Deutsche
geographische
Blätter
Geographische
Gesellschaft in
Bremen
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Deutsche
Herausgegeben von der
Geographischen Gesellschaft in Breues.
III. Hand.
Neue Folge der Mittheilungen des bisherigen Vereins für die
deutsche Nordpolarfahrt.
BREMEN.
Commissions-Verlag von G. A. v. Halem.
1880.
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Grössere Aufsätze: seit«
I. Die Lüneburger Heide. Von H. Steinvorth 1
II. Die deutsche Kolonie am Pozuzo (Peru 1 ) 24
in. Eine neue Fischereiunternehmung im nördlichen Eismeer 31
IV. Der Besuch der norwegischen Nordmeer-Expedition auf Jan Mayen
im So mmer 1 8 77 36
V. Mittheilungen aus dem Tagebuche des Dr. Chr. Rutenberg. Von
Dr. H. Neuling:
I. Südafrika 49
II. Mauritius 60
111. Madagaskar 113
VI. Sibirienfahrten 1878 und 1879 64
VH. Ueber eine Gradmessung in Ostgröiiland. Von Dr. C. Borgen ..... 99
VIII. Die Reste der Franklin-Expedition 160
IX. Polar-Expedition oder Polarforschung. Von Prof. Dr, Neumayer . . 168
Kleinere Mittheilungen:
1. Aus der Geographischen Gesellschaft in Bremen 40 105 183
2 . Die Meldung von der Ermordung Dr. Christian Rutenberg’s auf
Madagaskar 40
3. Eine Goldwäscherei im Gouvernement Jenisseisk 41
4. Seeverkehr zwischen Europa und Nordsibirien 44
5. Die Jnsel Quelpart 45
6. Aus den Vereinigten Staaten von Amerika 46
7. Literatur: Kieperts Lehrbuch der alten Geographie u. A 47
8. Seehandel mit Nordsibirien 107
51. Die Volkszahl des Bremischen Staates 107
1 ( >. Wasserwege in den Niederlanden 107
11. Die St. Gotthardbahn 197
12. Fremdenstatistik in China und Japan 108
13. Geographische Gesellschaft in Buenos- Aires 109
14. Valparaiso 109
15. Bevölkerung von Chile 110
16. Geographische Congresse 110
17. Die Seefischereien 110
18. Literatur: Marthe, Was bedeutet C. Ritter für die Geographie? 111
19. Franz Josephs Land wieder erreicht 183
20. Italienische Südpolar-Expedition 185
1. Die dritte Reise des .Willem Barents“ 185
2. Die Pacifie-Expedition des Dr. 0. Finscli 190
ICarte;
Der nördliche Thcil von Madagaskar, zur Uebersicht. von Dr. Chr. Ruten-
berg’s Reisen 1877 — 1878.
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Heft 1.
Jahrgang III.
Deutsche
Heriuisgegebcn von der
ßesgraptiicki Gesellschaft in Bremen.
Neue Folge der Mittheilungen des bisherigen Vereins für die
deutsche Nordpolarfahrt.
Erscheint in zwanglosen Heften.
BREMEN.
Commissions -Vorlag von ü. A. v. lialem.
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Preis 2 Mark.
Inhalt.
Seile
1. Die Lüneburger Haide, von H. Steinvorth 1
2. Die deutsche Colonie am Pozuzo (Peru) 24
3. Der Besuch der norwegischen Nordmeerexpedition auf Jan Mayen im
Sommer 1877. Mit 3 Holzschnitten 3t>
4. Kleinere Mittheilungen:
a. Aus der Geographischen Gesellschaft, in Bremen 40
b. Die Meldung von der Ermordung Dr. Christian Rutenbcrg’s auf
Madagaskar 40
c. Eine Goldwäscherei im Gouvernement Jenisseisk 41
d. Seeverkehr zwischen Europa und Nordsibirien 44
e. Die Insel Quelpart 4ä
f. Aus den Vereinigten Staaten von Amerika 40
g. Literatur. Kiepert’s Lehrbuch der alten Geographie etc 47
ln vorstehendem Inhalt ist der Aufsatz auf Seite 31 „Eine neue Fischen
Unternehmung im nördlichen Eismeer" aus Versehen weggelassen und wird hiern
nachträglich hinzugefügt.
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III. Jahrgang.
N* 1.
Deutsche
Geographische Blätter.
Herausgegeben von der
a Geographischen Gesellschaft in Bremen
*tn
unter Verantwortlichkeit ihres Vorsitzers A. G. Mösle.
Der Abdruck der Original- Aufsätze dieser Zeitschrift ist nur nach Verständigung
mit der Redaktion gestattet.
Die Lüneburger Haide.
Von H. Steinvortb.
Eine eigene und ganz anziehende Literatur Hesse sich über
diesen Gegenstand zusammenstellen, wie ich’s schon vor etwa
30 Jahren versucht habe. Damals war die Lüneburger Haide noch
fast ausschliesslich das Land der „traurigen Berühmtheit“; seitdem
hat sie manchen beredten Lobredner gefunden. Abgesehen von den
** Stücken unserer zahllosen Lesebücher für Volks- und höhere Schulen,
fo sich nicht selten eine Auslese ungeheuerlichster Seltsamkeiten
ind befremdlicher Unkenntniss breit macht, sowie der Unterhaltungs-
’ageblätter, in denen jeder seine Eindrücke einer flüchtigen Durch-
reise glaubt niederlegen zu dürfen, sind verschiedene werthvolle
Beiträge zur näheren Kenntniss der Haide Nord Westdeutschlands
erschienen, deren Verfasser aus eigener Anschauung und zum Theil
fleissiger und gewissenhafter Forschung geschöpft haben. Dass
gerade die Lüneburger Haide vorzugsweise Gegenstand öfterer Be-
sprechungen geworden ist, während sie sich doch nicht sehr wesent-
lich von den ähnlichen Landschaften Pommerns, Brandenburgs,
Niederschlesiens, Holsteins, Bremens, Oldenburgs, Westfalens und
anderen unterscheidet, mag darin mit begründet sein, dass die alten
berühmten Handelswege zwischen Hamburg, Bremen, Hannover,
Braunschweig und Magdeburg durch sie führen und dem Reisenden
den Gegensatz regsten Verkehrs und tiefer Einsamkeit zum Be-
wusstsein bringen. Zacharias Conrad von Uffenbach*) schreibt schon
1710 über seine Reise am 25. Januar: „Wir fuhren über die übel-
beschriene Lüneburger-Heyde. Ich hatte mir eingebildet, sie seye
*) Herrn Zacharias Conrad von Uffenbach's Merkwürdige Reisen durch
Niedersachsen, Holland und Engelland, I., 460.
Ueogr. Blätter, Bremen 1879. 1
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desswegen so beruffen, weil man so wenig Orte und Bequemlichkeit
darauf fände; allein der Weg an sich ist verzweifelt böse, und machen
die vielen Herzens- und Kopfstösse, so man bekommt, dass man ihrer
nicht leicht vergisst. Denn erstlich hat diese Heyde viele Hügel
und Unebenen. Zweytens ist sie sonderlich um diese Zeit des Jahres
und im Herbste Gruudlooss und dannanhero lauter tieffe Gleisseu.
Drittens macht auch das Wilde und Unkraut, so darauf wüchset und
harte Wurzeln hat, dass es sehr ungleich und verdriesslich darauf
zu fahren ist.“ Seltsam, dass dem Manne die Lüneburger Haide
zwischen Uelzen und Lüneburg, gerade da liegt, wo am wenigsten
von der Haide zu sehen ist. Der Fehler ist, wie man sieht, schon
alt, unter jenem Namen eine Haide um die Stadt Lüneburg zu ver-
stehen, während die Haide des alten Fürstenthums gemeint und
auf den Landkarten auch gewöhnlich in die Gegend zwischen Celle,
Soltau und Harburg verlegt ist. Georg II. von England bezeichnete
das Fürstenthum Lüneburg, das alte mit besonderer Vorliebe von ihm
geschätzte Stammland seines Geschlechtes, „ein haidmanchesteru
Wams mit goldenem Saum“, auf das bescheidene, selbstgefertigte
Gewebe des wohlhäbigen Haidbauern und die reichen Marschen von
Elbe und Aller sinnreich anspielend. Indem ich die Marschen von
meiner diesmaligen Betrachtung ganz ausschliesse, bemerke ich, das;
auch das südlich der Aller und das östlich der Ilmenau gelegene
Gebiet nicht in die Grenzen der „Lüneburger Haide im engeren
Sinne“ fällt. Der so übrigbleibende Theil bildet dann allerdings ein
ziemlich abgeschlossenes Ganzes, in dem Land und Leute wesentlich
denselben Charakter tragen. Das Land zwischen Elbe, Ilmenau uud
Jeetzel ist mergel- und hügelreicher Boden, dessen Bevölkerung zum
Theil wendischer Abkunft ist, während in die Elbmarsch sich frie-
sische Anbauer eingedrängt haben. Im Westen bilden die Breineu-
Verden’schen Gebiete die Grenzen und zeigen einen kaum merklichen
Uebergang.
Der gegenwärtige Bezirk der Landdrostei Lüneburg umfasst
neben dem alten Fürstenthum gleichen Namens noch einige kleine
Theile des ehemaligen Herzogthums Sachsen-Lauenburg, des Verden-
schen und Kalenbergisclien mit einem Flächenraum von 211,io Quadrat-
meilen, 52 243 Wohngebäuden uud 38G714 Einwohnern. Er ist in
21 Aemter und die 7 Kreise Celle, Gifhorn, Fallingbostel, Uelzen.
Dannenberg, Lüneburg und Harburg getheilt; 9 selbständige Städte
bilden die natürlichen Knotenpunkte des Verkehrs.
Der uralisch-baltische Höhenzug, die Parallelreihe der nord-
deutschen Gebirgskette, an deren Fuss sich einst die „Diluvialmarsch"
bildete, stellt in ihren westlichen Ausläufern den mehrfach verzweig
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ten Hügelrücken dar, der die Wasserscheide des Elb- und Weser-
gebietes bildet. Der Wilseder llerg, 585 Fuss hoch, eine allmälig
sich aus der Ebene erbebende weite Wölbung, die kaum den Namen
eines Berges gestattet, ist der höchste Punct des ganzen Gebietes,
das aus naher Umgebung seine Gewässer durch Seve, Este, Aue und
Luhe der Elbe, sowie durch die Böhme der Aller, durch die Wümme
der Weser zusendet. Etwas südlicher entspringt die Oertze und
fliesst parallel mit der Böhme der Aller zu, während ostwärts die
Gerdau sich der Ilmenau zuwendet. Zwischen Böhme und Oertze
erhebt sich ein südlicher Ausläufer im Ealkenberge bis 516 Fuss
Höhe. Ein dritter Hühencomplex ist zwischen dem Jeetzel- und
Ilmenau-Thale, der im Holxerberge bei Suderburg 446 Fuss und bei
Ilohenmechtin nahe der Göhrde 500 Fuss erreicht.*)
Durch die Bahnlinie Hannover-Celle-Lüneburg-Hamburg wird
jener Haupt-Haiderücken durchschnitten; sie fällt von der Station
Unterlüss (360,6 Fuss) nach beiden Richtungen ab, hat bei Celle noch
135,2 Fuss, bei Uelzen 144, s Fuss, bei Lüneburg 59,7 Fuss und bei
Harburg nur noch 21,2 Fuss Höhe. Im Allgemeinen wird die Dar-
stellung als zutreffend anzusehen sein, welche das Elb gebiet als
eine von langgestreckten Höhenzügen wellenförmig durchzogene Hoch-
ebene bezeichnet, auf welcher ansehnliche Laubwaldungen, namentlich
prächtiger Buchenhochwald, saftige Wiesengründe, freundliche Dörfer
und Gehöfte unter dunklen Eichen und umgeben von Kornfeldern
mannigfach wechseln mit trockenen Flächen, auf welchen gedehnte
Föhrenpflanzungen nebst der gewöhnlichen Haide, mehrere Ginster-
und Kleearten, sowie feine Süssgräser die wesentlichste Pflanzendecke
ausmachen. Weite Aussichten, ringsum von waldreichen Höhen be-
grenzt, lassen uns völlig vergessen, dass wir in der norddeutschen
Tiefebene sind; lauschige Aus- und Durchblicke bähen in neuerer
Zeit dem Maler vielfach Stoff’ zu Studien und künstlerischen Arbeiten
geliefert und der Haide auch in weiteren Kreisen manchen stillen
Freund gewonnen. Mergelreiches Diluvialland bildet den Boden,
der rasch der Elbe zu abfällt und von Hitzacker bis Bleckede die
diesseitigen Elbufer mit ähnlichen buschigen Abhängen umgiebt, wie
sie die jenseitigen bei Lauenburg und unterhalb Hamburg mehrfach
zeigen. Im Gegensatz dazu bildet das Allergebiet mit den Neben-
flüssen Altealler, Ise, Lachte, Oertze und Böhme ausgedehnte Ebenen
kalkarmen, wasserreichen Alluvialbodens, auf dem landschaft-
liche Gestaltung und Pflanzendecke wenig Wechsel bieten. Hier
herrscht das Nadelholz, früher vorwaltend die Fichte, jetzt nur noch
*) Die Höhenangaben in hannoverschen Fnssen nach der Papen’schen
Karte; bei Guthe sind pariser Fuss gemeint.
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an den nassen Lagen neben der Föhre den Hauptbestand bildend,
während diese die sandigen Höhen in Folge neuerer Forstkulturen
besetzt hält. Der Wachholder hat sich hier in alten knorrigen j
Stämmen erhalten, die selbst zu Bauholz ausnahmsweise verwendet |
werden, häufiger allerdings in der malerischen Pyramidenform, die
bald breitkuppig, bald cypressenartig spitz sich zudacht. Zwischen
ihnen hebt sich auf der braunen Haide in niedrigem, lebhaft grünem
Buschwerke, namentlich im Falkenbergs-Reviere, die Krähenbeere
(Empetrum nigrum) ab, die auch als „Brockenmyrte“ bekannt ist
und hier an feuchten Stellen zu äusserst zierlichen, langen und
fadendünnen Zweiglein auswächst. Auf dem dürren Grunde des
Föhrenwaldes, am Saume der Wege und Brandruthen, bedeckt die
Kronsbeere mit ihren niedrigen, wenig verästelten Stengeln, ihrem
lederartigen, dunkelgrünen Laube und den traubig wachsenden ziegel-
rothen Früchten den Boden, meist neben reifenden und grünen Beeren
im Hochsommer auch Blüthen tragend, die noch eine zweite Ernte
zu bringen pflegen, oft nicht minder ergiebig als die erste. Hier
und da wird sie durch die sehr ähnliche Bärentraube (Arctostaphylos
uva ursi L.) vertreten, deren lederartige Blätter länglicher und unter-
seits aderig, nicht wie bei der Kronsbeere punctirt sind, und deren
grössere, aber fade Früchte in beerenarmen Jahren wohl unter die
Kronsbeeren gemischt werden. Es ist bemerkenswerth, dass Krons-
beere, Bärentraube und Kräheubeere nur sehr zerstreut im Elb-
gebiete sich finden, erstere namentlich nirgend in solcher Menge,
dass sie nutzbar würde, ja, dass sie an den Stellen, wo sie plötzlich
erscheint, ohne dass man einen Grund dafür anzugeben weiss, eben
so schnell wieder verschwindet. Statt ihrer ist überall auf dem
Nordabhange die Bick- oder Heidelbeere (Vaccinium Myrtillus) massen-
haft verbreitet. Auf beiden Seiten tritt auf sumpfigem Moorboden
die Rauschbeere (Vaccinium uliginosum L.), in manchen Gegenden
bezeichnend „Dunbeere“ genannt, neben der Myrica Gale L. (Gagel,
hier allgemein „Porst“) in grosser Menge auf. Ebenso sind beide
Haidearten, Calluna vulgaris und Erica tetralix, der ganzen Provinz
gemeinsam, diese aber, als die sumpfliebende, mehr im Aller-, jene,
den trockenen Boden vorziehend, im Elbgebiete vorherrschend, und
neben dieser siedeln sich massenhaft „Sauergräser“ (Cyperaceen,
Riedgräser) an, während jene von dürren Gramineen begleitet wird.
Ueberall ist der schroffe Gegensatz auffallend vom saftigen
Wiesengruud neben unfruchtbarem Sandboden, von reichen Bruch-
forsten neben einförmigen mit vereinsamten Krüppelföhren bestan-
denen Torfmooren, von gedehnten Haidflächen und magerem Weide-
grunde neben überraschend guten Kornfeldern, von graugrünen, oft
o
mit „lichtbedürftigen“ Birkenreihen umsäumten Föhrenwäldern, deren
Boden von harzigen Nadeln dicht bedeckt oder bei jungem Bestände
von üppiger Haide hoch bewachsen ist, neben den stolzen dicht-
laubigen Buchen Waldungen, unter denen „das rothe Laub zu unsern
Füssen rauscht“, oder auch der fröhliche Waldmeister eine grüne
Decke ausbreitet. Die Buchenwälder, die z. B. um Uelzen, Bevensen,
Lüneburg, Harburg und Ebstorf grosse Bestände von kaum über-
troffener Schönheit bilden, lieben vorzugsweise die Höhen, an deren
Abhänge auch die besseren Ortschaften mit ihren Kleiäckern gelagert
sind. Sandblössen sind nirgend von nennenswerthem Umfange ; west-
lich von Lüneburg findet sich ziemlich vereinzelt die „Dachtmissener
Wüste“, eine Reihe diluvialer Dünen, die als charakteristisches Merk-
mal das Sandrohr (Ammophila arenaria Lk.) tragen, wie es sich
sonst auch hin und wieder im Elbgebiete auf Flugsand findet. Mir
ist aufgefallen, dass die „Sandschellen“ in der Biekelsteiner Haide
bei Ehra nicht jene Pflanze, sondern ausschliesslich Juncus conglo-
meratus zur Befestigung haben. Ebenso fehlen Seeu, da die teich-
artigen Wasserbecken bei Bodenteich, Celle und Ehra diese Namen
nicht beanspruchen können.
Das Innere des Bodens weist überall ehemaligen Meeresboden
nach, einst vom Diluvialmeere bedeckt, das mit Triimmergesteiu
l>eladene Eisschollen bis zu den anstehenden Gesteinen der nord-
deutschen Gebirge flösste. An den Flussufern und in der Aller-
niederung sind die diluvialen Gesteine von jüngeren Anschwemmungen
und Dammerde überlagert; nur an wenigen Stellen ragen ältere
Bildungen inselartig hervor oder sind doch aufgeschlossen. Bei
Lüneburg erhebt sich der „Kalkberg“, ein der Trias ungehöriger
Gypsstock, fast 200 Fuss hoch, und um ihn sind andere Glieder der-
selben Formation, sowie Kreide und Miocän zu Tage tretend. Die
gewaltige Diluvialdecke, welche mehrfach bei 300 Fuss Tiefe noch
nicht durchbrochen ist, scheint überall drei Schichten erkennen zu
lassen: Sand mit rothen Feldspatstückchen, Thonmergel mit Geröll
und Sandthon ohne Geröll. Die grossen Geschiebeblöcke krystallini-
scher Gesteine haben die nordische Heimath zuerst bestimmter er-
kennen lassen. Obwohl man den schätzbaren Baustoff seit ältester
Zeit zu Grundgemäuer und Kyklopenwällen überall angewandt hat
und namentlich in neuerer Zeit den grösseren Blöcken sehr nach-
gestellt ist, so sind sie doch im Elbgebiete noch heute nicht selten;
zwischen Ilmenau und Jeetzel werden bei dem Umbruch der Haide
zu Ackerland die köpf- bis himptengrossen Rollsteine zu hunderten
von Fudern auf wenigen Morgen zusammengetragen und zum Strassen-
bau verkauft. Von einer strahlförmigen Lagerung, welche man
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früher beachtet zu haben glaubt, ist jetzt nirgend etwas zu sehen.
Im Allergebiete sind sie sehr sparsam; zwei ansehnliche Beispiele
solcher zu „Hünengräbern“ benutzten „Irr- oder Wanderblöcke“
finden sich in eiusamer Haide zwischen Fallingbostel und Bergen
unter dem Namen „die sieben Steinhäuser“ und in der weiten Fläche
zwischen dem Malloh und Ehra in den „Bickelsteinen“, nach (lenen
sie „Bickelsteiner Haide“ heisst. Das Gestein, welches äusserlicb
grosse Mannigfaltigkeit zeigt, schliesst nicht selten Mineralien ein,
die dem Sammler von Interesse sind, wie Granaten, Epidot, Tur-
malin, Magneteisen u. a. Neben jenem Granit und Gneiss findet
sich Quarz, Syenit, Diorit, Hornblende, Porphyr (ganz wie ihn Guthe
in Elfdalen zu Kunstwerken verschieden sah), Basalt und Sandsteiu.
Fast allgemein ist der Feuerstein, nicht ungewöhnlich über kopf-
gross, in den sonderbarsten Gestalten, der mannigfachsten Farbe
vom Weiss zum Schwarz und lebhaftem Roth, sehr verschiedenem
Gefüge auftretend und wohl ausnahmslos organische Reste ein-
schliessend. Dies Gestein würde Stoff zu einer anziehenden Mono-
graphie liefern. — In der obersten Bodenrinde verdienen bei ihrer
grossen Verbreitung der Ortstein und das Raseneisen (Limonit)
einer Erwähnung. Jener ein durch Eisenoxydhydrat verkittetes
Sandkonglomerat, das unter einer Schicht grauen eisenfreien Sandes
(„Bleisand“) durch Einwirkung der Haidepflanzen sich um die Wur-
zeln derselben gebildet hat und für tiefer hinabsteigende Pflanzen
ein fast unüberwindliches Hinderniss ist; neuere Wald- und Acker-
kulturen haben gezeigt, dass er, an die Luft gebracht, schnell zer-
fällt und eine Krume giebt, in der namentlich Führen üppig gedeihen.
An Stellen, wo eisenhaltige Wasser lange stehen bleiben, schlägt sich
aus demselben ebenfalls unter dem Einflüsse von Sauergräsern ein
phosphor- und schwefelreiches Gemenge von Eisen, Sand und Thon
ab, das als „Raseneisen“, „Sumpferz“, „Limonit“ in neuerer Zeit
die Anlage eines grösseren Eisenwerks in Lüneburg hervorrief, aber
die Hoffnungen nicht gerechtfertigt hat, welche man kurze Zeit auf
dieses „Gold der Lüneburger Haide“ gesetzt hatte. Zahlreiche
„Waldschmiede“ sollen bereits im 13. Jahrhundert zwischen Hanno-
ver und Celle aus diesem Stoffe Eisen gewonnen haben, das als
„hannoversches Eisen“ in der ältesten Hamburger Zollrolle erwähnt
wird.*) Auch im Amte Oldenstadt finden sich mehrfach Oertlich-
keiten, wo neben natürlichem Raseneisen Gebilde liegen, die dem
Schmelzherde zu entstammen scheinen. Vor etwa 25 Jahren schätzte
man die für Torfgewinnung bearbeitete Fläche auf 50,000 Morgen:
*) Guthe: Die Lande Braunschweig und Hannover, S. 48-
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7
um Gifhorn ist dieselbe in neuester Zeit in grossem Betriebe. Um
Melbeck und Heiligenthal, unweit Lüneburg, hat man, wie das auch
aus der Umgegend von Celle, aus Mecklenburg, Ostfriesland und
dem Bremeu'schen bekannt ist, grosse Mengen Holz aus den Torf-
lagern hervorgegraben. Ja, die in Mannshöhe abgebrochenen Stämme
vom Nadelholz, 1 — 2 Fuss im Durchmesser haltend, standen aufrecht
zahlreich neben einander, 5, 10 — 15 Fuss hoch, von moosigem Torfe
überwachsen und mit liegenden Bruchstücken eines vom Sturm ge-
knickten Waldes umgeben. So habe ich es selbst vor etwa 20 Jahren
bei Heiligenthal gesehen, und Aehnliches wird aus früherer Zeit von
dem Melbecker Moore erzählt. Etwa 5 Fuss unter der Oberfläche
liess damals der Forstsekretär Foertsch an einer Stelle im Rad-
bruclier Forst eine Anzahl grosser Holzscheite von Eichen und Hain-
buchen herausgraben, die an Reste ehemaliger Brände erinnern
konnten. Noch in diesem Jahre haben mich die zahlreichen grossen
Haufen Holzes überrascht, welche auf dem Moore neben dem See
bei Ehra herausgefördert waren. Dort scheint eine allmälige Trocken-
legung vor sich zu gehen; dagegen macht die Gegend bei Ehlers-
hausen, unweit Celle, mit den vereinzelten kümmerlichen Föhren auf
schwammigem Moorboden den Eindruck, als ob man’s mit einer
stetig fortschreitenden Versumpfung eines sinkenden Grundes zu
thun hätte. — Der Wieseukalk findet sich in geringer Tiefe meist
von einer freudig und saftig grünen Decke von Süssgräsern über-
wachsen. Ich weiss nicht, ob die Angabe auf genügend sicherer
Beobachtung beruht, dass die Characeen, „ Armleuchter-Gewächse“,
die Fähigkeit haben, aus dem Wasser Kalk abzuscheiden, sich damit
zu bedecken und so die Bildung jener dtinneu Lagen zu veranlassen.
Ich selbst bin geneigt zu glauben, dass die Bildung des Kalkes dem
Gehäuse von Weichthieren entstammt und dass dann die Characeen,
welche um Lüneburg an kalkhaltigen Stellen mit Vorliebe wachsen,
sich da ansiedelu. In einem Teiche bei Düvelsbrook fand ich nach
der Trockenlegung 8 — 10 Zoll dicke Bänke der Auadonta cygnea,
an anderen Stellen kleine abgestorbene Paludiueu, die nothweudig
solche Kalklagen bilden müssen, welche wir Wiesenkalk nennen. —
1836 wurde bei Ober-Ohe an der kleinen Sothrieth, einem Bache,
welcher bei Müden der Oertze zuschleicht, ein Lager feiner Staub-
massen entdeckt, die man anfangs für Mergel gehalten hatte und
nun auf Porzellanerde untersuchte. Es fand sich, dass es die Kiesel-
panzer mikroskopischer Diatomeen waren, deren Ehrenberg 32 Arten
unterschied und als Infusorien aus dem „Tripel von Ober-Ohe“ be-
schrieb. Seitdem ist dafür der Name „Infusorienerde“ üblich und
auch dem Volke bekannt geworden. Das Lager ist nach späteren
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Ermittelungen 450 Ruthen lang, 200 Ruthen breit und stellenweise
bei 40 Fuss Tiefe noch nicht durchbohrt. Seitdem hat sich diese
Süsswasserbildung überall im LUneburg’schen verbreitet gefunden
und wird namentlich auch bei Hützel im Luhethale erfolgreich aus-
gebeutet. Die bedeutendste Verwendung scheint die zur Herstellung
des Dynamits zu sein, welche zuerst vom Kammerkommissär Kirchner
empfohlen ist. Die für den Ackerbau wegen ihres Gehaltes an
phosphorsaurem Kalke bedeutsamen und zu einiger Berühmtheit
gelangten Mergel von Westerweihe und Meltziugen zwischen Uelzen
und Ebstorf gehören der Tertiärbildung an, wie die vom naturwissen-
schaftlichen Museum aufbewahrten Kiefer- und Zahnreste eines
Rhinoceros Schleiermacheri und Anderes beweisen. Dazu gehören
auch die dunklen Thone von Walle unweit Winsen an der Aller
und die jüngeren Lager von Honerdingen bei Walsrode, welche
letzteren gegenwärtig durch eine Dampfmaschine gefordert werden.
Aus diesen bewahrt die bezeichuete Sammlung hübsche Knochen-
reste von Säugethieren, aus jenen die den bei Lüneburg im miocänen
Thon sehr ähnlichen Ueberreste von Meerthieren, wie Haifischzähue,
Cetaceenwirbel und Schalthiere. Bauwürdige Braunkohle ist nirgend
erbohrt. Die Umgegend von Lüneburg mit ihren Gypsstöekeu, dem
Dolomit und der Lettenkohle, sowie den hübschen Aufschlüssen der
versteinerungsreichen Kreideschichten und Tertiärbildungen ist eine
engumrahmte geognostische Musterkarte von hohem wissenschaft-
lichen Interesse. Unter den hübschen Einschlüssen des Gypses sind
die bis jetzt auf Lüneburg, Segeberg und Stassfurt beschränkten
Boraciten hier von unübertroffener Grösse und Mannigfaltigkeit
der Krystallform. — Endlich ist noch auf das Vorkommen von
Erdöl hinzuweisen, das schon in ältester Zeit bekannt und von
Taube*) nach Vorkommen und Benutzung beschrieben ist. Die
Fundorte Edemissen, Edesse, Hänigsen und Wietze liegen auf einer
geraden Linie des linken Allerufers. Die 1875 bei Steinförde, dicht
neben Wietze belegen, unternommenen Bohrungen ergaben bei
67 Fuss Braunkohle von 1 Fuss Mächtigkeit, bei 101 Fuss Thon mit
Turritella und Pectunculus, bei 267 Fuss ein 933 Fuss mächtiges
Steinsalzlager in schönen wasserhellen Stücken.**) Das Vorkommen
des Petroleums bei Soltau ist mir etwas zweifelhaft nach dem, was
ich am Orte selbst beobachten und erkunden konnte. Ausser „der
unverwüstlichen Königin des Nordens“, der schon 956 urkundlich
erwähnten Saline bei Lüneburg, wahrscheinlich ein uralter Erbbesitz
*) Beiträge zur Naturkunde des Herzogthums Zelle und Lüneburg 1766 — 69.
S. 28, 29, 259.
**) Jahreshefte des naturwissenschaftlichen Vereins für Lüneburg. VII. 53.
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9
der hier heimischen Ludolfinger, treten schwächere Salzquellen im
Fürstenthum vielfach auf.*)
Die natürliche Flora zählt etwa 1000 Phanerogamen für das
ganze Fürstenthum auf, also ungefähr i !i aller deutschen, die Hälfte
aller nord- und mitteldeutschen Species. An Gefässkryptogamen sind
27 Arten aufgefunden; Nöldeke’s „Flora Cellensis“ weist 161 Laub-
moose, 41 Lebermoose und 110 Flechten nach. Algen und Pilze
sind noch nicht genügend erforscht. Auf losem Sande, der nur zer-
streut auf engen Bezirken vorkommt, ist allgemein die Sandsegge
(Carex arenaria) und die graue Schmiele (Corvnephorus P. B.), ver-
einzelt wohl der Brahm (Spartium scoparium) und auf dünenartigen
Erhöhungen des Elbgebietes das Sandrohr (Ammophila arenaria) zur
Befestigung thiitig. Den Charakter der Haidelandschaft bestimmt
vor allem die Haide, auf trocknen Lagen Calluna vulgaris, auf
feuchten Erica tetralix, weite Strecken dicht mit einförmigem Grün-
braun überziehend, aber im Hoch- und Spätsommer mit zartrotheu
Döldchen und zierlichen Blüthentrauben geschmückt. Im Elbgebiete
gesellen sich zu ihnen anfaugs der englische, später der haarige
Ginster mit sattgelben Blütheu, gruppenweise das „Haidröschen“
(Gnaphalium dioicum) und die goldige Immortelle (Helichrysum
arenarium), die aschfarbige Filago minima und neben gelbblühendeu
Kleearten und dem Quendel (Thymus serpyllum) der graue „Mause-
klee“ (Trifolium arvense). Trockne Schwingel (Festuca ovina), das
starre Borstengras (Nardus stricta), der Wiudhalm (Agrostis vulgaris)
und der Zwerghafer (Avena praecox) sind die gewöhnlichsten Gräser;
die unterste Decke bilden Laubmoose (Polytrichum, Racoinitrium),
das Renthiermoos, stellenweise andere Cladonien, unter ihnen das
„Koralleumoos“ (Cladonia coccifera) und endlich in der Gestalt weiss-
licher Flecke mit blassrothen Fruchtknöpfchen auf schwarzer Erde
die Rosenflechte (Baeomyces roseus, Pers.). Im Allergebiete treten
vor anderen die Vaccinieen auf: Kronsbeere, Bärentraube, stellen-
weise auch die von Meister Linne poetisch gezeichnete Andromeda
polifolia mit ihren rosigen Glöckchen. Föhre, Birke und Wachhol-
der sind die Bäume der Haide. — Torfbildende Moose (Sphagnum-
Hypnum- Arten) wuchern auf nassem Moorboden rasch empor, hier
wölbige Polster, dort zitternde Decken bildend; harte Riedgräser,
das Wollgras uud glatte Binsen, Aira caespitosa und Molinia wachsen
auf und mit ihnen ; ferner die Insekten fangenden Sonnenthau- Arten
(Drosera) uud niedrige Kriechweiden, oft und namentlich in aus-
gegrabenen Torfgruben die üppige Cineraria palustris, bald mit
*) Steinvorth : Zur wissenschaftlichen Bodenkunde des Fürstenthums Lüne-
burg. S. 34.
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10 —
ihreu grossen gelben Kronen, bald mit ihren weissen Haarkelchen
alles überbietend; neben Strauchweideu, unter denen die Salix peu-
tandra mit ihren glänzenden pergamentartigen Blättern, wachsen
dichte Truppe von Myrica Gale, die in unserem Fürsteutlium ihre
Südgrenze hat. Auf kalkgründigem Bruchboden herrscht die
gemeine Erle; zu ihreu Füssen sind weiche „Bulte 4 von Mnium-
moosen, Oxalis acetosella und Circaea alpina, in Gesellschaft von
dem formeureichen Brombeerstrauche (Rubus fruticosus L.). — Kleine
Bäche und Gerinnsel werden oft mit dem Bachkraute (Berula
angustifolia), mit dichtem Rasen von Wasserstern-Arten (Callitricbe)
und der Montia fontana, seltener, dem kleinen Epheu-Ranuukel
(Rauuuculus hederaceus) überdeckt, so dass man sie fast nur rieseln
hört, nicht sieht. In den Flüssen, die meistens in massiger, oft
träge schleichender Bewegung sich fortwinden und sich mit einem
mehr oder minder breiten Wiesenteppich umsäumen, fluthen lang-
gestreckte Ranunkeln und Laichkräuter (Rauunculus fluitaus, das
„Nixenhaar“, Potamogeton fluitaus, lucens, perfoliatus, crispus.
pectinatus); au den Ufern gedeihen üppig Kalmus, die gelbe Iris,
die stattliche Glyceria spectabilis und das Schilfrohr Phragmites
communis, hier und da die langhalsige Sehwanenblume (Butomus
umbellatus) mit ihren blassrothen grossen Blüthendolden und die
von Saftfülle strotzende Archangelica officinalis, die verschlagene
Alpenbewohnerin. Auf stehenden Gewässern oder an ruhigen
Stellen der Flüsse breiten Wasserranunkeln ihre weisse Blütheudecke
aus, schwimmen behaglich die gelbe und die stolze weisse Wasser-
rose, das seltnere Limnanthemum nymplioides, mit ihnen oft dicht
gedrängt Potamogeton natans und rufescens Schrei., während andere
Laichkräuter mit grasartigen durchsichtigen Blättem untergetauclit
die Wellenbewegung des Flusses mitmachen, aber seit einem Jahr-
zehend von der zierlichen und massenhaft sich ausbreitendeu „Wasser-
pest“ (Elodea canadeusis) vielfach beengt und verdrängt. Steif und
kerzengrade ragen die Rohrkolben (Typha) und sanft geneigt die
Seebinse (Scirpus lacustris) weit über dem Spiegel hervor, und das
Mannagras (Glyceria fiuitans) breitet seine langen Blätter wie zu
einem gradlinigen Netze auf der ruhigen Wasserfläche aus. W'eiss-
rüthliche Hottonien füllen die Wiesengräben, schlammige Wasser-
linsen bedecken die Teiche, auf seeartigen Becken erscheint fast als
ein verirrter Fremdling die Lobelia Dortmauna. — Den schweren
M arschboden an Elbe, Aller und Leine hat man auf 200,000 Mor-
gen geschätzt ; er wird vorwaltend zu Wiesen und Weiden verwandt.
Im Innern hat der einsichtige Fleiss der weit bekannten „Wiesen-
bauer“ es verstanden, unter Benutzung jedes Bächleins dürre Sand-
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flachen und wüsten Bruchboden in einträgliche „Riesel wiesen“ um-
zuwandeln, die zu der braunen Umgebung der Haide, sowie zu dem
grauen Föhrenwalde und der dunklen Erlenbelaubung einen wolil-
thuenden Gegensatz bilden. Die gewöhnlichen Wiesengräser sind
auf besserem Boden Alopecurus pratensis, Phleum pratense, Poa pra-
tensis, Festuca elatior, auf magerem Grunde IIolcus lanatus, Festuca
rubra, Bromus mollis, denen sich die charakteristischen Kräuter Caltha
palustris, Cardamine pratensis, Orchis latifolia, Rhinanthus major und
minor anschliessen. Auf versumpftem Boden herrschen die Cyperaceen,
unter denen sich vor allen Eriophorum angustifolium, nur selten
E. latifolium, mit seinen weissen seidenartigen Fruchtfäden hervor-
hebt. Die bunte Mannigfaltigkeit, welche auf kalkreicherem Boden
die Wiesen durch Dolden-, Schmetterlingsblüthler und Lippenblumen
auszeichnet, fehlt durchweg. Gegen Wald, Haide, Fluss und Moor
sind die Wiesen meistens durch Weiden- und Erlengebüsch begrenzt,
an den Flussufern besonders durch die lebhafte grüne Mandelweide
mit hellgelben fein geschlängelten Blütheukätzchen, — auf trock-
nerem Boden durch Salbeiweiden mit hellgrauen seidenhaarigen
Kätzchen, Salix Caprea, aurita, cinerea, — selten durch die buschige
Abart der Kriechweide, welche als S. areuaria bekannt ist, und nach
meiner Ansicht Artrecht verdient. —
Ehe ich zu der Besprechung des Waldes übergehe, bemerke
ich, dass die obige allgemeine Schilderung hier und da noch einen
besonderen Zug des Bildes erfahren müsste. Ich muss hier aber
darauf verzichten und hebe hervor, dass als anziehende kleinere
Florengebiete die Elbufer, Lüneburg, das Wendland an der Jeetzel,
das Kleigebiet um Bevensen-Uelzen, der Hasenwinkel (und Ehra) im
äussersten Südosten, sowie die Puncte der Südgrenze mit hervor-
treteuder Kreide (Ilten, Bisseudorf) zu bezeichnen sind, muss übri-
gens auf die specielleren Darstellungen dieser Art verweisen.*)
Von den 4,432,688 Morgen (1 hannov. Morgen = 0,*«* Hektaren )
des Fürstentliums waren 1851 noch unkulturbare Flächen, einschliess-
lich der Moore und Weiden, 2,338,671 Morgen. Nach einer Angabe
von 1852 wurden benutzt als Forsten 665,270 Morgen. Die für die
Besteuerung 1872 erhobene Uebersicht ergab 58,3 °/o kultivirten
Bodens, für den Waldbestand der Landdrostei Lüneburg 18,6 °/o zur
gesammten Landesfläche, während die Provinz Hannover 15, s °/o, die
Monarchie Preussen 26°/o hat. Der Flächeninhalt des Landdrostei-
*) Steinvorth : Phanerogamcnflora des Fürstenthums Lüneburg. 1849. —
Ders. : Zur wissenschaftlichen Bodenkunde des Fürstenthums Lüneburg. 1864. —
Nöldeke: Flora Cellensis. 1871. — Jahreshefte des naturw. Vereins für Lüne-
burg. 1865—1878.
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bezirks ist auf 1, 151,482 Hektaren angegeben; davon kamen (1872) |
auf Holzungen überhaupt 214,162, auf die fiskalischen Forsten 76,299.
auf Klosterforsten 5,366, auf Landgemeiudeforsten 28,581, auf Stadt-
forsten 1,443, auf Institutsforsten 1,003, auf Privatforsten 101,473
und auf Weiden 403,329 Hektaren. 1875 betrugen die fiskalischen
Forsten 76,954 Hektaren, die der Oberförsterei Lüneburg allein
augenblicklich 2534,847, und die derjenigen des Klosters St. Michaelis
877,160 Hektaren. Aus diesen Zahlen geht schon zur Genüge hervor,
dass die Vorstellung von der Lüneburger Haide als einer „baum-
losen“ Einöde ebenso unrichtig ist, wie die, dass sie eine eintönige. ;
endlos sich dehnende Ebene sei. Man wird nicht leicht eine Stelle !
finden, wo nicht der Horizont durch Hügel und Wald begrenzt, der
Blick vielfach durch Baumschlag und Busch unterbrochen wäre.
Wenn zum Begriffe der Steppe Baumlosigkeit gehört,*) so sind die
gedehntesten Haidbezirke des Lüneburgischen nicht dazu zu zählen:
die Herrschaft weniger Pflanzenformen, in welche Humboldt da>
Wesen der Steppe setzt, ist allerdings stellenweise bestimmt aus-
geprägt. Hält man aber daneben, dass die Nachbargebiete von
Bremen, Verden und Osnabrück eine Waldquote von 4 °/o, von Ost-
friesland gar nur 1 */* °/o hat, so leuchtet ein, wie wenig es berechtigt
gewesen ist, gerade die Lüneburger Haide zum Typus waldarmer
Eintönigkeit zu machen. Ja, selbst die Nachbarprovinz Branden-
burg, in der man die sorgsame Ausnutzung des dürftigen Bodens zu
Wald willig anerkennen muss, kann sich nicht im entferntesten mit
ihrem Walde neben Lüneburg stellen. Auch Forstmänner, deren
Erfahrung und Urtheil nicht nur im engeren Vaterlande geschult
ist, sind willige Lobredner unserer Buchenwälder und fast noch mehr
unserer Bruchforsten geworden. Das stolze Lied: „Wer hat dich,
du schöner Wald, aufgebaut?“ könnte keinem märkischen, wohl aber
einem Walde der Lüneburger Haide seine Eingebung verdanken.
Es scheint erwiesen, dass früher der Waldbestand ein viel grösserer
gewesen ist; noch zur Zeit der französischen Besetzung ist darin
vielfach schonungslos aufgeräumt. Dagegen ist der „Aufforstung“
der Haide in neuerer Zeit viel Fleiss von der Regierung zugewandt.
„Mehr als eine Million Thaler“, berichtet der gegenwärtige Leiter
der Forstverwaltung, „ist in die Aufforstung der Haiden gesteckt- i
nicht zu gedenken der bedeutenden Kapitalien, welche für den Grund- I
ankauf solcher Objecte gezahlt sind.“ Von 1849 — 62 sind 136,734 Mor-
gen neu in Anbau genommen, seit 1851 ist der Forstgrund von
22V* DMl. auf 31,665 QM!, gestiegen. 1867 ist das Rittergut
*) Peschei. Probleme u. s. w.
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— 13 —
Niebeck bei Suderburg für die königliche Klosterkammer mit einer
Kaufsumme von 6b, (XX) Thalcr erworben und in ein reines Waldgut
umgewandelt, das mit Einschlus der späteren Vermehrungen gegen
8000 Morgen oder 2096, s Hektaren umfasst. Der dortige Forst-
garten , welcher alle für unsere Gegend bewährte und noch zu
erprobende Holzarten nicht nur für den eigenen Bedarf, sondern
auch zum Handel zieht, ist ein wahres Waldidyll in tiefer Haid-
einsamkeit. Eben jetzt ist wieder das einsame Gehöft Einhof in der
„Langen Haide“, zwei Stunden von Lüneburg, für 42,000 Thaler
von der Klosterkammer zu Waldanlagen erworben. „Wo einst
Schafe sich dürftig nährten, da sieht man jetzt Waldarbeiter, Fuhr-
leute, Holzhändler und Schiffer verkehren“, berichtet Burckhardt’s
„Aus dem Walde“ und setzt hinzu: „die Kasse macht ein gutes
Geschäft dabei.“ Wenn sich uas schon jetzt zeigt, so wird man sich
zwiefach der erfolgreichen Bestiebungen der Forstverwaltuug freuen
können. Der reiche Beerenertrag, welcher unter dem Schutze des
Waldes gedeiht, ist wiederholt nach bestimmter Aufnahme geschätzt ;
die Tausende von Centnern, welche auf der Bahn verfahren werden,
stellen einen jährlichen Gelderwerb von mehreren Hunderttausend
Mark dar. Was aber nicht in Zahlen ausdrückbar, aber unendlich
höher zu schätzen ist, das ist der wohlthätige Einfluss des Waldes
auf die atmosphärischen Niederschläge, auf Klima und Luftver-
besserung, auf das Wohlbefinden der Menschen und die Schönheit
der Landschaft. Die Göhrde, der Lüss, die Gartow’schen Forsten
bilden zusammenhängende Gebiete von mehr als 1 □ Ml. Der
Garrelsdorfer Wald, das „Dröge Holz“, „die Birken“, Reisemoor,
Priors-Gehäge, „der Lohn“, „Wichmannsdorf“, manche Gehölze um
Ebstorf und Uelzen, die Forsten um Neuhaus, das Emmerholz, das
Kiekenbruch und der „grosse Leu“ enthalten einen so ausgezeichneten
Hochwald und so frisch aufstrebenden Anwuchs, dass er der Stolz
und die Freude jedes Forstmannes ist. Die öffentlichen Angaben
von 1851*) bestimmen den Eiclieu h o c h wald auf 25,913 Morgen,
den Buchen h o c h wald auf 34,621 Morgen, den Nadelwald auf
288,997 Morgen, wovon die Staatsforsten allein 83,380 Morgen von
über 40jährigen Bäumen, 2508 Morgen von mehr als 160jährigen
Eichen und etwa 12,000 Morgen von 100jährigen Buchen umfassten.
Der Charakter der Wälder nach ihrer verschiedenen Holzart ist hier
wesentlich derselbe, wie anderswo, da er ja das Ergebniss einer
allgemein gültigen Waldpflege ist; ich darf daher davon absehen,
eine eingehendere Schilderung der begleitenden Pflanzendecke zu
*) 0. Drechsler: Die Forsten des Königreichs Hannover. 1851.
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gehen, und beschränke mich auf wenige Züge, welche mehr ästhetische
als forstmännische Gesichtspuncte im Auge haben. Der Eichenpflanz-
wald ist in der Regel ohne alles Unterholz und mit einer geschlosse-
nen Rasendecke, auf der vor allem der Steinpilz (Boletus edulisl
gedeiht. Der Buchenhochwald hat auf dem Boden regelmässig eine
erhebliche Decke von dürrem Laube, die an lichteren Stellen vom
Waldmeister mit Grün überschleiert ist; neben einer Menge anderer
Pilze gedeihen hier besonders die rasig und biischelig wachsenden
„Hahnenkämme“ (Clavaria flava, coralloides u. a.). Unter dem
Nadelwalde wuchert meistens auf den bis fusshoch aufgehäuften
Nadeln ein Heer zierlicher Moose (Hypnum loreum, splendens.
Schreberi, purum etc.), unterbrochen von grauen und gelblichen
Polstern des Dicranum oder dem tiefgrünen Rasen von Polytrichum-
Arten, aus denen der Fichtenspargel (Monotropa) reichlich hervor-
wächst. Im Forstrevier Radbruch-Winsen erscheint darauf regel-
mässig die pilzfarbige Orchidee Goodyera repens, und dort wurde
auch die seit Jahren nicht mehr gefundene Linuaea borealis entdeckt.
Unter den Wintergrün -Arten gedeiht hier in sehr vereinzelten
Gruppen Pyrola umbellata, wie ganz ähnlich in geschlossenen Kreisen,
daher vom Volke „Hexenringe“ genannt, auf Haiden das Lyco-
podium Cyparissias auftritt. Der Unterwald erhält als charakter-
volle Beimengung vor allem den Hülsenstrauch (Ilex aquifoliumt.
dessen glänzende, lederfarbene, nadelspitz ige Blätter nicht weniger
als die blutrothen Beeren die Aufmerksamkeit von Alt und Jung
erregen, und der mitunter bis zu einer Höhe von 15 — 20 Fass
baumartig emporwächst. Im Buchemvalde bilden Rhamnus-Arten,
besonders das „Pulverholz“ (R. frangula) und die Salbeiweiden den
Hauptbestand, deuen sich bisweilen der Spillbaum beimischt, durch
seine schön rothen Kapselfrüchte („Pfaffenhütchen“) allgemein auf-
fallend. Hier schiesst der Adlerfarrn bis zu einer Höhe von 10 bi>
11 Fuss empor, die selbst die oft genannten des Jagdparks von
Muskau übertrifft, während die Bäche daselbst und die Erlenbultc
mit den 2 — 3 Fuss hohen Wedeln des ächten und falschen Wurm-
farns (Polystichum filix mas, spinulosum, Thelypteris, Asplenium
filix femina) wahrhaft malerisch bekleidet sind. Das obengenannte
Revier Radbruch beherbergt in der Nähe des Forsthauses Börstel
eine botanische Seltenheit, den kletternden Lerchensporn (Corydalb
claviculata D. C.), der an aufgearbeiteten Stellen jahrenweise heerden-
artig auftritt, dann aber auch längere Zeit zu verschwinden scheint.
Auf moderreichen Umwallungen und an den der Bachschlucht zu-
fallenden Abhängen wuchert das wintergrüne Engelsüss (Polypodium
vulgare). Wenn die Ueppigkeit der Farne oft unwillkürlich an
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Schilderungen der Tropen erinnert, so haben die 100 — 120 Fuss
hohen alten Föhren des Kiekenbruchs mit ihren fast regelmässig
mit grossen Rindenschildern besetzten weissgrauen Stämmen mir
unwillkürlich das Bild der Lepidodendren und Sigillarien einer vor-
geschichtlichen Zeit hervorgerufen. Zwei Bäume, welche im mitt-
leren Deutschland und schon unmittelbar an der Südgrenze unseres
Gebietes einen wesentlichen Antheil an der Bekleidung des Bodens,
namentlich als Unterholz haben, fehlen hier fast ganz, wie der
Feldahorn (Acer campestre), oder treten doch ganz zurück, wie die
Hainbuche (Carpinus betulus); sie lieben kalk- und lehmhaltigen
Boden. Im äussersten Südosten tritt (bei Ehra) ein Strauch der
Gebirge, der Traubenhollunder (Sambucus racemosa) als Busch in
den Waldresten jener Gegend auf.
Zahlreich finden sich stolze Bäume von hohem Alter, mächtiger
Dicke, malerischer Verästelung, prachtvoller Kronentwickelung und
ungewöhnlicher Höhe. Forstmeister Meyer in Trier ist, wenn ich
nicht irre, der Verfasser eines Aufsatzes,*) der die dankbare Auf-
gabe hat, auf die grosse Zahl merkwürdiger und schöner Bäume des
ehemaligen Königreichs Hannover hinzuweisen, den Sinn dafür zu
wecken und auf ihre Erhaltung und Pflege hinzuwirken. Dort ist
nachgewiesen, welch reichen Antheil unsere Haide daran hat. Das
„Elbholz“ bei Gartow zeigt Musterstücke lOOOjähriger Eichen, deren
eine in Stumpfform auf der diesjährigen Gewerbeausstellung in
Hannover als Haus für Geräthe u. dergl. benutzt war. Die Forsten
des Amtes Neuhaus, bei Wathlingen, Scharnhorst, Burgdorf, das
Hohnstedter Holz (bei Fallersleben), die Göhrde und viele andere
haben 300 — 500jährige Eichen von ausserordentlicher Schönheit.
-Königs-, Fürsten-, Krön-, Grossherzogs-, Oberforstmeister-Eic.hen
und -Buchen“, sowie andere Schmucknamen weisen auf die Bedeutung
hin, welche auch das Volk gerne solchen Altvätern des Waldes bei-
legt. Viele 90 — 100 Fuss hohe, ästige, langschäftige Buchen von
4 — 10 Fuss Umfang stehen in den Wäldern des Elbgebietes, ebenso
ganze Bestände von 100 — 120 Fuss hohen Fichten und Föhren in
den Bruchforsten der Ise. Man trifft einzelne Birken (Wendhausen,
Sünder) von 6 — 9 Fuss Umfang und 70 Fuss Höhe. Ebenso über-
raschen Schwarzpappeln, Weiden und Linden hier und da durch
Höhe und Dicke des Stammes. Bei Räberloh waren wenigstens noch
vor einigen Jahren viele Wachholder mit Stämmen von 3 — 4 Fuss
Umfang. Ganz eigentümlich ist die gedrungene Gestalt einzeln
stehender und dem Winde ausgesetzter alter Föhren mit eckig ge-
*) .Neue hannoversche Zeitung“ 1862. Nr. 55 ff. — Steinvorth: Zur
wissenschaftlichen Bodenkunde. S. 7—8.
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wundenen Aesten, die oft schon unmittelbar über der Erde be-
ginnen.*)
Die , Beiträge zur Naturkunde des Fürstenthums Lüneburg“,
welche vom naturwissenschaftlichen Verein in Lüneburg herausgegeben
sind, zählen von den 74 Säugethieren 39, von deu 308 Vögeln 194.
von den 26 Reptilien 18, von den 200 Fischen 53 auf. Von den
Mollusken sind 70 — 80 nachgewiesen. Die Sammlungen des ver-
storbenen, unter den Entomologen wohl bekannten Stadtschreibers
Ileyer zeigen, dass die Insektenfauna eine reiche genannt werden
kann, wie das die Vegetation erwarten lässt.
Genauere meteorologische Beobachtungen, die auf Wissenschaft-
lichkeit Anspruch haben, sind erst seit etwa 25 Jahren in Celle und
Lüneburg angestellt. Am letzteren Orte ergaben sie einen mittleren
Barometerstand von 759,7 mm (28" 0,7c"'). Die grössten Differenzen
der Monatsmittel haben die Monate Februar mit 761,6, und März
mit 758,15 mm. Die Differenz des Mittels vom Winter und Frühling
gegen Sommer uud Herbst beträgt nur 0,oi"' par. Grosse Tem-
peraturunterschiede von 18 — 23 0 R. innerhalb weniger Tage uud vou
10 — 15 0 an demselben Tage sind ziemlich häufig. Der Feuchtig-
keitsgehalt der Luft ist nicht sehr selten 100 °/o; in dem kalten
Jahre 1855 war an 18 Tagen volle Sättigung. In demselben Jahre
zeigte das Hygrometer am 4. Mai 98, am 6. Mai nur 13°/o bei
Nordostwinde. 1876 war die grösste Differenz 75 °/o. Der höchste
Stand des Barometers in den Jahren 1865 — 1877 ist 977,5 mm, der
niedrigste 724 mm gewesen; der höchste des Thermometers 26, s 0 R.,
der niedrigste — 20, s 0 R. Die Regenmenge bewegte sich zwischen
15" 9,i‘" par. und 25" 7,**"', im Mittel nahezu 22" par., die Zahl
der jährlichen Regentage zwischen 127 und 190, im Mittel 168 Tage;
die Zahl der Gewitter zwischen 13 und 24, im Mittel 19. Vorherr-
schend ist der West-Südwest-Wind.
Die letzte Zählung ergiebt für das Fürstenthum 386,714 Ein-
wohner, also im Durchschnitt auf die Quadratmeile 1808; im Kreise
Fallingbostel, dem am schwächsten bevölkerten Theile, kommen aber
auf 1 □ Meile nur 1159. Die ansässige Bevölkerung gehört fast
ganz, von zerstreuter Einwanderung der Neuzeit abgesehen, dem
niedersächsischen Stamme an; nur in dem Jeetzelthale wohnen
vorherrschend Nachkommen der slavischen Wenden, die sich noch
heute durch Wohnung, Sprache und Sitte vielfach bestimmt scheiden.
Ich sehe in dem Nachfolgenden von ihnen ab.
*) Jalireshefte des natnrw. Vereins für Lüneburg. VII. 1878.
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Wenn es schon seine Schwierigkeit hat, natürlichen Blick und
viel Studium erfordert, in der Zeichnung der Landschaft das
Charakteristische wiederzugeben, wo doch die Elemente bestimmte
Pflanzenformeu sind und wo Berg und Thal, Wasser und Land,
Fluss und Bach, See und Teich, Wald und Feld, Wiese und Weide,
Ilaide und Bruch, March und Geest, feste anschauliche Bildungen
sind, — so ist doch die Aufgabe unendlich schwerer, ein zutreffen-
des Bild der Bewohner nach seiner gesammten körperlichen und
geistigen Eigenthümlichkeit zu geben. Ich gestehe, dass ich- mich
nicht dazu befähigt fühle, und dass ich aus meinen eigenen An-
schauungen nur das Ergebniss geholt habe, misstrauisch gegen die
Verallgemeinerungen zu sein, mit denen gerade derjenige am schnell-
sten zur Hand ist, der am wenigsten beobachtet hat. Ich bin auf
meinen Wanderungen durch die Haide nach allen Richtungen nie
auf Erscheinungen in dem Sein und Leben des Haidbauern gestossen,
die mich als ausgeprägte Eigenthümlichkeiten überrascht hätten;
wohl aber bin ich oft überrascht, hier in vielen, ja in den meisten
Dingen die Menschen gerade so zu finden, wie ich sie in meiner
specielleren Jugend-Heimath, im Thale zwischen Deister und Süntel,
im Göttingen'schen, um Bremen und Osnabrück kennen gelernt habe.
Ohne Zweifel haben die Einsamkeit, die dünne Bevölkerung, die
Abgeschlossenheit u. A. ihren grossen Einfluss; vor der Zeit der
Eisenbahnen und 'Telegraphen, der leichten Postverbindung, der
Omnibusse und der vielen grossen und kleinen Zeitungen, der all-
gemeinen Dienstpflicht, und des neueren Volksschulwesens ist aber
auch in anderen Gegenden des lieben deutschen Vaterlandes die
Abgeschlossenheit recht gross gewesen, und hier wie dort ist das
ganz anders geworden. Wenn ich daher in dem Nachfolgenden mich
nach der Betrachtung des Landes nuu zu den Leuten wende, so
habe ich viel weniger zu bieten, als manche nach früheren Berichten
erwarten werden. Freilich zu vielen anziehenden Einzelbildern ist
trotzdem „in der Haide“ genügend Stoff geboten.
Man kann nicht sagen, dass röthliches Haar und auffallende
Körpergrösse, welche Tacitus den alten Germanen zuschrieb, an den
Niedersachsen der Haide hervortretende Eigenschaften wären, und
wenn auch das Auge meistens blau oder häufiger grau-blau ist, so
ist der Blick doch nicht trotzig, vielmehr von freundlichem Aus-
drucke. Blauäugige Menschen mit blondem Haare und weisser Haut
herrschen ganz entschieden vor. Selbst auf dem Johanneum Lüne-
burgs, der vereinigten Anstalt für Gymnasium und Realschule, mit
597 Schülern, unter denen doch manche Zuzügler aus der Ferne
sind, waren 1875 82 %> blondhaarig. 70 °/<> zugleich blauäugig. Braune
Oeugr, Blauer, Bremen 1879. 2
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— 18 —
Haut nebst braunen Augen und schwarzen oder braunen Haaren war
nur in einzelnen Vertretern vorhanden. „Der zähe Widerstand gegen
alles Fremdartige, das man ihm aufdrangen will, die Scheu vor
Neuerungen und das Hangen am guten Alten“ sind nicht blos Eigen-
thümliclikeiten des Haidbauern, nicht einmal des Niedersachsen.
Bedächtigkeit, Langsamkeit in Bewegung, Sprache und Gedanken ist
überhaupt dem deutschen Nordländer eigen, dem Bauern aber zumal.
Treuherzigkeit und Zuverlässigkeit mögen sich immerhin noch häufiger
in der Haide als in manchen anderen Gegenden finden. Ebenso ist
noch ein kirchlicher Sinn durchweg auf dem Lande auzutreffen; der
sonntägliche Kirchenbesuch ist dem einsamen Dörfler auch um des-
willen lieb, weil derselbe zugleich Müsse und eine Unterbrechung
seiner einförmigen Wochenarbeit ist. Das Gasthaus des Kirchdorfes
sammelt dann die Besucher, die Kegelbahn und der Kartentisch
werden Sonntags nicht verschmäht. Die Wirksamkeit pflichttreuer
und taktvoll auftretender Prediger mögen hier und da heilsam ein-
greifen. Bekannt ist die bedeutsame Thätigkeit des Pastors L. Harms,
der seinen Pfarrort Hermannsburg und die von ihm dort gegründete
Missionsanstalt zu einem Mittelpuncte religiöser Bewegung gemacht
hat. Wenn man dem begabten Manne auch manches Gute zu ver-
danken haben wird, so ist doch auch nicht zu bezweifeln, dass schon
durch ihn, noch mehr aber durch seine Nachfolger und Anhänger
die traurige Spaltung und die zum Theil feindselige Stellung der
Parteien auf kirchlichem Gebiete begründet und geflissentlich genährt
ist, welche augenblicklich so viel von sich reden macht. Aber es
gereicht doch dem Bewohner der Haide zum Lobe, dass es nur bei
wenigen und in der Regel nicht den besten Elementen der Gemeinde
gelungen ist, zu dieser beklagenswerthen Verirrung verleitet zu sein,
die den Unfrieden in einigen Gemeinden dauernd zu machen droht.
Ich bin überzeugt, dass die ganze Bewegung, die auf der unheilvollen
Agitation nur sehr weniger politisch und religiös verbissener Pastoren
beruht, trotz ihres gegenwärtigen Lärmens bald verlaufen wird, wenn
es dem Kirchenregimente gelingt, in jene Gemeinden ruhige, ver-
ständige, auf das wahre Ziel des Christenthums hinstrebende Seel-
sorger zu bringen. — Die plattdeutsche Sprache soll „rücksichtlich
des Lautverschiebungsgesetzes ganz mit dem Gothischen und dadurch
mit der germanischen Ursprache übereinstimmen“. Von den drei
Dialekten derselben, dem niederländischen, dem westpbälischen und
dem niedersächsischen, gehört dieser letztere dem norddeutschen
Boden zwischen Elbe und Weser an. Er zerfällt wieder in die zwei
Formen, welche man kurz nach den Pronomen „mi, di“ gegenüber
dem „meck, deck“ als Merkzeichen — wohl etwas dilettantenhaft —
— 19 —
unterschieden hat. Jene ist diejenige des Lüneburg-Bremen- Yerden-
schen, diese die im Ivalenberg-Göttingensclieu, also im Gebiete der
Leine geltende; jene die der Ebene, diese die des Gebirgslandes.
Eine scharfe Grenze ist nicht anzugeben, nicht mal eine ungefähre;
der von Guthe bezeichnete Haupthöhenzug der llaide liegt viel zu
nördlich. Uebrigens ist, wie anderswo, die Mundart so mannigfach
abgeändert, dass das feiner gewöhnte Ohr bald einzelne Gegenden
und Ortschaften noch leicht unterscheidet. Auch auf dem sprach-
lichen Gebiete herrscht das grosse Naturgesetz, das unter Fest-
haltung des allgemeinen Typus eine unbegrenzte Abäuderungsfähigkeit
bekundet. Der Dialekt der Ebene zeichnet sich durch Weichheit,
Beweglichkeit und Zierlichkeit vor der südlichen Form aus, welche
hart und schwerfällig ist, aber den Eindruck zuverlässiger Derb-
heit macht.
Der Lüneburger ist seiner Erwerbsthätigkeit nach in erster
Linie Landbauer, dann Viehzüchter, in den Städten und an einigen
anderen Orten jetzt auch Fabrikarbeiter, sowie Händler mit den
Producten des Landes: Korn, Heu, Holz, Vieh, Wolle, Honig, Wachs,
Beeren u. s. w. Die für die Besteuerung 1872 erschienene Auf-
stellung ergiebt für die ganze Landdrostei ein Mittel von 58,3 °/o
des auf Aeckeru, Gärten, Wieseu und Wald angebauten Bodens, der
im Kreise Uelzen und Dannenberg auf 67,5 °/o, im Kreise Harburg
auf 70°/o sich erhebt, im Kreise Fallingbostel aber auf 27°/o herab-
sinkt. Der Bezirk steht also etwas höher als Stade und Osnabrück,
bleibt aber unter den übrigen Lauddrosteien zurück, von denen
Hildesheim mit 83,* °/o den höchsten Platz einnimmt. 1831 hatten
91,6 °/o aller Grundbesitzer mehr als je 30 Morgen, es kamen damals
auf den Kopf 14,3 Morgen der ganzen Fläche, 4,9 Morgen Acker-,
Wiesen- und Weideland; 94,7 °/o des Grundbesitzes waren mit den
Stellen untrennbar verbunden, nicht frei verkäuflich. In letzterer
Beziehung hat die neuere Gesetzgebung heilsame Aenderung ge-
troffen. Gehöfte mit 3 — 500, ja ein- und mehreren Tausend Morgen
Grundbesitz sind keine Seltenheit; das Gehöft des „Haidkönigs“ in
Weihausen erreichte fast oder voll 4000 Morgen. Roggen, auch als
Sommerroggen gebaut, ist die Hauptfrucht; der Weizen kommt auf
schwererem Boden in mehreren Spielarten vor; von der Gerste habe
ich nur Hordeum distichon angetroften ; Hafer wird in verschiedenen
Formen gebaut, auf mageren Sandäckern Avena strigosa, der „Rauh-
hafer“. Von den üblichen llülseufrüchteii fehlt wohl ganz die Linse;
Lupinen (Lupinus luteus) werden seit 30 Jahren viel gezogen, neben
dem gewöhnlichen Klee in neuerer Zeit Anthyllis vulneraria, auch
wohl die Serradelle (Ornithopus sativus), häufiger auf unfruchtbarem
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Acker als Futtergewächs der Spörgel (Spergula arvensis). Auf
magerem Boden wird viel Buchweizen gebaut; sehr untergeordnet
erscheint unter der gewöhnlichen Form auch Polygonum tartaricum.
Rapps und Riibsaat kommt nur auf besserem Boden in nennens-
werther Menge vor. Im sogenannten Wendlande und einigen anderen
Orten wird mit Erfolg Hopfenbau getrieben. Der Flachsbau war
früher im Kreise Uelzen recht bedeutend, ist aber sehr zurück-
gegangen; 1866 berechnete man den im Lüneburgischen zum Ver-
kauf gebrachten Flachs auf 703,730 Kilogramm, im Werthe von
423,679 Thalern. 1862 führte der Flecken Bevensen für 460,000 Thaler
Flachs aus. Die Kartoffel des Sand- und Kleibodens ist sehr schmack-
haft. Gemüse- und Sämereigewächse werden überall, namentlich in
der Nähe der Städte reichlich gebaut. Bardewiek’s Ruf in dieser
Hinsicht ist weit hinaus bekannt. Der Obstbau fiudet im Allgemeinen
nicht die wünschenswerthe Würdigung des' Landmanns, obgleich die
guten Sorten älterer und neuer Zeit durch die Herrenhäuser und
Celler grossen Baumpflanzungen, sowie durch mehrere kleinere
Baumschulen überall verbreitet sind und die Früchte volle Ent-
wickelung erreichen. Heu ist in den letzten Jahren in grosser Menge
ausgeführt, doch wohl nur aus den Marschen; auf Haidboden sind
Dung- und Rieselwiesen thunlichst angelegt. Die letzteren haben
eine gewisse Berühmtheit erlangt; nachdem die ersten Anlagen
in den Jahren 1780 — 1790 an der Meisse entstanden sind, haben
besondere Schulen in Suderburg und Uelzen seit 1854 jährlich viele
Männer hinausgesandt, welche selbst bis nach Polen und Russland
die „Lüneburger Wiesenbauer“ in ehrenvollen Ruf gebracht haben.
