autor  auffaßt,  wie  sie  durch  sein  geistiges  Prisma  erscheint, 
verschwinden  dagegen  in  dem  Werk  von  Graziani  die  Person  des  Ver- 
fassers und  seine  subjektiven  Überzeugungen  und  machen  der  Darstellung 
und  rationellen  Anordnung  der  jüngsten  Lehrmeinungen  Platz;  und  das 
ganze  Streben  des  Schriftstellers  ist  darauf  gerichtet,  ein  möglichst 
gutes  und  vollständiges  Bild  des  gegenwärtigen  Standes  der  Wissenschaft 
zu  geben  und  soweit  als  möglich  die  verschiedensten  Doctrinen  und 
Systeme  einander  zu  nähern  und  zu  versöhnen. 

Wir  wollen  nicht  leugnen ,  daß  in  einer  solchen  Arbeit  des  systema- 
tischen Eklektizismus  der  Autor  sich  oft  im  Kampfe  mit  fast  unüber- 
windlichen Schwierigkeiten  befindet  und  daß  nicht  selten  die  Gegensätze, 
die  er  zu  verschmelzen  sich  bemüht,  sich  seiner  versöhnenden  Arbeit 
widersetzen.  Nichtsdestoweniger  scheint  es  dem  Buch  von  Graziani  zu 
gelingen,  ein  höchst  wertvolles  Hilfsmittel  für  die  Studierenden  zu  werden ; 
diese  können  daraus  eine  vollständige  und  tiefe  Kenntnis  der  heut 
herrschenden  Doktrinen  gewinnen,  auch  wird,  dank  der  großen  Belesen- 
heit des  Verfassers  und  vermittels  der  häufigen  und  genauen  Citaten,  für 
jede  Frage  eine  sehr  reichhaltige  und  gewählte  Bibliographie  geliefert. 

Gerade  wegen  dieses  Charakters  spiegelt  das  Buch  von  Graziani 
bewundernswert  die  Art  und  das  Wesen  der  italienischen  National- 
ökonomie wieder,  welche  in  ihren  verschiedenen  Richtungen  eine  be- 
sondere Vorliebe  für  Eklektizismen  und  eine  ausgesprochene  Abneigung 
gegen  mehr  einseitige  und  strengere  Ansichten  zeigt.  Und  in  der  Tat, 
wenn  wir  den  Blick  auf  die  bemerkenswerteren  Produktionen  richten, 
welche  sich  in  schnellem  Tempo  von  einem  Ende  der  Halbinsel  zum 
anderen  verbreiten,  so  werden  wir  uns  vergeblich  bemühen,  sie  einer 
Schule  oder  einer  speziellen  Geistesrichtung  zuzuteilen.  In  ihrer  großen 
Mehrheit  werden  sie  zu  gleicher  Zeit  von  den  verschiedensten  Schulen 
inspiriert,  aus  allem  suchen  unsere  Schriftsteller  das  beste  zu  ziehen  und 
suchen  offenbar  feindliche  Ansichten  zu  versöhnen.  Es  gibt  allerdings 
in  Italien  Schriftsteller,  die  Anhänger  eines  sehr  intransigenten  Optimis- 
mus und  Liberalismus  sind;  unter  diesen,  ist  zu  erwähnen,  Domenico 

Archiv  für  Sozialwissenschaft  u.  Sozialpolitik,  I.    (A.  f.  soz.  G.  u.  St.  XIX.)  3.  44 


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68o 


Literatur. 


Berardi,  der  speziell  durch  seine  Schrift  über  „Grenznutzen  und  Repro- 
duktionskosten", Bologna  iqoi  bekannt  ist,  ferner  Bertolini,  Martello,  Pinna- 
Ferrä,  Pareto  u.  a.  Aber  in  Wirklichkeit  nehmen  diese  Schriftsteller  die 
praktischen  Forderungen  des  Liberalismus  auf,  in  der  Theorie  jedoch 
schenken  sie  der  klassischen  Schule  erneute  Achtung.  Es  gibt  anderer- 
seits Schriftsteller,  die  sich  zum  Sozialismus  bekennen,  aber  man  kann 
nicht  sagen,  daß  sie  in  der  Theorie  ausgesprochene  Abweichungen 
von  den  gewöhnlichen  ökonomischen  Doktrinen  zeigen.  Es  gibt  und 
noch  mehr  gab  es  Nationalökonomen,  die  ihre  Vorliebe  für  die  öster- 
reichische Schule  nicht  verbergen,  aber  auch  diese,  die  sich  von  den 
anderen  durch  ihre  Richtung  entfernen,  haben  sich  dieser  Schule  nicht 
absolut  ergeben,  sie  haben  ihre  Dogmen  immer  weise  mit  den  Ent- 
deckungen der  historischen  und  der  englischen  Schule  wie  mit  den  siche- 
reren Resultaten  der  Statistik  verbunden.  Wir  haben  ferner  Schriftsteller, 
welche  die  Forschungen  von  historischem  Charakter  bevorzugen  (wie  der 
verewigte  Cognetti  de  Martiis  und  Toniolo),  aber  auch  diese  wollen 
nicht  die  Theorie  von  der  Geschichte  trennen,  sondern  sie  suchen  durch 
das  Mittel  der  Geschichte,  die  Doktrinen  der  britischen  Schule  zu  er- 
neuern. Es  gibt  auch  unter  uns  Denker,  welche  der  Schule  des  Kathcder- 
sozialismus  angehören,  aber  sie  akzeptieren  diese  Theorien  nur  unter 
dem  Vorbehalte  mancher  Einschränkungen  und  Abschwächungen  und 
schließen  sich  nicht  den  extremen  Forderungen  A.  Wagners  an;  anderer- 
seits verschmähen  auch  die  entschiedenen  Anhänger  dieser  Richtung  nicht 
die  Schlußfolgerungen  der  deduktiven  Schule,  sondern  nehmen  sie  in 
die  eigenen  Behauptungen  auf.  So  ist  es  im  ganzen  schwer,  einen  ita- 
lienischen Nationalökonomen  zu  finden,  der  einen  sozusagen  monolithischen 
Charakter  trägt,  dessen  Doktrinen  unter  eine  Etikette  oder  unter  eine 
Fahne  gebracht  werden  können.  Daher  kann  man  sagen,  daß  die  ita- 
lienische Nationalökonomie  jene  harmonische  Verschiedenheit  von  Nuancen, 
Farben  und  Horizonten,  die  so  charakteristisch  uud  bezaubernd  Air  unser 
unvergleichliches  Land  ist,  wiedergibt. 

Auch  der  Versuch,  den  schon  Pecchio  machte,  und  der  heute  von 
Zeit  zu  Zeit  erneuert  wird,  einige  Unterschiede  im  Charakter  und  in  der 
Doktrin  der  italienischen  Nationalökonomen  nach  dem  Landesteil,  dem  sie 
angehören,  zu  machen,  scheint  mir  keinen  Erfolg  zu  haben,  weil  ein 
uniformer  Zug  von  einem  Ende  der  Halbinsel  zum  anderen  herrscht. 
Gewiß  ist  der  Glaube  an  die  englischen  Doktrinen  stärker  in  den  indu- 
striellen, mehr  entwickelten  Gegenden  Überitaliens,  wo  die  wirtschaftlichen 
und  sozialen  Formen  nicht  wesentlich  von  den  angelsächsischen  Ländern 
abweichen;  dagegen  finden  in  den  südlichen  Landesteilen  die  deutschen 
und  österreichischen  Theorien  leichte  Annahme.  Nach  der  Bemerkung 
eines  neueren  Autors  J)  ist  die  österreichische  Werttheorie  richtig,  wenn 


')  Cornclissen,  La  Thegric  de  la  Vakur,  Paris  1903.  304—5. 


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Achillc  Loria,  Die  Entwicklung  d.  ital.  Nationalökonomie  in  jüngster  Zeit.    68 1 

man  auf  die  Vergangenheit  blickt,  sie  zeichnet  genau  die  realen  Zustände 
im  Schöße  einer  vorkapitalistischen  Ökonomie,  wo  die  Konkurrenz  noch 
immer  embryonal  ist;  und  gerade  deshalb  mußte  eine  solche  Lehre  in 
Österreich  entstehen,  das  noch  immer  großenteils  in  einem  wirtschaftlichen 
Mittelalter  lebt.  Um  so  mehr  mußte  diese  Theorie  Gönner  in  Süditalien 
finden,  das  noch  viel  zurückgebliebener  und  barbarischer  ist.  Während 
ferner  die  Schriftsteller  des  industriellen  Nordens  entschiedene  Anhänger 
des  Freihandels  sind,  neigen  die  Schriftsteller  des  ackerbauenden  Südens 
weit  mehr  zu  schutzzöllnerischen  Ansichten  und  vor  allem  zum  agra- 
rischen Protektionismus.  Während  die  Schriftsteller  des  Nordens  An- 
hänger des  Zentralbanksystems  sind,  verteidigen  diejenigen  des  Südens, 
welche  die  Banken  von  Neapel  und  Sizilien  als  das  Palladium  des  süd- 
italienischen Kredites  ansehen,  das  System  des  dezentralisierten  Bank- 
wesens. Man  bemerkt  ferner  bei  den  südlichen  Schriftstellern  häufig  eine 
theoretische  Naivität  oder  das  Fortbestehen  von  sonst  allgemein  aufge- 
gebenen Doktrinen,  z.  B.  die  übertriebene  Bedeutung,  die  man  den  Edel- 
metallen zuschreibt,  die,  unter  Wiederholung  merkantilist isdier  Vorurteile, 
zu  oft  mit  dem  Reichtum  verwechselt  werden.  Ferner  bemerkt  man  bei 
den  süditalienischen  Nationalökonomen  die  geringe  Wertschätzung  grund- 
legender ökonomischer  Verhältnisse  im  Vergleich  zu  der  außerordentlichen 
Beachtung  oberflächlicher  Wirtschaftsformen,  schließlich  den  Mangel  eines 
wahren  Sinnes  für  Wirklichkeit,  der  allein  durch  anhaltende  Berührung 
mit  entwickelteren  und  stärkeren  Äußerungen  des  sozialen  Lebens  ge- 
wonnen werden  kann.  Auf  dem  Gebiet  der  Soziologie  überwiegen  bei 
den  süditalienischen  Schriftstellern  die  abstraken  Arbeiten,  die  auf  Grund 
eines  kompilatorischen  und  überstürzten  Studiums  der  Werke  von  Natur- 
forschern, Reisenden  und  der  schönen  Literatur  geschrieben  wurden  und 
die  ohne  Methode  oder  technische  Vorbereitung  von  Grund  aus  alle 
Gebiete  des  Wissens  berühren,  während  die  soziologischen  Publikationen 
des  Nordens  unzweifelhaft  viel  beachtenswerter  und  bedeutender  sind. 

Aber  alles  dies  wird  sich  aus  der  weiter  unten  gegebenen  Auf- 
zählung der  hauptsächlichsten  italienischen  Publikationen  der  letzten 
Jahre  über  Nationalökonomie,  Finanzwissenschaft,  Statistik  und  Soziologie 
klar  ergeben. 

In  Italien  mehr  als  anderwärts  wird  die  ökonomische  Wissenschaft 
durch  die  vielfachen  Funktionen  geschädigt,  die  ihre  Vertreter  ausüben; 
diese  betreiben  —  abgesehen  von  ihrer  Lehrtätigkeit  —  die  Advokatur, 
oder  nehmen  an  einer  unendlichen  Reihe  von  Kollegien  teil,  oder  sind 
in  der  Politik  und  Verwaltung  tätig.  Mehr  als  je  gilt  von  uns,  was  schon 
Schiller  von  der  Wissenschaft  sagt: 

„Einem  ist  sie  die  hohe,  die  himmlische  Göttin,  dem  anderen 
Eine  tüchtige  Kuh,  die  ihn  mit  Butter  versorgt." 

44* 


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682 


Literatur. 


Aber  nichtsdestoweniger  spricht  sich  der  starke  italienische  Geist  in 
bemerkenswerten  Produktionen  aus. 

Auf  dem  Gebiet  der  theoretischen  Nationalökonomie  ist  vor  allem 
die  sehr  schöne  Arbeit  von  Einaudi,  „die  Bergwerksrente"  (Turin  1900) 
hervorzuheben.  Sie  enthält  eine  sehr  eingehende  Untersuchung  der 
Bergwerksrente,  nicht  allein  auf  Grund  der  deduktiven  Methode,  son- 
dern auf  Grund  eines  fleißigen  Studiums  der  technischen  Berichte  und 
mit  einer  sehr  reichen  Fülle  von  Daten  und  Theorien.  Ich  stehe 
nicht  an,  dieses  Buch  als  das  bedeutendste  monographische  Werk  zu 
bezeichnen,  das  in  letzter  Zeit  auf  dem  Gebiet  der  Volkswirtschaft  in 
Italien  erschienen  ist. 

Eine  wertvolle  Arbeit  ist  auch  die  von  Jannaccone  über  die  „Pro- 
duktionskosten" (Turin  1901).  Er  stellt  sich  die  Aufgabe,  nicht  nur  auf 
deduktivem  Wege,  sondern  durch  fleißiges  Studium  der  Tatsachen  und 
der  Statistik  die  Produktionskosten  zu  analysieren ,  sie  in  ihre  konsti- 
tuierenden Elemente  zu  zerlegen,  die  modifizierenden  Umstände  aufzuklären 
und  erledigt  die  Aufgabe  in  wahrhaft  lobenswerter  Weise.  Man  kann 
jedoch  dem  Buch  den  Tadel  einer  gewissen  Zersplitterung  und  Weit- 
schweifigkeit nicht  ersparen. 

Von  dem  allzu  früh  der  Wissenschaft  entrissenen  Nationalökonomen 
Carlo  A.  Conigliani  wurden  aus  dem  Nachlaß  zahlreiche  und  bemerkens- 
werte Essays  veröffentlicht,  durch  die  die  Wissenschaft  bereichert  wird. 
Es  ist  ein  stattlicher  Band  entstanden,  in  dem  die  verschiedensten  Fragen 
behandelt  werden,  z.  B.  die  Ökonomie  hoher  Löhne,  der  Zonentarif, 
die  Ausgleichung  der  Profitraten,  die  kapitalistische  Ökonomie  im  theo- 
retischen System  von  Loria,  die  subjektiven  Grundlagen  des  Tausches  usw. 

Auch  Valenti  veröffentlicht  ein  wichtiges  Werk:  „Der  Grundbesitz 
und  die  Wirtschaftsordnung,  Kritischer  Versuch  über  das  System  von 
A.  Loria"  (Bologna  1901),  über  dessen  Wert  ich  selbstverständlich  nicht 
richten  kann.  Es  enthält  jedenfalls  sehr  scharfe  Kritiken  und  wertvolle 
Beobachtungen. 

Pantaleoni  liefert  eine  wertvolle  Arbeit  über  den  „Ursprung  des 
Tausches".  Er  schrieb  ferner  über  „Die  theoretischen  Grundlagen  der 
Kooperation"  weiter  über  Syndikate  und  Kartelle,  anschließend  an  das 
Buch  von  Merkel,  dann  noch  über  die  Preisbildung  in  Fällen,  in  denen 
kein  Marktpreis  vorhanden  ist,  auch  veröffentlichte  er  eine  Sammlung 
von  Essays  „Verschiedene  ökonomische  Schriften." 

Wir  besitzen  noch  sehr  viele  andere  Arbeiten  auf  dem  Gebiet  der 
allgemeinen  Wirtschaftslehre,  die  in  mehrfacher  Hinsicht  bemerkenswert 
und  interessant  sind.  So  die  Arbeiten  von  Ricca-Salerno  über  die  Wert- 
theorie und  über  den  Arbeitslohn,  von  Graziani  über  die  „Maschinen", 
den  „Lohn",  die  „Wertmessung",  von  Supino  über  das  „Lohnkapital", 
von  Mase-Dari  über  die  „Rententheorie  von  Marx",  von  Artur  Labriola 
„Verteilung  des  Ertrages  und  Grenzproduktivität"  (Neapel  1900),  von 


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Achille  Loria,  Die  Entwicklung  d.  ital.  Nationalökonomie  in  jüngster  Zeit.  683 

Lorini  über  den  „Kapitalprofit"  (Rom  1901),  diejenige  des  berühmten 
Mathematikers  Volterra  über  die  „Anwendung  der  Mathematik  auf  die 
biologischen  und  sozialen  Wissenschaften"  (Rom  1902),  des  Doktor 
Tivaroni  „Die  Korrektive  der  heutigen  Reichtumsverteilung"  (Turin  1903), 
von  Graziadei  über  die  „Preise  bei  freier  Konkurrenz  und  Kartell- 
bildung" (1903). 

Wie  immer  so  haben  auch  in  letzter  Zeit  die  italienischen  National- 
ökonomen mit  besonderer  Vorliebe  sich  mit  den  Fragen  über  das  Geld 
und  den  Handel  beschäftigt,  in  deren  heutigen  praktischen  Gestaltungen 
bei  uns  die  größten  Lücken  und  die  bedauernswertesten  Fehler  bestehen. 
Über  diesen  Gegenstand  sind  die  Arbeiten  von  Lorini  bemerkenswert; 
er  hatte  von  der  Regierung  die  wichtige  Mission  erhalten,  die  Währungs- 
verhältnisse und  Reformen  des  Auslandes  zu  studieren,  und  er  hat  die 
Resultate  seiner  eigenen  Untersuchungen  in  einigen  bedeutenden  Schriften 
niedergelegt:  „Über  die  Münzreform  in  Österreich-Ungarn,  in  Rußland 
und  Persien".  Er  veröffentlichte  jüngst  ein  Buch  über  Argentinien 
(Rom  1902),  das  eine  geistreiche  Theorie  über  das  Geld  enthält.  De 
Viti  schrieb  eine  interessante  Abhandlung  über  die  Funktionen  der 
Banken  (1898),  wo  er  auf  Grund  einer  Untersuchung  der  mittelalterlichen 
Banken  zu  zeigen  sucht,  daß  diese  besser  als  die  heutigen  Banken,  den 
wesentlichen  Aufgaben  einer  Bank  gerecht  wurden,  die  ihrer  Natur  nach 
nicht  ein  Kreditinstitut,  sondern  eine  Anstalt  für  Zahlungen  und  Kom- 
pensationen ist.  In  dieser  Arbeit  ist  die  Tendenz  bemerkenswert,  die 
so  oft  in  den  weniger  entwickelten  Ländern  beobachtet  wird,  in  der 
Theorie  unvollkommene  Formen,  die  anderwärts  der  wirtschaftliche  Fort- 
schritt beseitigt  hat,  zu  idealisieren  und  zu  versteinern.  Supino  lieferte 
eine  ausgezeichnete  Arbeit  über  Börse  und  unproduktives  Kapital  (1898); 
dann  ist  die  Arbeit  von  Ambron  zu  nennen,  „Der  Zweck  und  die  Auf- 
gaben der  Emissionsbanken"  (Florenz  1903)  und  einige  hübsche  Arbeiten 
von  G.  Luzzatti. 

Über  das  Thema  des  Transportwesens  sei  die  wahrhaft  klassische 
Arbeit  von  Supino  „Schiffahrt  vom  ökonomischen  Gesichtspunkt"  er- 
wähnt, in  der  alle  Fragen  über  die  Frachten  und  die  wirtschaftliche 
Wirkung  der  Schiffahrt  mit  seltener  Meisterschaft  studiert  und  aufgeklärt 
werden.  Höchst  beachtenswert  ist  auch  die  Arbeit  des  Verfassers  die 
Binnenschiffahrt  betreffend,  über  welche  jetzt  der  umfangreiche  Parla- 
mentsbericht über  die  Flußschiffahrt  in  Italien,  den  man  Romanin  ver- 
dankt, helles  Licht  verbreitet. 

In  betreff  der  Handelsfragen  sei  an  die  Arbeit  von  Cabiati  und 
Einaudi  erinnert,  „Italien  und  die  Handelsverträge"  (1903 1,  im  frei- 
händlerischen Sinn.  Ferner  Fontana  Russo,  „Die  Handelsverträge  und 
die  Volkswirtschaft"  (Rom  1902»,  eine  Schrift,  in  der  man  am  besten 
die  Geschichte  und  die  verschiedenen  Richtungen  unserer  Handels- 
politik studieren  kann.  Sabbatini,  Sekretär  der  Mailänder  Handelskammer, 


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684 


Literatur. 


veröffentlichte  eine  wichtige  Abhandlung  „Ober  unsere  Exporte",  in 
welcher  die  Richtungen  des  italienischen  Exports  und  die  Mittel,  ihn  zu 
fördern,  untersucht  werden.  Neuerdings  hat  derselbe  Autor  einen  starken 
Band  über  die  „Italienische  Ausfuhr  nach  Zentral-Europa"  herausgegeben 
(1904),  der  eine  Analyse  und  sehr  genaue  Schätzung  unserer  europäischen 
Exporte  enthält.  Zum  Schluß  sei  erwähnt  die  Arbeit  von  Coletti  über 
den  „Statistischen  Wert  der  Ziffern  des  Welthandels",  in  der  der  Wert 
der  statistischen  Daten  über  Ein-  und  Ausfuhr  mit  bewunderungswürdiger 
Tiefe  erörtert  wird.  Die  Studien  über  diese  Gegenstände  bewegen 
sich  nicht  ausschließlich  auf  theoretischem  Gebiet.  Es  fehlen  auch  nicht 
fruchtbare  Versuche,  eine  Freihandelsliga  zu  gründen  mit  der  Aufgabe 
des  Kampfes  gegen  den  Protektionismus,  der  Italien  seit  1887  schädigt. 
Die  Liga  hat  in  allen  Provinzen  eine  kräftige  Propaganda  gegen  das  un- 
qualifizierbare  System  der  Hungerzölle  organisiert. 

Auch  die  Schriften,  die  andere  praktische  Fragen  der  Volks-  und 
Weltwirtschaft  erörtern,  sind  zahlreich  und  bedeutungsvoll.  Wir  erwähnen 
auf  dem  Gebiet  des  ländlichen  Grundeigentums  das  schöne  Buch  von 
Lo  Re,  , .Historische  Schilderung  des  italienischen  Ackerbaus"  (1002). 
Von  demselben  Verfasser  erschien  „Die  traurige  Capitanata"  (1896). 
Ferner  der  tiefe  Versuch  von  Di  Muro,  „Wirtschaftlichkeit  und  Ab- 
schätzung von  Bodenmeliorationen"  (Palermo  1902)  und  eine  andere  Ar- 
beit desselben  Verfassers  über  die  „Rationalität  eines  neuen  Systems  der 
Verteilung  des  Nützlichen"  (Palermo  1902).  In  gewisser  Beziehung  ge- 
hören auch  die  Schriften  von  A.  G.  Sella  hierher,  „Studien  über  die 
Wirkungen  der  Getreidespekulation"  (Turin  1904)  und  von  Gatti  „Über 
Ackerbau  und  Sozialismus"  (Palermo  1900).  — Über  industrielle  Fragen 
verzeichnen  wir  die  Arbeit  von  Racca,  „Das  Eisensyndikat  in  Italien" 
(Turin  1900),  sie  denunziert  die  Bildung  eines  Eisentrust  bei  uns.  Cossa 
schrieb  über  die  „Industriellen  Syndikate",  Tombesi  über  die  „Italienische 
Baumwollindustrie  am  Ende  des  19.  Jahrhunderts"  u.  a.  m. 

Zahlreich  und  bemerkenswert  sind  die  Schriften,  die  sich  mit  der 
Arbeiterfrage  befassen.  Wir  erwähnen  E.  Cossa,  „Konflikte  und  Bünd- 
nisse zwischen  Kapital  und  Arbeit",  Deila  Volta  „Probleme  der  Arbeiter- 
organisation (Florenz  1903),  Bertolini  über  die  „Landwirtschaftlichen 
Arbeitseinstellungen",  Contento  über  die  „Arbeitergesetzgebung*4  (Turin 
1901),  Profumo  über  „Arbeiterversicherung",  Virgilj  über  das  „Genossen- 
schaftswesen im  Prinzip  und  in  der  Gesetzgebung",  Boggiano  über  die 
„Gewerbliche  Organisation",  Valenti  über  die  „Kooperation",  im  all- 
gemeinem, und  Lorenzoni  über  „Das  Genossenschaftswesen  in  Deutsch- 
land" (ein  vorzügliches  Buch). 

Giretti  denunziert  den  Löwenpakt,  der  dem  italienischen  Staat  von 
den  Stahlwerken  zu  Terni  abgenötigt  wurde.  Er  greift  auch  die  enormen 
Mißbräuche,  die  sich  in  der  italienischen  Zuckerindustrie  geltend  raachen, 
an.  —  Bekanntlich  erhält  diese  Industrie  heute  von  der  Regierung  eine 


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Achillc  Loria,  Die  Entwicklung  d.  ital.  Nationalökonomie  in  jüngster  Zeit.  685 

exorbitante  Prämie,  die  der  Differenz  zwischen  dem  Zuckerzoll  (Lire  99  per 
Quintale)  und  der  Fabrikationssteuer  (Lire  70,15)  gleichkommt.  —  Und 
während  die  übrigen  Staaten,  die  an  der  internationalen  Konferenz  in 
Brüssel  teilnahmen,  die  Zuckerprämien  auf  ein  Maximum  von  Lire  6  j>er 
Zentner  festsetzten,  setzte  Italien,  das  auf  dieser  Konferenz  durch 
einen  großen  Zuckerfabrikanten  vertreten  war,  Befreiung  von  dieser 
Vorschrift  durch,  bis  Zucker  iu  bedeutendem  Maß  exportiert  wird.  Noch 
mehr,  die  Brüsseler  Konferenz  hat  die  Einigung  der  Zuckerindustrie  in 
Italien  bewirkt  und  ihr  Monopol  verstärkt,  da  die  fremde  Konkurrenz 
beseitigt  ist.  In  der  Tat,  als  die  anderen  Staaten  dem  Zucker  hohe 
Prämien  gewährten,  konnte  der  fremde  Fabrikant  den  italienischen  Pro- 
duzenten Konkurrenz  machen,  indem  er  den  Zucker  billig  zu  uns  expor- 
tierte; aber  die  Brüsseler  Konferenz  hat  durch  Reduktion  der  Prämien 
die  Möglichkeit  dieses  Exports  beseitigt  und  so  ist  das  Monopol  der 
italienischen  Zuckerfabrikanten  definitiv  befestigt  worden,  welches  schließ- 
lich zur  Bildung  eines  nationalen  Zuckertrusts  geführt  hat.  Auch  diese 
Untersuchungen  sind  nicht  allein  einfache  literarische  Äußerungen,  sondern 
sie  setzen  sich  in  fruchtbare  Agitation  um,  und  schon  beginnt  man  bei 
uns,  dank  de  Viti,  Giretti  u.  a.  Anhängern  des  Freihandels,  zu  denen 
sich  einige  Vorkämpfer  des  Sozialismus  gesellen,  die  schädlichsten 
Äußerungen  unserer  Handelspolitik  aufzuklären  und  zu  tadeln. 