Des Waldes ist bereits gedacht; es soll nur noch hinzugefügt
werden, dass der fortgeschrittene Hofbesitzer ebenfalls anfängt, im
Anbau der Haiden dem Vorbilde der herrschaftlichen Forstwirth-
schaft nachzueifern. An dem gemeinschädlichen Uebel des Moor-
rauchs hat der Lüneburger Haidbewohner keinen Antheil; aber er
glaubt den verurtheilten Plaggenhieb ebenso wenig entbehren zu
können, wie der Bewohner der Torfmoore des Moorbrennens.
Die Viehzucht ist nicht unbedeutend und hat namentlich in den
letzten Jahren, wo die Fleischpreise ungewöhnlich in die Höhe ge-
gangen sind, im Mastvieh einen erheblichen Aufschwung genommen.
Da mir zuverlässige Angaben aus neuester Zeit nicht vorliegen, so
beschränke ich mich hier auf folgende kurze Bemerkungen. Der
Veredelung der Pferde ist schon länger viel Aufmerksamkeit zuge-
wandt; bereits 1665 hielten die Herzoge von Celle in Memsen ein
Gestüt, und in Radbruch züchtete man damals besonders Kutschpferde
und Maulesel. Von grösster Bedeutung ist seit 1735 das Celler
r ' i
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Landgestüt. Die Rare ist eine sehr gute und auch im Auslande
geschätzt. Für die Wirthschaft wird in der Haide noch oft das
Rind zum Ziehen mit benutzt. 1867 kamen auf 1 □ Meile nur
210 Pferde, weniger als in einem der übrigen Landdrosteibezirke;
das Mittel der alten preussischen Provinzen hatte 863. Auf 1 nMeile
kamen ferner
878 Stück Rindvieh (Preussen 1198),
3116 „ Schafe ( „ 3787),
855 „ Schweine ( , 638).
Im Kreise Fallingbostel ist unter den Schafen noch ein hoher
Procentsatz „Haidschnucken“. 1864 zählte die Landdrostei Lüne-
burg 79,570 Stöcke Bienen, nahezu 4 /io des ganzen damaligen König-
reiches. In den grösseren Haidbächen findet sich sehr vereinzelt
noch jetzt die edle Flussperlmuschel ( Margaritana margaritifera Retz).
Hunderte, ja Tausende derselben dienen zum Besätze von Altardecken
und anderem kirchlichen Geräthe, wovon namentlich die Klöster eine
grosse Zahl aufbewahren. Um Uelzen waren noch 1706 drei beeidigte
Perlenfischer angestellt, welche gegen 600 Perlen ablieferten. Die
Göhrde ist als Jagdrevier bekannt, um das einst wendische und
sächsische Fürsten kämpften; das kostbare Gehäge reichen Hoch-
wildes ist noch jetzt jährlich der laute Tummelplatz glänzender
Hofjagden. Bären, Wölfe, Biber haben einst in den weiten und
holzreicheu Haiden Lüneburg’s ihr Wesen getrieben. An der Elbe
ist der letztere noch in diesem Jahrhundert angetroffen, und Knochen-
reste desselben sind in dem Thon-Mergellager von Homerdingen
aufgefunden. Neben der Fischotter (Lutra vulgaris) lebt bei uns der
seltene Nörz (Putorius lutreola). In dem Jahre 1740 wurden noch
im Lüneburgischen 50 Wölfe erlegt, und um die Mitte des 17. Jahr-
hunderts im Lüss noch ein Bär.
An der Elbe und ihren Nebenflüssen wird nicht unerheblich
Schiffahrt getrieben; 1872 hatte die Landdrostei 29 Werfte, 1 k sämmt-
licher in der Provinz Hannover. Gute Landstrassen verbinden die
Hauptorte mit einander, und auch die nicht mit Steinschlag belegten
Wege sind in den einsamsten Haidgegenden für Wagenverkehr recht
gut. Auf 1 □Meile kamen 1872 l,oi Meile ausgebaute Landstrassen
Staatschausseen, während für die altpreussischen Provinzen nur
0,74 Meile berechnet sind.
Die Dörfer und Einzelhöfe der Haide künden sich schon aus
der Ferne durch ein Baumwäldchen an, das sich über ihnen meistens
aus breitästigen Eichen wölbt, aus denen nur hier und da das dunkle
Strohdach oder seltener der rothe Steinbau eines Wohnhauses neuen
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Stils hervorblickt. In der einsamen, schmuck- und anspruchslosen
Umgebung der Haide haben sie fast ganz allgemein in ihrer Be-
häbigkeit etwas äussert Wohlthuendes, in ihrer friedlichen Stille
etwas Anheimelndes. Bisweilen ragen einige italienische Pappeln
vor dem Hause hervor, in deren Spitze die Elster gerne ihr Nest
baut. Ein Wirthsehaftshof, den der Bauer nicht leicht zu gross
haben kann, nimmt das langgedehnte und breite Wohnhaus, die
Scheune, den Speicher, die Stallgebäude und Schauer auf, das ganze
von einer wallartigen Mauer aus unbearbeiteten Findlingen roh
zusammengefügt oder von einem kunstlosen Stacket, einem Zaun,
selten von einer lebendigen Hecke, bisweilen von einer Mauer aus
Backsteinen eingefriedigt. Das wuchtige Dach aus Stroh oder Schilf-
rohr ragt tief herab, mit der Hand zu fassen, und ist oft mit einer
dichten Decke grüner Moospolster bewachsen. Nur selten fehlt der
Schornstein, so dass dann der Rauch das ganze Haus erfüllt und
aus allen Löchern, Fugen und Thüren hervorquillt. Der Haupt-
eingang, die Einfahrt, liegt an dem der Strasse zugewandten Giebel-
ende. Namen des Hausherrn und der Frau, das Jahr der Erbauung,
auch noch ein frommer Spruch oder Gesangvers bilden gleichsam
den Fries über der Thür. Diese ist meist viertheilig, in der Mitte
durch einen herausnehmbaren Ständer („Dössel“, auch im Kalen-
bergischen) zusammengehalten. An beiden Seiten der langen Diele
sind die Stallung für das Vieh, die Kammern für das Gesinde und
einige Wirthschaftsräume. Am oberen Ende ist die Küche und hier
meist nach beiden Seiten ein Ausgang nach Hof und Gärten. Dann
folgen am oberen Giebelende die Wohustube, die Schlafkammer und
noch ein Wohn- oder Schlafraum. Die Fenster derselben schauen
in den Blumengarten, der früher fast immer Centifolie, Nelke, Pfingst-
rose (Paeonia officinalis), Salbei, Lavendel, Rosmarin, Lychnis chal-
cedonica (Feuernelke, „brennende Liebe“), Klusternelke (Dianthus
barbatus), die gewöhnlichsten Küchenkräuter, wie Sellerie, Petersilie,
Porro, Zwiebeln — auch wohl einen Busch schwarzer Johannisbeeren
enthielt — , kurz alle jene Gewächse, welche als ein altes Erbe der
Kulturarbeit Karls des Grossen*) sich als „Flora der deutschen
Bauergärten“ vom äussersten Süden bis zum Norden im alten Be-
stände erhalten hat. Gegenwärtig wird freilich daran fortwährend
geändert, die Modeblumen der Handelsgärten treten auch im Bauer-
garten auf und machen neuen Platz. Hat doch auch das Wohnhaus
bereits die mannigfachste Umgestaltung erfahren, wenigstens im
Innern, wenn auch der einstöckige Längsbau beibehalten ist. In
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') Capitulare v. 812.
— 23 —
dem modernen Wahnhause des wohlhabenden „Hofbesitzers“ sind
Wohn- und Schlafzimmer, Köche und Vorrathskammern von der
eigentlichen Wirthschaft ganz abgeschlossen; der Bau selbst ist sehr
stattlich, meist aus Backsteinen auf Grundmauern von Granit auf-
geführt und mit vielen gleichmässigen Fenstern versehen. An den
Obstgarten schliesst sich oft eine Wiese, bisweilen ein Wäldchen.
Der Wohlstand solcher angesehener „Haidbauern“, der in der Regel
wenigstens eiu städtisch mit Soplia und Mahagonihausratli aus-
gestattetes Staatszimmer besitzt, beruht noch immer wesentlich auf
den geringeren Bedürfnissen, obwohl er sich an guter Ernährung
nichts abgehen lässt. Er hat auch ein höheres Bedürfnis nach
Bildung, sendet gern seine Söhne auf eine höhere Schule und sieht
es nicht ungern, wenn die nachgebornen Sölme sich einen anderen
Beruf wählen ; er liesst eine Zeitung, besucht Vereine und politische
Versammlungen und gewinnt so in seinem näheren Kreise grossen
Einfluss, welcher dem patriarchalischen Walten des Pfarrherrn und
Amtmanns immer mehr Abbruch thut. Aber auch der gewöhnlichere
Haidbewolmer lebt im Allgemeinen behäbig. Wenn auch die dünne
Bevölkerung keine gründliche Ausnutzung des Bodens gestattet, so
gewährt dieser doch unschwer das Nothweudige, und die Entlegen-
heit bildet eine glückliche Anspruchslosigkeit aus, die ihn vor vielen
kostspieligen Unnötliigkeiten bewahrt. Obwohl ich nicht geneigt bin,
unsere Haidbewohner als Leute gelten zu lassen, die in paradiesi-
scher Unschuld dahin lebten, wie man sie genug geschildert hat, so
ist doch immerhin der Gegensatz wohlthuend, den sie zu der Durch-
triebenheit dicht bevölkerter und gewerbereicher Distriete bilden.
Der Besuch der Schützenfeste und Märkte, sowie gewisser Tage, an
welchen hergebrachter Weise die Producte vorzüglich zum Verkauf
in die Nachbarstadt gebracht werden, bieten Gelegenheit zu einem
Extravergnügen mit Tauz u. dergl. Zwischen Amelinghausen und
Soltau bin ich 4 — 5 Stunden gegangen, ohne in den 4 — 5 durch-
wanderten Dörfern ein Wirthshaus zu treffen. Als ich dann auf
einem Hofe um ein Glas Milch bat und in Abwesenheit des Besitzers,
der sich wieder zu seinen Leuten begab, 10 Pfennig auf den Tisch
gelegt hatte, kam mir ein Knabe laut rufend nachgelaufen, um mir
5 Pfennig einzuhändigen, die ich zuviel bezahlt hätte. Gerade jene
volkarrae Gegend des alten Loingo, im Südwesten des Bardeugaus,
durch ihre langgestreckten Hügelzüge und die Einförmigkeit des
Pflanzenwuchses ausgezeichnet, die stellenweise kaum noch etwas
ausser Föhre und Haide auffinden lässt, bietet dem sinnigen F orscher
noch manchen Zug zu einem anziehenden aber fast verlöschenden
Sittengemälde ältester Vorzeit. Ebenso anziehend ist die Geschichte,
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— 24 —
welche sich hier unter dem Walten der Ludoltinger, Billungen und
Welfen seit einem Jahrtausend entfaltet hat.
Lüneburg, im November 1878.
Die deutsche Colonie am Pozuzo (Peru).
Von Herrn Jose Egg, welcher seit 21 Jahren Pfarrer dieser
Colonie ist, erhielten wir zu unserer Daukverpflichtung die nach-
stehende Schilderung jener Niederlassung deutscher Landsleute
im tropischen Südamerika. Sie wird in der Heimath mit Interesse
gelesen werden.
Die deutsche Colonie des Pozuzo liegt unter 10° 2' südlicher
Breite und 2250 Fuss engl, über der Meeresfläche, so zu sagen an
den letzten östlichen Abhängen der Andes. Das Klima ist ein
ziemlich gemässigtes und die Abwechslung der Temperatur eine sehr
geringe, denn regelmässig fällt das Thermometer im ganzen Jahre
nie unter + 13 bis 14° R., das geschieht in der trockenen Zeit, im
Juni und Juli, und steigt nie im Schatten über 25 — 26. Im Durch-
schnitte aber wechselt die Temperatur innerhalb 24 Stunden zwischen
17 und 24°. Damit Sie sich leichter einen Begriff von, der Anlage
der Colonie machen können, lege ich — freilich nur in rohen Um-
rissen — eine Karte davon bei, welche zwar nicht geometrisch genau
gezeichnet ist, aber doch einigermassen eine richtige Vorstellung von
den der Colonie gehörigen Ländereien geben kann.*) Die erste Colonie,
welche im Jahre 1857 nach Peru kam, konnte erst 1859 an ihren
Bestimmungsort gelangen, weil die Wege gemacht werden mussten,
obwohl die Regierung sich verpflichtet hatte, dieselben bis zu unserer
Ankunft fertig zu halten. Die Folge davon war, dass von den
300 Menschen, welche 1857 angekommen waren, in diesen zwei Jahren
die Hälfte sich zerstreute. Die 150 Zurückgebliebenen siedelten
sich am linken Ufer des Huancabamba an. — Die zweite Colonie
wurde im Jahre 1868 hierher gebracht, mit der Bestimmung, am
Mairo angesiedelt zu werden ; aber wiederum war der Weg von hier
bis dahin nicht gemacht; mehr als die Hälfte der neuen Colonisten
verlor sich, die übrigen siedelten sich bei uns an, und haben grössten-
*) Den sich näher für die Sache Inleressirenden steht die kleine Skizze
gern zu Diensten. D. Red.
— 25 —
thcils die beiden Ufer des Pozuzo besetzt. Bezüglich der sogenann-
ten „Wege“ muss vorab Folgendes berichtet werden.
Wenn in Peru die Rede von Wegen ist, so dürfen Sie sich ja
nie eine Fahrstrasse oder auch nur einen Weg vorstellen, wo allen-
falls ein Karrenzieher mit seinem leeren Karren mühsam durchkäme,
sondern höchstens nur einen Gebirgssteig, auf dem nur die Maul-
thiere mit ihren Lasten von etwa 200 Pfund gehen können, ein
europäisches Pferd aber auch ohne Last in grosser Gefahr wäre,
sich todt zu fallen. Selbst der Hauptweg von Lima nach Cerro de
Paseo und von dort nach Huänuco ist nicht viel besser, der Unter-
schied besteht in der Hauptsache nur darin, dass die Maulthiere,
welche von der Küste kommen, grösser und stärker und daher bis
300 Pfund zu tragen im Stande sind. — Indessen sind seit den letzten
Jahren in der Nähe der Küste einige Eisenbahnen angelegt worden.
Ein grossartiges Werk wäre freilich die Eisenbahn von Lima nach
Cerro de Paseo, deren Vollendung auch für den Pozuzo von hoher Be-
deutung erscheint, weil dann nothwendiger Weise auch Cerro de Paseo
mit Mairo in Verbindung kommen müsste, von wo aus die Wasser-
strasse nach Europa offen stände. Die Arbeiten dieser Bahn wurden
1870 begonnen, viele Millionen sind schon darauf verwendet, aber
bisher ist noch nicht die Hälfte fertig, und seit zwei Jahren ist die
Arbeit so gut wie eingestellt, weil das Geld fehlt. — Bezüglich der
Nationalität sind die Mehrzahl der Colonisten Tiroler, neben etwa
50 Rheinländer, welche i'nit der ersten Colonie gekommen sind ; mit der
zweiten Colonie kamen auch vier Familien aus Bayern. Auch einige
Indianerfamilien wohnen unter uns, deren Kopfzahl sich etwa auf
öO— 60 belaufen kann; die Gesammtzahl aller hier Ansässigen ist
gegenwärtig 425. — Obwohl nun alle Colonisten ohne Ausnahme
den Ackerbau betreiben, so sind doch auch die wichtigsten Hand-
werke hier vertreten. Wir haben Zimmerleute, Maurer, Tischler,
Drechsler, Kiifner, Schmiede. Schlosser, Klempner, Schuster, Gerber,
Schneider, Weber, Färber, Hutmacher und Cigarrenmacher, so dass
wir also im Nothfalle uns auf lange Zeit durchbringeu könnten,
wenn wir auch gänzlich von der Aussenwelt abgeschlossen wären. —
Da die Bodenerzeugnisse in der heissen Zone durchschnittlich mehr
oder weniger dieselben sind, würde es wohl überflüssig sein, auf die
Beschreibung derselben näher einzugehen, und ich beschränke mich
darauf, diejenigen, welche hier hauptsächlich gepflanzt werden, auf-
zuzählen. An Korngattungen haben wir nur zwei: Mais und Reis,
da Weizen und Gerste erst in höher gelegenen Gegenden gedeihen.
Anstatt der Kartoffel haben wir die viel nahrhaftere Juka (Mauioc)
und drei bis vier Gattungen süsse Kartoffeln (Knollen winden, Camo-
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— 26
tos genannt); auch die Bananen, hier Platanos genannt, von denen
es wenigstens zwölf Gattungen giebt, und deren Fruchttrosse bis
150 Pfund wiegen kann, sind besonders im baumreifen Zustande ein
gutes und gesundes Nahrungsmittel. Im ganz reifen Zustande
schmecken sie den Birnen ähnlich. Unter den Fruchtbäumen ist
wohl der beliebteste der Pomeranzenbaum, an dem beinahe das
ganze Jahr reife Früchte zu finden sind. Ferner fehlt es nicht an
Citronen, Limonen, Butterbirnen, Brotbäumen, welche letzteren nicht
so sehr wegen ihrer kastanienähnlichen Frucht, als vielmehr wegen
ihrer vorzüglichen Schönheit in Krone und Blättern gepfianzt wer-
den. Die edelste aller Früchte ist zweifelsohne die Ananas, welche
hier ein Gewicht von 7 — 8 Pfund erreicht. — Der wichtigste Export-
artikel ist bis jetzt noch immer der Kaffee, dessen Qualität zu den
vorzüglicheren gehört. Ich hatte im vorigen Jahre drei Centner an
einen Freund in Deutschland abgeschickt, und dieser berichtete mir,
dass der Kaffee dort sehr gefallen habe, und dass er bald einen
grossen Ruf erlangen würde, wenn er in grossen Quantitäten
dahin könnte befördert werden. Aber darin liegt eben die Schwierig-
keit: die schlechten Wege! — Es würde der Regierung sehr wenig
kosten, den Weg von hier nach Mairo in guten Stand zu setzen,
und dort am schiffbaren Flusse eine Colonie anzulegen; dann könn-
ten die Schiffe, welche den Ucayali befahren, auch bis nach Mairo
kommen und unsere Erzeugnisse auf den Markt nach Europa bringen.
Ueber Lima aber kommt die Lieferung zu theuer, denn von hier bis
Huänuco (etwa 24 leguas) kostet die Fracht für 100 span. Pfund
4 Soles, und von dort nach Lima (70 leguas) gegenwärtig bis 16 Soles.
Einen näheren Weg nach der Küste giebt es nicht. — Die Ansiedelung
des Mairo wurde aber schon seit etwa zehn Jahren immer von den
bei der Regierung einflussreichen Bewohnern von Tanna hinter-
trieben, welche für die ihnen nahe liegende montafla von Chancha-
mayo arbeiteten, wo sie bedeutende Haciendas besitzen. Sie wussten
unter dem Vorwände, dass von dort aus die nächste Wasserstrasse
nach dem Atlantic führte, die Regierung dahin zu bringen, dass un-
geheure Summen auf Untersuchungsexpeditionen weggeworfen wur-
den (zu einer einzigen wurden auf einmal 200000 Soles bewilligt),
welche am Ende aber doch zur Ueberzeugung führten, dass Schiff-
fahrt dort weithin unmöglich sei. Demungeachtet setzten sie es
wieder durch, dass mit Aufwand von Hunderttausenden von Soles
eine italienische Colonie dorthin gebracht wurde, welche aber nach
Jahr und Tag, als die Verpflegung von Seite der Regierung auf-V
hörte, sich wieder zerstreute. Gegenwärtig sind dort nur noclj
wenige Ansiedler, welche verschiedenen Nationalitäten angehören,. —
— 27 —
Das ganze Streben der peruanischen Regierung geht seit Jahren
darauf, die Westküste mit dem Atlantic in Verbindung zu bringen; —
dass der Fluss bis zum Mairo herauf fahrbar ist, ist Thatsache ; denn
schon einmal (1866) sind zwei Dampfer mit drei Kuss Tiefgang dahin
gekommen. Aber Huänuco und besonders die deutsche Colonie des
Pozuzo hat zu wenig Protection bei der Regierung; und deswegen
lässt man lieber zum eigenen Schaden Mairo liegen und sucht nach
allen anderen Seiten einen schiffbaren Fluss, den aber der liebe Gott
erst neu erschaffen müsste. — Hütte die Regierung den zehnten
Theil des für Chanchamaya unnütz verwendeten Geldes auf einen
guten Saumweg von Cerro de Paseo nach Mairo und auf Ansiedelung
einer kleinen Colonie daselbst angewendet, so wäre die Verbindung
mit dem Atlautic schon lange eine vollendete Thatsache. — Ausser
dem Kaffee wird noch eine bedeutende Quantität Coca ausgeliefert,
welche für alle Indianer beinahe ohne Ausnahme ein unentbehrliches
Bedürfniss ist. Coca und Kaffee stehen hier zu gleichem Preise,
nämlich 3 Soles 20 cts. für eine arroba = 25 Pfund (1 Sol = 5 francos).
— Ueberdies geht auch unser Reis nach Huänuco und Cerro de
Paseo beinahe zu demselben Preise. — Der hier gezogene Taback
ist vorzüglich; er wird meistens zu Cigarren verarbeitet, und die
besseren davon werden in Lima gerne als Habanas verraucht, wenn
der Cigarrenhändler es nur versteht, ihren Geburtsort zu verheim-
lichen. Es kam schon vor, dass Cigarrenhändler in Lima und Cerro
de Paseo für 1000 Brevas 80 und mehr Soles bezahlten. — Die Baum-
wolle, sowohl weisse wie rothgelbe, gedeiht auch sehr gut, ihre Ver-
führung lohnt sich aber nicht hinreichend wegen des hohen Fracht-
preises. — An Export der Früchte lässt sich aus demselben Grunde
auch gar nicht denken. — Die Gultur des Cacao wird nur von Ein-
zelnen im Kleinen betrieben ; auch dieser wäre werth, wegen seiner
vorzüglichen Qualität in den Handel gebracht zu werden. — Das
Zuckerrohr, obwohl es sehr üppig wächst, in 10 — 12 Monaten zum
Schnitte reif ist, und, weun einmal gepflanzt, sehr wenig Arbeit
giebt, könnte doch nur im Grossen betrieben gute Rechnung geben ;
daher pflanzen die Colonisten nur so viel, als zur Befriedigung ihrer
eigenen Bedürfnisse an Zucker, Syrup und Branntwein erforderlich
ist. — Auch die Wälder würden manche Ausbeute an schönen Holz-
gattungen, Harzen u. s. w. geben. Hier ist z. B. ziemlich häufig
der Quinaquinabaum oder Estoraque, welcher den peruanischen
Balsam liefert; die Cinchona officinalis ist in unseren Gebirgen bei-
nahe überall zu finden und wurde vor 50 — 60 Jahren stark aus-
gebeutet. Die Frucht des Mandelbaumes ist grösser, süsser und
ölhaltiger, als die im Handel vorkommende Mandel. Dieser Baum
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kommt auch ziemlich häufig vor. hat aber keine Aehnlichkeit mit
dem amygdalus communis in den Blättern, denn diese sind lang-
gestielt, fünf- bis sechstheilig ; die Blftthe ist carmoisinroth. Wegen
der Dicke der Bäume, welche überdies in diesen Urwäldern sechzig
und mehr Fuss hinauf keine Aeste haben, ist es aber unmöglich,
diese Früchte zu sammeln, und die von selbst abgefallenen sind trotz
ihrer harten Schale doch gewöhnlich von Würmern angefressen. Die
übrigen geniessbaren Früchte des Urwaldes sind von geringer Be-
deutung, ausgenommen die Früchte der verschiedenen Passifloren,
welche freilich auch in dem ewigen Schatten des Waldes zu säuer-
lich schmecken und erst im Freien ihren so angenehmen süss-
säuerlichen Geschmack erhalten. — Auch giebt es mehrere Holz-
gattungen von den edelsten Gerüchen; so findet sich ein Baum von
höchstens ein Fuss Dicke, dessen Holz wie Muskatblüthe duftet. —
Aus dem Mineralreiche ist Gold in mehr oder weniger bedeutenden
Spuren in beiden Flüssen, besonders im Pozuzo, zu finden; auch
weiss ich mit Bestimmtheit, dass noch vor 25 Jahren in einem Be-
zirke von weniger als 1 □legua von ein paar Indianern zwei Minen
ganz heimlich bearbeitet wurden. Als aber im Jahre 1854 — 55 ein
typhusähnliches Fieber die Einwohnerzahl vou Peru beiläufig auf die
Hälfte reducirte, starben auch diese, als sie nach Aussen gegangen
waren, um ihre kranken Angehörigen zu sehen, und seitdem hat
sich Niemand mehr um diese Minen bekümmert, theils aus der dem
Indianer angebornen Trägheit und Gleichgültigkeit, theils und wohl
noch mehr aus Aberglauben, weil sie, wie ich selbst gehört habe,
von der Ansicht beherrscht sind, die ihnen Niemand benehmen kann,
dass sie unmittelbar vom Blitze erschlagen würden, wenn sie in eine
verlassene Goldmine eintreteu, oder sie gar einem Nicht-Indianer
entdecken wollten. — Unter den Colonisten, die ohnehin ohne alle
bergmännischen Kenntnisse sind, ist auch das Interesse nicht so gross,
dass sich Einer der Mühe unterziehen wollte, einige Tage in jenem
Bezirke herumzusteigen, um eine dieser Minen zu entdecken. —
Auch von Silber-, Blei- und Eisenerzeu bringen die Bäche in der
Regenzeit hübsche Exemplare. — Kupfer- und Schwefelkies kommt
in einigen Gegenden sehr reichlich vor. — Das Wichtigste für uus
aber ist das Salz, welches zu beiden Seiten des Pozuzo in stark
gesättigten Quellen sich findet und durch Abdampfen gewonnen wird.
Was nun den Wohlstand der Colonie betrifft, so können Sie aus
dem Gesagten abnehmen, dass es dem Colonisten, wenn er nur will,
an dem Nothwendigen nicht gebricht. An Lebensmitteln fehlt es
nie, — es hat in 20 Jahren noch nicht ein einziges Missjahr gege-
ben. Die beste Zeit zum Pflanzen ist zwar zu Anfang der trockenen
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Jahreszeit, aber im Nothfalle kann man dem Boden Etwas zu jeder
Zeit abgewinnen. — Rindfleisch können wir freilich nicht regelmässig
haben, weil es hier an Weide fehlt, und jeder Colonist muss seine
paar Kühe, welche der Milch und Butter wegen in keiner Haus-
haltung fehlen, im Stalle angebunden halten. Dafür werden Hühner
iu grosser Zahl gehalten, und was ein französischer König jedem
seiner Unterthanen wünschte: jeden Sonntag ein Huhn im Topfe, —
das kann jeder Colonist haben. — Die Schweinezucht gedeiht auch
ganz gut. — In den ersten Jahren unseres Hierseins war auch die
Jagd sehr ergiebig; ausser den in grossen Truppen herumziehenden
Xabelschweinen (Dicotyles), gab es liehe und viele Hühner von ver-
schiedenen Gattungen. Aber jetzt ist Alles schon selten geworden,
und die Wildschweine haben sich gänzlich zurückgezogen. Noch am
häufigsten sind zwei Gattungen Nagethiere, nämlich der Mischo,
welcher bei Tage, und der Hase, welcher bei Nacht die Mais- und
Jukapflanzungen heimsucht. Der erstere wiegt 10 — 12 Pfuud und
kann auf dem Anstand leicht erlegt werden, weil er regelmässig nur
vor Aufgang oder nach Untergang der Sonne hervorkommt. Der
letztere (welchem die Spanier den Namen lieble (Hase) wahrschein-
lich deswegen gegeben haben, weil er sehr kurze Ohren und weiter
mit dem Hasen gar keine Aehnlichkeit hat, als dass er auf vier
Füsseu geht) hat Backeutaschen, ist doppelt so schwer als der Mischo
und hat ein sehr zartes Fleisch. Dieser wird gewöhnlich einige
Nächte durch eine aufgelegte Juka gefüttert, am ersten oder zweiten
Tage nach dem Vollmonde geht der Jäger auf die Lauer mit der
Laterne, welche er in der Nähe der Juka aufhängt, und schiesst
das Thier aus kurzer Entfernung beim Laternenscheine, bevor der
Mond aufgeht, denn so lange der Mond am Himmel steht, verlässt
der Hase gewöhnlich seine Höhle nicht. — Das grosse Gürtelthier
kommt selten vor, und noch seltener der Tapir.
Der Gesundheitszustand lässt nichts zu wünschen übrig, und
die Sterblichkeit ist hier im Durchschnitte um mehrere Procente
geringer als in Deutschland. Während ausserhalb der montaila
kaum ein Jahr vergeht, in welchem Blattern, Typhus und andere
bösartige Fieber nicht zahlreiche Opfer fordern, ist hier noch nie
irgend eine epidemische Krankheit vorgekommen, selbst die Blattern
nicht, ungeachtet wir hier keine Impfung haben.
Der Erwähnung werth ist jedenfalls auch der Umstand, dass
wir hier von den iu heissen Gegenden so lästigen verschiedenen
Insekten so zu sagen gänzlich frei sind. Die Läuse sind hier un-
bekannt, ihre Heimath sind die höher gelegenen, kalten Gegenden.
Hie Flöhe belästigen wohl Hunde und Katzen, aber nie den Menschen.
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Auch die Wanzen sind hier nicht zu finden. Mosquitos und Schnaken
sind sehr selten, so dass Wochen vergehen können, ohne dass man
von Einem derselben belästigt wird. Die einzigen Thiere, die wir
auch noch leicht entbehren könnten, sind die Schaben, die in allen
Wohnungen häufig Vorkommen, und wenn sie bei Nachtzeit ihre
Ausgänge machen, auch nicht immer Rücksicht nehmen, ob ihr AVeg
nicht über das Gesicht eines Schlafenden führt, ja zuweilen sogar
sich erfrechen, irgend ein kleines Theilchen der epidermis zu be-
nagen, was sie freilich mit solcher Zartheit ausführen, dass man
dadurch im Schlafe selten gestört wird. — Schlimme Gäste für die
Wohnungen sind die Termiten, weil es kaum Eine Holzgattung giebt.
welche ihren Zangen Widerstand zu leisten vermöchte. Selbst in
gemauerten Häusern arbeiten sie sich innerhalb der Mauer durch,
um die Fensterstöcke und den Dachstuhl zu erreichen.
Nun noch ein paar Worte über die Verwaltung der Colonie.
Ueber Ordnung und Ruhe zu wachen, was zwar sehr wenig Arbeit
giebt, ist ein Colonist von den Erstangekommenen als Gobernadar
aufgestellt mit einem Gehalte von 50 Soles monatlich, von denen
aber freilich bei der gegenwärtigen Geldklemme viele Monate rück-
ständig bleiben. Die Gemeindeangelegenheiten verwaltet der Ge-
meinderath mit dem Alcalde an der Spitze, diese werden alle vier
Jahre von der Gemeinde selbst gewählt. Zur Schlichtung der Streit-
sachen werden jedes Jahr von dem Richter der Ersten Instanz in
Huänuco zwei Friedensrichter aus den Colonisten ernannt. Gerade
dem Colonisationsgesetze vom 24. Mai 1845 muss die Regierung
auch für den Unterhalt des Seelsorgers sorgen, und deswegen ist
mir ein Gehalt von 40 Soles monatlich ausgesetzt, das aber auch
schon seit mehr als vier Jahren rückständig ist. Nicht viel besser
geht es dem Lehrer, dem 50 Soles bewilligt sind. Nach dem er-
wähnten Gesetze wäre es auch Pflicht der Regierung gewesen.
Kirche und Wohnung für den Priester herzustellen ; aber ich musste
mir meine Wohnung selbst bauen, und der ganze Beitrag zum
Kirchenbau bestand in 468 Soles, welche mir im Jahre 1867 Prä-
sident Prado privatim zukommen liess. Da wir aber doch für jeden
Fall eine anständige Kirche aus Stein aufführen wollten, was für die
kleine Colonie kein kleines Unternehmen war, so konnten wir erst
1875 unsern Plan in Ausführung bringen.
Aus dem Gesagten geht mehr als zur Genüge hervor, dass die
deutsche Colonie des Pozuzo von je her von Seiten der Regieruug
sehr vernachlässigt wurde, und dass jene des blühendsten Wohl-
standes sich erfreuen könnte, wenn diese ihre Schuldigkeit getliac
hätte, wenigstens durch Herstellung der Wege und Brücken. In der
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Regenzeit schwellen unsere Flüsse zu einer solchen Grösse an, dass
eine hölzerne Brücke unmöglich Widerstand zu leisten vermag.
Daher befinden sich die Colonisten jedes Jahr in der Nothwendig-
keit, für die trockene Zeit zwei neue Brücken zu bauen, und in der
Regenzeit kann die Verbindung der beiderseitigen Ufer nur dadurch
hergestellt werden, dass in bedeutender Höhe über dem Flusse eine
Luftwurzel gespannt wird, an welcher vermittelst Rutschens der
Uebergang ermöglicht wird. Aber selten vergeht ein Jahr, ohne
dass auf diese Weise ein Menschenleben zu beklagen wäre. Des-
wegen hat auch in diesem Jahre wieder der Herr Gobernador die
Regierung dringend um die nöthigen Drahtseile zu zwei Brücken
gebeten, erhielt aber die für uns wenig tröstliche Antwort, der Herr
Minister bedaure sehr, nicht aushelfen zu können, weil in den
Magazinen der Regierung keine Drahtseile mehr vorräthig wären.
— Und so wird man sich leider auch in der kommenden Regenzeit
wieder mit einem Luftseil behelfen müssen.
Eine neue Fischereiunternehmung im nördlichen
Eismeere.
—
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Die nachstehenden Mitthciluugen geben die erste nähere Aus-
j kauft über ein Unternehmen, welches die Ergebnisse der neuesten
Forschungen und Entdeckungen im europäisch-sibirischen Eismeere
: für Handel und Wissenschaft dauernd auszunutzen bestimmt ist.
Wir haben bereits früher mehrere Male der interessanten
Reisen des Leutenant Sandeberg im arktischen Russland Erwähnung
gethan. Jetzt hören wir, dass die Regierung dieses Landes ihre
Anerkennung seiner Thätigkeit in jenen Gegenden in grossartiger
Weise an den Tag gelegt hat, indem sie ihm eine Concession für
den Walfiscbfaug innerhalb des russischen Eismeeres sowie auf
Raum für die Anlage ausgedehnter Fabriken, für das erforderliche
Bau- und Brennmaterial u. s. w. ertheilt hat.
Leutenaut Sandeberg hat nun eine Einladung zur Bildung
einer russischen Actiengesellschaft erlassen, um den Walfisch- und
Seehundsfang, sowie die Fischerei von Dorsch, Häring, Haifisch und
Lachs zu betreiben. Das Actienkapital beträgt zwei Millionen Rubel.
Der Betrieb soll im Frühjahr 1880 im Gang sein.
Das Eismeer läugs dem russischen Lappland, wo der warme
Meeresstrom noch dem Lande folgt, oder die sogenannte Mur-
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— 32 —
man’sche Küste, ist seit langer Zeit durch ihren grossen Reich-
thuni an Speckthieren und Fischen der edelsten Art bekannt.
Deshalb haben auch seit Jahrhunderten die Regenten und hervor-
ragenden Männer Russlands mit gutem Grund dieser Sache ihre
grösste Aufmerksamkeit gewidmet und bedeutende Kapitalien auf die
Nutzbarmachung dieser natürlichen Reichthümer verwandt. Aber
Mangel an Erfahrung und dienlichem Material haben bisher diese
Arbeit nutzlos erscheinen lassen. Die Kriege der letzten Jahrzehnte
und die Entwickelung des Landes nach andern Richtungen hin haben
die allgemeine Aufmerksamkeit so stark in Anspruch genommen,
dass alle Gedanken au die Munnan’sche Küste weichen mussten.
Sie wurden jedoch bald zu neuem Leben wachgerufen. Sande-
bergs naturwissenschaftliche Forschungen haben in Bezug auf den
Fischfang nicht nur das Vorhandensein dieser seit langer Zeit be-
kannten Reichthümer bestätigt, sondern seine Untersuchungen der
der Küste folgenden flachen und ebenen Bänke haben auch dar-
gethan, dass grade diese der Aufenthalt der zahlreichsten Züge der
fettesten und grössten Fische sind, welche dort in Myriaden gerin-
gerer Meeresthiere schwelgen, während man bisher voraussetzte, dass
nur der schwächste und magerste Fisch seinen Schutz am Lande
suche. Norwegische Fischer sind der Ansicht, dass die Fische
des Eismeeres fetter und besser sind, als die des Atlantischen
Meeres.
Hier kamen die Kenntnisse des Leutenaut Sandeberg von der
Art und Weise der Behandlung der Fischereien in den verschiedenen
Ländern zur vollen Geltung. Das Glück war ihm auch darin
günstig, dass die neuere Erfindung und Verbesserung der amerika-
nischen Börsennetze fpurse seine), ein früher nicht gekanntes Mittel
zum Betriebe einer recht grossartigen Bankfischerei boten. Bei
Versendung ihrer Producte kommen auch die neuerdings in Amerika
erfundenen Methoden einer billigen und guten Conservirung der
Fische zur Versendung selbst auf weite Distancen, wie z. B. von
der Westküste der Vereinigten Staaten nach Europa, sehr gelegen.
Dem norwegischen Kapitän S. Foyn ist es nach langen und theuren
Experimenten vor einigen Jahren geglückt, eine Methode aufzufinden.
nach welcher er mit beinahe voller Sicherheit auch diejenigen Wal-
fische an’s Land bringen kann, welche aus Mangel an Speck nach
dem Tode sinken ; ebenso hat er bei Wadsö eine Fabrik für Bereitung
des Walfischguanos und Thrans angelegt, wo im vorigen Jahre die
Cadaver von 95 Walen ausgenutzt wurden, welche alle während
vier Monaten innerhalb eines einzigen Meerbusens gefangen waren,
in welchem er schon früher 15 Jahre lang seinen Walfischfang be-
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— 33 —
trieben hatte. Mit diesem Manne hat nun Sandeberg einen Contract
abgeschlossen, nach welchem er Zeichnungen zu Fabriken, Dampf-
böten und Geräthschaften für die Walfischjagd abgeben, das Per-
sonal einüben, bei Anlage der Fabrik behülflich sein und später der
sich bildenden Gesellschaft Rath und Aufklärungen geben soll.
Man sollte annehmen können, dass die Gesellschaft, welche bei
Anwendung aller Hülfsmittel unserer Zeit an einer hinsichtlich der
Fischerei noch nicht ausgenützten Küste zuerst anfängt, Walfischfang
und sonstige Fischerei zu betreiben, bei guter Leitung auch einen
angemessenen Gewinn geben müsste. Wir gönnen der Gesellschaft
diesen Gewinn gern in Anbetracht der grossen civilisatorischen Auf-
gabe, welche Sandeberg der Gesellschaft in der Entwickelung
Sibiriens und in einem genauen, in jedem Jahre fort-
gesetzten geographischen und naturwissenschaftlichen
Erforschen des Eismeeres im Norden von Europa und
Asien gestellt hat.
Seitdem jetzt praktisch festgestellt worden ist, dass der Ob
und Jenissej, sowie der Weg zu den Mündungen dieser Ströme durch
das Karische Meer gegen zehn Wochen im Jahre offen ist, ist es
ausser allem Zweifel, dass die reichen Producte Sibiriens an Holz,
(ietreide, Talg, Mineralien, Flachs, Hanf, Leinsamen u. s. w. diesen
billigsten Weg auf den Weltmarkt nehmen werden.
Es scheint sich bereits gelohnt zu haben, mit Dampfböten,
welche diese Reise nur einmal des Jahres machen können, die Schiff-
fahrt zwischen westeuropäischen Häfen und den Flüssen Ob und
Jenissej zu betreiben, und zwar trotz der übermässigen Assecuranz-
prftmie und des Mangels an passenden Verladungseinrichtungen an
den Strommündungen. Es ist aber klar, dass ein auf so kurze Zeit
des Jahres beschränkter Verkehr nicht wesentlich zur Entwickelung
der reichen Hiilfsquellen Sibiriens beitragen kann.
Ganz anders stellt sich die Sache, wenn die Schiffahrt nach
Sibirien mit grossen, bedeutende Ladungen führenden und schnell-
fahrenden Dampfern betrieben wird, welche während der eisfreien
Zeit zwischen den Mündungen dieser Flüsse und dem Etablissement
der Gesellschaft, der von Sandeberg projectirten neuen Stadt
Alexandrofsk,*) verkehren. Von dort hat man dann das ganze Jahr
*) Unterhalb der Fischerhalbinscl Rybatschy (Polyostrow Rybatschy) liegt
die kleine sogenannte .Mittlere Halbinsel' (Polyostrow Sredny), die letztere mit
der Halbinsel Kola durch eine ganz schmale und mit Rybatschy durch eine etwas
breitere Landenge verbunden. Auf dieser letzteren soll die Stadt Alexandrofsk an-
gelegt werden. Dieselbe liegt also zwischen einer der Hafenbuchten der russischen
(östlichen) Seite des Waranger-Fjords und dem Motkafjord auf etwa (>9'i's “ N. Br.
und 29>/i“ O. L. Gr.
Oeogr. Blätter, Bremen 18711. 3
S-
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— 34 —
hindurch offenes Wasser nach den westlichen und südlichen Häfen
Europas.
Auf diese Weise kann man jeden Sommer 4 — 5 Touren midi
dein Ob und 5 — 6 nach dem Jenissej machen, wenn das Verladen
an ihren Mündungen in gehöriger Weise geordnet wird. Auch lernen
dann die Führer dieser Dampfer den Weg genau kennen, so dass
das Risico und mithin die Versicherungsprämien sich von seihst
bedeutend herabmindern müssen. Nur in dieser Weise kann Sibirien
für Russland Das werden, was mit gutem Grund von einem an natür-
lichen Hülfsquellen so reichen Lande erwartet werden kann. Sogar
nach dem Lenafluss und seiner Mündung dürften ein- oder zweimal
des Jahres diese Fahrten sich ausdehnen lassen.
Die Steinkohlen, welche als Brennmaterial für diesen Betrieb
erforderlich sind, erhält die Gesellschaft billiger als die meisten
anderen Gegenden ausser den Steinkohleudistricten selbst. Der
bedeutende Export vom Weissen Meere an Holz, Getreide u. s. w.
wird jetzt fast ganz ohne Retourfrachten betrieben. Man kann da-
durch einen beinahe unbegrenzten Bezug von Steinkohlen zur Ballast-
fracht von 5 — 6 sh. per engl. Tonne und damit ein sehr billige
Brennmaterial erhalteu, welches von grosser Wichtigkeit ist, sowohl
für den eigenen Betrieb der Gesellschaft, als für den Verkehr über-
haupt, welcher sich mit sibirischen Waaren entwickeln wird.
Die neue Stadt wird demnach ein Hauptdepot für den Handels-
austausch zwischen Sibirien und Europa. Hierdurch kann die
Gesellschaft sich auch einen grossen Theil ihrer Bedürfnisse, Pro-
viant u. s. w. zu einem sehr niedrigen Preise verschaffen, was eben- :
falls ihrem Unternehmen wesentlich nützen muss.
Da das eine Gewerbe immer andere Industriezweige bedingt
und entwickelt, so unterliegt es keinem Zweifel, dass die neue Stadt
innerhalb weniger Jahre zahlreiche unternehmende Ansiedler heran-
ziehen und dadurch schnell an Bedeutung gewinnen wird.
In der Schiffahrt nach dem arktischen Russland ereignen sich
leider viele Seeunfälle, bei denen sowohl manches Menschenleben wie
auch Fahrzeuge und Ladungen von grossem Werth verloren geheu.
Die meisten Schiffe sind durch Strandung auf den Sandbänken bei
der von Strömung und Seenebelu beständig erschwerten Einfahrt
in das Weisse Meer verunglückt. Ihre Besatzungen hätten wahrschein-
lich mit der grössten Leichtigkeit gerettet werden können, wenn ein
Rettungsboot verhanden gewesen wäre, während jetzt die grössten
Fahrzeuge sogleich verlassen werden müssen, sobald sie auf Grund
gerathen sind. Noch nöthiger wäre ein solches Rettungsboot, wenn
sich die Schiffahrt nach Sibirien entwickelt. Deshalb schlägt Sarnle-
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— 35
berg vor, dass die Gesellschaft zum Anfang all geeigneter Stelle eine
Kettungsstation mit der »üthigen Ausrüstung einrichte.
Ausser den Fahrzeugen, welche die Schiffahrt, nach Sibirien
unterhalten sollen, wird die Gesellschaft sofort fünf Dampfer für die
Walfisch- und Seehundsjagd bauen lassen. Alle diese Fahrzeuge
werden auf Sandeberg’s Kosten mit den besten Apparaten für das
Absuchen und Draggen des Bodens zur Ermittelung der Fauna und
Flora des Meeres, sowie mit Instrumenten behufs Feststellung der
Meerestiefe, Temperatur, des Salzgehalts, der Strömungen u. s. w.
ausgerüstet werden.
Da diese Dampfer bei ihrer Jagd auf Thranthiere während des
grössten Theiles des Jahres verschiedene Gegenden des Eismeeres
befahren werden und stets unter Dampf sind, können die wissen-
schaftlichen Arbeiten so zu sagen mit in den Kauf genommen wer-
den. Für die Gesellschaft wird damit der Vortheil erreicht, dass
die Befehlshaber und Besatzungen dieser Fahrzeuge in ihrer In-
telligenz gehoben werden, während hier wie stets und überall die
wissenschaftliche Forschung ihrer Zeit eine Ernte auch in materieller
Hinsicht bieten wird. Für das Studium der Naturwissenschaften
werden hier neue Gebiete eröffnet werden, besonders in biologischer
Beziehung. In Bezug auf die niederen Thiere hat bis jetzt nur
wenig durch gelegentliche Expeditionen erforscht werden können.
Was besonders die bisher so wenig bekannten Waltischarten betrifft,
so ist es selbstverständlich, dass dieses Unternehmen über die Be-
stimmung und Lebensart derselben neues Material bringen wird.
Auch von dem geographischen Gesichtspuncte aus wird die
Wirksamkeit der Gesellschaft nicht ohne Bedeutung sein. Die bis-
her unternommenen arktischen Expeditionen haben Jahre vorher
ausgerüstet werden müssen und sind dann gezwungen gewesen, ihr
i Programm ohne Rücksicht auf die möglichen Eisverhältnisse des
kommenden Jahres zu verfolgen. Man denke sich nur, wie weit ein
guter Dampfer hätte nach dem I’ol Vordringen können während
eines Jahres wie 1878, wo die Bassins zwischen Spitzbergen und
Nowaja Semlja, ja bis nach Kap Tscheljuskin so frei von Eis waren,
(lass norwegische Fangleute mit ihren kleinen Segelfahrzeugen
Nowaja Semlja umfahren und sogar bis nach Kap Taimyr Vordrin-
gen konnten, ohne irgend welches schwerere Eis anzutreffen. Was
hätte man unter diesen Verhältnissen mit Fahrzeugen ausrichten
können, welche ihr Standquartier nur wenige Tagereisen von Spitz-
bergen und Franz Josephs Land haben? —
Der beste Fang von Thranthieren ist natürlich in den für die
Fischerei noch nicht ausgebenteten Gebieten. Es liegt deshalb im
3*
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— 36 —
Interesse der Gesellschaft, stets so weit wie möglich nach Norden
ihren Betrieb auszudehnen. Dabei muss darauf hingewiesen werden,
dass man bisher im europäischen Eismeer sich noch am meisten der
arktischen Centralregion genähert hat.
Um den Walfischfang, die Fischereien, die Schiffahrt nach
Sibirien und die wissenschaftlichen Untersuchungen in geordneten
Gang zu bringen, ist es Sandebergs Absicht, sich während der
nächsten fünf Jahre am Eismeer niederzulassen.
Hiermit haben wir die Grundzüge des bedeutsamen Unterneh-
mens gezeichnet, welches viele gesunde Keime für die Entwickelung
von Handel, Industrie und Schiffahrt in Gebieten in sich trägt, die
bis dahin öde und ungenutzt waren. Möge es dem wackeren Manne,
welcher die Angelegenheit mit so vielem Eifer und Geschick in die
Hand genommen hat, gelingen, sie zu bedeutenden und dauernden
Erfolgen zu führen! Nach der ganzen Anlage des Unternehmens
und der wissenschaftlichen Thätigkeit, welche Herr Sandeberg bisher
entwickelt hat, darf mau annehmeu, dass neben dem materiellen
Gewinn auch für die naturwissenschaftliche Erkenntniss reiche Früchte
erzielt werden.
Der Besuch der norwegischen Nordmeerexpedition
auf Jan Mayen im Sommer 1877.
Der Freundlichkeit der Herausgeber der Zeitschriften „Nature“ in
London und „Naturen“ in Christiania verdanken wir die beiden hier
veröffentlichten
genonnnen.Pro- !
Ansichten und
fessor Molm, der
Skizze der Insel
hochverdiente
Jan Maven. Die-
Chef dieser Ex- j
selben wurden
Izutfl* bl/igjo V ^
pedition, hat in
von Mitgliedern
m
den genannten
der norwegi-
Zeitschriften, so-
schenNordineer-
expedition nach
der Natur auf-
' wie in Dr. Peter-
mann's Geogra-
phischen Mit-
theilungen 24. Bd. 78. VI. diesen Besuch geschildert und die Resultate
seiner Beobachtungen niedergelegt. Das genannte Heft der Peter-
mann’schen Mittheilungen enthält zugleich eine Originalkarte von
Jan Mayen nach Zorgdrager, Scoresby und der Aufnahme der
norwegischen Nordmeerexpedition, entworfen von Kapt. 0. Wille und
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— 37 —
Dr. H. Mulm, liebst zwei Ausichteu des Beereubergs. Wir stellen
hier das Wichtigste aus Mohn’s Berichten über die merkwürdige,
vulkanische Insel, welche bekanntlich auch von einem deutschen Forscher,
Carl Vogt, im Jahre 1861 besucht wurde, zusammen, indem wir zunächst
daran erinnern, dass die im Westen von Norwegen, im Nordosten
von Island, im Osten von Grönland und im Südwesten von Spitz-
bergen gelegene Insel in ihrer Längenerstreckung von Nordost nach
Südwest etwas über sieben und eine halbe geographische Meile lang
ist, während die grösste Breite (des nördlichen Theiles) über zwei
geographische Meilen, die des südlichen Theiles ein und eine halbe,
die der schmälsten Stelle nur O,* geographische Meilen beträgt.
Die Insel wurde im Jahre 1611 durch den niederländischen Seefahrer,
nach welchem sie ihren Namen erhalten hat, entdeckt. Zur Zeit der
Blüthe des niederländischen Waltischfanges im europäischen Nord-
meere bildete sie eine Art Fischereidepöt. Die erste Schilderung
von Jan Mayen giebt Zorgdrager, sehr genaue Angaben enthält
Scoresby's bekanntes klassisches Werk, und endlich giebt Carl Vogt
eine geographisch-naturwissenschaftliche Beschreibung. Am 28. J uli 1 877
kam das Dampfschiff der norwegischen Nordmeerexpedition „Vöringen“
in Sicht der Insel und am 29. wurde an der Westseite, südlich vom
Vogelberg, zuerst gelandet; da das Wetter günstig, wurde am Nach-
mittag eine zweite Excursion zur Insel gemacht. Der Dampfer fuhr
dann im Norden um die Insel, der Ostseite entlang, wo westlich von
der Eierinsel geankert wurde. Hier misslang ein neuer Landungs-
versuch, indesseu wurde fieissig gelöthet und sobald die Witterung
es zuliess, Sonnenhöhen gemessen, Skizzen genommen etc. Bis zum
3. August verweilte das Schiff bei der Insel, zuletzt am Südwestkap.
Nach der am 31. Juli ausgeführten Triangulirung ist für den Gipfel
des Vogelberges auf der Westseite folgende geographische Lage er-
mittelt worden: Breite 70° 59' 55" — j— 5,s" Nord. Länge 8° 27' 17" +
40, t" (+ 13, i" in grösstem Kreis) West Greenw.
Das umgebende Meer hat nach allen Richtungen eine Tiefe
von 1000 Faden und darüber. Die Insel liegt ganz im ostgrönländischen
Polarstrome und ist das Wasser unter 10 bis 20 Faden Tiefe das
ganze Jahr hindurch eiskalt. Jan Mayen besteht ganz aus vulkanischen
Bergarten neuerer Bildung. Der nördliche Theil ist der grösste und
am meisten hervortretende; in seiner Mitte erhebt sich der 1943 Meter
hohe Beerenberg, ein erloschener Vulkan, dessen Krater eine Breite
von 1330 Meter hat. Der Rand des Kraters erscheint gezackt. Der
höchste Gipfel liegt auf der Westseite. Der nördliche Theil der
Insel ist bis zu einer Höhe von 700 Meter mit ewigem Schnee bedeckt.
Der Kegel des Beerenberges ist nur an den schroffsten Stellen, wo
Digiti
— 38 -
die schwarze Bergwand hervortritt, schneefrei : seine Basis erscheint
in einem weiten Schneemantel gehüllt, ans dem gewaltige Gletscher,
nenn das Meer erreichend, herabschiessen. Der südliche Tlieil von
Jan Mayen scheint unterhalb der Schneelinie zu liegen. Grosse
Schneefleckeu sind jedoch auch hier während des Sommers in den
Eiusenkungen zu sehen. Der niedrige, mittlere Theil der Insel, air-
festen Lavaiuassen gebaut, und reichlich mit Eruptiouskratern besetzt.
Ilnogbcrg, Stlil«riv<tt)iii'1il lind die «leben Klippen.
— 39
liegt an seinem tiefsten Puucte 66 Meter oder vielleicht etwas
weniger über dein Meere, während die Kratergipfel bis an 150 zu
200 Meter hiuaufsteigen. Die Höhe des Vogelberges beträgt 150 Meter,
nach der Messung des Professor Mohn. Die Höhe des Südlandes
erreicht bei Weitem nicht die des Nordlandes. Das Südland bildet
ein Hochplateau, das gegen Südost und Süd viele schroffe Abstürze
gegen das Meer hat; dagegen ist ihm nach Nordwesten ein niedriges
Vorland vorgelagert, dessen Höhe 100 Meter über dem Meere nicht
erreicht. Eigentümlich für die Küste Jan Mayens sind die auf
vielen Stellen aus dem Meere emporragendeu Klippen. Die Küsten
sind vielfach sehr steil und hoch. Au anderen Puncten giebt es ein
niedriges Vorland, welches aus Lava besteht. Dasselbe liegt zum
Theil so niedrig, dass es mit Treibholz bedeckt ist. Niedrige Ufer,
aus Sand bestehend, sind ebenfalls häufig, auch auf ihnen lagern in
grossen Massen Treibholz, Backenknochen und Wirbel von Walen,
Wrackgüter und ausgeworfener Taug. Nirgends auf der lusel findet
sich ein Hafen, der einem Schiffe oder einem Boote Schutz vor
Unwetter bieten könnte. Die Landung ist daher nur möglich, wenn
die See ganz ruhig ist. Die Fahrzeuge, welche, jetzt nur noch in
geringer Anzahl, in diesen Breiten in den Monaten März und April
dem Seehundsfang an der Eisgrenze, die sich um diese Zeit meist
westlich von Jan Mayen, vou Südwest nach Nordost, erstreckt, obliegen,
halten sich in der Regel in ehrerbietiger Entfernung von den gefähr-
lichen Klippen Jan Mayens. Die Flora Jan Mayens ist arm, nur ein
Dutzend phanerogamer Pflanzen wurde gefunden. Aber doch fehlt
der Insel im Sommer ein grünes Kleid nicht, vielmehr bildet der
Moosteppich, der grosse Partien des Landes bedeckt, einen ausge-
zeichnet malerischen Contrast zu den schwarzen, braunen und rothen
Tinten der Bergarten. Die Fauna ist ebenfalls nicht reich; Polar-
füchse. von denen einer geschossen wurde, und Seevögel sind die
Soimnerbewohner. Im Meere dagegen gedeiht das arktische Thier-
lebeu vortrefflich.
tmmä..
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— 40 —
Kleinere Mittheilungen.
Aus der Geographischen Gesellschaft in Bremen. Hinsichtlich der Vor-
gänge in unserer Gesellschaft verweisen wir auf den der heutigen Nummer unserer
Zeitschrift beigegebenen Jahresbericht des Vorstandes, und heben nur noch hervor,
dass der bisherige Schriftführer und Herausgeber dieser Zeitschrift, Anfangs März
dieses Jahres von Bremen nach Gotha übersiedeln wird, um mit Dr. E. Behm
zusammen die Redaction der Petermann'schen Mittheilungen zu übernehmen,
dass Dr. 0. Finsch binnen Kurzem die ihm von der Kgl. Akademie der Wissen-
schaften übertragene Reise nach Polynesien antreten wird, und endlich, dass unserem
Mitgliede, Kapitän Heinr. Sengstacke, erstem Officier des Dampfers .Germania*
von der Deutschen Nordpolexpedition, die Führung eines jetzt in Malmö in
Ban begriffenen Dampfers übertragen ist, welcher im Mai d. J. durch den
Suezkanal und den indischen Ocean nach der Beringstrasse gehen soll, um,
wenn möglich, den Seeweg von da zur Lenamündung zu eröffnen und der im
Eise beim Ostkap eingeschlossencn schwedischen Expedition, Dampfer .Vega*.
Hülfe zu bringen. Nach den bei der Redaction aus Washington eingelaufenen
Nachrichten befindet sich der Dampfer „Vega* in einer ziemlich geschützten
Bucht, nur etwa zehn Miles von der Küste entfernt. An letzterer liegt ein
grosses Tsehnktschendorf, und hegt man keine Besorgnisse für die Sicherheit
des Schiffes. Der von Herrn Bennett im Frühjahr von San Francisco auszu-
sendendc Dampfer „Jeannette“ dürfte übrigens früher zur Stelle sein, als der
neue Dampfer „Nordenskjöld“, Kapt. Sengstacke. Die Herren Kapt. Dallmann
und Kaufmann Schmidt sind vor Kurzem von Jenisseisk bisher zurückgekehrt.
Die Mannschaft des Dampfers „Moskau“ ist daselbst zurückgeblieben, da Dampfer
.Moskau“ in diesem Sommer Güter auf Bargen zur Jcnissejmündnng schleppen soll.
Die Meldung von der Ermordung Dr. Christian Rutenberg's auf Madagaskar.
Vor einigen Wochen traf in Bremen durch die Vermittlung des Auswärtigen
Amtes in Berlin eine von dem Befehlshaber des französischen Geschwaders in
Nossibö an das Ministerium in Paris gemachte telegraphische Meldung ein.
wonach ein deutscher Naturforscher mit Namen Dr. Rutenberg im Innern von
Madagaskar ermordet worden sei. Auf die von einem Hamburger Hause, welches
in Nossibe auf Madagaskar eine Factorei hat, bei seinem Vertreter in Aden tele-
graphisch eingezogene Erkundigung, lief die kurze Nachricht ein: „Report
Dr. Rutenberg confirmed, particulars unknown“. Die letzten directen Nachrichten
von dem Reisenden datiren vom August. Darnach beabsichtigte er im September
von Madzunga mit einem Gefolge von zehn Leuten südwärts durch das Innere,
namentlich die Landschaft Menabe zu ziehen und in Murondava die Küste wieder
zu erreichen. Die Katastrophe, von welcher Näheres bisher durchaus nicht
bekannt ist, soll sich in der Landschaft Menabe, einem der Wohngebiete der
Sakalava-Stämme, zugetragen haben. Im dritten Heft unserer Zeitschrift vorigen
Jahres theilten wir eine uns von dem Reisenden gewordene Zuschrift vom
8. April 1878 aus Nossibe mit, in welcher Dr. Rutenberg seine bisherigen Reisen
und seine ferneren Projecte kurz auseinandersetzt. Nach einer handschriftlichen
Skizze veranschaulichten wir zugleich die Routen auf einer kleinen Karte, und
wenn unsere Leser dieses Heft zur Hand nehmen, so werden sie allerdings diese
jetzt dem Anschein nach auf so tragische Weise unterbrochene Route, zugleich
mit einer projectirten Fortsetzung von Murondava quer durch den Südtheil der
Insel nach Fort Dauphin, finden. Wir geben uns noch immer der Hoffnung
Digitiz.
— 41 —
hin, dass diese Todesnachricht sich als eint- irrige erweisen und der Reisende
nach glücklicher Durchführung eines allerdings bei dem gefährlichen Character
der Sakalava-Stämme, deren Wohngebiet, wie eben bemerkt, die Landschaft Menabe
ist, sehr gewagten Unternehmens glücklich in die Heimath zurückkehren werde.
Eine Goldwäscherei im Gonvernement Jenisseisk. Von befreundeter Hand
erhielten wir die ausführliche Schilderung einer Reise von Krasnojarsk nach
einer Goldwäscherei im Kreise Atschinsk und des Lebens und Treibens in der-
selben. Wir entnehmen daraus die folgende anschauliche Darstellung.
.Endlich kamen die Häuser der Wäscherei in Sicht, alles Holzbaracken,
die im Glanz der Neuheit strahlten. Die Lage gefiel mir; früher, als der herr-
liche Cedernwald noch nicht als schreckenerregende Ruine dies weite Thal mit
dem munteren Flüsschen erfüllte, muss es hier schön gewesen sein. Jetzt liegen
die Häuser auf kahlem, langsam ansteigenden Terrain, dahinter recht an-
sehnliche Berge; aber auch diese zeigen niedergebrannte Wälder. Selbst im
Flussbett sieht man die rauchgeschwärzten Trümmer einer Goldwaschmaschine,
die einst hier stand. Nur wenige hundert Schritt von den Gebäuden entfernt,
jenseits des Flusses, tritt imposant ein nackter Fels hervor, der senkrecht zum
Flosse abfällt. Es ist weisser Marmor, aber wie mir scheint kein sehr schöner;
jedenfalls bietet er einen interessanten point de vue. Vielfach zerklüftet, zeigt
er die mannigfachsten Färbungen, phantastische und groteske Thier- und Menschen-
gestalten, die besonders deutlich hervortreten, wenn frischer Schnee auf den
flachen Stellen liegt. Wir hielten unseren Einzug. Arbeiter mit Frauen und Kindern
standen vor der sogenannten Kaserne, einem langen, sehuppenartigen Gebäude,
und sahen uns neugierig an. Links das Krankenhaus, das Baekhans, der Speicher
oder Magazin, rechts das Haus der Beamten mit seinen verschiedenen Wohnungen.
Diejenige des Verwalters war damals auch noch in diesem Gebäude. Es war
ein überraschend hübsches Bild, eine blan-weiss-rothe Flagge mit der Chiffre des
Besitzers im weissen Felde belebte es. Es ist, erstaunlich, mit welcher Feier-
lichkeit der Russe, besonders derjenige mittleren Standes, die Empfangsfeier-
lichkeiten auffasst und ansführt. So begrüssten uns denn auch jetzt der Verwalter
und seine Frau im Feiertagsstyl. Es war der 2. Mai. am Tage zuvor war unter
Abhaltung eines Gottesdienstes (Melcben) Nikolai dem Wuuderthätcr zu Ehren,
der für gute Geschäfte zu sorgen hat, die Maschine eingeweiht worden.
Iwan Stepanow r itsch hatte sich auf dieser Wäscherei schon vor 20 und mehr
Jahren ein Vermögen von einer halben Million erwaschen; dieses Capital hat
aber ein 17jähriger Process mit seinem Compagnon und dessen Complicen ver-
schlungen. Trotz des ansehnlichen Zeitraumes, durcli den sich derStreit hingeschleppt
hat, ist derselbe noch nicht beendigt. Als Iwan Stepanowitsch sah, dass sein
Vermögen zur Neige ging, liess er den Process, den er zum Theil gewonnen
hatte, niederschlagen und verglich sich mit seinem Gegner. Nach nahezu
itOjährigem Stillstand der Geschäfte und unzähligen nutzlosen Reisen zwischen
Petersburg und Sibirien fing er nun das Geschäft von Neuem an, und zwar ohne
Theilnahmc des ehemaligen Compagnons, dem er nur Procente zu geben sich
verpflichtete. Unterdessen war Wald und Wäscherei niedergebrannt, was die
Flammen übrig gelassen hatten, eigneten sich die Nachbarn zu; ja einige von
ihnen gruben und wuschen fröhlich drauf los und bereicherten sich so auf
fremdem Grund und Boden.
Ein Europäer hat kaum einen Begriff davon, was es heisst, unter solchen
Umständen und noch dazu mit Schulden und nochmals mit Schulden ein derartiges
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— 42
Geschäft wieder anzufangcn. Ohne die wahrhaft naive Zuversicht, mit der er
an diese Aufgabe ging, ohne seine bewunderungswürdige Suada wäre dieser gut-
müthig-sehlaue Mann nie so weit gelangt, wie es in diesem Augenblick der Fall
ist, und dabei ist’s ehrlich hergegangen, so ehrlich, als es in Sibirien nur
möglich ist.
Man kann sich denken, dass die Einweihung der neuen Maschine, obgleich
der Herr nicht zugegen, wie ein Fest gefeiert wurde! Der massenhaften Bauten
halber, die alle in den fünf vorhergegangenen Wintermonaten erledigt waren,
hatte man wenig Erdvorarbeiten machen können. So ging denn das Graben und
Waschen im Anfang (die Zeit des Waschens währt vom 1. Mai bis 1. Oct.) sehr
schwach von Statten; es dauerte bis gegen Ende Juni, ehe soviel Raum für
Menschen und Fuhrwerk beschafft war, dass sämmtliche für die Erdarbeiten
bestimmten Arbeitskräfte auch dabei Verwendung finden konnten. Die Erd-
arbeiten selbst gleichen denen in den Festungswerken sehr: terrassenförmig geht’s
vorwärts; die obere Erdschicht, die nur geringen Goldgehalt hat. wird, ohne
durchwaschen zu werden, beseitigt, llat man im Winter keine sogenannten
Schürfe — tiefe Gruben einige Fuss im Quadrat — angelegt, um die eigentliche
Goldader zu finden, so wird so ziemlich aufs Gerathewohl losgegraben. Zum
Glück fand man hier überall Gold, wenn auch mitunter nicht sehr viel. Das
Arbeitspensum wird den Leuten jeden Morgen oder schon am Abend zuvor von
den Oberaufsehern und Aufsehern, deren es eine Menge giebt, nach der Schnur
abgesteckt. Meistens arbeiten die Leute in Abtheilungen von 4 — ß Mann, ein
Theil stösst das Erdreich mit Brechstangen ab. Dabei sind sie sehr verwegen
sie fallen oft mit einer ganzen Erdscholle einige Klafter tief herab. Sie arbeiten
auch wohl mit der Spitzhacke. Bei hartem steinigen Erdreich ist die Arbeit sehr
mühsam. Andere schaffen die Erde in zweirädrige Karren und wieder Andere
fahren damit zur Maschine. Diese denke man sich folgendermassen : aus mäch-
tigen Pfählen ist ein 16 — 18 Fuss hohes Gerüst aufgeführt ; oben bildet es eine
Plattform, auf der sich 3 bis 4 zweirädrige Kippkarren, mit je einem Pferde
davor, bewegen können. Zu dieser Plattform führt einerseits eine schmale Holz-
stiege für die Aufseher und Wächter; von der Seite aber, wo die Arbeiter graben,
geht die Plattform in eine breite flach aufwärtssteigende Brücke über, auf der
die Fuhrwerke herauf- und hinabfahren. Seitlich in der Plattform befindet sich
eine Oeffnung im Boden, in diese wird die Erde aus den Kippkarren geschüttet
Die Oeffnung geht in ein breites Rohr über, das unterhalb der Plattform in eine
grosse eiserne, konisch geformte Tonne ohne Boden mündet; diese dreht sich
an einer starken Axe in horizontaler Lage. Letztere wird durch ein grosses
Wasserrad in Bewegung gesetzt, welches aus dem nahen Fluss mittelst eines
hölzernen Kanals gespeist wird. Das Wasser in dem letzteren hat ein recht
starkes Gefälle, welches jedoch mittelst Schleusen leicht zu reguliren ist. —
Nun treibt aber das Wasser nicht nur das Rad, sondern durch grosse Leder-
schlänche gelangt es in mächtigen Strahlen in das Innere des Riesentrichters,
in welchem Gold, Sand und Steine lärmend herumgeschüttelt werden. Durch
eine Menge Löcher, etwa in der Grösse eines Markstückes, fliesst dicklehmig
das Wasser wieder ab. Durch diese Löcher fallen auch das Gold und die kleineren
Steinchen; die grösseren Steine jedoch rollen zur breiten Oeffnung des Trichters
(kurzweg die Tonne genannt) heraus, wo sic auf einem Bleche weiter ratschen
und endlich in Wagen fallen, welche sie fortführen. Diese werthlosen Steine
bilden im Laufe eines Sommers ganze Gebirge ; Gründe werden damit ausgefüllt,
der hübsche, junge Baumnachwuchs wird durch sie erstickt und ver-
43 —
schwindet. Auch manche goldreiche Stelle wird vielleicht auf diese Weise
unzugänglich. Das Gold fällt, wie gesagt, durch die Löcher und zwar auf eine
schiefe Ebene, die sehr sauber gezimmert und gehobelt ist.; auf dieser liegen in
3 mal 3 Abtheilungen Holzroste dicht auf, sie sind abznheben und dieses geschieht
allemal, wenn man das Gold, oder vielmehr den Goldsand, nochmals dnrchwäscht,
täglich also zweimal, /wischen den einzelnen Stäben des Gitters bleibt das
Gold, von dem man übrigens nichts sieht, liegen ; weil es schwer ist, setzt es sich
schnell, und die Steinchen verdecken es. /wischen den oberen Sprossen liegt
natürlich das meiste Gold, nach unten zu enthält der Sand nur noch Gold-
körnchen kleinsten Kalibers und die Goldstäubchen gehen wohl meist verloren.
Diese Anlage (Schleuse) genannt, wird während des Waschens durch eine Gitter-
thftr geschlossen, damit kein Unberufener eindringt ; unter ihr fort rieselt das
Wasser, nachdem es auf den Holzrosteu kleine, lehmfarbige Kaskaden gebildet
hat, in den Kanal, der alles verbrauchte Wasser fortfährt. Neben dieser Anlage,
auch noch unterhalb der Plattform, dicht neben dem Wasserrade, das aber nach
dieser Seite hin verkleidet ist, befindet sich der sogenannte. Waschherd (Wasch-
gerrt). Wenn die Arbeiter fertig sind, so steht die Maschine still; dann beginnt
die Thätigkeit, des Durchwäschers. Der Waschherd, auf dem die Reinigung des
Goldes vor sich geht, ist eine etwa 3 Fuss breite, G Fuss lange schiefe Ebene
ans glattgehobeltem Holz, die auf 3 Seiten von einem ziemlich hohen Holzrande
umgeben ist. Der Durchwäscher steht auf dieser Fläche selbst, die sich der
Länge nach etwas vor ihm erhebt. Er schüttet nun unter Beisein fast des
ganzen Beamtcnpersonals die ihm zugereichten Kästen mit dem nassen, miss-
farbigen Goldsande auf die höchste Stelle der Fläche, dann öffnet er am oberen
Hände eine kleine Schleuse und der ganze Waschherd wird sehr gleichmässig
von Wasser überrieselt. Nun ergreift er einen langen Stab, an dessen unterem
Ende ein längliches Brettchen im rechten Winkel befestigt, ist. Dieses primitive
Instrument hat gi-osse Aehnlichkeit mit den Harken, deren sich die Croupiers
bei den Harzardspielen zum Eiuziehen der gesetzten nnd verlorenen Geldstücke
bedienen. Auch die Bewegungen dieses Arbeiters gleichen ungemein denen jener
Riedermänner, und um die Aehnlichkeit vollkommen zu machen: auch hier wie
dort handelt, sich’s um Gold, und was die Anfregung der Anwesenden betrifft,
ist sie, wenigstens im Beginn der Saison, hier nicht minder gross als im Spielsaale.
Durch fortwährendes Hinundherschieben des Sandes mit der beschriebenen
•"Schaufel und durch sehr vorsichtiges Wegräumen der unnützen Steinchen kommt
allgemach das Gold zum Vorschein ; zuletzt wird es sogar mit den Händen ge-
reinigt. Wenn der Durchwäscher nicht ein sehr geschickter Mensch ist, so geht
viel verloren ;. dabei muss er Augen haben wie ein Falke. Im vorliegenden Falle
führte der Durchwäscher nicht nur mit Gewandtheit, sondern geradezu mit
Eleganz seine keineswegs leichte Arbeit aus. Ich habe diesen hübschen, schwarz-
braunen Burschen anfangs nicht genug bewundern können. Leider erwies er
sich als ein grosser Hallunke; er soll ziemlich viel Gold unterschlagen haben-
obgleich er bedeutende Vorrechte hatte. Es giebt aber wohl keinen ehrlichen
Dnrchwäscher in ganz Sibirien, der zugleich geschickt ist.
Für den Neuling hat dieser Process des Durchwaschens einen unwider-
stehlichen Reiz; ich wenigstens bin anfangs sehr oft dazu hcruntergegangen nnd
habe neben den Beamten auf dem Schiensenkasten gesessen, bis das Gold sichtbar
wurde. Aber wie enttäuscht war ich das erste Mal über das Resultat! Die
einzelnen Goldstücke sind sehr klein, selten grösser als eine Linse, ausnahmsweise
in der Grösse einer Bohne ; das ganze Häufchen, die Ernte eines Tages, ist winzig,
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so dass man lachen möchte, dass darum so viel Hände und Füsse in anstrengende
Bewegung gesetzt werden mussten. Vom Wasohherd kommt das Häufchen in
eine kleine eiserne Schaufel; diese wird über ein Feuerchen gehalten, damit
das Wasser verdampft, und dann wird das Gold nach der Wohnung des Ver-
walters zum Wägen getragen, vorher jedoch noch mit dem Magnet geschlichtet
Schon während des Waschens entspinnen sich unter den Beamten, ja selbst unter
den Arbeitern die eifrigsten Wetten um Taback. „Wie viel wird’s heute geben? i
Auch ich wurde vom Goldfieber erfasst und sah die ganze Nacht Gold. Zwischen
20 Solotnik*) bis l 1 /* Pfund variirte das Gewicht, mehr als l'/s Pfund im Tage
sind meines Wissens nie im vergangenen Sommer, 1877, hier gewaschen. Da
aber das Gold des Krieges wegen enorm hoch stand, so war das Gesammt-
Ergebniss doch ein sehr respectables. Für 4 Pud Gold erhielt unser Principal
gegen 80 000 Rubel Silber. Freilich blieb davon nichts übrig, im Gegentheil, zu
den Ankäufen für dieses Jahr musste und muss bis zur Stunde unser armer
Herr und Meister bei aller Welt herumborgen. Aber jeder, der Geld hat, giebt
es ihm gern, denn er ist nicht nur ein ehrlicher, sondern ein nobler Charakter
und das weiss der Sibirier zu schützen!“
Seeverkehr zwischen Europa und Nordsibirien. In No. 4 des Jahrgangs
1878 unserer Zeitschrift haben wir bereits der Thatsache Erwähnung gethan,
dass in Tjumen (Sibirien) Schiffe für den Seeverkehr zwischen Nordsibirien und
Europa im Ban begriffen seien. Eines dieser Schiffe gelangte glücklich in vorigem
Herbst nach Europa (Kronstadt), während der Dampfer „Luise“, welcher dieses
Fahrzeug bis in den Obmeerbusen schleppte, durch Sturm an der Fortsetzung
seiner Heise gehindert wurde und allerlei Unfälle hatte. Das hierauf bezügliche
Telegramm des Herrn Sibiriakoff haben wir bereits Mitte Januar unseren Mit-
gliedern und Freunden mitgetheilt und lassen es hier folgen: „Dampfer „Luise -
wurde am 27. September durch einen sehr starken NordBturm auf etwa 70" N.
Br. in der Gegend des Tas an’s Ufer geworfen. Die Hälfte des Mehls und über
25 Fass Salz gingen über Bord. Den 16.(28. September Vormittags wurde das
Fahrzeug wieder flott, allein der Schornstein war weggespült und das Steuer-
ruder stark beschädigt, Luke und Schiffsraum voll Sand. Der Dampfer erreichte
das Ufer wieder. Der Kapitän und sechs Mann verliessen das Schiff, um Obdorsk
zu erreichen, während der Best der Bemannung an Bord blieb. Die an Bord
Zurückgebliebenen sind mit allem für die Ueberwinterung Nöthigen versehen.
Der Kapitän Randsep, von welchem diese Nachricht stammt und der nach Tobolsk
reiste, glaubt, dass das Schiff gerettet werden kann.“ In der russischen St. Peters-
burger Zeitung bespricht nun Herr Nicolaus Latkin die Aussichten für den See-
handel mit Nordsibirien näher. Er sagt: „Herr A. K. Trapeznikoff hat in Tjumen
zwei Schuner für Seefahrten gebaut, wozu er Herrn Kalks aus Riga berief. Wegen
der Ungeschicklichkeit der Zimmerlcutc und der Schwierigkeit der Beschaffung
allen Zubehörs rückte der Bau nur langsam vor und kostete zu viel. Dennoch
wurde der eine Schuner, „Sibirien“ genannt, Ende Juli vom Stapel gelassen, fuhr
am 11. August, mit Talg beladen, aus Tobolsk aus, erreichte die Obmündung und
lief am 3. September in den Obbusen ein, von wo er glücklich nach London
und endlich nach Kronstadt gelangte. Der zweite Schuner wurde im August
fertig. Die Schwierigkeiten und Unzulänglichkeiten beim Bau der ersten Schiffe
waren lehrreich für die Zukunft und Herr Trapeznikoff baut bereits zwei neue
’) 1 Pud (16 ! /s Kilo) = 40 russ. Pfund ä 96 Solotnik.
— 45 —
Schoner, die im Mai vom Stapel laufen sollen. Dank ihm ist also der Grund
für einen sibirischen Schiffsbau gelegt.“ — Herr Latkin hat schon früher die
Wichtigkeit des Obgebiets für den Handel vertreten und führt nunmehr neue
Belege für die Richtigkeit seiner anderweit bestrittenen Ansicht au. , Vom Ob
aus sind sehr verschiedenartige Krachten ins Ausland gegangen: Talg. Flachs,
Hanf, Weizen und wenn bis zur künftigen Navigation die Frage über den Export
von Spiritus aus Sibirien gesetzlich entschieden werden sollte , wird ausser
anderen Producten auch ein ausserordentlich grosses Quantum Branntwein aus
dem Obgebiet verschifft werden können. Der sibirische Weizen wird auf den
europäischen Märkten eine grosse Rolle spielen und nicht nur dem amerikanischen,
sondern auch dem russischen Concurrenz machen. Derselbe kann, den Trans-
port nach London eingerechnet, für 1 Rbl. 26 Kop. per Pud gestellt werden,
Ȋhrend der russische bei einem Preise von 11 Rbl. 76 Kop. per Tschetwert nicht
weniger als 1 Rbl. 36 Kop., der amerikanische 1 Rbl. 40 Kop., und sogar 1 Rbl.
45 Kop. kostet." — Hierzu erhalten wir von einem der kaufmännischen Mit-
glieder unserer Gesellschaft folgende Bemerkungen : „Für den sibirischen Weizen
wird der Hauptfactor die zu zahlende Seefracht, und Assecuranzprämie sein. Wie
Sie wissen, sind für beide bisher ungewöhnlich hohe Sätze bewilligt worden,
j Nach mehrmaliger glücklicher Wiederholung solcher Reisen dürften dieselben
erinässigt werden, um wie viel, lässt sich aber noch nicht sagen. Wenn Weizen,
wie ich das glaube, bis zur Mündung des Ob für circa 76 Kop. per Pud sich
liefern lässt (excl. Assecuranzprämie), so würde er zu jetzt bezahlter Fracht und
Prämie sich nicht für 1 Rbl. 26 Kop. per Pud nach London legen lassen, wohl
aller, nachdem Fracht und Prämie wesentlich erinässigt sind. -
Die Insel Quelpart. • Kürzlich uns zugesandte japanische Zeitungen
enthalten Beiträge zur Kunde dieser kürzlich vielgenannten Insel. Im
Monat October strandete das Schiff . Barbara Taylor Kapitän Taylor .
auf der Reise von Shanghai nach Nikolajewsk an der Südseite der Insel Quel-
part, welche bekanntlich dev Südspitze der Halbinsel Korea vorgelagert ist. Die
Länge der Insel Quelpart wird auf 50 Miles und die Breite auf 25 Miles ange-
geben. Die Insel verläuft so ziemlich in der Richtung von Ost nach West. Die
Strandung fand am Ende einer kleinen Bai statt, und da die Fluth im Ablaufen
war, so konnte die Bemannung glücklich an’s l'fer gelangen. Die Koreaner,
welche die Insel bewohnen, empfingen die Schiffbrüchigen mit aller Freundlichkeit,
man wies ihnen ein Haus zur Unterkunft an, und half alles bewegliche Gut,
auch einen grossen Tlieil der Ladung bergen. Der Kapitän wurde nach der auf
der Nordseite gelegenen Hauptstadt geführt mul nahm hier Passage in einer
nach Quelpart verschlagenen japanischen .Tunke, mit welcher er nach Nagasaki
kam. Hier charterte er den Schraubendampfer .Hakon Adelsten“, Kapt. Bergh,
und trat nun auf diesem in Begleitung eines Agenten der britischen Regierung.
Herrn Paul, ferner eines Vertreters der Rheder des Schiffs, eines koreanischen
Dolmetschers, zweier anderer Europäer und 22 japanischen Kulis, sowie mit
zwei Leichterlährzeugen die Fahrt nach der Strandungsstelle an, welche in
achtzehn Stunden erreicht wurde. Nach erfolgter Landung fand eine freundliche
Begrüssung mit dem koreanischen Beamten statt, welchem der Dank für die
gute Aufnahme der Schiffbrüchigen ausgesprochen wurde. Der erstrebte Zweck
wurde vollständig erreicht, Alles, was vom Schiff geborgen werden konnte,
gesichert, und der Berichterstatter kann nicht genug die ausserordentlich liebens-
würdige und uneigennützige Handlungsweise der Behörden der Insel rühmen,
welche die Mannschaft auf das Trefflichste verpflegten und bis das Berguugswerk
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Vollendet war, eine Wache an dem Wrack stufst eilten, damit kein einziger Gegen-
stand entwendet werde. Der oberste Beamte oder Mandarin verweigerte die
Annahme jedes Geschenkes; es war ein Mann von 67 Jahren, prächtig in braun
und blauseidene Kleider, weisse Strümpfe und gclblederne Schuhe gekleidet.
Von dem mit einer Pfauenfeder geschmückten Hute hing eine Perlenkette auf
den Hals herab. Eine eigenthümliehe Kopfbedeckung trägt die ganze Bevölkerung
in einem schwarzseidenen Netz, welches vorn halb über die Stirn reicht und
durch dessen Maschen rückwärts das Haar geschlungen wird. In Begleitung des
Mandarinen erschienen zwei Personen, die man anfänglich für Frauenzimmer hielt,
da sie das Haar lang, weisse Gewänder bis zu den Sohlen herab trugen und bartlos
waren. Es waren Diener des Mandarinen. Die Küste an der Strandungsstelle
bestand aus vulkanischem Gestein. Das Wrack wurde, nachdem Alles, w-as zu
retten war, gerettet, nach Verabredung mit den Behörden der Insel in Brand
gesteckt. Der Bezirk, in welchem die Stranduugsstelle lag, heisst auf koreanisch
Tschiegui. Die Küste steigt langsam an zu dem hügeligen Innern. Die Berge
der Insel sind dicht bewaldet. Ein grosser Theil des Landes der Insel dient der
Weide von Ponies und Hornvieh. Die Eingeborneu bauen Buchweizen, Weizen, Gerste
und Hüben. Das Land soll Kupfercrzlagcr besitzen. An Wild kommen Hirsche, Fasanen
und Wildschweine vor. Das Klima ist im Sommer nicht sehr warm, häufige Nebel
kühlen die Luft ab. Vom December bis Februar findet starker Schneefall statt.
Ueberall an der Küste, soweit der Dampfer an ihr hinlief, zeigten sich Lavalager.
Im Innern erhebt sich als höchster Berg der angeblich 60U0 Fuss hohe Harrosea.
Die Häuser oder Hütten sind im Viereck aus Stein oder Lehm erbaut, die Dächer
aus leichten Planken und mit Schilf bedeckt. Der beim Ackerbau ver-
wandte Pflug ist sehr primitiver Construction. Auf der Insel liegen zwei oder
drei nicht unbedeutende Städte. Die Hauptstadt liegt auf der Nordseite, und
hier wohnen alle Kegierungsbeamte. Diese Stadt ist von einer Mauer umgeben,
durch welche an verschiedenen Puncten Thore führen. Die obersten drei oder
vier Beamten kommen von Korea herüber, alle übrigen, deren Aemter erblich,
sind Eingeborne. Die Hauptstadt hat den Namen Tschiegiufu. Der oberste
Beamte heisst Taiuseha; unter ihm stehen die Prionscha’s, Districtsbeamte;
ausserdem residirt in der Hauptstadt noch ein Oberrichter, Hanguan genannt.
Man kennt dreierlei Strafarten: Hinrichtung, mit welcher Mord oder politische
Verbrechen bestraft werden, Gefängniss oder Einkerkerung und Geisselung. Die
Bevölkerung der Insel soll etwa 10,000 Köpfe betragen. Steuern soll es reichlich
geben, allein es war nicht, möglich, Näheres darüber zu erfahren. Die Eingeborneu
sprechen die koreanische Sprache, schreiben aber mit chinesischen Buchstaben.
Ihre Religion ist der Buddhismus oder die Lehre des Confucins. Die Industrie
scheint noch in der Kindheit zu liegen, die Kleiderstoffe werden von aussen ein-
geführt. ü. a. werden kleine Metallpfeiffen fabricirt. Die Lustbarkeiten der
Eingeborneu bestanden meistens im Singen, im Spielen von Instrumenten,
namentlich der Flöte, und im Tanzen.
Ans (len Vereinigten Staaten von Amerika. Eine Newyorker Zeitung
enthält folgende interessante Details über die Einfuhr von Singvögeln:
Obgleich der Handel mit den am Harz gezüchteten Kanarien nach dem Auslande
schon seit vielen Jahren stattfindet, so hat doch derselbe erst au Bedeutung
gewonnen, seitdem eine Absatzquclle nach Amerika gefunden wurde, namentlich
aber seitdem die regelmässigen Dampfschiffahrten zwischen Bremen, Hamburg
und Newyork die Grosshändler in den Stand setzten, ihre Verhandlungen schnell
und pünctlich auszuführen. Früher waren St. Petersburg, London und die
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grösseren Städte Hollands die hauptsächlichsten ausländischen Absatzplätze fiir
diese Vögel, doch wurden wohl kaum viel mehr als 10,000 Stück in einem Jahre
nach dorthin ausgeführt, während in den letzteren Jahren diese Zahl gar nicht
mehr erreicht wurde, theils weil die Ausfuhr nach Newyork schon frühzeitig
allen Vorrath wegraffte, theils aber auch, weil man es nicht verstanden hat, das
Geschäft zu pflegen und durch reelle Bedienung die Liebhaberei zu erhalten
und zu verbreiten. Vom Juli 1872 bis April 1878 wurden etwa 100, (KX) Stück
Harzer Kanarieninännchcn nach Newyork ausgeführt, von denen Reiche in Alfeld,
Prov. Hannover, allein die Hälfte an seine Firma in Newyork sandte. Seitdem hat die
Einfuhr Harzer Kanarien eher zu- als abgenommen. Vogelhändler Kämpfer,
127 Clark Strasse in Chicago, dessen Vogelhandlung die bedeutendste im ganzen Westen
der Vereinigten Staaten und eine der grössten und reellsten im ganzen Lande ist,
verkauft jedes Jahr eine sehr grosse Anzahl. Er versendet Vögel bis nach Denver
in Colorado und Salt Lake City in Utah und noch weiter. Kaum giebt es einen
Ort von einiger Bedeutung, wo nicht der „Harz Mountain t'anary* oder kurzweg
„German Canary“ bekannt und geliebt wird. Reichc’s Versendungen nach Newyork
finden mit den Dampfschiffen des „Norddeutschen Lloyd“ via Bremen statt. Zehn
bis zwölf erprobte und an Seereisen gewöhnte. Wärter besorgen die Ueberbringung.
Vom Juli bis April geht jede Woche ein Transport ah, je nach Bedarf. Auf
1 oder 2 Wärter kommen etwa 1(XX) Vögel. Jeder Vogel sitzt einzeln (in einem
sogenannten Harzer Bäuerchen); sein Käfig muss täglich mit frischem Futter
und Wasser versehen und alle drei Tage gereinigt werden. Mit dem ersten
«endenden Dampfer kehrt der Wärter zurück und überbringt von dort die in den
betreffenden Jahreszeiten an den Markt kommenden dortigen Vögel, sonstiges Geflügel
und Sängethiere, wofür bei den Händlern, Liebhabern und zoologischen Gärten
in ganz Europa Abnehmer gefunden werden. Nach Verlauf von etwa fünf Wochen
treffen die Wärter in Europa wieder ein und so macht Jeder etwa sieben bis
acht Reisen nach Newyork in einem Jahre, denn auch auf den Handel mit wilden
Thieren ist das Geschäft ausgedehnt worden, und von den aus Afrika, Australien
und Indien in Europa ankommenden Raubthieren, Dickhäutern, Wiederkäuern
und Reptilien wandern viele wieder durch Vermittlung von Reiche nach Newyork,
um dort an Menagerien u. s. w. verkauft zu werden. Ausser nach den Vereinigten
Staaten, gehen jährlich etwa 50<X) Stück Knnarieumännchen nach der Ost- und
Westküste Südamerika^ (Rio de Janeiro, Montevideo, Buenos Ayrcs, Valparaiso,
Lima), etwa 7000 Stück nach Russland und England, während 10.000 und noch
mehr in Deutschland und Oesterreich Abnehmer finden. Reiche hat auch einige
Versuche gemacht, den Handel in Australien (Melbourne und Sydney), sowie in
Afrika (Kapstadt und Port Elisabeth) cinznführcn; dieselben mussten aber als
nicht lohnend wieder aufgegeben werden, während er in C’alcutta in Ostindien
•'oururrenz in Kanarien von China fand, welche freilich sehr ordinär von Gesang
waren, aber dafür so billig ungebeten wurden, dass er auch dort weichen musste.
Geographische Literatur.
Kiepert's Lehrbuch der alten Geographie. Heinr. Kiepert. Lehrbuch der
alten Geographie. Berlin, Verlag von D. Reimer. 1878. Seit D'Anville’s Zeit hat
die Geographie und Ethnographie der Länder der alten Welt während des Alterthums
keinen so gewaltigen Fortschritt gemacht, als durch die Bemühungen Heinrich
Kiepert’s. Bis in die fünfziger Jahre galt die alte Geographie als ein nicht voll-
ständig ebenbürtiges Anhängsel der philologischen Disciplincn und selbst heutzutage
linden sich ältere Philologen, die in aller Gemüthsruhe, ohne von der französischen
Generalstabskarte von Griechenland Notiz zu nehmen, über homerische Geographie
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uml ähnliche Themata schreiben. Kiepert, der bereits vor vierzig Jahren die erste
Ausgabe seines Epoche machenden Atlas des alten Hellas heransgab, ist nicht
bloss ein gründlicher Kenner der classischen Sprachen und Literaturen ; er ist
auch ein Kartograph ersten Ranges und wird insbesondere in Bezug auf genaue
Kunde der topographischen Verhältnisse der jetzt moslemitischen Länder von
keinem Zeitgenossen übertroffen. Er richtete ausserdem frühzeitig, von einem
namhaften Sprachtalente unterstützt, sein Augenmerk auf die wichtigen Ent-
deckungen, die unser Zeitalter im alten Orient machte, auf Sanskrit und Zend,
auf die persischen, babylonischen und assyrischen Keilschriften, auf die Hiero-
glyphen und auf die altarmenische Literatur und hat durch scharfsinnige Com-
bination, über die er in verschiedenen Zeitschriften Aufsätze veröffentlichte, so-
wie durch Karten, die er z. B. Lassen’s Indischen Altorthümern. Robinson’s Palä-
stinareisen, Lepsius’ Ägyptischen Forschungen beifügte, wesentlich zur Aufklärung
dieses neuen Feldes der Wissenschaft beigetragen. In der neuesten Zeit scheint
seine vielseitige Thätigkeit in der richtigen Erkenntniss, dass in ihm noch mancher
Schatz für die alte Geographie zu heben sei, sich sogar dem Urkundenwerk des
frühen Mittelalters zugewandt zu haben.
Von einem so bedeutenden und iiusserst vielseitigen Wissen, das des ganzen
Stoffes Herr ist, giebt das vorliegende Lehrbuch einen mit sicherer Hand ent-
worfenen. gut geschriebenen Abriss.
Das Buch sollte dem ursprünglichen Plane gemäss einen kurzen Leitfaden
von höchstens zehn Bogen geben, dem später ein erweitertes Handbuch und ein
ganz kurzer Leitfaden für Schüler folgen sollte. Der Plan erweiterte sich aber
während der Bearbeitung und die Zahl der Bogen hat sich dadurch mehr als
verdreifacht. Es erklärt sich daraus eine etwas ungleichartige Vertheilung des
Stoffes zu Ungunston der aussercuropäischeu Hälfte. Während z. B. die Dar-
stellung Roms zehn Paragraphen cinnimmt. ist Jerusalem nur eine kurze An-
merkung gewidmet. Während bei der iberischen Halbinsel und Gallien die
römische Provincialabtheilung markirt hervorgehoben wird, bleibt dieselbe bei
den östlichen Ländern unberücksichtigt.
Derartige kleine Compositionsmängel werden voraussichtlich bei der zweiten
Auflage verschwinden, und eine solche wird wohl nicht lange auf sich warten lassen.
Möge der Verfasser auch bald das ausführliche Handbuch der alten Geo-
graphie in Angriff nehmen! Th. M.
Bei der Redaction gingen ferner zur Besprechung, theils in dieser Zeit-
schrift, theils in anderen publieistischen Organen ein von den Herren Verlegern:
Durch den dunkeln Welttheil von Henry M. Stanley. Autorisirte Deutsche Aus-
gabe von Professor Dr. C. Böttger. 2. Band. Mit Karten und Abbildungen.
Leipzig , F. A. Brockhans 1878. — Malta, Geschichte und Gegenwart, von
A. Winterberg. Wien, Hartleben 1879. — Manuel du voyageur par D. Kaltbranner,
rnembre de la soeiäte de geographie de Geneve, avec 280 Figures interealöes dans
le texte et 24 planches hors texte. Zürich 1879. J. Wurster & Cie., editeurs. —
Reise in den stillen Ocean von Max Büchner. Breslau, J. U. Korn 1878. —
Ethiopien, Studien über West-Afrika, mit, einer neu entworfenen Specialkarte.
Hamburg, I,. Friederichsen 1879. — Von der geographischen Gesellschaft in
Quebec: Navigation of Hudsonsbay. Ottawa 1878.
ffltthellongen an die ltedaction dieser Zeitschrift sind bis
Ende Februar au die Adresse des I»r. M. Finde man, Mende-
strasse 9, vorn 1. Mürz ab au die Adresse des Presidenten der
Gesellschaft A. G. Mo sie, Breuieu, zu richten.
Druck vo* «dd. Bremen.
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191
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l-f ftAv*-* *- j ,
I 7.-lb~-3~b
* ‘iö-IH-
Inhalt.
Sdte
1) Mittheilungen aus dem Tagebuche von Dr. Chr. Rutenberg. Von
Dr. H. Neuling 49
2) Sibirienfahrten 1878 und 1879:
a. Erster im Jahre 1878 gemachter Versuch sibirischen Weizen
in’s Ausland zu verschiffen 64
b. Meteorologische Beobachtungen auf einer Obfahrt 1879 94
c. Die Fahrt des Dampfers „Louise 1 ' nach der Jenissej - Mündung
nnd zurück 96
3) Dcber eine Gradmessung in Ostgröuland. Von Dr. C. Borgen 98
4) Kleinere Mittheilungen:
a. Aus der Geographischen Gesellschaft in Bremen 105
b. Seehandel mit Nordsibirien 107
c. Die Volkszahl des Bremischen Staates 107
d. Wasserwege in den Niederlanden 107
c. Die St. Gotthard -Bahn 107
f. Fremdenstatistik in China und Japan 108
g. Geographische Gesellschaft in Buenos Aires 109
h. Valparaiso 109
i. Bevölkerung von Chile 110
k. Geographische Congresse 110
l. Die Seefischereien 110
m. Literatur. Mart he, Was bedeutet C. Ritter für die Geographie? etc. 111
\
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Band III.
Deutsche
Geographische Blätter.
Herausgegeben von der
Geographischen Gesellschaft in Bremen.
Der Abdruck der Original- Aufsätze dieser Zeitschrift ist nur nach Verständigung
mit der Redaction gestattet.
Mittheilungen aus dem Tagebuche von
Dr. Chr. Rutenberg.
Von Dr. H. Neuling.
I. .Südafrika.
Mein - als ein Jahr ist verflossen, seit die erste Nachricht von
dem jähen Ende des jungen, strebsamen Bremer Naturforschers
Dr. Med. Chr. Ilutenberg sich verbreitete, und wo noch zagende
Hoffnung an der Wahrhaftigkeit des Gerüchts zu zweifeln wagte,
da haben die Nachforschungen des jetzt an Ort und Stelle weilenden
kühnen Reisenden Dr. Hildebrandt leider nur die unerschütterliche
Gewissheit von der grausen Mordthat gebracht, die zwei als liülf-
reiche Diener engagirte Saccalaveu an dem vor keinem Hindernisse
zurückschreckenden, wegen seiner persönlichen Sicherheit nie be-
sorgten jungen Mann ausgeübt haben, als er am Rande eines Baches
hingestreckt, von dem anstrengenden Marsche ermattet im Schlafe
neue Kräfte zur Fortsetzung seines leider allzu kühnen Wagnisses
sammeln wollte.
Durch die Vermittelung des Herrn Dr. Hildcbraiult, der von
den unglücklichen Eltern des Ermordeten mit der Sammlung und
Heimsendung aller Habseligkeiten ihres Sohnes beauftragt wurde,
ist nun ausser einem werthwollen Herbarium, welches dem Bremer
naturwissenschaftlichen Museum überwiesen worden, auch der grösste
Theil von Rutenberg’s stenographisch abgefasstem Tagebuche ein-
gesandt. Wie nicht anders zu erwarten war, enthält dasselbe leider
meist nur kurze Notizen über Erlebnisse, die erst nach der Rückkehr in
die Heimat einer ausführlichen Bearbeitung unterworfen werden
sollten, nur einzelne Partien, namentlich der erste Theil der Reise (durch
Südafrika) sind ausführlicher behandelt und dürften daher wohl ein
Geographische Blätter, Bremen 1880 . 4
r <
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— 50 —
allgemeineres Interesse erregen, zumal da hier ein Besuch des
Diamantenfeldes von Kimberley und eine Besteigung des Machacha
und des sogenannten mont aux sources, des Quellgebietes des
Oranje-, Tugela- und Elandsflusses geschildert ist, die wie Rutenberg
mit berechtigtem Stolze sagt, von ihm zuerst zu wissenschaftlichen
Zwecken unternommen und ausgeführt worden ist.
A. Kimberley und die Diamantengruben.
Schon aus weiter Ferne erblickt man die blinkenden Eisenblech-
häuser von Kimberley, neben denen noch einige Zelthäuser und
Lehmhütten gewissermassen als Gedenkzeichen der früheren Armuth
des Orts stehen, denn erst seit wenigen Jahrzehnten hat die Auf-
findung von Diamanten hier einen plötzlichen Umschwung aller
Verhältnisse herbeigeführt. Vor der Stadt liegt das Gouvernements-
gebäude mit dem von einem einfachen Drahtgitter umschlossenen
Gouvernementsgarten, in welchem einige dunkelbelaubte Bäume und
Büsche sorgsam gepflegt werden, um der kahlen Ebene wenigstens
etwas Reiz zu verleihen. Dann folgt das Hospital, das vor den
übrigen Häusern sich durch zwei Schornsteine auszeichuet, da die
gewöhnlichen Wohnhäuser dort keine Oefcn beherbergen und die
Küchen in besonderen Häusern daneben eingerichtet sind. Am
Schneidepuukte der beiden Hauptstrassen der Stadt liegt ein ziemlich
hohes Blechhaus mit grossen Fensterscheiben, die Synagoge, an
welche sich dann eine Menge zum Theil recht freundlicher Häuser,
mit Veranden und Vorgärten versehen, anreiht. Der Marktplatz ist
viereckig und ziemlich gross, umgeben von den magistrats buildings,
verschiedenen Offices u. a., während in der Mitte das Haus des
Marktmeisters steht. Ende der sechziger Jahre waren die ersten
Diamanten am Flusse gefunden worden, und mit grossem Eifer
wurde nun das Flussbett durchwühlt (river digging). Immer wieder
glaubte man eine neue, ergiebigere Fundstätte aufgedeckt zu haben,
aber Viele wurden enttäuscht und Kimberley blieb jahrelang ein
unbedeutender Ort. Da fand man plötzlich auf einer flachen Anhöhe
(kopje) Diamantenspuren und nun begann das Schürfen und Minen-
graben (dry digging). Der ganze Boden ist hier mit einer Sand-
schicht bedeckt, die nur wenige Zoll tief ist. Schon hier fand mau
Diamanten, weshalb man nur diese Erdmasse durchsuchte und in ;
der Tiefe nichts mehr finden zu können glaubte. Später erkannte i
man, dass der eigentliche diamondiferon soil, die unter dem rotlien !
Sande liegende gelbe Erdschicht fgravel) sei, welche von einer an
der Sonne sehr rasch verwitternden und daher bei dem Minengraben
gefährliche Nachrutschungen bewirkende Felsmasse, reef genannt,
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— 51 —
rings umschlossene Höhlung ausfüllt. Diese gravel-Schicht hat sich
nun hei Kimberley, Old de Beers, Dutoitspan und Builtfontein
gefunden und auch hier wurden noch oft die Erwartungen getäuscht,
indem man nach geringer Abgrabung schon auf die reef-Schicht
stiess, so dass eine Mine (claim) nach der anderen wieder eingehen
musste. Jeder claim ist ca. 9 Quadratmeter gross und wird je nach
der Reichhaltigkeit an Diamanten von dem mining board (Gruben-
amt) eingeschätzt. (Die besten Claims kosten 5000 Pfd. St.) Zwischen
den einzelnen Claims laufen (I — XIII) numerirte Strassen, auf denen
die herausgegrabene Erde fortgeschafft wird. An der Nord- und
Südseite treten jetzt schon die Felsen nackt zu Tage, an der Ost-
seite ist dagegen eine frühere Ausschachtung durch einen reef-Ilutsch
wieder ausgefüllt; an der Westseite endlich wird noch die reichste
Ausbeute gehalten, und auch wohl noch für lange Zeit fortdauern,
da hier die gelbe Schicht etwa 20 Meter tief ansteht. Unter der-
selben fand man an einer Stelle eine bläuliche Erdschicht, die man
anfangs wieder für diamautenarm hielt, bald aber auch schätzen
lernte. Man ist jetzt an einzelnen Stellen bis zu einer Tiefe von
60 Meter eingedrungen, an anderen Stellen hat das Einspringen von
Felsadern das Vordringen gehindert oder die geringe Ergiebigkeit
der Erdmasse den claimholder entmuthigt. Im Grossen und Ganzen
aber muss auf Anordnung des mining board von allen claimholders
gleichmässig weitergearbeitet werden, bei Strafe des Verlustes ihres
Besitzrechtes an der Grube. Zur Entfernung des von allen Seiten
zusammeurinnenden Wassers ist in der Mitte der Grube ein Graben
angelegt, zu welchem jeder claimholder das Wasser aus seiner
l’arcelle abführen muss. Einer der reichsten Gräber, Herr Hall,
Besitzer von 20 Claims, hat eine Dampfpiunpc errichtet, mittelst
deren er das Wasser aus der Grube in seine Diamantenwäschereien
heben lässt, wofür ihm von den übrigen Theilhabern an der Grube
anfangs 1000 Pfd. St., jetzt 500 Pfd. St. wöchentlich (monatlich?)
Entschädigung gezahlt werden. Die blaue Erde ist sehr hart und
muss mit der Spitzhacke losgebrochen, ja sogar losgesprengt werden,
was gewöhnlich des Abends geschieht. Manchmal findet man schon
beim Hacken Diamanten; gewöhnlich aber erst beim Waschen der
Erde. Die Eimer (buckets), in welchen man die Erde aus der Grube
an die Oberfläche befördert, werden auf je 2 dicken Drahtseilen
durch Haudräder-Göpelwerke oder Dampfmaschinen emporgezogeu
und daun in grosse hölzerne Tröge entleert, aus welchen der kost-
bare Stoff wieder in die bereitstehenden zweiräderigen Karren
geschaufelt wird. Man arbeitet in der Grube von Sonnenaufgang
bis zum Untergänge mit einer halbstündigen Mittagspause, die durch
4 *
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das Pfeifen einer Dampfmaschine angezeigt wird. Die Arbeiter, (
Kaffern, sind meist nackt, oder doch nur mit alten rothen englischen i
Soldatenjacken bekleidet und stehen gewöhnlich unter europäischen
Aufsehern.
Die Wäschereien liegen von der Grube ziemlich weit entfernt.
Zunächst wird die ausgegrabene Krdmasse auf dem Boden ausgebreitet,
um an der Sonne zu verwittern, dann wird sie zerklopft, wieder mit
Wasser augefeuchtet, bis sie ganz krümelig wird, was oft Monate
lang dauert. Sodann beginnt das eigentliche Waschen: die Erde
wird in einem grossen Troge stark mit Wasser gemischt, hierauf in
einen rinneuförmigen Trog geschwemmt, wobei die grösseren Kiesel- j
steine durch ein Drahtnetz zurückgehalten werden. Durch kreuz-
förmige Eisenzinken wird die Masse fortwährend umgerührt, wobei {
die leichteren Bestandteile in einen neuen Trog gleiten, während 1
die gröberen auf dem Boden liegen bleiben und des Abends nach
Diamanten durchsucht werden. Natürlich muss die Erde mehrmals •
mit frischem Wasser durchgewaschen werden und da die ausgewaschene
Erde schliesslich auf den Boden fällt und diesen allmählig immer !
mehr erhöht, so müssen immer höhere Gerüste aufgeführt werden. \
um dem Schlemmwasser das nöthige Gefälle zu geben, und Pumpen
oder Eimer tragende Kaffern sind stets in Bewegung, um das nöthige
Quantum herbeizuschaffen. Durchschnittlich werden 30 — 40 loads
(Ladungen) zu je 4 bucke ts an einem Tage gewaschen. Die Kaffern
stehen natürlich unter sehr strenger Kontrole, damit sie nicht
Diamanten stehlen, und wer von einem Kaffern Diamanten kauft,
wird schwer bestraft mit Gefängnisshaft oder körperlicher Züchtigung.
In Dutoitspan und Old de Beers werden die Minen in ähnlicher
Weise bearbeitet wie in Kimberley, doch sind sie nicht so umfangreich.
B. Besteigung des Machacha.
Rutenberg beabsichtigte, von Kimberley weiter nach Nordost
vorzudringen, als er aber den Caledon überschritten und Masera,
den Sitz des Royal Commissioner für Bassutoland, erreicht hatte,
wurde ihm dringend davon abgerathen, da jener Landstrich so gut
wie unbewohnt sei und nicht einmal Holz zum Feuermachen biete.
Um nicht ganz vergeblich in dieser Richtung vorgedrungen zu sein,
entschloss sich Rutenberg daher, den Machacha zu besteigen und
seine Höhe mittelst seines Aneroidbarometers zu messen. Auf einem
gemietheteu Pferde, begleitet von Thomas, einem Neffen des alten
Basutohäuptlings Moschesch, mit dem er sich in holländisch -platt-
deutscher Sprache einigermasseu verständigen konnte, verliess er um
9 l /ü Uhr Morgens Masera und ritt in nordöstlicher Richtung über
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Hochebenen und zwischen Felspartien in 2 l h Stunden zum Store
eines gewissen Goodman. Die Hütten der Eingeborenen sind meist
aus Stroh geflochten, einem Bienenkörbe ähnlich, oder sie bestehen
aus Lehmtnauern, die von einem runden Strohgeflechte bedeckt sind.
Eine weitere, mit einer niederen Oeffnuug versehene Strohwand
umschliesst den vor der Hütte liegenden Hof. Doch erblickt man
überall Spuren vordringender Civilisation : Zeltwagen, Pflüge, bebautes
Land und lleissige Arbeiter. Nur die Wege sind durchgängig schlecht,
so dass man selbst die leichten zweiräderigen Karren mit zwei, ja
mit vier Pferden oder Ochsen bespannen muss, um einigennassen
rasch weiter zu kommen. Der kleine Caledon hat vielfach breite
Spalten durch den Weg gerissen, der nach Thaba Bosigo, dem
französischen Missionsgebäude am Kusse des Hochgebirges, führt.
Durch einen Brief des Royal Commissinner Griftith an den Missionar
Monsieur Jousse empfohlen, fand Rutenberg hier freundliche Aufnahme.
Man warnte ihn aber, die Besteigung des Berges allein mit dem
Bassuto zu wagen, weshalb er brieflich den Clerk des Herrn Griffith,
Herrn Davies, ersuchte, ihn zu begleiten. In der Zwischenzeit, die
bis zum Eintreffen der Antwort verstrich, lernte Rutenberg das
Leben dieses thätigen Missionars näher kennen: derselbe hatte eine
Art Mädchenpensionat angelegt, in welchem er mit Hülfe einer
Lehrerin 45 Mädchen im Alter von 14 — 18 Jahren in Lesen, Schreiben
und Handarbeiten unterrichtete und recht erfreuliche Resultate
erzielte, trotzdem er mit allerlei Widerwärtigkeiten zu kämpfen
batte. Im Anfänge seiner Tlultigkeit, die er nun schon seit 20 Jahren
betrieb, hatten ihm die Bassutos sein Haus zerstört und seine Bücher
vernichtet, jetzt war er allgemein beliebt und wurde ausser um
geistlichen Beirath auch in allerlei leiblichen Nöthen consultirt, wobei
er sich namentlich der Blätter des Eucalyptus mit Erfolg als Heil-
mittel gegen mancherlei Leiden bediente.
Als von Herrn Davies leider eine ablehnende Antwort eintraf,
entschloss sich Rutenberg, mit seinem Begleiter Thomas allein den
Machacha zu besteigen. Am folgenden Jörgen (19. Juni) nach ein-
genommenem Frühstück machte er sich z Pferde auf den Weg, der
anfangs in einem Seitenthale des kleinen Vedon in ONO.-Richtung
an einem romantischen Felseu, Kiloan, vorbei steil bergan führte
und um so beschwerlicher war, als der Boden breite Spalten hatte,
die wahrscheinlich durch das im Grunde wühleude Wasser entstanden
sind. Nur wenig Buschwerk und einige Kaffernhütten unterbrachen
den monotonen Anblick der Landschaft. Die Pferde kletterten langsam
au den treppenartigen Felsabhängen hinauf, bis eine trockene Gras-
ebene ein rascheres Weiterkommen ermöglichte. Aber schon nach
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— 54
Verlauf von wenigen Stunden machte Thomas in der Nahe eines
Dorfes Halt und begann die Pferde abzusatteln. Rutenberg glaubte,
dass nun die Fusswanderung beginne, doch wollte Thomas nur in
dem Dorfe frische Pferde nehmen. Als diese Absicht sich als unaus-
führbar erwies, verabredete er mit einem Burschen des benachbarten
Dorfes, dass einige Leute mit frischen Pferden ihnen nachkommcn
sollteu. Die Hoffnung, die Spitze des Berges bald zu erreichen,
wurde auch dadurch getäuscht, dass sich wieder ein steil abfallendes,
tiefes Thal öffnete, an dessen Wänden die beiden Reiter nur mühsam
hinab und wieder hinaufklommen. Aber um Mittag war doch der
Fuss des eigentlichen Bergkegels erreicht; bald kamen auch die
Leute mit den bestellten Pferden, und während nun der Eine zur
Wache zurückblieb, machte der Andere den Führer auf dem durch
Felsen und abschüssige Grasflächen sehr beschwerlichen Wege. Die
nicht von den Sonnenstrahlen berührte Seite des Berges zeigte sich
noch hart gefroren und mit Reif bedeckt. Die Neger hatten bei’m
Klettern einen entschiedenen Vortheil vor Rutenberg, da sie mit
ihren unbekleideten Füssen auf den häufig zu überschreitenden
geneigten Felsplatteu weit sicherer ausschreiten konnten. Die Aus-
sicht auf die rings umher liegenden wellenförmig ansteigenden
Vorberge war nicht den Erwartungen Rutenberg’s entsprechend, da
in Folge der unter den Bassutos herrschenden Sitte, zur Winterszeit
das Gras abzubrenuen, um im Frühjahr junges zarteres Futter für
das Vieh zu haben, die ganze Atmosphäre mit einem unserem
Höhenrauche ähnlichen Dunste erfüllt war. Nach einstündigem
Klettern war die Höhe des Vorberges erreicht, von wo ein zur
Seite steilabfallender Grad nach der Hauptspitze des Machacka
hinüberführte. Im Schatten einer circa 120 Meter hohen senkrecht
aufsteigenden Felswand lag eine Menge Schnee, der den ermüdeten
Wanderern einige Erquickung bot. Nach kurzer Rast ging es über i
ein Gewirr von Felsblöcken auf die höchste Kuppe, die endlich um j
3 Uhr Nachmittags erreicht wurde. Der Barometerstand ergab eine j
Höhe von 9458 Pariser Fuss. Wie Rutenberg befürchtete, hinderte
der Rauch der brennenden Grasflächen eine weitere Aussicht, aber
in der Nähe zeigten sich doch die nach Südosten streichenden
Schneeberge (Maluti), meist regelmässige, mit Gras bewachsene !
Bergkegel kettenförmig an einander gereiht, hinter welchen der hier
Sinku genannte Oranjefluss dahinströmt. Die Grenze des Bassuto- ;
landes, das Malutigebirge, konnte Rutenberg von hier aus über- j
schauen, aber über das, was weiter nach Osten sich fiude, konnte j
er sich keine nähere Kenntnisse verschaffen. Nach einstündiger
Rast, wobei die Wanderer wieder ohne Nachtheil für ihre Gesundheit
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— 55 —
Schnee wasser, welches in einer Steinhöhlnng aufgethaut wurde,
genossen, begann der Abstieg, aber hier drohte das von Thomas
der Landessitte gemäss angezündete Gras den Weg zu sperren, so
dass auf mancherlei Umwegen erst gegen Dunkelwerden die Stelle
erreicht wurde, wo die Pferde rasteten. Nun ging es im Galopp
über die schwarz gebrannten Flächen hinab, wobei der Mond mit
seinem gelben Lichte ein freundlicher Wegweiser war. Kings
zeichneten die Berge mit ihren brennenden Wiesen ihre Umrisse in
den verschiedensten Formen am dunkeln Himmel ab, weit überragt
von dem in hellen Flammen stehenden Gipfel des Machacha. Spät
Abends langten die Reiter in einem kleinen Dorfe (Bejan) an, wo
die Männer zu feierlichem Empfange sich um ein grosses Feuer
gelagert hatten. Rutenberg musste den Ehrensitz auf einem kleinen
ilolzstuhle einnehmen und aus der kreisenden Schale voll Lilin
(einem weissgrauen, milchähulichen, sauer schmeckenden Gebräu aus
Kafferkornmalz) trinken, während zwei Bassutos mit ihren Instrumenten
musicirten. Das eine Instrument besteht aus einer Gänsefeder,
welche an ein Stück Holz gebunden ist und als Blasinstrument
gebraucht wird, dessen schnarrenden Ton der Bläser durch ein
glucksendes Geräusch der Gurgel modulirt; das andere wird aus
einer trockenen offenen Kürbisschale hergestellt, über welche eine
Saite gespannt ist, die mit den Fingern gespielt wird, wobei wieder
jenes Glucksen die Begleitung bildet. Als das Feuer allmählich
erlosch, wurde Rutenberg mit seinem Begleiter in eiue Hütte geführt,
wo für sie eine Ochsenhaut als Lagerstätte ausgebreitet war. Mit
Hülfe der mitgenommenen Decken und eines Gummikissens hätte
sich zwar ein ziemlich bequemes Lager daraus hersteilen lassen,
wenn nicht die Menge des Ungeziefers gar zu lästig gewesen wäre.
Am folgenden Morgen versammelte man sich wieder um ein Feuer,
trank Lilin und rauchte aus einer sehr primitiven Wasserpfeife, die
aus einem mit Wasser gefüllten Ochsenhorne bestand, in welches
ein Bambusrohr mit einem thönernen oder metallenen Pfeifenkopf
gesteckt war. Als „Taback“ diente pulvrisirter Hanf. Es gehören
aber die dicken Kaffernlippen dazu, um die breite Hornöffnung zu
überspannen und so den Rauch einzusaugen. Hat der Kaffer den
Mund voll Rauch, so uimmt er noch einen Schluck Wasser, welches
er schliesslich durch ein langes, aufgeschnittenes Bambusrohr wieder
auf die Erde laufen lässt, wo sich allmählich ein mit platzenden
Rauchblasen bedeckter kleiner See bildet. Dieses Haufrauchen soll
ähnlich berauschend wirken, wie das Haschisch der Araber., Doch
kommt schon jetzt die durch die Europäer importirte kleine Tabacks-
pfeife mehr und mehr in Gebrauch. Auch die Pferde sind erst seit
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etwa zwanzig Jahren eingeführt, wahrend man sich früher der
ziemlich schlechten Kühe als Zugthiere bediente, und in den Wohn-
stätten hat die (Jivilisation ähnliche Aenderungen hervorgebracht:
an Stelle der kreisrunden, aus Stroh geflochtenen Hütten erbauen
die Kadern jetzt viereckige Häuser aus Lehm und püauzen in den
mit Lehm glatt ausgeschlagenen Vorhöfen die weit sichtbaren
Gummibäume. Nur in den Dörfern der Häuptlinge hat sich noch
die Sitte des Tättowirens erhalten: Die Weiber, aber auch manche
Männer, zeichueu sich in das Gesicht drei blaue Linien, die am
Ohre anfangend, nach den Augen, den Mundwinkeln und dem
Unterkinn verlaufen. Manchmal färben sie sich auch mit einer
eigenthiimlichen Erdart ganz rotli. Die Arme und Beine schmücken
sie mit Ringen, und die Frauen tragen noch um deu Hals breite
Messingplatten. Die Hautfarbe der Bassutos schwankt zwischeu
tiefem Schwarz und hellem Gelb.
C. Besteigung des Mont-aux-sources.
Auf der Tour nach Natal fand Rutenberg am Busse der Roode-
berge freundliche Aufnahme in dem Hause des Missionärs Mäder, der
ihm eifrig znredete, den nahe gelegenen Mont-aux-sources zu besteigen,
auf welchem nach der Aussage der Eingebornen der Oranjefluss (Sinku)
entspringen sollte. Auch Herr Griffitli hatte früher erzählt, dass
Oranje- und Tugelaquelle nur einen Büchsenschuss weit von ein-
ander entfernt seien. Freilich cursirten über die Lage dieses Fundes
unter den Umwohnenden die allerwidersprechendsten Gerüchte. Dies
reizte natürlich den kühnen Mutli unseres Reisenden und da Herr
Mäder ihm gern beluilfiich war bei der Herbeischaffung von Pferden,
und überdies ein nahewohnender Händler, dessen kranke Frau Ruten-
berg sofort in Behandlung nahm, sich zur Begleitung bereit erklärte,
so entschloss sich Rutenberg, den Berg aufzusuchen. Am 1. August
1877 ging er, begleitet von dem Diener des Händlers (der letztere
lehnte schliesslich doch die Begleitung ab) zu dem benachbarten
Kraal des Häuptlings Maslajuan, der ihm Pferde und zwei junge
Leute als Führer gab, und nachdem er in dessen Hütte noch eine
unruhige Nacht verbracht hatte, machte er sich am 2. August 8 Uhr
Morgens mit seinen beiden, mit Assegais bewaffneten und von sechs
Jagdhunden gefolgten Ivaffern auf den Weg, der anfangs durch das
tief ausgewaschene Thal des in der Nähe aus den Bergen kommen-
den Elands, über eine Menge kleiner Bäche allmählich auf dem
rechten Flussufer bergan führte. Immer über abgebrannte Wiesen
geht es weiter, fast ununterbrochen steigend, so dass die Pferde
bald ermüden und oft still stehen, um sich zu verschnaufen. Die
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beiden Kaffem erwiesen sich als kräftiger wie die Thiere, denn sie
kamen rascher vorwärts, obgleich sie noch Mundvorrath und Decken
für das Nachtlager trugen. Endlich gelangten die Wanderer an den
Theil des Berghanges, wo die Wiesen auf hören und die nackten Fels-
massen sich aufthürmen. Auch hier zeigten die Kaffem gute Orts-
kenntniss, denn sie wussten immer die besten Stellen zu finden, um
ein Steiufeld oder eine jäh abfallende Schlucht zu umgehen. Nach
Verlauf eines mühsamen Marsches von etwa einer Stunde erreichten
sie den Rand der Hochebene, und nach Ueberschreitung einer kleinen
Anhöhe standen sie ( 2'/2 Uhr Nachmittags) plötzlich an einem mit
Eis bedeckten Bache, der sich später als die Quelle des Elands ergab.
I Ein heftiger kalter Wind wehte über die Höhe, als man aber hinter
einem von der Sonne beschienenen Felsen Schutz suchte, zeigten die
Sonnenstrahlen noch eine solche Kraft, dass der Schweiss an den
Gesichtern der mit Thee und Brod sich erquickenden Reisenden
herabperlte. Der ganze Aufstieg vom Fusse bis zum Scheitel des
Berges hatte fünf Stunden gedauert und der Barometerstand ergab
eine Höhe von 10,500 Fass. Nach kurzer Rast wurden die Pferde
wieder gesattelt, um zunächst die Quelleu des Oranjeflusses aufzu-
suchen. Der Bergrücken war flach, lang gestreckt und bot einen
guten Ueberblick über die sämmtlichen umliegenden Berggruppen.
So erkannte denn -Ilutenberg, dass die Maluti- und Drakensberge
nicht eigentliche Kettengebirge, sondern Ränder einer gewaltigen
Hochebene sind, die sich genau von W-N-W nach O-S-O erstreckt.
; Nördlich lag ein scheinbar niedrigerer Höhenzug, gewissermassen
eine Fortsetzung der Drakensberge, dessen Namen er von den Ein-
geborenen nicht erfahren konnte: sie nannten ihn lachend Thaba
Tugela, welchen Namen sie aber selbst erfunden zu haben schienen.
Ilutenberg möchte ihn Corner Rock nennen. Der Berg scheint sehr
schroff und unzugänglich zu sein, namentlich im August, wo er mit
Schnee und Eis bedeckt ist. Von hier aus setzt sich in S-S-O-
Richtung der mit vielen Einschnitten und zahnartigen Ausbuchtungen
versehene Rand des Plateaus fort. Der von Rutenberg so genannte
Corner Rock ist also der Grenzpunkt zwischen Natal, Basutoland
und Orange Freistaat und zugleich der Verbi ndungspuuet des Basuto-
plateaus mit der nördlich sich fortsetzenden Reihe der Drakensberge,
also einer der wichtigsten Puncte in Südafrika. In der Nähe ent-
springt 1) der Elands River, und senkt sich dann in eine Kluft, die
in den „Freistaat“ abstürzt, also in nahezu nördlicher Richtung; 2) der
Tugela, nur durch einen flachen Höhenzug von dem Thale des Elands-
flusses getrennt, der sich nach einem kurzen ebenfalls nördlichen
Laufe nach Natal hinabstürzt; 3) der Oranjefluss, welcher auf der
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andern Seite des Höhenzuges auf einer grossen Wiese entspringt,
wahrscheinlich gespeist von den benachbarten Kuppen. Auch er ist
mit Eis bedeckt, das trotz der stechenden Sonnenstrahlen nicht auf-
thaut. Er fliesst in südöstlicher Richtung und kann man seinen Lauf
eine bedeutende Strecke weit zwischen den vielen Bergspitzen hinab-
verfolgen. Das Plateau, auf welchem er entspringt, liegt etwas
tiefer als das des Elandsflusses und ist nicht ganz eben, denn es j
erheben sich auf ihm sehr viele Kuppen, von denen eine früher als |
Mont-aux-sources bezeichnet worden war. Nördlich sieht man von
hier aus die recht unbedeutend scheinende Kette der Drakensberge, ]
welche aus vielen neben einander gelagerten Bergrücken besteht, j
die sich sowohl nach Natal, wie auch nach dem „Freistaat“ weit fort- <
setzen. Rutenberg bemühte sich nun dieses ganze Hochland genau
zu erforschen. Er verfolgte eine Strecke weit den ziemlich stark
strömenden Quellbach des Oranje, wandte sich darauf nördlich an
den Abhang nach Natal zu, wo das Land schauerlich zerklüftet
erschien und durch die Wildheit seiner Natur einen ausserordentlich
grossartigeu Anblick gewährte. Von hier ging er am Rande des
Abhangs entlang dem Tugela zu und schickte seine Leute, während
er selbst eine kleine Zeichnung von der Gegend aufnahm, nach der
anderen Seite des Bergrückens, um hier eine sichere Zufluchtsstätte
vor dem ziemlich starken Winde zu suchen. Alb er nach beendeter
Zeichnung ebenfalls hinüberging, konnte er trotz lautem Rufen und ,
Pfeifen keine Spur von ihnen entdecken. Er wendete sich nun der j
Stelle zu, wo er zuerst bei der Ankunft gerastet, aber ebenfalls ver-
gebens. Schon näherte sich die Sonne im Westen dem Horizonte,
der Wind wurde kälter und es dunkelte stärker, und schon fürchtete
Rutenberg, allein auf eisiger Höhe ohne sein Gewehr, seine Decken
und den Mundvorrath die lange Nacht durchwachen zu müssen, als
er plötzlich aus der Ferne Rufen und Pferdegetrappel hörte. Seine
Leute hatten eine sehr bequem gelegene Höhle ausgesucht und ein ’
lustiges Feuer darin angemacht, und die ungünstige Windrichtung
hatte wahrscheinlich das Pfeifen und Rufen nicht zu ihnen dringen '
lassen. Jetzt brieten sie eifrig ein schönes Stück Hammelfleisch, j
das vortrefflich mundete, da sich die Kaffern auf die Behandlung des ;
Fleisches am Bratspiesse uud offenen Feuer vorzüglich verstanden,
obgleich gewöhnlich erzählt wird, dass sie, da Fleischspeise bei ihnen
zu den Seltenheiten gehöre, eine ihnen in die Hände gefallene Ziege
binnen zehn Minuten mit Haut und Haaren verzehrt hätten. Nicht
einmal die Knochen liessen sie ihren Hunden als Beute, sondern sie
zerbrachen sie und sogen das Mark bis auf den letzten Rest heraus.
An der Höhle war nur das auszusetzen, dass sie ziemlich feucht war,
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so (lass der Schlaf sicli den ermüdeten Wanderern nicht freundlich
nahte, sondern Gliederkrampf sie häufig von ihrem mühsam bereite-
ten Lager aufschreckte; früh Morgens wurde daher wieder Feuer
angemacht und als nun Rutenberg zur Tugelaquelle ging, um sich
am frischen Wasser zu erquicken, faud er sie ganz mit festem Eise
bedeckt, so dass er sich ein nordisches Wintervergnügen bereiten
konnte. Im Osten war die Sonne noch durch eine dicke Rauchschicht
verhüllt, da das Abbrennen der Wiesen im August auf allen Bergen
mit grossem Eifer betrieben wird. Allmählich zeigten sich über
dieser Dunstmasse helle Streifen, dann durchbrächen die Sonnen-
strahlen die dicke Schicht am Horizont und immer höher steigend
nahm sie entsprechend der grösseren oder geringeren Dichtigkeit
der Rauchmassen die abenteuerlichsten Gestalten an: bald einem
Ballon ähnlich, bald einer Vase; ein prächtiges Schauspiel! Aber
ein kalter Wind trieb bald unseren durch das grossartige Natur-
schauspiel entzückten Reisenden in die Höhle zurück, wo die Kafferu
inzwischen den Kaffee gekocht hatten, der nach der feuchten, kalten
Nacht Allen treff lich mundete. Darauf wurden die Pferde bestiegen,
die au der Tugela reichlich Gras gefunden hatten; auch niedrige
Sträucher, ja sogar an geschützten Stellen grüne Pflanzen mit
fleischigen Blättern und Strohblumenarten wuchsen auf jenen ein-
samen Höheu, — Die nächste Arbeit war jetzt, möglichst genaue
Messung der benachbarten Kuppen, zunächst der gewöhnlich als
Mont-aux-sources bezeichneten Spitze vorzunehmen. Es ergab sich,
dass der Corner Rock höher war, als der sogenannte Mont-aux-sources,
obgleich auch dieser eine Höhe von 10,000 Kuss (?) hatte. Etwa
eine Meile weiter südöstlich schien übrigens die höchste Spitze auf-
zuragen, auch zu dieser ritt Rutenberg hinüber und erklomm den
schneeigen Gipfel, das Barometer zeigte 18,2, also eine Höhe von
11.300 Fuss (engl. ). Von seiner Spitze aus hatte er die umfassendste,
leider in dieser Jahreszeit nicht ganz klare Aussicht über den Corner
Hock hinweg auf die Berge des Oranje Freistaats und auf die Stelle,
wo die Wohnung des gastfreundlichen Herrn Mäder liegt, an einer
Ecke der Rodeberge, Quaqua genannt. In Nordnordosten sah man
deutlich die Reihe des quer vorgelagerten Rückens der Drakens-
berge und endlich im Westen den Zug der Witteberge. Als Zeichen
seiner Anwesenheit liess Rutenberg auf allen Spitzen, die er bestiegen,
Feuer anzünden, die dicken Qualm zum Himmel sandten und weit
im Lande verkünden sollten, dass auch in diese Höhen der Fuss eines
unerschrockenen Deutschen gedrungen sei.
Während dessen hatten sich die Kafferu Löcher in die Erde
gebohrt, geschmolzenen Schnee hineingegossen, ein Pfeifenrohr mit
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brennendem Hanf hineingesteckt und sogen nun mit einem zweiten
Rohre den Rauch ein, nahmen einen Schluck Wasser hinterher und
brachen dann in einen krampfhaften Husten aus, da sie den Hanf-
rauch mit hinunterschluckten, doch schien ihnen dieser Husten grosses
Vergnügen zu bereiten.
Endlich um 10‘/ss Uhr Morgens machte man sich auf den Rück-
weg, plötzlich aber erblickten die Raffern am Corner Rock ein paar
Springböcke (Antilopen); in grösster Aufregung warfen sie Decken
und Kleider von sich und stürmten, ihre Assegais schwingend, mit
ihren Hunden hinter den Fliehenden her. Aber selbst Raffern können
mit diesen Thieren nicht um die Wette klettern, die letzteren waren
schon jenseits des Elandsflusses hinter den höchsten Kuppen ver-
schwunden, als die Verfolger noch in den Schluchten einen Aufstieg
suchten. Während dessen hatte Rutenberg Müsse, jenseits des
schauerlichen Abgrundes auf mehreren Felsvorsprungen eine Schaar
neugieriger Affen zu beobachten, die über das Eindringen von
Menschen in ihr Reich sehr entrüstet zu sein schienen, denn sie
sprangen von einem Felsstück auf das andere und bellten laut wie
junge Hunde. Als Rutenberg ihnen eine Kugel aus seinem Gewehr |
hiuübersandte, rannten sie entsetzt nach allen Seiten auseinander
und klommen an einer fast senkrechten Felswand auf einem, wie es I
schien, von ihnen angelegten Pfade empor. Oben angelangt, blieben
sie aber wieder stehen und schauten sich neugierig um. Inzwischen
kehrten die Raffern von ihrer erfolglosen Antilopenjagd zurück und
der Rückmarsch konnte nun endlich ausgeführt werden. Natürlich
konnte mau bei dem Hinabklettern in die Schlucht die Pferde nicht
besteigen, doch bewährten sie auch hier ihre enorme Sicherheit im
Gehen auf abschüssigem, unebenen Terrain. Um Mittag wurde Rast j
gehalten, ein Feuer angemacht und Hammelfleisch gebraten. Dann
ging es auf sanft abfallenden Wiesen weiter in das Elandsthal hinab,
und gegen 4 Uhr Nachmittags wurde Maslajuau’s Kraal erreicht.
II. Mauritius.
Am 23. August 1877 verliess endlich die „Actaea“ den Hafen
von Durban, nachdem schon Tags zuvor der vergebliche Versuch
gemacht war, mit Hülfe des Schleppdampfers über die Sandbank am
Eingänge des Hafens hinweg zu kommen. Der Wind war wenig
günstig uud Regenschauer verkündeten das Nahen des Frühlings.
Ausser einigen Kulis befand sich nur noch ein Kreole an Bord, der
nach Mauritius zurückkehren wollte. Anfangs trieb der Wind das
Schiff stark nach Süden, bis man auf dem 35° einen östlichen Kurs
einschlagen konnte. Rutenberg suchte sich die Zeit mit dem Erlernen
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iler portugiesischen Sprache und dem Studium astronomischer und
mathematischer Werke zu vertreiben, da die Seefahrt wenig An-
ziehendes bot. Fliegende Fische zeigten sich hier weit seltener als
im atlantischen Ocean, desto häufiger trat das Meerleuchten ein und
prächtig gezeichnete Möven und Albatros begleiteten das Schiff bis
weit in den indischen Ocean hinaus. Am Abend des 2. September
erblickte ein Matrose vom Mastkorbe aus die Leuchtfeuer von
Mauritius und am folgenden Morgen konnte man vom Deck aus die
Nordostküste der Insel erkennen, als man zwischen den kleinen
Felseninseln Round Island, Flat Island und Gunners Quoin hindurch-
fuhr, welche mit gefährlichen Korallenriffen umgeben sind. Endlich
kam das Lootsenschiff heran und bald darauf ein kleiner Schrauben-
dampfer mit dem Quarantainearzt, um den Gesundheitszustand der
Bemannung zu prüfen. Nachdem dann durch eine Flagge das Zeichen
gegeben war, dass am Bord alles wohl sei, ruderten von allen Seiten
Boote heran, um die Passagiere an’s Land zu bringen. Im Hafen
lagen 60 — 70 englische, französische, italienische und nur ein deut-
sches Schiff. Rutenberg fuhr mit dem Kreolen nach dem Zollhause,
wo er in einem Steuerbeamten gleich einen ehemaligen Madagaskar-
Reisenden kennen lernte. Gleich am Hafen betritt man einen grossen
freien Platz, auf welchem die Statue des Herrn de la Bourdounais
steht, der sich um die Hafenanlagen sehr verdient gemacht hat;
daran schliessen sich kleine Parkanlagen mit dem alten Gouverne-
meutsgebäude, wie die meisten grösseren Häuser von Arkaden um-
geben. Das „beste“ Hotel de l’Union verdient seinen Ruf weder
durch Reinlichkeit noch durch Behaglichkeit, nur das Essen ist gut.