Es  ist  fast  nicht  zu  verwundern,  daß  in  einem  Lande  wie  dem 
unseren,  wo  die  Auswanderung  so  stark  ist,  sich  die  Schriften  häufen, 
die  über  Auswanderung  und  Kolonisation  handeln.  Bemerkenswert  ist 
das  Buch  von  Cosatini  über  die  „Wanderarbeiter"  (Rom  1903).  Das 
Buch  von  Einaudi  „Ein  Handclsfürst,  Studien  über  die  koloniale  Aus- 
dehnung Italiens"  (Turin  1900),  schildert  die  italienische  Kolonisation 
Argentiniens  in  der  Person  eines  ihrer  hervorragendsten  Represäntanten 
und  bei  dieser  auf  den  ersten  Blick  biographischen  Studie  findet  der 
Verfasser  Gelegenheit,  die  ökonomischen  Verhältnisse  dieser  privilegierten 
Nation  und  ihre  interessantesten  Schicksale  zu  schildern.  Noch  origineller 
und  theoretisch  wichtig  ist  die  Arbeit  von  Fanno  „Kurze  Skizzen  über 
die  britische  Kolonisation".  Er  studiert  diese  Frage  unter  einem  ganz 
neuen  und  unerwarteten  Gesichtspunkt.  Während  in  der  Tat  der  größere 
Teil  der  Schriftsteller  die  englische  Kolonisation  im  Zusammenhang  mit 
den  kolonisierten  Ländern  schildert,  so  studiert  sie  dagegen  Fanno  in 
den  kolonisierenden  Ländern*,  er  beschäftigt  sich  mit  der  ökonomischen 
und  sozialen  Lage  des  englischen  Mutterlandes  und  zeigt,  in  welcher 
Weise  diese  Verhaltnisse  die  überseeische  Expansion  hervorriefen. 

Bei  dem  Thema  der  angewandten  Ökonomie  verdienen  Erwähnung 
einige  Schriften  über  die  volkswirtschaftlichen  Verhältnisse  in  den  ver- 
schiedenen Landesteilen.  Wir  bemerken  die  Arbeit  von  Nitti,  „Nord 
und  Süd";  er  sucht  hierin  zu  zeigen,  daß  die  so  ungünstigen  Ver- 
hältnisse   des  Südens  der  systematischen  Bevorzugung  der  norditalie- 


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686 


Literatur. 


nischen  Provinzen   durch  den  Staat  zuzuschreiben  sind,  wo  bei  ge- 
ringerem  Steuerdruck    die    öffentlichen    Aufwendungen   größer  sind. 
Die  Behauptung  ist  in  gewissem  Sinn  gerechtfertigt,  soweit  die  Steuer- 
bürde in  Betracht  kommt,  jedoch  nicht  wahr  hinsichtlich  der  Staats- 
ausgaben, weil  die  Landesteile,  wo  diese  gemacht  werden,  durch  die 
Staatsbedürfnisse  selbst  streng  bestimmt  sind  und  die  Ausgaben  nicht 
künstlich  auf  andere  Provinzen  übertragen  werden  können.    So  ist  es 
z.  B.  wahr,  daß  die  Kosten  zum  Unterhalt  der  Befestigungen  fast  aus- 
schließlich an  der  Nordgrenze  Italiens  gemacht  werden,  aber  es  ist  auch 
wahr,  daß  sie  gerade  in  diesem  Teil  Italiens  gemacht  werden  müssen 
und  daß  es  keinen  Sinn  hätte,  in  den  südlichen  Gegenden  diese  Auf- 
wendungen zu  machen.  —  Auf  dem  Gebiet  der  Munizipalökonomie  ist 
ohne  Zweifel  die  bedeutendste  Arbeit  die  Schrift  von  Montemartini,  „Die 
Munizipalisierung  der  öffentlichen  Dienste"  (1900),  aber  es  gehören 
hierher  auch  die  zahlreichen  Schriften  von  Bachi,  die  sich  bemühen,  die 
verwickelten  Erscheinungen  und  sehr  verschiedenen  Gestaltungen  der 
Gemeindeunternehmung  aufzuklären. 

Auch  auf  dem  Gebiet  der  Finanzen  betätigen  die  italienischen 
Nationalökonomen  mit  Glück  ihren  starken  Geist.  Wir  erwähnen  vor 
allem  das  wahrhaft  vortreffliche  Buch  von  Einaudi:  „Studien  über  die 
wirtschaftlichen  Wirkungen  der  Steuern"  (Turin  1902).  Sehr  inter- 
essant ist  auch  die  Arbeit  von  Marsili-Libelli  „Für  die  Progressiv- 
steuer" (Florenz  1903).  Er  sucht  hier  nach  einer  Formel  für  die 
Progression,  die  die  totale  Konfiskation  der  größeren  Einkommen  ver- 
meidet und  gelangt,  allerdings  auf  Grund  von  Hypothesen  und  Kon- 
jekturen, zu  sehr  bedeutungsvollen  Schlüssen.  De  Flamini  veröffent- 
lichte auf  Grund  sehr  genauer  gründlicher  Studien  in  England  ein 
sehr  wichtiges  Werk  „Form  und  Inhalt  des  englischen  Staatshaushalts" 
(Turin  1904),  welches  von  nun  an  ein  klassischer  Führer  durch 
das  Rechnungswesens  des  britischen  Staates  sein  wird;  den  Wert 
des  Werkes  erhöht  noch  die  geistreiche  und  wichtige  Vorrede  des 
Schatzministers  Luzzatti.  Alessio  veröffentlicht  eine  ausgezeichnete 
Abhandlung  über  die  Lokalsteuern  und  eine  sehr  tiefe  Studie  über 
einen  rationellen  Reformentwurf  des  italienischen  Steuersystems.  Flora 
gab  die  zweite  Ausgabe  seines  glänzenden  Handbuchs  der  Finanz- 
wissenschaft heraus.  Man  kann  es  als  ein  ganz  neues  Buch  bezeich- 
nen, das  von  Gelehrsamkeit  und  Geist  strahlt  Emilio  Cossa  veröffent- 
lichte eine  Arbeit  über  die  Steuertheorien  (Mailand  1902),  Nitti  ein 
„Handbuch  der  Finanzwissenschaft"  (Neapel  1903),  Carano  Donvito  eine 
Arbeit  über  „Die  Fundamentaltheorien  der  finanziellen  Statik  und  Dynamik", 
dann  Tivaroni  eine  Schrift  „Über  die  direkten  Steuern,  vom  beweglichen 
Vermögen  und  vom  Einkommen"  (Turin  1904).  Puviani  verfaßte  eine 
originelle  Schrift  „Über  die  Theorie  der  finanziellen  Illusionen" 
(Mailand  1903),   Bonomi   eine  Arbeit  über  „Lokalfinanzen  und  ihre 


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Achillc  Loria,  Die  Entwicklung  d.  ital.  Nationalökonomie  in  jüngster  Zeit.  687 


Probleme",  Jannaccone  eine  Abhandlung  über  „Die  speziellen  Steuern" 
(Turin  1904). 

Nicht  zahlreich  jedoch  von  Bedeutung  sind  die  Arbeiten  der  statistischen 
Wissenschaft,  Der  verewigte  Messedaglia  hatte  ein  umfangreiches  Manu- 
skript über  die  mittleren  Zahlen  hinterlassen,  von  dem  man  hoffte,  daß 
es  druckfertig  sei.  Groß  war  die  Spannung  der  italienischen  Intelligenz,  als 
dieser  Band  angekündigt  wurde,  von  dem  man  neue  und  stärkere  Aufklärung 
erhoffte,  aber  unglücklicherweise  erklärten  die  Mathematiker,  denen  die 
Prüfung  des  Manuskripts  oblag,  dasselbe  für  ungeeignet  zur  Veröffent- 
lichung, und  wir  können  nur  unseren  Schmerz  aussprechen,  das  uns 
dieser  Lichtblick  unerwartet  verschlossen  wurde.  Wir  erwähnen  unter 
den  statistischen  Schriften  das  Handbuch  von  Colajanni,  eine  Arbeit  von 
Gennaro  über  „Statistik  und  Soziologie",  ein  populäres  Buch  von  Virgilj,  ein 
anderes  Handbuch  der  Demographie  von  Benini.  Aber  stärker  als  auf 
theoretischem  Gebiet  hat  sich  die  Statistik  bei  uns  in  mehr  konkreten 
Untersuchungen  entwickelt.  Hierher  gehören  zahlreiche  Erhebungen 
seitens  des  Staates  und  seitens  privater  Gesellschaften.  Das  Auswande- 
rungskomitee veröffentlicht  ein  ausgezeichnetes  Bulletin,  reich  an  höchst 
interessanten  Berichten  seiner  Agenten  und  Beauftragten.  Ein  wichtiges 
Bulletin  veröffentlicht  ebenfalls  das  Arbeitsamt,  das  1902  errichtet,  schon 
mit  großem  Erfolg  arbeitet.  Der  Direktor  desselben  ist  ein  tüchtiger 
Nationalökonom,  Professor  Montemartini.  Die  Societä  umanitaria  von 
Mailand,  begründet  von  einem  reichen  Bürger  dieser  Stadt  um  eine 
Anstalt  für  die  Arbeitslosen  zu  schaffen,  unternimmt  eine  Reihe  von 
Untersuchungen  über  verschiedene  Teile  des  landwirtschaftlichen  und 
industriellen  Italiens  und  veröffentlicht  die  bemerkenswertesten  Resultate 
in  wichtigen  Berichten. 

Über  die  Geschichte  der  ökonomischen  Institutionen  handeln  die 
wichtigen  Arbeiten  von  Beloch  (Professor  in  Rom),  die  zu  ganz  neuen 
und  unvorhergesehenen  Resultaten  über  die  Entwicklung  der  italienischen 
Bevölkerung  im  Laufe  der  Jahrhunderte  gelangen.  Einen  großen  Ruf 
hat  auch  seine  Geschichte  Griechenlands,  welche  durch  die  überwiegende 
Wichtigkeit,  die  sie  dem  ökonomischen  Element  als  Faktor  der  griechi- 
schen Geschichte  beimißt,  und  die  Hintansetzung  des  religiösen,  ästhe- 
tischen und  juristischen  Elements,  in  Deutschland  die  klassische  Ent- 
rüstung idealistischer  Kritiker  hervorrief.  Es  ist  jedoch  nur  gerecht 
hinzuzufügen,  daß  in  diesem  bemerkenswerten  Buch,  das  den  ökono- 
mischen Faktor  der  Geschichte  in  so  geeigneter  Weise  hervorhebt,  die 
ökonomischen  Irrtümer  nicht  fehlen.  Beloch  behauptet  z.  B„  daß 
Philipp  von  Mazedonien  den  Bimetallismus  auf  Grund  des  Verhältnisses 
von  1:12  1 2  einführte,  aber  daß  dann  der  allmähliche  Rückgang  des 
Wertes  des  Goldes  dieses  bimetallistische  System  unmöglich  machte  und 
dann  zur  Silberwährung  führte  354).  Nun  ist  jedem,  der  sich 
einigermaßen   mit  ökonomischen    Forschungen   beschäftigt   hat,  wohl- 


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688 


Literatur. 


bekannt,  daß  in  einem  bimetallistischen  System  das  entwertete  Metall 
das  andere  verdrängt  und  so  alleiniges  Währungsmetall  zu  werden  strebt, 
weshalb  in  dem  vorliegenden  Fall  nicht  das  Silber,  wohl  aber  das  Gold 
Währungsmetall  hätte  werden  müssen. 

Es  sind  noch  zu  erwähnen  die  genialen  und  anregenden  Schriften 
von  Ciccotti  und  besonders  das  wichtige  Buch  über  den  „Untergang 
der  Sklaverei",  in  dem  er  nach  den  strengen  Grundsätzen  des  öko- 
nomischen Materialismus  die  Entstehung,  Entwicklung   und  das  Ende 
der  auf  Sklaverei  beruhenden  Wirtschaftsordnung  untersucht.    Nur  die 
Untersuchung  des  Verfassers  im  letzten  Teil,  wo  er  die  Auflösung  der 
Sklavenwirtschaft  erklären  will,  scheint  mangelhaft,  denn  er  sieht  in  der 
Abschaffung  der  Sklaverei  das  Resultat  der  produktiven  Überlegenheit 
freier  Arbeit  gegenüber  der  Sklavenarbeit ;  er  vergißt,  daß  in  der  Tat  die 
Sklaverei  nicht  unmittelbar  von  der  freien  Arbeit  verdrängt  wurde,  sondern 
von  der  weniger  gewaltsamen  und  mehr  produktiven  und  milderen  Form  der 
Hörigkeit.  —  Bemerkenswert  ist  ferner  die  Arbeit  von  Pivano  über  „Agra- 
rische Kontrakte  in  Italien  während  der  ersten  Jahrhunderte  des  Mittel- 
alters." Andere  Arbeiten  junger  intelligenter  und  sehr  gelehrter  Schrift- 
steller erklären  vortrefflich  die  ökonomische  Grundlage  unserer  politischen 
Institutionen  im  Mittelalter.    So  z.  B.  das  Buch  von  Salvcmini.  „Mag- 
naten und  Volksparteien  in  Florenz"  (Florenz  1899),  Arias  „Die  Handels- 
verträge der  florentinischen  Republik"  (Florenz  1901),  auch  das  neuere 
Buch   von  Miglioli    „Die  kremonesischen    Zunftkorporationen   in  der 
mittelalterlichen  statutarischen  Gesetzgebung"  (Verona  1904)  mit  einer 
Vorrede  von  Professor  Brandileone.    Die  wirtschaftlichen  Studien  werden 
auch   mit   großem    Glück   von   den   Rechtshistorikern  betrieben ,  die 
endlich  zu  verstehen  anfangen,   daß   das   Lebensprinzip  der  Rechts- 
verhältnisse ganz  auf  den  wirtschaftlichen  Tatsachen  beruht.    Unter  den 
Rechtshistorikern,  welche  am  besten  und  verständigsten  ökonomische 
Anschauungen  annehmen,  seien  erwähnt  Salvioli,  der  über  Bevölkerung 
und  Grundeigentum  im  italienischen  Mittelalter  schrieb,  Calisse,  der  eine 
glänzende  Abhandlung  über  die  Arbeit  im  Mittelalter  verfaßte,  und 
Cavaglieri  mit  seiner  wichtigen  Studie  über  den  „Ökonomischen  Faktor 
in  der  Geschichte  des  internationalen  Rechts". 

Den  ersten  Platz  unter  den  Werken  über  Soziologie,  Rechtsphilo- 
sophie und  verwandte  Gebiete,  die  in  letzter  Zeit  in  Italien  veröffentlicht 
wurden,  verdienen  unzweifelhaft  die  Vorlesungen  über  Rechtsphilosophie, 
gehalten  vom  verewigten  leilio  Vanni  an  der  Universität  Rom,  jetzt 
vom  Prof.  Brini  herausgegeben.  Es  ist  ein  ausgezeichnetes  Werk, 
in  welchem  die  Theorien  des  kritischen  Positivisnius  meisterhaft  ent- 
wickelt und  schön  mit  den  sicheren  Resultaten  der  evolutionistischen 
Philosophie  verbunden  sind  u.  zw.  in  einer  höchst  liebenswürdigen, 
heiteren  und  versöhnlichen  Form.  Vaccaro  vereinigt  seine  zahlreichen 
Artikel  über  Soziologie  und  Kriminalistik  zu  einem  gelehrten  Werk,  wäh- 


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Ac Hille  Loria,  Die  Entwicklung  d.  ital.  Nationalökonomie  in  jüngster  Zeit.  689 

rend  Squillace,  Pasquale  Rossi,  Fragapane,  Vadalä-Papale,  Groppali  u.  a. 
die  mannigfachen  Anschauungen  der  neuentstehenden  Disziplin  aufklären. 
Salvadori  veröffentlicht  ein  wahrhaft  beachtenswertes  Werk  über  die  öko- 
nomische Wissenschaft  und  die  Theorie  der  Entwicklung  (Florenz  1901). 
Endlich  ziehen  auch  die  heißumstrittenen  Probleme  des  Sozialismus  unsere 
besten  Geister  an.  In  theoretischer  Hinsicht  sei  erwähnt  das  schöne  Buch 
von  Rignano,  „Über  einen  Sozialismus  in  Übereinstimmung  mit  der 
liberalen  Wirtschaftslehre",  das  neuerdings  ins  Französische  übersetzt 
wurde.  Es  enthält  einen  bemerkenswerten  Reformplan  des  Erbrechts. 
Leone  beleuchtet  in  einer  Propagandaschrift  das  Verhältnis  zwischen  der 
reinen  Ökonomie  und  dem  Sozialismus.  Arthur  Labriola  diskutiert  in 
feuriger  Weise  das  ewige  Dilemma  zwischen  Reform  und  Revolution. 

Nach  dieser  langen  Aufzählung  von  Titeln  und  Verfassern 
können  wir  uns  fragen,  ob  die  italienische  Nationalökonomie  wirk- 
lich einen  gleichmäßigen  Rhythmus  zeigt,  ob  man  an  ihr  eine  feste 
Richtung  auf  bestimmte  Ziele  zu  wahrnehmen  kann,  und  ob  endlich 
ihre  gegenwärtigen  Äußerungen  sich  von  denen  der  Vergangenheit  unter- 
scheiden. Der  Ausgangspunkt  unserer  Untersuchungen  muß  die 
Schöpfung  des  Einheitsstaates  oder  das  Jahr  1870  sein,  weil  erst  von 
dieser  Epoche  die  wissenschaftliche  Phase  der  italienischen  National- 
ökonomie datiert.  Vor  dieser  Periode  bestand  bekanntlich  in  Italien 
die  geistige  Diktatur  eines  großen  Nationalökonomen,  Francesco  Ferrara, 
dem  es  weit  weniger  um  die  objektive  Erforschung  der  Wahrheit  als 
um  den  Triumph  seiner  Gedanken  oder  seiner  optimistischen  und  libe- 
ralen Vorurteile  zu  tun  war.  Aber  lassen  wir  diese  prähistorische  Phase 
der  wissenschaftlichen  Nationalökonomie  beiseite  und  beschränken  wir 
unsere  Aufmerksamkeit  auf  die  Entwicklung  seit  1870.  Damals  warf  sich 
zum  ersten  Mal  eine  Handvoll  genialer  Jünglinge,  stark  an  Wissen  und  voll 
stolzer  Ideale,  auf  die  ökonomische  Forschung  mit  der  Absicht,  aus  der 
Deduktion  und  aus  dem  Zusammenhang  der  Tatsachen  die  Wahrheit  heraus- 
zulocken. Wenn  wir  unser  Augenmerk  auf  die  Entwicklung  der  italienischen 
Nationalökonomie  in  Italien  in  den  ruhmvollen  dreißig  Jahren  ihrer 
Existenz  richten,  so  bemerken  wir  ohne  Mühe  drei  Hauptphasen :  in  der 
ersten,  die  in  großen  Umrissen  das  erste  Dezennium  1870 — 80  umfaßt, 
ist  die  italienische  Nationalökonomie  von  den  Theorien  Adolf  Wagners 
und  speziell  vom  Staatssozialismus  inspiriert.  In  dieser  Epoche  werden 
die  Phänomene  und  wirtschaftlichen  Einrichtungen  vor  allem  mit  der 
Absicht  dem  Studium  unterworfen,  ihre  Mängel  aufzudecken  und  dem 
reformaturischen  Staat  die  Fingerzeige  für  seine  Maßnahmen  an  die 
Hand  zu  geben.  Aber  jemehr  das  Studium  der  ökonomischen  Tatsachen 
vorwärts  schritt,  desto  mehr  bemerkt  man  die  Oberflächlichkeit  einer 
solchen  Methode,  welcher  es  nicht  gelingt,  die  Gesetze  der  Dinge  zu 
entdecken,   sondern  höchstens  die  auffallendsten  Dissonanzen  zu  be- 


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690 


Literatur. 


schreiben;  andererseits  verhallt  der  Appell  an  den  Staat  an  der  unver- 
besserlichen Gleichgültigkeit  der  Machthaber.  Nun  schreitet  die  öko- 
nomische Wissenschaft  Italiens  zu  einer  weiteren  Stufe  fort,  auf  welcher 
der  Nationalökonom  —  ehe  er  die  Phänomene  von  oben  nach  unten 
oder  vom  Gesichtspunkt  des  Staatsmanns  erforscht,  um  geeignete  Maß- 
regeln zur  Verbesserung  der  Zustände  zu  treffen  —  sucht  auf  den 
Grund  der  Dinge  zu  gehen,  um  ihre  Natur  und  ihr  innerstes  Wesen 
zu  studieren.  Daher  werden  mehr  als  die  Werke  von  Wagner,  Stein 
und  Schätfle,  die  von  Marx,  Lange,  Brentano  und  Schmoller  studiert. 
Die  angestrengsten  Bemühungen  deren  Methode  und  Resultate  mit  denen 
der  klassischen  englischen  Schule  zu  versöhnen,  bilden  das  wesentlichste 
Merkmal  der  italienischen  Nationalökonomie  von  1880 — 1890.  Aber 
auch  diese  mühevolle  Versöhnung  der  deutschen  induktiven  Schule  mit 
der  englischen  Deduktion  führte  nicht  zu  wichtigen  Resultaten.  Des- 
halb suchen  die  italienischen  Geister  mit  unerschöpflicher  Sehnsucht 
eine  neue  und  fruchtbarere  Bahn,  auf  der  die  wissenschaftliche 
Forschung  sich  siegreich  durchsetzen  könnte.  Die  neue  Richtung  er- 
schien in  der  Tat  gegen  1890  mit  den  Theorien  vom  Grenznutzen,  zu 
denen  unsere  Nationalökonomen  im  folgenden  Jahrzehnt  vielfache  Illu- 
strationen und  Kommentare  lieferten.  In  der  Tat  kann  man  sagen,  daß 
von  1890 — 1900  die  italienischen  Nationalökonomen  ihre  Studien  fast 
ausschließlich  dem  Prinzip  des  Grenznutzens  und  seinen  verschiedenen 
Änderungen  zuwenden.  Sie  teilten  sich  aus  diesem  Anlaß  in  zwei  große 
Gruppen,  da  die  einen  (Ricca-Salerno,  Graziani,  Conigliani,  Tangorra) 
speziell  den  Theorien  von  Menger,  Böhm-Bawerk  und  Wieser  anhangen, 
während  die  anderen  (Pantaleoni,  Pareto,  Montemartini,  Benini,  Cabiati) 
mehr  von  Jevons,  Marshall  und  Walras  inspiriert  werden. 

Die  subjektiven  Theorien,  die  in  dieser  Hinsicht  herrschen,  haben 
ihre  Anhänger  nicht  nur  unter  den  Doktrinären  der  orthodoxen  Schule, 
selbst  die  sozialistischen  Schriftsteller  scharen  sich  unter  ihre  Fahne. 
Und  in  Wahrheit,  wenn  wir  unsere  Aufmerksamkeit  auf  die  theoretischen 
Schriften  der  heutigen  italienischen  Sozialisten  richten  (sie  sind  übrigens 
nicht  sehr  zahlreich,  weil  die  Mehrheit  unserer  Sozialisten  und  voran  ihre 
Führer,  Bissolati,  Ferri  und  Turati  sich  ausschließlich  mit  Fragen  der 
Taktik  und  der  Propaganda  beschäftigt),  so  finden  wir,  daß  sie  alle  mit 
ihren  Studien  darauf  hinarbeiten,  ihre  Kritiken  des  kapitalistischen  Zu- 
Stands  mit  den  für  unerschütterlich  gehaltenen  Dogmen  der  hedonistischen 
Schule  zu  versöhnen.  Dies  entspricht  übrigens  der  jetzt  hundertjährigen 
Tradition  des  wissenschaftlichen  Sozialismus ;  denn  dieser  hat,  wenn  man 
genauer  zusieht,  in  jeder  Epoche  nichts  anderes  getan,  als  sich  in  die 
herrschenden  ökonomischen  Theorien  einzuwurzeln,  um  sie  zur  Förderung 
der  proletarischen  Forderungen  zu  benutzen.  Wie  St.  Simon  und  Fourier 
sich  auf  die  Theorie  von  Adam  Smith  und  J.  B.  Say  stützten,  wie 
Proudhon  und  Marx  später  ihre  eigenen  negativen  Folgerungen  als 


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Achillc  Loria,  Die  Entwicklung  d.  ital.  Nationalökonomie  in  jüngster  Zeit.    69 1 

Korollarien  der  Theorien  von  Ricardo  hinstellten,  so  suchen  heute 
die  italienischen  Theoretiker  des  Sozialismns  ihre  praktischen  und 
politischen  Anschauungen  in  Harmonie  zu  bringen  mit  den  hedonistischen 
Doktrinen  von  Menger,  Marshall  und  VVieser.  —  Welches  auch  das 
Urteil  sein  mag,  das  man  über  die  theoretische  Versöhnung  der  offi- 
ziellen und  der  sozialistischen  Ökonomie  fallen  kann,  so  scheint  mir 
doch,  daß  die  gegenwärtige  Form  dieser  Versöhnung  so  abstoßend  und 
barock  wie  möglich  ist.  Und  wenn  Ricardo,  durch  die  sozialistische 
Kritik  filtriert,  ihr  das  unsterbliche  Hauptwerk  von  Marx  gegeben  hat, 
so  kann  man  zweifeln,  ob  Menger,  filtriert  durch  die  modernen  sozia- 
listischen Elukubrationen,  eine  andere  Frucht  tragen  wird,  als  ein  mon- 
ströses und  nicht  lebensfähiges  Phantom. 