Oie Häuser der mittleren Stadt sind meist massiv aus Stein gebaut
und zweistöckig au rechtwinklig sich schneidenden Strassen, in der
weiteren Umgebung dagegen finden sich Holzhäuser, von kleinen
Gärten umgeben. Auf den Promenaden stehen Bänke für die Müden,
■ und entsenden Fontainen ihre erfrischenden Wasserstrahlen in die
Lüfte. Prächtige Palmen, Mango und indische Feigenbäume mit
ihren wunderlichen Luftwurzeln und Hülfsstämmen, Akazien mit
20 cm langen gelben Schoten und jungen Blättern kennzeichnen das
Land der Tropen. Uebrigens liegt Port Louis durchaus nicht an
gesunder Stelle, vielmehr soll die Zahl der Einwohner in Folge der
Fieber seit zehn Jahren zurückgehen. Der grösste Theil der Be-
völkerung besteht aus Weissen, aber die Farbigen gehören keines-
wegs zu dem niederen Theile der Gesellschaft; man sieht sie viel-
mehr in eleganten Anzügen, mit schweren goldenen Uhrketten, auf
den Strassen spazieren und auch als Geschäftsleute stehen viele von
ihnen in grossem Ansehen. Ueberhaupt finden sich hier die Bc-
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wohner aller Welttheile zusammen: Chinesen haben sich meist als !
Schnapsr und Rumverkäufer etablirt, Indier handeln mit Fleisch und
Fischen, Gemüsen und Früchten. Die vorherrschende Sprache ist die
fransösische, von der sich nur die englischen Kapitäne dispeusiren.
Von Port Louis fuhr Itutenberg eines Tages auf der Eisenbahn nach
dem nordöstlich gelegenen Pamplemousses ; die Landschaft bot durch
die tropischen Gewächse einen eigenthümlichen Iteiz, besonders aloe-
artige Pflanzen mit weissen Blüthen auf langen Stengeln und grossen,
lederartigen Blättern, die wegen ihrer Festigkeit sogar zu Säcken
benutzt werden, und die schon erwähnte ficus indica mit grossen
Früchten, die am Stamm knollenartig hängen. Dazwischen standen
die kleinen viereckigen Hütten der Kulis und viele Grabmäler. An
der Station Pamplemousses hielten kleine Zeltkarren, um die Reisen-
den in die eigentliche Stadt zu fahren, die durch ihre von Gärten
umgebeneu freundlichen Landhäuser, den hochragenden, weissen Kirch-
thurm einen recht anmuthigen Eindruck macht. Ein botanischer
Garten mit einer Steinpyramide, auf welcher die Namen der Stifter
des Gartens verzeichnet sind, am Ende der Hauptallee enthält
prächtige Palmen, Pandanus, Baumfarren, Urania, an denen sich der
Schlangencactus und die Vanille emporrankt. Aumuthige Rasen-
plätze, Fischteiche und murmelnde Quellen zieren die sorgsam
gepflegten Anlagen. Iu dem Hospital befauden sich zahlreiche Aus-
sätzige, bei denen zuweilen durch trockenen Brand einzelne Glied-
massen (Zehen und Finger) verkümmert waren. Das museum of arts
enthielt eine treffliche Bibliothek und sehr reiche Sammlungen, unter
denen sich auch Exemplare von dort im Meere vorkommendeu
Fischen mit giftigem Fleisch oder Giftdrüsen fanden. — Ein auderes
Mal fuhr Rutenberg nach dem südöstlich gelegenen Vacoa, dem
Hauptort der Zuckerfabrikation. Die Bahn führt einen Berg hinan
und gewährt prächtige Ausblicke auf das blaue Meer und die zackigen
Felsenberge trois mamelles und die Kuppe des Peter Botte. Iu einer
Zuckerfabrik war gerade eine neue Vorrichtung zur Herbeischaffung
t
des Zuckerrohrs in Betrieb gesetzt worden: eine lange durch Eisen-
gelenke verbundene Bretterreihe führt, durch eine Maschine in gleicli-
mässige Bewegung gesetzt, die von eiuem Berge in Bündeln auf
einem Eisendrahte heruntersausenden Zuckerrohrstrünke unter zwei
grosse Walzen, der Saft träufelt in darunter stehende Tröge und
die ausgequetschten Fasermassen werden getrocknet und als Heizungs-
material verbraucht. Der Saft wird darauf gekocht und abgeschäumt,
der Abschaum durch Säcke gepresst und als Zucker zweiter Qualität
verwerthet, während der Rest als Dünger benutzt wird. Der Saft
wird noch mehrmals in verschiedenen Bottichen durchgekocht, durch
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Zusatz von Kalk gereinigt und schliesslich in einen stark erhitzten,
luftleeren kupfernen Kessel gesogen, in welchem die Verdampfung
des Wassergehaltes vor sich geht. Die Zuckerpflanze wird nicht
durch Samen erhalten, sondern durch etwa 50 cm lange Ableger,
die nach IV* Jahren wieder Zuckerstoff liefern und 5 — 6 Jahre an-
dauern. Inmitten der Zuckerrohrfelder von Pamplemousses liegt ein
grosses, durch seine weissen Kuppeldächer schon von weitem in die
Augen fallendes Gebäude, die Sternwarte. Auf dem flachen Dache
desselben steht ein Meridian-Teleskop, und in der Nähe ein Apparat
zum Registriren der Richtung und der Intensität des Windes; auf
dem geräumigen Hofe befindet sich ein grosses Fernrohr nebst
photographischem Apparat zur Beobachtung der Sonnenflecken und
unter der Erde liegt, von doppelten Mauern umschlossen, der
magnetische Keller, in welchem die Bewegungen der Magnetnadel
und des Barometers sich selbst auf photographischen Tafeln registriren,
endlich ist auf einer andern Stelle des Daches noch ein grosses
Aequatorial-Teleskop aufgestellt, das durch ein Uhrwerk, welches
nach Sonnen- und Sternzeit regulirt werden kann, in gleichmässiger
Schnelligkeit nach allen Richtungen gedreht wird.
Sibirienfahrten 1878 und 1879.
Mit besonderem Interesse hat die Zeitschrift der Bremer
geographischen Gesellschaft alle Handelsunternehmungen und Reisen
verfolgt, welche den Zweck hatten, den von Nordenskjöld aufge-
schlossenen neuen Seeweg zwischen Nordsibirien und Europa weiter
auszunutzen und mit Hülfe desselben eine regelmässige maritim-
commerzielle Verbindung herzustellen. Bekanntlich haben aber die
Erfahrungen, welche die Sibirien-Fahrer im Sommer 1879 in Bezug
auf die Schiffbarkeit des Karischen Meeres machen mussten, den
Hoffnungen, welche man für den neuen Seeweg hegte, einen gewaltigen
Stoss versetzt. In der Zeit, zu welcher in den vorhergehenden
Jahren die Schiffe eine ungehinderte Fahrt hatten, Ende Juli und
im Monat August, erwiesen sich im Jahre 1879 sowohl jenes Meer
selbst, als seine drei Zugänge von Osten her durch Massen von
Treibeis unzugänglich und die Englischen, Schwedischen und Deutschen
Schiffe kehrten unverrichteter Sache nach ihren Ausgangshäfen zurück,
bis auf eines, den Dampfer „Louise“. Einige, in umgekehrter Richtung,
aus dem Ob nach Europa gesandte Segelschiffe konnten ebenso
"eilig durchdringen und gingen zum Theil im Eise verloren. Der
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Ausdauer und Erfahrung der Führer der „Louise“, der Kapitäne
Burmeister und Dallmann, gelang es, noch in später Jahreszeit den
Jenissej zu erreichen, dort zu löschen und zu laden und begünstigt
vom Glück, den Heimathshafen wieder zu ei’reichen. Wir lassen unten
einen kurzen Bericht über diese Reise hier folgen, indem wir, im
Interesse des neuen Seewegs, den Wunsch und die Hoffnung aus-
sprechen, dass die Eisverhältnisse des Sommers 1879 sich in diesen
und folgenden Jahren nicht wiederholen mögen, es würde sonst der
praktische Werth der neuen Fahrt auf nichts herabsinken.
Zuerst theilen wir einen durch das Ehrenmitglied unserer
Gesellschaft, Herrn Dr. med. 0. Duhmberg in Barnaul, uns gewordenen
Bericht über die Dampfschleppschiffahrt mit, welche im Sommer 1878
von Tomsk nach dem Ob-Meerbusen zum Zweck der ersten Weizen-
ausfuhr zur See unternommen wurde. Die Unternehmung, welche
von den Herren 0. Bartniug in Hamburg und M. Funk in Barnaul
ausging, wurde in so fern vollständig mit Erfolg gekrönt, als der j
von Hamburg ausgesandte Dampfer „Neptun“, Kapitän Rasmussen. |
glücklich den Nadym erreichte, dort deu mit dem Dampfschleppzug j
auf dem Ob herangeführten Weizen wenigstens zum grössten Theil
aufnahm und mit dieser Ladung glücklich Hamburg erreichte (vergl.
D. Geogr. Bl , Heft IV, Jahrgang II, S. 158 — 160). Diese Auf- '
Zeichnungen über den ersten Dampf-Schleppzug auf dem Ob zum j
See-Export zeigen, dass auch auf diesem Strome noch mancherlei j
Schwierigkeiten, namentlich in dem unsicheren Fahrwasser und iu .
dem Mangel an kundigen Schiffern, vor Allem aber in der Ab- j
neigung Sibirischer Kaufleute bestehen, die in dem neuen Seeweg
eine Gefahr (!) für den Sibirischen Handel und Verkehr erblicken!
Weiter folgen noch meteorologische Bemerkungen auf einer i.
im Sommer 1879 unternommenen Ob-Fahrt, die wir ebenfalls der
Güte des Herrn Dr. Duliinberg verdanken.
1. Erster, im Jahre 1878 gemachter Versuch sibirischen
Weizen iu’s Ausland zn verschiffen.
(Morskoi-Sbornik. No. 8. 1879.)
Ans dem Russischen in’s Deutsche übertragen von K. Jewtropow.
Am 13. Juli 1878 fand, nahe bei der Stadt Tomsk, im Hafen
des Kaufmanns Tjufin, an Stelle des lauten Treibens der Arbeiter,
eine aussergewühnliche Feierlichkeit statt: Pater Lazar, Prior des
erzbischöflichen Hauses, celebrirte, uuter Assistenz von zum Gefolge
des Erzbischofs gehörigen Personen, ein feierliches Te Deum auf dem
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r
Dampfer „Lutsch“ (Strahl). Bei aussergewühnlicheu Unternehmuugen
wendet sich ja der Mensch an die Vorsehung, um ihre Hülfe
bittend. Iu’s Bereich des Aussergewöhnlichen gehörte allerdings
die bevorstehende Expedition des Dampfers „Lutsch“, der die Aufgabe
hatte, eine Ladung sibirischen Weizen in den Obbusen bis zur Mündung
des Nadymflusses zu bringen. Hier sollte der Weizen auf ein
dänisches Schiff geladen werden, um dann — via Kara-See und Eis-
meer — nach Hamburg zu gehen. Dieses Unternehmen war von
dem Collegien-Assessor a. D., derzeitigem Kaufmanne 2. Gilde in
Barnaul, M. Funk, ausgegangen.
Im vorigen Winter war dieser Herr in Hamburg mit dem dortigen
Kaufmann Otto Bartning in Geschäftsverbindung getreten und hatte sich
verbindlich gemacht, 23,500 Pud sibirischen Weizen zur Mündung
des Nadym zu expediren, während Herr Bartning, seiner Verpflichtung
gemäss, ein Schiff mit 1500 Pud ausländischer Waaren durch’s Eis-
meer ebendahin absenden sollte. Zur Entgegennahme derselben war
sein Bevollmächtigter, E. Kühn, schon im Juni in Tomsk eingetroffen.
Es galt somit dem ersten Versuch eines directen Seeverkehrs
zwischen West-Sibirien und Europa. — Ein ungefährdetes Zusammen-
treffen beider Schiffe im Nadym (einem Zuflusse des Obbusens)
musste alle Zweifel an der Ilealisirbarkeit eines Seeweges zwischen
West-Sibirien und Europa hinwegräumen. Bisher hatte sich noch
nie ein Flussdampfer in den Nadymbusen hineingewagt.
Eine Fahrt in den Obbusen, dahin, wo er über 100 Werst
breit, galt ganz allgemein für ein gefährliches und riskirtes Unter-
nehmen. Auch auf dem „Lutsch“ herrschten nur sehr verworrene
Vorstellungen über den Obbusen und den Nadym : vou den Theil-
nehmern an der gegenwärtigen Fahrt war Niemand dort gewesen,
nur kühne Schiffer des Tobolskisehen Gouvernements hatten den
rauhen Norden besucht. Es darf uns daher nicht Wunder nehmen,
dass die Reisenden in inbrünstigem Gebet den Segen Gottes für ein
Unternehmen erflehten, von dessen Gelingen unberechenbare Vor-
theile für das Land zu erwarten waren. — Nach dem Gebet
erläuterte der Pater Prior in kurzer Ansprache Zweck und Bedeutung
des Unternehmens und ertheilte schliesslich den Segen mit dem
Bilde des heiligen Nicolai, des Wunderthäters. Schlag zwölf ertönte der
letzte Pfiff und der Dampfer verliess den Hafen unter den Glück-
wünschen aller Derer, die bis hierher den Reisenden das Geleit gegeben.
Diese Expedition war eine rein commercielle und hatte keinerlei
wissenschaftliche Tendenz. Bei der Eile, mit der die Ausrüstung
vor sich gegaugen war, hatte man an Compass, Sextanten, Baro-
und Chrono-meter und dergleichen Instrumente nicht denken künnen(l),
Geographische Blätter, Bremeu 1880. k
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es fehlte sogar eine ordentliche Karte vom Ob. — Die hier gebotenen
Mittheilungen sind auch nur Notizen aus dem Tagebuche eines
Touristen, der, keinerlei speciell - wissenschaftliche Interessen ver-
folgend, sich damit begnügte, die Eindrücke der Reise und was ihm
sonst noch bemerkenswert!! erscheinen mochte, niederzuschreiben.
Gemäss der Uebereinkunft sollten Fluss- und Seedampfer am
28. Juli im Nadym sich treffen. Von Tomsk bis dahin rechnet man
etwa 3500 Werst. W T ir konnten somit hoffen, bei ununterbrochener
Fahrt, am 25. oder 26. an Ort und Stelle zu sein. Aber schon
am nächsten Tage hatten wir gar Mancherlei zu überstellen.
Den 14., etwa 2 — 3 Werst unterhalb des — 150 Werst von
Tomsk entfernten — Dorfes Schukowa gerieth die mit Weizen
beladene Barsche „Katunj“ um 3 Uhr 15 Minuten auf eine Untiefe.
Der Tiefgang des Schleppschifffahrzeuges war 6 Fass l,c Zoll. Trotz
der Anstrengung der Mannschaft und trotz der Anwendung verschiedener i
Hiilfsmittel gelang es nicht, in’s Tiefwasser zn kommen. Es nahte
der Abend, die Matrosen waren erschöpft, die Barsche noch immer i
in derselben Lage. Man holte aus Schukowa eine Winde, einen ,
Hebebaum und 15 Mann, unter deren Beistände es endlich gelang,
beim Lichte der Laternen den „Katunj“ mobil zu machen.
Den 15. Bis 8 Uhr Morgens dauerte das Zusammenraffen des
Tauwerks, der Anker, Balken etc. Der Dampfer suchte lothend das
Fahrwasser zu erkunden und fand es an der andern Seite des Stromes,
obgleich die Lootseu, wie sie behaupteten, die vom Koltschin-Dampfer-
personal angegebene Richtung einhielten. Konnten aber Koltschin’s
Lootseu nicht auch absichtlich einen Weg angegeben haben, der auf
Untiefen führen musste?
Nach dreistündiger Fahrt blieb die Barsche — 8 Werst unter-
halb der Tschulym-Mündung — wieder stecken. Unbeschreiblicher
Missmuth über die, ihrer Aufgabe nicht gewachsenen, Lootscn iiber-
kam uns alle. Schon auf der Fahrt von Barnaul nach Tomsk, in
den erstell Tagen des Juli, hatten Funk und ich oft geuug von den
Untiefen zu leiden gehabt. Verzweiflung bemächtigte sich unserer
bei dem Gedanken, der Untiefen wegen könnte das gauze Unter-
nehmen misslingen. — Von Barnaul nach Tomsk sind es zu Wasser
900 Werst und wir brauchten zu dieser Tour 8 Tage. Kein Tag
verging ohne ein- bis zweimaliges Steckenbleiben. An vielen Stellen
ist der Ob nur 8 oder 9 Tschetwert*) tief. Wir trösteten uns mit
der Hoffnung, dass es unterhalb der Tom-Mündung keinerlei Aufent-
*) Ein Tschetwert, zunächst ein llohlmass, wörtlich ein „Viertel“, ist als
Längen- oder Tiefenmass so viel w T ie 50 cm (Centimeter).
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halt mehr geben würde. Wie Kapitän und Lootsen versicherten,
gäbe es dort keine Untiefen, es stellte sich aber das Gegentheil
heraus. Bis Toinsk hatten wir nur einmal zur Winde unsere Zuflucht
genommen; nunmehr, da wir kaum 200 Werst von Tomsk zurück-
gelegt, musste sie schon wieder in Anwendung kommen. Um die
Barsche wieder flott zu machen, bediente man sich der üblichen,
leichter anwendbaren Mittel. Nach Feststellung der Tiefe des Wassers
versuchte es der Dampfer, die Barsche in das Fahrwasser zu bug-
siren, indem er neben derselben arbeitete; ging das nicht, dann
versuchte er’s, sie am Schlepptau vorwärts zu ziehen (wobei oft
ganz neue und starke Taue rissen). Hiebei bewegte sich der
Dampfer, bald langsamer, bald schneller, zog bald am Bug, bald
am andern Ende des Fahrzeugs, bald von der Seite her, aber alle
diese Versuche blieben ohne Erfolg. Um die Arbeit des Dampfers
wirksamer zu machen, wurde von der Barsche ein Balken in’s
Wasser gelassen, an dessen oberem Ende ein Tau befestigt war, das
über eine Welle zu der auf der Barsche befindlichen Winde reichte.
Solch ein Balken wird „ Pfeil“ genannt. Wie derselbe wirkt, weiss
man nicht. Auf der Fahrt von Barnaul nach Tomsk wollte es uns
wenigstens nicht glücken, dies zu ermitteln. Nach vergeblichem
Abmühen musste auch jetzt — wie die Matrosen sagten — „dem
Wunderthäter Nicolai ein Licht gestellt werden“, d. h. zum Worot
(Winde) gegriffen werden, als zum besten Mittel, die Barsche frei
zu machen, denn die Kraft des Worot ist ganz eminent, unangenehm
ist aber der hiemit verknüpfte Zeitverlust. Auch läuft das Leben
der Arbeiter hiebei Gefahr. Alles Tauwerk ist im höchsten Grade
gespannt und bei unvorsichtiger Handhabung können gegen 10 Arbeiter
mit einem Mal ihr Leben einbüssen, was in der That auch vor-
gekommen sein soll. Wie es heisst, soll das der Grund sein, weshalb
die Schiffahrtsgesetze diesen Apparat verbieten. Ob dem wirklich
so ist, weiss ich nicht ; aber dass er Gefahr bringen kann, das unter-
liegt keinem Zweifel.
Kaum war das Fahrzeug flott geworden, so sass es schon wieder
fest. Bis lange nach Mitternacht mühten sich die Leute ab, endlich
waren sie erschöpft. Erfahrenere Passagiere sprachen ihre Ver-
wunderung über die Unkenntniss der Lootsen aus, da es nicht wohl
zu begreifen sei, wie man bei dem geraden Lauf des deutlich sicht-
baren Fahrwassers auf Untiefen gerathen könne. Der Unwille über
die Lootsen stieg auf’s höchste. Dennoch darf der Lootse nicht so
ohne Weiteres beschuldigt werden: der Grund des Stromes ist
sandig und schlammig, die meist niedrigen Ufer sind gewöhnlich
bewaldet, der Wald dicht, die Stämme hoch. Der Andrang der
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• (*•
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gewaltigen Wassermasse bedingt ein fortwährendes Ein- oder Herab-
stürzen der Ufer und dadurch ändert sich das Fahrwasser in jedem
Jahr. Nach Aussage kundiger, den Ob schon seit 20 Jahren und länger
befahrender Lootsen sind Flussarme, die noch vor Kurzem ganz
bequem befahren wurden, jetzt bereits so seicht geworden, dass man
die Furten mit Wagen Jassiren kann, daher denn die Dampfer
jedes Jahr ganz neue Wege aufsuchen müssen.
Den 16. Morgens hatte das Wasser zu aller Freude während
der Nacht die Barsche unterwaschen. Die Matrosen - Ausrufe: „’s i
geht nicht!“ „’s geht!“ „da uchnjem!“*) „Kinderchen, fürchtet
nichts, schont die Kräfte nicht!“ „Oi!“ „Eiehenstämmeheu !“
„uclinem!“ waren verstummt. Aber wiederum verging wie das erste
Mal die Zeit bis 8 Uhr mit dem Einziehen des Tauwerks, dem Auf-
holen der Anker u. A. Die Luft war entsetzlich schwül: im j
Schatten betrug die Temperatur 26° Iteaum. Dieser Hitze wegen
wurden 15 Pud frisches Fleisch, das man aus Tomsk mitgenommen,
eingesalzen.
Vor uns liegen die Ssungurow- Jurten. Mit der Annäherung
an dieselben steigt die Aufregung der Leute, die sich durch der- \
artige Ausrufe kundgaben: „Möchte uns Gott nur wohlbehalten
über die Ssungurow sehen Untiefen hinüberhelfen, über diese aller-
gefährlichsten, weiterhin ist's nichts !“ Und in der That, den Jurten j
gegenüber macht das Fahrwasser zweimal Biegungen fast unter
geradem Winkel, quer hinüber geht’s von einem Ufer zum andern
und dann gleich wieder über den Strom in entgegengesetzter
Richtung. Dank den Anweisungen eines der Passagiere wurden die
Untiefen vermieden und um 6 Uhr Abends beim Dorfe Kalpaschow
Halt gemacht. Es wurde Brennholz eingenommen, zwanzig Faden
in IV* Stunden. Die Bauern hier sind ein grobes Volk. Für das
Tragen von einem Faden Holz vom Ufer auf die Barsche verlangten
sie 30 Kop. und waren schliesslich kaum für 25 Kop. dazu bereit.
Die Preise der Lebensmittel sind höher als in Tomsk. Weiber
verkauften Roggenbrod von der allerschlechtesten Qualität.
Auf dem rechten Ufer hatte in der Nähe Wald gebrannt. Die
Luft war während des ganzen Tages mit Rauch erfüllt. Man fährt
wie im Nebel. Der Rauch ist heute stärker und hindert am Weiter-
fahren. Weder der Hitze und Schwüle, noch dem abscheulichen
Brandgeruch kann man sich tagüber entziehen. In der Kajüte war’s
noch dumpfer. — Am 17. ebenso. Das Thermometer zeigte im
*) „Da uchnjem“, russ., schwer wiederzugeben ; heisst ungefähr: „wollen
wir uns anstrengen, bemühen“.
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Schatten 27 Grad. In der Luft herrscht absolute Stille, nicht der
leiseste Windhauch!
In der Nacht vom 17. auf den 18. ging’s unaufhaltsam vorwärts,
zum ersten Mal, seit wir Tomsk verlassen.
Um 7 Uhr beim Dorfe Tymsk, am rechten Ufer des Ob. Es
ist 630 Werst von Tomsk entfernt und das letzte Dorf des
Tomsk’schen Gouvernements. Unweit des Dorfes beginnt die
Tobolsk’sche Grenze. Das Dorf ist wie ausgestorben, die Gassen
öde, die Häuser alle verschlossen; wir konnten daher hier nichts
kaufen. Man hätte gern frisches Fleisch gekauft, das wir schon seit
zwei Tagen nicht gegessen hatten. Am Ufer sass cid Weib, das
.Milch verkaufte; aber theuer, die Flasche zu 10 Kop. Das Dorf
besteht aus zehn Häusern, stösst gen N. au einen Wald, in dem,
nach Aussage eines Einwohners, viele Bären hausen, die in diesen
Tagen sogar in’s Dorf gedrungen und etliches Vieh getödtet hatten.
Den 19., Morgens. Von 5 bis 7 Uhr sehr dichter Nebel, der
am Weiterfahren hinderte. Hier kauften wir zum ersten Male Fische
von Ostjakeu. Den Dampfer erspähend, kamen sie auf ihren
kleinen gebrechlichen Nussschalen so eilig herangerudert, als es
ihre Kräfte nur immer erlaubten. Auf dem Wasser legen sie eine
j wunderbare Unerschrockenheit an den Tag. Sie fahren gerade auf
den Dampfer zu, ohne zu befürchten, dass sie unter das Itad
kommen könnten. Ein Sturm auf dem Strom ist für sie bedeutungs-
los. Muss der Ostjak irgend wohin, so macht er sich ohne Weiteres
auf die Fahrt, und gingen die Wogen noch so hoch. Wenn das
j Boot auf die Welle gehoben wird, dann rudern sie nicht, beim
Niedergang aber setzen sie a teinpo die Ituder mit voller Kraft ein.
Der Dampfer hemmte seinen Lauf; die Ostjakeu hielten am Steuer.
Für die Mannschaft hatte man aus Tomsk gegen 3 Pud (aus der
zweiten Mehlsorte gebackenes) Brod mitgenommen. Aus Unachtsam-
keit war aber der ganze Vorrath verdorben. Für ein Laib solchen,
total verdorbenen, schwärzlich-grünen Brodes tiberliessen die Ost-
jaken den Matrosen 8 — 10 Pfund frischer oder fast frischer Sterlete.
Matrosen sowohl wie Befehlshaber übervortheilen diese Wilden mit
der grössten Ungenirtheit.
Um Mittagszeit passirten wir das Kirchdorf Alexandrowsk
oder Werchne-Lupokolsk. Man rechnet von Tomsk bis hierher
800 Werst — und 7 Tage schon sind wir unterwegs!
Um 1 Uhr Nachmittags hielten wir bei einem Ostjaken-Uluss.
Es wird Holz geladen. — Wir benutzen das, um die Lebensver-
liältuisse der Ssurgut-Ostjaken kennen zu lernen. Im Winter wohnen
L* " —
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bankeu (russisch nary) an (len Wänden versehen sind. Die Sommer-
wohnung besteht aus vier senkrecht in die Erde gesteckten Stangen,
auf denen ein Dach aus Birkenrinde ruht, das sehr biegsam ist, im
Herbst wie ein Itohr zusammengerollt, und bis zum Frühling ver-
wahrt wird. Au der Rückseite der Jurte reicht das Dach bis zum
Boden herab und nur von dieser Seite ist die Jurte geschlossen;
auf allen anderen ist sie weder vor Wind noch vor Regen geschützt.
In der Jurte ist sonst weiter nichts, als einige Bretter, die auf zwei
Holzblöcken liegend, dem Ostjaken als Bettstelle dienen. In der
Mitte ist die Feuerstelle ; an irgend welchen Bequemlichkeiten fehlt’ s
total und art Schmutz ist kein Mangel. — Alle Gerätschaften sind
aus Birkenrinde. Unweit der Jurte befindet sich eine Ambare oder
Vorrathshaus, zuweilen auch zwei. Es giebt ausserdem ganz und
gar keine Baulichkeiten, es sei denn, dass man ein bedachtes
Flechtwerk für die Hunde und ein offenes, nicht überdachtes, für
Pferde und Kühe, als Nebengebäude ansehen will.
Des Ostjaken Vorrathshaus ist ein niedriger Bau von 1 Vs Arschinen*)
Höhe, nicht direct auf dem Boden stehend, sondern auf hohen Stützen
oder auf drei Arschinen hohen Pfosten errichtet. In dem Raume
unter der Ambare liegen, wie unter einem Schuppen, Schlitten,
Netze für Nüsse, verschiedene Utensilien aus Birkenrinde und was
sonst zu einer armseligen Ostjaken- Wirthschaft gehören mag. Die
Höhe, in der die Vorrathskammer sich befindet, macht ein Ein-
dringen von Mäusen und anderen Thieren unmöglich. Aufbewahrt
werden hier hauptsächlich geräucherte und getrocknete Fische und
ausserdem Thierfelle. Wir kamen nur in die eine Ambare hinein,
zu der anderen hatten wir keinen Zutritt. Es hiess, dort befänden
sich die Götzen mit den ihnen dargebrachten „Herrlichkeiten“. —
Kein Zaun umgiebt den Wohnsitz des Ostjaken, somit existirt nichts,
das einem „Hofe“ ähnlich sähe.
Hauptbeschäftigungen sind Jagd und Fischfang. Ungern ver-
kauft der Ostjake Fische für Geld, meist bittet er um Brod oder
Branntwein — nach letzterem hat er ein ganz besonderes Verlangen.
Diese Vorliebe des Ostjaken benutzen das in der Küche dieueude
Personal und die Lootsen, um sie auf s Gewissenloseste zu betrügen.
So ersteht der Ostjake z. B. eine Flasche sehr mittelmässigen
Branntweins — noch zur Hälfte mit Wasser versetzt — für 1 Rbl.
Hat der Ostjake erst zwei, drei Schälchen Branntwein genossen,
dann giebt er seine ganze Habe für Branntwein weg. Ein betrunkener
Ostjake drängt Einem seinen Fisch oft mit Gewalt auf — nichts
*) 1 Arschin = 71 cm.
Digitlzed by
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anderes fordernd als Branntwein. Russische Aufkäufer sollen, wie
man erzählt, erst dann ihre Einkäufe bei den Ostjakcn machen, wenn
sie letztere betrunken gemacht haben — und im trunkenen Zustande
sollen die Ostjaken fast umsonst weggeben, was sie im Sommer und
im Winter au Fischen, Wild, Nüssen, Pelzwerk u. A. zusammen-
brachten. — Des Nebels wegen sah sich der Dampfer gegen 11 Uhr
Abends genöthigt, mit der Fahrt einzuhalten. In der Ferne waren
die Ufer noch sichtbar; man hätte weiterfahren können, wenn auch
langsam, allein die Lootsen finden in jeder Nacht irgend ein
Hinderniss heraus.
Den 20., Morgens. Des Nebels wegen ein dreistündiger Halt.
Um 9 l /s Uhr passirten wir das „Gräber-Vorgebirge“. Auf dem
Schleppschiff des Tobolsk’schen Kaufmanns Plechanow war vor nicht
allzulanger Zeit die Cholera ausgebrochen, sie raffte gegen zwanzig
Matrosen an einem Tage hin, die alle hier am Ufer begraben sind.
Vom Schiffe aus konnte man die Kreuze auf den Grabhügeln sehen.
Den 21., 8 Uhr Morgens, bei der Stadt Ssurgut, die 7 Werst
vom Ob entfernt, daher nicht in Sicht ist. Auf dem Wege
dahin muss mau 2 oder 3 Flüsschen passiren. Als wir Tomsk ver-
liessen, glaubten wir schon nach 5 Tagen die Mündung des Irtysch
erreichen zu können. Hier sollte uns, der Uebereinkunft gemäss,
der Dampfer „Ssibirjak“, der eigentlich die Bestimmung hatte in
den Obbusen zu gehen, treffen. Der Dampfer „Lutsch“ hatte zwar
60 Pferdekraft, war aber unverhältnissmässig gross gebaut, so dass
er sich durch Schnelligkeit eben nicht auszeichnen konnte. Der
„Ssibirjak“ dagegen, von 120 Pferdekraft, war bereits etliche Mal
nach Fischerfahrzeugen in den Obbusen gegangen. Dem „Lutsch“
mangelte auch jedwede Einrichtung zu einer Fahrt in ein grosses
Wasser. Da die Reise bereits 9 Tage gedauert hatte, so glaubten
wir den „Ssibirjak“ in, ja möglicherweise noch oberhalb Ssurgut. zu
treffen. Allgemein war das Missvergnügen, als er sich dort nicht
fand. In den Obbusen auf dem „Lutsch“, der stromabwärts und
i bei ruhigem W'etter nicht mehr als 10 — 12 Werst die Stunde und
bei windigem Wetter noch weniger zurücklegte, sich hineinzuwagen,
das wäre gar zu schlimm gewesen. Galt es ja doch zu eilen, um
zum Termin in den Nadvm zu gelangen. Bis zur Irtyschmiindung
waren es noch gegen 300 Werst, somit tröstete man sich einiger-
massen damit, dass wir den „Ssibirjak“ noch treffen würden.
Um 10 Uhr verliess der Dampfer den Hafen von Ssurgut, um
4 Uhr Nachmittags waren wir im sogenannten Ljämin-Ssos. Auf
der Karte ist diese Lokalität nicht angegeben. Ljämin, ein Zufluss
des Ob am rechten Ufer, fliesst in gerader Richtung von Norden
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her. Da wo er einmündet, wird der Ob sehr breit. Bei unserer
Annäherung an den Ljämin-Ssor änderte sich das Wetter: heftiger
kalter Wind blies aus Norden. Zwar gab’s keine starken Wellen,
aber der „Lutsch“ kam kaum vorwärts. Der ihn seitwärts treffende
Wind und die Wellen brachten ihn aus den Kurs und trieben ihn
dem linken Ufer zu. Um 6 Uhr Abends beim Vorgebirge Ljämin
wurde geankert. Kein Dorf hier. Am Ufer für den Dampfer auf-
gestapeltes Brennholz. Die Matrosen arbeiten bis in die Nacht
hinein. Noch am Morgen des 22. trugen sie Holz aufs Schiff, im
Ganzen wurden 73 Faden eingenommen. Am Abend dieses Tages
wurden aus dem Boote eines Ostjaken Fische: 1 Njelma von 18 Pfd.,
10 „Ssyrki“*) und 2 grosse Hechte, alles für 60 Kop., gekauft. Um
1 Uhr erfahren wir von einem uns begegnenden Passagierdampfer,
dass der „Ssibirjak“ unweit der Mündung des Irtysch liege! Diese
Kunde versetzte alle in frohe Stimmung. Und in der That, wie
sollte man sich nicht freuen, war’s doch ein so kaltes Wetter (das
Thermometer zeigte im Passagiersalon nicht mehr als 15 Grad) und
blies doch von Norden her ein eiskalter heftiger Wind! Die Barsche
zwar geht ihren gewöhnlichen Gang ; der Wind ist auf dieselbe von
keinerlei Wirkung; der „Lutsch“ aber machte stark schaukelnde Be-
wegungen und wandte sich seitwärts dem linken Ufer zu. Um
Mitternacht verlangten die Lootsen, man solle während 2 Stunden
stoppen. Sie wiesen auf einen Perekat (d. h. Untiefe) hin, den
Nachts zu passiren gefährlich sei. Dies gab dem Dampfer Anlass,
die Barsche vor Anker zu lasseu und weiter zu gehen, um das
Fahrwasser zu untersuchen; auf einer Strecke von 10 Werst strom-
abwärts fanden sich keine Untiefen, 2 Stunden Zeit hatte man aber
verloren.
Den 23., 7 Uhr Morgens. Endlich war der mit Sehnsucht
erwartete „Ssibirjak“ in Sicht. Es war trübe, kalt, rund umher düster
und schaurig, aber darauf achtete man nicht vor lauter Freude über
das Erscheinen des „Ssibirjak“. Das Zusammentreffen erfolgte auf
dem Ob, 2 Werst oberhalb der Mündung des Irtysch, in der Nähe
einer Höhe. Auf dem „Ssibirjak“ befanden sich gegen 200 Bauern,
Uebersiedler aus Russland, die nach Tomsk gingen. Nach einer
Stunde schon hatten „Lutsch“ und „Ssibirjak“ Passagiere und Schlepp-
schiffe ausgetauscht. Der Kapitän des „Lutsch“ ging auf den „Ssibirjak“
über, da er bereits auf dem Obbusen gewesen war. Vom Commando
des „Lutsch“ waren nur 5 Manu bereit, auf dem „Ssibirjak“ zu dienen,
die Uebrigen mochten sich nicht aufs Meer hinauswagen. Die zwei
*) Deutsch „Zärthe“ (Abramis vimba) russ. Ssyrok pl. Ssyrki. (D. Debers.)
— 73 —
Zimmerleute auf dem „Ssibirjak“ hatten die Luken mit Deckeln und
die Fenster mit starken Verschlüssen zu versehen, für etwaige Un-
glücksfälle im Obbusen. Auf dem Irtysch, unweit seiner Mündung,
war das Ssibirjak-Schleppschiif mit einer Ladung von 200 Faden
Brennholz geblieben. Es war angeordnet worden, dieses Holz bis
zum Obbusen nicht zu brauchen, bis dahin sollte man sich des aus
den am Ob belegenen Ortschaften zu beziehenden Holzes bedienen.
Mit 2 F’ahrzeugen im Schlepptau ging der „Ssibirjak“ um 12 Uhr
Mittags zur Mündung des Irtysch. Hier beteten wir zu Gott,
ihn um seinen Segen anflehend für die Reise auf so wenig bekannten
und nicht erforschten Wegen.
In den letzten Tagen hatten wir nur von Fischen gelebt, denn
das gesalzene Fleisch war sehr bald ungeniessbar geworden. Auf
dem „Ssibirjak“ fand sich ein guter Vorrath von frischem Fleische
und anderer Provision, so wie ein trefflicher Koch, der späterhin
— im Obbusen — manches Köstliche aus „Nichts“ zu bereiten
verstand. — Den 24. Morgens im Dorfe Klein-Allym (Malyi-A.) auf
dem rechten Obufer. Malerische Lage. Oberhalb der Irtyschmün-
dung waren nur niedrige Ufer. Die Bewaldung bleibt ohne Ab-
wechselung, meist sind es nur Weiden; auf einer Strecke von 1000 Werst
bis zur Irtyschmündung gab’s keine Dörfer. Kein Vogel war zu sehen,
weder in der Luft, noch auf dem Wasser. Diese Oede, diese Mono-
tonie erzeugten ein nicht zu beschreibendes Gefühl von Langeweile
und Unbehagen. Unterhalb der Mündung des Irtysch dagegen
gewinnt die Reise einen angenehmen Charakter. Zwar ist auch hier
«las linke Ufer nur niedrig und mit. eben nicht hohem Walde
bestanden, dagegen das rechte Ufer durch viele hübsche Blicke aus-
gezeichnet. Das Ufer ist hoch, mit stattlichem Nadelwalde; hin und
( wieder malerisch auf Anhöhen oder in Thaleiuschnitten belegene
Dörfchen, oft nur 4 bis 5 Häuser, vom dichtem Grün des Waldes
umschlossen. Während des Aufladens von Brennholz fuhren die
Einwohner — Russen und Ostjaken — in Böten über den Fluss, zu
ihren Heuschlägeu.
Um 4 Uhr das Dorf Kondinsk passirt. liier ist eins der
fdtesten Klöster, das Kondiusk’sche, an einem Bergabhange gelegen,
daher die steinerne Kirche, der Klosterhof, die Zellen der Kloster-
brüder aufs Beste vom Strome aus zu sehen waren. Am Ufer
war eine zahlreiche Volksmenge, darunter auch gut oder städtisch
Gekleidete.
Um halb 11 Uhr Abends steuerte der Dampfer vom rechten Ufer
zum linken, dem sogenannten „kleinen Ob“ zu. Diese Stelle heisst
Peregrebnoje. Sie ist gegen 30 Werst vom Dorfe Seherkalsk entfernt.
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Ungeachtet der schnellen Fahrt gelangten wir erst gegen
12 Uhr in den kleinen Ob ; so breit ist hier der Strom. Die Bezeich-
nung Peregr^bnoje rührt von Fischern her. — Der Ob theilt sich
in 2 Arme : Der rechte heisst „grosser Ob“, der linke „der kleine
Ob“. Den grossen befahren weder Dampfer noch andere Fahrzeuge,
wohl nur aus dem Grunde, weil es dort fast gar keine Dörfer giebt.*)
Am kleinen Ob wohnen stellenweise Russen und Ostjaken. — Vom
Irtysch an halten sich die Fischerfahrzeuge meist am rechten Ufer.
Von da an, wo der Ob sich in die beiden Arme theilt, müssen sie
mehr als 10 Werst machen, um in den kleinen Ob zu gelangen.
Gegen Norden ist diese Lokalität offen, vor Wind und Sturm durch
nichts geschützt. Segelschiffe brauchen viel Zeit und gutes Wetter,
um das gegenüberliegende Ufer zu erreichen. Bisweilen liegen die
Fahrzeuge hier wochenlang und warten auf gut Wetter.
Den 25. um 6 Uhr Morgens hielt der Dampfer beim Ostjaken-
dorf Istotschniya-Jurti (Quell-Jurten), um Holz zu laden. Alle Ost-
jaken am Ufer, die Luft recht frisch; dichte langgestreckte Nebel-
wolken über dem Ob. Unterhalb des Irtysch wohnen die eigentlichen
Ostjaken, auch Berjosowsche genannt. Sie unterscheiden sich in
gar Manchem von den Narym- und Ssurgut-Ostjaken, die am Ob
oberhalb der Irtysch-Mündung nomadisiren. Die Ssurgut-Ostjaken
sind ein armes und jämmerliches Volk, das geistig völlig un-
entwickelt ist. Die Berjosowschen sind wohlhabender, wohnen bedeu-j
tend besser, nämlich in kegelförmigen Jurten, die, gut eingerichtet,;
denen der Altai-Kalmücken ähnlich sehen. In der Mitte der J urte i
der Heerd; rechts vom Eingang die Abtheilung der Weiber mit
Milchtöpfen und dem Küchengeräth, links von der Thür die Männer-
abtheilung. An der Innenwand der Jurte niedrige Schlafbänke, auf
denen, dem Eingang gegenüber, mit der Habe gefüllte Kasten stehen,
über denselben hangen die heiligen Bilder, aber von Reinlichkeit
keine Spur. Die Ostjaken sind klein von Wuchs; der Gesichtstypus
asiatisch, breitgedrückt, die Nase auffallend breit, der Bart fehlt fast
ganz, die Kopfhaare werden nicht beschnitten und in Zöpfen getragen.
Auch Männer haben einen Zopf. Bei beiden Geschlechtern sind die
Zöpfe mit rothem Baude oder Zeuge umwickelt und an denselben;
hängen Ringe, Eisen- und Kupferbleche. Reinlichkeit kennt der
Ostjake nicht, Niemand kämmt oder wäscht sich, daher sieht man
bei so vielen Triefaugen und Krusten auf Gesicht und Lippen.
Nach orientalischer Sitte tragen die Ostjakinnen einen Schleier,
bedecken sich aber nicht ganz und gar und sehen es dem Neu-
*) Das ist nicht der Grund, sondern die geringe Tiefe des grossen Ob.
(D. Debers.)
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gierigen, der den Schleier etwa lüftet, nach. Die Gesichter der
Ostjakinnen sind rund, die Augenbrauen hoch über den Augen.
Manche sehen gar nicht übel aus. Auf der Brust tragen sie
allerlei metallische Zierrathen, meist Eisen- und Kupferbleche
oder Ringe. Auf dem Finger mancher Ostjakin sieht man gegen
30 und mehr kupferne und eiserne Ringe. Erwachsene junge
Mädchen waren nicht zu sehen, denn die Töchter werden früh, schon
im Alter von 13 — 14 Jahren, verheirathet. — Die warme Kleidung
ist bei beiden Geschlechtern und auch bei Kindern immer dieselbe:
die aus Renthierfellen — mit der Haarseite nach aussen —
gefertigte „Gussj“ und die „Maliza“ — mit nach Innen gekehrter
Haarseite. Die Fussbekleidung — Luntai genannt — aus Renthier-
fell mit nach Aussen gekehrter Haarseite sieht Filzstiefeln, russisch
,,pimy“, sehr ähnlich. Gussj und Maliza werden auf ganz gleiche
Weise genäht. Jede derselben kann man mit einem langen engen
Hemde vergleichen, das aber Hals und Kopf bedeckt und vier
Oeffnuugeu hat: eine untere, zwei Armlöcher und eine obere runde
Gesichtsöffnung. Originell sind die ostjakisclieu Kinderwiegen. Ein
Fremder könnte sie für kleine Schlitten halten, die noch keine
Schleifen haben. Diese Wiegen trägt man auf den Händen oder
stellt sie gerade auf die Erde hin. — Der Kapitän kaufte von einem
Ostjaken einen gewaltigen Stör von 1 Pud, 6 Mukssun und 6 grosse
Njelma, Alles für 1 Rbl. 50 Kop.
Aus dem „kleinen Ob“ lief der Dampfer in den Nebenarm
Pyrssim ein, aus diesem in den Fluss Ssosswa, an welchem die Stadt
Berjosow liegt. Danach ging es wieder in den „kleinen Ob“; aus
diesem in den Nebenarm Ustrjom, der in den „grossen Ob“ mündet.
Köstliches Wetter, aber die Lufttemperatur nur -f- 13 °. Um
4 1 /* Uhr waren wir in der am linken Ufer der Ssosswa gelegenen
Stadt Berjosow. Das Ufer ist ziemlich hoch, daher man die Stadt
schon aus einer Entfernung von 5 Werst sieht. Am Halteplatz war
eine grosse Volksmenge versammelt. Unser erster Besuch galt dem
Grabe Ostennann’s. Es liegt ganz abgesondert und fern von allen
Gebäuden. Das hölzerne Kreuz auf demselben zeigt die Buchstaben
A. 0. mit einer Blechkrone darüber. Von einem Grabhügel ist
nichts zu sehen, das Kreuz ist im Laufe der Zeit schwarz geworden.
Das Grab uuigiebt ein hölzerner Zaun. Unweit des Grabes die
Mutter-Gottes-Kirehe und der Kirchhof. Wir wollten auch Menschikow’s
Grab besuchen, aber der Isprawnik-Gehülfe sagte uns, es existire
nicht mehr, da das Ufer, auf dem Menschikow begraben worden,
vom Wasser unterwaschen sei. Hübsche Gebäude kann die Stadt
nicht aufweisen, die Häuser sind alt und alle von Holz. Ausser
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der genannten Kirche giebt es hier noch eine Kathedrale; beide
Kirchen sind von Stein. In der Gemeindeschule ist eine Art von physi-
kalischem Observatorium. In den Kaufmannsbuden findet der Reisende
Manches für die Reise sehr Nothwendige, bei nicht eben hohen
Preisen. Der Kapitän hatte uns nur l 1 /* Stunden Zeit gegeben, es
war daher keine Möglichkeit, die Stadt, die sich einer historischen
Bedeutung rühmen darf, noch näher in Augenschein nehmen zu
können.
Den 26. wurde das Dorf Kuschewat passirt, das 250 Werst
von Berjosow und ebensoweit von Obdorsk entfernt ist. In der
vorigen Nacht gab es einen Herbstregen, bei anhaltendem scharfen
Winde, der gerade aus Norden blasend, uns conträr war. Hinter
Kuschewat ist der Ob sehr breit und läuft meist geradeaus nach
Norden. Hier fehlten die Windungen und Biegungen, die uns ober-
halb des Irtysch so oft zu schaffen machten. Gelegentlich ändert
auch jetzt der Strom seine Richtung, aber dann geht es wieder
40, 60 und mehr Werst fort ohne eine Biegung. Nachdem wir
5 — 7 Werst unterhalb Kuschewat ein Vorgebirge umschifft hatten,
gab es solche Wellen, dass das Wasser über die Brustwehren (schkanzy)
hinüberspritzte. Da die Schleppschiffe an den Seiten des Dampfers
befestigt waren, so bäumten sich die zwischen dem Bug des Dampfers
und der Fahrzeuge hiueiugerathenden Wogen 2 Faden hoch empor,
und stürzten aufs Deck der Schleppfahrzeuge nieder. Eine Welle
prallte gegen die Seite des Schiffes, das Wasser drang durch die
Kajütenfenster der ersten Klasse ein, alles dort durchnässend. Man
verstopfte sogleich einige Fenster und musste in der Kajüte
Licht anzünden. Für ein Weilchen schien der Wind sich zu
legen, aber um 12 Uhr verstärkte sich der Wogendrang; der Wind
wurde noch heftiger und stossender. Die Schleppschiffe wurden
von den Wellen so gewaltig hin und hergeschleudert, dass sie
bald auf der Seite gelegen hätten. Auf dem einen stürzte alles
Brennholz vom Deck in’s Wasser und beinahe hätte der Sturm auch
einen Matrosen hinabgeworfen. — Das Geschaukel, das Thüreu-
kuarreu, das Aechzen der Schiffswände, der strömende Regen, die
heftigen Windstösse, — alles das war keineswegs erbaulich. Der
Wegweiser weigerte sich endlich bei solchem Wetter weiter zu
fahren, zumal es weiter unterhalb Sandbäuke gäbe, die man vor-
sichtig umfahren müsse, und man da nirgends vor dem Sturme
Schutz fände, wesshalb die Fahrzeuge 60 — 70 Werst bis zum ersten
Vorgebirge zurückgeheu müssten, wo sie ohne Gefahr verbleiben
könnten. — Der Dampfer ging nach Kuschewat zurück, warf um
3 Uhr bei einem Berge hinter dem Vorgebirge (russisch Myss) Anker,
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das in der That trefflich vor Wind und Wellen schützte. Der Wind
war kalt; die Lufttemperatur war nicht über 7°, das Wasser so
eisig, dass einem beim Waschen die Hände schmerzten und trotz
Hegen und Wolken die Luft um 10 Uhr Abends noch so hell, dass
man ein Buch lesen konnte.
Von einem Psalomschtschik (Psalmenleser) wurden 13 Faden
Holz gekauft zu 1 Rbl. 30 Ivop. Er kam auf den Dampfer, unter-
hielt sich mit uns und erzählte vom Fischfang, der Hauptbeschäftigung
der Einwohner von Kuschewat. Die Fische werden von Syrjänen
aufgekauft und im November von denselben über den Ural nach
Ischmor und Archangelsk gebracht. Sie sind daher auch nicht
besonders billig: 1 Pud Stör kostet z. B. gegen 3 Rbl. Es kommen
viele Syrjänen aus dem Archangelschcn Gouvernement hierher; ein
schlaues gewinnsüchtiges Volk, das Ostjaken und Samojeden gründ-
( lieh auszubeuten versteht.
Der Ob wird bei Kuschewat in der Zeit vom 17. — 30. Mai
I eisfrei und friert in der zweiten Hälfte des November zu. Im
Frühling ist die Ueberschwemmung so bedeutend, dass das jenseitige
j Ufer selbst vom Berge aus nicht zu sehen ist. In diesem Jahre war
| der Ob sehr wasserarm; die sonst so fischreichen Buchten waren
fast ausgetrocknet, die Ausbeute an Fischen daher gering. Seit
I Anfang Juli wehte in Kuschewat anhaltender kalter Nordwind,
i wahrend es in früheren Jahren zu dieser Zeit immer nur heisse
Tage gab. Dafür war aber der vorige Winter so milde, wie man
sich keines gleichen erinnert. Gewöhnlich aber giebt es so starke
I Winterfröste, dass man bei Schlittenfahrten das Renthier nicht
I sieht; wenn in Sibirien die Kälte — 30° R. erreicht, so ist
die Luft mit einem ganz eigcnthümlichen dichten Nebel erfüllt, so
dass man oft in Städten die gegenüberliegenden Häuser kaum sehen
kann. — Ohne Gussj und ohne Maliza darf man nicht zum
Hause hinaus.
In Kuschewat giebt es Pferde, Kühe, Hühner. Eier verkaufte
man nicht, denn Niemand hatte Ueherfluss daran. Die Beschaffen-
heit des Tundrabodens gestattet keinen Ackerbau, daher man hier
nur gekauftes Brod und keine Gemüse findet. Private und Regierung
verkaufen Brod zu 50 bis 90 Kop. das Pud. (Die Regierung hat
überall in den Hauptortschaften am Ob Vorrathshäuser gebaut.)
Winter- und Sommerkleider werden liier nach Art der Maliza genäht.
I)ie hier ansässigen Russen kleiden sich ostjakisch.
Die Ostjaken sind Christen, hängen aber, wie der Psalmsänger
sagt, noch am Heidenthum, und beten ganz insgeheim ihre Götzen
an, die sie in ihren Vorrathshäusern aufbewahren. Diese Vorraths-
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häuser befinden sich an verborgenen Orten im Walde und ruhen .
auf Pfählen. — Bräute werden gekauft und zwar für Renthiere.
Der Reiche giebt deren 100 und mehr, der Arme 5 — 10. Bei diesem
Kauf gilt das Renthier 2 Rbl., während der gewöhnliche Preis
7 — 10 Rbl. beträgt.
Unterhalb Berjosow ist das rechte Ufer hoch, aber nicht
malerisch. Es präseutirt sich als steiler, kahler, stetig abbröckeluder
Absturz.
Wir versuchten auf dem Berge im Walde ein wenig umher zu
spazieren; es erwies sich das aber als nicht ganz ungefährlich, sowohl
wegen der Bärenspuren, die ein allzuweites Abschweifen nicht rathsam
erscheinen Hessen, als auch wegen vieler mit Blättern und Baumzweigen
bedeckter Fallgruben. Somit eilten wir wieder zum Dampfer zurück.
Donnerstag, den 27., 8 Uhr Morgens. Das Wetter blieb sich
gleich : die Temperatur der Luft 4°, des Wassers 6 °. Der Sturm raste mit
aller Kraft, auf der gegenüberliegenden Höhe knickte er eine Fichte
gleich über der Wurzel. Der Wald besteht meist aus Fichten und
Zirbelfichten (iu Sibirien „Gedern“ genannt). Die Vegetation ärmlich.
— Das Ufer von Regengüssen stark durchfurcht. — Von Vögeln nur
Enten und Möven. Wilde Enten in solchen Massen, dass sie — aufs
Ufer sich liiederlassend — dasselbe ganz und gar bedecken.
Am Abend langten mit dem Postboot*) ein Kuschewat’scher
Geistlicher, der vorerwähnte Psalmsänger und ein Händler an. Sie
billigten es alle, dass wir gestern Abend zurückgekehrt waren, denn
bei’m Weiterfahren wäre es ohne Unfall wohl nicht abgegangen.
Der Bezirk der Kusch-Gemeinde erstreckt sich über 300 Werst und
mehr. Die Ostjaken-Ulusse liegen sehr zerstreut. Das Besuchen
der Gemeinden findet meist im Winter statt.
Freitag, den 28. Am Morgen zeigte das Thermometer 5 °, am
Tage 6°. Von 10 Uhr ab begann das Wetter sich zu ändern, der
Wind sprang von NO. nach NW. um und wurde endlich ganz W.
Es zeigten sich llaufenwolken ; der Sturm wüthete noch fort, erst
gegen 5 Uhr Abends Hess er allmälig nach. — Auf Funk’s Rath
beschlossen der Kapitän, Tjufin’s Bevollmächtigter, und der Maschinist
weiter zu dampfen und um 7 Uhr Abends setzten wir uns in Bewegung.
Gar bald Hess der Wind nach. — Um Mittagszeit entspann sich
ein Handgemenge des Heizerpersonals, was an sich zwar zu un-
erheblich, um darüber ein Wort zu verlieren, aber doch das
Dienstpersonal, so wie auch die Dampferordnungeu auf einigen
*) Das mit Mast und Segel versehene Postboot ist meist grün angestriciieii
und hat in der Mitte eine Art Kajüte für die Correspondenz.
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Dampfern charakterisirt. Aus Langeweile hatten sich die Heizer
angetrunken und spielten Karten, einer von ihnen hatte Geld,
Hemde und Stiefel verspielt. Die Spielenden geriethen in Streit, aus
dem sich eine blutige Schlägerei entspann, bei der einige Individuen
in eine bestialische Wuth geriethen und mit Messern einander
zu Leibe gingen. Keiner der Kameraden wollte sich in den
Streit mischen, dem Kapitän gelang es endlich, die Raufer aus-
einanderzubringen und zur Kajüte hinauszuexpediren. Der erste,
der aufs Deck kam, war total matt, mit blutenden Wunden und
Schrammen auf Rücken und Brust; — noch immer wutschnaubend
und kopfschüttelnd stiess er die Drohworte aus: „mag Wanjka nur
I kommen, todtschlagen werd’ ich ihn — sofort!“ — Mit der geballten
Faust schlug er mit solcher Kraft gegen die Thür, dass ihm alle
Finger bluteten; er spürte aber keinen Schmerz, schrie immer
drauf los, schüttelte mit dem Kopf und knirschte mit den Zähnen.
Er wartete an der Thür, ob mau Wanjka auch herausführen würde.
Diesen konnte man nur mit Gewalt herauszerren. In seiner Wuth
; fiberhäufte er den Kapitän mit Scheltworten. Er wurde gebunden ; aber
nach wie vor schimpfte er auf den Kapitän. Er bat den Maschinisten
um Schutz und letzterer liess sich wirklich herbei ihn zu vertheidigen.
Das regte die übrigeu Heizer auf, die für den Betrunkenen eintraten.
! Glücklicherweise endete Alles friedlich. Derartige Vorgänge wieder-
holten sich iibigens während unserer Reise mehr als einmal. Zur Abwehr
(• derselben wären wohl besondere Bestimmungen für das Dampfer-
commando in Sibirien sehr erwünscht. Man engagirt meist Ver-
schickte als Matrosen auf den Schiffen, und das sind im höchsten
Grade depravirte Leute, die bereits Gcfängniss- und Zwangsarbeit
wiederholt durchgemacht haben. Es ist keine leichte Sache, solch’
Gesindel zu regieren.
Am 29. war’s eben nicht wann ; das Thermometer zeigte 5°.
Ohne Pelz konnte mau nicht zur Kajüte hinaus, man heizte die
, Kajüten. 9 Uhr Morgens 40 Werst von Obdorsk. Der Ob ist hier so
I breit, dass man nicht recht unterscheiden kann, was für Gegenstände
auf dem einen oder andern Ufer sind, ob ein Haus, eine Jurte oder
ein Gebüch.
Obdorsk, am Ufer des Flusses Polui, 7 Werst von der
: Mündung desselben; vom Ob aus schon aus der Ferne sichtbar und
viel hübscher als Berjosow. Um 1 Uhr Mittags ging der Dampfer
bei Obdorsk vor Anker. Am Ufer viel Volk; alle, Gross und
Klein, in Wollenstoff gekleidet. Auf dem höchsten Puncte des
I Ortes eine hölzerne Kirche. Manche gute Häuser; aber alle von
Holz. Gebäude aus Stein giebt es nicht. In den Strassen überall
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furchtbarer Koth, der Boden ist locker und feucht. Die Preise
einiger Artikel sehr niedrig; so z. B. kosten Stearinlichte BO Kop.
das Pfund; 1 Pud Zucker 6 Rbl., was billiger ist als in Tomsk,
wo vor unserer Abreise der Zucker 10 Rbl. und 10 Rbl. 50 Kop.
das Pud zu stehen kam.
Aber Pelzwerk ist in Obdorsk theuer: für einen schlechten
Fuchspelz verlangte man 75 Rbl. Ebenso Brennholz: für 5 Faden
zahlte man 15 Rbl. Hühner giebt es hier nicht; man hatte sie
einzuführen versucht, indessen beissen die Hunde sie jedesmal todt.
Wie in Berjosow, baten uns auch hier viele Personen, ihnen Gurken,
Kartoffeln und anderes Gemüse zu verkaufen, das auf dem feuchten
Boden der Tundra nicht kultivirt werden kann. Die Bevölkerung
von Obdorsk sind Samojeden, Ostjaken, Syrjänen, Russen. Die Natur
ist hier äusserst armselig, auf den Höfen fehlt alle Kräutervegetation:
überall nur Moos. Die Bäume gleichen Zwerg -Sträuchern. Für
Pferde und Kühe, deren es hier genug giebt, mäht man Heu auf
den Inseln. Viele bedienen sich der Hunde zur Verrichtung wirth-
schaftlicher Arbeiten, wie z. B. zur Anfuhr von Wasser und Holz,
daher giebt es Hunde in Menge. Man verkauft sie zu 1 — 3 Rbl.
Sie sind nicht gross von Wuchs; fast alle weisshaarig, mit spitzer,
leidlich hübscher Schnauze. In den Protoschnija- und Ustremsnija- '
Jurten hat jeder Ostjak einige Dutzend Hunde. Angesichts der
Hundeschaar bei jeder Jurte fürchteten wir uns anfangs an’s Ufer
zu gehen; aber unsere Befürchtungen waren unnütz geweseu: trifft
man auf dem Wege einen Ilund, so erhebt er sich und geht zur
Seite. Weder hellen die Thiere, noch fletschen sie die Zähne. Wo
der Ostjak oder Samojede sich auch hinbegeben mag, immer folgeu
ihm die Hunde nach. Einige gehen auch auf das „schwarze Thier“
— den Bären — los ; während andere nur Enten, Gänse und andere j
Vögel packen.
In Obdorsk ist eine Missionsschule, in welcher unter der Leitung j
von vier Mönchen Knaben und Mädchen zusammen unterrichtet werden. '<
Temperatur der Luft 5 bis 7°. Um 3 V* Uhr fuhren wir zur
Mündung des Polui zurück. Auf dem Ob kamen zuweilen Samojeden
herangerudert. Der Kapitän glaubte, sie böten Fische zum Verkauf
an und wollte den Dampfer halten lassen, sie hatten indessen nur
nach Branntwein Verlangen.
Von Obdorsk bis zum Obbusen rechnet man 250 Werst; in
Anbetracht dessen aber, dass um 8 Uhr Morgens des folgenden
Tages, des 30 Juli, die im Obbusen liegenden Puikow’schen und
Nangi-Inselu schon hinter uns waren, ist diese Distanz schwerlich
so gross. Ueberhaupt werden es von Berjosow bis Obdorsk und
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von da bis zum Obbusen in Wirklichkeit wohl an 500 Werst weniger
sein, als angenommen wird.
So sind wir denn endlich im Obbusen, in dessen Eingänge ein
ganzes Heer von Inseln liegt, von denen jedoch ein grosser Theil aus
Sandbänken besteht. Die grössten sind die bewaldeten Puikow-, Nangi-
und Machtass-Inseln und weiterhin die Insel Che. Die stromabwärts
fahrenden Dampfer nehmen ihre Richtung zunächst auf die Puikow-
Inseln und gehen von hier in den sogenannten Machtass-Ob. Den
Fischern im Obbusen dienen im Herbst diese Inseln als Samniel-
punct und treffen hier im September gegen 2000 zusammen. Dann
linden sich auch Dampfer ein, die sie mit ihren Fahrzeugen und mit
ihrer Ladung eingesalzener Fische nach Hause — nach Tobolsk —
bringen. Den Winter über bleibt von den Russen Niemand im Ob-
busen, vielmehr verbleiben daselbst einzig und allein die Samojeden.
Von Puikow an war unser Führer ein — in Obdorsk (für 60 Rubel)
engagirter — Syrjäne. Zum Behuf des Aufladens von Holz ging
der Dampfer neben der Barsche. „9 Tschetwert“, rief der die Tiefe
messende Matrose; — und — wir sassen fest. Beinahe wäre die
hintere Barsche mit dem Bug auf die vor ihr befindliche aufgerannt,
was eine schreckliche Panik verursacht haben würde. Es war 9 Uhr
Morgens. — Links die Machtass-Insel in Sicht. Gegen Mittag das
Wetter gut. Wir sassen uoch immer fest. Um 3 Uhr erhob sich
ein Westwind. Von der Untiefe losgekommen, geht es mit mittlerer
Geschwindigkeit vorwärts, b'lt Uhr abermals auf einer Untiefe.
Ringsum uferloses Meer. Am Horizont nur an wenigen Puncten
Baumgipfel sichtbar. Der Dampfer fuhr zum Behuf des Lothens allein
(ohne Barsche), der Anweisung des Führers gemäss, nach der einen
Seite hin, aber auch hier war es seicht und nach der anderen Seite
hin ebenso. Was nun thun? Nach vielem Hin- und Herreden
entschloss mau sich zur Barsche zurückzukehren. Wie aber das Fahr-
wasser finden, da die Ufer kaum sichtbar sind! Zudem erhob sich
noch ein Sturm. Auf’s Gerathewohl weiter zu fahren, das wäre
allzu gewagt gewesen. Der Syrjäne erwies sich als ein gänzlich
unkundiger Führer. Wegen anbrechender Nacht fuhren wir zur
Machtass-Insel, um dort zu übernachten. Sie sollte nur 25 Werst
entfernt sein. Wir fuhren eine Stunde und noch eine Stunde,
konnten aber nicht bemerken, dass wir uns dem Lande näherten.
Furchtbar bäumten sich die Wellen. Es bebt der Dampfer und
knarrt und stöhnt. F'.iligst sucht man alle Kajütenfenster mit starken
Holzdeckelu, deren Ränder mit Filz überzogen, zu verschliessen. Der
zum Lootsen designirte Matrose gab die Tiefe bald auf 12 und 11,
bald auf 10 an. Der Wind blies von der Beite, schliesslich geschah,
Geographische Blätter, Bremen 1*80. /»
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was man am meisten gefürchtet hatte, 8 Uhr 30 Minuten gerietheu
wir in einer Tiefe von 7 Tschetwert in eine, wie es die Samojeden
nennen, „Kurja“. Trotzdem wir gehofft zur Nacht bis zum Nadym
zu kommen, beschlossen wir jetzt hier zu übernachten.
Den 31. um 3 Uhr 30 Minuten setzte sich der Dampfer in
Bewegung, das Fahrwasser zu ermitteln, sass aber allsogleich fest,
wurde 'wieder flott und sass nach 20 Minuten bei 6 Tschetwert Tiefe von
Neuem so fest, dass man zu den Ankern seine Zuflucht nehmen musste.
Der Dampfer wurde endlich wieder frei, aber den Matrosen gelang es
nicht, das Ankertau zusammenzuraffen; somit blieb der Anker im
Wasser. Ein Ostjak, der in seinem Boote herangerudert kam, wurde
als Führer angenommen. Um 1 Uhr Mittags nahmen wir die
Richtung zum rechten Ufer. Gar bald mässigte der Dampfer seinen
Lauf, denn die Tiefe war wieder 10 — 12 Tschetwert. Das Wetter
war still und klar. Die Temperatur Morgens 7 °, dann 9 0 (an der
Sonne). Zweimal wären wir wieder auf eine Untiefe gerathen, aber
das liinablasseu der hintern Barscheu-Anker rettete uns. Als die
Barschen wieder festsassen, betrug die Tiefe auf einer Seite derselben
9 Tschetwert, während an der andern Seite der Grund nicht zu
finden war. Tagüber wurden gegen 40 Werst gemacht. Meist ging es
nur langsam oder mit mittlerer Geschwindigkeit vorwärts. Zur Nacht
wurde beim Vorgebirge Jarzingi bei 16 Faden Tiefe Halt gemacht.
Es wurde gelothet mit einem 20 Pfund-Gewicht. Dieser Punct ist von
Norden her durch Untiefen geschützt, daher laufen hier Fahrzeuge
bei Sturm keine Gefahr. Nacli Aussage von Fischern läuft die
Strömung („scherlo“) in starken Krümmungen zu den Jarzingi und
ändert sich in verschiedenen. Ein Fischer, Namens Trofimow, kam
hier zu uns und bat, ihm zu helfen, sein mit 2000 Pud belastetes
Fahrzeug (pausok) flott zu machen. Vom Sturm ereilt, hatte er
geankert und sah sich am Morgen auf einer Untiefe, am Abend aber
ganz auf dem Trocknen. So rasch verläuft das Wasser bei’m
Umspringen des Windes von N. nach S.! Er sagte aus, es hätten im
Obbusen während des ganzen Sommers Nordwinde geherrscht und
erst seit 5 Tagen wehe der West; 10 Uhr Abends war es sehr hell.
Am Morgen des 1. August wurden auf einer Insel drei Samojeden
als Führer engagirt. Wir hatten ihrer jetzt vier und nahmen somit
au, dass wir ungehindert bis zum Nadym gelangen könnten, gar
bald schwand jedoch diese Hoffnung. Tagüber sasseu wir fünfmal
fest, kamen aber, bei langsamerem Gange des Dampfers, sowie
auch durch Hinablassen der hintern Barschen-Auker bei IO 1 /* Tschet-
wert Tiefe bald wieder los. Zu wiederholten Malen wurde das Fahr-
wasser ermittelt, bald durch den Dampfer selbst, bald zu Boot. Es
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fand sich hierbei neben einer ungemessenen Tiefe auch die Tiefe von
7 bis 8 Tschetwert. Im Laufe des Tages kamen wir, wie es schien,
nur sehr wenig vorwärts, denn das Vorgebirge Che war den ganzen
Tag in Sicht. Das Wetter war schön; um 1 Uhr die Temperatur 12°,
Abends 8°. Um 8 Uhr in’s Tiefwasser gelangt, dampften wir in
vollem Laufe weiter, unweit eines Berges oder des rechten Ufers.
Eben 20 Werst vor dem Swjätoi-Myss („Heiliges Vorgebirge“) blieben
die Barschen um 9 Uhr sechsmal stecken. Das Fahrwasser theilt.
sich in zwei Arme, zwischen denen noch vorgestern eine Insel zu
sehen war. Auf diese waren wir denn auch aufgefahreu. Alles
Mühen des Dampfers, die Barschen frei zu machen, half nichts,
dabei riss das Schlepptau mehr als einmal. Um 11 Uhr ging es
an’s Umladen des Weizens vom „Katunj“ auf die „Ssosswa“, bis
4 Uhr Morgens wurde gearbeitet. Um 2250 Pud leichter geworden,
kam der „Katunj“ wieder in Bewegung.
Mittwoch, den 2. August. Die mit uns fahrenden Fischer sind
der Meinung, es seien noch 30 Werst bis zum Nadym. Um 11 Uhr
passirten wir Swjätoi-Myss und den Fluss Schuga und wandten uns
unter rechtem Winkel zur Mitte des Obbusens, um die Untiefen
gegenüber der Schugamündung zu vermeiden. Das Wetter war wieder
trübe, die Temperatur 7°. Es blies ein scharfer Nord. Die sich
aufbäumenden Wellen stiessen den Dampfer von unten nach oben.
Unweit des Swjätoi-Myss war ein Tobolsk’scher Fischer zu uns an
Bord gekommen, er segelte stromaufwärts, um seine Fischerei-
Anstalten in Augenschein zu nehmen. Er kannte den Nadym und
hatte auch dort seine Fischereinrichtungen, auf unsere Bitte begleitete
er uns.
Um 11 Uhr endlich war der Nadym in Sicht. Der Nadvm-
busen ist gegen 70 Werst breit; in der Mündung des Flusses
liegen einige Inseln, deren Baumgipfel vom Dampfer aus kaum zu
sehen waren. Der Wind wurde stärker, wir liefen fast seewärts. Am
Horizont schienen sich rund umher Himmel und Wasser zu be-
rühren. Seit einer halben Stunde verkündete der die Tiefe messende
Matrose 12 Tschetwert; nach einer weitereu halben Stunde 11, endlich
nur 10 und — wir sassen wieder fest. Hin- und herlavireud machte
der Dampfer 5 Werst und mehr. Die Tiefe überall gegen
7 Tschetwert. Um 3 Uhr w'ieder festgerannt. Nach einer Stunde
batte sich der Dampfer mit Hülfe des Steuer-Ankers frei gemacht.
Um 3 Uhr meldeten herbeieileude Samojeden, dass während der Nacht
auf einem Segelboot Leute gekommen seien, die ihre Jurte besucht
batten und dass beim Vorgebirge Linseta (am rechten Nadym-Ufer)
zwei vom Meere hergekommene Dampfer lägen. Das waren sonder
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Zweifel der von uns erwartete dänische Dampfer mit dem Kutter!
Ob solcher Kunde geriethen wir alle in grossen Jubel, fieleu ein-
ander vor Freude in die Arme, küssten uns und wünschten uns
Glück zum Abschluss des Unternehmens. Und wahrlich, wie sollten
wir uns nicht freuen, denn selbst als wir in den Nadyin hineinfuhren,
drängte sich uns immer noch die Frage auf, ob wohl das dänische
Schilf den Nadyin erreichen würde, ob demselben im Karischen
Meere nicht ein Unglück passirt sei und dergleichen Befürch-
tungen mehr!
Um 5 Uhr zurück zu den Barschen. Da meldete der Officiant,
es nähere sich ein Boot. Das war Rassmussen, der Kapitän des
mit der für M. Funk bestimmten Waare befrachteten „Neptun“. Sofort
erschien auf unserin Tisch der dampfende Ssamowar (Theemaschine).
Alle waren im höchsten Grade erfreut ob der Ankunft des Gastes. —
So wäre denn das Ziel der Reise glücklich erreicht, das erwartete
dänische Schiff — und wir selbst im Nadym! — Um 7 Uhr kamen
wir von der Untiefe ah; um 8 Uhr sassen wir bei 9 Tschetwert Tiefe
wieder fest. Zwei in einein Boot heraugekommene Tobolskische
Fischer, Feodorow und Bykow, bedeuteten uns, wir sässen in einer
„Kurja“, d. h. zwischen 2 Bänken, und würden nicht in den Nadyin
hineinkommen können. Aber jetzt hatte es auch mit dem Dahin-
gelangen keine solche Noth. Der Wind schlug um und blies aus
\V„ wir beschlossen, nicht zurückzugehen, denn da, wo wir gerade
lagen, war es gefahrlos und hier wollten wir übernachten — wie
früher — inmitten eines uferlosen Raumes. — Der „Neptun“ hatte
das Vorgebirge Linseta am Morgen des 1. August erreicht. Hatten nun
auch „Neptun“ und „Ssibirjak“ den Termin (28. Juli) nicht einge-
halten, so waren sie doch beide zu derselben Zeit eingetroffen. Der
Verlust von 40 Stunden auf zwei Untiefen bis zum Nadym, von
2 ' 1 ‘j Tagen bei Kuschewat und die langsame Fahrt im Obbusen —
Alles das war uus zu statten gekommen. Im Falle des Eintreffens
des „Ssibirjak“ zu rechter Zeit hätte uns das Warten auf den „Neptun*
nur Qual bereitet.
Das Thermometer zeigte 8°. In Kuschewa hatte den ganzen
Sommer — nach Aussage des Psalomschtschik und des Geistlichen —
ausschliesslich der Nordwind geherrscht. Das bestätigte, bezüglich
der Richtung des Windes im Obbusen, später auch der Obdorsk’sche
Kaufmann Trofimow. Dergleichen Aussagen hatten uns nicht wenig
beunruhigt, da sie zur Annahme veranlassten, die Nordwinde könnten
die im Karischen Meere und im Obbusen nicht gehemmten Eismassen
herantreiben, so dass es dem „Neptun“ dann wohl nicht gelingen
dürfte, in den Nadym einzulaufen. Aber Rasmusseu war nirgends
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auf Eis gestossen und hatte nur einmal mittelst des Fernrohres am
Horizoute Eis gesehen. Im Obbusen war kein Treibeis gewesen;
dagegen gewahrte er solches dicht an einem Vorgebirge des rechten
Ufers. Das Vorherrschen der Nordwinde während des ganzen
Sommers in der vom Süden so weit entfernten Region des Obbusens
hätte, dem Anscheine nach, der Anhäufung von Eis im Karischen
Meere und Obbusen günstig sein müssen. Indessen weder Rasmussen
noch der später im Nadym eintreffende Käpitän Wiggins war auf
Eis gestossen.
Kapitän Rasmussen war durch die „ eisernen Thore“ in’s Karische
Meer gefahren. Im Obbusen hatte auch er nicht wenig mit Untiefen zu
schaffen gehabt, besonders südlich vom Tasbusen. Wenn also den
Schiffen eine Gefahr droht (im Obbusen), so rührt sie von den
l'utiefen her, solange nämlich, als das Fahrwasser nicht erforscht
ist und solange als es keine Lootsenstationen giebt.
Den 3. August, von 4 Uhr Morgens an, waren der Wind und
das Schaukeln des Dampfers heftiger, die Wellen stiessen wie llalken
gegen die Seiten desselben. Gegen Mittilg schien das Unwetter sich
jedoch zu legen und man hätte zum Vorgebirge Linseta gehen
könuen, aber es war kein Lootse vorhanden. Das Fallen des Wassers
auf 1 Tschetwert beunruhigte uns. Die Pa-uski der Fischer haben
oft das Schicksal, nach einem Sturm auf Sandinseln zu sitzen. So
wurde einstmals Bykow vom Sturm überrascht, nachdem er geankert,
zog sich das Wasser so plötzlich zurück, dass sein I’a-usok auf dem
Sande sass und er 5 Werst nach Trinkwasser gehen musste. In
solchen Fällen ist der Nordwind für die Schiffer stets ein freudiges
Ereigniss, denn das Wasser steigt dann in einem Tage um einen
Eaden und darüber.
Am Morgen war die Temperatur 7 l h°, um Mittagszeit 9°.
Um 5 Uhr kam ein Boot mit 9 Samojeden herangefahren und drei
derselben erklärten sich bereit, uns für 6 Rubel bis Linseta zu führen.
Wir bedachten uns nicht lange, und machten uns sofort auf den Weg.
Um 6 l /s Uhr waren vom Schiffe die Mastspitzen zu sehen. Alle
waren in der fröhlichsten Stimmung und schwatzten und lachten
nicht wenig. Gar bald liess sich ein Segelboot sehen, das sehr
graeiös daher schaukelte und trotz des fast contrairen Windes näher
kam. Es war der Steuermann vom „Neptun“, Larssen, mit einigen
Matrosen. Um 8 Uhr 15 Minuten lag der „Ssibirjak“ neben dem
„Neptun“ vor Anker. Beim Schalle der Kapitänsglocke trat die
Mannschaft beider Schiffe zusammen, entblösste das Haupt und
dankte Gott für die glücklich beendete Fahrt. Ein Jeder erhielt
ein Maass (Tscharka) Branntwein und vor dem Abendessen wieder
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eins. Wir selbst blieben auf dem Schiffe und verbrachten bei’m
Kapitän 2 Stunden. Danach unsern Dampfer betretend, fanden wir
auf demselben alle dänischen Matrosen des „Neptun“, die mit den
unsrigen Bekanntschaft gemacht hatten. Einer unter ihnen verstand
Russisch und machte den Dolmetsch. Die Musik spielte, die Dänen
tanzten Walzer und Polka, die Unserigen den „russischen“ Tanz,
dabei russische Lieder singend. Das Vergnügen war ein allgemeines,
Niemand schloss sich davon aus. Auf dem Schiffe brannte der
Steuermann ein Feuerwerk bei bengalischer Beleuchtung ab. Musik
und Tanz dauerten bis nach Mitternacht, es herrschte unbcgränzter
Frohsinn. Der Mannschaft des „Neptun“ wurde die Hälfte einer in
Ssurgut gekauften Kuh geschenkt, die man schon bei Ankunft des
Schiffes geschlachtet hatte.
Freitag, den 4. August. Um 5 Uhr begann das Umladen der
Fracht, wobei man sich des Dampfkrahns bediente. Alle Matrosen
betheiligten sich an der Arbeit, nur die Lootsen und ein Sturwal
kneipten und lärmten den ganzen Tag. Tagüber war das Wetter
still und warm, die Temperatur 13°. Ab und zu feiner Regen.
Abends fuhren wir in der Gig (Schiffsnachen) spazieren. Um die
Ufer herum war’s so seicht, dass wir uns denselben nur bis auf
100 Faden nähern konnten. Für Reisende, die den Obbusen besuchen
wollen, ist es daher rathsani, sich mit guten langschäftigen Stiefeln
zu versehen.
Den 5. August, 9 Uhr Morgens, traf bei Liuseta der General-
Gouverneur von West-Sibirien, Nicolai Gennadje witsch Kasnakow,
auf dem Dampfer „Chruschtschow“ ein. Da in diesem Jahre ver-
schiedene Unternehmer beabsichtigten, Schilfe aus europäischen Häfen
in den Obbusen zu senden, so hielt es der General-Gouverneur, als
der Chef des Landes, für angemessen, persönlich den Obbusen kennen
zu lernen und namentlich diejenige Lokalität zu ermitteln, wo in
Zukunft möglicherweise ein Hafen anzulegen wäre. Schon in Tomsk
hatten wir von seiner Absicht gehört, den Nadym zu besuchen. Als
wir daher den dampfenden Schornstein sahen, wurden Anstalten zu
einem würdigen Empfang des hochgestellten Gastes getroffen. Der
„Neptun“ und unser Fahrzeug schmückten sich mit einer Menge
verschiedenfarbiger Flaggen. Bei der Vorstellung des zu unserer
Expedition gehörenden Personals legte Sr. Excellenz eine huldvolle
Liebenswürdigkeit an den Tag, beehrte danach mit seinem Besuche
unsere Fahrzeuge und unterhielt sich auf dem dänischen Schiffe
lange mit Kapt. Easmussen und M. Funk. Unterdessen unterwarf
ein Polizeibeamter die vom dänischen Schiff gebrachten Waaren,
unter Anleitung des vom „Chruschtschow“ auf unsern Dampfer
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gekommenen Zolldepartementsbeamten, der Zollbesichtiguug. Dieser,
Herr W. A. Nikitin, hatte die Aufgabe, im Obbusen einen Punct zu
bestimmen, wo künftig die Zollbesichtigung der ein- und aus-
zuführenden Waaren statt haben soll. — Kapt. Rasmussen und Funk
wurden vom General-Gouverneur zum Frühstück geladen. Seiner
Proposition gemäss bestimmte Kapt. Rasmussen mit dem Sextanten
den Punct, wo die Schüfe bei Linseta lagen, und ergab sich, dass
wir uns unter dem 66 V 2 0 der N. B. und 74° Ö. L. befanden. —
Um I 2 V 2 Uhr lichtete der „Chruschtschow“ die Anker und dampfte
heimwärts.
Bis zum Wittag wurden die europäischen Waaren umgeladen.
Gegen Abend gingen wir auf die Jagd, stiefelten aber 3 — 4 Stunden
vergeblich umher. Ohne Boot und Hund ist hier keine Jagd denk»
bar, da die Vögel sich alle auf den Seen aufhalteu und es sehr
schwierig ist, sich ihnen zu nähern. Mehrere ausgedehnte Sümpfe
mussten umgangen werden, an manchen Stellen ging es durch knie-
tiefen Schlamm. Der Boden war überall locker und feucht, ohne
Kräuter, nur mit Moos bedeckt, das Wandern ist daher über die
Maassen angreifend.
Nachmittags begann das Laden des ersten zur See auszu-
führenden Weizeus. Kapitän Rasmussen' erklärte, dass er hei der
Seichtigkeit des Obbuseus 23,500 Pud nicht aufnehmen könne und
zur Aufnahme der Gesammtquantität nur in dem Falle bereit sei,
wenn wir ihn bis zum Ossjetrow-Myss (Stör-Vorgebirge) begleiten
würden. Dieser Umstand versetzte Mr. Funk in grosse Aufregung,
denn wir waren ohnehin schon weit genug vorgegangeu, und nun
sollten wir noch 100 bis 150 Werst gen Norden machen.
• Als am 7. August 12,000 Pud umgeladen worden, erklärte Kapitän
Rasmussen kategorisch, eine grössere Ladung nicht mehr zu nehmen,
zumal er fürchten müsse, dass er schon mit den 12,000 Pud schwerlich
wohlbehalten das Ossjetrow -Vorgebirge erreichen werde. Für Funk
war es im höchsten Grade niederschlagend, seine Sache, auf die so
viel Mühe und Geld verwendet worden war, unbeendet zu lassen;
er war daher bereit, nach Rasmussen’s Rath weiter nordwärts zu
gehen. Da gab es aber ein neues Hinderniss: Kapitän und der
Bevollmächtigte des „Ssibirjak“-Besit,zers wollten von einer Weiter-
fahrt nichts wissen. Es kostete ganz unglaubliche Anstrengungen,
ihren Widerstand zu brechen. Mittags 12 Uhr lichtete der „Neptun“
die Anker und steuerte gen Norden, ihm folgte der „Ssibirjak“,
aber erst, nachdem Funk dem Bevollmächtigten Tjufin’s eine schrift-
liche Erklärung ausgestellt hatte, dass er, im Falle dem Dampfer
ein Unglück passiren sollte, dafür mit seinem ganzen Vermögen
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verantwortlich sein wolle. Das dänische Schiff (von 40 Pferdekraft)
ging so rasch, dass der „Ssibirjak“ es nicht einholen konnte.
Rasmussen’s Befürchtungen erwiesen sich bald als begründet: nach
IV* Stunden sass das Schiff fest. Der unterdess herangekommene
„Ssibirjak“ bugsirte es am Schlepptau in’s Tiefwasser. Um 4 Uhr
ging es wieder so. Der „Ssibirjak“ hätte wiederum helfen können,
that es aber nicht. Da forderte Kapitän Rasraussen die Rückladung
des Weizens vom Schiff auf die Barsche; doch zum Glück gelang es,
wieder in tieferes Wasser zu kommen. Um 6 Uhr sass der „Neptun“
zum dritten Male auf einer Untiefe. Hier half nichts, man entschloss
sich dazu, ein grösseres Quantum Weizen wieder zurückzuladen.
Ungeachtet einer Entlastung von 5000 Pud gerieth das Schiff, bei
einem Tiefgang von 9 Fuss, auf der ferneren Fahrt noch drei Mal
auf Untiefen, und jedesmal musste Weizen vom Schiff auf die
Barschen geladen werden, so dass auf dem „Neptun“ zuletzt nur
1500 Pud verblieben und der Tiefgang auf 8 Fuss gemindert war.
Den 8. August blieben unsere Schiffe beim Vorgebirge des
Nydaffusses in 2 Faden Tiefe, nahe dem Ufer; der „Neptun“ sehr
weit von uns auf einer Tiefe von 11 Fuss. Am Tage war die
Temperatur 12 und 13°. Am Abend war nahe dem Ufer ein Pegel
angebracht worden. Am Morgen erwies sich, dass das Wasser um
6 Tschetwert während der Nacht gestiegen war. Um 12 1 /* Uhr
begegnete uns, unterhalb des Jalowa-Flusses, auf einem Kutter der
bekannte Seemann Wiggins, als Leiter der Expedition des englischen
Schraubendampfers „Warkworth“, Kapt. Sheriff, mit einer Ladung
von 20,000 Pud Salz und 3000 Pud Baumöl für deu Tobolsk’schen Kauf-
mann Kornilow, der dafür seinerseits 35,000 Pud Weizen in den
Nadym zu schaffen hatte. Wiggins kam zu uns an Bord. Von
London hatte er die Tour in 23 Tagen gemacht. Um 6 Uhr kam
das Ossjetrow-Myss in Sicht. Jetzt erklärte sich Rasmussen bereit,
allen Weizen zu nehmen, da er nun auf guten Weg gekommen sei.
Das war natürlich uns, besonders aber Funk, ungemein erwünscht,
der bisher Alles aufgeboten hatte, den Befehlshaber des Dampfers
zu bewegen, dem „Neptun“ zu folgen, sowie auch die Matroseu willig
zu machen, die unter allen möglichen Vorwänden sich weigerten zu
arbeiten und mehr als ein Mal beim Umladen aufsätzig wurden.
Nunmehr gingen Alle rüstig an die Arbeit; aber nach Ueberladung
von 2000 Pud erhob sich ein starker Wind aus SW., und Kapitän
Rasmussen, aus dem starken Fallen des Barometers auf das Heran-
nahen eines Sturmes schliessend, gab unserm Kapitän zu wissen,
der Dampfer möge „unter Dampf“ stehen. Angesichts der immer
mächtiger werdenden Wellen erklärte unser Kapitän deu bei’m Um-
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laden beschäftigten Matrosen, der Dampfer werde sogleich in die
Jalowa gehen. Diese Worte erzeugten eine furchtbare Panik. Die
Matrosen Hessen die Arbeit liegen, warfen sich auf den Dampfer;
die Weiber schleppten schreiend und lärmend eiligst alle ihre Habe
von den Barschen. Unterdess ging der „Neptun“ in ein tieferes
Fahrwasser und ankerte. Nur des Kapitän Wiggins Anwesenheit
rettete uns, wenn auch nicht vom Verderben, so doch von sehr
bösen Folgen.
Unserm Dampfercommandeur mangelte es au Einsicht und der
nöthigen Erfahrung, und so wurde denn sein Commando von der
Vorstellung beherrscht, wir seien schon in ernster Gefahr, wodurch
auf dem Dampfer und den Barschen ein heilloser Wirrwarr entstand.
In Wahrheit war keine Gefahr vorhanden. Mit vieler Mühe Hessen
sich die Arbeiter überreden auf den Barschen zu bleiben. Auf
Kapitän Wiggins Rath wurden die letzteren weiter von einander
entfernt und auch der Dampfer hielt sich in grösserem Abstand
von ihnen. Gegen 9 Uhr Abends brach der Sturm los, der fast
2 Tage dauerte. Wiggins bezeichnete ihn als einen „Halbsturm“.
Uns genügte aber auch schon ein solcher Halbsturm, um die intensivsten
Eindrücke zu bekommen. Auf dem Dampfer waren Wände und
Thüren in Bewegung. Ueberall entsetzliches Aechzen und Krachen!
Bald war das Schaukeln des Dampfers ein gleichmässiges, bald
wieder wurde er mit solcher Kraft hin und her geworfen, dass man
dabei das Gleichgewicht verlor. Kaum schien nach furchtbarem
Rütteln des Fahrzeugs Alles wieder ruhig zu werden und der Sturm
sich zu legen, da gab es, nach einer trügerischen Pause von wenigen
Secunden, wieder die entsetzlichsten Alles erschütternden Ausbrüche
der Wuth des Sturmes und furchtbare Stösse! Bis 2 Uhr Nachts
(vom 9. auf den 10.) konnte man kein Auge zumachen ; man fürchtete
sich selbst, zu Bett zu gehen. Gar mancher giug die ganze Nacht
umher, ohne an's Schlafen zu denken. Die Wache am Bugspriet
(oder am Bug) war wachsam und achtete auf die Anker. Das Lothen
zeigte ein bedeutendes Steigen des Wassers an. Der Dampfer warf
2 Anker, davon der eine, dem „Neptun“ entlehnte, an’s Bugsirtau
befestigt worden war. Der erregte Zustand des Gemüthes, der durch
den Sturm noch gesteigert wurde, wandelte sich in der Nacht, bei’m
wilden Geheul und Geschrei der bis Mitternacht im trunkenen Muthe
alle Augenblicke aufs Deck laufenden Heizer, zu einem Gefühl des
Grausens. Es wiederholten sich die Scenen von Kuschewat, die
Raufereien mit dem Messer in der Faust. Der Seemann Wiggins
verstand es aber, der Mutlosigkeit zu steuern und Fröhlichkeit
anzubahnen. Den ganzen Abend erzählte er scherzhafte Anekdoten
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und sang dazu verschiedene Arien, so dass wir zuweilen des tobenden
Sturmes vergassen.
Kapitän Wiggins behauptet, unterhalb des Ossjetrow-Myss sei
der Obbusen nicht mehr als 40 Werst breit; man sieht in der That
vom Schiffe aus beide Ufer. Der Tasbusen liegt viel südlicher, als
die Karten angeben. Kapt. Wiggins spricht sich dahin aus, dass er
mit einer Ladung von 240,000 Pud bei 28 Fuss Tiefgang des Schiffes
dreist bis dahin fahren würde, die geringe Tiefe des oberen Obbusens
könne für die Entwickelung der Seefahrten kein Hinderniss abgeben.
Nach seiner Meinung kann man Schiffe von nur neun Fuss Tiefgang
bauen, die mit 60,000 Pud sich belasten Hessen. Während seiner
vierjährigen Bereisung des Karischen Meeres im August und Septem-
ber sei er nie auf Eis gestossen, auch dieses Mal nicht. Demnach
hege er keinen Zweifel daran, dass der Seeverkehr zwischen Europa
und Sibirien gesichert sei.*) Sein Schiff „Warkworth“ sei durch die
„eisernen Thore“ in’s Kara-Meer gegangen, habe sich aber des
Nebels wegen gen Süd gewendet und sei die Jugorstrasse passirt.
Am folgenden Tage, den 10., 11 Uhr Vormittags, schien der
Wind sich zu steigern. Die Wellen waren noch furchtbarer; —
aber trotzdem kommt das Gigsegelboot vom „Neptun“ auf uns zu.
Solch’ Wagstück der Dänen setzte uns in Erstaunen. Von unseren
Matrosen würde kein Einziger sich entschliessen, sich in das an den
Dampfer angebundene Boot hinabzulassen, um das Wasser auszu-
schöpfen. Sogar Wiggins verwunderte sich über die Kühnheit der
Dänen. „Das sind ächte Seeleute“ rief er aus. Das Gig war ein
Spiel der Wellen. Mehr als ein Mal kam’s uns ganz aus den Augen.
In dem Fahrzeug waren der Steuermann Larssen und zwei Matrosen.
Kaum aufs Deck unseres Dampfers gekommen, besichtigte Larssen
am Bug unsere Anker und Taue. Er und Wiggins fanden, es sei
vom Tau zu wenig hinabgelassen; es sei dringend nothweudig, die-
selben zu verlängern so viel’s nur anginge, sonst drohe dem Dampfer
Gefahr. Aber der Bevollmächtigte des Dampferbesitzers war damit
nicht einverstanden und behauptete, das Tau sei lang genug. Welche
Gegengründe auch vorgebracht wurden, er blieb dabei, „es sei nicht
nöthig“. Larssen fuhr nach einer halben Stunde zu seinem Schiff
zurück. — Die Temperatur war -(- 7 1 /* °.
Den 11., um 10 Uhr, kam der „Warkworth“ zu uns heran, ein
eiserner Schraubendampfer mit zwei Masten, eleganter eingerichtet
als der „Neptnn“, in der Kajüte Alles von Rothholz, die Beleuchtung
von oben.
*) Die Erfahrungen des Sommers 1879 lehrten nun freilich ein Anderes.
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Das Barometer stieg. Der Sturm Hess nach. Um 11 Uhr
begann das Umladen des Weizens von Neuem, am 12. um 6 Uhr
war es beendigt. „Neptun“ und „Ssibirjak“ nahmen von einander
Abschied und dampften nach entgegengesetzten Richtungen ab. Das
Wetter am 12. prachtvoll. 9 Uhr war die Temperatur -f- 7°, um 1 Uhr
aber -}- 13°. Zur Nacht, 10 Uhr, beim nördlichen Vorgebirge des
Nyda - Flusses.
Sonntag, den 13. Um 4 Uhr ging es wieder vorwärts.
Seit 2 Uhr des vorigen Tages Südwestwind, der heute stärker
ist und stossweise weht. Das stört uns aber nicht, denn wir haben
uns allgemach an Sturm und Wind gewöhnt und fürchten uns nicht
mehr davor. Zur Mittagszeit verbrachten wir l 1 /* Stunden auf dem
„Warkworth“, der vor Linseta lag. Gegen Mittag legte sieb das
Unwetter. Uns war das ganz besonders lieb, da der „Ssibirjak“ den
Nadymbusen, der sich von Linseta bis zum Swjätoi-Myss gegen
70 Werst erstreckt, passiren musste. Um 2 Uhr zeigte sich in einer
Entfernung von V j Werst eine Schaar Delphine, die grosse Wasser-
strahlen emporspritzten. Gleichzeitig erschien in der Ferne der
Dampfer Kornilow’s mit zwei Barschen. Um 5 Uhr waren wir
endlich beim Swjätoi-Myss, das auch „Opfer-Vorgebirge“ heisst. So
nennen es die Samojeden. Es sollen hier viele Samojedenböte unter-
gegangen sein, daher der Glaube, es walte beim Vorgebirge eine
böse Gottheit. Beim Umschiffen dieses Vorgebirges hält es der
Samojede für Pflicht, die bösen Geister durch das Opfer einiger
kupferner oder silberner Gegenstände oder Münzen, die er in’s
Wasser wirft, zu beschwichtigen. Die Temperatur -j- 13°. Um 7 Uhr
10 Werst oberhalb der SchugamUndung wurde Halt gemacht, gegen-
über einer Fischereistation, um hier zu übernachten. Seit lange
waren wir nicht auf dem Lande gewesen. Wir nahmen das An-
erbieten eines Fischers an, ihn in seiner „Sawedenje“ (Anstalt, Ein-
richtung) zu besuchen. Solcher Fischerhütten giebt es im Obbusen
gar viele; es war uns aber bisher nicht vergönnt, eine solche in
Augenschein zu nehmen. Wir fuhren vom Dampfer in einem Boote
ab, das aber nicht bis an’s Ufer gelangen konnte. Eine Telega
kam uns durch’s Wasser entgegengefahren. Die ganze Fischer-
niederlassung bestand aus ein paar Hütten und einigen Ambaren.
In letzteren hingen an den Wänden viele Bündel von Fischbein (vom
Stör und von der Wjasuga). In den Boden eingelassene grosse
Bottiche (Tschany) waren mit gesalzenem Stör gefüllt. Viele Gefilsse
mit gesalzenem Fisch fanden sich auch ausserhalb der Ambaren.
In einer Entfernung von V* Werst lag der „Ssadok“, d. h. ein kleiner
Teich, in dem 80 Störe herumschwammen. In unserm Beisein zog
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der Wirth selbst einen bereits todten mul ganz weiss aussehenden
Stör aus dem Wasser, den er zu den Arbeitern bringen liess. Von
diesen hörten wir, dass auch dieser Stör eingesalzen werden würde.
Für uns dagegen tiug der Fischer einen ausgezeichneten Sterlet von
ungefähr 1 Pud Gewicht.
Am Morgen des 14. irrten wir von 3 Uhr an zwischen den
Untiefen („Goljzi“), deren wir 18 zählten, umher. Drei Mal blieb
der Dampfer stecken, um 5 Uhr waren wir endlich wieder auf dem
rechten Wege. Die Temperatur -f- 9°. Anhaltender feiner Herbstregen.
Im Machtass-Ob wurden gegen 40 Werst, wenn nicht mehr, zurück-
gelegt. Einer Jurte gegenüber ging ein Fisch wehr durch den Ob.
Die Samojeden erspähten den Dampfer und räumten einen Theil des
Wehrs weg, damit er hindurchpassiren könne. In diesem Theile des
Obbusens sahen wir nicht mehr als drei Samojeden-Niederlassungen,
und zwar auf den der Obmündung nahen Inseln. Um 8 Uhr sassen
wir in einer „Kurja“, ungefähr an der Stelle, wo auf der Hinreise
unser Anker geblieben war. Mehr als IV» Stunden mühten wir uns
ab, um wieder hinauszukommen, und es wurde unterdess so dunkel,
dass wir ankern mussten. Vor uns nach liuks waren die Nangi-Iuseln
in Sicht.
Den 15., Dienstag, feiner Regen; Temperatur-)-? 0 . Um 6 Uhr
Morgens waren wir im richtigen Fahrwasser, um 6 Uhr Abeuds im
Ob selbst. Unsere Rückreise bot nichts Bemerkenswerthes dar. Am
22 . August waren wir wohlbehalten an der Mündung des Irtysch
angelangt.
Den 16. wehte von dem etwa 7 Werst entfernten Uralgebirge
her ein kalter Wind. Vom Deck aus hatten wir lange eine köstliche
Aussicht auf die Kegel und Kämme des Gebirges, der in den Ein-
tiefungen auf den Berggipfeln liegende Schnee hatte, von der Sonne
beleuchtet, einen ganz besonderen Glanz. In den Prototschnyje-jurty
kauften wir für 1 Rubel einen Ostjakenhund und für 15 Rubel einen
Mammuthstosszalm, obgleich der Ostjake für letzteren 75 Rubel
forderte. Er hatte ihn am rechten Ufer des grossen Ob gefunden.
Um den Zahn herauszuarbeiten, hatte es der dreitägigen Arbeit von
drei Mann bedurft. Er wog 5 Pud. Trotz unserer langen Ueber-
redung blieb der Ostjake bei seiner Forderung von 75 Rubel.
Während der Zeit, dass der Dampfer hielt, um Holz einzunehmen,
hatten die Ostjaken sich betrunken. Für theures Geld waren sie
auf dem Dampfer reichlich traktirt worden. Auch der Inhaber des
Mammuthzahnes war betrunken, liess, da der Dampfer sich zur
Abfahrt anschickte, bedeutend vom Preise ab und verkaufte uns
endlich den Zahn für 15 Rubel und eine Quart „Wodka“.
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In Tomsk langten wir am 1. September auf einem Passagier-
dampfer an. Gar bald ging durch die Stadt das Gerücht von unserer
Heimkehr und von den zollfrei importirten ausländischen Waaren.
Diese Neuigkeit war für viele Kaufleute im höchsten Grade nieder-
schlagend. Tomsk ist zwar, was den Handel betrifft, eine recht
unternehmende und belebte Stadt; es fehlt aber den Einwohnern
noch viel zur richtigen Würdigung von mehr oder weniger hervor-
ragenden neuen oder ungewöhnlichen Erscheinungen, und noch weniger
verstehen sie, solche zu eigenem Nutzen zu verwenden. So war’s
denn auch jetzt. Vor unserer Reise in den Obbusen waren die
Tomsker Kaufleute vom Misslingen des Unternehmens überzeugt.
Als das Gelingen desselben eine Thatsache geworden war, da galt
es Vielen als etwas für sie Verhängnisvolles. In der am 8. Septem-
ber versammelten Gesellschaft vermochte es einer der Haupt-
kapitalisteu und Repräsentanten der Stadt Tomsk nicht, kaltblütig
mit mir zu sprechen. Er wollte beweisen, dass dieser neue Handels-
weg den gesammteu lokalen Handel und das ganze Land ruiniren
werde, soviel ich auch auseinandersetzte, dass die Einfuhr aus-
ländischer Waaren via Eismeer nur für drei bis zehn der hiesigen
Kaufleute beschränkend sein dürfte, weil sie’s nicht verstünden,
daraus Vortheil zu ziehen, dass aber aus dem neuen Handelswege
für das ganze Land und für die Gesammtbevölkerung nur Gutes
erwachsen könne. Es tauchte auch die Frage der Erhöhung des
Zolltarifs auf. Kaum bedarfs aber der Erwähnung, dass hier alle
Begriffe davon fehlen, welche Bedeutung und welchen Zweck der
Prohibitivtarif für ein bestimmtes Land hat. Die Bedingungen der
Schiffahrt im Obbusen sind nicht dieselben, wie in den Häfen von
Riga, Odessa, Petersburg. Wenn die Tomsker KauHeute sich von
ihren engherzigen Anschauungen auf die Stufe allgemeinstaatlicher
Interessen werden erhoben haben, dann dürfen wir auch hoffen, dass
die Entwickelung und der Wohlstand des Landes, der gauzen Be-
völkerung Sibiriens mehr in’s Gewicht fallen werden, als Krämer-
profit. Sibirien ist reich an Naturprodukten, aber die Iandwirth-
schaftlichen Erzeugnisse werden in Westsibirien oft „für gar nichts“
verkauft, wie z. B. das Pud Korn (Roggen) für 14 Kopeken, Hafer
für 12 Kopeken, Waizen für 26 Kopeken, Tischbutter für 3 Rubel
50 Kopeken. Durch den Seeweg wird der Transport solcher Pro-
dukte billiger, die Nachfrage sich steigern, der Preis gehoben werden.
Aus diesem Grunde werden allgemein staatliche Interessen von
einer so ernsten Bedeutung, wie die Förderung des Wohlstandes der
läudlichen Bevölkerung Sibiriens und Verminderung der Abgaben-
schuld den eben im Entstehen begriffenen Seeverkehr Sibiriens mit
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Europa nicht im Keime ersticken lassen, dem sehnlichsten Wunsche
mancher Handelsherren Sibiriens zum Trotz, die von nichts weiter
wissen wollen, als nur von der Bereicherung ihres Geldbeutels.
Zum Schluss noch die Bemerkung, dass bekanntlich der „Neptun“
mit der ersten Ausfuhr sibirischen Weizens am 13. September Ham-
burg wohlbehalten erreichte, sowie dass die vom Auslande via Eis-
meer eingeführten Waaren (Fruchtconserven, Kolonial-, Droguerie- uud
Stahlwaaren, Spielsachen, Schreibpapier, Glas- und Fayencegeschirr,
Baumöl, Kerosin etc.) im Jahre 1879 fast alle in Tomsk verkauft
worden sind. Der Anfang war gut; gebe Gott auch in Zukunft
einen erfreulichen Erfolg.
2. Meteorologische Beobachtungen auf einer Obfahrt 1879.
Wie bekannt, ging 1879 eine zweite Funk’sche Expedition in
den Obbusen, ebenfalls zu Commerz iellen Zwecken. An der Fahrt
in den Obbusen betheiligte sich Funk jun., M. Funk’s Bruder, dem
ich manches hübsche Pflänzchen aus dem Norden verdanke. Aus
seinem Tagebuche theilte er mir einige von ihm während der Fahrt
gemachte Witterungsbeobachtungen mit. Ich stehe nicht an, Ihnen
auch diese zu übermitteln. Möglicherweise ist Ihnen ein derartiges
meteorologisches Material aus noch so wenig durchforschter Gegend
nicht ganz unwillkommen.
Hier einige kleine Bemerkungen über dasselbe. Die Temperaturen
sind nach einem, frei im Schatten hängenden, gewöhnlichen Queck-
silberthermometer mit kugelförmiger Erweiterung gemacht, und die
Luftdruckbestimmungen nach einem Hamburger Taschen- Aueroid
(dem Hamburger Kaufmann Kühn gehörig), das mit einem Thermo-
meter und einer Tabelle versehen war, in welcher die den Aneroid-
theilen entsprechenden Millimeter des Ilygro - Barometers angegeben
waren, was Funk jun. veranlasst hat, die jedesmalige Ablesung als Milli-
meter zu notiren, nicht aber die Ablesung selbst. Auf dem Dampfer
gab es noch zwei andere Anei’oide, was Herrn Funk Gelegenheit bot,
das Aneroid des Herrn Kühn häufig mit den genannten beiden zu
vergleichen. *
Wegen der völligen Uebereiustimmung aller dieser Aneroid-
Beobachtungen unter einander hielt er es für augemessen, die in
Millimeter ausgedrückten Angaben des erwähnten Instrumentes nicht
unbeachtet zu lassen. Leider hat eine Reduction der directeu Ab-
lesungen auf die 0“ Temperatur nicht stattgefunden Auch fehlt die
bekanntlich nur durch läugere Vergleichung mit einem Hygro-
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Barometer zu ermittelnde Correctur des Aueroids. In Berjosow, wo
sieh eine meteorologische Beobachtungsstation befindet, wurde das
Aneroid mit dem dortigen Hygro-Borometer verglichen, wobei sich
ebenfalls eine grosse Uebereinstinnnung herausstellte. Allein bei
jedem Vergleich solcher Instrumente muss immer erst die Iteduction
auf 0° vorgenommen werden; gleich wie auch sonstige Correcturen
des Hygro-Barometers nicht unterlassen werden dürfen. Obgleich
nun alle dergleichen Requisiten nicht stattgefunden oder beachtet
worden, — Herr Funk jun. machte ja die Beobachtungen zu seinem
eigenen Vergnügen, — so dürften die Luftdruckbestimmungen denn
doch vielleicht nicht ganz werthlos sein oder befunden werden, wenn
es erst möglich geworden sein wird, sie mit den gleichzeitigen
Berjosow’schen in Parallele zu stellen. Ausserdem wird vielleicht
auch eine Verificirung des Aneroids, nach dem Herr Funk jun.
beobachtete, zu ermöglichen sein, denn das Aneroid ist, wie ich höre,
in den Besitz eines Tobolsker Kaufmanns übergegangen, und da wird
sieli denn vielleicht eiue längerdauernde Vergleichung desselben
| Instrumentes mit einem richtigen Barometer anbahnen lassen.
Funk jnn.’s Notizen Uber das Wetter während einer Reise anf dem Ob, in den
Obbusen und zurUck, im Jahre 1879.
Datum
<*. st)
Ort
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Hi
1- 0»
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Wind
Zuitand
der Atmosphäre
Juli 18
Irtysclimündung
+ 8°
—
N (stark)
bewölkt.
19
Woronji-Jurty
+ 8°
—
N
Regen.
20
ibid.
+ 6»
750
NW
Nebel, Regen.
21
Kirchdorf Sclierkaly. . . .
+ 7°
765
N
Nebel (bis Mittag).
22
100 Werst unterhalb . . .
+ 8“
756
N
Regen.
23
Berjosow
+ 13°
760
still
klar.
24
Mitte zwischen Ber und
Kuschewat
+ 11°
755
still
Nebel. Regen.
25
Obdorsk
4-io°
755
N
Nebel.
26
Schtschutschjainündung .
4-10°
761
N
klar.
27
Puckow-Insel
4-11°
759
NW
klar.
28
Zwischen P. u. Insel Chö
4- 9°
754
N
trübe.
29
Ch6
+ 6°
754
NO
trübe, Regen.
30
ibid
4 4“
753
NNO
trübe, Regen.
31
ibid
+ 5°
752
N
Sturm.
äug. 1
ibid
+ 5“
751
N
Regen, Sturm.
2
ibid
4- 6“
755
N (stark)
trübe.
3
Myssschertwa ^Oyifer-
Vorgebirge)
4-10°
757
N
Nebel.
4
Nadymbuseu
4- 6"
760
N
Nebel.
e
Nydafluss
4 7“
758
still
Nebel.
by Google
Datum
(a. St.)
Ort
In
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1 1 -
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C
3 ? S *
_l & J £
Wind
Zustand
der Atmosphäre
6
Nydafluss
+ 7°
757
still
Nobel, Kegen.
7
ibid.
+ 8 °
752
WNW
Sturm, Regen,
8
ibid
+ 9"
755
ONO
trübe. [Nebel.
9
ibid.
+ 11 °
762
SW u. W
Regen.
10
ibid
+ 6 °
755
W
Regen.
11
ibid.
+ 10 «
756
SW
klar.
12
ibid.
+ 7°
762
NW
Regen.
13
ibid.
+ 8 °
750
NW
trübe.
14
ibid
+ 6 »
747
SO
Regen.
15
ibid
+ 4“
747
NO
trübe.
16
ibid
+ 6 “
757
NO
trübe.
17
Nydafluss (Mündung) . . .
+ 7»
760
S
klar.
18
ibid.
+ 8 “
750
S
trübe.
19
ibid.
+ 9«
738
S
Regen.
20
ibid.
+ 7°
744
NNW
Sturm.
21
ibid.
+ 3«
753
N (heftig)
am Morgen Schnee
22
ibid.
+ 6 «
761
SW
klar.
23
Myssschertwa (Opfervor-
gebirge)
+ 5°
748
NW
Regen.
24
Insel CI 16
+ 6 »
746
W
trübe.
25
ibid
+ 5«
740
0
trübe, Regen.
26
ibid
+ 4»
740
0
trübe, Regen.
27
Puikow-Insel
+ 3»
743
s
Regen, trübe.
28
ibid
+ 3»
755
still
klar.
29 I
Schtschntschja (nabe der
Mündung)
+ 2 +
755
W
klar.
30
Obdorsk
+ 2 “
755
W
Schnee.
31
ibid
•+io»
747
SW
Sturm.
Sept. 1
Zwischen Obd. und
Kuschewat
+ 8 °
758
SO
Regen.
2
ibid.
—
766
N
trübe.
3
Kuschewat
+ 2 , 5 °
772
N
trübe.
4
—
—
—
—
5
—
—
—
—
6
—
—
—
—
7
Kuschewat
+ 2,5»
—
—
Sc.hnec(d.ganz. Tag)
8
ibid
+ 1,5°
—
NO
Schneest.
9
Berjosow
— 1 «
—
NO
Schneesturm.
3. Die Fahrt des Dampfers ,, Louise“ nach der Jenissej-Mfindung
und zurück.
Der Dampfer „ Louise“, geführt von den Kapitänen Burmeister
und Dalimann, verliess mit einer Ladung Zucker, Taback, Petroleum,
Lampen, Olivenöl und anderen Waaren am 8. Juli Bremerhaveu,
Digitized by Googli
97 —
erreichte am 24. Juli Hammerfest und am BO. Juli die Karische
Pforte. Diese fand man mit schwerem Treibeis blockirt, auch war
nach N. und 0. kein offenes Meer zu erblicken. Man steuerte daher
südwärts zur Jugor-Strasse, wo sämmtliche nach dem Ob und Jenissej
bestimmten Schiffe (acht an der Zahl) in den ersten Tagen des
August zusammentrafen. Der Dampfer „Amy“ hatte bereits am
29. Juli die Mitte der Strasse erreicht, musste aber am folgenden
Tage in solcher Eile vor den mit südwestlichem Strome nachdringenden
Eismassen flüchten, dass er dabei ein Boot mit Mannschaft und
Passagieren in der Samojeden-Station zurückliess. Das Eis trieb in
den nächsten Tagen aus der Strasse nach W. und SW., so dass die
Schiffe weiter nordwärts in der Ljamtschina-Bai (SW.-Küste der
Waigatsch-Insel) vor Anker gingen. Da auch hierher das Eis drang,
so dass die Gefahr entstand, eingeschlossen zu werden, dampfte man
wieder in See und versuchte, das Eis südwärts umgehend, die Jugor-
Strasse zu erreichen, jedoch vergebens. Mehrere Tage wurden die
Versuche erneuert, einen der Zugänge zum Karischen Meer zu
passiren; am 13. August gelang es auch wirklich dem Dampfer
-Louise“, bis Ssuchoy Noss, in die Mitte der Jugor-Strasse, zu
gelangen, aber bald musste er wieder vor dem Eise zurückgehen.
Pis zum 22. August wurden bei vorherrschenden N.- und NW.-Winden
diese Bemühungen, das Karische Meer zu erreichen, fortgesetzt.
Um auch den dritten Zugang nicht unversucht zu lassen,
dampften nun sämmtliche Schiffe dem Matotschkin Scharr zu, dessen
Eisgang am 24. August frei von Eis war. Am nächsten Tage
erreichte man die Mitte der Strasse, die hier an einer engen Stelle
durch schweres und grosses Eis gänzlich blockirt war. Am 28. wurde
der Versuch erneuert und glücklich gelangte man einige Meilen
weiter nach 0. Sobald eine Strömung aus W. einsetzte, löste sich
das Eis und gelang es dem dänischen Dampfer „Neptun“, Kapt.
Rasmussen, am 3. September das Karische Meer zu erreichen. Er
dampfte eine Strecke in nördlicher, östlicher und südlicher Richtung,
stiess aber überall auf undurchdringliche Eismassen, so dass er
gezwungen war, in die Strasse zurückzukehren und die Heimreise
anzutreten, da die späte Jahreszeit kaum Aussicht gewährte, noch
in diesem Jahre Hin- und Herreise zu bewerkstelligen und Kapt.
Rasmussen, nach den getroffenen Verabredungen, nicht erwarten
konnte, am Nadym das Ob-Schiff mit der zur Ausfuhr bestimmten
Ladung noch vorzufinden.
Der Dampfer „Louise“ wartete noch in der Hoffnung auf eine
günstige Wendung in Bezug auf die Eisverhältnisse. Am 7. September
zeigte sich in der That die Jugor-Strasse gänzlich eisfrei. Man
Geographische Blfttter, Bremen 1880. «
Digitized by Google
traf hier den norwegischen Schooner „Norrland“, Kapt. Andersen,
der aus dem Karischen Meere vom Walross- und Seehundsfang
zurückkehrte und erfuhr von diesem, dass er am 24. Juli durch die
Jugor-Strasse gekommen und längs der eisfreien Jahnal-Küste nach
dem Nordende Nowaja Semlja’s gesegelt sei. Die „Louise“ steuerte
nun unverzüglich weiter nordwärts durch diese Strasse in das Karische
Meer, das fast ganz eisfrei war, erreichte am 11. September Ivapi
Matte Sale, passirte Dicksonshafen und erreichte am 13. September
die Jenissej-Mündung. Der Dampfer fuhr stromauf bis Tolstonowskoje.
Nach Löschung der Waaren und Einnahme der bereit gehaltenen
Getreideladung trat er am 21. September die Rückfahrt an und
erreichte am 27. September die See. Am folgenden Tage stiess die
„Louise“ in der Breite der Matotschkin-Strasse, etwa 120 Seemeilen
vom Lande, auf grosse Massen Eis, von welchen besetzt zu werden
sie ernstliche Gefahr lief, bis es nach grossen Anstrengungen gelang,
durch die Jugor-Strasse am 11. October das Karische Meer zu ver-
lassen. Hierbei zeigte sich so recht der Vorzug der Dainpfkraft
als Motors: die „Louise“ traf mehrere aus dem Ob gekommen«
und nach Europa bestimmte Segelschiffe; während diese bei widrigem
Winde still liegen mussten, konnte die „Louise“ mit Hülfe des
Dampfes sich durch die schmalen Strassen im Eise glücklich himlurch-
winden und* am 16. October Hammerfest erreichen. Am 26. traf
das Schiff in Bergen ein und brachte am 30. October seine Ladung
wohlbehalten nach Bremerhaven.
Vom 8. Juli bis 16. September und vom 22. September bis
30. October war das Schiff beständig unter Dampf gewesen. — Der
Rheder, Baron L. von Knoop, anerkannte die seemännischen Leistungen
der beiden Führer der Expedition, der Kapitäne Burmeister und
Dallmaun, durch ein Fest, welches er ihnen zu Ehren in den Sälen
des Museums in Bremen veranstaltete.
Ueber eine Gradmessung in Ostgrönland.
Von Dr. (!. Bürgen.
Gradmessungen haben bekanntlich den Zweck, die Grösse und
die Gestalt der Erde zu bestimmen. Wäre die Erde eine Kugel, so
würde es genügen, irgendwo auf der Erde die Länge eines Breiten-
grades zu messen, um daraus die Grösse unseres Planeten kennen
zu lernen. Da aber die Erde eine ellipsoidische Gestalt hat, so
lässt sich die Aufgabe nur dadurch lösen, dass man in zwei, in
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— 99 —
Breite sehr verschiedenen Gegenden der Erde, eine in der Nahe des
Aequators, die andere in der Nahe des Pols gelegen, die Lange
eines Grades bestimmt und durch Combination derselben die beiden
Unbekannten, die Grösse und die Gestalt, d. li. die Abplattung der
Erde ermittelt, wobei man noch als vereinfachende Voraussetzung
j die einführt, dass die Erde ein regelmässiges Rotationsellipsoid sei.
; Die Messung selbst geschieht, um daran kurz zu erinnern, bekanntlich,
lindem man, ausgehend von einer in einem bestimmten Längenmaasse
möglichst genau gemessenen Linie (der Basis) directe Aneinander-
Ikettung von Dreiecken aus dieser gegebenen Länge den Abstand
[der Parallele zweier Puncte ermittelt, deren Breitenunterschied
[durch astronomische Beobachtungen bekannt ist. In Folge der
elliptischen Gestalt der Meridiane ist nun die Länge eines Breiten-
grades am Aequator kleiner als in der Nähe des Pols und zwar um
Iso mehr, je stärker die Ellipticität des Meridians ist, es lässt sich
also auch aus dem Unterschiede dieser Längen ein Rückschluss auf
[die Gestalt des Meridians, oder die Abplattung der Erde machen.
[Durch Combination einer Anzahl von Gradmessungen in verschie-
[denen Gegenden der Erde fand Bessel den Aequatorialhalbmesser
= 6377395,6 Meter und die Abplattung = 1/299, 15.
Handelt es sich nur darum, die Gestalt der Erde zu finden,
[Bo giebt es noch ein zweites Mittel zu einer Kenutniss derselben zu
(gelangen, nämlich durch Bestimmung der Länge des Secundenpendels
,am Aequator und an den Polen. Aus einer grossen Reihe solcher
(Beobachtungen in den verschiedensten Längen und Breiten wurde
die Abplattung der Erde zu 1/288, also nicht unerheblich grösser als
.aus den Gradmessungen, gefunden, und es fragt sich nun, was ist
die Ursache dieses Unterchiedes und wie lassen sich beide Resultate
jnit einander vereinigen. Wir können darauf kurz antworten, dass
das aas den Pendelbeobachtungen gezogene Resultat wahrscheinlich
das wichtigere ist und das Mittel, beide in Uebereinstimmung zu
bringen, nur in Vermehrung der Gradmessungen besteht. Dies
j »ollen wir im Nachfolgenden kurz zu begründen suchen.
Bei der Discussion der Gradmessungen ergab sich, dass, wenn
man mit Hülfe der aus einer grösseren Zahl derselben erhaltenen
wahrscheinlichsten Erddimensioneu wieder rückwärts die Polhöhen
der durch genaue Triangulation mit einander verbundenen Orte
berechnete, sich zwischen den so gefundenen (den geodätischen) und
den astronomisch bestimmten Wertlien, Unterschiede zeigen, welche
viel zu gross sind, um den Fehlern der Beobachtungen zugeschrieben
werden zu können. Diese Unterschiede sind nun zum Tlieil die . j ,
Folge lokaler Lothablenkungen, d. h. der durch die Anziehung
7 *
1 Digitized by Google
grosser nördlich oder südlich von der Station liegender Gebirgs-
niassen bewirkten Abweichungen der Lothlinie vou der durch die
Krümmung des Meridians gegebenen senkrechten Richtung, sind
zum Theil aber auch wahrscheinlich dem Umstande zuzuschreiben,
dass die Meridiane eine von der des theoretischen Rotationsellipsoids
abweichende Krümmung besitzen. Es ist nun nicht unwahrscheinlich,
dass diese Abweichung mit der Vertheilung von Wasser und Land
zusammenhiingt und dass dieselbe an den Enden der grossen
Continente, wo diese von ausgedehnten Oceaneu von bedeutender
Tiefe begrenzt sind, am beträchtlichsten ist und dass daher Grad-
messungen, welche, wie die grosse indische und die nördlichste von
den Russen und Schweden in Finnmarken und Lappland ausgeführte,
für die Ermittelung der Erddimensionen weniger günstig sind, als
solche, welche mitten in Continenten, oder auf solchen Meridianen
ausgeführt werden, welche in dem grössten Theile ihrer Ausdehnung
auf den Ocean fallen. Das wahrscheinlichste Resultat würde jeden-
falls eine Combination beider geben, wenn es möglich wäre, eine
solche zu erhalten.
Es ist aber noch eine andere Möglichkeit vorhanden, durch
welche die Abweichungen erklärt werden können, nämlich die, dass
die Gestalt der Erde nicht die eines Rotationsellipsoids, sondern die
eines *dreiaxigen Ellipsoids wäre, welches als Gleichgewichtsform
nur unter dem Zutritt von äusseren Kräften, wie die Anziehungen
von Sonne und Mond, möglich ist. Unter dieser Voraussetzung sind
von Clarke die Dimensionen und die Gestalt der Erde berechnet
worden mit folgendem Resultat:
grosse Halbaxe des Aequators a — 6378294,0 Meter,
kleine „ „ „ b = 6376350,4 „
Polaraxe „ „ c = 6356068,1 „
und die Abplattung - — -= 1/285,«, - — - = 1/313,38, - — - = 1/3269,5
c c c
ferner die geographische Länge des grössten Meridianquadranteu
= 15° 34' 0 von Greenwich und die des kfeinsten 105° 34' 0.
Aus dem Vorhergehenden geht hervor, dass wir noch ziemlich
weit von einer genauen Kenntniss der Gestalt und Grösse unserer
Erde entfernt sind, und dass es, um zu einem zuverlässigen Resultat
zu kommen, nothwendig ist (man möge als Gestalt der Erde ein
Rotations- oder ein dreiaxiges Ellipsoid annehmen), eine möglichst
grosse Anzahl von Gradmessungen mit einander zu combinireu, dass
es aber nicht genügt, Gradmessungen aus verschiedenen Breiten
zusammenzufassen, sondern, dass dieselben auch möglichst ver-
schiedenen Meridianen angehören müssen.
Digitized by Google
— 101 —
Ueberblicken wir nun die bis jetzt vorhandenen Gradinessungen,
so finden wir (abgesehen von einer Anzahl kleiner Breiten- und den
Längengradmessungen, welche letzteren neuerdings in der Ausführung
begriffen sind) die folgenden Hauptmessungen:
Gegend
mittlere Breite
googr. Länge
gemctis. Bogen
1) Peru
1° 30' S
79° W
v. Gr.
3° 7'
2) Ostindien
18° 50' N
78° 0
Y)
21° 21'
3) Südafrika
32° 2' S
18° 0
7>
4° 37'
4) Frankreich
44° 51' N
2° 0
n
12° 22'
5) Grossbritauien
55° 21' N
2° W
n
9° 21'
6) Russland
58° 0' N
27° 0
n
25° 20'
Die letztere erstreckt sich bis 70° 40' Nordbreite und ist dies
bis jetzt die nördlichste Erstreckung derartiger Arbeiten. Diese
Gradmessung liefert daher den wesentlichsten und aus den Polar-
gegenden einzigen Beitrag für die Ermittelung der Gestalt der Erde.
Beachten wir die Meridiane, auf welchen die Gradmessungen
liegen, so sieht man, dass nur die beiden aequatorialen (No. 1 und 2)
in sehr verschiedenen geographischen Langen liegen, dass dagegen
die in mittleren Breiten ausgeführten in Länge nur wenig von ein-
ander abweichen.
Es ist daher noch viel zu thun, es müssen noch in sehr ver-
schiedenen Theilen der Erde Gradmessungen vorgenommen werden,
ehe man zu einer Kenntniss der wahren Grösse und Gestalt der
Erde gelangen wird. Da nun die Messungen in den Polargegenden
den wichtigsten Beitrag zu dieser Kenntniss liefern, so ist besonders
dahin zu streben, dass die Zahl der Gradmessungen dort vermehrt
werde, und wollen wir daher im Folgenden in aller Kürze die Mög-
lichkeit der Ausführung und die Vor- und Nachtheile der einzelnen
in Frage kommenden Gebiete erörtern. Für die mittleren Breiten der
Nord- und Südhemisphäre ist es gewiss nur eine Frage der Zeit, dass
in den hierbei hauptsächlich zu berücksichtigenden Gebieten, Nord-
und Südamerika und Australien, derartige Arbeiten ausgeführt werden.
Geodätische Arbeiten innerhalb der Polarzone erfordern aber be-
sondere Expeditionen und ist es daher um so mehr wünschenswerth
und nothwendig, die Wahl des Ortes so zu treffen, dass einerseits
derselbe den Anforderungen der Wissenschaft genügt, andererseits
die Ausführung auch von vornherein wenigstens so weit gesichert
ist, als überhaupt bei solchen Expeditionen der Erfolg garantirt
werden kann.
Für eine Polargradmessung sind nun, bis jetzt wenigstens, nur
drei Gebiete in Frage gekommen: Spitzbergen, Ostgrönland und
Smithsund. Wir wollen nun kurz die Chancen dieser Gebiete gegen
Digitized by (Joogle
einander abwägen nach den beiden Gesichtspuncten der geographi-
schen Lage und der Ausführbarkeit der Arbeit.
Was zunächst die geographische Lage anlangt, so kommt, wie
wir gesehen haben, sowohl die Breite wie die Länge in Betracht.
In Spitzbergen würde man eine Gradmessung vom Südkap in 76° 25'
bis nach den Sieben Inseln in 80° 50' ausführen können, in Ost-
grönland würde man sich zunächst auf den Bogen von 74° 30' bis
77 0 0' beschränken müssen, könnte denselben aber nach Süden ohne
grosse Mühe um einen Breitengrad verlängern, müsste dann aber
freilich zwei ‘Winter dort zubringen, während man sonst mit einem
reichen würde. Für den Smithsund und die angrenzenden Meeres-
theile, welche zwischen 76° und 80° Br. liegen, lässt sich bei dem
Mangel au Vorarbeiten kein bestimmtes Urtheil über die mögliche
Ausdehnung abgebeu. Von diesem Gesichtspunete aus würde also
Spitzbergen, sowohl wegen seiner nördlichen Lage, als auch
wegen der Ausdehnung des zu messenden Bogens , den Vorzug
verdienen, und selbst Smithsund würde, allein die Breite in
Betracht gezogen, vor Ostgrönlaud den Vortheil der nördlichen Lage
voraus haben.
Anders gestaltet sich die Sache aber, wenn man auch die geo-
graphische Länge in Betracht zieht. Spitzbergen liegt in beinahe
derselben Länge, wie die bisher nördlichste Gradmessuug in Nor-
wegen. Ferner aber scheinen die Lothungen (grösste Tiefe 240 Faden)
zwischen Norwegen und Spitzbergen darauf hinzudeuten, dass letzteres
nur eine Fortsetzung des europäischen Continents darstellt. Eine
dem Meridiane der norwegischen Gradmessung, welcher Europa
mitten durchschneidet, eigenthüinliche Krümmung, wird sich aller
Wahrscheinlichkeit nach auch auf Spitzbergen wiederfinden und somit
der Vortheil der nördlicheren Lage durch den Nachtheil, dass Spitz-
bergen am äussersten Ende eines grossen Continents liegt, wenigstens
zum Tlieil wieder aufgehoben werden.
Andererseits ist Grönland von Europa und Spitzbergen durch
ein über 1000 Faden tiefes Meer geschieden, und wenn wir den
Meridian von Ostgrönland (19° W v. Gr.) verfolgen, so finden wir,
dass er in fast seiner ganzen Ausdehnung auf die grossen Oceane fällt.
Wenn also die Vertheilung von Land und Wasser auf die Krümmung
der Meridiane einen Einfluss ausübt, so kann man wohl nach dem
eben Gesagten innerhalb der ganzen Polarzone keinen Meridian
finden, der so sehr wie der von Ostgrönland geeignet sein würde,
zu der Ermittelung der wahren Gestalt der Erde beizutragen. Als
weiteren Vorzug fügen wir hinzu, dass derselbe nahe senkrecht auf
dem Meridian der grossen indischen Gradmessung steht.
Digitized by Google
— 103
Geben wir jetzt auf den zweiten Pnnct, die Ausführbarkeit
einer Gradmessung innerhalb der l’olarzone ein, so lässt sich ein
definitives Urtheil darüber ebenfalls nur von Spitzbergen und Ost-
grönland bilden, denn nur in diesen beiden Gegenden sind Arbeiten
ausgeführt wordeu, welche den speciellen Zweck hatten, die Möglich-
keit seiner geodätischen Arbeiten zu untersuchen. Auf Spitzbergen
geschah dies auf der zweiten schwedischen Expedition im Jahre 1861
durch die Herren Nordenskjöld und Duner, in Ostgrünlaud auf der
zweiten deutschen Nordpolarfahrt durch Dr. Copeland und den Ver-
fasser. Das Ergebuiss war an beiden Orten, dass der Ausführung
genauer geodätischer Arbeiten kein wesentliches Hiuderniss ini Wege
steht. Die schwedischen Arbeiten ergeben in Betreff Spitzbergens,
dass das Aussetzen eines Dreiecknetzes mit langen Seiten und die
Winkel Messungen sehr wohl ausführbar sind. Dagegen sind das
feuchte Klima, die häufigen Nebel und die auch im Sommer öfter
eintretenden Stürme dem raschen Fortschritt der Arbeit hinderlich.
Mau würde jedenfalls darauf zu rechnen haben, mehrere Jahre auf
die Arbeit verwenden zu müssen, wobei es indessen nicht unumgäng-
lich sein würde, dort jedes Jahr zu überwintern ; wahrscheinlich
würde man die Ueberwinterung auf eine beschränken können, um
die Polhöhe des nördlichen Endpunctes zu bestimmen uud die nörd-
lichen Di’eiecke zu messen, die des südlichen würde man voraus-
sichtlich durch etwas spät in den Herbst hinein verlängerten Aufent-
halt erhalten können und doch noch rechtzeitig die Insel verlassen
können, um im seihen Jahre nach Hammerfest zurückzukehren.
Eine Gradmessung auf Ostgrönland würde nach den auf der
zweiten deutschen Nordpolarexpcdition von uns gesammelten Er-
fahrungen keinen anderen Schwierigkeiten begegnen, wie sie arktische
Reisen immer mit sich bringen, aber wesentlich nur solchen, die aus
der Nothvvendigkeit, grössere Schlittenreisen zu unternehmen, ent-
springen, woraus auch eine gewisse Beschränkung der Ausdehnung
der Arbeit folgt. Wenn man aunehmen kann, dass unsere Erfahrungen,
die sich über ein ganzes Jahr erstrecken, den normalen Witterungs-
zustand wiedergeben, so dürfen wir behaupten, dass derselbe dem
Portgange der Arbeit nicht nur keine Hindernisse bereitet, sondern
ihnen im höchsten Grade günstig ist. Der Himmel ist, ausser hei
Stürmen, selten bedeckt uud die Luft von einer wunderbaren Klarheit
und Durchsichtigkeit, sodass wir kegelförmige Steinhaufen, welche
eine Höhe von ca. 2*/a Meter und 1,8 Meter über dein Boden einen
Durchmesser von 1,5 Meter besassen, mit einem kleinen Fernrohr
von 27 mm Objectivöffnung und 25maliger Vergrösserung auf eine
Entfernung zon 66 Kilometer (oder nahe 9 deutsche Meilen) voll-
Digitized by Google
kommen deutlich erkennen und einstellen konnten. Die rasenden
Winterstürme hörten Ende April auf, waren aber schon im April
weniger andauernd und heftig, sodass eiuer Schlittenreise in diesem
Monate nur wenig Tage ganz verloren gehen würden, im Mai aber
dürfte es kaum einen Tag geben, an welchem nicht geodätische
Arbeiten ausgeführt werden könnten. Im Sommer können für die
niedriggelegenen Stationen die Nebel mitunter etwas störend und
hinderlich sein, da sie sich aber selten über 300 — 350 Meter erheben,
die Stationen (wenigstens die Hauptstationen) aber durchweg in
grösserer Höhe gewählt werden können und müssen, so wird der
Nebel häufig den Arbeiten günstig sein, theils indem er für niedrigere
Stationen einen vortrefflichen Hintergrund bildet, theils indem er die
Ausstrahlung des Bodens und dadurch das Zittern der Bilder ver-
hindert. Endlich wird man auch schon die schönen Herbstmonate
September und October trotz des abnehmenden Tageslichts sehr vor-
theilhaft zur Auswahl und Signalisirung der nördlicheren Stationen
verwenden können. Ein kaum hoch genug zu schätzender Vorthei]
für alle Arbeiten innerhalb der Polarzoue, der der Frühjahrs- und
und Sommerarbeit zu Gute kommt, liegt in dem fortwährenden
Tageslicht, wodurch es ermöglicht wird, die Arbeiten zu jeder be-
liebigen Tageszeit ausführen zu können.