Übrigens  auch  auf  dem  Gebiet  der  orthodoxen  ökonomischen 
Wissenschaft  läßt  die  italienische  Begeisterung  für  die  hedonistische 
Schule  in  letzter  Zeit  nach.  Die  scharfsinnigsten  Denker  der  Halbinsel 
bemerken  in  der  Tat  bereits,  daß  die  utilitarische  Schule  die  Erforschung 
der  Wirtschaftsordnung  nicht  um  einen  Schritt  weiter  gebracht  hat,  und 
daß  sie,  wenigstens  bei  den  Epigonen,  nur  ein  fades  Geschwätz  zustande 
gebracht  hat,  das  unnützerweise  von  einem  Haufen  mathematischer 
Demonstrationen  durchsetzt  ist,  die  zu  keinem  Resultat  führen.  Und 
schon  hat  die  Zeit  dieser  ganzen  wissenschaftlichen  Richtung  Gerechtig- 
keit angedeihen  lassen,  indem  von  den  unzähligen  hedonistischen  Publi- 
kationen der  letzten  Jahre  kaum  noch  eine  Erinnerung  bleibt. 

Heute,  nachdem  die  Schule  des  Grenznutzens  ihren  Zauber  fast  ganz 
verloren  hat,  ohne  daß  eine  andere  dazugekommen  wäre,  ihren  Platz  ein- 
zunehmen, wird  die  italienische  Nationalökonomie  von  einer  Art  Ungemach 
getroffen,  welches  die  natürliche  Folge  der  wenig  ermutigenden  Er- 
fahrungen und  der  Enttäuschungen  der  Vergangenheit  ist  Die  Er- 
fahrungen der  wissenschaftlichen  Nationalökonomie  des  ersten  Dezen- 
niums hatten  in  der  Tat  im  italienischen  Geiste  den  Glauben  an  den 
Staatssozialismus  erschüttert;  der  darauffolgende  eklektische  Versuch,  die 
englische  Deduktion  mit  dem  deutschen  Realismus  zu  verknüpfen,  hat 
keinen  großen  Erfolg  gehabt  und  der  Versuch  der  Schule  des  Grenznutzens 
ist  wesentlich  unfruchtbar  geblieben.  Angesichts  eines  so  traurigen  Schiff- 
bruchs der  drei  nacheinander  eingeschlagenen  Richtungen  ist  es  kein 
Wunder,  wenn  der  italienische  Nationalökonom  heute  scheu  und  ungewiß 
ist;  es  ist  unzweifelhaft  diesem  mutlosen  Mißtrauen  zuzuschreiben,  daß 
die  theoretischen  Studien  in  den  letzten  Jahren  bei  uns  so  allgemein 
aufgegeben  wurden.  Daher  ist  andererseits  das  Übergewicht  der  Studien 
über  die  speziellen  Probleme  der  praktischen  Verwaltung  im  Wachsen, 
daher  nehmen  die  Monographien  über  die  Arbeitsämter,  die  Steuern 
von  beweglichen  Vermögen ,  die  Verstaatlichung  dieses  oder  jenes  Be- 
triebszweiges,  die  industriellen  und  landwirtschaftlichen  Strikes,  die 
Frauenarbeit  usw.  überhand. 


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692 


Literatur. 


Ein  solcher  Stand  der  Dinge  ist  übrigens  nicht  allein  Italien  eigen- 
tümlich, sondern  für  die  heutige  Phase  der  ökonomischen  Wissenschaft 
bei  allen  zivilisierten  Völkern  charakteristisch ;  denn  heute  zeigt  sich 
allenthalben  von  Frankreich  bis  Australien,  von  Deutschland  bis  Argen- 
tinien, dieselbe  Verachtung  der  Theorie  und  der  Fundamentalgcsetze 
der  Volkswirtschaft,  dieselbe  Vorliebe  für  Spezialuntersuchungen  oder  für 
mikrologische  Monographien.  Bei  dieser  Gelegenheit  kann  ich  nicht  um- 
hin, an  die  beredten  Worte  zu  erinnern,  mit  denen  Swiatlowski  vor  wenigen 
Monaten  seine  Studien  über  die  neueste  Nationalökonomie  Europas  und 
Amerikas  schloß :  „Über  wesentlich  theoretische  Fragen  der  Methodologie, 
Systematik  und  Analyse  der  Ökonomischen  Grundbegriffe  ist  nichts  Neues 
publiziert  worden,  obwohl  derartige  Publikationen  von  allen  denen  ge- 
fördert werden  müßten,  die  unbefriedigt  vom  theoretischen  Sozialismus, 
jedoch  seinem  Programm  sympathisch,  neue  theoretische  Fundamente  für 
seine  praktischen  Forderungen  verlangen.  Aber  für  eine  kritische  Re- 
vision der  Fundamentalprinzipien  genügt  es  nicht,  Nationalökonom  oder 
Soziolog  zu  sein,  sondern  es  ist  ein  wesentlich  philosophisches  Studium 
nötig.  Nun  gerade  der  philosophische  Gedanke  wendet  sich  heute 
weniger  der  Nationalökonomie  als  irgend  einer  anderen  Disziplin  zu  und 
die  ursprüngliche  Ausstattung  mit  veralteten  philosophischen  Begriffen 
fällt  immer  mehr.  Der  Krieg  gegen  die  Synthese  und  die  Generalisation, 
der  Krieg  gegen  die  großen  Theorien  und  Programme,  der  Krieg 
gegen  die  kühnen  Hypothesen  und  die  Erforschung  der  Wahrheit  durch 
den  Irrtum,  alles  das  ist  charakteristisch  für  die  heutige  Nationalökonomie 
und  ihre  Literatur." 

„Es  ist  jedoch,"  fährt  der  Autor  fort,  „klar,  daß  ein  derartiger  Zustand, 
für  jede  Art  von  Spezialisten  förderlich,  aber  absolut  anormal  für  die 
Wissenschaft  selbst  ist,  und  nicht  lange  dauern  kann.  Wenn  auch  unsere 
schwachen  Warnungen  nicht  imstande  sein  werden,  die  Dinge  zu  ändern, 
so  vertrauen  wir  jedenfalls  auf  das  toskanische  Sprichwort:  „Mit  Hahn 
oder  ohne  Hahn,  Gott  macht  Tag".1) 

Wenn  wir  fragen,  in  welcher  Weise  die  ökonomische  Wissenschaft 
und  speziell  die  Italiens,  auf  die  sich  unsre  Ausführungen  beziehen,  aus 
dem  monographischen  Marasmus  zu  synthetischen  allgemeineren  An- 
schauungen sich  erheben  kann,  so  erscheinen  zwei  große  Rettungswege 
vor  uns,  —  das  Leben  und  die  Philosophie:  das  Studium  der  Tatsachen, 
aber  nicht  mehr  der  vereinzelten,  zellenartigen  speziellen  Tatsachen, 
sondern  der  großen  Strömungen  des  Lebens,  wie  sie  sich  in  den  Doku- 
menten der  Statistik  und  den  Denkmälern  der  Geschichte  aussprechen,  — 
das  ist  das  erste  Mittel ,  um  die  italienische  Nationalökonomie  zu  rege- 
nerieren, um  unserer  Intelligenz  die  neuen  Probleme  zu  enthüllen,  welche 
ihr  drohend  entgegentreten.    Aber  die  Tatsachen  allein  genügen  nicht 


')  In  der  russischen  Revue  „Die  Nationalökonomie"  1903. 


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Achille  Loria.,  Die  Entwicklung  d.  ital.  Nationalökonomie  in  jüngster  Zeit. 


um  der  Theorie  einen  Impuls  zu  geben,  wenn  sie  nicht  von  philosophischen 
Kriterien  erleuchtet  und  durchdrungen  sind,  von  synthetischen  An- 
schauungen, welche  die  Philosophie  allein  geben  kann.  Nun  diesen  beiden 
Zielen  hat  sich  die  italienische  Nationalökonomie  noch  nicht  genähert: 
gar  nicht  in  ihrer  ersten  und  dritten  Phase,  in  denen  einseitige  und  aus- 
schließliche Richtungen  vorherrschten,  und  auch  nicht  in  der  zweiten, 
die  immerhin  weniger  weit  von  jenen  Zielen  entfernt  war  als  die  anderen. 
Denn  auch  in  dieser  beschränkte  das  theoretische  Studium  sich  auf  eine 
Umschreibung  der  englischen  Nationalökonomie,  wobei  man  vergaß,  daß 
diese  ihre  glänzende  Laufbahn  bereits  durchlaufen  hatte  und  Nachzüglern 
nicht  erlaubte,  mehr  als  eine  armselige  Ähre  auf  den  von  ihr  bebauten  und 
erschöpften  Feldern  zu  lesen ;  und  das  Studium  der  Tatsachen  beschränkte 
sich  auf  zerstreute  Fragmente,  aber  es  begriff  noch  nicht  das  soziale  Leben 
in  seiner  harmonischen  Einheit.  Nun  sind  es  in  Wirklichkeit  nicht 
die  zerstreuten  Tatsachen,  nach  denen  wir  begierig  sind,  sondern  die 
großen  Linien  der  menschlichen  Begebenheiten;  wir  streben  nicht 
nach  ihnen,  um  unser  Notizbuch  zu  vergrößern,  um  in  unser  Register 
eine  mehr  oder  minder  interessante  Anekdote  aufzunehmen,  —  sondern 
um  daraus  Philosophie  zu  ziehen,  um  das  Geheimnis,  das  sie  in  ihren 
Busen  tragen,  zu  enthüllen.  Dies  ist  die  Aufgabe  der  italienischen 
Nationalökonomie,  der  Wissenschaft  unserer  Zeit,  das  ist  das  Problem, 
das  sie  zu  lösen  hat,  der  Gipfel  zu  dem  sie  aufschauen  muß.  Hier  wird 
sich  ihre  Kraft  zeigen  1 


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694 


Zur  Literatur  über  die  Wohnungsfrage. 

Von 

Dr.  HUGO  LINDEMANN, 

Degerloch  bei  Stuttgart. 

Die  Übersicht,  die  wir  über  die  Literatur  der  Wohnungsfrage  des 
Jahres  1901  im  XVII.  Bande  dieses  Archivs  gegeben  haben,  soll  im  nach- 
stehenden wieder  aufgenommen  und  fortgeführt  werden.  Das  Jahr  1901 
bedeutete  insofern  einen  gewissen  Abschluß  und  Höhepunkt  in  der 
Geschichte  der  Wohnungsliteratur,  als  die  „Untersuchungen"  des  Vereins 
für  Sozialpolitik  das  Problem  der  Wohnungsfrage  nach  den  ver- 
schiedensten Seiten  hin  behandelten  und  die  Resultate  der  Forschungen 
zusammenfaßten.  Ihnen  haftete  aber,  wie  wir  dies  bereits  in  unserer 
früheren  Besprechung  kurz  erwähnten,  ein  Mangel  an,  der  allen  solchen 
Kollektivarbeiten  nicht  erspart  bleiben  kann,  der  Mangel  einer  einheit- 
lichen Auffassung  und  Darstellung.  Mag  der  Kreis  der  Mitarbeiter 
von  dem  Leiter  der  Enquete  noch  so  sorgfältig  gerade  unter  diesem 
Gesichtspunkte  der  Einheitlichkeit  gewählt  sein,  unmöglich  kann  aus  dem 
Zusammenarbeiten  so  verschiedener  Elemente  die  geschlossene  Leistung 
hervorgehen,  die  der  einzelne  von  selbst  erzeugt,  wenn  er  nur  zur  Klar- 
heit über  das  von  ihm  behandelte  Problem  in  seiner  Totalität  gelangt 
ist.  Und  die  Meinungen  und  Äußerungen  der  Mitarbeiter  werden  um 
so  weniger  zusammenstimmen,  je  Tüchtigeres  die  einzelnen  von  ihnen  zu 
leisten,  je  originaler  sie  zu  denken  und  zu  schreiben  gewöhnt  sind. 
Diesen  Vorzug  der  einheitlichen  Anffassung  besitzt  das  einzige  Buch,  das 
seit  den  „Untersuchungen"  des  Vereins  für  Sozialpolitik  den  Versuch 
macht,  das  ganze  Problem  der  Wohnungsfrage  zu  behandeln,  so  wenig  es 
auch  sonst  an  die  dort  gegebenen  Leistungen  herankommt  —  wir  meinen 
das  von  Dr.  E.  Jäger  verfaßte  Werk  (1)  „Die  Wohnungsfrage'1 
(2  Bände,  Berlin  1902  und  1903)  deren  zweiter  Teil  in  unsere  Berichts- 
periode des  Jahres  1903  fällt.  Dr.  Jäger  hat  später  aus  seinem  zwei- 
bändigen Werke  einen  Extrakt  für  die  bayrische  Kammer  der  Abge- 


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Hugo  Lindctnann,  Zur  Literatur  über  die  Wohnungsfrage. 


695 


ordneten  (2)  Denkschrift  über  dieWohnungsfrage  (Beilage  1021, 
Dezember  1903)  angefertigt,  der  in  der  Hauptsache  das  dort  Gesagte 
kürzer  wiederholt  und  außerdem  einige  Ergänzungen  beibringt.  Beide 
Schriften  werden  von  uns  am  besten  gemeinsam  besprochen. 

Dr.  E.  Jäger  ist  ein  hervorragendes  Mitglied  der  Zentrumsfraktion ; 
seine  Auffassung  von  den  Problemen  der  Wohnungsfrage  ist  daher  die 
der  katholischen  Sozialreformer,  aus  deren  Reihe  Männer  wie  Brandts, 
Trimborn  usw.,  um  nur  einige  zu  nennen,  auf  diesem  Gebiete  eine  be- 
sondere Tätigkeit  entwickelt  haben.  Die  Wirtschaftsauffassung  des 
Zentrums  ist  auch  die  seine,  und  die  aus  ihr  fließende  Wirtschafts- 
politik wird  auch  von  ihm  vertreten.  Der  entschiedene  Parteimann  tritt 
uns  daher  auf  allen  Seiten  des  Jägerschen  Buches  entgegen.  Die  Größe 
und  Herrlichkeit  des  Zentrums  und  seiner  Bestrebungen  wird  uns  in 
beredten  Worten  gepriesen,  der  Liberalismus  weitschweifig  und  einseitig 
ungerecht  bekämpft  und  natürlich  vor  allem  die  Sozialdemokratie  aufs 
schärfste  angegriffen.  Das  tritt  besonders  in  dem  Kapitel  des  L  Bandes 
„Die  Wohnungsfrage  in  Deutschland  bei  den  Regierungen  und  Parteien" 
hervor.  Von  einem  tieferen  Eindringen  in  die  kausalen  Zusammen- 
hänge, die  zwischen  den  wirtschaftlichen  Auffassungen  der  politischen 
Parteien  und  den  steter  Änderung  unterliegenden  wirtschaftlichen  Ver- 
hältnissen bestehen,  ist  keine  Spur  zu  finden.  Die  historische  Dar- 
stellung des  erwähnten  Kapitels  ist  daher  nichts  anderes  als  ein 
chronologisches  Aneinanderreihen  von  Tatsachen,  mögen  das  nun  Bücher, 
Kongreßbeschlüsse,  Programme  von  Parteien  sein.  Dieses  Aneinander- 
reihen wird  dadurch  nicht  besser,  noch  eine  Verknüpfung  der  neben- 
einander liegenden  Glieder  erreicht,  daß  nach  bewährter  Tradition  das 
Manchestertum  als  die  Wirtschaftspolitik  des  Liberalismus,  „die  absolute 
Staatshüfe  mit  dem  politischen  Kommunismus  der  Produktionsmittel  und 
mit  Ausschluß  der  privaten  Selbsthilfe"  als  die  der  Sozialdemokratie  und 
die  Vermittlung  zwischen  Liberalismus  und  Sozialdemokratie  als  die  der 
christlichen  Sozialpolitik  bezeichnet  wird,  wie  sie  „ihre  Vertretung  in 
der  Zentrumspartei  und  bei  den  protestantischen  Konservativen  findet" 
(I,  161).  Daß  es  unmöglich  ist,  mit  einem  derartigen  bis  zur  Simplizität 
vereinfachten  Schematismus  die  Entwicklungsgeschichte  politischer  Parteien 
während  vier  Jahrzehnten  voll  der  gigantischsten  Umgestaltungen  des 
wirtschaftlichen  und  sozialen  Lebens  unserer  Nation  zu  begreifen,  brauchen 
wir  an  dieser  Stelle  nicht  auseinanderzusetzen.  Mit  solchen  Schlag- 
worten mag  man  im  politischen  Alltagskampf,  vielleicht  auch  noch  in 
Parlamenten  operieren,  deren  geistige  Höhe  sich  auf  der  der  bayrischen 
Abgeordnetenkammer  bewegt ;  wer  sie  aber  in  wissenschaftlichen  oder 
den  Charakter  der  Wissenschaftlichkeit  zur  Schau  tragenden  Werken 
anwendet,  der  setzt  sich  dem  Verdacht  aus,  der  Tendenz  die  Wahrheit 
zu  opfern  oder  ein  Nichtwisser  zu  sein.  Nur  ein  Beispiel  zur  Kenn- 
zeichnung   zentrümlicher    Geschichtsklitterung.     Auf  Seite    162  des 

Archiv  für  Sozialwmenschaft  u.  Soiialpolitik.  1.    (A.  f.  soz.  G.  u.  St.  XIX.)  3.  45 


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696 


Literatur. 


I.  Bandes  heißt  es:  „Die  christlichsoziale  Auffassung  trat  zum  ersten- 
mal positiv  im  Reichstage  hervor  im  Jahre  1877  durch  einen  Antrag 
der  Zentrumspartei  (Graf  Galen),  als  die  Partei  noch  mitten  im  Feuer 
des  sogenannten  Kulturkampfes  stand.  Wenn  auch  die  Wohnungsfrage 
zunächst  hier  noch  nicht  erwähnt  wurde  (der  Antrag  forderte  öffentliche 
Sonntagsruhe ,  gesetzliche  Beschränkung  der  schrankenlosen  Gewerbe- 
freiheit, gewerbliche  Schiedsgerichte,  Arbeiterschutz  usw.  —  unter  dem 
usw.  versteckt  sich  schamhaft  auch  die  Revision  der  Gesetze  über  die 
Freizügigkeit,  die  Jäger  nicht  erwähnt  — )  so  lag  der  Schwerpunkt  des 
Antrages  in  der  grundsätzlichen  Abdrängung  des  Staates  vom  Grund- 
satze der  Nichteinmischung  in  das  Wirtschaftsleben  und  in  der  Betonung 
seiner  positiven  Pflicht,  gesetzgeberisch  hier  einzugreifen,  wenn  es  sich 
um  Abteilung  großer  sozialer  Volksmißstände  handle.  Einstweilen 
freilich  wurde  das  Auftreten  des  Zentrums  von  den  herrschenden  Parteien 
verhöhnt,  aber  allmählich  kam  die  Wandlung".  Dabei  existierte  der 
Verein  für  Sozialpolitik  schon  seit  1872,  hatte  der  Reichstag  bereits  im 
Jahre  1873  beschlossen,  Erhebungen  über  die  Lage  der  Arbeiter  vorzu- 
nehmen, und  hatte  bereits  im  Jahre  1867  der  Sozialdemokrat  v.  Schweitzer 
einen  vollständigen  Gesetzentwurf  von  47  Paragraphen  über  den  Arbeiter- 
schutz ausgearbeitet  und  im  Norddeutschen  Reichstage  eingebracht.  Trotz- 
dem heißt  es  auf  Seite  167  des  Jägerschen  Buches:  „Jahrzehntelang 
hatte  diese  Partei  (die  sozialdemokratische)  die  Arbeiter  durch  Hinweis 
auf  den  Zukunftsstaat  gegen  jede  Reformtätigkeit  von  Staat  und  Ge- 
meinde, gegen  jede  Selbstmitwirkung  dazu  und  überhaupt  gegen  jede 
Selbsthilfe  eingenommen."  Auf  Seite  155  wird  ausgeführt,  die  sozial- 
demokratische Partei  habe  gegen  alle  Gesetze  gestimmt,  die  die  Lage 
der  Arbeiter  verbesserten,  weil  im  jetzigen  Klassenstaat  jede  wirksame 
Reform  unmöglich  sei,  kleine  Reformen  aber  den  allgemeinen  Krach 
verzögerten  und  das  goldene  Zeitalter  des  Zukunftsstaates  hinausschöben, 
und  dann  in  einer  über  zwei  Seiten  gehenden  Anmerkung  das  Datum 
des  großen  „Kladderadatsch"  behandelt.  Vergeblich  fragt  man  sich, 
was  haben  das  Datum  des  großen  „Kladderadatsch",  der  Antrag  Galen, 
die  Ablehnung  einiger  Sozialgesetze  durch  die  sozialdemokratische  Fraktion 
des  Reichstages  usf.  usf.  mit  der  Wohnungsfrage  zu  tun?  In  der  Tat 
haben  sie  nur  die  Aufgabe,  in  majorem  gloriam  des  Zentrums  die 
Schlechtigkeit  und  Rückständigkeit  der  liberalen  Parteien  und  der  Sozial- 
demokratie auf  sozialem  Gebiete  zu  erweisen,  damit  der  Leser  dann  um 
so  leichter  die  gewünschten  Schlüsse  vom  Allgemeinen  aufs  Besondere 
ziehe.  Das  ganze  Jägerschc  Buch  ist  eine  Tendenzschrift  zur  Verherr- 
lichung der  Sozialpolitik  des  Zentrums  im  allgemeinen  und  seiner 
Wohnungspolitik  im  besonderen.  Und  diese  Tendenz  tritt  so  klar  und 
deutlich  hervor,  ist  so  dick  aufgetragen,  als  handle  es  sich  um  ein  zen- 
trümliches  Wahlpamphlet  zu  den  Reichstagswahlen  oder  zu  den  Wahlen 
zur  bayrischen  Abgeordnetenkammer.   Die  Mittel,  mit  denen  der  Verfasser 


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Hugo  Linderaann,  Zur  Literatur  über  die  Wohnungsfrage. 


arbeitet,  erheben  sich  kaum  über  das  Niveau  eines  Wahlpamphletes 
hinaus. 

Das  Jägersche  Buch  ist  stark  in  der  Tendenz  -,  das  macht  es  als 
Agitationsschrift  für  Zentrumspolitiker  wertvoll,  nimmt  aber  auch  den 
Teilen  viel  von  ihrem  Wert,  in  denen  die  Tendenz  sich  nicht  so  über- 
mäßig vordrängt.  Sie  ist  übrigens  die  einzige  Stärke  des  Buches.  Haften 
an  der  Oberfläche,  mangelhaftes  Eindringen  in  die  kausalen  Zusammen- 
hänge, ungenügende  Disposition,  infolge  deren  Zusammengehöriges  ge- 
trennt wird,  Kritiklosigkeit,  Unklarheit  in  den  Organisationsfragen  —  das 
sind  einige  der  Hauptschwächen  des  Buches,  über  die  die  approbierte 
Parteigesinnung  vielleicht  den  weniger  anspruchvollen  Zentrumsleser,  aber 
keinen  anderen  hinüberhelfen  mag.  Eine  große  Masse  Material  —  rudis 
indigestaque  moles  —  disjecta  membra  —  das  ist  der  Eindruck  des 
Jägerschen  Buches,  mit  dem  sich  der  Wunsch  verknüpft,  der  Verfasser 
hätte  wenigstens  noch  einen  Teil  der  Horazischen  9  Jahre  auf  die  Aus- 
arbeitung verwendet.  Einige  Beispiele  sollen  unser  scharfes  Urteil  er- 
härten. 

Für  das  mangelhafte  Eindringen  des  Verfassers  in  die  kausalen  Zu- 
sammenhänge sind  die  Kapitel,  die  sich  mit  den  Ursachen  der  Wohnungs- 
not, mit  den  Ursachen  für  die  Verbreitung  der  Mietskaserne,  mit  der 
Bedeutung  der  Grund-  und  Bodenspekulation  beschäftigen,  geradezu 
schlagende  Beispiele.  Auf  Seite  76  des  I.  Bandes  werden  als  die  beiden 
spezifischen  Ursachen  der  Wohnungsnot  bezeichnet:  das  starke  An- 
wachsen der  Bevölkerung  in  den  Städten  und  Industriegegenden  und 
das  Zurückbleiben  der  Bautätigkeit  hinter  dem  Bedürfnis  der  mittleren 
und  unteren  Schichten  dieser  Bevölkerung.  Zwei  Seiten  später  ist  die 
eine  große  Ursache  der  modernen  Wohnungsnot  die  Konzentration  eines 
wichtigen  und  großen  Teiles  der  nationalen  Produktionskräfte  in  wenigen 
größeren  Städten  usw.  und  liegt  die  zweite  große  Ursache  darin,  „daß 
die  Menschenmassen,  welche  sich,  Arbeit  und  Verdienst  suchend,  in 
diesen  Mittelpunkten  sammelten,  dem  ,.freien  Spiel  der  Kräfte"  über- 
lassen blieben".  Das  ist  alles,  was  Dr.  Jäger  in  seinem  Buche  über  die 
Ursachen  der  Wohnungsnot  beizubringen  weiß.  Man  kann  nicht  gerade 
behaupten,  daß  seine  Ausführungen  sonderlich  tief,  klar  und  einheitlich 
sind.  Denn  was  ist  damit  erklärt,  wenn  das  Anwachsen  der  städtischen 
Bevölkerung  und  der  Mangel  an  Wohnungen  als  die  Ursachen  der  elenden 
Wohnungsverhältnisse  bezeichnet  werden.  Damit  ist  doch  der  Ausdruck 
Wohnungsnot  nur  umschrieben. 