Dürfen wir demnach für Ostgröuland den Vortheil der günstigen
Witterungsverhältnisse in Anspruch nehmen, so gilt dies in nicht
minder hohem Grade von den Terrain Verhältnissen. Der Küste sind
Inseln vorgelagert, welche sich zu Höhen von tausend und mehr
Metern erheben, und diese Berge erheben sich unmittelbar vom
Meere aus, so dass es möglich ist, auf der ebenen Landseite den
Schlitten mit allen Instrumenten, Zelt und sonstigen Sachen bis an
den Fuss der Berge, auf denen die Station liegt, zu bringen, von
wo es dann keine Schwierigkeit bietet, die Gipfel selbst mit den
Instrumenten zu erreichen. Eine derartige Erleichterung, auf welcher
der Erfolg der Arbeit zum sehr grossen Tlieile mit beruht, gewährt
Spitzbergen nur in geringerem Maasse, denn die Dreieckspuncte,
welche auf beiden Seiten des Stor-Fjord und der Hinlopenstrasse
liegen, sind durch Meeresarme getrennt, welche dem Eindringen des
Meereises ausgesetzt sind, es wird sich deshalb dort kein so ebenes
Eis bilden können wie in Grönland zwischen den Inseln, und was es
heisst, zusammengepacktes, übereiiiandergeschobenes Scholleneis mit
Schlitten zu passiren, lehren die Mühsale, welche Hayes auf der
Passage des Smithsundes und die Engländer auf ihrer letzten
Expedition unter Sir George Nares bei der nach Norden gerichteten
Schlittenreise auszustehen hatten. Solche Reisen würden den Erfolg
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— 105 —
der Arbeit ernstlich in Frage stellen, weil sie einen grossen Auf-
wand von Zeit und eine noch bedenklichere Abnutzung der Kräfte
involviren, und aus diesem Grunde kann nach der Ansicht des
Verfassers der Smithsuud für eine Gradraessung kaum ernstlich in
Frage kommen.
Es würde zu weit führen, wenn wir die Frage noch weiter im
Einzelnen ausführen, namentlich uns über die Ausführung im
Einzelnen, die iustrumentelle Ausrüstung, zweckmässigste Signale,
Arbeitsplan etc. verbreiten wollten, es sei in Bezug darauf auf den
zweiten Baud des Reisewerks über die zweite deutsche Nordpollährt
S. 853 ff. verwiesen. Zweck dieser Zeilen war es, an die Wichtig-
keit einer Gradmessung in höchsten Breiten zu erinnern und für
die Ausführung dasjenige Gebiet in Vorschlag zu bringen, welches
wissenschaftlich wie practisch die besten Aussichten bietet und von
wo schon sonstige Erfahrungen und Vorarbeiten vorliegen. Diese
Anregung ist aber im gegenwärtigen Augenblick, wo die für die
nächste Zeit geplante Errichtung internationaler Beobachtungs-
stationen innerhalb beider Polarzonen die Aussicht bietet, dass der
Plan seine Ausführung finden könne, von besonderer Bedeutung.
Hoffen wir, dass eine der von Deutschland auszusendenden Expeditionen
die Aufgabe erhält, an der Ostküste Grönlands eine Gradmessung
auszuführen, ein Plan, welcher bereits der in Hamburg versammelt
gewesenen internationalen Polarconferenz Vorgelegen hat. Es würden
dadurch die Arbeiten der zweiten Deutschen Nordpolfahrt eine
würdige Fortsetzung erhalten.
Kleinere Mittheilungen.
Ans der Geographischen Gesellschaft in Bremen. Der kürzlich ausgegebene
Jahresbericht giebt eine übersichtliche Knude über die Thätigkeit der Gesellschaft
im vorigen Jahre. Es sei gestattet, hier über Einzelnes noch naher zu berichten.
Wie in früheren Jahren veranstaltete die Geographische Gesellschaft auch in
dem letzten Winter einen Cyclus geographischer Vorträge. Die Direction der
Gesellschaft Museum stellte wie früher auf Grund einer Vereinbarung den schönen
Saal des Museums für diese Vorträge zur Verfügung. Auch Nichtmitgliedern
der Gesellschaft boten wir gegen ein mässiges Eintrittsgeld Zutritt zu diesen
Vorträgen.
Am 17. November v. J. sprach Herr Dr. Emil Jung aus Leipzig „über
Busch und Squatter in Australien“. Der Vortragende führte die
Versammlung in die Ebenen des Riverinadistrictes, der sich im Westen der
blauen Berge erstreckt. Der Rivcrinadistrict umfasst ein Gebiet, das dem
deutschen Reiche an Umfang nicht nachsteht, aber eine Bevölkerung von
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— 106 —
350(X) Seelen kaum erreicht. Hier sind die Weidegründe der oft nach Hundert-
tausenden zählenden Herden, deren Besitzer die Squatter, jene australischen
Hirtenkönige sind. Die topographischen Verhältnisse, die Pflanzen- und Thier-
welt im Busch und die Buschstadt wurden in interessanter Weise geschildert
und aus dem Lehen der Schafhirten, der Schafscheerer und des Squatters, der
Bewohner des „Busches“, wurden charakteristische Bilder vorgeführt.
Am 17. December v. J. hielt Herr Domprediger Dr Schramm, der im
letzten Frühsommer längere Zeit in Italien verweilt hatte, einen Vortrag „über
den italienischen Volkscharakter“. Er schilderte deu Italiener nach
seinem Naturell, seinen körperlichen Anlagen und nach seinem Temperament,
zeigte die Einwirkung einer grossen historischen Vergangenheit und den Ein-
fluss von Staat, Schule und Kirche auf die Entwickelung des italienisckeu
V olkscharakters.
Am 21. Februar d. J. hielt Herr Dr. II. Ludwig, Direktor der hiesigen
naturwissenschaftlichen und ethnographischen Sammlung, einen Vortrag über
Korallen und Knralleninscln. Nachdem der Redner die Organisation
der Korallen im Allgemeinen erläutert und an den vorliegenden Exemplaren
demonstrirt hatte, beschrieb er die rothe Edelkoralle nach Bau, Vorkommen und
ihrer Rolle im Welthandel und zeigte dann die Bedeutung der Korallen in Bezug
auf die Umgestaltung der Erdoberfläche. Durch Karten und Zeichnungen an
der Tafel wurden die verschiedenen Korallcnbanken veranschaulicht.
Am 17. März erfreute uns Herr Professor Dr. A. Kirchhoff aus Halle
a. d. Saale durch einen Vortrag über die Einwirkung der Steppen und
Wüsten auf die Völkerentwicklung Der Vortragende präcisirte den
Begriff der Steppe und Wüste, entwarf von beiden ein klimatisches Charakter-
bild und schilderte das Pflanzen- und Thierleben. Sehr eingehend und unter
Hervorhebung vieler neuer Gesiclitspuncte zeigte Professor Kirchhoff dann
den Einfluss des Steppen- und Wüstenlebens auf den Menschen, seine Ernährung,
seine körperlichen Fähigkeiten, seine Geräthe und Waffen und seinen Charakter.
Am 2. April hielt Herr Dr. H. Polakowsky aus Berlin einen Vortrag
über die deutschen Kolonisations-Versuche in Mittelamerika.
Der Redner führte aus, dass das Thema nur ein Theil eines Kapitels zur
„Bevölkerungsfrage“ sei. Diese habe sich mit der Abwendung der übelen
Folgen der Ucbcrvölkerung und also auch mit der Auswanderung zu beschäftigen.
Eine geordnete Auswanderung hielt der Redner für nothwendig und empfiehlt
zur Anlage von Ackcrbaukolonien einen Theil Centralamerika’s. Ausser Frucht-
barkeit, Mineral- und Holzreichthum bedingt besonders die ungemein günstige
Lage die Bedeutung Mittelamerika’s. Redner hob dann specieller die Vortheile,
welche Costa Rica durch gute Gesetze und Verwaltung, arbeitsame und auffallend
weisse Bevölkerung bietet, hervor und besprach der Reihe nach die wichtigsten
der seit etwa 40 Jahren gemachten deutschen Kolonisationsversuche, indem er
zugleich nachwies, weshalb sie fehlgeschlagen seien und fehlschlagen mussten.
Herrn Professor Nordenskjöld, dem Ehrenmitgliede unserer Gesellschaft,
sandten wir unter der Adresse des Herrn Cristoforo Negri bei seiner Ankunft
in Neapel am 14. Februar ein Begrüssungtelegramm.
Herr Dr. Otto Fiusch, Vorstandsmitglied unserer Gesellschaft, welcher im
Aufträge der Berliner Humboldt-Stiftung die Inselwelt des Stillen Oceans bereist,
war am 21. August 1S79 auf Jaluit eingetroffen und hat im Marschall -Archipel
ethnographische und zoologische Studien unternommen, später beabsichtigte er
die Gilbert-Inseln zu besuchen.
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— 107 —
Für die geographischen Lesezirkel, resp. die Bibliothek wurde unter anderem
augeschafft: Hehn, Italien. Ansichten und Streiflichter, 2. Aufl. M. Büchner,
Reise durch den Stillen Ocean. Hübbe-Schlcidcn, Ethiopien. Studien über
West-Afrika. Fabri, Bedarf Deutschland der Kolonien? Moldenhauer,
Erörterungen über Kolonial- und Auswanderungswesen. E. von Weber, Er-
weiterung des deutschen Wirtschaftsgebietes. Nachtigal, Sahara und Sudan,
Theil I. Weyprecht, Die Metamorphosen des l’olareises. Peschei - Leipol dt,
Physische Erdkunde, Band I. Wallace, Die Tropenwelt. Hart mann, Die
Völker Afrika’s. Thielmanu, Vier Wege durch Amerika. Behm, Geo-
graphisches Jahrbuch, v. Couring, Marokko, das Land und die Leute.
K. v. Sc herze r, Weltindustrien. Uernsheim, Die Marschall-Inseln Stati-
stisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, 1880. Petermann’s geographische
Mittbeilungcn. Le Tour du monde. Zeitschrift für wissenschaftliche Geographie.
L'anuce geographique, 1879, von Maunoir und Duveyrier.
Seehandel mit Nordsibirien. . Von Bremen und Hamburg werden auch in
diesem Sommer je ein Dampfer nach dem üb und nach dem Jenissej zur Fort-
setzung des Handelsverkehrs ausgesandt werden Diese Unternehmungen gehen
von Mitgliedern unserer Gesellschaft aus.
Die Volkszahl des Bremischen Staates nach den Zählungen seit 1812.
Folgende Uebersicht über das Wachsthum der Bremischen Bevölkerung wird
für viele Leser von Interesse sein. Es wurden gezählt an Personen:
1812 47,797 1864 104,006
1823 54,334 1 867a 109,572
1842 72,820 1867b 1 10,352
1849 79,102 | 1871 122,402
1855 88,877 ! 1875 142,200
1862 98,467
Wasserwege in den Niederlanden. Die „Tgdschrift von het Aardrijkskundig
Genontscliap“ in Amsterdam, No. 3 d. J., enthält eine schöne und klargezeichnete
Uebcrsiehtskarte von den „Waterwegen in Nedderland door F. De Bas en
J. Kuijper“ im Maassstabe 1 : 61XXXX). Nach dem beigegebenen Texte betrug
am 1. Mai 1879 die Länge der niederländischen Schiffahrtskanäle 3078.133 Km.
Die Grösse des Verkehrs und die Tiefe der einzelnen Kauäle kommt auf der
Karte ebenfalls zur Darstellung.
Die St. Gotthard - Bahn. Einem Aufsatze über die St. Gotthard- Bahn in
der „Rundschau für Geographie und Statistik“, red. von Professor Arendts,
eutnehraeu wir folgende Mittheilung: Mit Bezug auf die durch die St. Gotthard-
Dahn gewonnenen Distanzen zwischen Italien und Deutschland ergeben sich im
Vergleiche mit den Umwegen über den Mont-Cenis und Brenner nachstehende
Wegabkürzungen: a. Ueber den St. Gotthard werden gegenüber dem Mont-Cenis
gewonnen: zwischen Genua und Köln 286 Km, zwischen Genua und Amsterdam
225 Km. b. Ueber den St. Gotthard werden gegenüber dein Brenner gewonnen:
zwischen Genua und Berlin 70 Km., zwischen Genua und Hamburg 220 Km.,
zwischen Genua uud Bremen 2G0 Km., zwischen Genua und Köln 274 Km.
Die Bedeutung dieser Distanzkürzungen wird aber noch ansehnlich durch den
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— 108 —
Umstand erhöht, dass den Handelsartikeln, welche ihren Weg über den St. Gott-
hard nehmen, auch die Hauptverkehrsader, die durch den Suezkanal pulsirt, nach
dem asiatischen Süden offen steht. Namentlich wird der Gctreidchandel durch
diese Bahn eine gänzliche Metamorphose durrhzumachen haben. Der Ueberschuss
der getreidegebenden Länder Europa’s (Russland, Oesterreich - Ungarn untere
Donanstaaten und Dänemark) genügt nämlich uicht, um den Bedarf der con-
sumirenden Länder (England, Niederlande, Belgien, Frankreich, Scandinavien, Siid-
dcutscliland, Schweiz, Italien und Griechenland) dieses Erdthcils zu decken, und
es müssen alljährlich circa 100 Millionen Zoll-Centner an Getreide durch Zu-
fuhren aus Amerika gedeckt werden. Die Verkehrs-Centren für den europäischen
Getreidehandel sind: Odessa, Budapest, Wien und Marseille. Die Wege, welche
der Getreideverkehr gewöhnlich einzuschlagen pflegt, sind : von Odessa durch die
Dardanellen in’s Mittelländische Meer nach den Häfen: Brindisi, Neapel, Livorno,
Genua und Marseille, ausserdem theilweise durch die Strasse von Gibraltar nach
England und nicht selten nach Norwegen. Ein anderer Theil südrussischen Ge-
treides und der Cerealien, welche die unteren Donaustaaten produciren, geht
donauaitfwärts nach Budapest, Wien und Regensburg. Der Rest des Getreides
aus Russland nimmt gleichzeitig mit dem ungarischen seinen Weg per Eisenbahn
nach Siiddeutschland, Frankreich und die Schweiz Auf diesen Verkehrswegen
des Getreides tritt nun Nordamerika mit Erfolg in Coneurrenz. Der amerikanische
Getreideverkehr findet in England, Belgien, den Niederlanden, in den nord-
deutschen Häfen Bremen und Hamburg grosse Absatzgebiete, dringt durch die
Meerenge von Gibraltar bis Marseille und Genua vor und weiss sich selbst durch
den Rhein die Schweiz als Käuferin zugänglich zu machen. Amerika und Russ-
land erscheinen somit im Concurrenzkampfe um den Getreideverkchr. Oesterreich-
Ungarn ist nun als dritter Gegner gegen beide aufgetreten und will einen grossen
Theil der westlichen Absatzgebiete, namentlich die Schweiz, Süddeutschland und
Frankreich, für seine Getrcide-Ueberproduction durch die Erbauung der Arlberg-
Bahn gewinnen. Denn cs unterliegt nicht dem geringsten Zweifel, dass Genua,
sobald es durch die Gotthard-Bahn der Schweiz und Süddeutschland erschlossen
ist, ein ungemein wichtiger Getreideplatz werden muss, weil er nicht nur zum
Zusamraentreffpuncte russischer und amerikanischer Schiffsconcurrenz, sondern
auch zum Concurrenzplatze mit dem Eisenbahnverkehr via Oesterreich und
Norddeutschland für russisches Getreide und für Getreide aus Ungarn werden muss.
Frenulenstatistik in China und Japan. Die Zahl der in China und Japan
lebenden Europäer und Amerikaner betrug für China im Jahre 1878 3814 Personen,
für Japan im Jahre 1879 2475 und zwar vertheilten sich diese auf die nach-
benannten Nationen in folgender Weise:
China 1878:
Japan 1879:
Engländer
1953
1067
Amerikaner
420
479
Deutsche
384
300
Franzosen
224
230
Niederländer . . .
24
105
Spanier
163
?
Portugiesen
?
95
Die Zahl der Chinesen in Japan betrug für das Jahr 1878 3028 Personen,
die Zahl der Japanen in China (1878) 81 Personen.
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109 —
Geographische Gesellschaft io Buenos Aires. Auch in Amerika nehmen
die geographischen Institute in erfreulicher Weise zu. Neben den geographischen
Gesellschaften in Quebec, New York, Mexico und Rio de Janeiro ist kürzlich in
Argentinien das „Jnstitutn Geografico“ in Buenos Aires in’s Lehen getreten und
hat vor Kurzem unter dem Titel „Bolitin geografico argentino“, red. von
Dr. E. S. Zeballos, das erste Heft der neuen Zeitschrift ausgegeben.
Valparaiso. Eine der letzten Nummern des uns von Herrn Minister-Residenten
von Gülich regelmassig zugesandten „Bulletin de la Guerre du Pacifique“
enthält eine Beschreibung der Stadt Valparaiso, der wir Folgendes entnehmen:
Die Häuser der Stadt Valparaiso erstrecken sich am Fusse und auf den Ab-
dachungen einer Reihe von unfruchtbaren Hügeln hin, welche sich ampbitheatralisch
rings um die Rhede erheben und eine Höhe von 300 bis 400 Metern über dem
Meeresspiegel erreichen. Die Stadt ist in vier Bezirke getheilt: El Puerto,
L’Almendral, Los Cerros und El Baron. El Puerto (der Hafen) umfasst den
westlichen Theil und liegt dem Ankerplatz am nächsten, das ist der schönste
Stadtthcil; hier wohnen die hohe Handelswelt und die grossen Bankiers, und hier
befinden sich auch die hauptsächlichsten Staatsgebäude, wie die Präfectur, der
Gerichtshof, das General-Postamt, die Bürcau’s und Lagerhäuser des Zollamts.
L’Almcndral bildet den östlichen Theil von Valparaiso; er ist bevölkerter als
El Puerto und enthält auch breitere sehr lebhafte Strassen, schöne Gebäude,
Kirchen, zwei Theater, öffentliche und Privat-Gärten, Marktplätze, Hotels und Clubs.
Los Cerros (die Hügel) bilden ein Netz von kleinen sehr bevölkerten Vierteln,
deren Häuser auf den Höhen, den Abdachungen und in den Schluchten der
Hügel zerstreut liegen. El Baron ist für sich selbst eine kleine Stadt, deren
Häuser sich auf den Hügeln nahe am Meere gmppiren; am Fusse derselben
befindet sich der Central-Bahnhof mit seinen Verwaltungsgebäuden und Werk-
stätten. Im Mittelpuncte des Puerto sind zwei kleine Bahnhöfe, der eine der
Handelsbörse gegenüber, der andere zu Bella Vista nahe dem Orden - Platze,
zwischen dem Puerto und Almendral; die Schienenwege gehen ganz um die
Stadt herum, am Rande des Meeres entlang bis zum Central-Bahnhof in Baron.
Valparaiso besitzt Kirchhöfe für Katholiken und Protestanten, Kirchen beider
Confessionen, eine Academie, eine höhere Töchterschule, ein Priester-Seminar,
mehrere Privatschulen für beide Geschlechter, eine grosse Anzahl Freischulen
und drei öffentliche Bibliotheken, von denen die bedeutendste, wesentlich amerika-
nische, kürzlich von Mr. Beeche, dem ehemaligen General-Consul der Argentinischen
Republik, der Stadt vermacht worden ist. Auch ein Museum ist im Entstehen
begriffen. Die ganze Stadt hat Gasbeleuchtung und Wasserleitung. Die Feuer-
wehr besteht aus zehn Compagnien freiwilliger Männer aller Nationalitäten und
Stände, die sich bei den Brandunfällen immer durch ihre Geschicklichkeit und
Selbstverleugnung ausgezeichnet haben. Die Bucht, an welcher die Stadt liegt,
ist im Jahre 1536 zum ersten Male besucht worden; AlonzoQuintero, ein
Zeitgenosse Almagros, welcher Chile entdeckte, kommandirte das kleine Schiff,
den „Santiaguillo“. Sieben Jahre nachher wurde Valparaiso Stationshafen für
den Dienst zwischen Peru und Santiago. Von da an ankerten daselbst von Zeit
zu Zeit einige peruanische Schiffe, aber lange Jahre hatte es keinen einzigen
Einwohner. 1578 fand Francis Drake daselbst 12 bis 15 Häuser, eine kleine
Kirche und zwei Lagerhäuser ; 100 Jahre später bauten die Spanier im Nord-
osten der Bucht ein Fort, welches sie mit fi Kanonen bewehrten. Im Jahre 1802,
zu Anfang der Unabhängigkeitsära, erhielt Valparaiso den Titel einer Stadt; es
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110 —
zählte damals 6,000 Seelen. Die Stadt wurde zur Hauptstadt der Provinz
erhoben im Jahre 1842. Seine Bevölkerung zählt jetzt 98,000 Seelen. 14 Forts
und 138 Kanonen groben Kalibers vertheidigen die Stadt.
Bevölkerung von Chile. Nach der „Sinopsis ofthe Statiticsof Chile, 1878 — 79“
betrug im April 1875 die Bevölkerung von Chile 2,075,971 Einwohner und zwar
1,033,974 männlichen und 1,041,997 weiblichen Geschlechts. Bis Ende 1877 war
die Bevölkerung bis auf 2,136,724 angewachseu ; diese Zahl entspricht einer
jährlichen Zunahme der Bevölkerung von 18 — 20,000 Einwohnern. Nach der
Nationalität waren 1875 die Einwohner:
Männer
Frauen
Chilenen (Eingeborne)
.... 1,014,474
1,034,862
Fremde
19,500
7,135
Davon waren:
Deutsche
3,143
1,635
Engländer
3,459
808
Spanier
1,102
121
Franzosen
2,408
906
Italiener
1,724
259
Aus anderen europ. Ländern
1,211
199
Argentiuer
4,560
2,623
Peruaner
470
361
Nordamerikaner
821
110
Aus anderen amerik. Ländern
470
209
Asiaten
132
4
(leographische Congressc im Jahre 1880. Im August d. J. werden die
deutschen Geographen zu einem Geographentage in Berlin zusammentreten. Bei
dieser Gelegenheit soll über eine zweckmässige Vereinigung der geographischen
Vereine berathen werden. — Die geographischen Gesellschaften Frankreichs
werden vom 5. — 10. August d. J. einen Cougress in Nancy abhaltcn. Mit dem
Congress soll eine Ausstellung von Karten und geographischen Schriften ver-
bunden werden.
Nach einer Notiz in Petermann’s Mittheilungen wird der nächste inter-
nationale geographische Congress „sehr wahrscheinlich“ in Italien
stattfinden und zwar im September 1881. Der Sitz ist noch nicht definitiv
bestimmt, es dürfte dazu aber eine der grossen Städte Nord-Italiens ausersehen werden.
Die Seefischereien. Das neueste Ergänzungsheft, No. 60, zu Petermann’s
geographischen Mittheilungen bringt eine sehr fleissige und anerkcnnenswertlic
Arbeit von Dr. M. Lindeman über die Seefischereien, auf die wir auch an
dieser Stelle hinweisen wollen. Der Verfasser macht in dieser Arbeit den
Versuch, ein Bild der heutigen Seefischerei nach ihrer geographischen Ver-
breitung, ihrem Betriebe, Umfang und Werth zusammenzustellen. Der Haupt-
gesichtspunct bei der Arbeit war ein rein wirthschafts-statistischer. Die umfang-
reiche Darstellung ist um so mehr anzuerkeunen, als zur Zeit für eine allgemeine
Fischcreistatistik noch das unentbehrliche, gleichartige Material aus einer längeren
Zeitperiode und über grosse Gebiete fehlt und der Verfasser sich durch eine
Art Privat -Enquete die Materialien von allen Richtungen der Windrose ein-
sammeln musste.
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— 111 —
Beigegeben sind dem Hefte zwei Karten: die Seefischerei -Gebiete Europa’s
nebst Angabe der wichtigsten Fischerhäfen und die Fischereigehicte der Häfen
der atlantischen Küste von Britisch-Nordamerika. Das Hauptinteresse, welches
die Schrift und die Karten gewähren, liegt vorzugsweise darin, dass sie cincs-
thcils die grossartige und mannigfaltige Thätigkcit des Menschen im Seetischerei-
Gewerbe gewissermasseu in einem Gcsammtbilde vorführen, anderenteils zeigen,
wie ausgedehnte Meeresräume, obwohl reich an Fischleben, wegen der geringen
Bewohnung, der ungünstigen Beschaffenheit der Nachbarküste, wegen ihrer Ab-
gelegenheit von grossen Verbrauchsgebieten, fast gar nicht ausgebeutet werden.
Auf den ersten Blick sicht man, dass die Ceutren der Grosstischerei auf der
Nordhälfte der Erdkugel, und zwar vorzugsweise in den Meeren zwischen
Norwegen und Nordamerika liegen. Sowohl horizontal, als vertikal werden diese
Gewässer von allen Meerestheilen am meisten durchfischt. Der Walfang hat
seinen Höhepunct längst überschritten, mag aber vielleicht durch’ Aufschliessung
neuer Meerestheilc des Polargcbicts sich wieder heben. Der Fischreichthum des
Indischen Oceans scheint zum grossen Theil unberührt, auch Australien kennt
keine Grossfischerei ; zahllos sind dagegen die Fischerflotten China’s, Japans und
lies Malayischen Archipels. Unter den abendländischen Kulturstaaten können
nur Norwegen, Grossbritanien, Frankreich, Italien, Britisch-Nordamerika und die
Vereinigten Staaten als solche gelten, die ihren Betrieb extensiv über ihre Küsten-
gewässer hinaus zu einer Hochseefischerei in grösserem Maassstabe ausgedehnt
haben. Afrika ist, wie durch seine Konfiguration überhaupt, so besonders in
Bezug auf die Seefischerei; antipelagisch.
Literatur. Marthe, Dr. F. Was bedeutet Carl Ritter für die Geographie?
Festrede zur Säcularfeier am 11. October 1879. Berlin 1880. D. Reimer.
(Separatabdruck aus der Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde). — Wie zu
erwarten war, hat der auf den 7. August v. J. fallende 100jährige Geburtstag
des grossen Geographen C. Ritter in Tagesblättern und geographischen Zeit-
schriften eine grössere Zahl von Aufsätzen über denselben hervorgerufen : cs sei
nur kingewiesen auf Professor F. Ratzel’s umfangreiche Artikel in der „Augsburger
Allgem. Zeitung“ und Prof. A. Kirchboff’s Aufsatz in der „Gegenwart“. Den
wichtigsten Beitrag zur Ritter-Literatur bildet aber wohl ohne Zweifel obiger
Festvortrag, der, mit einer Anzahl Anmerkungen und einer eingehenden Betrachtung
über die Frage: Hat C. Ritter und wie den Vergleich geübt? Was bedeutet in
der Erdkunde überhaupt der Vergleich? versehen, in einem trefflich aus-
gestatteteu Separatabdrucke auch weiteren Kreisen zugänglich gemacht ist. Was
Carl Ritter als Mensch gewesen ist, hat uns G. Kramer in einer trefflichen
Biographie dargestellt, aber den Nachweis, was man Ritter factisch auf dem
Gebiete der Erdkunde verdankt, war er uus schuldig geblichen. Dies Versäum-
nis des Biographen hat Dr. Marthe in vorliegender Schrift, man darf sagen,
gerecht in Lob und Kritik, nachgeholt. Ritter’s Bedeutung für die Erdkunde
liegt in einem Dreifachen: Zuerst schuf Ritter in vollkommener Weise die Lehre
der horizontalen und vertikalen Gliederung unseres Erdplaneten und zeigte
»als Stubengeograph, der er war, durch Lehre und Beispiel, wie die Stand- und
Befestigungsfläche alles des Erdlicheu, das die Sonne bescheint, nach ihrer Natur-
bcschaffenheit abzuschildern ist“; er legte für die innerhalb der Erde sich
umschattende Erdkunde die richtige, die physische Grundlage iu vorher un-
erreichter Weise, schob gleichsam den Wagen der Geographie auf das rechte
Geleise. Als zweiter Hauptpunct in Ritter’s Gelekrtenthätigkeit ist sein kritisch-
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— 112 —
historisches Repertorium zur Länderkunde Asiens anzusehen, das sich überaus
fruchtbar erwies; es bleibt das Grundbuch für das Studium Asiens, etwas ähn-
liches wie die Pandekten oder eine berühmte Ausgabe derselben für den Juristen.
Der dritte Leuchtpuuct im Schaffen ltitter’s ist dann, dass er die Geographie
zur Deuterin der Geschichte machte, dass er Ursachen oder ursächliche Bedin-
gungen von Völkerentwickelungen in dem Bodenbau, in der Lage der Völkersitze,
in dem Klima nachzuweisen versuchte, dass er selbst für einzelne an gleicher
Stätte sich ähnlich wiederholende Ereignisse, als z. B. Völkerschlachten, Wander-
züge, Handelsbewegungen, das Wo ihres Geschehens, als ein Gebot oder geradezu
als ein Gesetz der örtlichen Natur auffassen lehrte. — Wir wünscheu der kleinen
gedankenreichen Schrift den grössten Leserkreis. W. W.
Geographische Literatur. Bei der Redaction gingen folgende Schriften ein:
Post und Telegraphie im Weltverkehr. Eine Skizze von Geh. Obcr-Postrath
Dr. Fischer. Berlin. F. Dilmmler’s Verlag. 1879. — Die Wildbäche der Alpen von
Lehmann Breslau. 1879. — Geographie Travels in Central-Australia by Ernest
Giles (Geschenk des Herrn Ferd. von Mucller in Melbourne). — Le Trans-
Saharien par G. de Vautibault (Vom Verfasser). — E. Loeffler, Quelquc retiexions
sur les Etudes Güographiques. Copenhague. 1879 (Vom Verfasser). — Archiv
für Post und Telegraphie, No. 20. — Von Kairo nach Massaua. Von G. Wild. —
Die Chinesen auf den Philippinen von Prof. Blumentritt (Vom Verfasser). —
J. J. Kettler, Ueber die Aufgaben einer allgemeinen deutschen Geograplien-
Versammluug. — Dr. Paul Pogge, Im Reiche des Muata Jamwo. D. Reimer’s
Verlag. Berlin 1880 (Vom Verleger). — The Cruise of the Florence by
Kapt. II. W. Ilowgate. — Resultate aus den meteorologischen Beobachtungen in
Sachsen in den Jahren 1874 und 1875 von Prof. Dr. C. Bruhns (Geschenk des
Verfassers). — Kurtz, F. (Berlin), Aufzählung der von K. Graf von Waldliurg-
Zeil im Jahre 1876 in West-Sibirien gesammelten Pflanzen. (Vom Verfasser). —
Projet d’Exploration au Pole Nord par J. Palmarts. Brüssel 1880. (Vom
Verfasser). — Durch die Sterneuwelt. Von F. Siegmund. Wien, Hartleben’s
Verlag (Vom Verleger). — Eine grosse Wandkarte vom „Australischen Continent“
(Geschenk des Herrn Baron F. von Mueller). — Dr. F. Marthe. Was bedeutet
Carl Ritter für die Geographie ? Berlin 1880. D. Reimer’s Verlag (Vom Verleger). —
Ernst Mayer und Joseph Luksch. Weltkarte als Behelf für das Studium
geographischer Entdeckungen und Forschungen. Wien, Artaria, 1879 (Vom
Verleger). — Synopsis of the Statitics of Chile. 1878 — 1879. — Verzeichniss der
Karten in Petermann’s Geographischen Mittheilungen von B. Hassenstein (Ge-
schenk des Autors). — v. lloguslawski, Die Tiefsee und ihre Boden- und
Temperaturverhältnisse. — Dr. C. Borgen, Neue Ableitung der Fluth-Konstanten
für Wilhelmshaven (Vom Verfasser). — R. Napp, Die Argentinische Republik
(Geschenk des li Senats). — Bulletin de la Guerre du Pacifique. Santiago du
Chili (Geschenk des Herrn Minister-Residenten von Gülich). — Jahresbericht
der Ostschweizerischen Geographisch-commerciellen Gesellschaft 1878. St. Gallen
1879. — Report ot the British Association for the Advancement of Science.
Dublin 1877 und 1878. — Ilistorical Records of Port Phillip: The first Annals
of the .Colony of Victoria by John J. Shillinglaw, 1879. — China. Imperial
Maritime Customs. Returns of Trade at the Treaty Ports for the Year 1878.
Shanghai 1879.
FUr die Itedaction verantwortlich: Dr. W. Wolkenhauer.
Druck von Carl Schiinemann. Bremen.
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Seile
Inhalt«
1. Mittheilungen aus dem Tagebuche des l)r. t'lir. Rutenberg. Von
Dr. H. Neuling. III. Madagaskar .' 113
2. Die Reste der Franklin-Expedition 160
3. Polarexpedition oder Polarforschung? Von Prof. Dr. Neumayer 168
4. Kleinere Mittheilungen:
a. Aus der Geographischen Gesellschaft in Bremen 183
b. Franz Josephsland wieder erreicht 183
c. Italienische Südpolar-Expedition 185
d. Die dritte Reise des „Willem Barents* 185
e. Die Pacific-Expedition des Dr. O. Finsch 190
aite:
Der nördliche Theil von Madagaskar zur Uebcrsicht von Dr. Chr. Rutenberg's
Reisen 1877 — 1878.
Notiz:
Mit diesem Hefte schliesst der III. Band dieser Zeitschrift; das Inhalts-
Verzeichnis« desselben ist diesem Hefte beigefügt.
Im nächsten Jahre werden die „Deutschen Geographischen Blätter“
wieder in vier vierteljährlichen Heften erscheinen.
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Heft III.
Band III.
Deutsche
Geographische Blätter.
Herausgegeben von der
Geographischen Gesellschaft in Bremen.
Der Abdruck der Original- Aufsätze dieser Zeitschrift ist nur nach Verständigung
mit der Itedaction gestattet.
Mittheilungen aus dem Tagebuche von
Dr. Chr. Rutenberg.
Von Dr. H. Neuling.
Mit einer Karte: der nördliche Theil von Madagaskar, zur liebersicht von
Dr. Chr. Rutenberg's Reisen 1877 — 1878.
III. Madagaskar.
A. Von Voliemar nach F a s s i und N o s 8 i B 6.
Am 27. September 1877 fuhr Rutenberg mit einem Segelschiffe,
das zum Transport von 150 Rindern eingerichtet war, von Port Louis
(Mauritius) nach Vohemar an der Nordostküste Madagaskars. Die
Ueberfahrt war ziemlich langwierig, da anfangs eine zweitägige
Windstille eintrat, die daun plötzlich, als das Schiff sich auf der
Höhe von Ngoncy (Ostkap) befand, in eine starke Nordostbrise
umschlug, so dass die Einfahrt in die schmale, von Felsenriffen
durchsetzte Bucht von Vohemar sehr gefahrvoll wurde. Bei der
Fahrt längs der Küste erschien das Land von niedrigen, wellenförmig
aufsteigenden Bergen durchzogen, die in weiterer Ferne zu scharf
geschnittenen Spitzen von etwa 1000 Meter Höhe anstiegen. Die
Vorberge zeigten wenig Baumwuchs, dagegen trat das Unterholz
bis dicht au das Ufer heran. Dazwischen leuchteten weite Strecken
rothen Sandes hervor und dichte Rauchwolken deuteten an, dass
auch dort die afrikanische Sitte herrsche, durch Abbrennen des
alten Grases dem Vieh im Frühjahr frisches grünes Futter zu
verschaffen.
Kaum war das Schiff in die Bucht von Vohemar eingelaufen
und hatte die französische Flagge aufgehisst, so wurde auch auf dem
Hause des Hovakommandanten die Fahne aufgezogen und in einem
ausgehöldten Baumstamme fuhr der Kommandant an das Schiff heran
und nahm in der Kajüte des Kapitäns über die Dinge, welche das
Schiff führte, ein Protokoll auf. Der Kommandant zeigte wie alle
Geograph Ische Blätter, Bremen 1880. 8
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Hovas den echten Malayentypus ; lange, glatte, schwarze Haare, vor-
stehende Backenknochen, gelbliche Hautfarbe und schrägstehende
Augenbrauen. Nach dem Kommandanten kamen Officiere eines
im Hafen liegenden französischen Schiffes („Marguerite d’ Anjou 4 )
und Händler an Bord, mit denen dann Rutenberg und der Kapitän
ans Land fuhren. Ein Empfehlungsbrief aus Port Louis ver-
schaffte ihnen bald freundliche Aufnahme in dem Hause eines dort
ansässigen Franzosen (Herrn Matthieu). Bei einem Spaziergange
durch das dichte Gestrüpp an der Küste fand unser Reisender mehrere
ihm bisher uubekannte Pflanzen mit prächtigen Blüten und dichtem,
dunklen Laube, auch die in Mauritius viel vorkommende casuarina
equisitifolia, eine Menge von Muscheln, die aber von der Braudung
sehr abgeriehen waren, und freute sich an dem bunten Treiben der
hier recht zahlreichen Vogelwelt. Der Kapitän hatte inzwischen mit
der Bevölkerung einen Ochsenhandel abgeschlossen und liess die
schönen kräftigen Thiere, die sich von den europäischen durch die
kurzen Beine, ziemlich eng schliessenden Hörner und den sehr hohen
Schulterbuckel unterscheiden, an Tauen durchs Wasser zum Schiff'
schleppen und hinaufzichen, wo sie dann in den mit Cocosmatten
ausgekleideten, in zwei Stockwerken übereinander liegenden Ställen
untergebracht wurden. Der Gouverneur dieses Districts (Ankaratra)
wohnte südlich von Vohemar in Ambonia, Rutenberg machte sich
daher am folgendeu Morgen (5. October) in Begleitung eines jungen,
recht intelligent aussehenden Malayen aus dein Geschäftspersonal des
Herrn Matthieu auf den Weg. Nach der Landessitte wurden die
beiden Herren von je vier Leuten in einer Sänfte (Filanzan) getragen.
Der Weg führte anfangs in südlicher Richtung längs der Küste durch
ein kleines Gehölz, dann über theils mit Gras bewachsene, tlieils
sandige Hügel in drei Stunden zu dem Flusse Manambero, dann, nach-
dem dieser auf Canots (lakka) überschritten war, mehr landeinwärts.
Die Canots sind hier gewöhnlich ausgehöhlte Baumstämme, die durch
einen an der einen Seite angehängten, etwa zwei Meter von dem
Boote entfernten Balken gegen das Umwerfen durch Wellen oder
durch die zahlreichen im Flusse hausenden Kaimans geschützt sind.
Auch in den Sümpfen zur Seite des Weges, der nun allmählich
bergan führte, sonnten sich mehrere jener unheimlichen Thiere,
während einzelne schöne Exemplare der sagUtaria sagittifolia an die
heimische Flora freundlich erinnerten. Ambonia (diese Stadt, nicht
wie auf der Petermann’schen Karte angegeben ist Vohemar, ist eine
Festung) liegt auf einem mit Büscheu bewachsenen Hügel, von
Pallisadenreihen umgeben, an den vier Ecken von Thürmen mit
Kanonen beherrscht; aber die Pallisaden sind alt und morsch, die
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Kanonen verrostet und gehören wegen ihres ehrwürdigen Alters
eher in ein Museum der Schiesswaffen als in die allerdings jetzt
gleichfalls bedeutungslosen hölzernen (!) Wartthürme. Wenn man
durch eines der Festungsthore eintritt, so sieht man vor sich eine
Menge in regelmässigen Reihen stehender, viereckiger Häuser, von
Hovas bewohnt. Sie sind aus den Stielen und Blättern der Urania
hergestellt und enthalten gewöhnlich ein Wohn- und ein Schlaf-
zimmer, in dem ersteren werden zugleich die Speisen gekocht und
der Rauch des offenen Feuers zieht durch die Thür oder die vielen
Spalten der Wände und des Daches ab. Das Haus des Gouverneurs
war abermals von einer Pallisadenreihe umschlossen, die aber auch
in Folge ihres hohen Alters von 30 Jahren sehr defect war. Am
Eingänge lag ein Baumstamm, auf welchen alle, die Se. Exellenz
sprechen wollten, sich niederlassen mussten, bis sie angemeldet
waren, was manchmal recht lange dauert, da drinnen erst Toilette
gemacht wird. Rutenberg hatte schon Tags zuvor durch einen Boten
sich anmelden lassen, so dass er bald nach seinem Eintreffen in die
dem eigentlichen Wohnhausc gegenüberliegende Empfangshalle geführt
wurde, welche mit gutem Dielenboden und einer getäfelten Decke
versehen war. Hier stand ein gedeckter Tisch mit dem landes-
üblichen Getränke: Limonade und Wermut; rings an den Wänden
sassen auf niedrigen Holzbänken «lie Leute des Dorfs, die bei der
Begriissung und Verhandlung die Corona zu bilden schienen. Ruten-
berg’s Begleiter theilten nun dem Gouverneur mit, dass der
„europäische Arzt“ das Land bereisen und den Gesundheitszustand
der Küstenplätze untersuchen wolle, um darüber nach Mauritius zu
berichten, was für die Ausbreitung des Ochsenhandels von grossem
Nutzen sein würde. Während dessen wurde Suppe, Reis und Puter-
braten herumgereicht, welche Speisen ganz schmackhaft bereitet
waren. In Betreff der militärischen Begleitung zeigte der Gouverneur,
der übrigens einen sehr günstigen Eindruck auf Rutenberg machte,
anfangs geringe Bereitwilligkeit, als aber unser Reisender sich erbot,
noch einen Tag in Ambonia zu bleiben, um die Kranken des Dorfs
zu besichtigen, erhielt er das Versprechen, dass zwei Hovakrieger
ihn auf seiner Tour nach Fassi begleiten sollten. Nach Beendigung
der Mahlzeit statteten die beiden Reisenden einem jungen Händler,
Desmarsais, einen Besuch ab, der ihnen noch einmal ein Frühstück
vorsetzte und sich nicht eher zufrieden gab, als bis sie ihm die
Ehre, an seinem Tische zu essen, angethan hatten. Am Nach-
mittage wurde Rutenberg zum Gouverneur berufen, um mit ihm die
Kranken zu besichtigen. Man setzte sich wieder im Audienzsaale
an den Tisch, aber die Bänke ringsum waren nicht mehr von
8 *
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«nissigen Zuschauern, sondern von Kranken, die von allen Seiten
herangeschleppt waren, besetzt. Rutenberg untersuchte die Patienten
so gut es ging, er fand viele Fälle von Syphilis, Wechselfieber,
Geschwüren an den Unterschenkeln und Ausschlag; nach Notirung
der Namen versprach er für alle in Nossi Bö Medicin zu kaufen.
Auch in dem eigentlichen Dorfe, das von der Hovafestung einige
Minuten entfernt liegt, wurden ihm einzelne Kranke vorgeführt;
hier war die Krankheitsursache leicht zu finden, denn obgleich
hier ebenso wie in Yohemar ein allgemeines Schlachthaus bestand,
so war doch nicht dafür gesorgt, dass die Fleisch- und Knochenreste
beseitigt wurden, so dass die Luft von einem entsetzlichen Moder-
gerüche erfüllt war. In der Nähe des Ortes fand Rutenberg neben
den Gummi- und Cocosbäumen auch den Tanginbaum, aus dessen
mandelförmiger Frucht ein starkes Gift bereitet wird. Zur Reinigung
des Gummisaftes wird von den Händlern viel Schwefelsäure ein-
geführt, während die Hauptimportartikel Rum, Leinwand, Stein-
geschirr, Tücher und Limonade sind.
Am 6. October kehrte Rutenberg in Begleitung von zwei Hovas
nach Vohemar zurück, um sich zum Marsche nach Fassi zu rüsten.
Herr Matthieu schenkte ihm einige Cocosnüsse, deren Milch noch
leichtflüssig war, da sie erst bei höherem Alter so dick wird, wie
man sie in Europa gewöhnlich findet. Der Kapitän der „Marguerite
d’Anjou“, welcher Rutenberg am Abend noch auf sein Schiff holte,
um ihn wegen der Erkrankung eines Matrosen zu consultiren, (es
war leider ein Pockenanfall), schenkte ihm zum Abschiede noch drei
Flaschen Wein nebst Biscuit.
Am 7. October, einem Sonntag, 6 Uhr Morgens, trat die kleine
Karawane, bestehend aus 2 Lastträgern, die Iiutenberg’s Gepäck, in
eine grosse Kiste gepackt, an einer dicken, aber leichten Raffia-
stange hängend trugen, 2 Ilovakriegern mit alten Feuerschloss-
gewehren und Assegais bewaffnet, einem Führer und einem Makoa,
d. h. einem befreiten Mozambiquesclaven, ihren Marsch an. Der
Makoa diente Rutenberg als Dolmetscher und Koch, da er früher
auf einem französischen Kriegsschiffe gedient hatte. Der Weg führte
anfangs südwärts in der Richtung von Ambonia durch eine Lache,
Masalak genannt, in welcher das Wasser den Wanderern bis au die
Hüfte reichte. Dann ging es in der Nähe des Meeres über grüne
Wiesen weiter, wobei ein heftiger Regenguss den von dem Sumpf-
wasser bisher noch verschonten Oberkörper nachträglich durchnässte.
Trotzdem Hess sich Rutenberg nicht hindern, Pflanzen zu sammeln
und sie einstweilen (bis zur nächsten Raststätte) in einem Bastkorbe
(Funkfunk) unterzubringen. Die Häuser, an denen er vorüber kam,
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schienen auf Stelzen zu gehen, denn der Fussboden ruhte auf
4 Pfählen, einige Fuss hoch über dem Erdboden und konnte nur
vermittelst einer Leiter erreicht werden. Als Unterlage für das
Feuer diente eine Erdschicht, welche von 3 Steinen umstellt war,
auf welchen der Kessel ruht; darüber hing in langen Streifen
geschnittenes Ochsentleisch zum Räuchern. Das aus wenigen Häusern
bestehende Dorf Masambodziu liegt am Fusse eines kleinen Berges,
Ambohi Pas, von dessen Rücken man eine freie Aussicht auf das
Meer, die Bucht von Vohemar mit den drei davor gelagerten Fels-
inseln hatte. Von hier gelangten die Wanderer in weiteren
5 4 Stunden (8Y* Uhr) zu einem grösseren Dorfe, Mehralak, umgeben
von Uraniabüschen und fruchttragenden Musapalmen, unter denen
Rutenberg eine der Aloe ähnliche Pflanze fand mit ährenförmigen
langen rotlien Blüthcn. Das Dorf enthält der Landessitte gemäss
eine Lankara, eine Ruhestätte für Fremde, ebenfalls ein hoher auf
vier Pfählen ruhender Fussboden mit schrägem Dache. Hier wurde
Rutenberg mit Reis und einem Huhu beschenkt; übrigens sind die
Lebensmittel noch ziemlich billig, denn ein Huhn kostet six pence
— sikazi, und die Tageskost an Reis für 7 Mann kaum einen Schilling.
Der Reis muss vor der Mahlzeit erst iu hölzernen Gefässen aus den
Hülsen gestampft werden und wird dann von schwarzen Thouschüsseln
gegessen. Milch ist trotz der grossen Viehzucht wenig zu haben,
angeblich, weil die Kühe nicht mehr liefern, als zur Aufzucht der
Kälber nüthig ist. Als Rutenberg hier Geld wechseln wollte, wurde
eine Wage herbeigeschafft, um die zerschlagenen Fünffrankstücke
abzuwiegen, was mit grosser Sorgfalt und wiederholtem Vertauschen
der Waagschalen geschieht.
Um 10 1 /* Uhr wurde der Marsch fortgesetzt in nordwestlicher
Richtung immer einer Thalmulde folgend, die von niedrigen Bergen
umsäumt ist. Haufen blendend weisser Steinblöcke, vom schönsten
durchsichtigen Bergkrystall bis zum schnecweissen Quarz, oft den
Marmorplatten eines Kirchhofs ähnlich, sperrten stellenweise den
Weg; rothe Sandflächen wechselten mit Wiesen und Sümpfen, die
einen schlimmen Pesthauch ausathmeten und den kühnen Wanderer
an die Gefahren des Madagaskarfiebers erinnerten. Rothe Orchideen
und blaue Nymphäen reizten den Eifer des Botanikers, aber die
immer glühender werdenden Sonnenstrahlen trieben zur Eile an.
Bergauf, bergab, um Hügel sich windend führte der Weg an
Ambanmanari vorbei nach Manacubata („viele Steine“), welcher Ort
um 1 V* Uhr erreicht wurde. Die Begleiter Rutenberg’s fanden in
der Lankara, er selbst in dem Hause eines Hova Unterkunft, der
ihn mit freundlichem Händeschütteln begrüsste, nachdem der be-
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gleitende Hovakrieger in langer Rede den Zweck der Reise ausein-
andergesetzt hatte. Ein Regenschauer trieb bald die neugierigen
Dorfbewohner in ihre Behausung zurück und Rutenberg fand Zeit,
bei dem Scheine einer Lampe, bestehend aus einer eisernen, mit
Talg und Docht gefüllten Pfanne, die mit ihrem eisernen Stiele in
ein Loch der Holzwand gesteckt wird, seine Pflanzen zu ordnen
und nach eingenommener Mahlzeit (Reis nebst gekochtem Huhn)
etwas zu lesen.
Am folgenden Morgen wurde Thee gekocht und um 6 Uhr der
Weitermarsch angetreten. Der Weg führte über einen breiten aber
flachen Fluss, Manambato, darauf durch tiefen weissen Sand in west-
licher Richtung schliesslich am steilen Bergeshange ‘weiter. Das
Wasser muss in der Regenzeit gewaltig strömen und an wachsen,
denn eine Menge in der Sommerzeit fern vom Flusse stehender
Bäume war durch Wassersgewalt «ltwurzelt und sah nun abgestorben
weiss wie bereift aus. Die grosse Zahl der Sümpfe und stagniren-
den Gewässer scheint übrigens auf das Barometer einen nachtlieiligeu
Einfluss auszuüben, denn trotzdem Rutenberg zu massigen Höhen
empor- und dann wieder in Thäler hinabstieg, änderte sich der
Barometerstand fast gar nicht.
Der Weg bog nun in das Thal des Tschampana ein, der sich
von Bäumen umsäumt durch die grüngelblichen Wiesen schlängelt,
aber in dieser Jahreszeit nur eine trag fliessende Reihe von Wasser-
tümpeln bildet. Die Richtung ist NNW. Von einer steilen Berg-
kuppe aus erblickte man ein Gewirr von bewaldeten Bergrücken,
aus denen sich schwer eine Hauptstreichungslinie feststellen liess,
denn auch die dazwischen liegenden Thäler waren kesselförmig. In
westlicher Richtung fortschreitend erreichten die schon ziemlich
ermüdeten Wanderer gegen Mittag ein Dorf, Kamateh, wo in der
Lankara Rast gemacht wurde. Nachdem die Pflanzen geordnet, die
geschossenen Vögel abgezogen, gekocht und verspeist waren, wurde
um 4 Uhr Nachmittags der Weitermarsch angetreten, an einem mit
hohem Schilf bewachsenen, von Kaimans bewohnten Sumpfe entlang
zu dem hochgelegenen Dorfe Tschahabe („Viele Quellen“), wo in der
üblichen Weise Ansprache und feierliche Begrüssung stattfand.
Das häufige Steigen und Sinken des Weges wirkte besonders auf
die Hovakrieger sehr erschlaffend und machte sie immer häufiger zu
Ruhepausen geneigt, namentlich wenn sich eine zum Baden geeignete
Wasserfläche zeigte. Auf den folgenden Tagesmärschen bot das
allmähliche Auftreten von Fächerpalmen, namentlich der imposanten
ltaffia, deren Blätter 6—9 Meter lang werden (die einzelnen Federn
je 7 Centimeter lang) dem Auge einige Abwechselung. Der Bast
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dieses Baumes, welcher zwischen der äusseren hornartigen Decke
und dem harten Holze sitzt, wird vielfach .von den Eingebornen
gegessen. Von den Fächerpalmen kommen dort hauptsächlich zwei
Arten vor, von denen die eine, gewöhnlich grösser und stämmiger,
elliptische Früchte trägt, während die andere Art stachlichte Blatt-
stiele und birnenförmige Früchte hat. Auf dem Weitermarsche nach
Westen traf Rutenberg an einem Bache einen Baum, der dicht über
den breiten Wurzelknorren 6 V 4 Meter im Umfang mass. Vor diesem
Baume waren kleine Fahnen, d. h. Stücke von baumvollenem Zeug
au Stangen befestigt, aufgestellt, nach Aussage der Hovas, um da-
durch die himmlischen Geister günstig zu stimmen. Prächtig gefärbte
Eidechsen, Papageien und ein Chamäleon schienen übrigens diese
heilige Stätte besonders zu ihrem Tummelplätze ausersehen zu haben.
Der Weg windet sich nun durch hügeliges Terrain, im Süden
von höheren, vielgipfligen Bergreihen begrenzt, nach Anduinakumba,
dessen Bewohner sich besonders durch den sorgsam ausgeführten
landesüblichen Haarputz auszeichneten, der selbst einen französischen
Haarkünstler gewiss in Verlegenheit gesetzt haben würde: die
Frauen und selbst die Männer scheiteln nämlich ihr Haar kreuz
and quer, und flechten es dann in etwa 30 — 50 ungefähr 7 — 10
Centimeter lange Zöpfe, so dass diese Haartracht von weitem wie
eine eigeuthümliche Kopfbedeckung aussah. In Trauerfälleu werden
die Flechten aufgelöst. Mehrere flache aber breite Flüsse durch-
brechen in nordwestlicher Richtung die ziemlich direct ostwestlich
streichenden Bergzüge, von denen der eine, Manan Dsebe, etwa
eine Tagereise nördlich von Fassi in’s Meer fällt. Das Terrain
wechselt zwischen kahlen Ilöheuzügen und mit Buschwerk bestandenen
Senkungen, die südlichen Bergketten Fiheta und Andrahari mögen
900 bis 1200 Meter ansteigen, während die nördlichen Züge niedriger
zu sein scheinen, aber theils durch schroff abfallende Felspartien,
theils durch das dunkle Laub niedriger Waldbäume einen malerischen
Anblick gewähren. Aber die Hoffnung, bald das Meer uud damit
das Ziel der Reise, Fassi, zu erblicken, wurde immer wieder getäuscht,
denn ein Höhenzug reihte sich an den anderen und keiner stieg so
bedeutend empor, dass man eine weite Umschau haben konnte. Die
Träger und die Soldaten machten immer häufiger Rast, so dass man
nur in sehr kurzen Tagemärschen weiterkam. Eines Tages erblickte
Itutenberg Leute, die, wie es schien, auf einem Jagdzuge begriffen
waren, aber bei seinem Anblick eilends Kehrt machten. Bald darauf
tauchte vor ihm eine grössere Menschengruppe auf. Rutenberg
machte sofort Halt und sandte einen Hova vorauf, um zu erfahren,
was das zu bedeuten habe. Bald kam der Bote zurück und berichtete,
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dass der Kommandant von Mahawave, der gerade auf einer Reise
begriffen sei, den „weissen Doctor“ zu begrüssen wünsche. Im
feierlichen Schritt näherte sich nuu die Gruppe : voran der Kommandant,
ein kleiner Mann in gelben Beinkleidern, roth und gelb gesteifter
Jacke und roth und weiss gestreiftem Hemd gekleidet, das Haupt
bedeckt mit einer ziemlich verblassten Kapitänsmütze, Rutenberg
ging ihm entgegen, reichte ihm die Hände hin und hörte sich
plötzlich mit „mon ami“ anreden. Ein Trommler begann hierauf
die Schlägel zu rühren, die Soldaten traten in Reihe und Glied und
ein Officier Hess einige Gewehrgriffe machen, darauf präsentiren,
wobei die übrigen Anwesenden die Hüte abnahmen. Darauf marschirte
die Truppe ab, vorauf der Kommandant im Palankin sitzend einen
zierlichen, mit Perlenschnüren behängten Sonnenschirm in der Hand.
Rutenberg musste ihm in das nächste Dorf, Antua, folgen, um dort
als sein Gast zu übernachten. Hier musste er zunächst unter einem
schnell improvisirten Zeltdache au der Seite seines Wirthes auf
einer Matte sitzend einer grossen Versammlung beiwohnen, dann
wurde ihm ein Haus angewiesen, in welchem er sich so gut es ging,
seine Schlafstätte einrichtete. Beiläufig erwähnt hier Rutenberg der
originellen Art, wie sich die Eingeborneu zu einer Reise ausrüsten.
Geld, Wasser und pulverisirter Kautaback sind die nothwendigsteu
Bedürfnisse zur Reise, und während sie die beiden letzteren in
Ochsenhörnern, deren spitze Enden mit Holzstöpseln verschlossen
werden, aufbewahren, wird das erstere unter der Lamba, dem grossen
baumwollenen Umschlagetuche (meist das einzige Kleidungsstück)
in dem Hüfttuche aufbewahrt.
Am folgenden Tage (13. October) wurde Fassi an der Nord-
westküste erreicht. Grosse salzige Moraste hatten schliesslich noch
vielfach den Weg versperrt, und als nun gar der Kommandant mit
der üblichen feierlichen Einholung zögerte, war Rutenberg ohne
Weiteres seinen zur Anmeldung vorausgesandten Hovas gefolgt und
fand den Kommandanten mit den Aeltesten des Dorfes in der
Laukara versammelt; zwei Stühle waren herbeigetragen und während
der Kommandant, der übrigens früher Krankenwärter in Nossi Bo
gewesen war, sich auf dem einen niederliess und Rutenberg unter
freundlichem Händeschütteln auf dem anderen Platz nahm, wurde
Wasser (!) herumgereicht und nach der weitläufigen Auseinander-
setzung über den Zweck der Reise verabredet, für den folgenden
Nachmittag ein Boot zur Ueberfahrt nach Nossi B6 zu beschaffen.
Des Tags über blieb daun Jeder der brennenden Sonnenstrahlen
halber in seiner Behausung, am Abend aber nahm mau ein gemein-
schaftliches Bad in dem kleinen Flusse Fassi. Beiläufig muss hier
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erwähnt werden, dass die Ortschaften in Madagaskar häufig dieselben
Namen tragen, wie die Flüsse oder Berge, bei denen sie liegen.
Als Rutenberg am folgenden Nachmittage nach dem nur eine Stunde
entfernten Dorfe Talimandi ging, um dem Versprechen gemäss mit
dem Schiffe eines arabischen Händlers nach der kleinen Insel Nossi
Be überzusetzen, erklärte dieser, nicht mehr abfahren zu können,
und bot unserem enttäuschten Reisenden ein Nachtlager unter einem
Mückenzelte an, das allerdings Schutz vor dieser Landplage bot,
aber durch die darunter sich entwickelnde grosse Hitze keinen an-
genehmen erquickenden Schlaf verschaffte. Hatte Rutenberg früher
immer geglaubt, dass Fassi am Meere läge, so sah er sich jetzt
getäuscht, denn er musste noch reichlich einen halben Tag auf den
vielfach gewundenen Mündungsarmen des gleichnamigen Flusses da-
hinfahren, ehe er die See auch nur von ferne sehen konnte. Das
Schiff war wieder ein ausgehöhlter Baumstamm mit einer weit ab-
stehenden Balancirstange zur Seite; es wurde meist von vier Mann
gerudert, da bei den häufigen Krümmungen des Flusses das Segel
wenig zu gebrauchen war. Die Ufer waren von Schilf und Bäumen
bestanden, in denen schönfarbige Enten, grosse Adler und andere
Vögel schaarenweise sassen, aber auch Kaimans in grosser Zahl
hausten. Um 11 Uhr wurden die geschossenen Enten am Ufer ge-
braten und Reis gekocht, wobei grosse Blätter und eine halbe
Kürbisschale als Teller dienten und aufgerollte Blätter und Krebs-
schalen die Löffel vertraten. Endlich gegen Abend erreichte man
das offene Meer, da aber die Fluth noch uicht hoch genug gestiegen
und der Wind ungünstig war, musste noch einmal der Anker aus-
geworfen werden. Die Luft war angefüllt von grossen Mücken-
schwärmen und mit lautem Geschrei flogen Schaaren „fliegender
Hunde“ über den Köpfen der ungeduldig auf güustigen Fahrwind
Harrenden dahin. Das während der Ebbezeit vom Wasser entblösste
Land war von zahllosen Wasservögeln bedeckt, die im Schlamme
ihre Nahrung suchten. Gegen 9 Uhr Abends frischte der Wind auf
und der Versuch zum Weiterkommen wurde gemacht, aber gegen
Morgen gerieth das ziemlich tiefgehende Boot wieder auf Grund und
vergeblich suchten die Iusassen es weiter zu schieben und zu schleppen.
Endlich begann man einen Graben durch deu Lehm aufzuwerfeu, bis
das Meer sich der Gestrandeten erbarmte und eine tüchtige Fluthwelle
das Schiff wieder flott machte. Unglücklicherweise ist aber der Tagwind
ein Südwester, so dass die Fahrt nur mühselig mit schwerem Rudern
von statten geht. Ja die Schiffer lenkten sogar nach einiger Zeit wieder
in eine Flussmündung (Bassueni) ein, um bei dem eine Stunde strom-
aufwärts liegenden Dorfe Pompomena ihren Hunger und Durst zu stillen.
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Zum Glück lag hier ein anderes Araberschiff, dessen Führer ihnen
Reis und Fische gab, während ein Negerjunge für Rutenberg eine
eigenthümliche Art von Fischen sammelte, die ihre langen Flossen auf
dem sumpfigen Ufer wie Springstöcke benutzten. Gegen 9 Ulu-
Abends trat wie gewöhnlich in diesen Breiten günstiger Fahrwind
(für die Zanzibarfahrer) ein und trieb das Schiff hinaus bis zu der
flachen Insel Nossi Fali, südöstlich von Nossi Be (= grosse Insel).
Gegenüber liegt Nossi Cuuiba, das wie Nossi B6 den Franzosen
gehört und von einem Gouverneur verwaltet wird. Der Hunger
hatte abermals die Schiftenden zur Landung auf Nossi Fali gezwungen,
wo sie Reis abkochteu und von den französisch redenden Ein-
geborenen Eier und Bananen erhielten. Während dessen war es
aber wieder Abend geworden und der Gegenwind hatte die Herrschaft
erhalten. Trotz der Warnung eines Insulaners vor nahem Sturm
trieb Rutenberg zur Weiterfahrt und anfangs ging es auch ganz
gut von statten, bald aber brach der Sturm los und die Kraft der
Ruderer erlahmte. So musste man sich abermals zur Landung
bequemen und während die Ruderer sich ein Plätzchen zum Ruhen
suchten, machte unser unermüdlicher Reisender den Versuch, ein
Bild von der Landschaft auf dem Papiere zu entwerfen, doch gelang
es ihm seinem eigenen Geständnisse nach nur mässig, da das
Charakteristische dieser Gegend, die Baum- und Blattformen, sein-
schwer zu fixiren waren: die oft sehr grossen Blätter der strauch-
artigen Mangroven, die weit aufragenden, scheinbar erstorbenen
Aeste von einzelnen Baumriesen mit wenigen Laubbüscheln an den
äussersten Spitzen versehen, die schönen runden Kronen der dicht-
belaubten Mangobäume, deren herrliche Früchte der Reife nahe
waren, die prächtig geformten „Wandererbäume“ (Urania) und die
grossen scharlachrothen Blüthenstauden einzelner Büsche geben der
Landschaft einen eigenthümlichen Reiz. — Doch endlich konnte die
Fahrt fortgesetzt werden, die nun schon vier Tage andauerte,
während nach der Karte die Entfernung von Fassi nach Helleville
auf Nossi B6 kaum 8 — 4 Stunden zu betragen scheint. Nach einer
mühsamen Fahrt längs der Küste, zwischen grossen Steinen hin-
durch, sah man endlich um eine Ecke biegend den Hafen von Helle-
ville vor sich: links einen Hügel mit einer Signalstauge, rechts in
dunklen Umrissen die Häuser, im Vordergründe Dampfer und kleine
Böte. Da aber der Wellenschlag ziemlich stark war und die Leute
behaupteten, nach 6 Uhr Abends dürfe kein Boot in den Hafen ein-
fahren, so landete Rutenberg unterhalb der Hafenmauer und eilte
bei einbrechender Dunkelheit an verschiedenen Hütten vorbei auf
ein grösseres, im europäischen Stile erbautes Haus zu. Als er in
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den Hof eintrat, fuhren ein paar Hunde auf ihn los, wedelten aber
bei seinem Näherkommen mit dem Schweife, „weil er ein Europäer
war“, wie später die Hausbewohner scherzhaft behaupteten; ein
Diener führte ihn darauf in das Haus, das — ein glücklicher Zufall
für unsern ermüdeten Reisenden — der Hamburger Firma Oswald
gehört, an die er Empfehlungsbriefe abzugeben hatte. Dies Ham-
burger Haus besitzt hier ein grosses Areal, auf welchem Geschäfts-
haus und Wohnhaus, die Magazine, eine Reismühle und eine Anzahl
Hütten für die Arbeiter errichtet sind. Das kleine Dorf führt nach
dem benachbarten bewaldeten Berge den Namen Lukubö (grosser
Wald) und bildet eine Vorstadt von Helleville.
Trotz der anstrengenden Reise von Vohemar nach Fassi und
Helleville wollte unser rastloser Wanderer so schnell als möglich
weiter nach Majunga an der Westküste von Madagaskar fahren,
um von hier aus in das Innere der riesigen Insel vorzudringen.
Er eilte daher am andern Morgen in die Stadt, um zu erfahren,
ob grade ein Schiff dorthin abginge, da aber weder ein Dampfer
uoch ein Araberboot in den nächsten Tagen in dieser Richtung fuhr,
so entschloss er sich zu warten, was ihm um so leichter wurde, als
er nach langer, langer Zeit einmal wieder deutsche Gastfreundschaft
geniessen und an den Klängen der heimischen Sprache sich erfreuen
konnte. Lukubö liegt höher und ist weniger vom Fieber heim-
gesucht als das gegenüberliegende Helleville, das seinen Namen von
einem Gouverneur Helle, nicht, wie ein Engländer scherzend sagte,
von hell (Hölle) hat; doch macht diese Stadt im Uebrigen einen
ganz freundlichen Eindruck. Von dem Hafendamme, der an dem
Kopfe eine Petroleumlampe trägt, gelangt man an einem kleinen
Depot vorbei zu dem grossen Geschäftshause Roux de Freycinet;
eine hübsche Allee von Mangobäumen führt zur poste aux lettres
und zur Apotheke, wo Rutenberg seinem Versprechen gemäss die
Medicin für seine Patienten in Ambonia einkaufte. Weiter folgt
eine Kirche der Jesuitenmission, eine Kaserne und schliesslich
mehrere Reihen Häuser, von hübschen Gärten umgeben. — Diesem
europäischen Stadttheile gegenüber liegt terrassenförmig aufsteigend
die schmutzige Araberstadt, Ambanura. Mit dem Namen Araber
scheint dort übrigens ein grosser Missbrauch getrieben zu werden,
denn Hindus und die Bewohner der Comoren werden, wenn sie
Muselmänner sind, einfach Araber genannt. Die Haupthandelsartikel
sind auf Nossi Be wie auf Mauritius Zucker, Häute, die besonders von
den Sakkalaven an der Südwestküste Madagaskars durch Hindus
bezogen werden, ferner verschiedene Arten Holz, namentlich Eben-
holz, endlich Kautschuk.