Ebenso  mangelhaft  ist  die  kausale  Erkenntnis  bei  der  Darstellung 
des  Siegeszuges  der  Mietkaserne  (II,  8  ff.).  „Das  Vorwiegen  der  Miet- 
kaserne, heißt  es  dort,  der  Ausschluß  der  breiten  Volksmassen  vom 
Hausbesitz  wird  einzig  durch  die  Verwaltungspraxis  herbeigeführt,  die 
teils  unbewußt  und  ohne  Ahnung  der  Folgen,  nur  das  schlechte  Bei- 
spiel der  Vergangenheit  nachahmend,  teils  aber  auch  bewußt,  im  Inter- 

45' 


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Literatur. 


esse  der  Grund-  und  Geldbesitzer  wirkt."  Wir  begegnen  also  bei  Jager 
der  gleichen  Überschätzung  der  Verwaltungspraxis,  deren  Unbegründet- 
heit wir  schon  in  unserer  früheren  Übersicht  P.  Voigt  gegenüber  nach- 
wiesen. Übrigens  reproduziert  Jäger,  soweit  es  sich  um  die  Theorie 
der  städtischen  Grundrente,  um  die  Schätzung  der  Bodenspekulation, 
die  Entwicklung  der  Mietkaserne,  die  Bedeutung  der  Bauordungen  und 
Bebauungspläne  für  die  Bodenpreise  und  Mieten  usw.,  kurz  soweit  es 
sich  überhaupt  um  theoretische  Sätze  handelt,  ausschließlich  die  An- 
schauungen von  P.  Voigt,  Eberstadt  u.  a.,  ohne  auch  nur  im  geringsten  zu 
untersuchen,  ob  dieselben  mit  den  tatsächlichen  Verhältnissen  überein- 
stimmen oder  inwieweit  sie  von  anderen  Forschern  widerlegt  worden 
sind.  Aus  Eigenem  gibt  er  nur  die  zentrumspolitische  Sauce,  die  aller- 
dings dem  servierten  Gericht  ökonomischer  Theorie  einen  höchst  eigen- 
tümlichen Beigeschmack  gibt. 

Paul  Voigt  hatte  in  seinem  bekannten  Buche  die  Bedeutung  der 
Spekulation  bei  der  Bildung  der  Boden-  und  Mietpreise  in  glänzender 
Weise  behandelt,  wenn  er  auch  meines  Erachtens  nicht  in  allen,  ja  nicht 
einmal  in  den  entscheidenden  Punkten  recht  hat.  Er  hat  aber  trotz 
aller  entschiedenen  Feindschaft  gegen  die  Bodenspekulation  niemals 
daran  gedacht,  in  ihr  zwischen  berechtigter  und  unberechtigter  Speku- 
lation zu  unterscheiden.  Das  zu  tun,  blieb  Dr.  Jäger  vorbehalten, 
der  übrigens  in  diesem  Punkte  ganz  in  den  Spuren  der  Zentrumstra- 
dition  wandelt.  In  der  unwissenschaftlichsten  Weise  überträgt  er  poli- 
tische Postulate  seiner  Partei  in  die  ökonomische  Theorie  und  muß 
infolgedessen  zu  Resultaten  kommen,  die  das  Ende  aller  Theorie  be- 
deuten. Hier  die  Jägerschen  Ausführungen!  (FI,  32fr,,  118 — 119,  164). 
Er  wirft  die  beiden  Fragen  auf:  wie  weit  ist  die  Verschuldung  des 
städtischen  Bodens  durch  die  Baukosten  der  Häuser  und  durch  den 
natürlichen  Bodenwert  gedeckt  und  wie  weit  ist  sie  durch  die  Spekulation 
künstlich  gesteigert?  In  dieser  Fragestellung  ist  die  Unterscheidung 
zwischen  natürlichem  und  künstlichem  Bodenwert,  der  die  anderen  von 
berechtigter  und  unberechtigter  Bodenspekulation,  von  normalen  und 
anormalen  Mieten  entsprechen,  schon  vorweg  genommen,  während  doch 
ihre  Nachweisung  in  den  tatsächlichen  Verhältnissen  die  Aufgabe  war. 
Eberstadt  hatte  in  seinem  Buche  „Der  deutsche  Kapitalmarkt"  zwischen 
materieller  und  immaterieller  Wertsteigerung  unterschieden  und  unter 
der  ersteren  die  Wertsteigerung  des  Bodens  durch  nützliche  Aufwendung 
(Melioration  des  Bodens  im  weiteren  Sinne)  und  unter  der  zweiten  die 
Erhöhung  des  Bodenwerts  ohne  nützliche  Aufwendung  (Preistreiberei, 
Bodenspekulation)  verstanden.  Er  wollte  auf  diese  Weise  die  reine 
Bodenverschuldung,  mit  anderen  Worten  die  Belastung  der  Bodennutzer, 
der  Mieter,  mit  der  reinen  Bodenrente  feststellen.  Nach  Jäger  trifft 
aber  die  Eberstadtsche  Unterscheidung  nicht  den  Kern  der  Unter- 
suchung.   Denn  dieser  liegt  —  wir  lassen  die  eigenen  Worte  des  Ver- 


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Hugo  Linde  mann,  Zur  Literatur  über  die  Wohnungsfrage. 


fassers  folgen  —  in  der  Frage  „wie  weit  diese  spekulative  Preistreiberei 
die  Bodenverschuldung  über  den  wirtschaftlich  berechtigten  Hauswert, 
über  die  normale  wirtschaftliche  Leistungsfähigkeit  der  Mieter  erhöht." 
Was  ist  nun  der  „wirtschaftlich  berechtigte  Hauswert"  und  was  „die 
normale  wirtschaftliche  Leistungsfähigkeit  des  Mieters?"  Die  materiellen 
Aufwendungen  auf  dem  städtischen  Boden,  wie  Häuserbau,  Straßenan- 
lagen, Kanalisation  usw.  „bilden  noch  nicht  die  einzigen  wirtschaftlichen 
Unterschiede  der  Bodenwerte  und  ihrer  Erhöhung.  Schon  der  Unter- 
schied zwischen  städtischer  und  ländlicher  Bodenbenutzung  schafft  wirt- 
schaftlich berechtigte  Werterhöhungen.  Die  Differenzierung  der  Ge- 
schäftslage differenziert  die  Grundrente  in  der  Stadt  noch  stärker  und 
diese  Wertunterschiede  sind  an  sich  wirtschaftlich  begründet  und  daher 
berechtigt."  Nach  Jäger  sind  also  alle  Steigerungen  des  Bodenwertes 
berechtigt,  die  durch  die  Überführung  des  landwirtschaftlich  benutzten 
Bodens  in  die  städtische  Bebauung  —  das  ist  die  Hauptaufgabe  der 
Bodenspekulation  —  durch  die  Anlage  von  Straßen,  von  Kanalisation, 
durch  den  Bau  von  Häusern  —  das  sind  die  Mittel,  mit  denen  der 
landwirtschaftlich  benutzte  Boden  der  städtischen  Bebauung  zugeführt 
wird  —  durch  die  Entwicklung  von  Verkehrsstraßen  und  -vierteln  — 
auch  diese  Umbildung  von  Wohnquartieren  zu  Verkehrsvierteln  ist  ein 
wichtiges  Tätigkeitsgebiet  der  Bodenspekulation  —  bewirkt  werden, 
denn  sie  sind  wirtschaftlich  begründet.  Selbst  dann,  wenn  große  Unter- 
nehmer, kapitalkräftige  Aktiengesellschaften  oder  Private  das  Terrain- 
geschäft in  die  Hand  nehmen,  die  Urbesitzer  auskaufen,  die  Straßenlinien 
ziehen,  also  die  richtige  Bodenspekulation  einsetzt,  bleibt  das  Geschäft 
nach  Jäger  solid,  vorausgesetzt,  daß  sie  die  einzelnen  Baustellen  ztir 
sofortigen  Bebauung  verkaufen  oder  selbst  bauen,  auch  das  Baugeschäft 
selbst  in  der  Hand  behalten.  Daß  sie  dabei,  wie  Jäger  an  einer  anderen 
Stelle  selbst  im  Anschluß  an  P.  Voigt  anführt,  die  Bodenpreise  bis  zu 
der  Höhe  treiben,  bei  der  die  gegebene  bauliche  Ausnützung  überhaupt 
noch  möglich  ist,  scheint  unserem  Verfasser  nichts  auszumachen.  Un- 
solide wird  das  Geschäft  und  die  „Jagd  nach  dem  goldenen  Kalbe"  (I) 
beginnt  erst  dann,  wenn  sie  die  einzelnen  Baustellen  verkaufen  und 
freigeben.  Dann  beginnt  in  den  Worten  Jägers  in  Zeiten  lebhaften 
wirtschaftlichen  Aufschwunges  vielfach  ein  toller  Schwindel  und  eine 
fieberhafte  Preistreiberei.  Danach  wäre  also  die  primäre,  große  Speku- 
lation solide  und  berechtigt,  die  sekundäre  oder  die  wilde  der  Amateur- 
spekulanten unberechtigt ! 

Zu  diesen  berechtigten  Wertsteigerungen  fügt  nun  immer  nach 
Jäger  der  spekulative  Hausbesitzer,  der  ein  Haus  nicht  besitzt,  um  in 
erster  Linie  darin  zu  wohnen,  sondern  um  damit  gewerbsmäßig  zu  spe- 
kulieren, „auf  Grund  der  Bauordnung,  Ringbildung,  des  Ausschlusses  der 
Mieter  von  der  Selbsthilfe  usw.  noch  eine  künstliche,  die  auf  Ausbeutung 
der  Mieter  beruht  und  wirtschaftlich  nicht  berechtigt  ist."    Ebenso  un- 


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Literatur. 


berechtigt  wie  diese  Wertsteigerung  sind  auch  die  dadurch  bewirkte 
Bodenverschuldung  und  die  übernormalen  Mietpreise.  Normal  sind  nach 
Jäger  Mietpreise,  die  dem  Mieter  von  seiner  standesgemäßen  Einnahme 
nur  so  viel  wegnehmen,  daß  er  von  dem  Reste  noch  standesgemäß 
leben  kann.  Der  spekulative  Hausbesitz  treibt  die  Mieten  aber  über 
dieses  normale  Maß  hinaus.  Aus  dieser  Scheidung  von  berechtigter  und 
unberechtigter  Bodenverschuldung  muß  dann  das  Weitere  folgen,  daß  die 
nationale  Arbeit  den  Zins  für  die  wirtschaftlich  begründete  Bodenver- 
schuldung leicht  aufbringen  kann,  dagegen  durch  die  Verzinsung  der 
wirtschaftlich  unbegründeten  Verschuldung,  die  der  gewerbsmäßige,  spe- 
kulative Hausbesitz  erzeugt,  schwer  belastet  wirdü  Ja  Jäger  versteigt 
sich  sogar  zu  dem  Satze,  daß  die  Lasten  der  „wirtschaftlich  und  sittlich 
als  Trieb  zur  Arbeitsamkeit,  zur  Sparsamkeit  und  zum  wirtschaftlichen 
Fortschritt  berechtigten"  Verschuldung  meist  der  wirtschaftlichen 
Leistungsfähigkeit  des  einzelnen  entsprechen,  während  „die  spekulative 
Verschuldung  den  Völkern  immer  drückendere  Lasten  zugunsten  der 
Eigentümer  der  mobilen  Werte"  auferlegt. 

Es  hieße  diesen  Jägerschen  Ausführungen  zu  viel  Ehre  antun, 
wollten  wir  sie  überhaupt  einer  Kritik  unterwerfen.  Wir  haben  sie 
auch  nur  deshalb  ausführlicher  dargestellt,  um  an  ihnen  einmal  zu 
zeigen,  mit  wie  billigem  Aufwände  von  Geäst  man  es  heutzutage  zu  dem 
Rufe  bringen  kann,  eine  Autorität  auf  dem  Gebiete  der  Wohnungsfrage 
zu  sein,  und  zweitens  um  an  einem  Beispiele  nachzuweisen,  wie  die  Be- 
dürfnisse der  praktischen  Politik,  hier  der  Zentrumspolitik,  der  soge- 
nannten wissenschaftlichen  Untersuchung  die  Resultate  vorzeichnen,  zu 
der  sie  kommen  muß.  Die  ganze  Unterscheidung  zwischen  berechtigter 
und  unberechtigter  Bodenwertsteigerung,  berechtigter  und  unberechtigter 
Spekulation  ist  ein  Ausfluß  der  Mittelstandspolitik  des  Zentrums.  Dem 
kleinen  Grund-  oder  Hausbesitzer,  der  in  vielen  Fällen  zugleich  Ge- 
werbetreibender ist,  soll  das  Recht  gewahrt  bleiben,  mit  seinem  Haus- 
oder Grundbesitz  zu  spekulieren,  die  Wertsteigerungen  zu  seinem  Vor- 
teile auszunützen.  Wenn  er  die  Mieten  seiner  Hausleute  hinaufsetzt,  so 
geschieht  das  nur  aus  patriarchalischem  Wohlwollen;  er  wird  sich  dabei 
stets  in  den  Grenzen  ihrer  Leistungsfähigkeit  halten,  niemals  die  Mieten 
übernormal  steigern.  Anders  bei  dem  mobilen  Kapital  und  dem  speku- 
lativen Hausbesitzer.  Ihre  Spekulation  ist  wild,  sittlich  unberechtigt,  da 
wirtschaftlich  unbegründet  usw.  usw. 

Dasselbe  Zweiseelentum  tritt  uns  auch  in  der  Art  und  Weise  ent- 
gegen, wie  Jäger  die  politische  Bedeutung  des  Grund-  und  Hausbesitzer- 
standes für  die  Wohnungsfrage  behandelt.  An  zahlreichen  Stellen  seines 
Buches  betont  er,  daß  der  durch  das  Gemeinderecht  verbürgte  Einfluß 
desselben  auf  die  Gemeindeverwaltung  die  schädlichsten  Wirkungen  ge- 
zeitigt habe.  Die  Grund-  und  Hausbesitzer  benützen  ihre  Macht,  um 
die  Erschließung  neuer  Baugründe  durch  die  Gemeinde  aufzuhalten  und 


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Hugo  Lindemann,  Zur  Literatur  über  die  Wohnungsfrage. 


so  die  Nachfrage  nach  ihren  Wohnungen  zu  steigern  (II,  23).  Die  kurz- 
sichtige Hergabe  von  Gemeindeland  wird  durch  das  Dreiklassen  Wahl- 
system und  durch  die  Bestimmung  so  vieler  deutscher  Städteordnungen, 
daß  die  Hälfte  der  Stadtverordneten  Haus-  oder  Grundbesitzer  sein 
muß,  begünstigt  (II,  87.).  Es  ist  notwendig,  die  Gemeinden  zur  Anwen- 
dung des  Wohnungsgesetzes  zu  zwingen,  weil  in  vielen  Städten  Haus- 
besitzer und  Bauspekulanten  einen  ungebührlichen  Einnuß  haben  und 
die  Hausbesitzer  durch  das  Wahlsystem  bevorzugt  sind,  so  daß  immer 
wieder  aus  persönlichen  Gründen  versucht  wird,  die  Stadterweiterung 
teils  zu  hemmen,  teils  nach  bestimmten  persönlichen  Richtungen  zu 
leiten  (II,  142).  Ein  ganzes  Kapitel  wird  der  sozialpolitischen  Rückständig- 
keit vieler  öffentlicher  Vertretungen,  insbesondere  der  Gemeindever- 
tretungen, ein  weiteres  der  Darstellung  des  Gemeindewahlrechtes  in  den 
größeren  deutschen  Staaten  gewidmet  (II,  231 — 245).  Man  sollte  nun 
annehmen,  daß  Jäger  mit  allem  Nachdrucke  eine  Reform  des  städtischen 
Gemeindewahlrechts,  die  Aufhebung  der  Privilegien  des  Grund-  und 
Hausbesitzertums  verlangen  müßte,  daß  auch  für  ihn  die  unumgängliche 
Vorbedingung  für  jede  erfolgreiche  Wohnungspolitik  die  Heranziehung 
der  jetzt  mehr  oder  weniger  ausgeschlossenen  Arbeiterschaft  zu  der  Ge- 
meindeverwaltung sein  müßte.  Die  Rücksicht  auf  die  Zusammensetzung 
der  Wählerschaft  des  Zentmms  gestattet  es  aber  nicht,  eine  solche  For- 
derung klipp  und  klar  aufzustellen.  Wohl  zitiert  Jäger  eine  Äußerung 
F.  Brandts,  daß  in  nicht  zu  ferner  Zeit  Änderungen  des  Gemeinde- 
wahlrechtes zugunsten  der  Arbeiterschaft  nötig  seien,  vor  einer  eigenen 
direkten  Meinungsäußerung  in  zustimmendem  Sinne  aber  hütet  er  sich 
ängstlich.  Um  so  ausführlicher  trägt  er  dafür  die  Theorie  vor,  daß  das 
größte  Hindernis  für  die  Ausdehnung  des  Wahlrechts  zu  den  Volks-  und 
Gemeindevertretungen  zurzeit  die  Sozialdemokratie  sei,  gegen  die  er 
ganz  in  der  Weise  und  im  Ton  der  gehässigsten  Zentrumsagitation  po- 
lemisiert. Auch  Jäger  gehört  zu  der  Klasse  von  Politikern,  die  bereit 
sind  das  Wahlrecht  des  Volkes  zu  erweitern,  falls  dasselbe  den  Ge- 
brauch davon  macht,  den  sie  für  richtig  halten.  Wenn  aber  die  Arbeiter- 
schaft sozialdemokratisch  wählt,  ist  sie  ihrer  Ansicht  nach  für  ein  er- 
weitertes Wahlrecht  nicht  reif. 

Da  also  Jäger  den  Einfluß  des  Hausbesitzertums  in  den  Gemeinde- 
vertretungen nicht  durch  die  Aufhebung  ihrer  Wahlprivilegien  brechen 
will,  so  ist  er  bereit  der  Staatsbureaukratie  die  Machtmittel  zu  geben, 
um  den  Gemeindeverwaltungen  eine  fortschrittliche  Wohnungspolitik  auf- 
zuzwingen. Wenn  sich  die  Stadtverwaltungen  unter  dem  Einfluß  der 
Grund-  und  Hausbesitzer  nicht  entschließen,  eine  sozialpolitisch  durch- 
gebildete Bauordnung  zu  erlassen,  so  sollen  sie  von  den  Regierungen  dazu 
gezwungen  werden,  schreibt  er  II,  S.  71.  Deshalb  schlägt  er  vor,  in 
jeder  größeren  Stadt  einen  königlichen  Kommissär  zur  Leitung  und 
Überwachung  des  gesamten  Besiedlungs-  und  Wohnwesens  einzusetzen. 


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702 


Literatur. 


Mit  anderen  Worten  heißt  das,  der  städtischen  Selbstverwaltung  das 
wichtigste  Gebiet,  auf  dem  zu  wirken  sie  gerade  als  lokale  Körperschaft 
besonders  berufen  und  geeignet  ist,  zugunsten  einer  staatlichen 
Bureaukratie  entziehen,  der  jede  Verbindung  mit  der  Einwohnerschaft 
der  Lokalität  fehlt.  Wie  gerne  übrigens  diese  bereit  ist,  solchen  An- 
regungen zahlreicher  Wohnungsreformer,  denen  die  genügende  Einsicht 
in  die  Bedürfnisse  der  Gemeindeverwaltung  fehlt,  nachzugehen,  das  zeigt 
der  preußische  Wohnungsgesetzentwurf  deutlich  genug. 

Bei  dem  beschränkten  Räume,  der  für  diese  Übersicht  zur  Verfügung 
steht,  können  wir  uns  mit  den  einzelnen  Ausführungen  des  Jägerschen  Buches 
nicht  weiter  beschäftigen,  so  lehrreich  es  für  eine  Charakterisierung  der 
Wohnungspolitik  des  Zentrums  auch  wäre.  Wir  müssen  uns  daher  dar- 
auf beschränken,  den  Leser  auf  einige  Punkte,  wie  z.  B.  Jägers  Stellung 
zu  dem  Bau  von  Arbeiterwohnungen  durch  die  Unternehmer,  wozu  er 
Großbetriebe  oder  Aktiengesellschaften,  deren  Erzeugnisse  einen  höheren 
Zollschutz  genießen,  sogar  gesetzlich  verpflichten  will,  seine  Empfehlung 
kapitalkräftiger  Aktiengesellschaften,  überhaupt  der  Prämiierung  des 
privaten  Wohnungsbaues,  um  ihn  zum  Bau  von  Kleinwohnungen  zu  ver- 
anlassen, seine  Einwände  gegen  den  kommunalen  Wohnungsbau,  die 
schon  dutzendmal  vor  ihm  in  der  gleichen  Weise  gemacht  und  ebenso 
oft  widerlegt  worden  sind,  usf.,  aufmerksam  zu  machen.  Im  großen  und 
ganzen  bringen  die  praktischen  Vorschläge,  mit  deren  Formulierung  das 
Buch  abgeschlossen  wird,  so  wenig  etwas  Neues  und  Originales,  wie  die 
theoretischen  Untersuchungen  über  die  Ursachen  der  Wohnungsnot,  die 
Entstehung»-der  städtischen  Bodenrente  etc.  Das  Jägersche  Buch  ist 
eben  seinem  Wesen  nach  eine  Kompilation,  der  gegenüber  Vorsicht  und 
Kritik  unbedingt  am  Platze  sind.  Sein  Wert  besteht  nicht  in  dem 
Eigenen,  das  es  bringt,  sondern  in  den  zahlreichen  Auszügen,  Abdrucken 
von  Verordnungen,  Drucksachen  etc.,  die  man  in  ihm  bequem,  aber 
weder  vollständig  noch  immer  richtig  ausgewählt  bei  der  Hand  hat. 

Eine  über  Spezialgebiete  hinausreichende  allgemeinere  Bedeutung 
kommt  auch  dem  Buche  (3)  R.  Eberstadt's  „Rheinische  Wohn- 
verhältnisse und  ihre  Bedeutung  für  das  Wohnungswesen 
in  Deutschland"  (G.  Fischer,  Jena)  zu,  so  spezielle  Gebiete  auch  der 
Hauptteil  des  Buches  behandelt.  Der  Verfasser  will  die  Einzelheiten  der 
Entwicklung  des  städtischen  Bodens  am  praktischen  Beispiele  zeigen.  Er 
schildert  zu  diesem  Zwecke  die  Wohnverhältnisse  dreier  Großstädte  Düssel- 
dorf, Elberfeld  und  Barmen,  die  er  deshalb  ausgewählt  hat,  weil  in  ihnen 
nicht  der  Massenmietsbau  mit  Hofwohnung  vorherrscht,  sondern  das  schmale 
und  flache,  selten  mit  Hofwohnungen  versehene  Grundstück,  das  Dreifenster- 
bzw. Vierfensterhaus,  die  Hauptform  der  städtischen  Bebauung  bildet.  Bei 
seiner  Untersuchung  beschränkt  er  sich  aber  nicht  auf  die  eigentlichen 
Wohnungsverhältnisse,  sondern  erörtert  das  „System  der  städtischen 
Wohnweise  in  seiner  Gesamtheit"  und  untersucht  „die  Zusammenhänge 


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Hugo  Lindemann,  Zur  Literatur  über  die  Wohnungsfrage. 


zwischen  den  einzelnen  Gebieten  der  Volkswirtschaft,  der  Verwaltung 
und  Technik",  mit  anderen  Worten  er  gibt  einen  Überblick  über  den 
ganzen  Prozeß  der  Bebauung  von  der  Aufteilung  des  Baubodens  bis  zur 
fertigen  Wohnung  und  zum  Hausbesitz.  Hier  macht  er  aber  leider 
halt;  über  die  Belegung  der  Wohnungen,  also  die  eigentlichen  Wohn- 
verhältnisse erfahren  wir  nichts.  Ihre  Darstellung  wäre  aber  zur 
Vervollständigung  des  Bildes  unbedingt  notwendig  gewesen,  denn  die 
schönsten  Grundrisse,  die  zweckmäßigsten  Hausanlagen  können  durch  die 
Belegung  und  Benutzung  in  ihr  Gegenteil  verkehrt  werden. 