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B. Von Nossi B<$ nach Antananarivo.
Leider muss hier vorausgeschickt werden, dass in dem folgen-
den Tlieile des stenographisch und zwar häufig mit Bleistift ge-
schriebenen Tagebuches Manches unleserlich ist, so dass es selbst
dem grossen Geschick des Herrn Registrator Heusinger in Gotha,
welcher auf Veranlassung des Herrn Dr. Lindeman die Uebertragung
der Stenographie in die gewöhnliche Schrift übernommen hat, nicht
gelungen ist, alle fraglichen Puncte zu entziffern. Ich sah mich
daher gezwungen, in meiner Bearbeitung einzelne Partien summarisch
zusammenzufassen, um den Verlauf der ganzen Reise möglichst über-
sichtlich darzustellen.
Am 24. October 1877 war endlich ein Dampfer mit Fracht
nach Majunga (Madzanga) in Helleville eiugetroffen und sollte am
folgenden Tage seine Reise fortsetzen. Rutenberg besorgte daher
eilends die nöthigen Einkäufe, erbat sich vou Herrn de Gallembert
ein Empfehlungsschreiben an den französischen Consularagenten
Mr. Martin in Majunga und ging Abends an Bord, wo er einen
Engländer, Mr. Proktor, antraf, der einen befreundeten Missionar in
jener Stadt besuchen wollte. Am folgenden Morgen lichtete der
Dampfer die Anker und fuhr durch die Bucht von Passaudava,
welche durch eine von Süden her weit vorspringende Landzunge
Madagaskars gebildet wird, sodann durch eine Gruppe kleiner Inseln
in das offene Meer hinaus. Doch bald näherte er sich wieder dem
Lande und erreichte am 26. oder 27. October (das Datum ist in
dem Tagebuche nicht angegeben) Majunga au der Bembetukabai.
Hier war noch Alles in festlicher Aufregung, da wenige Tage zuvor
(am 23. October) das malagassische Neujahrsfest gefeiert war.
Majunga besteht, wie die meisten malagassisehen Städte, aus
einer Festung der Ilovas auf einem Berg liegend und der eigent-
lichen Handelsstadt der „Araber“ an der Küste, umgeben von schönen
Mangobäumen. Ein grosser Theil der Bewohner besteht aus Makoas
(befreiten Mozambiquesclaven), die in zierlichen, aus Palmen-Blättern
und -Rippen erbauten Häusern wohnen. Doch hat die Stadt ein
ziemlich ruinenlniftes Aussehen, da in Folge der Aufhebung der
Sclaverei die Sakkalaven die früher hier angesiedelteu Araber ver-
trieben und ihre Häuser zum Theil zerstört haben.
Am 28. October setzte Ruteuberg auf einem Segelboote seine
Fahrt auf der Bembetukabai fort, fuhr dann in einen der beiden
Mündungsarme des Marowayflusses ein und gelangte so am 30. Octo-
ber zur Festung Maroway, die eine grosse Anzahl Kanonen ohne
Lafetten aufzuweisen hatte. Nachdem Rutenberg hier durch Ver-
mittelung des IIova-Kommandauten vier Träger, zwei Soldaten und
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einen französich sprechenden Diener, Jean Briton, angeworben und
am Abend noch an einem Tanzvergnügen nebst Abendessen bei’m
Kommandanten Theil genommen hatte, trat er am 1. November
9 Uhr Morgens mit seinen Leuten den Marsch in das Innere von
Madagaskar an. Nach dreiviertelstündiger Wanderung in südlicher
Richtung durch Zuckerpflanzuugen überschritt er den Maroway,
dessen Ufer ausserordentlich sumpfig waren, und gelangte bei einem
heftigen Gewitterregen nach Ambohihani, wo er übernachten musste.
Ara folgenden Morgen ging es weiter über eine weite Ebene, theils
Ochsenweide, theils Sumpf, bis endlich niedrige Palmen, strauchartige
Pflanzen und schliesslich ein Wald die Wanderer in seinen Schatten
aufnahm ; docli dauerte diese Annehmlichkeit nicht lange und durch
ausgetrockucte Bäche und über sandige Höhenzüge gelangten sie
nach Ntambunzy, das von ausgedehnten Reisfeldern umgeben ist.
Der Kommandant, dessen Wohnung durch eine doppelte Umzäunung
befestigt ist, empfing den „weissen Doctor“ sehr höflich und ersuchte
ihn, den Kranken seine Hülfe angedeihen zu lassen, wofür er ihm
eine Wage, Bananen, Hühner, Reis und Milch schenkte, während die
Kinder des Dorfes eifrig für kleine Geldspenden Käfer, Schmetter-
linge, Spinnen und Eidechsen sammelten. Am 4. November wurde
der Marsch in südöstlicher Richtung fortgesetzt. Als man um Mittag
auf stark schwankender Lakka den Kamurifluss, der von zahlreichen
Kaimans unsicher gemacht wird, überschritten hatte, machte sich
plötzlich, während Rutenberg mit der Säuberung seiner Vorraths-
kiste von Ameisen beschäftigt war, einer der Träger aus dem Staube,
vielleicht aus Furcht, da hier schon das unsichere Saccalavengebiet
beginnt. Doch unser Reisender lässt sich dadurch nicht irre machen
und zieht durch die weite Ebene, welche sich vor ihm ausbreitet,
rüstig weiter, bis er am Nachmittag 5 Uhr eine allem Anscheine
nach erst kürzlich angelegte Ilovafestung, mit doppelten Pallisadeu
bewehrt, auf einer kleinen Anhöhe erreichte, deren Kommandant ihn
feierlich in sein Haus führte und befahl, Alles zu einem Gottesdienste
zu rüsten, weil er annahm, dass der Ankömmling ein Missionar sei.
Die Begleiter Rutenberg’s wurden jedoch immer schwieriger, er
musste schliesslich auch seinen Koch entlassen, ja am 5. November
sogar Allen den Laufpass geben. Er miethete sich kurz entschlossen
zwei neue Träger für sein Gepäck und setzte unverzagt seinen
Marsch fort. Zahlreiche hohe, schlanke Palmen und einzelne strauch-
artige Gewächse hindern die weitere Aussicht, bis am Nachmittag
ein hoher Sandhügel einen Ausblick über den Palmenwald hinweg
auf das ferne Gebirge gestattet. Die nächste Raststätte ist Ambala-
sanakumbe, ein mit Pallisaden umgebenes Dorf, das ziemlich armselig
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ist, denn die Häuser haben meist nur ein Gemach, in welchem alle
Hausbewohner und der Gast des Nachts gemeinsam sich auf den
Boden hinstrecken, nur die Blechkoffer mit Vorlegeschlösse™, Gewehr,
Blechgeschirr, einige Flaschen, Spiegel, Dinte, Feder und Papier
erinnern an europäische Industrie. Eigenthiimlich ist die Sitte, an
den Dachfirsten die Balken ähnlich zu kreuzen und mit Holzschnitzerei
zu verzieren, wie es an unseren sächsischen Bauernhäusern gebräuch-
lich ist, nur mit dem Unterschiede, dass die Schnitzerei nicht Pferde-
köpfe vorstellen soll. Die Flora ist in dieser Gegend dürftiger, nur
einzelne Wasserrosen schwimmen auf den kleinen Gewässern, da-
gegen zeigt sich ein grösserer Reichthum an Vögeln, Käfern und
Schildkröten, und auf den grossen Grasflächen weiden sehr scheue
Itinderheerden. Kleine Bäche durchkreuzen häufig den Weg, die
wohl sämmtlich in den Betsibuka sich ergiessen. In ihrer Nähe
wachsen vorzugsweise die Fiederpalmen, während die Fächerpalme
auch auf steinigem Boden fortkomint. In der folgenden Nacht
mussten sich die Wanderer mit einem Quartier in einigen verlassenen
Hütten an einem Bache, Ampatulampikely, einem Nebenflüsse des
Manumbatumbe, begnügen, nachdem sie in dem kühlen, wirklich
strömenden Wasser die müden Glieder durch ein Bad erquickt hatten.
Am folgenden Morgen erreichten sie nach einem zweistündigen
Marsche den „Königinberg“ (Ambatumansako), auf dessen Spitze
mehrere kleine Steinhaufen als Denkmale früher dort gemordeter
Wanderer nach der Landessitte zum stillen Gebet mahnten, nach
dessen Verrichtung jeder einen Steiu dem Haufen beifügte. Unser
armer Freund abntc damals nicht, dass noch vor Ablauf des nächsten
Jahres ihm das gleiche Schicksal bereitet werden würde, und dass
ein anderer kühner deutscher Reisender den mohamedanischcn Brauch
auch zu seinem Gedenken erfüllen müsste. Am Fusse dieses Berges
entspringt der obenerwähnte Manumbatumbe und strömt in einem
hübschen schattigen Thale nach Nordost. An Stelle der Fächerpalmen
treten jetzt mehr und mehr die Fiederpalmen und Urania hervor,
und statt der im Norden häufigen Tümpel und Teiche fliessen Bäche
vielfach gewunden durch liebliche Thäler dahin. Der Boden steigt
allmählich immer mehr an, je mehr mau nach Osten vordringt und
sich dem Hauptgebirgszuge in diesem Tlieile der Insel, dem Nainaki,
nähert. Gras, theils verdorrt, theils abgebrannt, theils im jungen
Grün prangend, bedeckt die Flächen imd verdrängt die sandigen
Ebenen. Neue Baumarten treten hervor: Raffia, aus dessen Bast
Vorhänge, selbst Gewänder gemacht werden, Areca, der kandelaber-
förmige Pandanus und Bambus. Die Marschrichtung ist vorherrschend
südöstlich, wobei immer neue Parallelketten des Gebirges auftauchen.
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Endlich ist die Höhe des Tamaki erreicht, der Weg wird steinig
und beschwerlich, dafür die Aussicht um so lohnender. Der Zu-
sammenfluss der beiden Hauptströme in dieser Gegend, Betsibuka
und lkiopa, ist deutlich zu erkennen, in der Nahe entspringt der
Kamuri, weiter östlich, durch eine Gebirgskette getrennt, fliesst der
Sinko. Während Rutenberg diese imposante Landschaft noch be-
trachtete, näherte sich ein Zug weissgekleideter Frauen und Männer,
um ihn feierlich in ihr Dorf Antungodrazana einzuholen. Nach herz-
licher Begrüssung, Händedrücken und langen Reden geht es unter
Gesängen in das Dorf, das rings von gelblich blühenden Cactus-
wäldern und einem neuen Pallisadenzaun umgeben ist. Da der
Hovakommandant gerade abwesend ist, so führen Ofticiere unseren
Reisenden in das ihm zur Raststätte bestimmte Haus, wo noch ein-
mal eine feierliche Unterredung stattfindet mit der üblichen Frage,
ob zu Hause Alles wohl sei. Darauf wurde ihm ein Schwein zum
Geschenk gebracht; die Schweinezucht scheint hier der Haupterwerbs-
zweig zu sein; das Entree der Häuser ist daher gewöhnlich der
Schweinestall, der aber ziemlich sauber gehalten wird. Die Thiere
sind meist schwarz oder schwarz und weiss gefleckt. Auch in jenem
Dorfe hielt man Rutenberg für einen christlichen Missionar und
wollte ihn zur Predigt in die Kirche führen. Am Abend kamen die
Ofticiere mit Musikinstrumenten, Violine, Harmonika und Trommel,
und führten ein wunderliches Concert auf, bis ein heftiges Gewitter
dem Treiben ein Ende machte. Am folgenden Morgen traf der
Kommandant ein, und durch seine Vermittelung erhielt Rutenberg
drei Soldaten als Träger, freilich schliesslich zu einem höheren Preise,
als anfangs verabredet war. Dagegen hatte am Abend vorher der
Diener Rutenberg's, Jean Briten, den Wunsch geäussert, in dem
Orte zu bleiben oder nach Majunga zurückzukehren, er war auch
am folgenden Morgen verschwunden, stellte sich jedoch später in
einem höchst jammervollen Zustande wieder ein und that Alles, was
ihm geheissen wurde, ohne mit einer Silbe seines Wunsches ferner
Erwähnung zu thun. Der Weg führte nun in einer flachen Thal-
mulde zur Quelle des Kamuri, welche auf einer mit jungem Gras
bedeckten, etwa zwei Stunden breiten Hochebene liegt. Am östlichen
Rande des Plateaus angelangt, eröffnet sich ein neuer Blick auf die
Gebirgsformatiou der Insel. Eine lange, kahle Bergkette dehnt sich
in nordsüdlicher Richtung aus, deren gerade Conturen im Norden sie
als Ränder höherer Hochebenen erkennen lassen, während im Süden
mehrere Bergreihen hinter und über einander hervortreten. Der
Wasserreichthura ist hier durch Anlegung von Berieselungsgräben
für den Reisbau nutzbar gemacht und Bananenpflanzungen geben
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(len Dörfern ein freundliches Ansehen. Doch war unseren Reisenden
der durch die grade im November herrschende Regenzeit bedeutend
erhöhte Wasserstand der Bäche und Flüsse manchmal störend, wenn
kein Dorf und keine Lakka in der Nähe war und die Träger keine
gute Furt auffinden konnten. Aber auch hier bewährte sich das
Sprüchwort fortes fortuua adiuvat, denn als Rutenberg durch die
Erzählungen einiger Bewohner von Killiloa besorgt gemacht war.
dass es ihm für die nächste Zeit nicht möglich sein würde, den
nahen grösseren Fluss Mazainba zu überschreiten, traf es sich, dass
der Kommandant denselben Weg (nach Ambatumansaka) zu machen
genöthigt war, und dessen Leute kannten eine Furt, durch die man,
wenn auch bis an die Brust im Wasser watend, das jenseitige Ufer
erreichte. Der Hova erwies sicli auch später als ausserordentlicli
zuvorkommend, denn er beauftragte einen Mann aus dem nächsten
Dorfe, Rutenberg weiter zu führen ; derselbe versuchte zwar anfangs
während der Wanderung durch ein Schilfdickicht zu entweichen,
erfüllte aber, als er von Jean eingeholt und mit der Pistole bedroht
war, seine Aufgabe auf das beste. Der kleine, aber tiefe Fluss
Kelilali veranlasste einen längeren Aufenthalt, da keine Furt zu
finden war und deshalb ein Baum gefällt werden musste zur Her-
stellung einer fliegenden Brücke. Dabei brach ein gewaltiger Regen
los, der die ermüdeten und hungrigen Reisenden völlig durchnässte.
Erst spät Abends kamen sie in dem grossen Sakkalavendorfe Ampandri
an, wo sie gastliche Aufnahme fanden. Am Eingänge des Dorfes
stand ein grosser, mit einem Laken umwickelter Stein, unter welchem
ein Geheimmittel vergraben war, das feindlichen Angriff abwehreu
sollte. Nicht weit davon war ein hoher Pfahl mit einer Art Laterne
aufgerichtet, bei welchem sich die Sakkalaven jährlich einmal ver-
sammeln sollen, um für die Todten zu beten und ihre Schatten zu
beschwören, damit sie die Lebenden nicht heimsuchen. Der Weg
wird immer beschwerlicher, Sümpfe und Bäche und steile Bergrücken
wechseln mit einander ab, dabei fällt häufig Regen, so dass schliess-
lich selbst die Kräfte unseres muthigen Wanderers erlahmten uud
er sich von seinen Leuten bewegen liess, in dem Dorfe Amparafara-
vola einen Tag zu ruhen. Dieses Dorf hat wieder einen Hova-
kommandanten, der in einem dreifach verschanzten Hause residirt.
Etwas abseits davon stand ein aus Lehm gebautes Haus, eine Schule,
der Lehrer konnte etwas englisch sprechen, holte seine Wandkarten
von Europa und Asien herbei und liess sich von Rutenberg die Lage
von Bremen zeigen. Auch hier waren an allen Ausgängen des
Dorfes Pfähle mit Blechkasten oder Ochsenschädeln aufgestellt als
Schutzwehren gegen Feinde. Die Gegend ist hier sehr sumpfig und
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es kam daher nicht selten vor, dass auf dem Weitermarsche plötz-
lich einer von den Leuten bis an die Knie in den Morast versank,
wenn er von den als Brücken benutzten Baumstämmen hinabstürzte.
Der Weg bis zum nächsten Dorfe war lang und schon ging die Sonne
unter, aber der Mond beleuchtete hell den feucht schimmernden
Boden. Endlich um 8*/» Uhr Ahends langten die Reisenden in dem
von hohen Cactus umgebenen Dorfe Ambohitsanhari an, wo der
Kommandant, bekleidet mit einem schwarzen Rocke, an welchem
silberne Frankenstücke die Stelle von Knöpfen vertraten, sie feier-
lich empfing. Ein Feuer aus Sera-Sera (getrockneten Binsen) wurde
unter einem grossen Kessel angemacht und beim Theetrinken erzählte
der Kommandant auch von seinen Wanderungen durch die Umgegend.
Am folgende!) Morgen beorderte er einen Dorfbewohner als Führer,
der aber bald, nachdem sein Herr fortgegangen war, sich ebenfalls
aus dem Staube machte und trotz der energischen Verfolgung und
Bedrohung nicht zum Mitgehen bewegen liess, so dass schliesslich
durch Vermittelung eines Officiers ein anderer Führer gesucht wer-
den musste. Das Land ist hier, wie schon bemerkt, ausserordentlich
sumpfig, die Häuser liegen auf kleinen Anhöhen weit zerstreut, zahl-
lose Mücken belästigten die Reisenden bei Tag und Nacht, trotzdem
geht es rüstig zum Alaotrasee, der am 18. November erreicht wurde.
Eitie grosse Lakka ohne Balancirbalken, dem Kommandanten gehörig,
wird bestiegen, und die Fahrt geht bei auffrischendem Winde quer
über den See in südöstlicher Richtung. Am Nordende biegt das
Seeufer weit nach Osten aus und lässt hier Raum für eine Insel;
ein kleiner Bach, Ngungi, bei Ambohitsanhari entspringend, mündet
ihr gegenüber, während ein Abfluss, Mananguru, östlich lliessend, bei
Vohimassy in das Meer fällt. Nach einer Fahrt von 5 U Stunden wird das
südöstliche Ufer der Bucht in der Nähe einer Häusergruppe Ambohitsua
am Fusse der Anrumbaberge erreicht. Der Sakkalavenhäuptling machte
anfangs Schwierigkeiten bei der Beschaffung einer anderen Lakka,
liess sich aber schliesslich durch Geschenke dazu bewegen. Auf dem
See schwimmen Elodea-ähnliche Blattpflanzen mit zahlreichen kleinen
Blüthen, die wie Schimmel aussehen, am flachen Westufer erhebt
sich dichtes Schilfgebüsch, aus welchem zuweilen ein Kaiman ver-
wundert seinen Kopf heraussteckt und eine Menge Vögel erschreckt
auffliegen. Allmählich beginnt der Wind heftiger zu wehen, der
Bootsmann wird ängstlich und will landen, aber Rutenberg zwingt
ihn zur Weiterfahrt, da trotz der Menge von einzelnen Häusern und
Dörfern keine andere Lakka am Ufer zu entdecken war. Das Ufer
ist rings von Schilf, gelb blühenden Akazien und vielen Wasser-
pflanzen dicht besetzt, und davor schwimmen im Wasser Nymphäen, .
Geographische mittler, Bremen 1860. 9
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Potamogeton und Elodea-ähnlicbe Pflanzen, die das Landen sehr
erschweren. So fahren denn die lleisenden möglichst nahe dem
Ostufer entlang, das zahlreiche Einbuchtungen hat, so dass das Vor-
dringen nach Süden nur langsam von statten geht, zumal da kein
Segel im Schiffe anzubringen ist und die kurzen, schmalen, schaufel-
förmigen Ruder zum raschen Vorwärtskommen nicht geeignet sind.
Bei Sonnenuntergang, als man gerade eine vorspringende Landzunge
umfuhr, wurde der Wind stärker und kälter und trieb das Schiff
weit in den See hinaus und Rutenberg griff selbst zum Ruder, um
sich die nöthige Körperwärme wieder zu verschaffen, die ihm seine
wollenen Decken nicht mehr boten. Endlich um 10 Uhr Abends,
nachdem schon einige Male vergebens den Pflanzengürtel des Ufers
zu durchdringen versucht war, stiess man auf einen aus schmalen,
parallellaufenden Hölzern hergestellten Fischkasten und vernahm vom
Ufer Hundegebell; durch Flintenschüsse wurden die Bewohner der
nahegelegenen Hütten herbeigerufen, dann das Boot durch den tiefen
Schlamm an das Land gezogen und endlich 12 Uhr Nachts konnten
die ermüdeten Seefahrer einen warmen Imbiss zu sich nehmen, der
über brennendem Kuhdünger bereitet war. Von hier, wo die Süd-
spitze des See’s nicht mehr fern war, ging es am folgenden Morgen zu
Fuss anfangs an dem allmählich höher steigenden Berghange, dann
durch Reisfelder und Sümpfe in südlicher Richtung nach Ambaton-
Drazaka, wo ein englischer Missionar, Mr. Pearse, mit seiner Frau
und seiner kleinen Tochter seit zwei Jahren angesiedelt ist. Die
Herstellung der Wohnung auf einer Anhöhe (der Platz kostet jähr-
lich drei Dollars Miethe) hatte grosse Schwierigkeiten bereitet, da
die Dorfbewohner trotz strengen Befehls des Gouverneurs kaum zu
Handlangerdiensten zu bewegen waren und Mauerleute nebst dem
Material (an der Sonne getrocknete Ziegeln) aus der Hauptstadt
herbeigeschafft werden mussten. Die in der Nähe stehende Kapelle
war mit einem Blitzableiter versehen, trotzdem hatte der Blitz die
vor dem Hause befindliche Glocke zertrümmert. Der Gouverneur
wohnte wieder in einem mit doppelter Pfahlreihe umgebenen Hause;
am Eingänge der ersten Reihe stand in einem Verschlage eine grosse
Trommel, mit welcher des Abends den Dorfbewohnern ein Zeichen
zum Auslöschen der Herdfeuer gegeben wird; im Vorhofe standen
Mangobäume, deren Früchte aber noch unreif waren, das Wohnhaus
selbst ist zweistöckig und ganz behaglich eingerichtet, eine Feld-
kanone endlich vollendete die Residenz des Hovahäuptlings, dessen
Untergebene eine gewisse militärische Schulung in der Hauptstadt
durchgemacht hatten. Uebrigens ist der Ort berüchtigt wegen des
häufig auftretenden Fiebers und der Missionar hatte ausser seinem
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seelsorgerischen Amte auch die Pflichten eines Arztes zu üben. In
seiner Schule konnte er einige recht erfreuliche Resultate aufweisen,
denn wenn auch im Uebrigen die Sakkalaven ziemlich arbeitsscheu
sein sollen, so zeigten sie doch grosse Lernbegierde und einige
hatten im Schreiben und Lesen schon eine ziemlich gute Fertig-
keit sich erworben. Dagegen waren sie weniger eifrig im Kirchen-
besuche.
Nach zweitägigem Aufenthalte wurde der Marsch nach der
Hauptstadt augetreten, doch heftige Kopfschmerzen zwangen unseren
Reisenden, schon in dem nächsten Dorfe, Vondruzana, Rast zu halten,
wo allerdings die zahlreichen Ratten und sonstigen lästigen Gäste
der Unreinlichkeit in der Hütte des Kommandanten einem erquicken-
den Schlummer wenig förderlich waren. Trotzdem versuchte Ituten-
berg am folgenden Tage den nahen Bergrücken zu besteigen, um
einen weiteren Ueberblick über die Gegend zu gewinnen. Von hier
aus überschaute er die weite Ebene des Alaotrasee’s, die dreifache
Reihe der Höhenzüge, welche in vorherrschend nordsüdlicher Richtung
streichen, zwischen denen der Hauptzufluss des See’s, der Antsahabe,
fliessen soll, grosse Reispflanzungen und imposante Waldungen, durch
deren dichtes Unterholz und zahllose Kletterpflanzen nur vereinzelt
die Axt der Menschen Pfade geschaffen hat. Selten Hess ein Vogel
seine Stimme erschallen oder ein Maki seine komischen Sprünge
bewundern. Doch bald musste Rutenberg davon abstehen, tiefer in
diese Wildniss vorzudringen, da aus dem sanften Regen plötzlich ein
heftiger Gewitterregen, mit grossen Hagelkörnern untermischt, wurde.
Unter dem niedrigen, dichten Buschwerk am Waldessaum, zusammen-
gekauert, wartete er das Ende des Unwetters ab und eilte dann
völlig durchnässt, durch hohes Gras, oft durch mächtige Bergrutsche
gehindert zu den nächsten Hütten. Endlich am 26. November konnte
der Weitermarsch angetreteu werden. Unterwegs hatte unser Reisen-
der Gelegenheit, die Bestellung eines Reisfeldes zu beobachten: das
Land war fast völlig unter Wasser gesetzt und in diesen Schlamm
wurden mit lautem Geschrei Ochsen getrieben, um das Erdreich noch
mehr aufzulockern und es für die Aufnahme der Reiskörner geeignet
zu machen. Als nach etwa dreistündiger Wanderung das Dorf
Ambohitsimananadi erreicht war, wurde Rutenberg von einem so
heftigen Fieberfrost befallen, dass er sich entschloss, nach Ambaton-
drazaka zurückzukehreu, um seinen durch die geringe und schlechte
Kost der letzten Tage erschöpften Körper besser pflegen zu können.
Nach einem mühsamen Marsche über Berg und Thal wurde Anossibie
erreicht, dessen Gouverneur in einem hochgelegenen, durch einen
reichverzierten Giebel ausgezeichneten Hause wohnte. Auch das
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Innere des Gebäudes deutete auf die Neigung des Bewohners zum
Prunk, denn die Wände waren mit Bastmatten bekleidet und das
Holzwerk mit schwarzen, weissen und rothen Dreiecken bemalt. An
der einen Wand stand eine hohe Reole zur Aufbewahrung von Ge-
fässen, an der andern ein buntbemalter Porzellanschrank und an der
dritten eine ziemlich plumpe Bettstelle. Weil aber hier der Wolm-
raum zu allen möglichen Zwecken benutzt wird, so sah man auch
in der einen Ecke ein Herdfeuer glimmen, in der andern in einem
Troge einen Puter seine Eier ausbrüten, während Frauen beschäftigt
waren, aus Itaffiabast eine neue Matte herzustelleu. Vor dem Wohn-
hause bemerkte Rutenberg hier zum ersten Male auf seiner Reise
ein Taubenhaus. Der Eingang in das Wohnhaus ist wie gewöhnlich
sehr unbequem, da man erst einige Stufen zur Schwelle hinauf und
dann wieder einige zur Diele hinabsteigen muss.
Rutenberg’s Hoffnung, hier eine Sänfte (Filanzan) bekommen
zu können, erwies sich als falsch und so musste er denn mühsam
von Dorf zu Dorf weiter ziehen, anfangs auf den schmalen Dämmen,
die die sumpfigen Reisfelder von einander trennen, dann an dem
Bache Vondruzana entlang, schliesslich den Bergrücken hinan, an
dessen Westfusse der Antsahabe fiiesst. Als dieser überschritten
war, erreichten die Wanderer gegen Abend Ambatondrazaka, wo sie
von Mr. Pearse wieder gastfreundlich aufgenomineu wurden. Ruten-
berg konnte noch von Glück sagen, dass seine Füsse ihn so weit
getragen, denn nun brach das Fieber in voller Heftigkeit aus und
fesselte ihn mehrere Tage an das Bett. Doch unter der liebevollen
Pflege des Missionars und seiner Gattin überwand sein jugendkräftiger
Körper diese Gefahr und am 1. December konnte er wieder dem
bunten Treiben des Marktes hinter dem Missionshause zuschauen.
Der ziemlich grosse Marktplatz ist von einem niedrigen Erdwalle
umgeben und lehnt sich im Norden an einen Hügel, von welchem
herab der Gouverneur in feierlicher Rede die Eröffnung des Marktes
verkündete. Jeder Verkäufer hatte auf einer viereckigen Erhöhung
seine Waaren ausgebreitet: getrocknete Fische, kranzartig aufgerollt,
Aale, Reis, Bananen, Gemüse, Geflügel, Baumwolle, Seidengewebe,
Taback, Perlen, Messer, Scheeren u. a. m. Auch Ochsen wurden
vielfach zum Kauf ausgeboten. Diese Markttage werden vielfach
dazu benutzt, um Anzeigen und Mittbeilungen der Regierung im
weiteren Kreise bekannt zu machen oder auch gelegentlich uin
gerichtliche Untersuchungen anzustellen. So war gerade damals ein
„Ochse der Königin“ (die der Königin gehörigen Ochsen sind an den
Ohren gezeichuet und müssen von Jedermann sorgsam gehütet wer-
den) in einem benachbarten Dorfe gestohlen worden ; in Folge desseu
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wurden sämmtliche Männer, 200 an der Zahl, herbei gerufen, aus-
gefragt und am Abend, da sich an ihren Speereu keine Blutspuren
zeigten, wieder entlassen, freilich nicht ohne hohe Geldsummen in
den Händen des Gouverneurs und der Officiere hinterlassen zu haben.
Am folgenden Tage, es war ein Sonntag, wurde zweimal Gottesdienst
abgehalten, zuerst von einem eingeborenen Prediger und dann vom
Missionar Mr. Pearse. Auch der Gouverneur hielt eine Ansprache,
begleitet von vielen Gesten, daun las er Hi essend ein Capitel aus
der Bibel vor. Gesang und Gebet beendete den Gottesdienst, dem
diesmal eine grosse Menge aufmerksamer Zuhörer beiwohnte. Das
Gotteshaus ist ganz aus Stein gebaut und misst etwa 23 Meter in
der Länge und 10 Meter in der Breite.
Endlich am 3. December gelang cs Rutenberg, vier Männer
für seine Sänfte und zwei Gepäckträger zu engagiren und nach herz-
lichem Abschiede von seinen treuen Pflegern wurde der Marsch nach
der Hauptstadt angetreten. Durch Reisfelder, in denen die Ernte
begonnen hatte, über Berghöhen und durch Flussthäler geht es zu-
nächst in südlicher Richtung nach Mangantuni am Südrande der
Antsihanakaebene, in welcher der Alaotrasee liegt. Am folgenden
Tage wurde der breite aber flache Andranafotsyfluss überschritten
und bei Berihete die Quellen des Antsahabe erreicht. Die Bergkette,
Ambossiborone, fällt hier in das Thal ab, anfangs noch mit niedrigen
Bäumen bestanden, bald aber kahl, mit röthlicber Sandschicht be-
deckt. Aber weiter südlich erheben sich neue Bergrücken mit
prächtigem Hochwald bedeckt, so dass diese Einsattelung mit Recht
den Namen Ambaravarambato, „Felsenthor“, trägt. Die Gegend
scheint wenig bevölkert, aber sehr wasserreich zu sein, denn immer
neue Bäche und Sümpfe sind zu überschreiten, von denen der grösste
der Mananguru ist, welcher an der Ostküste nach einem langen
Laufe nach Süden zwischen Vohimasi und Manahoro mündet. Erst
südlich des Ambaravarambato mehren sich wieder die Dörfer, auch
macht sich mehr und mehr der Einfluss der Hauptstadt geltend, die
Leute tragen vielfach Strohhüte, die Frauen eine Art Jacke und
Rock, und haben bessere Geräthschaften im Gebrauche, als in der
nördlichen Gegend zu finden waren. Auch halten zuweilen Händler
auf offenem Felde unter riesigen Sonnenschirmen ihre Waaren feil:
Fleisch, Reis und Hühner. Am Morgen des 8. December erblickte
Rutenberg zuerst die weissen Häuser und den hochragenden Palast
der Hauptstadt Antananarivo von hohen blauen Bergen im Süden
eingerahmt. Eine Menge von Dörfern mit Lehmhäusern bilden
gewissermassen eine lange Reihe von Vorstädten. Manche Häuser
haben zwei Stockwerke oder ein vorspringendes Dach, das, von
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Säulen getragen, an den Stil der Schweizerhäuser erinnert. Auch
braune und weisse Schafe beleben jetzt das Landschaftsbild, die aber
weniger der Wolle als des Fleisches wegen gezüchtet werden sollen.
(Ein Schaf kostet 1 Shilling, ein Ochse 3 — 5 Dollars, ein Schwein
2 Dollars.) Längs der Strasse erheben sich viele Gräber, deren
grosse Anzahl nicht so sehr aus der starken Bevölkerung dieser
Gegend, sondern aus der eigenthünilichen Sitte der Hovas zu erklären
ist, ihre Leichen, wenn irgend möglich, in diesem District (Emerina)
begraben zu lassen. Die Gräber sind meist viereckige, mit Steinen
oder Lehmstücken umgrenzte Erdhaufen, mit Quarz oder anderen
Steinen überdeckt, oft aber auch nur mit Gras bewachsen, dahinter
stehen hohe Steinplatten als Denksteine. Als Rutenberg in Sabutsi,
etwa eine Stunde vor der Hauptstadt, ankam und sich in einem noch
nicht ganz fertig gestellten Lehmhause sein Essen kochen Hess, kam
ihm in einer Sänfte ein Hovaofficier entgegen, der sich erbot, sein
Empfehlungsschreiben au Dr. Davidson in Helleville au den nor-
wegischen Arzt und Missionar Dr. Borchernik in Antananarivo zur
vorläufigen Anmeldung mitzunehmeu. Beim Aufbruch fand unser
Reisender an seiner Sänfte plötzlich andere Leute, die ihn mit
ungewöhnlicher Schnelligkeit oft im vollen Trab bergauf und bergab
weiter trugen, so dass sein Diener mit der Flinte und die Gepäck-
träger kaum folgen konnten; es waren Freunde seiner bisherigen
Träger, die sich ein Trinkgeld verdienen wollten. Als man so gegen
Dunkelwerden vor dem Hause des Dr. Borchernik anlangte, war
dieser sehr erstaunt, plötzlich Besuch zu erhalten, da der Officier
den Brief gar nicht abgegeben hatte, doch wurde in dem weit-
läufigen Hause, das 55 Pensionäre beherbergte, bald Rath geschafft
und für Rutenberg vorläufig im Lesezimmer auf dem Sopha ein
Nachtlager bereitet. Hier konnte er nun endlich eine Zeit lang
wieder nach europäischer Weise leben. Des Morgens gab es ganz
schmackhaften Madagaskar-Kaffee, wozu allerdings der schwer lös-
liche malagassische Zucker in Stücken gegessen werden musste, auch
Milch war reichlich zu haben und gutes Schwarzbrod; Mittags
Fleisch, Gemüse, Kartoffeln, und als Nachtisch manchmal Maulbeer-
oder Cape gooseberry - Suppe, Abends Thee, Eier u. a. m. Das
Brennmaterial, Holz und Kohlen, ist ziemlich theuer, daher benutzen
Viele Heu zur Feuerung.
Rutenberg machte hier zunächst unter den Norwegern recht
angenehme Bekanntschaften : einen Arzt Dr. Goldberg, der hier eine
Privatklinik einzurichten beabsichtigte, und zwei Geistliche, Rev. Dahle,
der sich durch umfangreiche Sprachkenntnisse hervorthat, und Rev.
Valen, der früher in Imandza bei Murundava ansässig gewesen,
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wegen des dort grassirenden Fiebers hierher gezogen war. Der
Garten des Herrn Dr. Borehernik enthielt ausser Rosen, Nelken,
rothem Salbei, Georginen, Weiureben, Oleander auch die prächtigen
Passionsbliuueu, Eukalypten, Mango und Pfirsiche. Die Mangofrüchte
waren hier noch nicht reif, dagegen wurden auf dem Markte schöne
Ananas zum Verkaufe ausgeboten. Der Marktplatz gewährt über-
haupt einen interessanten Anblick: in langen Budenreihen sind täg-
lich Früchte (Ananas und Bananen), Gemüse, geschälter und unge-
schälter Reis, Bohnen, Maulbeeren, aber auch europäische Waaren,
wie Flaschen mit Süssigkeiten, Seife, Dinte, Federn, Papier, Spiegel
und andere Luxusartikel, ferner Taback, Zucker, Heu, Kohlen, Holz,
Stricke und Bambus ausgestellt. Ein dichtes Gedränge herrscht
namentlich am Ilauptmarkttage, am Freitag (Joma), in den Reihen
der Buden, die dann noch eine reichere Auswahl von Verkaufs-
gegenständen aufzuweisen haben: Thürschlösser und Vorlegeschlösser
einheimischer Arbeit, Messer und Scheereu, Thürangeln, rohe Baum-
wolle und Seide, baumwollene Tücher (Lambas), Ilaufkleidcr, Raffia-
Bast und -Gewebe, grosse Sonnenschirme, aus demselben Stoffe
hergestellt, Strohhüte, Ilornlöffel und -Kämme, Blech- und Thon-
geschirr, eudlich Sclaven, Hühner, Schweine und Ochsen.
Am 15. December wurde Rutenberg zur Audienz zum Premier-
minister beschieden. Von zwei Norwegern, Dr. Borehernik und Dahle,
und einem Hovaofficier geleitet, betrat er den sogenannten Silber-
plaats. Auf einer Wendeltreppe stieg mau zu dem 15 qm grossen
Empfangssaale hinauf, wo Se. Excellenz schon den Besuch erwartete.
Der Premierminister ist ein Mann von kaum mittlerer Grösse, sehr
duukler Hautfarbe, leicht gekräuseltem Haar und hatte nicht den
eigentlich malayischen Gesichtstypus. Er war ganz europäisch ge-
kleidet und trug einen Rock mit Sammetaufschlägen, einen breiten
Shlips mit goldener Spange, riesige Hemdkuöpfe, eine Uhrkette aus
fingerdicken blau cmaillirten Gliedern mit einer dicken goldenen
Troddel, elegante kleine Dameustiefeln. Der Empfaugssaal ist sehr
hoch und seine Decke wird in der Mitte von einer sehr umfang-
reichen viereckigen Säule getragen. Die Wände sind unten mit
grossen bunten Blumen bemalt, über welchen eine Art Freskogemälde,
Seegefechte und Schlachten Napoleons I., von einem Maler Vaharas
entworfen, angebracht sind. Ueber diesen folgen dann wieder gelb-
bunte Tapeten, von Eingeborenen angefertigt. Ein grosser Theil
der Freskogemälde war aber verdeckt von anderen grossen Bildern,
den Palast der Königin darstellend, eigenthümlichen steifen Figuren
und wunderlichen Bäumen, wie man sie auf chinesischen Bildern
vielfach findet, daneben hingen englische Weltkarten und physikalische
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Karten, die Umdrehung der Erde um die Sonne, die vier Jahres-
zeiten und die Mondphasen erläuternd, endlich Wandkarten von
Asien, Afrika und England. Uebrigens schien der Saal auch als
Aufbewahrungsort für alle möglichen Dinge zu dienen, denn es
standen gleich am Eingänge alte Kisten und Kasten, eine Sanfte,
Himmelbetten und dazwischen wieder eine zerbrochene Orgel und
Erdkugeln. Um die Mittelsäule war ein grosser Tisch herumgestellt,
auf welchem die Prunkstücke aufgereiht waren : zwei grosse silberne
Vasen mit Reliefverzierungen von einheimischer Arbeit, aber wohl
nach europäischem Vorbilde angefertigt, ferner kleine Nippes, ein
zweiarmiger Leuchter u. a. m., Holzstühle und Bänke, sowie mehrere
Tische standen in dem weiten Raume unregelmässig umher, auf diese
setzten sich die Gäste und mehrere europäisch gekleidete Hovas,
während der Minister auf einem blauen Polsterstuhle Platz nahm
und zwei Diener in blossen Füssen sich auf einer Lamba (Decke) am
Boden niederkauerten. Rutenberg musste nun seine Reiseerlebnisse
berichten, wobei Dr. Borchernik den Dollmetscher machte und dem
Minister einige Schmeicheleien über die enormen Fortschritte, die
die Cultur auf Madagaskar gemacht habe, sagte. Dann folgte die
übliche Erkundigung nach dem Befinden der Königin und des Ministers,
worauf der letztere versicherte, dass er noch nie vom Fieber befallen
sei, trotzdem er einmal einen Feldzug gegen die Sakkalaven sogar
in der warmen Jahreszeit in der fieberreichsten Gegend unternommen
habe. Hierauf erkundigte sich der Minister nach dem Alter des
Kaisers und des Fürsten Bismarck und freute sich, dass beide noch
so rüstig seien. Bei allen Erzählungen zeigte der Minister grosses
Interesse und gab seiner Verwunderung über manche Dinge in der
lebhaftesten Weise Ausdruck. Schliesslich versprach er Rutenberg
einen Empfehlungsbrief an den Gouverneur von Mevantanana. Darauf
verabschiedete sich Rutenberg, nachdem er ein kleines Geschenk für
die Königin uiedergelegt hatte.
Die Haupteinnahmen des Staats sind die Ausfuhrzölle, die man
vor zwanzig Jahren nach den damaligen Preisen zu V*o des Werths
angesetzt hatte. Ausserdem muss jeder Eingeborene jährlich ein
Reiskorn als Kopfsteuer geben, was leicht als Mittel zur Volkszählung
benutzt werden könnte, wenn die Kommandanten wirklich alle nach
der Hauptstadt ablieferten. Ueberdies sind alle Unterthanen zu
unentgeltlichem „Staatsdienste“ verpflichtet, während die frühere
Unsitte, dass jeder Officier eine beliebige Anzahl Leute ohne Entgelt
für sich arbeiten lassen konnte (Deka), jetzt eingeschränkt und nach
der Rangordnung abgestuft ist. Der höchste Beamte kann jetzt
nur 30 (früher 1000) Dekas beanspruchen. Diese Frohudienste sollen
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ein Hauptgrund der Arbeitsscheu der Malagaschen sein, da Jeder,
der etwas Gutes zu leisten vermag, sofort von einem Ofticier zum
Deka bestimmt werden kann.
Der rascheren Ausbreitung des Christenthums steht die Miss-
gunst der Missionare der verschiedenen religiösen Körperschaften
hindernd im Wege. Die „London missionary Station“ entsendet die
meisten Missionare und sorgt durch eine eigene Buchdruckerei für
die nöthigen Lehrbücher an Ort und Stelle, hierin wird sie nur von
den Quäkern (friends’ foreign mission) übertroffen, die sogar Karten,
Bilder und eine illustrirte Zeitung mit grossen Kosten anfertigen.
Das Ansehen der Franzosen ist trotz der grossen Rührigkeit ihres
Consuls nicht sehr gross im Lande, namentlich seit dem deutsch-
französischen Kriege, der von den Malagaschen mit grossem Interesse
verfolgt worden sein soll. Man findet in den Häusern mancher
Eingeborenen Bilder von den deutschen Feldherren und Staats-
männern, z. B. „Moltke in der Schlacht bei Sedan“. Im Jahre 1870
sollen sogar die französischen Jesuiten ihre Abstammung verleugnet
und sich für Italiener und Spanier ausgegeben haben.
C. Von Antananarivo zurück nach Nossi Bd.
Am 17. December 1877 verliess Rutenberg die Hauptstadt, um
weiter nach Südwesten vorzudringen, trotzdem sein Gastfreund,
Dr. Borchernik, ihn zu bereden suchte, doch gerade jetzt von der
fieberreichen Landschaft fern zu bleiben. Aber der unerschrockene
Reisende hielt sich nach der glücklichen Ueberwindung des Fieber-
anfalls am Alaotrasee für gefeit gegen diesen heimtückischen Feind
und sehnte sich nach Briefen aus der Heimat, die er in Majunga
vorzufinden bestimmt erwartete. Herr Dr. Borchernik machte noch
zum Abschiede eine kleine photographische Aufnahme von Rutenberg
und seinen Begleitern, die über Bergen in Norwegen glücklich auch
in uusere Hände gelangt ist. Nach einem herzlichen Abschiede zog
die kleine Karavane am l’alaste des Premierministers und am Grab-
male des letzten Königs, Radama II., der, weil die Malagaschen das
Blut desselben nach altem Gesetze nicht vergiessen dürfen, von den
Empörern erwürgt wurde, vorbei, dann zur Stadt hinaus durch Reis-
felder, in welchen Frauen eifrig mit dem Pflanzen der Stecklinge
beschäftigt waren, bis zum Ikiopaflusse, der, anfangs in westlicher,
dann in nordwestlicher Richtung fliessend, in den Betsibukafluss
mündet. Auf einer gut gearbeiteten Lakka wurde bei dem Dorfe
Ambaniala der etwa 45 Meter breite Fluss überschritten, da von der
früher hier erbauteu Brücke nur noch ein Bogenpfeiler am hohen
Lehmufer Zeugniss giebt, während grössere Pfeiler und Bogenreste
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sich kaum sieben Meter weiter an dem kleinen Nebenflüsse Ampitan-
tatiky finden. Höhenzüge durchkreuzen die Reisfelder nach allen
Richtungen, zahlreiche Dörfer mit vielbesuchten Märkten erinnern,
dass man sich in der Nähe der Centralstätte des Verkehrs befindet.
In kurzer Zeit gelangte man wieder zu einem flachen, aber ziemlich
breiten, zwischen hohen Lehmufern dahingleitenden Flusse, Andromba,
über den wenigstens noch die Steinbogen führen, wenn auch der Oberbau
der Brücke fehlt. Am Nachmittag wurde wieder ein kleiner Bach,
der Katsacka, durchwatet, der, vielfach gewunden, am folgenden
Morgen noch einmal überschritten werden musste. Die Gebirgszüge
sind strahlenförmige Ausläufer des Ankaratra; von einem derselben
kommen wild schäumend die Quellen des Andromba, welcher noch
iu den Ikiopa fällt. Doch liegt hier eine kaum merkliche Wasser-
scheide, da die weiter südlich folgenden Bäche sich in den Mangoro
ergiessen, der das Wasser dem Indischen Ocean zuführt. Die Land-
schaft wird allmählich immer imposanter, denn schon erheben am
Horizonte der Tsiafazavona und der Tsiafakafo ihre felsigen Häupter,
das nächste Ziel der Wanderung. Aber diese Bergriesen werden von
den Eingeborenen mit abergläubischer Furcht gemieden, so dass
selbst das von der Königin und dem Minister untersiegelte Decret
die Leute nicht bewegen konnte, unserem kühnen Reisenden als
Führer zu dienen. Vergeblich ging Rutenberg mit seinem Diener
unter strömendem Regen in ein hochgelegenes Gebirgsdorf, Manwiki,
überall erwiderte man ihm, der Geist Radama’s hause in jenen Bergen,
und jeder Malagasche müsse sterben, der sein Gebiet betrete. Um
sich nicht zu weit von seinem Ziele zu entfernen, wandert nun
Rutenberg ohne Führer in westlicher Richtung unbeirrt weiter, dem
mittleren Hochlande der Insel zu, das im Osten durch eine lang-
gestreckte Gebirgskette umsäumt ist, während nach Süden einzelne
runde, mit frischem Grase bedeckte Kuppen aufrageu, und nach
Westen die vielgezackte, vulkanischen Ursprung verrathende Gruppe
Varavato (Mund von Stein) sich erhebt. Als auch in Ambatofotsy
sich Niemand bereit fand, die Reisenden zu geleiten, liess Rutenberg
sein schweres Gepäck unter der Aufsicht eines ihm iu Antananarivo
besonders empfohlenen Dieners daselbst zurück und zog mit den
uothwendigsten Lebensmitteln, Brennmaterial und Kochgeschirr aus-
gerüstet, von vier Leuten auf der Sänfte (Filandzan) getragen,
muthig weiter. Als er aber bald erkannte, dass die frühere Be-
hauptung, er werde kein Dorf und überhaupt kein lebendes Wesen
ferner antreffen, sich als unwahr erwies, schickte er die Leute zurück,
um sein Gepäck nachzuholen, brachte die Sänfte mit einem Wächter
in einem uahegelegenen Hause unter und ging mit seinem Diener
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und zwei Trägern rüstig vorwärts. Aber schon nach einer Viertel-
stunde wurde die Zahl der Begleiter wieder verkleinert, da der eine
Träger sich den Fuss verstauchte und nicht weitergehen konnte.
Der Weg schwand bald und mit dem Compass musste immer aufs
Neue die Richtung des Marsches festgestellt werden. Aber auch
der zweite Träger wurde jetzt schwierig, da er den Unfall seines
Kameraden als eine Strafe für ihren Ungehorsam gegen das Verbot,
den Geisterberg zu betreten, ausah. So blieb auch dieser am Kusse
des Hauptgebirges, des Tsiafakofo, zurück, mit dem Aufträge, die
Rückkehr seines Herrn abzuwarten und ihm die Mahlzeit zu bereiten.
Nur von dem Diener begleitet, stieg nun Rutenberg den immer
steiler werdenden Bergeshang hinan; allmählich erweiterte sich der
Blick, die eigenthümlich geformten Zacken des Varavato und der
Itassysee zeigten sich im Nordwesten, links davon die Spitze des
Ambatomandzaka und scheinbar nur wenige hundert Schritt von den
Wanderern entfernt der mit riesigen schwarzen Felsblöcken bedeckte
Tsiafakafo, endlich im Süden der noch höher aufragende Tsiafaza-
vona, die beiden imposantesten Höhen des meist von flachen, mit
Gras bewachsenen Kuppen gebildeten Ankaratragcbirges. Am Mittag
wurde die niedrigere, westliche Spitze des Tsiafakafo erreicht und
nach beschwerlichem Klettern Uber die wirr durcheinander liegenden
Felsblöcke auch die östliche Spitze erstiegen, wo kleine Steinhaufen
und Aschenreste zeigten, dass schon früher der Bann des Gespenster-
berges durchbrochen sei. Die Sonne stand im Zenith und die Felsen
verbreiteten daher nur wenig Schatten, dagegen fächelte der linde
Wind den Wanderern angenehme Kühlung zu. Die Aussicht war
ziemlich umfassend; wenn auch im Norden einzelne Höhen des
Ankaratra den Horizont verbargen, so reichte doch im Nordosten
der Blick bis zu den Thürmen der Hauptstadt. Nachdem Iluteuberg
als Andenken einige kleine Farrenkräuter gesammelt hatte, wurde
der Rückmarsch angetreten und in einer halben Stunde die Stelle
erreicht, wo der Träger die Mahlzeit bereitet hatte. Nach einer
kurzen Rast ging es dann weiter nach dem Orte, wo die Sänfte
eingestellt war, aber erst gegen Abend langten die Leute mit dem
Gepäck aus Ambatofotsy an.
Am folgenden Tage schlugen die Wanderer eine nordwestliche
Richtung ein und erreichten am Nachmittage den Kitsamby, der
zwischen steilen, recht malerischen Ufern, von Häuf- und Reisfeldern
bedeckt, dahinüiesst. Das nächste Ziel, den hochgelegenen Itasysee
stets im Auge, marschirte die kleine Karawane ohne Weg und Steg
in nordwestlicher Richtung weiter, au gewaltigen Felsblöcken mit
Höhlen und rinnenartigen Vertiefungen vorbei, über kleine Bäche
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und weite Sumpfflächen, bis man um 4 Uhr Nachmittags den Rand
des rings von Bergen umschlossenen See’s erreichte, der einen weit
imposanteren Anblick gewährte, als der mit weitem, sumpfigem
Vorlande in der Ebene gelegene, allerdings bedeutend grössere
Alaotrasee. Eine Felseninsel lag nicht weit vom Ufer entfernt in
der Nähe einer nach Süden vorspringenden Seebucht, die zu um-
gehen einen Zeitverlust von etwa zwei Stunden verursacht haben
würde, da aber des Sonntags wegen keine Lakka zu haben war, so
entschloss sich Rutenberg, auf der Insel zu übernachten und liess
sich von seinen Leuten durch den an jener Stelle nur einen Meter
tiefen See hinübertragen. Auf der höchsten Spitze des Eilandes
liegt ein grosser Felsblock, auf welchem aus kleineren Steinen ein
Grabmal einer Verwandten der Königin errichtet ist. Die Wächter
desselben wohnen in Lehmhütten am Bergeshange (Ambohihaza), von
prächtigen Bäumen umschattet. Ara folgenden Morgen fuhr man
daun auf zwei Böten nach dem am jäh abfallenden Seenfer liegenden
Ambohimaudzaka ; in dem Wasser spielten Goldfische, die, erst seit
wenigen Jahren in Madagaskar eingeführt, sich rasch vermehren
sollen, auf dem Wasser schwammen blaue Nymphäen und andere
weissblättrige Pflanzen, aber dies friedliche Bild wurde plötzlich
gestört durch das Auftauchen eines Krokodils, das hier wie in allen
Gewässern der Insel zu hausen scheiut. Als das Nordende des See’s
erreicht war, und nun der Marsch nach Mevatanan angetreten werden
sollte, weigerten sich die Träger und verlangten nach der Hauptstadt
zurückzukehren; alles Bitten, Drohen und Versprechen half nichts
und Rutenberg musste sich zu seinem grössten Aerger dem Willen
dieser Menschen beugen mit der geheimen Furcht, diese Expedition
überhaupt aufgeben zu müssen, da in dieser Jahreszeit der Westen
der Insel besonders stark vom Fieber heimgesucht zu werden pflegt.
Das war ein trauriges Weihnachtsfest für unseren muthigen Reisenden
und mit Wehmuth gedachte er der Freuden der Heimat. Wohl riefen
ihm einige mit Trommeln und Violinen vorüberziehende Leute ein
„merry Christmas!“ zu, aber Frohsinn wollte sich bei ihm nicht so
bald wieder einstellen, zumal da die Geldgier seiner Leute bei jeder
Gelegenheit wieder zu Tage trat. Immer ostwärts marschirend
wurden bald die Nebenflüsse des Ikiopa wieder erreicht, aber heftige
Regengüsse hinderten wiederholt das rasche Weiterkommen. Endlich
am 26. December spät Abends trat Rutenberg allein, da seine Leute
noch kurz vor der Hauptstadt gegen seinen Willen rasteten, zum
Erstaunen der dort versammelten Norweger in das Haus des
Dr. Borchernik ein, wo er wieder für einige Tage gastliche Auf-
nahme fand. Nach lange vergeblichem Unterhandeln erboten sich
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am 1. Januar 1878 drei Leute, den Marsch nach Mevatanan zu
wagen und am folgenden Nachmittage verliess die kleine Karawane
wieder die Hauptstadt, bis zum Ikiopa der schon früher betretenen
Strasse, dann dem Laufe des Flusses folgend. Der anhaltende liegen
hatte eine weite Ueberschwemmung verursacht, so dass die Reisfelder
sämmtlich unter Wasser standen und in grossen Bogen umgangen
werden mussten. Am 3. Januar wurde der Fluss auf einem grossen
Boote überschritten und am Abend das Dorf Ambohibeloma erreicht,
das nicht, wie der englische Missionar Dr. Multens angiebt, am
Anunibe, sondern am Umbifotsy liegt. Die Neben- und Zuflüsse sind
sehr zahlreich, wenn auch nicht sehr bedeutend, da man sie selbst
wahrend der Regenzeit bequem durchwaten kann, ja sogar durch
den Ikiopa trugen die Leute das Gepäck, indem sie es über ihre
Köpfe hielten, während Rutenberg hinüberschwamm. Je mehr man
sich von der Hauptstadt entfernte, desto gefälliger wurden die
Menschen ; hatte man vorher jede kleine Dienstleistung mit Geld
aufwiegen müssen, so wurden jetzt wieder von den über das Er-
scheinen eines Weissen (vahaza) erstaunten Dorfbewohnern und deren
Kommandanten Geschenke an Hühnern und Reis dargebracht. Nur
ihre geringe Bekanntschaft mit der weiteren Umgebung war um so
unangenehmer, als die sonst als Marksteine zur Qrientirung dienenden
Berge bei veränderter Richtung auch ganz andere Formen zeigten.
Gelegentlich veranlassten auch tiefere Flüsse, wie der Maschiaka,
einen längeren Aufenthalt, weil bei der Unmöglichkeit, das Gepäck
hinüberzutragen, oft erst aus weiter Ferne ein Boot herbeigeholt
werden musste. Gegen den strömenden Regen suchen sich die Ein-
geborenen durch Bastsäcke zu schützen, die an der einen Längs-
seite aufgeschnitten über den Kopf gehängt werden. Dass der
Raffiabast auch zu anderen Dingen nütze sei, merkte Rutenberg, als
er seine durch die stete Nässe defect gewordenen Stiefeln auszu-
bessern suchte.
Berg auf und ab, durch Bäche und Sümpfe, zwischen Reis- und
Maisfeldern hindurch, geht es weiter in nordwestlicher Richtung in
das Gebiet der Sakkalaven hinein. Anfangs zwar trugen die Begleiter
wieder Bedenken, diesen gefährlichen Landstrich zu betreten, da
Ruteuberg ihnen aber sagte, dass er in der nächsten Ilovafestung
uni militärischen Schutz bitten wolle, gingen sie, wenn auch zaghaft,
mit ihm. Die Sakkalaven führen in jener Gegend auf allen ihren
Wegen Speere oder geladene Feuersteingewehre mit sich, suchen
sich aber ausserdem noch durch Amulets, die sie an Perlenschnüren
an der Stirn oder auch an der Pulvertasche tragen, gegen böse
Geister zu schützen. Die alten Gewehre habeu hier noch einen
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hohen Werth und werden oft mit drei Ochsen bezahlt. Die letzte
Hovafestung Merimandrusso liegt am Fusse einer lang gestreckten
Bergkette, deren Name Tamuhisankova bedeuten soll : „jenseits Todes-
gefahr“, also die Grenze des Hovagebiets, doch liegen schon östlich
von diesem Gebirge mehrere grosse Sakkalaveudörfer, die sich nicht
gerade durch Reinlichkeit auszeichnen, zumal da das Rohrgeflecht
der Hütten innen mit Dünger verklebt wird. Uebrigens scheint keine
grosse Eintracht unter den verschiedenen Dörfern zu herrschen, denn
nicht selten bezeichnete der Häuptling des einen Dorfes seinen ent-
fernten Collegen als Räuber, machte aber selbst häufig keinen Ver-
trauen erweckenden Eindruck. In Merimandrusso fand wieder ein
feierlicher Empfang statt, wobei der Kommandant mit einem abge-
tragenen Seidenhute und in halb europäischer, halb malagassischer
Kleidung erschien. Eine ziemlich saubere Hütte wurde dem „Weissen“
als Quartier angewiesen und ihm als besonderes Zeichen der Hoch-
achtung ein Stuhl hineingestellt, aber militärische Begleitung wurde
ihm für den Weitermarsch nach Menavava nicht gewährt. Nach
langem Unterhandeln liess sich jedoch der zweite Kommandant her-
bei, den Reisenden auf den richtigen Weg zu bringen, da dieser
weiter östlich an dem rechten Ufer des Ikiopa sich hinzieht. Wieder
mussten mehrere Flüsse (Dsinguani, Antiera, Maschiaka, Kirbevavy)
passirt werden, und nur selten bot ein mit dicken Cactushecken und
Gräben umgebenes Haus eine Raststätte und noch seltener fanden
sich einzelne Leute bereit, als Führer auf kurzen Tagemärschen zu
dienen, so dass es nicht zu verwundern ist, wenn Rutenberg wieder-
holt vom richtigen Wege abirrte. So kam es denn, dass er am
10. Januar sich plötzlich an den Quellen des Maschiakaflusses fand,
also weit südöstlich von seinem Ziele, während er den viel gekrümm-
ten Lauf dieses Flusses, in nordwestlicher Richtung marschirend,
schon wiederholt an den früheren Tagen gekreuzt hatte. Hier kam
noch das Unglück hinzu, dass einer von den Gepäckträgern (Marmiten)
sich den Fuss verletzte und Zurückbleiben musste, worauf sofort auch
ein anderer sich weigerte, weiter zu marschiren ; schliesslich kam es
zu einem Streite mit allen vier Begleitern, und Rutenberg entliess
sie, obgleich er befürchtete, selbst wieder zur Rückkehr nach Anta-
nanarivo gezwungen zu werden. Nur sein alter Diener, Jean Briton,
blieb bei ihm, und es glückte, in dem Dorfe Ambohimarante zwei
Leute zu bewegen, unseren unerschütterlichen Freund nach der
nächsten Missionsstation, Fihaonana, zu führen, während der Diener
bei dem Gepäck als Wächter zurückblieb. Mit Decke, Regenrock,
Seife und Handtuch ausgerüstet brach Rutenberg auf, da es aber
bald dunkelte, nahm er bei einem freundlichen Bewohner des Dorfes
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Soran Nachtquartier, wo er zum ersten Male gekochte Heuschrecken
essen sollte; sie schmeckten ihm wie Krabben (shrimps), wurden ihm
aber bald ekelhaft. Am folgenden Morgen wurde der Ikiopa passirt
und spät Abends Fihanonana erreicht, aber — der Missionar war
fern in der Hauptstadt! Vergeblich suchte Rutenberg neue Träger
j anzuwerben, die Forderungen derselben waren zu unverschämt, und
so brach er denn am folgenden Morgen mit Decken und seiner Flinte
bepackt allein auf; unterwegs fand er endlich zwei junge Leute, die
ihm seine Sachen trugen, und so langte er spät Abends vor dem
Pfahl werke des Dorfes Ambohimarante an, dessen Zugang schon
durch einen grossen Stein gesperrt war. Jean Briten hatte in-
zwischen die Kisten ausgepackt, um vor den Leuten mit den Sachen
des „Weissen“ zu rcuommiren, dabei waren aber einige Flaschen
Wein und Biscuit abhanden gekommen.
Am andern Morgen wurde ihre Lage noch unangenehmer, denn
die vor einigen Tagen weggejagten Träger waren hier eingetroflfen
und hatten allerlei schlimme Gerüchte ausgesprengt, so dass Niemand
die Sachen tragen wollte. Trotz der anstrengenden Märsche der
letzten Tage entschloss sich Rutenberg, nach Ambohibeloma zu gehen,
1 um dort womöglich Marmitcn zu gewinnen. Zwei Tage wanderte er
nun einsam, ohne Führer und ohne Kenntniss der Landessprache
durch Sonnenbrand, bald auf der Hochebene, bald durch Sümpfe und
Flüsse watend, mit zerrissenem Schuhwerk dahin. Durch mehrfache
Irrwege und starke Regenschauer wiederholt aufgehalten, langte er
endlich gegen Abend vor dem Hause des englischen Missionars
Mr. Peile an, erfährt aber zu seinem Schrecken, dass auch dieser
zu einer wichtigen Versammlung nach Antananarivo gegangen sei.
Aber die Gattin desselben nimmt unseren erschöpften Reisenden
gastlich auf, schickt Leute nach Ambohimarante, um das Gepäck und
den Diener zu holen und gleichzeitig einen Boten nach Antananarivo,
um durch Mr. Peile ein Paar neue Stiefeln besorgen zu lassen.
Wirklich traf am 18. Januar das Gepäck und bald darauf auch
ein Paar guter englischer Stiefeln ein. Am folgenden Tage kehrte
auch Herr Peile mit dem Missionar von Fihaouana aus der Haupt-
stadt zurück und brachte allerlei traurige und erfreuliche Neuig-
keiten mit: dass die Norweger in Murundava an der Westküste
ermordet seien, dass der Minister die Sakkalaven bekriegen wolle,
und dass ein Engländer eine Eisenbahn von Tamatave an der Ost-
küste nach Antananarivo zu bauen sich erboten habe, dass aber die
Regierung unschlüssig sei, weil sie den dadurch wachsenden Einfluss
der Europäer im Lande fürchte. Rutenberg’s Weitermarsch wurde
übrigens hier durch eine kleine Unvorsichtigkeit noch für einige Zeit
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verhindert: er war am frühen Morgen mit unbedecktem Haupte in
den Sonnenschein getreten, um seine Pflanzen zu trocknen. Plötzlich
empfand er einen stechenden Schmerz im Kopfe, allgemeine Körper-
schwäche und ein Schüttelfrost befiel ihn, aber er hielt diese Er-
scheinung für unbedenklich und sandte die neu angeworbenen Träger
mit dem Gepäck nach Fihaonana voraus mit dem Versprechen, am
nächsten Tage mit seinem Diener folgen zu wollen. Aber bald stellte
sich heftiger Kopfschmerz und Fieber ein, gegen das kein Chinin
nützte. Erst am 28. Januar konnte er den Versuch machen, seinen
nun schon dreimal vergeblich begonnenen Marsch nach Mevatanan
anzutreten. Der Weg führte in nördlicher Richtung über den
Umbifotsy und Ikiopa, der an dieser Stelle ziemlich breit und von
Felsriffen durchzogen ist, dann durch Reisfelder zu einem steilen
Bergrücken empor. Unter strömendem Regen geht es dann auf
sumpfigen Wiesen, durch Buschwerk, Gräben und Bäche rüstig weiter,
aber die Hoffnung, noch am selben Abend Fihaonana zu erreichen,
wurde nicht erfüllt. In feuchten Kleidern, ohne Schlafdecken musste
die Nacht in einem armseligen Dorfe Suavina zugebracht werden,
was für unseren in Folge des Sonnenstichs noch sehr schwachen
Wanderer wieder von den nachtheiligsten Folgen war. Kaum war
am nächsten Morgen das Ziel erreicht, als auch ein neuer Fieber-
anfall eintrat, der seinen Wcitermarsch bis zum 5. Februar ver-
zögerte. Durch die Bemühungen des Mr. Matthews erhielt er vier
Sänftenträger, zwei Soldaten aus der Hauptstadt und zwei Gepäck-
träger, und rasch geht es vorwärts, um wo möglich noch in Majuuga
den nach Nossi Be fahrenden Dampfer zu erreichen. Ein vielfach
gewundener Fluss, der Andranubc, muss dreimal überschritten wer-
den, ehe man den weit sichtbaren Angavo erreicht, der von Süden
gesehen als eine scharfe Spitze, von Osten dagegen als ein breiter
Bergrücken erscheint. Gegen Mittag wird in der verfallenen Kirche
des Dorfes Maharidaza kurze Rast gemacht, denn die Träger
sind kräftig und gutwillig, ja es scheint ihnen Vergnügen zu machen,
auf den steilsten Wegen mit dem Tragstuhle die Berge zu erklimmen.
Oben auf der Passhöhe des zwischen Ikiopa und Betsibuka nordöst-
lich streichenden Gebirges bot sich eine überraschende Aussicht auf
die hinter und neben einander gelagerten Höhenzüge und Berggipfel,
denen aber das freundliche Laubdach fehlt. Die Dörfer, welche
passirt werden, sind recht armselig, die Häuser aus Schilf erbaut
und mit Dünger verklebt, dabei wird die Hitze in den Thälern
immer unerträglicher und die eintönige Seenerie von grauen Gneis-
blöcken, rothem Sande und hellgrünen Wiesen ist wenig geeignet,
den ermüdeten Geist zu erfrischen. Aber bei allen diesen Strapazen,
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selbst in den trüben Stimmungen, die unseren kühnen Reisenden
gelegentlich im Hinblick auf seinen geschwächten Körper und auf
die bei solchem Unternehmen unvermeidlichen Widerwärtigkeiten
zuweilen anwandeln, gedenkt er mit rührender Liebe an seine
Heiraath, seine Eltern und Geschwister, und vergisst nie, die
wichtigeren Festtage der Familie in seinem Tagebuche mit den
innigsten Glückwünschen zu verzeichnen.