Ein  rühmenswerter  Vorzug  der  Eberstadtschen  Schrift  ist  es,  daß 
sie  sich  nicht  auf  das  vorliegende  Material  der  Gegenwart  beschränkt, 
sondern  uns  die  Normalform  des  Arbeiterhauses  in  der  Entwicklung  vor- 
führt, wie  sie  von  der  privaten  Unternehmung  ausgebildet  worden  ist. 
Diese  Partien  des  Buches,  die  durch  Hauspläne  illustriert  werden,  sind 
ohne  Zweifel  das  Beste  an  ihm.  Der  Verfasser  führt  uns  an  präguanten 
Typen  vor,  wie  sich  in  Düsseldorf  und  Elberfeld  das  alte  Drei-  bzw. 
Vierfensterhaus  in  verschiedener  Weise  entwickelt  hat.  In  Düsseldorf  ist  der 
Endpunkt  der  Entwicklung  das  Drei-  bzw.  Vierfensterhaus  mit  Anbau,  das 
zwei  oder  drei  Kleinwohnungen  auf  einer  Etage  enthält.  Charakteristisch 
für  diesen  Typus  ist  der  „Anbau",  ein  angehängter  Rückrlügel  von 
2  Zimmern  mit  Fenstern  auf  den  Hof,  und  die  dadurch  bewirkte  Zer- 
legung der  einen  Wohnung  in  zwei  Hälften,  von  denen  die  eine  (meist 
ein  Zimmer)  an  der  Straße,  die  andere  (meist  zwei  Zimmer)  am  Hofe 
belegen  ist.  Diese  Trennung  der  Wohnung  ist  unseres  Erachtens  ein 
schwerer  Übelstand,  da  sie  die  Abvermietung  des  dritten  nach  vorn 
gelegenen  Zimmers  geradezu  herausfordert.  Als  weiterer  Übelstand 
kommt  der  Mangel  jeder  Abgeschlossenheit  hinzu.  Keine  Wohnung 
bildet  ein  abgetrenntes  Ganze  für  sich.  Man  braucht  sich  nur  die  in 
der  Schrift  abgedruckten  Grundrisse  auf  die  Zersplitterung  der  Woh- 
nungsanlage hin  anzusehen,  um  das  Urteil  Eberstadts,  der  dieselbe 
„durchaus  befriedigend"  nennt,  als  durchaus  unzutreffend  zu  erkennen. 
Mit  Fug  und  Recht  strebt  der  neuere  Kleinwohnungsbau  dahin,  auch 
dem  Arbeiter  in  seiner  Wohnung  das  Gefühl  der  „privaey"  zu  geben, 
dieselbe  so  zu  gestalten,  daß  nicht  die  große  Mehrzahl  der  Vorgänge  des 
häuslichen  Lebens  sich  in  der  Öffentlichkeit  der  übrigen  Parteien  ab- 
spielt. Viel  zweckmäßiger  hat  sich  der  Elberfelder  Normaltypus  ent- 
wickelt, in  dem  auf  den  hofwärts  gelegenen  Anbau  verzichtet,  und  der 
Treppe  eine  zentrale  Lage  gegeben  ist.  Hier  bilden  die  zwei  —  nicht 
wie  in  Düsseldorf  3  —  Wohnungen  geschlossene  Ganze,  zu  denen  der 
Zugang  von  der  Treppe  aus  allerdings  auch  ohne  Vorplatz  direkt  in  die 
Wohnküche  erfolgt.  Unzweckmäßig  ist  auch  hier  die  Lage  des  für  beide 
Wohnungen  gemeinsamen  Abortes  an  der  Treppe.  Die  Barmer  Bauform 
stimmt  mit  der  Elberfelder  im  wesentlichen  überein. 

In  allen  drei  Städten  fehlt  das  System  der  Hofwohnung,  wie  es 


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704 


Literatur. 


z.  B.  in  Berlin  in  so  weitgehendem  Maße  ausgebildet  ist,  und  die  Miet- 
kaserne, für  die  nach  Eberstadt  der  tiefe  Baublock  und  die  Hofwohnung 
charakteristisch  ist.  Die  allgemeine  Hausform  ist  vielmehr  das  kleine 
und  mittlere  Bürgerhaus.  In  Elberfeld  gab  es  im  Jahre  1900  2269  Ge- 
bäude mit  nur  1,  2139  mit  nur  2,  912  mit  3,  964  mit  4,  668  mit  5, 
524  mit  6  Haushaltungen.  In  Häusern  mit  4  Haushaltungen  lebten 
3856  Haushaltungen  —  dies  die  stärkste  Gruppe  — ,  dann  folgen  der 
Reihe  nach  die  Haustypen  von  9  Haushaltungen  (Gesamtzahl  3564), 
von  7  Haushaltungen  (Gesamtzahl  3493).  In  den  Haustypen  von  1  bis 
6  Haushaltungen  ist  über  die  Hälfte  aller  Haushaltungen  untergebracht. 
Ähnlich  sind  die  Verhältnisse  in  Düsseldorf  und  Barmen.  Ihnen  ent- 
sprechend ist  auch  die  Zahl  der  Hausbesitzer  eine  beträchtlich  größere 
als  in  den  Städten  mit  vorherrschender  Mietkaserne.  Übertrieben  ist 
es  aber,  wenn  Eberstadt  schreibt,  daß  der  breitesten  Schicht  der  Be- 
völkerung die  notwendige  Beteiligung  am  Grundbesitz  verblieben  sei. 
Umgekehrt  ist  es  richtig ;  auch  in  den  drei  von  ihm  behandelten  Städten 
mit  relativ  kleineren  Häusern  ist  die  breiteste  Schicht  der  Bevölkerung 
vom  Grundbesitz  ausgeschlossen  geblieben.  In  Düsseldorf  gibt  es  5716 
Hausbesitzer,  von  denen  75  1229  Häuser  =  12  Proz.  des  gesamten  Grund- 
besitzes zu  Eigentum  haben,  gegenüber  einer  Bevölkerung  von  213  711 
Personen.  Eberstadt  berichtet  uns  ferner,  daß  sich  die  Hausbesitzer 
eine  straffe  Organisation  gegeben  haben  und  ihre  wirtschaftlichen  Standes- 
interessen nachdrücklich  vertreten,  und  erzählt  von  einer  scharfen  Miß- 
stimmung der  Bevölkerung  gegen  den  Hausbesitzerstand,  deren  Grund 
in  den  starken  und  fortgesetzten  Mietsteigerungen  zu  suchen  sei.  Das 
sieht  doch  nicht  nach  der  Beteiligung  der  breitesten  Schicht  der  Be- 
völkerung am  Hausbesitz  aus.  In  Elberfeld  beträgt  die  Zahl  der  Haus- 
besitzer 45 10,  wovon  3256  nur  1  bebautes  Grundstück,  1254  menr  ^ 
1  besitzen,  die  Bevölkerung  belief  sich  auf  156963  Einwohner,  die 
Zahl  der  Haushaltungen  auf  34978. 

Soviel  nur  über  den  ersten  darstellenden  Teil  des  Buches.  Der 
zweite  Teil,  Ergebnisse  und  Folgerungen  betitelt,  sucht  die  Tatsachen 
des  ersten  zur  Erhärtung  der  Eberstadtschen  Theorien,  wie  er  sie  in 
seinen  bekannten  Büchern  „Städtische  Bodenfragen",  „Der  deutsche  Kapital- 
markt" und  anderwärts  niedergelegt  hat,  nutzbar  zu  machen.  Einzelne 
dieser  Ausführungen,  insbesondere  die  über  die  Bildung  der  Boden- 
preise, seien  im  folgenden  besprochen.  Eberstadt  bezeichnet  es  als  all- 
gemein wahrnehmbare  Tatsache,  die  durch  seine  Untersuchungen  über 
die  Bodenpreise  in  Düsseldorf,  Elberfeld,  Barmen  wiederum  bestätigt 
sei,  „daß  die  Bodenpreisc  da  am  höchsten  stehen,  wo  die  weitesten 
Geländetlächen  zur  Verfügung  sind  und  die  Stadterweiterung  sich  in 
nahezu  ungehinderter  Weise  vollziehen  kann".  Naturgemäß  sei  gerade 
die  entgegengesetzte  Preisbildung,  daß  nämlich  auf  reichlich  vorhandenem, 
leicht  zugänglichein  und  leicht  bebaubarem  Gelände  die  Bodeuwerte  am 


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Hugo  I.  in  de  mann,  Zur  Literatur  über  die  Wohnungsfrage. 


niedrigsten  stehen,  am  höchsten  dagegen  da,  wo  die  Bodenverhältnisse 
ungünstig  seien  und  die  Stadterweiterung  auf  Geländeschwierigkeiten 
stoße.  Femer  hat  sich  nach  Eberstadt  bei  allen  neueren  Stadterweite- 
rungen und  Eingemeindungen  ergeben,  daß  die  reichliche  Zufuhr  des 
Baulandes  zu  einer  allgemeinen  Steigeiung  der  Bodenpreise  geführt  hat. 
Die  Erklärung  dieser  Tatsachen,  die  nach  ihm  die  Beugung  eines  natür- 
lichen Gesetzes  sind,  findet  er  in  der  Bodenspekulation  und  den  für  ihre 
Tätigkeit  notwendigen  Voraussetzungen.  Das  Gebiet  der  Bodenspekulation 
seien  die  städtischen  Außenbezirke;  für  ihre  Wirksamkeit  sei  daher  die 
Leichtigkeit  bestimmend,  mit  der  das  Außenland  zusammengekauft  und 
festgehalten  werden  kann.  „Die  weiten  Geländenachen  des  Flachlandes, 
die  Geländezufuhr  durch  eine  Stadterweiterung  und  Eingemeindung  sind 
die  geeigneten  Grundlagen  der  spekulativen  Unternehmung."  Hier  sei 
also  die  spekulative  Preistreiberei  am  stärksten  entwickelt  und  seien 
daher  auch  die  Preise  am  höchsten.  Die  Spekulation  in  unbeweglichen 
Gütern  beruhe  in  letzter  Instanz  auf  dem  Kreis  verwaltungsmäßiger  Ein- 
richtungen, die  Deutschland  zu  dem  klassischen  Lande  der  Boden- 
spekulation gemacht  haben.  So  weit  die  Eberstadtschen  Ausführungen. 
Es  ist  nicht  leicht,  diese  die  tatsächliche  Entwicklung  der  Bodenpreis- 
bildung auf  den  Kopf  stellenden,  die  Vorgänge  Berlins  in  unberechtigter 
Weise  verallgemeinernde  Theorie  mit  ihrer  Überschätzung  der  Ver- 
waltungsmaßregeln in  Kürze  zu  widerlegen.  Einige  Widersprüche  in  den 
Eberstadtschen  Ausführungen  seien  zunächst  hervorgehoben.  Eberstadt 
erwähnt,  daß  sich  das  Gelände  um  Düsseldorf  in  festen  Händen  befindet, 
die  Bodenspekulation  einen  Gürtel  um  die  Stadt  gelegt  hat.  Düssel- 
dorf liegt  in  der  Ebene;  vom  Rhein  abgesehen  sind  seiner  Ausdehnung 
keine  natürlichen  Grenzen  gesteckt.  Hier  stimmt  also  die  Sache.  Von 
Elberfeld  heißt  es  auf  S.  72:  „Das  weite  Gelände  in  größerem  Abstand 
um  die  Stadt  ist  aufgekauft  und  wird  spekulativ  festgehalten."  Diese 
Stadt  liegt  aber  auf  hügeligem  Gelände,  das  „in  dem  Stadtmittelpunkt 
indes  noch  für  die  umfangreiche  Geschäftsstadt  Raum  läßt  und  von  hier 
aus  bald  steil,  bald  weniger  scharf  emporsteigt  nach  den  umliegenden 
Höhen,  die  der  baulichen  Ausdehnung  reichlichen  Platz  gewähren". 
Auch  in  Stuttgart  gibt  es  trotz  der  hügeligen  Bodenbeschaffenheit  eine 
lebhafte  Bodenspekulation.  Diese  hängt  also  offenbar  nicht  von  der  Ge- 
ländebeschaffenheit ab.  Obwohl  ferner  in  Düsseldorf  wie  in  Elberfeld 
die  Außenbezirke  in  den  Händen  der  Bodenspekulation  sind,  stehen 
doch  in  Elberfeld  die  Mietpreise  nicht  unbedeutend  niedriger  als  in 
Düsseldorf.  Erklärlich  wird  dieser  Irrtum,  der  die  Bodenspekulation  und 
die  Flachlandslage  in  Verbindung  bringt,  aus  dem  Ausgangspunkt  der 
Eberstadtschen  Untersuchungen,  den  Bodenpreisverhältnissen  Berlins  und 
der  Lage  dieser  Stadt.  Und  diese  Lage  im  Flachlande  teilt  Berün 
mit  anderen  großen,  rapid  gewachsenen  Städten,  wie  München,  Han- 
nover etc. 


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706 


Literatur. 


Ebenso  fehlerhaft  sind  die  Behauptungen,  daß  in  den  im  Flachlande 
gelegenen  Städten  die  „weitesten  Geländeflächen"  zur  Verfügung  stehen, 
und  daß  bei  den  Stadterweiterungen  und  Eingemeindungen  die  reichliche 
Zufuhr  des  Baulandes  zu  einer  allgemeinen  Steigerung  der  Bodenpreise 
geführt  habe.  Eine  Zufuhr  von  Boden  an  und  für  sich  ohne  jede  Quali- 
fikation gibt  es  in  der  Praxis  nicht.  Daher  muß  jede  Theorie,  die  mit 
solchen  Begriffen  arbeitet,  falsch  sein.  Es  gibt  nur  Boden  in  einer  be- 
stimmten Lage,  und  der  Wert  dieser  Lage  ist  in  erster  Linie  durch  die 
Entfernung  von  dem  Geschäftsmittelpunkt  oder  —  Mittelpunkten  bedingt. 
Daher  kann  man  auch  von  einer  Konkurrenz,  die  die  Böden  weit 
draußen  in  den  Außenbezirken  denen  in  den  Innenbezirken  machen 
sollen,  für  Geschäftszwecke  überhaupt  nicht  und  für  Wohnzwecke  nur  in 
sehr  bedingtem  Maße  sprechen.  Die  „weitesten  Geländeflächen"  verlieren 
also  die  Bedeutung,  die  Eberstadt  und  andere  mit  ihm  ihnen  zuschreiben. 
Wenn  durch  Eingemeindungen  oder  ähnliche  Vorgänge  das  Gebiet  der 
Stadt  ausgedehnt  wird,  so  kommen  damit  die  einverleibten  Bodenflächen 
nicht  ohne  weiteres  auf  den  Markt  oder  üben  einen  preisdrückenden 
Einfluß  auf  die  alten  Bodenflächen  aus.  Man  kann  daher  auch  nicht 
behaupten,  daß  die  Vermehrung  des  Angebots  die  Bodenpreise  erhöhe. 
Es  ist  sehr  charakteristisch,  daß  Eberstadt  in  einer  Anmerkung  schreibt : 
„Bei  dem  hier  behandelten  Vorgang  sollte  überhaupt  das  Gesetz  von 
Angebot  und  Nachfrage  nicht  mit  der  fast  allgemein  beliebten  Aus- 
schließlichkeit herangezogen  werden."  In  gewissem  Sinne  ist  die  Mahnung 
wohl  begründet ;  aber  eine  Warnung  vor  Eberstadts  paradoxem  Ver- 
zicht, dies  wirtschaftliche  Gesetz  zur  Erklärung  der  Vorgänge  bei  der 
Bodenpreisbildung  überhanpt  heranzuziehen,  noch  viel  begründeter. 

Die  Unterscheidung  zwischen  natürlicher  und  künstlicher  Bodenpreis- 
bildung, die  eigentümliche  Auffassung  von  der  Rolle,  die  die  Speku- 
lation dabei  spielt,  die  Überschätzung  des  Einflusses  von  Vcrwaltungs- 
maßregeln  auf  wirtschaftliche  Vorgänge,  die  Rollenvertauschung  von 
Bebauungsplan  und  Bauordnung  —  alle  diese  Bestandteile  der  Eber- 
stadtschen  Städtebautheorie  sind  schon  zu  häufig  von  anderer  Seite  wider- 
legt oder  auf  ihre  richtige  Bedeutung  zurückgeführt  worden,  als  daß  wir 
uns  hier  noch  einmal  dieser  Aufgabe  unterziehen  müßten.  Nur  zwei 
Pimkte  seien  hier  richtig  gestellt,  der  eine,  weil  er  zum  ersten  Male  von 
Eberstadt  vorgebracht  wird,  der  zweite,  weil  er  die  Schwäche  Eberstadts 
recht  deutlich  zeigt,  juristische  Institute  für  wirtschaftliche  Erscheinungen 
verantwortlich  zu  machen.  Bei  Berechnungen,  die  er  mit  Düsseldorfer 
Bodenbesitzern  gemacht  hat,  ist  ihm  als  bemerkenswert  aufgefallen, 
wie  der  Bodenspekulant  es  für  durchaus  selbstverständlich  hält,  seinen 
Zinsverlust  als  objektiven  Wert  in  Rechnung  zu  stellen  und  danach  den 
Preis  der  Baustelle  zu  bestimmen.  Dies  jedermann  bekannte  Faktum  ist 
für  Eberstadt  eine  Offenbarung.  Voll  Stolz  schreibt  er:  „Auf  ein  be- 
sonderes Moment    (der  Stadterweiterung)    hat    dagegen    unsere  Dar- 


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Hugo  Lindemann,  Zur  Literatur  über  die  Wohnungsfrage. 


Stellung  .  .  .  wohl  erstmalig  (!I)  hingewiesen;  es  ist  die  Tatsache,  daß 
der  Boden  rings  um  die  Städte,  der  sich  im  Besitz  der  Bodenspekulation 
befindet,  ganz  automatisch  durch  Anrechnung  des  sogenannten  „Zinsver- 
lustes" Jahr  für  Jahr  seinen  Kaufpreis  steigert."  So  gern  wir  Eberstadt 
die  Freude  an  dieser  Entdeckung  gönnen,  so  müssen  wir  ihn  doch 
darauf  aufmerksam  machen,  daß  diese  Zinszuschläge  als  Tendenz,  nicht 
als  Faktum,  wohl  jedem  bekannt  geworden  sind,  der  sich  mit  den  Anfangs- 
gründen der  Theorie  der  städtischen  Grundrente  gelegentlich  einmal  be- 
schäftigt hat. 

Der  zweite  Punkt  betrifft  das  Hypothekenwesen.  „Lediglich  unser 
Hypothekensystem  ist  daran  schuld,  daß  die  Bodenpreise  spekulativ  ge- 
steigert werden  können"  —  schreibt  Eberstadt  auf  S.  42.  Das  ist  direkt 
falsch.  Unser  Hypothekensystem  mag  die  Bodenspekulation  erleichtern, 
aber  schuld  an  ihr  ist  es  nicht,  so  wenig  wie  der  Verfasser.  „In  Wirk- 
lichkeit, schreibt  dieser  weiter,  bestehen  die  hohen  Preise  nicht ;  niemand 
zahlt  sie,  weder  der  Bodenbesitzer,  noch  der  Bauunternehmer,  noch  der 
Hausbesitzer."  Auch  das  ist  nicht  richtig.  Die  Kapitalbeträge  sind  nur 
der  kapitalisierte  Ausdruck  der  jährlichen  Rente,  die  von  den  Mietern 
als  Tribut  für  die  Benutzung  des  Bodens  aufzubringen  und  für  diese 
sehr  real  ist.  Durch  das  Hypothekensystem  ist  aber  dieser  Vorgang  der 
Tributzahlung,  auf  den  allein  es  ankommt,  in  keiner  Weise  bedingt.  Auch 
in  England  mit  seinem  Leaseholdsystem  haben  wir  spekulative  Steige- 
rungen der  Bodenrente  so  gut  wie  bei  uns ;  dort  kommen  sie  in  den  höheren 
leases  zum  Ausdruck,  nicht  wie  bei  uns  in  den  Kapitalbeträgen  für 
bebaute  Grundstücke.  „Der  Wert  steckt  nur  in  der  Verschuldung;  er 
wird  dem  Boden  aufgeladen  und  auf  den  Mieter  abgewälzt"  —  heißt 
es  dann  zum  Schluß.  Offen  gesagt  können  wir  uns  unter  dem  Wert, 
der  nur  in  der  Verschuldung  steckt  und  dem  Boden  aufgeladen  wird, 
durchaus  nichts  denken. 

An  diese  Schriften  allgemeinen  Inhalts  seien  gleich  die  Publikationen 
angeschlossen,  die  sich  die  Berichterstattung  über  die  Vorgänge  auf  dem 
Gebiete  der  Wohnungsreform  zur  Aufgabe  gemacht  haben.  Fortlaufend 
wird  diese  Berichterstattung  von  den  beiden  Zeitschriften,  (4)  Z  e  i  t  sc  h  r  i  f  t 
für  Wohnungswesen,  herausgegeben  von  Prof.  Albrecht,  Verlag  von 
C.  Heymann,  und  (5)Zeitschrift  für  Wohnungswesen  inBayern, 
herausgegeben  von  Dr.  K.  Singer  und  Dr.  P.  Busch ing,  geführt.  Die 
Gebietsabgrenzung  zwischen  den  beiden  Zeitschriften  ist  meines  Er- 
achtens eine  durchaus  zutreffende,  und  die  Herausgeber  der  bayrischen 
Zeitschrift  haben  durch  die  Tat  deutlich  bewiesen,  daß  neben  der 
allgemeinen  Zeitschrift  für  Wohnungswesen  die  spezielle  ihre  Existenz- 
berechtigung hat.  Es  liegt  auf  der  Hand,  daß  die  allgemeine  Zeitschrift 
lokalen  Vorgängen  nicht  die  Aufmerksamkeit  und  den  Kaum  widmen 
kann,  wie  eine  Publikation,  die  sich  auf  ein  kleineres  abgegrenztes  Gebiet 
beschränkt.    Gerade  dieser  lokale  Charakter  der  meisten  Wohnungs- 


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708 


Literatur. 


Probleme  erfordert  aber  sorgfältige  Berücksichtigung,  sollen  nicht  in  der 
Praxis  und  Theorie  Verallgemeinerungen  gemacht  werden,  die  eine  zweck- 
mäßige Lösung  der  Aufgaben  aufs  schwerste  schädigen  müssen.  Dazu 
kommt,  daß  eine  allgemeine  Zeitschrift  in  der  Hauptsache  nur  allge- 
meinere Anregungen  zu  geben  vermag  und  auch  geben  soll.  Sie  muß 
der  praktischen  Tätigkeit  ferner  bleiben.  Dagegen  ist  es  gerade  die 
Aufgabe  der  besonderen  Zeitschrift,  die  Agitation  für  die  einzelnen  Auf- 
gaben energisch  ins  Leben  zu  rufen,  direkt  einzugreifen  in  die  Be- 
strebungen des  Tages,  mögen  sie  sich  auf  den  Erlaß  einer  Bauordnung, 
auf  den  Bau  eines  Ledigenheimes  usw.  konzentrieren.  Man  braucht  nur 
die  bisher  erschienenen  Nummern  der  Zeitschrift  für  Wohnungswesen  in 
Bayern  daraufhin  durchzublättern  und  man  wird  finden,  wie  richtig  die 
Herausgeber  ihre  Aufgabe  erfaßt  haben.  Es  wäre  zu  wünschen,  daß 
auch  in  anderen  Landesteilen  des  Deutschen  Reiches  derartige  Zeit- 
schriften entständen ;  die  praktische  Förderung  der  Wohnungsprobleme 
würde  dadurch  einen  energischen  Anstoß  erhalten. 

Eine  einmalige  zusammenfassende  Übersicht  über  alle  Vorgänge  auf 
dem  ganzen  großen  Gebiete  der  Wohnungsreform  und  über  die  Literatur 
im  Jahre  1903  gibt  das  von  dem  tätigen  Schriftführer  des  Vereins 
Reichs- Wohnungsgesetz,  Dr.  K.  von  Mangoldt  als  Anhang  zu  dem  6.  Ge- 
schäftsbericht dieses  Vereins  zusammengestellte  (6)  „Jahrbuch  der 
Wohnungsreform  im  Jahre  1903".  Es  bedeutet  einen  ersten  Ver- 
such, der  wohl  als  gelungen  bezeichnet  werden  darf.  Trotz  aller  Kürze 
—  der  Bericht  umfaßt  37  Seiten  —  gibt  er  eine  zutreffende  Orientierung 
und  ermöglicht  dem  Leser  durch  die  Hinweise  auf  die  verschiedenen 
Publikationen,  sich  für  die  ihn  interessierenden  Punkte  ausführlichere  In- 
formation zu  verschärfen.  Das  ist  auch  alles,  was  von  einer  solchen  Über- 
sicht verlangt  werden  kann,  falls  sie  nicht  zu  einem  dickleibigen  Bande 
anschwellen  soll.  — 

Wir  wenden  uns  nunmehr  zu  den  Schriften,  die  sich  speziell  mit 
der  Bodenfrage  und  -politik  beschäftigen,  und  beginnen  mit  dem  Vor- 
trage (7)  Dr.  K.  von  Mangoldts  „Die  städtische  Bodenfrage", 
(Göttingen,  Vandenhoeck  und  Rupprecht),  1904,  der  uns  wegen  der 
nüchternen  Abwägung  der  in  Betracht  kommenden  Momente  bemerkens- 
wert erscheint.  Mangoldt  hält  sich  von  der  Überschätzung  der  Boden- 
spekulation, der  man  geradezu  abenteuerliche  Kräfte  zuzuschreiben 
liebt,  durchaus  fern.  Sehr  richtig  scheidet  er  zwischen  den  Ur- 
besitzern  und  Terrainspekulanten.  Jene  können  warten,  bis  ihnen  die 
goldene  Ernte  in  den  Schoß  fällt,  diese  müssen  ihr  Kapital  —  oft  haben 
sie  den  Boden  schon  teuer  gekauft  —  verzinsen.  Daher  gilt  auch  für 
sie  das  ökonomische  Gesetz,  die  Umlaufszeit  möglichst  zu  verkürzen. 
Sie  schließen  ihre  Terrains  mit  aller  Energie  auf  und  suchen,  die  Bau- 
plätze mit  Vorteil  natürlich,  möglichst  bald  wieder  loszuwerden.  Es 
gibt  keinen  größeren  Unsinn,  als  die  Schilderung  der  Bodenspekulation 


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■ 

Hugo  Lindemann,  Zur  Literatur  über  die  Wohnungsfrage.  jqq 

—  sie  ist  auch  von  Jäger  ausführlich  zitiert  worden  —  nach  der  der 
Spekulant  das  Terrain  ankauft  und  es  nun  20  Jahre  (!)  lang  ruhig  liegen 
läßt,  bis  es  ihm  teuer  genug  geworden  zu  sein  scheint.  Diese  Phantasie- 
sorte von  Bodenspekulant  verdiente  auf  einer  Raritäten-  und  Monstrosi- 
tätenausstellung öffentlich  ausgestellt  zu  werden.  Ebenso  zutreffend  sind 
die  Ausführungen  Mangoldts  über  die  Steuer  nach  dem  gemeinen  Wert. 
Bleibt  diese  Steuer  niedrig,  1  —  2  Promille,  so  verfehlt  sie  jeden  Effekt  auf 
die  Bodenbesitzer;  setzt  man  sie  höher,  *4 — Froz.,  so  vertreibt  sie  den 
kleinen  Grundbesitzer  zum  Vorteil  der  großen  aus  seinem  Besitz;  auf 
alle  Fälle  aber  spielt  sie  neben  der  4  oder  5  prozentigen  Verzinsung  des 
für  den  Boden  gezahlten  Kapitals  eine  unbedeutende  Rolle.  Tatsächlich 
ist  die  Steuer  nach  dem  gemeinen  Werte  nur  eine  Finanzsteuer,  die  den 
Kommunen  größere  Erträge  bringt,  als  die  staatliche  Grundsteuer.  Als 
solche  hat  sie  ihre  gewisse  Berechtigung;  für  die  Boden-  und  Wohnungs- 
reform ist  sie  bedeutungslos. 

Als  LTrsache  des  steigenden  Bodenwertes  bezeichnet  Mangoldt  die 
monopolähnliche  Stellung  der  Baulandbesitzer  und  -Verkäufer.  Kr  führt 
diesen  Gedanken  dahin  aus,  daß  trotz  der  theoretischen  Fülle  des 
nach  allen  Seiten  ungehindert  sich  erstreckenden  Flachlandes  „als  Bau- 
land und  speziell  als  Baustellen  nur  ein  ganz  schmaler  Streifen  Land 
jeweilig  in  Betracht  kommt,  der  sich  unmittelbar  an  das  bereits  bebaute 
Land  anschließt".  Wir  haben  die  gleichen  Gedanken  bereits  oben  bei 
der  Besprechung  des  Eberstadtschen  Buches  nur  unter  anderer  Bezie- 
hung ausgesprochen,  als  wir  behaupteten,  daß  die  Außenböden  den 
Innenböden  keine  Konkurrenz  machen  können.  Wichtig  ist  dann  ferner 
nach  Mangoldt,  daß  die  Stadterweiterung  im  wesentlichen  ein  privat- 
kapitalistisches Geschäft  ist  und  daher  alle  die  Mängel  solcher  Ge- 
schäfte besitzen  muß.  Ausführlich  weist  er  dabei  nach,  welche  Be- 
deutung bei  der  privatkapitalistischen  Stadterweiterung  den  Zinszuschlägen 
zukommt,  ohne  allerdings  wie  Eberstadt  für  diese  Ausführungen  den  An- 
spruch der  Neuheit  zu  erheben.  In  dem  Schlußteile  seines  Vortrages 
entwickelt  dann  der  Verfasser  seine  schon  früher  an  anderer  Stelle 
(Archiv  für  soziale  Gesetzgebung  und  Statistik  18.  Bd.  Heft  1  —  2)  aus- 
führlicher begründeten  Vorschläge  zur  Abhilfe:  Ausbildung  einer  gemein- 
verständlichen Statistik,  Schaffung  von  Konkurrenz  unter  den  Kodenver- 
kuufern  durch  Anlage  zahlreicher  Straßen,  durch  Ausbildung  der  Straßen- 
bahnnetze und  Erlaß  einer  tiefgreifenden  Bauordnung,  ferner  Besteuerung 
des  Wertzuwachses,  Hinausverlegung  der  Industrie  in  die  weitere  Um- 
gebung der  Städte,  Stadtverjüngung.  Da  in  diesen  Ausführungen  nichts 
Neues  enthalten  ist,  erübrigt  sich  ein  näheres  Eingehen  darauf. 

Auch  ein  großer  Teil  der  üaniaschkeschen  Schrift  „Aufgaben  der 
Gemeindepolitik"  (Vom  Gemeindesozialisraus),  (Jena- Fischer),  die  nun- 
mehr in  5.  Auflage  vorliegt,  beschäftigt  sich  mit  den  Problemen  der  Boden- 
politik, insbesondere  vom  kommunalen  Gesichtspunkte  aus.  Damaschkes  Aus- 


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7io 


Literatur. 


führungen  haben  in  Dr.  F.  Pabst,  der  das  bodenreformerische  Steuer  - 
programm  vom  Standpunkte  der  Hausbesitzer  prüft,  einen  scharfen 
Kritiker  gefunden,  dem  wir  in  vielen  Punkten  recht  geben  müssen.  In 
seiner  Schrift  (8)  „Damaschke  und  die  Hausagrarier"  (Dresden 
und  Leipzig,  Piersons  Verlag,  1903)  vergleicht  er  zunächst  das  Programm 
der  Bodenreformer,  das  den  Konjunkturgewinn  an  Grund  und  Boden 
durch  die  Umsatzsteuer,  Bauplatzsteuer  und  Zuwachssteuer  zu  fassen 
sucht  und  daneben  die  bestehenden  Grund-  und  Gebäudesteuern  er- 
halten oder  umgestalten  will,  mit  dem  Programm  der  „objektiv  denkenden 
Hausbesitzer".  Dasselbe  schlägt  eine  einzige  Konjunkturgewinnsteuer 
vor,  die  für  unbebautes  und  bebautes  Land  in  verschiedener  Form  er- 
hoben werden  soll,  und  empfiehlt,  das  System  der  Interessensteuern,  wie 
Anliegerbeiträge ,  Kanalisationsabgabe ,  Trottoirsteuer  usw.  auszubauen. 
Die  heutigen  Grund-  und  Gebäudesteuern  sollen  beseitigt  werden;  eine 
besondere  Umsatzsteuer  wird  als  überflüssig  und  schädlich  bezeichnet 
In  der  Polemik  gegen  Damaschke  hat  Pabst  in  den  meisten  Punkten 
recht.  Die  alte,  von  den  Bodenreformem  als  Glaubensartikel  immer 
und  immer  wiederholte  Fabel,  daß  Steuern  auf  die  Grundrente  stets  aus- 
schließlich auf  die  Eigentümer  des  Grund  und  Bodens  fallen  müssen, 
wird  von  ihm  mit  durchschlagenden  Gründen  widerlegt.  Man  braucht 
sich  auch  nur  die  Verhältnisse  einmal  klar  zu  machen,  um  zu  dem 
gleichen  Resultate  zu  kommen.  Die  von  der  Gesamtheit  der  Einwohner 
einer  städtischen  Markung  zu  zahlende  Grundrente  ist  zu  einer  bestimmten 
Zeit  ein  fester  Betrag.  Nun  denke  man  sich  eine  allgemeine  städtische 
Grundsteuer  eingeführt,  die  z.  B.  nach  dem  gemeinen  Wert  berechnet 
gleichfalls  einen  bestimmten  Betrag  ausmacht.  Auch  Damaschke  wird 
kaum  annehmen,  daß  nun  die  Grundbesitzer  in  ihre  Tasche  greifen  und 
den  ganzen  Betrag  der  Steuer  selbst  aufbringen  werden.  Im  Gegenteil! 
Die  Tendenz,  diesen  ganz  auf  die  Mieter  abzuwälzen,  wird  eine  sehr 
starke  sein  und  in  den  meisten  Fällen  sich  durchsetzen.  Von  den 
Steuererleichterungen  z.  B.,  die  durch  die  Einführung  der  Grundsteuer 
nach  den  gemeinen  Wert  den  Besitzern  der  Häuser  mit  kleinen  Wohnungen 
zuteil  wurde,  haben  die  Mieter  nicht  den  geringsten  Vorteil  gehabt. 
Ebensowenig  hat  sie  eine  Herabsetzung  der  Grundstückpreise  ge- 
bracht — ,  das  hat  noch  keiner  der  zahlreichen  Anhänger  dieser  Steuer 
behauptet  —  viel  eher  wird  eine  Wertsteigerung  eingetreten  sein,  da 
der  Ertrag  ein  größerer  geworden  ist.  Muß  aber  zugegeben  werden, 
daß  die  Tendenz  zur  Abwälzung  besteht,  so  ist  damit  auch  das  Bestehen 
der  weiteren  Tendenz  zugestanden,  den  Vorteil  einer  allgemeinen  Aufhebung 
der  Grund-  und  Gebäudesteuer,  wie  sie  von  den  Hausbesitzern  und  von 
Pabst  gefordert  wird,  völlig  den  Grund-  und  Hausbesitzern  zuzuwenden. 
So  berechtigt  daher  die  Kritik  dieses  letzteren  an  Damaschke  und  den 
Bodenreformern  ist,  weil  sie  die  allgemeine  Aufhebung  der  Grundsteuer 
sehr  richtig  als  „persönliches  Geschenk"  an  die  Grund-  und  Hausbe- 


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Hugo  Lindemann,  Zur  Literatur  über  die  Wohnungsfrage.  711 

sitzer  verurteilen,  dagegen  widersprechenderweise  ihre  Reduktion  für  Teile 
des  Hausbesitzes,  z.  B.  durch  die  Besteuerung  nach  dem  gemeinen 
Werte  begeistert  fordern  —  mit  dem  gleichen  Rechte  muß  der  Vorwurf 
der  Inkonsequenz  gegen  Pabst  erhoben  werden,  da  er  von  einer  gene- 
rellen Steuerbeseitigung  infolge  der  durch  sie  bewirkten  „Konkurrenz 
der  gesamten  Boden-  bzw.  Gebäudeeigentümer"  ein  Herabgehen  der 
Mieten  erwartet,  das  Vorhandensein  dieser  selben  Konkurrenz  aber  ab- 
streitet, um  die  von  Damaschke  behauptete  Nichtabwälzbarkeit  der 
Grundsteuer  zu  widerlegen. 

Gehen  wir  also  davon  aus,  daß  die  Tendenz  zur  Abwälzung  der 
Steuern  auf  Grund  und  Boden  allgemein  vorhanden  ist,  und  daß  eine 
Besteuerung  der  Konjunkturgewinne  berechtigt  ist,  so  wird  das  Problem 
so  zu  formulieren  sein:  wie  ist  die  Wertzuwachssteuer  auszubilden,  daß 
die  Möglichkeit  der  Abwälzung  ein  Minimum  wird.  Dabei  wird  zwischen 
bebautem  und  unbebautem  Boden  zu  unterscheiden  sein,  aber  nicht,  um 
nach  dem  Vorschlage  Brentanos  in  seinem  Vortrage  (9)  „W ohnungs- 
zustände  und  Wohnungsreform  in  München"  (Ernst  Rein- 
hard, München  1904)  den  ersteren  steuerfrei  zu  lassen,  sondern  weil  die 
Abwälzung  der  Steuer  bei  beiden  eine  verschiedene  ist.  Die  Schwierig- 
keit, bei  den  Gebäuden  zu  unterscheiden,  welcher  Teil  des  Wertzu- 
wachses auf  eine  am  Gebäude  vorgenommene  Melioration,  welcher  auf 
den  Boden  entfällt,  wird  von  Brentano  bei  weitem  überschätzt.  Auch 
seine  Hoffnung,  daß  die  Freilassung  des  bebauten  Bodens  von  der  Zu- 
wachssteuer einen  sehr  starken  Antrieb  zum  Bauen  bilden  würde, 
können  wir  nicht  teilen.  Dagegen  würde  eine  solche  Freilassung  den 
Ertrag  der  Steuer  ganz  gewaltig  beschneiden. 

Nach  Pabst  wird  sich  nun  der  Trieb  zur  Abwälzung  der  Grund- 
steuer dann  nicht  geltend  machen,  wenn  die  Steuer  wirklich  realisier- 
bare Leistungsfähigkeit  trifft.  Bei  einem  Mißverhältnis  zwischen  Steuer- 
last und  Steuerfähigkeit  werde  dagegen  stets  der  Versuch  zur  Abwälzung 
gemacht  werden.  Eine  wirklich  steuertechnisch  nutzbare  Leistungsfähig- 
keit sei  beim  Boden-  und  Hausbesitz  aber  nur  da  vorhanden,  wo  der 
Wertzuwachs,  sei  es  als  Einnahmesteigerung,  sei  es  als  realisierter  Ge- 
winn wirklich  in  die  Erscheinung  getreten  sei.  So  sehr  wir  mit  Pabst 
darüber  übereinstimmen,  daß  die  Besteuerung  des  unverdienten  Wertzu- 
wachses da  ansetzen  soll,  wo  dieser  in  die  Erscheinung  tritt,  also  real 
und  steuertechnisch  greifbar  wird,  so  wenig  halten  wir  die  Verbindung, 
die  er  zwischen  steuerlicher  Leistungsfähigkeit  und  Abwälzungstendenz 
herzustellen  sucht,  für  irgendwie  begründet.  Eine  Steuer,  die  auf  die 
leistungsfähigen  Schultern  gelegt  wird,  ist  deshalb  nicht  unabwälzbar, 
noch  wird  dadurch  die  Neigung,  sie  weiter  zu  wälzen,  abgeschwächt. 
An  Erfahrungsbeweisen  dafür  fehlt  es  nicht.  Es  sei  nur  auf  ein  Beispiel 
aus  jüngster  Zeit  hingewiesen.  Die  Warenhausbesitzer  haben  sofort  die 
ihnen   auferlegte  Umsatzsteuer  abgewälzt ,   obschon  es  sich  bei  den 

Archiv  für  Sozialwifienschaft  u.  Sozialpolitik.  1.    (A.  f.  tax.  G.  u.  St.  XIX.)  3.  46 


712 


Literatur. 


meisten  Warenhäusern  doch  um  sehr  leistungsfähige  Gebilde  handelt. 
Der  von  Pabst  aufgestellte  Grundsatz  hilft  uns  also  nicht  weiter.  Wollen 
wir  zu  einem  Resultate  kommen,  so  müssen  wir  das  wirtschaftliche 
Grundprinzip  von  Angebot  und  Nachfrage  heranziehen  und  vom  ein- 
zelnen Grundstück,  nicht  aber  von  Klassen  von  Grundstücken  oder  von 
dem  ganzen  Grundbesitz  einer  städtischen  Markung  ausgehen.  Der 
Preis  des  einzelnen  Grundstückes  kann  nicht  beliebig  nach  Laune  des 
Besitzers  hinaufgesetzt  werden.  Es  bilden  sich  auf  dem  Grundstücks- 
markt Lageklassen,  in  die  die  einzelnen  Grundstücke  infolge  der  Wir- 
kung von  Angebot  und  Nachfrage  einrangiert  werden.  Daraus  ergibt  sich, 
daß  eine  Steuer,  die  das  einzelne  Grundstück  gewissermaßen  aus  seiner 
Klasse  heraushebt,  es  isoliert  und  dann  in  seiner  Isoliertheit  steuerlich 
erfaßt,  a  priori  nicht  abgewälzt  werden  kann.  Wie  im  einzelnen  die 
Wertzuwachssteuer  eingerichtet  sein  müßte,  um  diese  anzustrebende 
Isolierung  zu  erreichen,  können  wir  hier  nicht  des  näheren  erörtern; 
es  kam  uns  nur  darauf  an  den  Grundsatz  klar  herauszustellen.  — 

Mit  dem  Einfluß  der  industriellen  Krisis  auf  die  Bodenwerte  be- 
schäftigen sich  fünf  Abhandlungen  im  7.  Band  der  „Störungen  im  deutschen 
Wirtschaftslebens  während  der  Jahre  1900  fr.",  herausgegeben  vom  Verein 
für  Sozialpolitik,  die  von  sehr  ungleichem  Werte  sind.  Die  beiden  Abhand- 
lungen von  Dr.  F.Hecht,  (10)  „Dresden  und  die  Grundstücks- 
krisis" und  (11)  „Die  städtische  Bodenentwicklung  in  Leip- 
zig" sind  von  dem  Verfasser  bzw.  der  Leipziger  Immobiliengesellschaft 
abgefaßt  worden,  weil  es  nicht  gelang  geeignete  Bearbeiter  für  diese 
Themata  zu  finden.  Die  wissenschaftliche  Bedeutung  beider  Schriften 
ist  sehr  gering.  Hecht  kommt  für  Dresden  zu  dem  Resultate,  daß  die 
Krisis  des  Grundbesitzes  daselbst  in  erster  Linie  auf  lokale  Ursachen 
zurückzuführen,  ihr  Eintritt  aber  durch  den  Eintritt  der  Depression  be- 
schleunigt und  verschärft  worden  sei.  Viel  wertvoller  sind  die  anderen  drei 
Abhandlungen:  (12)  D.  J.  Feig,  Die  Verhältnisse  des  Grund  und 
Bodens  in  Düsseldorf  unter  dem  Einflüsse  der  Wirtschafts- 
krise von  1900,  (13)  Dr.  H.  Silbergleit,  Zur  Bodenentwicklung 
Magdeburgs,  und  (14)  Dr.  L.  Maaß,  Die  neuere  Entwicklung 
der  Bodenverhältnisse  in  München  unter  Berücksichti- 
gung der  Krisis  der  Jahre  1900  und  1901.  Leider  können  wir 
bei  dem  beschränkten  Räume,  der  zur  Verfügung  steht,  nicht  auf  die  ein- 
zelnen hochinteressanten  Untersuchungen  eingehen.  Nur  das  eine  sei 
daher  hervorgehoben,  die  außerordentlich  große  Relativität  aller  Vor- 
gänge der  Bodenwertbewegung.  Liest  man  die  drei  Schriften  hinter- 
einander, so  erhält  man  einen  recht  deutlichen  Eindruck  davon,  wie 
grundverschieden  die  Verhältnisse  von  Stadt  zu  Stadt  sind,  und  eine 
ebenso  deutliche  Warnung  davor,  aus  Einzelbeobachtungen ,  die  auf 
einem  beschränkten  Gebiete  gemacht  worden  sind,  generelle  Schlüsse 
zu  ziehen,  die  sich  nur  zu  oft  als  falsch  erweisen,  wenn  man  sie  an  den 


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Hugo  Lindemann,  Zur  Literatur  über  die  Wohnungsfrage. 


Beobachtungen  eines  anderen  Gebietes  nachprüft.  In  Düsseldorf  z.  B., 
wo  in  den  Jahren  1898  und  1899  die  Klagen  über  Wohnungsnot  all- 
gemein waren  und  außerordentlich  große  Mietsteigerungen  stattfanden, 
hat  die  Bodenwertsteigerung  auch  nach  Eintritt  der  Krisis  fortgedauert, 
wahrscheinlich  aber  in  verlangsamtem  Tempo.  Die  Mietpreise  sind 
nicht  zurückgegangen,  aber  auch  nicht  weiter  gestiegen,  da  sich  infolge 
des  reichlich  fließenden  Baukredits  gerade  in  den  Krisenjahren  eine  leb- 
haftere Wohnbautätigkeit  entwickelt  hat.  Feig  kann  also  geradezu  einen 
wohltätigen  Einfluß  der  Krise  auf  die  Bau-  und  Wohnungsverhältnisse 
feststellen.  In  München  haben  wir  dagegen  zur  gleichen  Zeit  „auf  dem 
Terrainmarkte  und  besonders  im  Baugewerke  starke  krisenmäßige 
Störungen",  für  die  von  Maaß  die  industrielle  Krisis  nur  zum  Teil  mit 
verantwortlich  gemacht  wird. 

Mit  einer  einzelnen  Frage  der  Bodenpolitik  beschäftigt  sich  die 
Schrift  (15)  Dr.  K.  Grünberg's,  Bauten  auf  fremdem  Grund,  ein 
Beitrag  zur  Würdigung  des  Erbbaurechtes  (Wien,  F.  Deuticke, 
1903).  Die  Bestrebungen,  das  Rechtsinstitut  des  Erbbaurechts  auch  in 
Österreich  einzuführen,  haben  den  Verfasser  veranlaßt,  sich  eingehender 
mit  der  Frage  zu  beschäftigen,  ob  die  angestrebte  Rezeption  überhaupt 
nötig  ist.  Seine  Forschungen  haben  ergeben,  daß  in  Österreich  bereits 
ein  dem  Erbbaurecht  ähnliches  Institut  in  dem  Superädifikat  besteht,  durch 
das  es  Zeitpächtern  ermöglicht  wurde,  Baulichkeiten  auf  Pachtgrund  zu 
errichten.  Zahlreich  sind  die  Superädifikatsverträge  besonders  in  Wien 
und  in  den  Gemeinden  der  Umgebung;  sie  finden  sich  aber  auch  sonst 
in  Niederösterreich,  in  Ungarn  usw.  und  zwar  hauptsächlich  auf  ge- 
bundenem Boden.  Das  Institut  war  also  ziemlich  verbreitet,  ein  Beweis, 
daß  es  wirtschaftlichen  Bedürfnissen  entsprach.  Der  Verfasser  unter- 
wirft nun  die  wichtigeren  Typen  dieser  Superädifikatsverträge  einer  ein- 
gehenden Analyse  sowohl  nach  ihrer  juristischen  wie  wirtschaftlichen 
Seite  und  kommt  beide  Male  zu  einer  Verurteilung  des  Instituts.  Die 
juristische  Konstruktion  der  Bauten  auf  fremdem  Grund,  die  dieselben 
prinzipiell  als  Fahrhabe  ansieht,  hat  in  der  Praxis  zu  Schwankungen  und 
inneren  Widersprüchen  geführt,  für  die  uns  der  Verfasser  eine  Reihe 
interessanter  Beispiele  beibringt.  Wirtschaftlich  mußten  diese  dahin  führen, 
die  Ausnutzung  des  Grundstückes  für  Bauzwecke  durch  die  Pächter  zu 
verhindern,  sowie  die  Kreditfähigkeit  desselben  zu  untergraben  und  zu 
vernichten,  da  ihm  der  Realkredit  versagt  blieb,  und  auch  der  Personal- 
kredit nur  in  sehr  beschränktem  Maße  und  zu  ungünstigen  Bedingungen 
ermöglicht  wurde.  Der  Grundeigentümer  ist  stets  bestrebt,  seine  Ver- 
fiigungsfreiheit  über  den  Pachtboden  möglichst  groß  zu  erhalten  oder  zurück- 
zugewinnen, und  das  wird  um  so  mehr  der  Fall  sein,  wenn  sich  ihm  eine 
günstigere  Verwertung  seines  Grund  und  Bodens  bietet.  In  den  im  Ver- 
hältnis zum  Bodenwert  so  niedrigen  Pachtraten  kommt  daher  die  Ge- 
fahrenprämie zum  Ausdrucke,  die  den  Pächtern  für  die  fehlende  Ständigkeit 

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714 


Literatur. 


ihres  Pachtverhältnisses  gewährt  wird.  Nach  dieser  Kritik  des  Superädifi- 
kates  wendet  sich  der  Verfasser  zur  Besprechung  des  Erbbaurechtes,  das 
als  Ersatz  für  jenes  empfohlen  worden  ist.  Er  stellt  zunächst  im  An- 
schluß an  Andre  u.  a.  fest,  „daß  über  eine  Reihe  prinzipiell  höchst 
wichtiger,  ja  entscheidend  bedeutsamer  Punkte  die  vollste  Unklarheit 
herrscht",  und  prüft  dann  den  möglichen  oder  wahrscheinlichen  Inhalt  der 
Rechtsform.  Wir  können  diesen  Ausführungen  nicht  im  einzelnen  nach- 
gehen, so  wichtig  dieselben  zur  Charakterisierung  des  Erbbaurechtes 
sind.  Mehr  interessiert  uns  hier  die  scharfe  Kritik,  die  der  Verfasser 
an  der  wohnungspolitischen  Bedeutung  des  Erbbaurechtes  übt.  Auch 
hier  stimmen  wir  seinen  Ausführungen  im  wesentlichen  zu.  Ganz  ab- 
gesehen davon,  daß  wir  von  der  Nützlichkeit  des  Eigentums  für  Arbeiter 
durchaus  nicht  überzeugt  sind,  können  wir,  so  wenig  wie  Grünberg,  in 
dem  Erbbaurecht  ein  Mittel  sehen,  den  Eigenhausbesitz  des  Arbeiter- 
standes zu  fördern.  „Denn  glaubt  man  wohl:  der  Fabrikant  oder  Guts- 
herr, der  um  eines  festen  Arbeiterstammes  willen  Gründe  zu  Erbbau- 
recht austut,  werde  anstehen,  sich  durch  Beisetzung  von  Resolutivbedin- 
gungen und  anderen  Vertragsklauseln  vollste  Bewegungsfreiheit  seinen 
Hintersassen  gegenüber  zu  sichern?  Wie  soll  sich  dann  aber  der 
Arbeiter  das  Baukapital  verschaffen?"  —  schreibt  Grünberg  sehr  zu- 
treffend. Ganz  das  gleiche  gilt  auch  von  den  anderen  Vorzügen,  die 
man  dem  Erbbaurecht  nachrühmt.  Die  englischen  Erfahrungen  mit  dem 
Leascholdsy stem  ermuntern  gerade  nicht  dazu,  dem  Erbbaurecht  eine 
weite  Verbreitung  in  der  privaten  Wohnungsproduktion  zu  wünschen. 
Und  wenn  darauf  hingewiesen  wird,  daß  in  England  Private  Privaten 
gegenüberstehen,  in  Deutschland  dagegen  die  Eigentümer  des  Erbbau- 
geländes den  Gemeinden  und  infolgedessen  die  Verhältnisse  ganz  andere 
sein  würden,  so  muß  um  so  mehr  betont  werden,  daß  alles  von  der  Art 
der  Verträge  abhängt,  die  von  den  Gemeinden  und  den  Erbbaulustigen  ge- 
schlossen werden.  Will  die  Gemeinde  eine  Verbilligung  der  Mieten 
erreichen,  so  muß  sie  sich  gegenüber  den  Erbbaulustigen  das  Recht  der 
Mietfestsetzung  vorbehalten.  Auf  eine  solche  Bestimmung  kann  sich  aber 
die  private  Bauunternehmung  nicht  einlassen,  will  sie  nicht  ihre  eigene 
auf  der  Ausbeutung  der  Grundrente  beruhende  Existenz  negieren.  So 
kommt  denn  Grünberg  zu  dem  Schluß,  daß  das  Erbbaurecht  in  keiner 
Art  als  Mittel  zur  Lösung  der  Wohnungstrage  oder  auch  nur  zur 
Linderung  der  herrschenden  Wohnungsnot  angesehen  werden  könne. 
Dieses  Urteil  scheint  uns  zu  weitgehend,  alles  zu  verdammen.  Unseres 
Erachtens  kann  das  Erbbaurecht  in  dem  beschränkten  Maße  Anwendung 
finden,  als  es  von  den  Gemeinden  Baulustigen  bewilligt  wird,  die  auf 
die  Ausbeutung  der  Grundrente  verzichten  und  sich  der  Festsetzung  der 
Mieten  durch  die  Gemeinden  unterwerfen.  Es  kamen  also  nur  Bau- 
genossenschaften mit  Gemeineigentum  und  gemeinnützige  Gesellschaften 
in  Frage.    Das  Problem  des  Profits  würde  in  diesen  Fällen  ausscheiden. 


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Hugo  Lindemann,  Zur  Literatur  über  die  Wohnungsfrage.  715 


Durch  die  Benutzung  des  Erbbaurechtes  würde  den  Gemeinden  nur  das 
Geschäft  des  Wohnungsbaues  und  -Vermietung  abgenommen,  wofür  sie 
den  Grund  und  Boden  und  den  größeren  Teil  der  erforderlichen  Bau- 
kapitalien zu  beschaffen  hätten.  Allerdings  ließe  sich  bei  einer  der- 
artigen Anordnung  die  Frage  aufwerfen,  ob  es  nötig  ist,  den  Umweg 
über  das  Erbbaurecht  zu  nehmen,  und  ob  das  gleiche  Ziel  nicht  kürzer 
mit  gleichem  Erfolge  erreicht  werden  kann. 

Zu  den  schwierigsten  Hindernissen  einer  zweckmäßigen  Bebauung 
gehört  die  namentlich  in  Süd-  und  Westdeutschland  sehr  weitgehende 
Zersplitterung  des  Grundbesitzes.  Aus  ihr  muß  sogar  einer  der  wenigen 
Rechtfertigungsgründe  für  die  Bodenspekulation  abgeleitet  werden,  die 
durch  den  Zusammenkauf  der  zersplitterten  Grundstücke  und  Parzellierung 
des  neugebildeten  Ganzen  die  für  die  Bebauung  erforderliche  Lage  und 
Größe  der  Baugrundstücke  herstellt.  Durch  freiwillige  oder  gesetzlich  er- 
zwungene Zusammenlegung  und  Umlegung  der  Parzellen  der  verschie- 
denen Eigentümer  hat  man  das  gleiche  Ziel  zu  erreichen  gesucht,  ohne 
den  Umweg  über  die  Bodenspekulation  zu  machen.  Zahlreiche  Versuche, 
die  Grundeigentümer  für  ein  derartiges  Vorgehen  zu  gewinnen,  sind  von 
den  Gemeinden  gemacht  worden  —  teils  mit,  teils  ohne  Erfolg.  Über 
eine  erfolgreiche  Grundstücksumlegung,  die  das  bedeutende  Gebiet  von 
167,54  ha  umfaßte,  berichtet  die  Schrift  (16)  „Die  Grundstücksum- 
legung in  Stadtfeldmarken  und  in  der  Südostfeldmark 
Dortmund"  von  de  Weldige-Cremcr  und  Dr.  Fahrenhorst, 
Dortmund  1903.  In  Dortmund  wurde  für  die  Aufschließung  der  Süd- 
ostfeldmark die  landwirtschaftliche  Verkoppelung  auf  Grund  des  Gesetzes 
vom  2.  April  1872  betr.  die  Ausdehnung  der  Gemcinhcitsteilungsordnung 
angewendet.  Auf  diese  Weise  wurde  wohl  durch  Schaffung  eines  guten 
Wegenetzes  mit  Gräben,  also  besserer  Zugänglichkeit  und  Entwässerung 
der  Grundstücke,  durch  Vornahme  einer  Xeumessung  und  Ordnung  des 
Grundbuches,  durch  wirtschaftlichere  Gestaltung  der  Grundstücke  den  land- 
wirtschaftlichen Interessen  in  erster  Linie  gedient,  zugleich  aber  auch 
das  650  Morgen  große  Gebiet  der  Bebauung  erschlossen,  die  bisher  bei 
den  eigenartigen  Besitzverhältnissen  so  gut  wie  unmöglich  war.  Für  die 
Gemeinde  aber  erwuchs  der  gewaltige  Vorteil,  daß  sie  in  den  Besitz  des 
gesamten  für  das  zukünftige  Straßennetz  erforderlichen  Bodens  im  Be- 
trage von  ca.  130  Morgen  gelangte,  ohne  auch  nur  die  geringsten  Auf- 
wendungen machen  oder  Zinsverluste  erleiden  zu  müssen.  Die  zu- 
künftigen Straßen  wurden  in  der  Breite  der  normalen  Wirlschaftswege 
aus  der  Masse  entnommen,  die  Erbreiterungsflächen  bis  auf  die  Straßen- 
breite von  den  Anliegern  sogleich  mit  abgetreten,  enthaftet  und  der 
Gemeinde  überwiesen;  jene  behielten  aber  die  Nutzung  der  über  9  m 
hinausgehenden  Straßenlandstreifcn.  Die  ganze  Umwandlung  vollzog  sich 
im  Laufe  eines  Jahres  ohne  Beschwerde  seitens  der  Interessenten.  Die 
Vorteile,  die  den  Grundbesitzern  zugewachsen  sind,  haben  für  weitere 


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716 


Literatur. 


Verdoppelungen  Propaganda  unter  den  Grundbesitzern  in  anderen  Feld- 
marken gemacht,  so  daß  eine  Fortsetzung  des  Verfahrens  zu  erwarten 
ist.  Über  die  Verkoppelung  der  Südwestfeldmark  gibt  nun  die  an- 
geführte Schrift  ausführlichen  Bericht,  zugleich  will  sie  damit  den  Nach- 
weis liefern,  daß  es  mit  den  Verkoppelungsgesetzen  sehr  gut  möglich 
ist,  Umlegungen  von  Stadtfeldmarken  durchzuführen,  die  sich  im  Über- 
gangsstadium zur  baulichen  und  industriellen  Benutzung  befinden,  und 
dabei  allen  Bedürfnissen  der  Landwirtschaft,  des  Verkehrs  und  der  Be- 
bauung Rechnung  zu  tragen.  Dabei  muß  allerdings  eine  Reihe  von 
Voraussetzungen  erfüllt  sein:  der  Antrag  einer  genügenden  Mehrheit  muß 
vorliegen,  die  Zuständigkeit  der  Auseinandersetzungsbehörden  be- 
gründet, durch  Einverständnis  der  Beteiligten  die  volle  Berücksichtigung 
der  zukünftigen  Bebauung  gesichert  und  eine  nur  kleine  Zahl  von  Par- 
zellen vorhanden  sein,  die  nach  §  3  des  Gesetzes  vom  2.  IV.  1872  der 
Umlegung  an  sich  nicht  unterworfen  sind.  Gegenüber  dem  fakultativen 
Charakter  der  auf  Grund  der  Agrargesetze  stattfindenden  Umlegungen 
bedeutet  daher  die  Lex  Adikes  auch  nach  Ansicht  der  Verfasser 
einen  erheblichen  Fortschritt.  Die  materiellen  Sätze  dieses  Gesetzes 
werden  von  ihnen  im  wesentlichen  gebilligt,  gegen  die  das  Verfahren 
regelnden  Vorschriften  aber  um  so  schwerere  Bedenken  geltend  gemacht. 
Sie  werfen  die  Frage  auf,  ob  es  nicht  zweckmäßiger  sei,  die  Leitung 
des  Verfahrens  und  vor  allem  die  Aufstellung  des  Verteilungsplanes 
nicht  einer  ad  hoc  von  dem  Regierungspräsidenten  ernannten  Umlegungs- 
kommission,  sondern  den  Auseinandersetzungsbehörden  zu  übertragen, 
die  über  eine  reiche  Erfahrung  und  ein  in  der  Umlcgungstechnik  ge- 
schultes Beamtenpersonal  verfügen.  Zugleich  empfehlen  sie  eine  Ab- 
änderung der  Agrargesetzgebung  in  einigen  Punkten,  um  die  Ausein- 
andersetzungsbehörden in  weiterem  Umfange  für  die  Schaffung  von  Bau- 
gelände nutzbar  machen  zu  können.  Wir  können  auf  eine  Kritik  dieser 
Ausführungen  nicht  eingehen,  da  sie  uns  zu  tief  in  die  komplizierte  Ura- 
legungsmateric  hineinführen  würde.  Es  sei  hier  nur  hervorgehoben,  daß 
es  sich  bei  den  städtischen  Umlegungen  doch  vor  allem  um  Probleme 
des  Städtebaus  handeln  wird  und  unserer  Ansicht  nach  gerade  die 
städtischen  Behörden  sachverständige  Vertreter  des  Gemeinwohles  sind. 
Anstatt  diesen  Behörden  die  Leitung  des  Verfahrens  und  die  Aufstellung 
des  Verteilungsplanes  zu  übertragen,  hat  man  sie  überall  als  Literessenten 
betrachtet,  denen  gegenüber  der  Grundbesitzer  nach  allen  Richtungen 
hin  geschützt  werden  müsse. 

Mit  der  „Bauordnung  im  Dienste  der  öffentlichen  Gesundheitspflege" 
beschäftigte  sich  im  September  1903  der  „Deutsche  Verein  für  öffent- 
liche Gesundheitspflege"  auf  seiner  Vereinsversammlung  zu  Dresden. 
Die  Referate  lagen  in  den  Händen  des  Geh.  Regicrungsrat  Rumpelt  und 
dem  Baurat  Stübben,  die  ihre  Anschauungen  nach  dem  Gebrauche  des 
Vereins  in  Leitsätzen  niedergelegt  hatten.    Eine  Besprechung  der  Ver- 


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Hugo  Lindemann,  Zur  Literatur  über  die  Wohnungsfrage.  y\y 


handlungen  liegt  nicht  im  Rahmen  dieser  Arbeit.  Mit  der  Bauordnung 
beschäftigte  sich  ferner  ein  Vortrag  des  Prof.  K.  Mayreder,  der  in 
der  „Österreichischen  Gesellschaft  für  Arbeiterschutz4'  gehalten  worden 
ist  In  erweiterter  Form  liegt  derselbe  als  5.  Heft  der  Schriften  dieser 
Gesellschaft  unter  dem  Titel :  (17)  „Städtische  Bauordnungen  mit 
besonderer  Berücksichtigung  der  Wohnungsfrage"  (Wien, 
Franz  Deuticke)  vor.  Die  Schrift  gibt  in  kurzen  Zügen  einen  orientierenden 
Überblick  über  die  bei  dem  Erlaß  einer  Bauordnung  in  Frage  kommen- 
den Momente,  wobei  das  Zurückbleiben  der  österreichischen  Bauord- 
nungen, insbesondere  der  Wiener  hinter  den  anerkannten  Forderungen 
der  Hygiene,  der  Städtebautechnik  nnd  der  Wohnungspolitik  energisch 
hervorgehoben  wird.  Entstand  doch  noch  im  Jahre  1894  die  neue 
Bauordnung  für  Brünn  und  im  Jahre  1900  die  für  Linz  einfach  dadurch, 
daß  man  die  veraltete  Bauordnung  für  Wien  kritiklos  abschrieb.  Diese 
Bauordnungen  wurden  überdies  noch  auf  eine  ganze  Reihe  kleinerer 
Städte  ausgedehnt.  Kein  Wunder,  daß  sich  dann  Wohnungszustände 
herausbilden,  die  jeder  Beschreibung  spotten.  Ein  Vorzug  der  May- 
rederschen  Schrift  sind  die  Pläne,  an  denen  klar  gemacht  wird,  wie  die 
Bestimmungen  verschiedener  Bauordnungen  auf  die  Bauweise,  die  Über- 
bauung der  Grundstücke  usw.  einwirken. 

Zu  den  wenigen  deutschen  Städten,  die  durch  den  Bau  von  Arbeiter- 
häusern für  das  allgemeine  Wohnungsbedürfnis  der  nichtbesitzenden 
Klassen  gesorgt  haben,  gehört  die  Stadt  Ulm,  die  seit  dem  Jahre  1894 
in  größerem  Stile  als  Unternehmerin  von  Kleinwohnungen  aufgetreten 
ist.  Über  ihre  Tätigkeit  unterrichtet  uns  in  trefflicher  Weise  die  von  dem 
Oberbürgermeister  W a g n e r  herausgegebene  Schrift :  (18)  „Die  Tätig- 
keit der  Stadt  Ulm  a.  D.  auf  dem  Gebiete  der  Wohnungs- 
fürsorge für  Arbeiter  und  Bedienstete"  (Ulm,  J.  Ebner).  An- 
laß zu  der  städtischen  Bautätigkeit  gab  weniger  der  Mangel  an  Wohnungen, 
als  vielmehr  die  übermäßigen  Preise  und  die  geringe  Beschaffenheit  der 
Wohnungen,  in  denen  die  arbeitende  Bevölkerung  hausen  mußte.  Wir 
haben  hier  also  ein  Beispiel  für  die  Bekämpfung  der  chronischen 
Wohnungsnot,  während  im  allgemeinen  die  Bautätigkeit  der  Stadtver- 
waltungen durch  Ausbrüche  akuten  Wohnungsmangels  in  Bewegung  ge- 
setzt worden  ist.  Die  Häuser  wurden  von  der  Stadt  zum  Weiterverkauf 
gebaut,  und  dieses  System  wurde  gewählt,  weil  man  bei  den  Eigentümern 
eine  bessere  Pflege  und  Instandhaltung  erwartete  und  weil  man  durch 
die  Erhebung  des  Lohnarbeiters  zum  Eigentümer  einen  „Damm  gegen 
umstürzlerische  Bestrebungen"  errichten  wollte.  Die  praktischen  Erfahrungen 
haben  dieses  System  der  Wohnungsfürsorge  als  unzweckmäßig  erwiesen, 
wobei  wir  ganz  davon  absehen,  ob  das  Ziel  der  Sozialistenbekämpfung 
erreicht  wurde  oder  nicht.  Schon  die  Kaufverträge,  die  bei  den  Häusern 
der  ersten  Serie  abgeschlossen  wurden,  enthielten  eine  Reihe  von  Be- 
stimmungen, die  das  Eigentumsrecht  der  Käufer  nach  gewissen  Richtungen 


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7i8 


Literatur. 


hin  beschränkten.  Unter  anderem  behielt  sich  die  Stadt  ein  Rückkaufs- 
recht auf  die  Dauer  von  15  Jahren  vor,  das  außer  in  anderen  Fällen 
insbesondere  dann  wirksam  werden  sollte,  wenn  der  Schuldner  das  An- 
wesen veräußern  oder  falls  er  Wohnungen  zu  einem  den  üblichen  Miet- 
zins übersteigenden  Mietzins  vermieten  oder  derartige  Aftervermietungen 
durch  seine  Mieter  dulden  sollte.  Sehr  bald  stellte  es  sich  aber  heraus, 
daß  die  genannten  Bestimmungen  nicht  ausreichten,  um  Mißbräuchen 
mit  Erfolg  entgegenzutreten.  Dieselben  wurden  also  durch  weitere  Be- 
stimmungen verschärft,  die  auch  von  einer  größeren  Anzahl  Hausbesitzer 
nachträglich  anerkannt  wurden.  Der  wichtigste  Zusatz  war  der  folgende : 
„Der  Gemeinderat  setzt  jeweils  den  Höchstbetrag  der  zulässigen  Miet- 
zinse fest."  Das  war  wohl  der  tiefste  Eingriff  in  das  Eigentumsrecht  der 
Käufer,  da  er  sie  an  der  Ausnützung  der  steigenden  Grundrente  hinderte. 
Als  dann  die  Stadt  im  Jahre  1902  ihre  Baupolitik  fortsetzte,  verzichtete 
sie  auf  die  Anwendung  des  Erbbaurechtes,  erweiterte  aber  in  den  neuen 
Verträgen  die  Dauer  ihres  Rückkaufsrechtes  von  15  auf  100  Jahre  und 
gestaltete  die  Verträge  so  aus,  daß  von  dem  Eigentumsrecht  der  Käufer 
so  gut  wie  nichts  zurückblieb.  Sie  sind  nur  nominell  Eigentümer,  tat- 
sächlich aber  die  Hausagenten  der  Stadt  Ulm,  der  sie  die  Unannehm- 
lichkeiten der  Vermietung  und  Verwaltung  des  Hausbesitzers,  sowie  das 
Risiko  des  Mieteinganges  abnehmen.  Wäre  es  da  nicht  einfacher  und 
den  Käufern  gegenüber  auch  ehrlicher  gewesen,  wenn  die  Stadt  das 
Eigentum  der  Häuser  behalten  und  dieselben  zur  Vermietung  an  eine 
Mietgenossenschaft  ausgetan  hätte?  Nähert  sie  sich  doch  so  wie  so 
Schritt  für  Schritt  diesem  Ziele.  Die  Zahl  der  Angehörigen  der  nicht- 
besitzenden Klassen,  die  eine  Anzahlung  von  10  Proz.,  wie  Bedingung, 
auf  die  Häuser  leisten  können,  hat  sich  erschöpft,  und  die  Stadtverwaltung 
sieht  sich  gezwungen,  bei  der  Fortsetzung  ihrer  Baupolitik  ein  „Wohnungs- 
recht für  dieselben  zu  konstituieren,  aus  dem  das  Eigenturasrecht  im 
Laufe  der  Zeit  herauswachsen  kann  und  wird".  Auch  hier  muß  man 
sich  fragen,  wozu  ein  formelles  Eigentumsrecht  zu  entwickeln,  das  tat- 
sächlich nicht  viel  anderes  als  ein  Wohnungsrecht  ist?  Nur  um  einen 
Kampf  gegen  die  Sozialdemokratie  zu  führen,  dessen  Erfolglosigkeit  die 
Abstimmung  dieses  Wohnviertels  bei  den  letzten  Reichstagswahlen  deut- 
lich erwies?! 

Besonders  wertvoll  ist  die  Ulmer  Leistung  für  uns  dadurch,  daß  sie 
einen  schlagenden  Beweis  für  den  Arbeiterwohnungsbau  durch  die 
Kommune  beibringt.  Mit  aller  Entschiedenheit  hebt  Oberbürgermeister 
Wagner  dieses  Ergebnis  in  seiner  Schrift  hervor.  Einen  großen  Teil  des 
XII.  Kapitels  widmet  er  der  Widerlegung  der  Einwände,  die  gegen  den 
kommunalen  Regiebau  immer  und  immer  wieder  erhoben  werden,  und 
er  ist  in  der  glücklichen  Lage  die  unwiderleglichen  Beweise  aus  der 
eigenen  Praxis  beibringen  zu  können.  Wir  können  mit  diesen  seinen 
Ausführungen  unsere  volle  Übereinstimmung  aussprechen,  wobei  uns  das 


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Hugo  Lindemann,  Zur  Literatur  über  die  Wohnungsfrage. 


entschiedene  Eintreten  für  das  kleine  Wohnhaus  und  das  als  Ideal  an- 
gestrebte Einfamilienhaus  besonders  sympathisch  berührt.  Skeptisch 
stehen  wir  dagegen  dem  System  des  Eigenhausbaues  gegenüber,  wobei 
wir  uns  insbesondere  auf  das  beziehen,  was  wir  oben  angeführt  haben. 
Die  Fesselung  des  Arbeiters  an  das  Haus  kann  nicht  bestritten  werden, 
und  sie  kann  im  Falle  einer  größeren  Krise,  einer  Boykottierung  durch 
Arbeitgeberverbände  ihm  verhängnisvoll  werden,  ja  seinen  wirtschaftlichen 
Ruin  verursachen.  Diese  Gefahr  wird  um  so  grüßer  sein,  je  größer  die 
Zahl  der  Arbeiterhäuser  ist. 

Die  Ulmer  Stadtverwaltung  war  sich  darüber  vollkommen  klar,  „daß 
eine  Arbeiterwohnungsfürsorge  im  großen  Stil . . .  sich  nur  durchführen  lasse, 
wenn  die  Stadt  über  ein  möglichst  großes  Grundeigentum  verfüge,  und 
ferner,  daß  die  Erhaltung  und  planmäßige  Vermehrung  des  letzteren 
auch  noch  andere  .  .  .  Errungenschaften  in  sich  schließe",  so  beginnt 
das  interessante  Kapitel,  das  die  Ulmer  Bodenpolitik  darstellt.  Durch 
Ankäufe  von  Grundeigentum,  die  sich  seit  1891  auf  ca.  249  ha  be- 
liefen, ist  die  Stadt  in  der  günstigen  Lage  von  dem  gesamten  Überbau- 
baren  Gelände  im  Betrage  von  456  ha  ca.  282  ha,  also  mehr  als 
8  f5  zu  besitzen.  Die  Verwaltung  ist  aber  nicht  nur  als  Käuferin,  son- 
dern auch  als  Verkäuferin  aufgetreten :  sie  hat  in  den  letzten  1 2  Jahren 
35  ha  an  Fabrikanten,  Bauunternehmer  und  an  die  Käufer  der  Arbeiter- 
eigenhäuser um  1  979  237  Mk.  veräußert,  so  daß  die  zugewachsenen,  jetzt 
der  Überbauung  zugänglich  werdenden  180  ha  noch  auf  216659  Mk. 
zu  stehen  kommen.  Es  ist  also  finanziell  sehr  geschickt  operiert  worden. 
Wie  rechtfertigt  aber  die  Stadtverwaltung  den  Verkauf  kommunalen 
Grundeigentums?  Die  Konkurrenz  der  Gemeinden  und  industriellen 
Unternehmungen  habe  zum  Verkauf  gezwungen,  da  sich  diese  bei  Erb- 
oder Zeitpacht  zweifellos  anderswo  niedergelassen  hätten.  Auch  der 
Villenbau  von  Rentnern  wäre  in  diesem  Falle  nicht  möglich  gewesen. 
Theoretisch  sei  das  Festhalten  des  Grundeigentums  der  Gemeinde  mit 
dem  Institut  der  Erbpacht  durchaus  begründet  und  in  größeren  Städten, 
die  eine  bedeutende  Anziehungskraft  auf  die  Industrie  besäßen,  auch 
praktisch  durchführbar.  Kleinere  Gemeinden  dagegen  wären  nicht  in 
der  glücklichen  Lage  und  müßten  sich  zum  Verkaufe  von  Grund  und 
Boden  entschließen,  wollten  sie  industrielle  Unternehmungen  zur  Ansied- 
lung  veranlassen.  Wir  sind  nicht  in  der  Lage  zu  untersuchen,  ob  diese 
Behauptung  für  Ulm  in  vollem  Umfange  zutrifft.  Doch  kann  ohne 
weiteres  zugegeben  werden,  daß  das  Fehlen  des  Bodeneigentums  bei  der 
Aufnahme  von  Darlehen  einen  beträchtlichen  Nachteil  bedeutet.  Einen 
Ausweg  aus  diesem  Dilemma  zwischen  den  Bedürfnissen  der  Praxis  und 
der  Erkenntnis  der  Theorie  hat  die  Stadtverwaltung  darin  gesucht,  daß 
sie  in  den  Kaufverträgen  die  Spekulation  mit  dem  Grund  und  Boden 
einzuschränken  suchte.  In  den  Verträgen  über  Fabrikanlagen  behält  sich 
die  Stadt  ein  Wiederkaufsrecht  zu  dem  ursprünglichen  Kaufpreise  vor, 


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720  Literatur. 

wenn  der  Käufer  das  Grundstück  der  im  Vertrage  festgelegten  Zweckbe- 
stimmung (Überbauung  mit  industriellen  Anlagen  bzw.  mit  zu  diesen 
Anlagen  gehörigen  Wohnhäusern  für  die  Eigentümer  der  Anlagen,  seine 
Angehörigen  oder  Bediensteten  und  Arbeiter)  entzieht.  Auch  bei  der 
Veräußerung  unbebauter  Teile  des  Grundstücks  hat  die  Stadt  ein  solches 
Wiederkaufsrecht,  nur  muß  sie  in  diesem  Falle  den  ursprünglichen 
Kaufpreis  mit  3  Proz.  verzinsen.  Hat  sich  die  Stadt  in  diesem  Vertrage 
die  Ausnützung  der  ev.  gestiegenen  Grundrente  durch  Aufschließung  des 
Fabrikareals  für  allgemeine  Wohnbauten  gesichert,  so  läßt  sich  das 
gleiche  von  dem  Vertragsschema,  das  bei  dem  Verkauf  von  Grundstücken 
für  Wohnhäuser  in  Anwendung  kommt,  nicht  behaupten.  Hier  begibt 
sich  die  Stadtverwaltung  jedes  Rechtes,  sobald  das  Wohnhaus  erbaut 
ist;  und  gerade  in  diesen  Fällen  läßt  sich  der  erwähnte  Einwand 
der  Abschreckung  von  Baulustigen  mit  viel  geringerer  Berechtigung 
erheben. 

Ein  weiterer  Abschnitt  des  Buches  stellt  die  Versuche  dar,  die  von 
der  Stadtverwaltung  gemacht  worden  sind,  um  die  durch  Aufhebung  der 
Rayonbeschränkungen  im  Werte  gestiegenen  Grundstücke  einer  Wert- 
zuwachssteuer zu  unterwerfen.  Der  von  der  Staatsregierimg  eingebrachte 
Gesetzentwurf,  der  der  Stadt  das  Recht  zur  Erhebung  einer  solchen 
Steuer  gewähren  sollte,  ist  bis  jetzt  noch  nicht  vor  der  Kammer  der 
Abgeordneten  erledigt  worden. 

Wir  haben  im  vorstehenden  vornehmlich  die  Leistungen  der 
Kommune  behandelt;  zur  Vervollständigung  sei  darauf  hingewiesen, 
daß  das  Buch  Wagners  auch  über  die  Bautätigkeit  des  „Wohnungsver- 
eins", einer  gemeinnützigen  Aktiengesellschaft,  sowie  der  Baugenossen- 
schaften unterrichtet,  sodaß  wir  also  ein  vollständiges  Bild  von  der 
Wohnungsbautätigkeit  erhalten,  die  nicht  von  privaten  Unternehmern 
des  Profits  wegen  unternommen  wird.  Alles  in  allem  ein  Bild  lebendigen 
Strebens!  — 

Über  den  Arbeiterwohnungsbau  in  England  sind  im  Jahre  1903  bzw. 
1 904  zwei  Bücher  erschienen :  (1 9)  W.  Lehweß,  Englische  Arbeiter- 
wohnungen, Berlin,  Ed.  Ernst  und  Sohn,  als  Sonderabdruck  aus  der  Zeit- 
schrift für  Bauwesen  und  in  viel  größerem  Umfange  (20)  W.Thompson, 
The  Housing  Handbook,  das  im  Auftrage  des  National  Housing 
Reform  Council  abgefaßt  worden  ist.  W.  Lehweß  gibt  zwar  im  ersten  Teile 
seiner  Schrift  einen  Überblick  über  die  englische  Wohnungsgesetzgebung. 
Da  derselbe  aber  weder  vollständig  ist,  noch  eine  originale  Betrachtungs- 
oder Darstellungsweise  aufweist,  außerdem  noch  mancherlei  Irrtümer  ent- 
hält und  sehr  naive  Begriffe  von  geschichtlichen  Zusammenhängen  ent- 
hüllt, so  wäre  er  zum  Vorteil  der  Schrift  besser  fortgeblieben.  Die 
beiden  Hauptteile  stellen  die  Tätigkeit  der  städtischen  Verwaltungen 
und  gemeinnützigen  Vereine  und  Aktiengesellschaften  auf  Grund  der 
Wohnungsgesetze  dar  und  beschreiben  an  ausgewählten  Beispielen  die 


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Hugo  Lindemann,  Zur  Literatur  über  die  Wohnungsfrage. 


verschiedenen  Arten  der  Arbeiterwohnungen.  Im  letzten  Abschnitt  wirft 
der  Verfasser  anschließend  an  eine  Beschreibung  der  beiden  Arbeiter- 
dörfer Port  Sunlight  und  Bournville,  in  denen  in  künstlerischer  Weise 
das  Ideal  der  Gartenstadt  für  die  Arbeiter  zweier  Fabriken  erreicht  ist, 
einen  Ausblick  auf  die  zukünftige  Entwicklung  der  Wohnungsverhältnisse. 
Er  ist  der  Ansicht,  daß  die  großzügige  Sanierungspolitik  der  englischen 
Städte  die  Grenzen  ihrer  Wirksamkeit  erreicht  habe.  Ebensowenig 
werde  aber  die  Ansiedlung  in  Arbeiterkolonien  der  Vorstädte  bei 
dem  stets  größer  werdenden  Weg  zur  Arbeitsstätte  und  dem  dadurch 
bedingten  Zeitverlust  auf  die  Dauer  möglich  sein,  da  der  Arbeitstag  des 
Arbeiters  auf  absehbare  Zeit  noch  bedeutend  länger  bleiben  würde,  als 
der  der  höheren  Erwerbsklasscn.  So  bleibe  nur  der  eine  Ausweg  mög- 
lich, die  Verlegung  der  gewerblichen  Betriebe  auf  das  Land  und  der 
Bau  von  Arbeiterdörfern  in  Verbindung  mit  den  Fabrikanlagen.  Der 
Verfasser  glaubt,  daß  dieser  Vorgang  auch  die  anderen  Klassen  des 
Volkes  erfassen  wird.  Dann  bleiben  die  alten  Städte  als  Mittelpunkt 
des  Handels  und  Verkehrs  große  ständige  Märkte,  wie  es  die  City  von 
London  schon  heute  ist,  mit  einer  geringen  Zahl  ständiger  Bewohner. 
Auf  dem  Lande  aber  entstehen  neben  den  Landhausansiedlungen  der 
wohlhabenden  Klassen  die  weit  und  luftig  angelegten  Industrie-Garten- 
städte. Das  sind  also  die  gleichen  Gedanken,  die  von  der  Gartenstadt- 
bewegung in  England  und  Deutschland  propagiert,  die  von  anderen 
Wohnungsreformern  unter  den  Titeln  Stadtverjüngung  oder  Dezentrali- 
sation der  Wohnbevölkerung  vertreten  werden.  Es  liegt  auf  der  Hand, 
daß  eine  derartige  grundstürzende  Umgestaltung  der  heutigen  Wohnver- 
hältnisse nicht  ohne  eine  begleitende  Umgestaltung  des  gesamten  Pro- 
duktions- und  Distributionsprozesses  auf  der  einen  Seite  und  der  häuslichen 
und  sozialen  Lebensweise  der  Gesellschaft  auf  der  anderen  denkbar  ist. 
Wer  das  eine  will,  muß  auch  das  andere  wollen  und  zugleich  über  beide 
Entwicklungen  im  klaren  sein.  Er  muß  auch  die  Mittel  wollen,  die 
zum  Ziele  führen,  und  das  erste  Mittel  wäre  die  Erweiterung  der  groß- 
städtischen Markungen,  wo  sie  notwendig  ist,  und  die  Kommunalisierung 
des  gesamten  Bodens  auf  denselben.  Erst  dann  ist  eine  planmäßige 
Dezentralisierung  oder  Stadtverjüngung  oder  wie  man  den  Vorgang  be- 
zeichnen will,  möglich. 

Das  Thomsonsche  Buch  ist  ein  praktisches  Kompendium  für 
jeden,  der  sich  mit  den  englischen  Wohnungsverhältnissen  und  den  Be- 
strebungen zu  ihrer  Reform  eingehender  beschäftigen  will.  Theorien, 
ohne  die  in  Deutschland  auch  nicht  die  kleinste  Broschüre  über  die 
Wohnungsfrage  geschrieben  werden  kann,  enthält  es  nicht,  um  so  mehr 
„facts".  Deshalb  ist  auch  eine  angemessene  Besprechung  seines  reichen 
Inhalts  in  dem  engen  Rahmen  unseres  Berichtes  ausgeschlossen.  Es  sei 
nur  darauf  hingewiesen ,  daß  das  Buch  außer  einer  Darstellung  alles 
dessen,  was  auf  dem  großen  Gebiete  der  Wohnungsreform  in  England 


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Literatur. 


insbesondere  von  der  Local  Authorities  bisher  geleistet  worden  ist, 
auch  eine  Analyse  und  einen  Abdruck  der  wichtigsten  auf  die  Hau- 
sung der  arbeitenden  Klassen  sich  erstreckenden  Wohnungs-  und  Ge- 
sundheitsgesetze enthält.  — 

Sehr  richtig  weist  W.  Lehweß  in  seiner  oben  erwähnten  Schrift 
darauf  hin,  daß  die  Logierhäuser  —  common  lodginghouses,  wie  sie  in 
England  heißen ,  Ledigenheime,  wie  man  sie  geschmacklos  verdeutscht 
hat  —  in  Deutschland  fast  unbekannt  sind,  und  bedauert  es,  daß  noch 
keine  Stadt  ein  solches  Logierhatis  errichtet  hat.  Zugleich  entwickelt 
er  kurz  die  Grundsätze,  die  auch  unseres  Erachtens  bei  dem  Betriebe 
solcher  Häuser  maßgebend  sein  müssen.  Die  Logierhäuser  sollen  nicht 
als  Wohltätigkeitsanstalten  erscheinen,  die  die  Besucher  zu  Almosen- 
empfängem  herabdrücken.  Ferner  dürfen  die  Hausordnungen  nicht  zu 
streng  sein,  so  daß  die  Leute  vom  Besuche  abgeschreckt  werden,  noch 
dürfen  sie  dieselben  in  politischer  oder  religiöser  Hinsicht  beeinflussen 
wollen.  Erst  in  neuester  Zeit  richtet  sich  auch  in  Deutschland  und 
Österreich  die  Aufmerksamkeit  der  Öffentlichkeit  auf  die  Errichtung 
solcher  Ledigenheime  und  ist  man  in  verschiedenen  Städten,  wie  Fürth, 
Essen,  Münster,  Wien  usw.,  ihr  näher  getreten.  Mit  ihr  beschäftigt  sich 
insbesondere  auch  der  von  uns  schon  erwähnte  Vortrag  L.  Brentanos 
,,Wohnungszustände  und  Wohnungsreform  in  München'* 
sowie  (21)  der  8.  Jahresbericht  des  Kaiser  Franz  Joseph  I. 
J  u  b  i  1  ä  u  m  s  •  S  t  i  f  t  u  n  g  f ü  r  V  o  1  k  s  w  o  h  n  u  n  g  e  n  u  n  d  W  o  h  1  f a  h  rt  s  - 
einrichtungen.  Brentano  bezeichnet  sie  in  zutreffender  Weise  als  die 
Vorbedingung  für  die  Durchführung  einer  energischen  Wohnungsinspek- 
tion, und  auch  der  erwähnte  Bericht  sieht  darin  das  wichtigste  Mittel, 
um  das  Schlafstellenwesen  —  in  Wien  gibt  es  ca.  75 — 80000  Bett- 
geher —  mit  seinen  hygienischen  und  sittlichen  Mißständen  zu  be- 
kämpfen. 

Das  wichtige  Problem  der  Wohnungsfrage,  inwieweit  sich  durch 
zweckmäßige  Gestaltung  des  Lokalvcrkehrs  eine  energische  Dezentrali- 
sation der  Wohnbevölkerung  bewirken  lasse,  hat  zum  ersten  Male  eine  aus- 
führlichere Behandlung  in  der  Schrift  von  (2  2)  C 1.  Heiß,  Wohnungs- 
reform  und  Lokal  verkehr,  gefunden,  die  in  der  Sammlung  des 
Vereins  Reichs- Wohnungsgeseta :  Die  Wohnungsfrage  und  das  Reich  als 
Nr.  7  erschienen  ist.  Der  Verfasser  hat  sein  Buch  in  zwei  große  Teile 
geteilt,  von  denen  der  eine  eine  Beschreibung  der  Verkehrsmittel,  der 
andere  eine  kritische  Würdigung  der  bestehenden  Verhältnisse  und  Ein- 
richtungen gibt.  Daran  schließt  sich  dann  zum  Abschluß  eine  kurze 
Zusammenfassung  der  Aufgaben  der  Wohnungsreform  und  eine  Aufzäh- 
lung der  Reformvorschläge  an.  Man  kann  füglich  im  Zweifel  sein,  ob 
diese  Scheidung  von  Darstellung  und  Kritik  zweckmäßig  gewesen  ist, 
namentlich  da  die  Scheidung  an  verschiedenen  Stellen  vom  Verfasser 
selbst  aufgegeben  wird,  und  kritische  Bemerkungen  in  die  Darstellung 


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Hugo  Lindemann,  Zur  Literatur  über  die  Wohnungsfrage. 


eingeschoben  werden.  Die  Folge  dieser  Scheidung  ist  ein  gewisser 
Mangel  an  Zusammenhang,  eine  gewisse  Planlosigkeit,  die  den  Wert  des 
Buches  leider  beeinträchtigt.  Einige  Beispiele  mögen  den  Nachweis 
führen.  Heiß  hat  sich  in  zutreffender  Weise  nicht  auf  die  deutschen 
oder  kontinentalen  Zustände  beschränkt.  Er  gibt  uns  vielmehr  an  erster 
Stelle  ein  sehr  ausführliches  Bild  von  den  Einrichtungen  des  amerika- 
nischen Lokalverkehrs,  von  dem,  wie  auch  von  unseren  Technikern  an- 
erkannt wird,  noch  viel  zu  lernen  ist.  Merkwürdigerweise  schließt  das 
Kapitel  mit  einer  Kritik  des  europäischen  Straßenbahnwesens,  wobei 
dasselbe  recht  schlecht  wegkommt.  Ohne  Widerspruch  zitiert  der  Ver- 
fasser einen  Angriff  H.  Vellguths  in  der  Juninuramer  des  Street  Railway 
Journal  von  1902.  Unter  den  Hindernissen,  die  der  Entwicklung  des 
elektrischen  Betriebes  in  Europa  bereitet  worden  seien,  werden  nämlich 
aufgeführt:  „Schwierigkeiten,  wie  sie  Betriebsgesellschaften  infolge  der 
Gleichgültigkeit  der  Munizipalitäten  unter  dem  Vorwande  der  Sicher- 
heitsgewährung in  den  Weg  gelegt  werden,  und  wegen  ihrer  Politik,  für 
Konzessionen  und  Rechte  aller  Art  lächerlich  hohe  Gebühren  herauszu- 
schlagen." Diese  bis  zum  Überdruß  vom  privaten  Straßenbahnunter- 
nehmertum wiederholten  Behauptungen  hätten  von  dem  Verfasser  mit 
aller  Schärfe  zurückgewiesen  werden  müssen,  um  so  mehr  als  er  doch 
sonst  den  Kommunalisierungsbestrebungen  nicht  unfreundlich  gegenüber- 
steht. Um  zu  den  Resultaten  des  Abschnittes  über  den  amerikanischen 
Lokal  verkehr  zu  gelangen,  müssen  wir  einen  großen  Sprung  von  S.  33 
bis  S.  70  machen  —  dazwischen  liegt  die  Beschreibung  der  englischen 
und  kontinentalen  Verkehrsverhältnisse  —  und  finden  dort  einige  kurze 
Bemerkungen  über  den  Fünfcentstarif  und  die  Umsteigebilletts.  Dann 
erfahren  wir  auf  S.  90 ,  daß  der  Lokalverkehr  auf  die  Entwicklung 
der  amerikanischen  Städte  einen  unmittelbaren  Einfluß  ausgeübt  hat,  er- 
halten einige  Seiten  später  einige  Daten  über  das  Wachstum  der  ameri- 
kanischen Städte,  auf  S.  116  wieder  eine  Notiz  über  die  Senkung  der 
Grundrente  durch  eine  weitschauende  Verkehrspolitik  —  und  können 
nun  versuchen,  uns  aus  diesen  über  das  ganze  Buch  zerstreuten  Be- 
merkungen ein  Bild  zusammenzuflicken.  Ganz  das  gleiche  gilt  für  die 
englischen  Verhältnisse,  und  noch  krasser  für  das  deutsche  Lokal-  und 
Straßenbahnwesen.  Von  S.  55  ab,  also  im  ersten  beschreibenden  Teile, 
wird  der  Berliner  Lokalverkehr  wesentlich  im  Anschluß  an  die  von  P. 
Voigt  gegebene  Darstellung  behandelt,  daran  schließt  sich  ein  Kapitel  über 
die  Straßenbahnen.  Der  2.  kritische  Teil  beginnt  mit  einem  kurzen 
Kapitel  über  die  Straßenbahnen,  das  im  wesentlichen  darstellender  Natur 
ist.  Ihm  folgt  ein  Kapitel  über  die  Staatsbahnen  und  den  Lokalver- 
kehr, dessen  zweiter  Abschnitt  die  Vororttarife  der  außerpreußischen 
deutschen  Eisenbahnen  rein  beschreibend  behandelt.  Beiläufig  sei  hier 
auf  einen  Irrtum  Heiß'  hingewiesen.  In  Baden  wird  das  Kilometerheft 
nicht,  wie  er  meint,  hauptsächlich  wohl  von  Geschäftsreisenden  benutzt. 


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Literatur. 


Es  ist  im  Gegenteil  tief  in  die  weitesten  Kreise  der  Bevölkerung  einge- 
drungen. 

Im  Mittelpunkt  der  Heißschen  Untersuchung  steht  natürlich  die 
Frage,  ob  der  Lokalverkehr  auf  die  Entwicklung  der  Städte  einen  Ein- 
fluß gehabt  und  ob  er  vor  allem  eine  Dezentralisation  des  Wohnens 
bewirkt  hat.  Der  Verfasser  kommt  zu  dem  Resultat,  daß  der  Lokal- 
verkehr die  Dezentralisation  der  Bevölkerung  nicht  unmittelbar  gefördert, 
sondern  nur  einer  weitergehenden  Zentralisation  entgegengewirkt  habe. 
Den  ersten  Teil  dieser  These  sucht  er  durch  die  Tatsache  zu  beweisen, 
daß  ohne  Rücksicht  auf  die  Ausbildung  der  Verkehrsmittel  sich  in  London 
das  Einfamilienhaus,  in  Berlin  und  seinen  Vororten  die  Mietkaserne  be- 
hauptet habe.  Heiß  vermischt  hier  offenbar  die  Art  des  Wohnens  mit 
der  Art  der  Ansiedlung.  Bei  dem  Problem  der  Dezentralisation  handelt 
es  sich  aber  in  erster  Linie  um  die  Ansiedlung  der  dem  Großstadt- 
zentrum zuströmenden  Bevölkerung  nicht  in  der  Großstadt  selber,  sondern 
in  den  Vororten  und  Nachbargemeinden.  Ob  sich  in  diesen  die  groß- 
städtische Art  des  Wohnens,  also  die  Mietkasernen,  oder  das  kleine 
Miet-  und  Einfamilienhaus  durchsetzt,  ist  erst  die  zweite  Frage.  Daß 
der  Einfluß  des  Lokalverkehrs  auf  die  Art  des  Wohnens  wenigstens  in 
den  deutschen  Großstädten  nur  ein  sehr  geringer  gewesen  ist,  räumen 
wir  ohne  weiteres  ein.  Daraus  folgt  aber  noch  nicht,  daß  der  erste 
Teil  der  Heißschen  These  bewiesen  ist.  Die  Ansiedlung  in  den  Vor- 
orten ist  doch  auch  im  Berliner  Gebiet  nur  durch  die  Eisenbahnen  und 
Straßenbahnen  möglich  gewesen.  Vorbedingung  für  den  Aufschluß  von 
Terrains  in  den  Außenbezirken  und  für  die  Gründung  von  Wohnkolonien 
ist  die  Anlage  einer  Eisenbahnhaltestelle  oder  Anschluß  an  die  Straßen- 
bahn. Es  sei  hier  ferner  auf  die  interessanten  Untersuchungen  hin- 
gewiesen, in  denen  Großmann  (Die  kommunale  Bedeutung  des  Straßen- 
bahnwesens, Dresden  1903)  den  dezentralisierenden  Einfluß  der  Dresdener 
Straßenbahnen  auf  die  Dresdener  Siedlungsverhältnisse  nachweist.  Ob 
sich  diese  dezentralisierende  Bewegung  so  vollzieht,  daß  sich  die  ein- 
wandernde Bevölkerung  in  den  alten  Stadtvierteln  des  Zentrums  nieder- 
läßt und  die  dort  ansässige  in  die  Außenbezirke  verdrängt,  oder  ob  sie 
gleich  in  diese  einwandert,  ist  hierbei  nebensächlich.  Das  kann  ferner 
Heiß  unbedenklich  zugegeben  werden,  daß  durch  zweckmäßigere 
Anordnungen  die  dezentralisierende  Wirkung  des  Ix>kalverkehrs  noch 
in  ganz  anderer  Weise  ausgelöst  werden  könnte,  als  bisher.  Die  hohen 
Tarife  der  Eisenbahnen  für  größere  Entfernungen  des  Nahverkehrs,  der 
mangelhafte  Ausbau  des  Eisenbahnnetzes  im  Umkreis  der  Großstädte, 
das  Fehlen  des  Schnellverkehrs  im  Nahverkehr,  die  ungeschickten  Fahr- 
zeiten des  Vorortverkehrs,  die  durch  die  Zugfolge  des  Fernverkehrs  be- 
dingt sind,  alle  diese  Umstände  tragen  daran  ihr  Teil  Schuld.  So  wird  die 
Vorbedingung  der  Dezentralisation,  daß  die  Mietpreise  der  Vororte  plus 
Fahrgeld  niedriger  sind,  als  die  Wohnungen  im  Innern  des  Großstadt- 


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Hugo  Lindemann,  Zur  Literatur  über  die  Wohnungsfrage. 


Zentrums,  auch  deshalb  nicht  erfüllt,  weil  der  eine  Faktor,  das  Fahrgeld, 
zu  hoch  ist.  Widmen  wir  zum  Schluß  den  Reformvorschlägen  des  Ver- 
fassers noch  einige  Worte.  Im  Anschluß  an  Dr.  A.  Mülberger  fordert 
er  die  Scheidung  von  Nah-  und  Fernverkehr  und  die  verschiedene  Be- 
handlung der  beiden,  Verbälligung  der  Eisenbahntarife,  Einführung  der 
Umsteigebilletts  bei  den  Straßenbahnen,  Ausgestaltung  des  Nah-Schnell- 
verkehrs,  da  es  darauf  ankommt,  die  stets  größer  werdenden  Entfer- 
nungen des  Vorortsverkehrs  in  kürzester  Zeit  zurückzulegen,  und  damit 
es  möglich  würde,  die  entfernteren  Vorortbezirke  zu  besiedeln,  und 
schließlich  zweckmäßige  Anordnung  der  Fahrpläne  besonders  mit  Rück- 
sicht auf  die  Bedürfnisse  der  arbeitenden  Bevölkerung.  Hand  in  Hand 
damit  soll  eine  weitschauende  Bodenpolitik  des  Staates  und  der  Ge- 
meinden gehen.  Es  sind  das  alles  Forderungen,  die  heutzutage  nichts 
Neues  mehr  bedeuten,  deren  Durchführung  aber  an  der  Trägheit  und 
Herrschsucht  der  staatlichen  Bureaukratie,  soweit  der  Staat,  an  dem  Wider- 
stand der  Haus-  und  Grundbesitzerklasse,  soweit  die  Gemeinden  in  Frage 
kommen,  stets  gescheitert  ist.  Das  ist  auch  Heiß  nicht  unbekannt,  weist 
er  doch  selbst  auf  diese  Widerstände  hin.  Trotzdem  beläßt  er  das  ganze 
Eisenbahnwesen  in  den  Händen  der  Staatsbureaukratie  und  glaubt  durch 
die  Aufstellung  von  besonderen  Beamten  für  die  Leitung  der  neu  zu 
schaffenden  Nahverkehrs-Zonen  und  die  Einrichtung  von  Lokalverkehrs- 
beiräten sein  Ziel  zu  erreichen.  In  größeren  Städten  sollen  Lokalver- 
treter- und  Stadterweiterungskommissionen  gebildet  werden.  Ja,  wenn 
es  mit  der  Einsetzung  von  Kommissionen  getan  wäre!  Die  meisten 
unserer  Sozialreformer  haben  einen  wunderbaren  Glauben  an  die  Allmacht 
staatlicher  Verwaltungstätigkeit  und  Gesetzgebung.  Als  ob  man  die 
Wohnsitten  eines  Volkes,  den  gesamten  Produktions-  und  Distributions- 
mechanismus einer  Gesellschaft  mit  ihnen  fundamental  umgestalten  könnte. 
Darauf  laufen  aber  die  Vorschläge  der  Stadtverjüngung,  der  gartenmäßigen 
Ansiedlung  usw.  hinaus.  Aufs  engste  mit  dieser  Überschätzung  verbindet 
sich  femer  bei  ihnen  das  Mißtrauen  gegen  die  selbstverwaltende  Demo- 
kratie. Solange  es  aber  nicht  gelingt,  deren  Kraft  in  Bewegung  zu  setzen, 
nachdem  man  ihr  die  heute  überall  versperrte  Bahn  frei  gemacht  hat, 
solange  nicht  das  Fühlen  und  das  Erkennen  des  Bedürfnisses  das  freie 
Handeln  der  Volksmassen  auslöst,  wird  auch  die  Wohnungsreform  sich 
in  dem  engen  Rahmen  erfolglos  abmühen,  in  den  sie  seit  Jahrzehnten 
gezwängt  ist. 


Lippen  tf  Co.  (G.  Päu'iche  DucMruekereii,  Naumburg  a.  S 


Rechts-  und  staatswissenschaftliche  Fakultät  Freiburg  i.  B. 


Preisausschreiben  der  Dr.  Rudolf  Schleiden-Stiftung. 

Die  rechts-  und  staatswissenschaftliche  Fakultät  Freiburg  i.  B. 
setzt  in  Gemäßheit  der  bei  ihr  bestehenden  Dr.  Rudolf  Schleiden- 
Stiftung  einen  Preis  von 

Eintausend  Mark 

für  die  beste  Arbeit  über  folgendes  Thema  fest: 

„Die  Zunftgeschichte  Freiburgs  i.  B." 

Genauere  Angaben  über  das  Thema  und  über  die  Bedingungen 
der  Preisbewerbung  können  von  dem  Sekretariat  der  Universität 
bezogen  werden. 

Freiburg  i.  B.,  den  i.  August  1904. 

Der  Dekan:  gez.  Rosin. 


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