Nur selten werden Leute unterwegs angetroffen, die Salz tragen
oder Kühe vor sich hertreiben, meistens in diesem Falle zu grösseren
Karawanen vereinigt, um vor räuberischem Ueberfalle gesichert zu
sein. Gelegentlich befinden sich auch Kranke darunter, die sich zu
einer Missionsstation tragen lassen, um hier Heilung ihrer Gebrechen
zu finden. Am 8. Februar verursachte der hoch angeschwollene,
mit vielen Felsriffen durchsetzte Manukumita einen längeren Auf-
enthalt, da bei seiner Tiefe das Hinüberschaffen des Gepäcks und
des Tragstuhls grosse Vorsicht erforderte. Jenseits desselben erheben
sich auf sanft ansteigenden grünen Wiesen die colossalen, fast
senkrecht anstehenden Felswände des Andribaberges, nach dessen
Umgehung am 10. Februar der Ikiopa wieder berührt wird. Die
Landschaft wird jetzt etwas freundlicher, in den Thalsenkungen
wachsen Raffia und Urania, an den Bächen kandelaberförmige Pan-
danus und orangenfarbige Orchideen, der breite aber Hache Ikiopa
umfäugt zahlreiche Felsinseln und bildet kleine Wasserfälle, aber
Mücken und Stechfliegen treten in immer grösseren Schaareu auf
und dringen selbst durch die Raffiavorhänge in die Hütten ein. Die
Höhenzüge werden immer niedriger, der Boden steiniger, aber trotz-
dem eilen die Träger im Geschwindschritt auf den mit Festungs-
werken umgebenen Ort Mevatauan zu, wo die Wanderung ihr Ende
nehmen sollte.
Der Ort ist ziemlich gross und enthält eine Reihe Verkaufs-
buden, in welchen Fleisch, Baumwollenstoffe, Früchte und besonders
Salz feil gehalten wird. Durch Vermittelung eines hier gerade in
Handelsgeschäften anwesenden französischen Kaufmanns, Mr. Arnaud,
den Rutenberg früher in Marovay kennen gelernt hatte, gelang es
ihm, für den folgenden Tag ein Boot zur Weiterfahrt auf dem Ikiopa
zu miethen, was anfangs um so schwieriger fiel, da es gerade ein
Dienstag war, der bei den Malagasclien als Uuglückstag gilt. Am
Abend fand in Mevatanan die Einweihung des neu erbauten Arnaud-
schen Hauses statt, an der sich die ganze Bevölkerung, die Behörden
an der Spitze, betheiligte. Europäischer und Malagasch Rum wurde
den Gästen gereicht, Lieder unter fortwährendem Händeklatschen
gesungen, schliesslich ein Gebet gesprochen, worauf die Makoas
Geographische Blätter, Bremen 1880. 10
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einen wilden Tanz ausführten. Am folgenden Morgen sandte der
Kommandant zwei Hühner und acht Eier als Geschenk mit einer
Einladung zum Tanze! Und wirklich musste unser wahrlich nicht
dadurch erfreuter Reisender mit einer Polka debutiren, die den
„Damen“ ausserordentlich gefiel. Erst gegen 10 Uhr konnte das
sehr grosse und breite, aber ziemlich morsche Boot vom Lande
abstossen und fuhr dann auf dem schnell strömenden Ikiopa zwischen
den hohen, mit dichtem Rohrgebüsche besetzten Ufern hinunter.
Sakkalavenhäuser und Bauanenpflanzungeu wechseln mit Raffia- und
anderen Bäumen ah, die namentlich nach Südwesten zu grösseren
Waldungen zusammenzutreten scheinen. Gegen Mittag wurde der
Zusammenfluss des Ikiopa mit dem Betsibuka erreicht, aber Ilaupt-
und Nebenfluss sind von einer Menge Inseln durchzogen, so dass
ihre Wassermasse wenig zur Geltung kommt. Weiter unterhalb
mündet auf der linken Seite der Ainbarambilo, an welchem ein
gleichnamiges Saccalavendorf liegt; hier versuchten die Schiffer
Bananen zu kaufen, aber vergebens, sie waren sämmtlich zur Rum-
fabrikation verbraucht! Die Fahrt geht ziemlich rasch von statten,
wenn auch wiederholt gelandet werden muss, um Reis zu kochen,
oder die heftigen Regenschauer vorüberziehen zu lassen, gegen die
das im Schiffe improvisirte Sonnenzelt nicht genügend Schutz bot.
Am 14. Februar landete das Boot in Marovay. Der Hovakomman-
dant Hess sich ausführlichen Bericht über den Verlauf der Reise
erstatten, wies Rutenberg sein altes Quartier an und schickte ihm
Hühner und Reis als Geschenk. Am folgenden Tage fand sich ein
Araber bereit, unseren Reisenden und seine Begleiter nach Majunga
zu fahren, aber gegen Abend trat Windstille ein, dabei wurden die
Mücken immer zudringlicher und die Abendkühle empfindlicher, so
dass man unter einer Raffiadecke Schutz suchen musste. Früh
Morgens griffen alle zu den Rudern und so wurde am 16. Februar
mit Sonnenuntergang Majunga erreicht, wo Rutenberg mit einem
Mr. Dowine zusammentraf, der mit dem Consul Elton eine Reise
vom oberen Nyassasee nach Zanzibar gemacht hatte. Hier erfuhr
unser Reisender auch zu seiner Freude, dass das Gerücht von der
Ermordung der Norweger in Murundava unwahr sei, aber sein eigener
Zustand wurde von Tag zu Tag schlechter, so dass er zu seinem
Leidwesen längere Zeit in dem Hause des englischen Missionars
Mr. Pickersgild bleiben musste. Trotzdem will er nicht direct nach
Nossi Bö zurückfahren, sondern noch längs der Küste nach Auanalava
gehen. Am 25. Februar wird der Marsch angetreten; durch Mangrove-
büsche und über Sandhügel führt der Weg zunächst nach einem
kleinen Dorfe Miarinarivo, wo die Wanderer gastfreundlich auf-
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genommen wurden. Es bieten sich hier in dem flachen Küstenlande
ganz hübsche Landschaftsbilder : zerstreute Büsche und Bäume, wenn
auch kein eigentlicher Wald, zwischen denen Teiche und frisch
grünende Wiesen hindurchschimmern; nur die Dörfer liegen recht
weit von einander entfernt und sehen meist sehr armselig aus.
(Antananafaffy, Marumpa.) Kleine Küstenflüsse sperren wiederholt
den Weg (Andsangoma, der in die Bai von Bernbetock fällt, Maha-
mavy mit dem Andranalava, der nördlich von Majunga in die See
sich ergiesst) und nur selten bietet ein umgestürzter Baumstamm
eine natürliche, aber auch gefährliche Brücke ; flache Bergrücken mit
steilen Abhängen streichen in östlicher Richtung, Sümpfe mit ein-
zelnen prächtigen Pflanzen schliessen sich daran an und hauchen bei
der grossen Hitze unangenehme Dünste aus, die auf die Gesundheit
unseres kühnen Reisenden wieder einen nachtheiligen Einfluss aus-
üben. Sein Appetit wird schlecht und es ist für ihn ein wahres
Labsal, wenn es ihm gelingt, etwas Milch zu erhaschen (wie in
Ambomena in der Nähe des Masokohenzaflusses). Am 3. März wird
der grosse Mahazambafluss erreicht, wo in dem gleichnamigen Dorfe
ein Sakkalave den Wanderern einen sehr freundlichen Empfang
bereitet und sie mit Melonen bewiithet. Das Boot, mit welchem
man über den Fluss setzt, ist so schmal, dass es viermal hin und
wieder fahren muss, ehe Begleitung und Gepäck hinübergeschafft ist.
Bis an die Hüfte versanken aber noch am nördlichen Flussufer die
Träger in Schlamm und Wasser und erst nach 2 , /*stündigem Marsche
durch die Salzsümpfe kam man wieder zu tieferen Stellen, wo ein
Boot benutzt werden konnte. Schliesslich wurde wieder festes Land
erreicht und durch hohes Gras, Buschwerk und Gehölz geht es auf
hügeligem Terrain weiter nach Andrumbu. Am folgenden Tage
dieselbe Scenerie: lang ausgedehnte Sümpfe, tiefe Wasserlöcher, die
mit Hülfe einer nothdürftig ausgettickten Lakka passirt werden, dann
einige Hütten, aus denen laute Todtenklage erscholl; schliesslich
kam man zu dem zweiten Hauptflusse in diesem Gebiete, dem Suffia,
welcher breiter als die Weser bei Bremen, am rechten Ufer ziemlich
tief, dagegen am linken flach und sandig ist. In den Dörfern war
weder ein Huhn noch Reis zu kaufen, selbst Feuerholz und Wasser
wird gelegentlich verweigert und sikadzi (six pence) ist die kleinste
Geldmünze, die die Leute als Bezahlung annehmen.
Der Einfluss der Hovas in diesem Küstenstriche ist sehr gering,
am Suffia wurde von den Sakkalaven jegliche Beziehung mit Anta-
nanarivo geleugnet, ihr König sei Fanamzuina auf Nossi Lava. Sie
sind gegen Fremde sehr misstrauisch und verweigerten sogar manch-
mal die Auskunft über den Namen ihrer Ortschaft. Aber es sollte
10 *
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noch schlimmer kommen ! Als Rutenherg am 10. März erwachte und
wie gewöhnlich seinem Diener Denis zurief, er solle Feuer anmachen,
war der Diener und ein Träger mit dem Gewehr und einem kleinen
Handkoffer, in welchem sich 50 Dollars, einige Kleidungsstücke,
Pflanzen, Chinin, Thermometer, Pulver und Blei befanden, ver-
schwunden. Eine Frau aus dem Nachbarhause hatte beide bei
Tagesanbruch damit fortgehen sehen und sogleich die Träger davon
benachrichtigt, die dann auch eine vergebliche Jagd auf die Räuber
anstellten. Gerade jenem Diener hatte Rutenberg am meisten ver-
traut, da er in Nossi Be von Jesuiten erzogen, sich stets dienstwillig
und zutraulich gezeigt hatte. Der einzige Trost war nur, dass
Rutenberg die werthvollsten Sachen in Majunga aus dem Koffer ge-
nommen und mit dem Dampfer nach Nossibd geschickt hatte. Es
wurde nun beschlossen, dass ein Träger nach Saffymainty an der
Mündung des Suffia gehen sollte, um den Flüchtlingen das Ent-
kommen zu Wasser zu erschweren; ein anderer sollte im Orte
bleiben, um weitere Nachforschungen in der Umgegend anzustellen.
Rutenberg selbst wollte weiter marschiren, begleitet von den übrigen
fünf Marmiten, aber schon nach einer Stunde musste er den Trag-
stuhl benutzen, da die kleinste Steigung ihm beschwerlich fiel. In
Maugali erfuhr er, dass Denis am frühen Morgen das Dorf passirt
habe, so dass er vermuthlich nach Duani (Antungibi) an der Küste
und von da zu Schiff entflohen ist, nachdem er sich mit seinem
Genossen die Beute getheilt hat.*) Rutenberg selbst musste sich
nun von Ort zu Ort weiter schleppen, da seine geringe Baarschaft
nicht ausreichte, um eine weitere Seefahrt zu bezahlen. Mit Mühe
erhält er in den einzelnen Ortschaften Reis und nach langem Feilschen
Führer bis zur nächsten Station. Uebrigens sind hier die Sakka-
laven ganz zuvorkommend und treten nicht wie in der Provinz
Valalafotsy bewaffnet auf. Einzelne Frauen tragen Holzpflöcke von
der Grösse eines Fünfmarkstücks in den Ohrläppchen und Perlen-
schnüre au den Armen und Beinen; die Männer tättowiren sich.
Zuweilen erregte die Kunde von dem Missgeschicke des Reisen-
den das Mitleid eines Häuptlings, und bewog ihn, Hühner, Fische
oder einen Streifen an der Sonne gedörrten Ocbsenfleisches als
Geschenk zu senden. Auch erbarmte sich die Natur selbst des
Beraubten, indem einzelne Palmen (Vauvatoka) ihre orangegrossen,
grünen, kemreichen Früchte darboten, welche einen angenehm
säuerlich-süssen Geschmack haben. Endlich am 14. März wurde
*) Herr Hildebrandt hat die beiden Diebe 1879 in Majunga festgenommen und
uach Nossi B6 gebracht, wo sie zu Zuchthausstrafen verurtheilt worden sind.
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J
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Ananalava am Luzaflusse erreicht, wo durch Vermittelung von zwei
Norwegern, den Vertretern eines einst hier blühenden englischen
Geschäftshauses, die Marmiten und Führer abgelohnt und ein Boot
nach Murundsanga gemiethet wird. Am jenseitigen Ufer des breiten
und stark strömenden Flusses wird Wasser und Kochgeschirr an
Bord genommen und langsam treibt das Schiff bei flauem Winde
dem Meere zu und dann immer dicht an der Küste entlang, so dass
bei den vielen Buchten die Fahrt uur langsam von statten geht.
Das Ufer ist hügelig, die Ausläufer des hier endenden von Nord nach
Süd streichenden Hauptgebirgszuges von Madagaskar, zahlreiche
grosse (Nossi Lava und Nossi Saba) und kleine Inseln begrenzen
die Aussicht nach Westen und Süden, Felsriffe machen die Fahrt
zwischen denselben sehr gefährlich, so dass die grösste Vorsicht
nüthig ist. Erst gegen Mitternacht wird Murundsanga erreicht, wo
mit Stöcken bewaffnete Steuerbeamte (Hovas) sofort eine Unter-
suchung der Fracht Vornahmen. Am folgenden Morgen musste
Rutenberg dem Gouverneur auf der Bergfeste einen Besuch abstatten
und erhielt vort ihm eine Flasche Rothwein zum Geschenk. Dann
wurde die Fahrt bei schwachem Winde längs der Küste fortgesetzt.
Endlich erhebt sich ein günstiger Wind und am Mittag des 18. März
landet das Schiff in Lukubö auf Nossi Be und nach 4 V* monatlicher
Wanderung findet Rutenberg wieder Ruhe und Pflege bei den gast-
freundlichen Hamburgern.
D. Die letzte Reise an der Westküste.
Dass wir von der dritten Reise unseres unglücklichen Freundes
überhaupt noch einige Nachrichten besitzen, verdanken wir den
Bemühungen des mehrfach erwähnten Dr. Hildebrandt, welcher den
Rest des Tagebuchs aus den Händen eines Mohammedaners in der
Nähe von Beravi erhielt.
Am 2. Mai 1878 verliess Rutenberg mit vier Makoas wieder
Nossi Bc und fuhr an der Insel Nossicum Be und dem Vorgebirge
Madagaskars Ankifi vorbei längs der Küste nach Süden. Der Wind
war ziemlich heftig, so dass sich zwei Männer auf den Balancirbaum
setzen mussten, um das Kentern des Bootes zu verhindern. Gegen
Abend wurde in Amboi gelandet, wo die Hovazollbeamten dem
»Weissen“ bereitwillig ein kleines freundliches Haus als Nachtquartier
einräumten. Mit Absynth und Rheinwein wurde auf die Gesundheit
des deutschen Kaisers und der Königin von Madagaskar getrunken;
a 's ffier Rutenberg den Kommandanten um die Erlaubniss bat, von
aus in das Innere der Provinz Sambava Vordringen zu dürfen,
•Wehte derselbe Schwierigkeiten, da das Land zu unsicher sei. Unser
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unerschrockener Reisender erbot sich, einen Schein auszustellen, dass
er gegen den Willen des Kommandanten die Reise unternehme und
alle Folgen tragen wolle, und wirklich wurde am 4. Mai der Versuch
gemacht. Unter Führung eines Mannes aus Nossi Bö erstieg Ruten-
berg die in östlicher Richtung streichenden Höhenzüge und erreichte
nach 2*/4Stündigem Marsche Mailaka an der Südspitze des Passandava-
busens, wo viel Schiffsbau betrieben zu werden scheint, da mehrere
Böte auf den Helgen lagen. Der Hovakotnmandant war sehr gast-
freundlich und schenkte unserem Reisenden Absynth, Hühner und
Reis, aber auch hier war kein Führer nach dem nächsten Ziele, Mila
am Samberano, zu bekommen. So wurde denn der Marsch auf gut
Glück längs der Meeresküste fortgesetzt durch Mangrovesümpfe und
mannshohes Gras, an niedrigen Bergzügen (bei Ambodiinandera) hin
bis zu dem ziemlich breiten Flusse Dsanguan, an dessen linkem Ufer
ein weit zerstreut liegendes Dorf gleichen Namens gegen Abend
erreicht wurde. Ein Creole bewirthete den Weissen, aber der
Kommandant forderte für einen Führer einen so hohen Preis, dass
Rutenberg schliesslich den Weitermarsch nach Osten aufgeben musste,
da ohne Führer der Weg durch das Gebirge und die menschenleeren
Wälder nicht zu finden War. Missmuthig über die Vereitelung seines
Planes fuhr nun unser Freund auf dem Dsanguan hinab, dann an
der Küste entlang nach Amboi zurück, wo er diesmal weniger freund-
lich empfangen wurde. Aber nach zwei Tagen erklärte sich ein
Mann bereit, ihm einen anderen Weg nach Sambava zu zeigen.
Mühsam wird der hinter dem Dorfe gelegene steile Berg erklommen,
auf welchem ursprünglich die Hovafestung lag, dann geht es auf
dessen Rücken hin durch schattigen Hochwald und hohes Gras.
Aber das Marschiren griff Rutenberg sehr an, so dass er gern die
sich bietende Gelegenheit benutzte, zwei Sakkalaven und zwei Makoas
als Sänftenträger zu engagiren. Längs des kleinen Dzudzaflusses
marschirend wurde gegen Mittag Andampi erreicht, wo zwei neue
Träger gewonnen wurden. Durch fast über zwei Meter hohes Gras, in
welchem die Gepäckträger oft vollkommen verschwanden, ging es
dann auf schlüpfrigen Wegen in ein tiefes Thal hinab und auf der
anderen Seite wieder hinauf zu dem hochgelegenen Dorfe Arabalavitsi,
wo Rutenberg selbst gegen das Versprechen, alle Krähten zu be-
sichtigen, keine Sänftenträger bekommen konnte, so dasS\ er sich
abermals zur Fusswanderung entschliessen musste. Dichtes '-Gehölz,
in welchem umgestürzte Bäume, Moräste und Bäche oft deft Weg
sperren, dann Gebüsch, das keinen Schatten spendet und noch 'dazu
durch seine weit ragenden Zweige das Aufspannen des SonnenschiiVis
unmöglich macht, endlich Sümpfe, in welchen zahlreiche Blutegel
fe
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hausen und sich zu Dutzenden an den Beinen und Füssen der
Wanderer festsaugen, bringen aber schliesslich eine solche Mattig-
keit bei unserem, durch die früheren Krankheiten leider sehr ent-
kräfteten Freunde hervor, dass er einen Makoa vorausseudet, um
aus dem nächsten Dorfe eine Filanzau (Tragbahre) zu holen. Der
Mann geht und — kommt nicht wieder! Nach langem, vergeblichem
Warten muss sich Rutenberg bis zu den nächsten, eine Stunde ent-
fernten Hütten schleppen, wo er übernachtete. Am folgenden Morgen
bedeckte dichter Nebel Berg und Thal, der erst spät von der Sonne
zerstreut wurde. Ohne Führer geht es weiter den Bezowo hinauf,
auf dessen Spitze ein Dorf gleichen Namens liegt, wo sich endlich
wieder vier Makoas bereit fanden, als Sänftenträger zu dienen. In
der Ferne erblickte man schon die Festung Muruntsanga, aber noch
mancher Berg musste erklommen, mancher Bach durchkreuzt wer-
den, ehe man am Ambarube anlangte, der am Fusse des Burgberges
vorbeifliesst. In dem aus Korallenblöcken erbauten Hause eines
Indiers fand Rutenberg Unterkommen und verweilte dort fünf Tage
lang. Am 17. Mai konnte die Reise endlich fortgesetzt werden,
anfangs auf demselben Wege, den man gekommen war, dann an dem
Westfusse des Bezowo vorbei nach dem Dorfe Andravahonko, wo
man übernachten musste, da die nächste Station nicht mehr zu
erreichen war. Die Dörfer waren meist menschenleer, da es gerade
die Zeit der Reisernte war. Ueber Antsahabe, Kapaui und Ainba-
tumalam geht es nach Andraniuualaza am gleichnamigen Flusse, wo
ein Schiff lag, das Reis nach Nossi B6 bringen sollte. Am 22. Mai,
als man das Dorf Ambohitsara passirt hatte, weigerten sich vier
Leute, weiter zu marschiren, und Rutenberg musste mit den drei
übrigen wieder zu Fuss weiter gehen. Doch nach zweistündigem
Mansche wurde er dieser Unbequemlichkeit wieder überhoben, denn
der Häuptling von Bomazonga bot ihm für einen Dollar seine Lakka zur
Fahrt nach Analalava an. Ein erquickendes Bad im Flusse Komazonga
und frische Milch belebten wieder die gedrückten Lebensgeister unseres
Freundes und voll frohen Muthes blieb er bei dem freundlichen Sakka-
laven zur Nacht. Das Boot war eine Lankompiara, d. h. ein schmaler,
nach beiden Seiten spitzauslaufender Kahn mit Holzverzierungen an
den Seiten; auf diesem fuhr man am folgenden Morgen den Fluss
hinab zwischen Mangrovewaldungen hindurch in den breiten Amberu-
lava und schliesslich in die sogenannte Luza Bucht (die Eingeborenen
kennen diesen Namen nicht) hinaus. Der Wind war schwach, wes-
halb fortwährend gerudert werden musste. Als man das Dorf
Ambiki erreichte, verlangten die Bewohner, dass die Schiffsinsassen
ihre blauen indischen Tücher (Kaniki) entfernten, w'eil sonst der für
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den Reisbau nothwendige Regen ausbleiben würde! Die Ufer sind
theils bewaldet, theils felsig und von mehreren kleinen Inseln um-
säumt. Bei einer Landspitze der Westküste (Duani) wurde Reis in
das Wasser geschüttet, um die Geister der hier in früheren Schlachten
Gefallenen zu versöhnen. Hier biegt die Bucht nach Südwesten um
und öffnet sich allmählich den Meereswellen, die sich bei Gegenwind
oft gewaltig aufbäumen. Endlich um 2 1 !* Uhr landete das Schiff in
Analalava, am Russe des Ambutsimpo. Die Sakkalaven sind hier
den Unternehmungen der Europäer weniger günstig und haben die
Kaffeeplantage eines Herrn Haugewig niedergebrannt. Das landes-
übliche Getränk wird aus gebranntem Reis hergestellt, wozu Manioc-
blätter gegessen werden.
Am 25. Mai 1878 fuhr Rutenberg in Begleitung des Herrn
Haugewig längs der Küste nach Marotaula (in südlicher Richtung)
und am folgenden Tage nach Ampassandava immer mühsam gegen
den Südostpassat ankämpfend. Dabei passirte den beiden Seefahrern
noch das Missgeschick, dass als sie am nächsten Morgen ihr Boot
wieder besteigen wollten, dasselbe fern vom Meere tief im Schlamme
steckte, da inzwischen die Fluth abgelaufen war, mit der sie am
vergangenen Abend gelandet. Erst am Mittag wurde das Boot
wieder flott gemacht und die Fahrt an der Küste in südwestlicher
Richtung fortgesetzt bis tief in die düstere Nacht hinein, wo das
Südende der Narindabucht bei Duani (Antungibi) erreicht wurde, die
Residenz eines „Königs“ der Sakkalaven, der aber wie alle seines-
gleichen häufig seinen Wohnsitz ändert. Hier fand Rutenberg sehr
freundliche Aufnahme und Bewirthung (Rothwein und Ochsentieisch !),
auch erhielt er für den folgenden Tag Träger, mit denen er nun
allein durch die sumpfige Ebene nach Ambudimadora in der Land-
schaft Antantiluki marschirte. Das Gras scheint hier in allen Jahres-
zeiten niedergebrannt zu werden, denn auch jetzt sah Rutenberg
wiederholt in dunklen Nächten den Feuerschein von brennenden
Grasflächen. Einige mit Palmen besetzte Hügel wurden überstiegen,
darauf der Bemafaikafluss gekreuzt und schliesslich in dem Dorfe
Langa Rast gelullten, wo die Sakkalaven sich wieder weniger ent-
gegenkommend zeigten. Der Weg zog sich dann über eine Hoch-
ebene (Angasamnndi) hin, von welcher Rutenberg die Gebirge in
der Mitte der Insel mit ihrem prächtigen Waldsaume weit über-
schauen konnte. Doch die Freude über das glückliche Vordringen
in diese wenig bekannten Gegenden sollte unserem muthigen Wan-
derer bald wieder getrübt werden, denn schon am 31. Mai stellte
sich Fieber bei ihm ein, vielleicht in Folge der kühlen, nebeligen
Nächte, gegen die er in seinem Quartier selten ausreichenden Schutz
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fand. Doch trat der Anfall nicht so heftig auf, dass unser Freund
sich dadurch vom Weitermarsche hätte abschrecken lassen, vielmehr
setzte er nach reichlichem Genuss von Milch, die ihm auf seinen
Reisen stets als ein Labsal erschien, die Wanderung fort, wobei ihm
sein Mückennetz gegen die jetzt wieder stark hervortretende Land-
plage gute Dienste leistete. Am 2. Juni erreichte er auf seinem
vorherrschend nach Südosten gerichteten Wege Maevasamba, wo er
die Leute um einen grossen Kübel voll Rum versammelt fand, den
sie unter Gesang und Händeklatschen zu leeren bemüht waren. Der
völlig erblindete Häuptling schenkte dem Vazaha (Weissen) Hühner,
Reis und Honig. Diese freundliche Aufnahme schien dem Diener
Rutenberg’s so zu gefallen, dass er ihn heimlich verliess, doch schon
am folgenden Tage besann er sich eines bessern und stellte sich
plötzlich bei dem unbeirrt Weiterziehenden gegen Mittag wieder ein.
Einzelne Nebenflüsse des Suffia (Andohalanga und Tumpukuaza)
kreuzen und begleiten den Weg nach Osten fast bis zu dem Dorfe
Suffia am gleichnamigen Flusse, hinter welchem sich die beiden Berge
Angaboloha und Andrukonga erheben, von denen der erstere als ein
gewaltiger Felskoloss mit steilen Wänden und dunkelbelaubten Spitzen
erscheint. Bei dem Dorfe Ambohimandriena wird der 60 bis 80 Meter
breite, langsam strömende Fluss mit Hülfe einer Lakka überschritten
und nun beginnt die mühsame Wanderung durch eine ganz romantische
Gebirgsgegend nach der Hovafestung Maudritsora, ein Antananarivo
im Kleinen, wo ein feierlicher Empfang durch den Kommandanten
und seine Officiere stattfand. Am Nachmittage wurde zur Feier ein
Ochse geschlachtet und dem Vahaza (Weissen) ein Geschenk an
Gänsen, Hühnern und Reis dargebracht, wobei eine Menge Reden
gehalten wurden. Aber trotz dieser ausserordentlichen Gastfreund-
schaft wäre Rutenberg gern bald wieder abgezogen aus der von
Ungeziefer wimmelnden Wohnung, wenn ihn nicht wiederholte Fieber-
anfälle mehrere Tage am Marschiren gehindert hätten.
Erst am 11. Juni fühlte Rutenberg sich wieder kräftig genug,
um einen Marsch zu wagen; von Dorf zu Dorf musste ein Führer
engagirt werden, da Niemand sich weit von seinem Heimathdorfe
entfernen wollte. In ostsüdöstlicher Richtung marschirend wird nach
einer Stunde der ziemlich breite, aber flache Mangaraha durch-
schritten, dann geht es auf feuchtem Boden bergauf und bergab
nach dem Dorfe Ambudimandira, in dessen Mitte auf einem freien
Platze eine prächtige Tamarinde ihre Aeste ausbreitet. Der Erd-
boden ist vielfach tief gespalten, so dass man zwei Schichten über
einander gelagert erkennen kann: rothen Lehm und blauen Gravel,
der von breiten Quarzstricheu durchzogen ist. Die Gebirge zeigen
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schroffe Felswände, auf denen sich oft thurmartige Spitzen erheben.
Da die Führer als ihr Ziel möglichst nahe gelegene Orte wählten
und stets versicherten, dass es keinen anderen Weg gebe, so geschah
es häufig, dass man in Schlangenlinien nach Nordwesten anstatt
nach Südosten zog, ja am 25. Juni verliess sogar ein Sakkalaven-
führer seine Reisegesellschaft mitten in einem dichten Gebüsch, nach-
dem er sie zwei Stunden in der Irre herumgeführt hatte. Wie lange
Rutenberg noch in dieser Wildniss geweilt haben mag, lässt sich
nicht feststellen, da aus seinem Tagebuche mehrere Seiten heraus-
gerissen sind, auf welchem die weiteren Erlebnisse bis zum 24. Juli
notirt waren. Am letzteren Tage finden wir ihn in der Nähe von
Majunga,*) wo er gerade wegen einer Expedition nach Bali unter-
handelte. Ein Sakkalave erbot sich, ihn für IV* Dollars in seinem
Boote hinüber zu befördern, forderte aber ausser dem Gelde noch
Rum und Seife, da diese Artikel in der Landschaft Boeni schwer zu
haben seien. Kleine Perlen, die früher die Leute stets willfährig
machten, übten hier wenig Anziehungskraft aus. Am 26. Juli stach
das Boot wirklich in See und näherte sich bei massigem Winde der
Bai von Bali, deren Ufer flach und mit wenigen Bäumen besetzt
waren. Rutenberg hoffte durch Vermittlung des französischen Agenten
in Bali, Mr. Andre, Begleiter für eine Expedition in das Innere des
wilden Sakkalavenlaudes anwerben zu können, aber vergebens ; Herr
Andre war nach Saala und daun nach Majunga gefahren. Statt dessen
wurde Rutenberg von einem Manne in das Haus der Königin gerufen,
das ausser einigen Stühlen einen Spiegel und eine Laterne enthielt; hier
über seine Pläne und Wünsche ausgefragt, erhielt er den Bescheid,
am folgenden Tage den Entschluss des Kommandanten zu erwarten.
Er ging in das Haus des Mr. Andr6, das aber wegen der vielen
Ameisen, Eidechsen und Ratten wenig einladend zur Nachtruhe war.
Früh am folgenden Morgen wurde Rutenberg wieder zur „Majestät“
berufen und zuerst noch einmal vor dem „Palaste“ an „der Mauer
des Gerichtshofs“ verhört in Gegenwart des Kommandanten, der mit
einer silberbesetzten Weste bekleidet war. Unser Freund erklärte,
dass er den grossen Wald bei Maues besuchen wolle, um Pflanzen
für gute Medicin zu sammeln ; er sei weder Engländer noch Franzose,
sondern Deutscher, und seine Landsleute hätten keine Eroberungs-
gelüste. Der Kommandant schien mit seiner Rede zufrieden zu sein
und zog sich mit seinen Leuten zu einer Berathung zurück. Ruten-
berg stellte nun ein Geschenk von Korallen und Perlen zusammen,
*) Nach einem Briefe an Mr. Martin vom 25. Juli 1878 in Marambitsa
auf Nossi Valaun (?).
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legte seine Pistolen ab und begab sich in den Palast der „Königin“.
Hier sassen zwei jüngere, wohlgenährte Sakkalavenfrauen, die Königin
und ihre Schwester, mit Perlen und silbernen Arm- und Fussspangen
geschmückt. Sie waren mit den Geschenken zufrieden und versprachen
Führer bis Maues, aber weiter dürfe der „Weisse“ nicht gehen, denn
jenseits der Grenze herrsche der Krieg. Man fragte ihn, zu welchem
Könige er gehen wolle, er erwiderte, zu dem Hauptkönige Tsituhara,
darauf erwiderte man ihm, das sei zu gefährlich, er solle lieber
einen Brief an Lehidama schreiben, der würde ihm sicher Leute zur
Bedeckung schicken. Rutenberg aber erklärte, das würde ihn zu
lange aufhalten. Da wurde er entlassen, und aus dem Gelächter
hinter seinem Rückeu entnahm er, dass man ihn nur gefoppt habe.
Schon nach einer Viertelstunde kamen zwei neue Abgesandte mit
dem Befehle, entweder auf die Rückkehr des Herrn Andrd zu warten
oder brieflich Begleitung von Lehidama zu erbitten. Da verzweifelte
Rutenberg an der Möglichkeit, von der Küste aus in das Innere der
Insel zu gelangen, da er merkte, dass im Geheimen von Ort zu Ort die
Weisung ertheilt werde, den Weissen nicht weiter Vordringen zu lassen.
Die Besitzer der Böte machen sich das zu Nutze und fordern immer
höhere Preise für die Rückfahrt nach Majunga. Die Araber haben
hier grossen Einfluss und wollen ihn sich durch die Europäer nicht
schmälern lassen. Die Kriegsgerüchte schienen die Eingeborenen
besonders eifrig im Schiessen gemacht zu haben, denn Tag und
Nacht hörte man das Knattern der Schüsse, das wohl durch die
Ueberladung der Gewehre mit 3 — 6 Kugeln noch vermehrt wurde.
Im Uebrigen suchten sie ihren Muth durch fleissigen Rumgenuss zu
stärken, waren aber in Folge dessen häufig betrunkeu. Da für den
folgenden Tag die Rückkehr des Herrn Andrö erwartet wurde, so
wollte Rutenberg mit ihm noch Rücksprache über weitere Versuche
nehmen und machte in der Zwischenzeit kleiuere Touren in der
Umgegend. Bei dem Dorfe Ampaurupomena an der Marotiabucht.
sah er Leute im Wasser waten und mit einer Art Harpune den
Fischen nachstellen, doch musste unser armer Freund bald wegeu
eines neuen Fieberanfalls umkehren, der glücklicher Weise nicht lange
andauerte. Am 30. Juli verfolgte er wieder den Fluss Andrumaro
aufwärts, konnte aber wegen des dichten Schilfgebüsches (Honko), des
schlammigen Weges und der häutigen Stein- und Holzverschanzungen,
die hier in früherer Zeit errichtet zu sein schienen, nur langsam
weiter kommen. In dem Dorfe Kidzinzale fand er freundliche Auf-
nahme und erhielt sogar ein Geschenk an Reis, was ihm seit langer
Zeit nicht zu Theil geworden war. Aber der Glaube, dass die Weissen
nur deshalb das Land bereisten, um es für sich iu Besitz zu nehmen,
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war allgemein verbreitet, und als einzigen Trost zeigte man auf die
mit abenteuerlichen Figuren und arabischen Schriftzeichen bedeckten
Fahnen, die den bösen Feind abwehreu würden! Herr Andre kam
nicht, deshalb fuhr Rutenberg am 3. August mit einer Lakka nach
Behara, wo ihm gegen alles Erwarten die Aussicht auf Begleiter
und Führer in das Innere des Sakkalavenlandes eröffnet wurde. Die
Bewohner gehören dem Stamme Antankara (bei Vohemar) an und
sind ziemlich arm, sogar der Häuptling ist nur mit einigen Lumpen
bekleidet. Reis und Fische waren die einzige Speise, die sie dem
Fremdling bieten konnten. Es wurde verabredet, dass jeder der
vier Begleiter für den Marsch nach Manerinerina (?) 7 Dollars
erhalten solle, und zwar 2 */t beim Antritte der Reise, 2 in Tsihutara
und 2 '/* am Ziele. Doch als am 6. August der Kommandant wirk-
lich mit vier Leuten erschien, behauptete er, es sei ihm verboten,
dem „Weissen“ weiter zu helfen, man würde ihn um keinen Preis
in das Innere der Insel eindringen lassen. Auch Herr Andre schrieb :
„les gens sont de canailles“, er rathe nicht von dort aus einen
weiteren Versuch zu machen. Da kündigte auch Jean Briton seinem
Herrn den Dienst, weil er sein Leben nicht aufs Spiel setzen wolle.
Aber unser armer Freund baute auf sein Glück, miethete sich eine
Lakka für vier Dollars nach Vilamatse, um von dort mit einem
Lastschiffe nach der Missionsstation Mainteränu zu fahren. Der
Kommandant des Dorfes ( Behara) fuhr ihn und seine Begleiter, einen
Makua und einen Sakkalaven, deren Aeusseres allerdings wenig An-
ziehendes hatte, nach Belubaka, wo wegen des ungünstigen Windes
übernachtet werden musste. Erst am folgenden Mittag (8. August)
wurde Vilamatse erreicht, aber kein grösseres Schiff (dau) war zu
sehen, und das Dorf bestand nur aus wenigen Hütten, doch gab es
hier Hühner, Eier, Melonen und getrocknete Bananen (Feigen ähnlich).
Die Leute tragen dort zuweilen einen Schlüssel als Amulet am Zipfel
des Kopftuchs und Holzpflöcke in den Ohrläppchen. Ein Mann aus
Johama, der etwas englisch sprechen konnte, wusste trotz seiner
Galgenphysiognomie sich unserm leider allzu vertrauensseligen Freunde
als Diener zu empfehlen. Mit diesem und zwei Sakkalaven aus
Beravi segelte er dann an der Küste nach Süden, bei den Dörfern
Morotundru, Amzandru und der Mündung des Bemarivo vorbei bis
zu dem verlassenen Dorfe Tsarapitsaha, wo zwei Leute aus Tam-
baranu verkündeten, dass zwischen den Königreichen Mainteranu und
Menabe ein Krieg ausgebrochen sei. Deshalb entschloss sich Ruteu-
berg, von Beravi aus den Vormarsch in das Innere der Insel anzu-
treten. Am 18. August wurde das Dorf erreicht und am 20. August
der Marsch angetreten. Der eine Sakkalave trug Rutenberg’s, der
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andere sein eigenes Gewehr, ausserdem waren noch zwei Gepäck-
träger und der Diener Andruani die Begleiter uuseres kühnen
Reisendeu. Der Weg führte anfangs längs der Meeresküste über
Dünen und durch Schilf nach dem kleinen Dorfe Ambalarana, wo
das Mittagessen eingenommen wurde. Die Begleiter forderten Rum
und Rutenberg opferte eine Perlenschnur, um ihr Gelüste zu be-
friedigen. Dann ging es weiter zu dem Flusse Andranube und auf
dem jenseitigen Ufer nach Betundru, wo übernachtet wurde. Am
folgenden Tage musste der stark gewundene Fluss noch dreimal über-
schritten werden, ehe man zu der nächsten Station Benata gelangte,
wo Palmen das hügelige Terrain schmückten. Am 22. August wurde
Gebirgsland erreicht, das mit eigenthümlichen, zuckerhutähnlichen
Felsspitzen besetzt ist. Spät am Abend wird eine Wasserlache auf-
gefunden, neben welcher Rutenberg sein Mückenzelt aufschlug und
beim Scheine eines Lichtes noch seine Notizen machte. Am 23. August
kam man wieder an den Andranube, in dessen Nähe sich eine
Sakkalavenuiederlassung befand. Es war kein eigentliches Dorf,
denn da in dieser Gegend beständiger Kriegszustand herrschte, so
schlugen die Leute im Dunkel des Gehölzes ihre Raffiazelte auf, die
Männer standen mit Speereu und Gewehren von einer Schaar Ilunde
umgeben auf Posten, die Weiber hockten auf dem Erdboden und
verfertigten Matten oder kochten übelriechendes Ochsentleisch und
Mais (T’sako). Am 24. August übernahm einer von den Dorf-
bewohnern die Führung durch das starke mit Bambus besetzte
hügelige Land. Das Bergsteigen machte unserem Freunde viel
Beschwerden, aber die Hoffnung, doch seinen Zweck zu erreichen,
gab ihm stets neue Kraft.
Bis hierher (24. August 1878) reicht das Tagebuch unseres
unglücklichen Freundes und ich habe nur noch die traurige Pflicht,
sein schreckliches Ende nach dem sorgfältigen Berichte des Herrn
Uildebrandt an dieser Stelle mitzutheilen. Wie ich früher schon
berichtete, wurde dieser kühne Reisende von den beklagenswerthen
Eltern unseres Freundes mit den Nachforschungen nach dem Schicksale
ihres einzigen, so vielverheisseuden Sohnes beauftragt und hat darüber
die folgenden Nachrichten eiugesandt:
„Nach vielen Bemühungen glückte es mir endlich, iu Nossi B6
einen Küstenschuner zu chartern, und fuhr ich am 15. Juni 1879
mit der nöthigen Begleitung ab. Am 6. Juli landete ich in Beravi,
wo inzwischen trotz all meiner Geheimhaltung bereits die Nachricht
vom Kommen eines Europäers, der die Ermordung seines Stammes-
genossen rächen würde, eingetroffen war. Durch diese falsche Auf-
fassung meiner friedlichen Mission stiess ich auf manche Schwierig-
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keiten. Selbst die Mohammedaner Beravi’s geriethen in Furcht und
versuchten jede Kenntniss der früheren Reise eines Weissen oder
gar dessen Ermordung abzuleugueu. Ich liess mich jedoch nicht
beirren und gelangte durch Geschenke und Drohungen sehr bald zu
den nöthigen Vorkenntnissen. Die Mörder, welche noch kurze Zeit
vor mir in Beravi gewesen, um Vieh zu verkaufen, waren, als die
Nachricht von meinem Kommen eintraf, des Schutzes des Sakkalaven-
stammes in Beravi, den sie bis dahin genossen, verlustig geworden
und mussten das Gebiet verlassen. Sie waren nun zu einem Nachbar-
häuptling (Sauri) gezogen, der ihnen nach Sakkalavasitte Schutz
gewähren musste. Sie befinden sich wahrscheinlich noch heute in
diesem Gebiete. — Ich berief nun die Häuptlinge der umwohnenden
Sakkalaven, durch deren Gebiet ich reisen musste, nach Beravi zu
einer Berathung. Dieselben erschienen auch mit grossem bewaffneten
Gefolge. Nachdem sie ihrem Range entsprechende, ziemlich hohe
Geschenke erhalten und soustige Ceremonien beendet waren, setzte
ich ihnen in langer Rede den Zweck meines Dortseins auseinander.
Meine Absichten seien durchaus friedlich ; ich sei vom trauernden
Vater ausgesandt, um den Todesort seines unglücklichen Sohnes zu
besuchen, wenn möglich die Gebeine desselben zu sammeln und in
die Heimath zu briugen; ich käme nicht, um Rache an ihnen, den
ganz Unschuldigen, zu nehmen, sondern um am Orte der Unthat zu
beten; ich ersuche sie, mir Begleiter und Führer durch ihr Gebiet
zu geben, damit ich in Frieden meinen traurigen Auftrag ausführen
könne. Nach vielen Unterhandlungen, wie sie bei den Wilden stets
getrieben, nach Erhöhung der Geschenke und Bestechung der Räthe
erhielt ich endlich die Erlaubniss, durch ihr Gebiet zu ziehen, auch
stellten sich die verlangten Führer ein. — Ich warb in Beravi und
Umgegend noch einige Träger an, so dass sich die Karawane auf
etwa vierzig Bewaffnete stellte, — und brach am 11. Juli von Beravi
auf. Ich folgte so viel als möglich dem Wege meines unglücklichen
Vorgängers. — Am 14. Juli trat ich in das Gebiet der Binnenland-
stämme. Hier vermehrten sich die Schwierigkeiten. Die Dorf-
bewohner ergriffen die Flucht bei meinem Kommen, die ganze
Gegend war aufgeregt und unter Waffen. Ich hatte Boten an die
Häuptlinge zu senden und von ihnen zu empfangen, Geschenke aus-
zutheilen u. dgl. Uebrigens schon am 16. war der Weg vor uns
frei, Tags darauf langten wir beim letzten Dorfe (Beiei, wo Ruten-
berg zum letzteu Male unter schützendem Dache übernachtete) an.
Hier beginnt die grosse Wildniss, welche sich als neutrales Grenz-
land zwischen den Sakkalaven und Hova hinzieht. Der Vorsteher
dieses Dorfes, welcher mich auf Befehl eines Häuptlings als Führer
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— 159 —
bis zu meinem Ziele geleiten sollte, gerieth in grosse Furcht, da er
glaubte, er sollte als Sühnopfer am Orte der schändlichen That
getödtet werden. — Er entlief mehrmals und konnte nur durch
ernste Drohungen und lockende Versprechungen zur Erfüllung seiner
Pflicht angehalten werden. (Fast wäre es bei dieser Gelegenheit zu
einem offenen Kampfe mit den Dorfbewohnern gekommen.) Ueber
das Hochplateau Angasi gelangten wir am 19. Juli an den reissenden
Gebirgsfluss Maningaza. Hier ist der grausige Mord ausgeführt. Da,
wo der Fluss durch grosse Felsmasseu eingeengt, einen rauschenden
Wasserfall bildet, rindet sich eine kleine, flache Uferstelle, einiges
Strauchwerk beschattet den Platz. Hier hat der Unglückliche, nach-
dem er sein frugales Mahl eingenommen, sich zur Nachtruhe hin-
gestreckt. Im Schlafe überfielen ihn seine treulosen Begleiter,
Varatraza und Banamare. Sie hieben ihn mit schweren Knitteln
auf die Arme und in den Nacken; ein Dnlchstoss in den Rücken
endete das Leben des Wehrlosen. Jetzt banden die Scheusslichen
Stricke um den Leichnam und befestigten schwere Steine daran.
Dann warfen sie ihn in den Fluss, da wo er am tiefsten und von
zahlreichen Krokodilen bewohnt ist. Der dritte Begleiter (Andruani?)
betheiligte sich nicht au der Unthat. Er flehte die Mörder um sein
Leben an, gelobte ewiges Schweigen — und sie Hessen ihn laufen,
doch hat er, als er sich in Sicherheit fühlte, den ganzen Hergang
des Verbrechens erzählt.“
Vergeblich Hess nun Dr. Hildebrandt den zwei Meter tiefen Fluss
nach allen Richtungen von guten Tauchern durchsuchen. Schliesslich
errichtete er nach der Sitte der Eingeborenen einen hohen Stein-
haufen als einfaches, aber bleibendes Monument unseres unglücklichen
Freundes. Fortan wird jeder Vorüberziehende einen Stein zu den
vorhandenen hinzufügen und noch nach vielen Generationen wird
dadurch an den unglücklichen Weissen erinuert werden, der fern
der Heimath, hier als Opfer seines Erforschungstriebes von ruch-
loser Mörderhand fiel.
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Die Reste der Franklin-Expedition.
Die Aufsuchung der verschollenen Polarexpedition des Sir John
Franklin bildete, wie man weiss, die Aufgabe zahlreicher von Amerika
und England aus Jahrzehnte hindurch in’s Werk gesetzter Unter-
nehmungen.
Die Polarforschung verdankt den „Franklin - Aufsuchuugs-
expeditiouen“ ausserordentlich viel. Ueber das Schicksal der
Franklin-Expedition war nach dem Ergebniss der Expeditionen von
Mac Clintock und Rae im Grossen und Ganzen kein Zweifel mehr
möglich.
Die beiden Schiffe Sir John Franklins, „Erebus“ und „Terror 1 ,
hatten den Winter 1845/46 an einer vor der Südwestspitze einer
der grösseren Inseln des arktischen Archipels von Nordamerika, vor
North Devon gelegenen kleinen Insel Beechey-Island zugebracht. Von
da an war lange ihre Spur verloren. Der bekannte englische Kapitän
Penny fand vier Jahre später dieses Winterquartier. Im Laufe der
Jahre gelang es, wie bemerkt, dem Nordpolfahrer Rae und weiter dem
englischen Marine-Kapitän Mac Clintock an verschiedenen Puncten
weitere Spuren aufzufinden. Doch noch war Manches dunkel in der
Geschichte des tragischen Endes vieler Mitglieder der Expedition.
Der amerikanische Polarforscher Hall, welcher acht Jahre unter den
Eskimos lebte, bestätigte die schon von Mac Clintock aufgestellte
Annahme, dass auf der zwischen dem 68. und 70. Grad n. Br. und
dem 95. und 100. Grad w. L. Gr. gelegenen Insel King William Land
die Spuren zu finden seien, nach deren Auffindung man die letzten
Seiten der Geschichte der Franklin-Expedition würde schreiben können.
Es war Hall nicht möglich gewesen, seine Eskimobegleiter zu einer
gründlichen Durchforschung dieser Insel zu vermögen. Die Schiffs-
expedition der „Pandora“, Kapitän Allen Young, hatte ebenfalls eine
beabsichtigte Durchforschung von King William Land nicht ausführen
können. So wurde denu im Frühsommer 1878 noch einmal eine
„Franklin -Searcli- Party“, wohl die letzte, und zwar in Amerika
ausgerüstet. Sie kehrte vor Kurzem zurück. Der „Newyork Herald“
hat über den Verlauf der Expedition aus der Feder seines an der-
selben theilneluneuden Correspondenten ausführliche Berichte gebracht,
die durch unsere Zeitungen liefen. Durch die Freundlichkeit des
Ehrenmitgliedes unserer Geographischen Gesellschaft, Herrn General-
consul Schumacher, ist uns nun ein, die Ergebnisse der Expedition zu-
sammenfassender Bericht eines anderen Mitgliedes derselben, des
Zeichners und Geometers Herrn Heinrich W. Klutschak, zugegaugeu.
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— 161 —
Den wesentlichen Inhalt dieses Berichtes, welcher in der „Newyorker
Staatszeitung“ veröffentlicht wurde, theilen wir hier mit.
Bestehend aus Leutnant Friedrich Schwatka, vom 3. V. St.
Cavallerieregiment, als Commandanten, W. II. Gilder, Correspon-
denten des „Newyork Herald“, Henry W. Klutschak, als Zeichner
und Geometer, Franz F. Melms als Mitglied und dem allgemein als
Eskimo Joe bekannten Josef Eberbing aus Croton in Connecticut, als
Jäger und Dolmetscher, schiffte sich die Partie am 19. Juni 1878
auf dem Walfischfänger „Eothen“ ein und landete am 9. August
desselben Jahres nahe Depot-Island auf 63 Grad und 46 Min. n. Br.
Wir treffen die Expedition Anfang Juli 1879 an Kap Felix, dem
nördlichsten Puncte von King Williams Land. Etliche 15 bis 20 Meilen
seewärts, und zwar nordwestlich, ist der Ort, wo am 12. September
1846 die Schiffe für immer vom Eise am weiteren Vordringen ge-
hemmt wurden und während einer zwanzigmonatlichen Gefangenschaft
in diesem blieb sich deren Entfernung zur Küste zwischen Kap Felix
und Irving-Bay beinahe immer gleich. In dieser Umgebung also
scheiterten die schönen Hoffnungen der Franklin-Expedition, hier
begann ihre Unthätigkeit, der Anfang alles Uebels, hier forderte der
Tod in Sir John Franklin (11. Juni 1847J, Leutenant Graham Gore
und in fünfzehn Personen der Bemannung zahlreiche Opfer, hier
wurden die Leute zum Verlassen der Schiffe gezwungen und hier
begannen für die Ueberlebenden jene furchtbaren Qualen, die nur
in dem Tode als willkommenem Erlöser ihr Ende fanden. Dass der
Puuct, in dem die Partie am 3. — 6. Juli ihre höchste geographische
Breite erreichte, einst von den Officieren und Mannschaften ein oft
besuchter war, beweist nicht nur die früher hier gefundene englische
Flagge, sondern auch heute noch bezeugen die mannigfaltig umher-
liegenden Gegenstände, dass er entweder als Jagdstation, oder als
Observatorium benutzt wurde. Zwei in der Nähe befindliche künst-
liche Steinhaufen sind den Blicken der zerstörungssüchtigen Ein-
geborenen eutgaugeu uud von Leutenant Schwatka und seinen
Gefährten einer genauen Untersuchung unterzogen worden. Einer
dieser Cairns befand sich etwa zwei Meilen im Innern des Landes,
war acht Fuss hoch, unversehrt und enthielt selbst Nichts, während die
Bauart, die mit dichtem Moos bedeckten Steine und die nächste
Umgebung keinen Zweifel übrig liessen, dass Weisse selbst sich hier
ein Denkmal errichteten.
Die Untersuchung des zweiten, an der Küste gelegenen, brachte
als Resultat ein altes Papier zum Vorschein, das in Bleistift die
Zeichnung einer zeigenden Hand in Lebensgrösse enthielt und dessen
unteres Ende unter den elementaren Einflüssen vermodert war. Der
Geographische Blätter, Bremen 1880. IX
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— 162 —
nach dem Süden weisende Fingerzeig hatte gewiss etwas zu bedeuten,
doch die Erklärung war fort. Der ganze Vorfall hatte eine ver-
doppelte Genauigkeit im Forschen zur Folge.
Auf dem Marsche südwärts waren es besonders die Gräber der
auf den Schiffen Gestorbenen, und die, wenn am Lande begraben, in
der Umgebung existiren mussten, nach denen die Partie suchte;
der Umstand ihrer Nichtexistenz lässt zu dem Schlüsse kommen,
dass die verunglückte Expedition ihre Todten den Tiefen des Meeres
als letzter Ruhestätte übergeben hat.
Stellenweise befanden sich zwischen dem Treibholz noch
hier und da Fragmente von Schiffsbestandtheilen, doch ist die Masse
des einen hier gestrandeten Schiffes schon lange fortgeschleppt
worden, und Jahre lang war hier für verschiedene Eskimo - Stämme
eine Art Wallfahrtsort, um sich Kupfer, Eisen und Holz zu holen.
Ein weiterer Punct für längeres Verweilen der Forscher ist
Irving Bay, etwa 15 Meilen süd-süd-westlich von Kap Felix an der
westlichen Küste von King William Land. Ein von Kapitän
Mac Clintock eigenhändig gezeichneter und zwischen Steinen deponirter
Brief giebt die Versicherung, dass hier die Stelle ist, an welcher
105 Mann nach dem Verlassen der Schiffe das Land betraten. Wie
wenig diese, wenn auch bei’m besten Gesundheitszustand, in ihrer
Kleidung im Stande waren, einem Klima zn widerstehen, das der
Partie im Juni das Tragen von Pelzwerk erträglich t machte,
zeigt die Entdeckung von Strümpfen und Handschuhen, deren sich
die Unglücklichen bedienten und die aus wollenen Decken genähet
waren. Daselbst Hessen die Leute alle überflüssigen Gegenstände
zurück und die mannigfaltigste Auswahl an Reliquien von einer
Zahnbürste bis zu vier Kochöfen bezeichnet die Stelle, welche für
die weitere Verfolgung der eingeschlagenen Marschlinie massgebend
war. Die Auffindung eines Grabes in der nächsten Nähe des Ortes,
den Kapitän Mac Clintock einer genauen Untersuchung würdigte, bleibt
ein bemerkenswerthes Ereigniss und giebt einen Beleg für die
Schwierigkeiten einer Forschung, wenn Schnee in verschiedenen Tiefen
das Land bedeckt. Die Partie berichtet, dass ihre Vermessungen
erhebliche Aenderungen der Karte von King William Land ergeben.
Das Grab war aus flachen Steinen in der Form einer oberirdischen
Gruft errichtet, und enthielt die Reste einer englischen Officiers-
uniform, ein seidenes Taschentuch, sehr gut erhalten, und eine Medaille,
die den darin Beerdigten als Leutenant Johann Irving, Ihrer Majestät
Schiffes „Terror“ identificirte. Wann dieser starb, ist mit Bestimmt-
heit nicht anzugeben, doch ist es am wahrscheinlichsten, dass er
einer nach den Schiffen zurückkehremlen Partie angehörte und am
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Platze gestorben ist. Der Schädel und einige der Gebeine lagen
ausserhalb des Grabes als Beweis, dass die Eingeborenen auch hier
beschäftigt waren, dasselbe einer Durchwühlung zu unterziehen.
In jedem Falle aber zeigen die Kleidungsreste im Verein mit dem
oben erwähnten Briefe, dass, falls Dokumente von der sich zurück-
ziehenden Expedition in passender Weise begraben wurden, deren
Leserlichkeit, besonders wenn sie mit Bleistift geschrieben und
hermetisch verschlossen, durch die lange Zeit nicht beeinträchtigt
worden ist.
Ein mehrtägiger Aufenthalt am Platze wurde zur eindring-
lichsten Forschung benützt, selbst die geringsten Kleinigkeiten, wie
Schrot und Kugeln, blieben den Augen der Forscher und ihrer Eskimo-
Begleiter nicht verborgen, doch zeigte sich kein Gegenstand, der
weiteren Aufschluss über das Leben und Treiben der Unglücklichen
zu geben versprach. In der Küstenbegehung südlich zeigten umher-
liegende Fragmente von Kleidungsstücken deutlich den Weg ihres
Weiterkommens und wie bald ihre Reihen durch den Tod gelichtet
zu werden begannen. Zwei Skelette, eines an Point Franklin, das
andere an Point Le Viscointe wurden wieder der Erde übergeben.
Das letztere scheint auch der Person eines Officiers angehört zu
haben, wie die feinere Textur des Tuches und der Leinenreste
vermuthen lässt. Die am meisten erwähnungswerthe Stelle von
hier nach Kap Crozier ist aber der durch Mac Clintock bereits bekannte
Bootplatz, dessen historischer Werth durch die neueste Forschung
erweitert wurde. Der Ort wurde durch den zweiten Officier
Mac Clintock’s gefunden und an demselben in einer Schnee-Aufwehung
ein Boot, auf einem Schlitten geladen, entdeckt, dessen Inneres zwei
Skelette barg. Durch dieses wurden die Eskimos des Netchillik-
Stammes nach der westlichen Küste gelockt, und schleppten nicht
nur den grössten Theil des Fundes hinweg, sondern trafen ungefähr
eine Viertelmeile von diesem ein zweites Boot, ebenfalls auf einem
Schlitten geladen. Welchem dieser zwei Böte die Skelette, wenigstens
vier an der Zahl, angehörten, die durch die Partie begraben wurden,
ist fraglich, doch zeigt ein nur flüchtiger Blick auf die Situation,
dass hier entweder eine vollständige Partie verendete oder deren
Kräfte eine solche zum Stehenlassen ihrer Böte nöthigten. Zieht
man aber noch die Dimensionen in Betracht, so mag das stehende
Boot ein sogenauntes Langboot gewesen sein, und zu den drei Haupt-
ursachen eines so traurigen Ereignisses — Kälte, Krankheit und
Hunger — gesellte sich somit noch die neue Schwierigkeit der
Handhabung eines so grossen Boots. An Graham Gore Peninsula
konnte nur der Schädel eines Weissen die einstige Anwesenheit solcher
11 *
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— 1(54 —
bezeugen, während wir in Terror -Bai ganz auf die Aussagen von
Augenzeugen angewiesen sind.
Einer derselben, Alannak mit Namen, erzählt, dass ein Jahr
später als sie die Weissen lebend gesehen hatte, ihre Familie der
Seehundsjagd halber in die Umgebung von Terror-Bai kam. Auf
einem Hügel im westlichen Theile genannter Bai fand sie in einer
nur kurzen Entfernung vom Meeresstrande ein Zelt und in diesem
viele Skelette, deren Zahl sie nicht genau angeben kann. Es sei
hier nur flüchtig bemerkt, dass die Nummer 20 das Maximum der
Zahlungsfähigkeit des Eingeborenen ist, und das Alles darüber mit
Amisnadly (Viele) ausgedrückt wird. Auch um das Zelt lagen
Skelette und nur zwei davon zeigten durch Bedeckung mit Steinen
und Sand Spuren einer Bestattung. Im Inneren selbst lagen Decken,
Kleider, Bücher und sonstige Gegenstände, deren grösster Theil
natürlich gleich durch die betreffenden Eingeborenen genommen
wurde, und deren Existenz somit auch schon lange der Vergangenheit
angehört. Aber auch die irdischen Reste der Verstorbenen waren
nicht mehr zu finden, obgleich ein Theil der Partie einen ganzen
Monat sich mit der gründlichen Durchsuchung von Terror-Bai-Küste
beschäftigte. Nach dem Worte der Eskimos ist jede Spur von
menschlichen Knochen schon vor sechs Jahren, als sie den Ort zum
letztenmale besuchten, verschwunden.
Die Zerstörung solcher Gegenstände, unter welchen gewiss
manche Handhabe aufzufindeu gewesen wäre, um der Geschichte der
Unglücklichen auf den Grund zu kommen, erfüllt den nach Kunde
Spähenden mit Unwillen, er mildert seine Beurthcilung jedoch in
Anbetracht des niedrigen Kulturzustandes des Bewohners jener Oeden
und spricht ihn eines Vergehens ganz frei, wenn er als erste
Ursache von Habsucht und Neugierde die Handlungsweise des Weissen
selbst findet. Die Bestattung von Kleidern und anderem Eigenthum
mit dem Verstorbenen muss foitan unterbleiben, sie hat sich in
diesem Falle schwer gestraft, und bei Errichtung von Steindenkmalen
dürfen keine Kleinigkeiten, als Seheeren, Messer, Fischhakeu etc.
mit eingelegt werden, sondern das eigentliche Dokument muss eine
gewisse Distanz davon, sage z. B. 10 Fuss Nord und 1 Fuss tief
beigesetzt werden.
Oestlich von Terror-Kap, wo ohne Zweifel die sich Zurück-
zieheudeu hülflos zusammengebrochen sind, und w r o auch der grösste
Theil von ihnen starb, bezeichnen einzelne, unbeerdigt gefundene
Skelette das Schicksal Derer, denen Kraft genug blieb, um ein Boot
auf einem Schlitten fortzuschleppen.
Die schon erwähnte Alannak hatte etwa 10 Personen in der
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Umgebung von Kap Ilerschel lebend gesehen, als sie dem Anschein
nach krank und hungrig die Küste von King William Land nach
Südosten verfolgten. Ein viertägiger Aufenthalt, während welcher
Zeit die Weissen von der kleinen Partie Eingeborener etwas Nahrung
erhielten, brachte die Zeugin mit den einzelnen Personen in nähere
Berührung und ihre Aussagen bestätigen, dass unter ihnen mehrere
Officiere waren und ein sogenannter „Doktuk“ kann somit niemand
Anders, als einer der vier Aerzte der Expedition gewesen sein. Ob
etliche auf Kap Herschel befindliche Steinhaufen, die Grabstätten
ähnlich sehen, von Weissen als solche gebaut wurden, ist mit Sicher-
heit nicht festzustellen gewesen, da die Forscher weder selbst Belege
dafür auffinden konnten, noch dieselben durch die traditionellen
Mittheilungen der Eskimos je berührt wurden.
Die Leiche an Tulloch Point war nie beerdigt worden und der
Arme, der hier verendete, giebt neben den von Mac Clintock an
Washington Bai in ähnlichem Zustande gefundenen Resten eines
Zweiten ein Beispiel, wie hartnäckige Anstrengungen zum Zurück-
gelangen in die Heimath gemacht wurden, wie gross die Qualen,
selbst in den letzten Stadien des Verhungerns waren.
An der Küste von Adelaide Peninsula wurde der Partie von
der Eingeborenen „Tuktuchiak“ die Stelle gezeigt, die von früheren
Forschern bereits erwähnt worden ist und von Mac Clintock selbst
einst auf Montreal Island in der Mündung des Back River gesucht
wurde.
Die Finderin, eine Greisin von 70 — 75 Jahren, hat in einer
Einbuchtung am sandigen Strande, ganz an der Linie der Fluth,
ein Boot gesehen, das Skelette enthielt und in dessen Umgebung
sich 4 Schädel und andere menschliche Gebeine vorfanden. Nur
eine Person war eine Leiche, nämlich noch mit Fleisch und Haut
versehen, diese ist von ihr zum Gegenstand einer detaillirten
Personalbeschreibung gesucht worden und kann nicht eher, als in dem
dem Funde vorhergehenden Frühjahre gestorben sein. Unter den
gefundenen Gegenständen befanden sich Uhren, Ringe, Augengläser
u. A., die zur Identificirung hätten dienen können, während mit der
Zerstörung einer zwei Fuss langen, blechernen Büchse voll Bücher
und Schriften die Nachkommen jener Dokumente von historischem
und wissenschaftlichem Werthe unzweifelhaft beraubt wurden, deren
Erlangung das Ziel von vielen Forschungen war und deren Besitz
bis zum letzten Ende den hier verhungerten Officieren ein Kleinod
geblieben ist! Ein dreimaliger Besuch des Ortes, im Frühjahr,
Sommer und Spätherbst, brachte aus dem Sand und Seegras des
Strandes noch Gebeine, Kleidungsstücke und eine Erinnerungs-Medaille
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I
zum Vorschein, welche die Wahrheit der gemachten Angaben
garantiren.
Auch hier hatte Einer, aber auch nur ein Einzelner, die Hoff-
nung nicht aufgegeben, die Heimath wieder zu erreichen und fünf
Meilen südlich von dieser Hungerbucht (Starvation Cove) liegen auf
einem einsamen Hügel die Reste des „Letzten der Vermissten“,
wenn es menschlichem Scharfsinn und der aufopfernden Energie
aller Forschungsexpeditionen noch möglich wurde, nach Ablauf von
31 Jahren die Bahn von Franklin’s Mannschaften festzustellen.
Was die beiden Expeditionsschiffe anlangt, so ist es schon
durch Dr. Rae 1853 nachgewiesen, dass eines davon an der nord-
westlichen Küste von King William Land zu Grunde ging, während
das zweite mit dem umgebenden Eise, den Winden und Strömungen
folgend, weiter südlich gelangte und 8 Meilen westlich von Grant
Point, nahe zwei kleinen Inseln, scheiterte. Den Namen des letzteren
hofft die Partie mit Hülfe Englands durch ein Brett, auf welchem
in Kupfernägeln die Buchstaben L. F. markixt waren, festzustellen.
Jedenfalls aber bestätigt dieses die Existenz einer zu den verlassenen
Schiffen zurückkehrenden Partie, da das 1859 gefundene Dokument
von einem Desertiren der Schiffe spricht und die Anwesenheit von
wenigstens drei lebenden Personen nach dessen Scheitern in der
Umgebung von Wilmot Bai und deren Landung als bestimmt fest-
gestellt ist. In den gesehenen Fussstapfen im Schnee und einem
Boote an genannter Bai sind aber auch deren letzte Spuren gefunden,
und wohin sie sich auch immer gewendet haben, ihr letztes Ende
bleibt stets in dem Schicksal ihrer Kameraden zu suchen.
Dieses sind in Kurzem die Erfolge der neuesten Forschung
und es bleibt zu bedauern, dass nicht schon früher Besucher auf
den Gedanken kamen, einen Sommer auf King William Land zu
verweilen. Erst jetzt kann man die weiteren Naclisuchungen auf-
geben und die vollkommene Aufklärung der Geschichte von Sir
John Franklin’s Expedition entweder als unmöglich betrachten oder
einem nicht vorherzusehenden Zufalle überlassen. Wenn auch ohne
Ermittlung besonders neuer Thatsachen zurückgekehrt, bildet doch
die letzte Unternehmung einen ehrenwerthen Schluss zur Geschichte
der gesammten Forschungen, und allein in dem Umstande, dass die
letzten Reste von 15—30 Unbeerdigten endlich der ewigen Ruhe
übergeben wurden und keine Gebeine von Weissen dort mehr
in der Sonne bleichen, muss England und die civilisirte Welt eine
Befriedigung finden.
Für arktische Schlittenreisen ist überdem folgende Stelle aus
dem Berichte des Herrn H. W. Klutschak bemerkenswert!! : „Vom
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1. April 1879 bis 20. März 1880 legte die Partie eine Strecke von
2819 geographischen Meilen, mit Schlitten und Hundegespann zurück.
Mit einem blos einmonatlichen Proviant für Menschen und einem
zweiwöchentlichen Vorrathe für Thiere bei’m Aufbruch versehen,
bildete der Reichtlium an Wild der durchkreuzten Länderstrecken
die einzige Nahrungsquelle für 17 Personen und 42 Hunde, und die
Firmen der verschiedenen amerikanischen Waffenfabriken haben sich
durch freigebige Spendungen ihrer unter den schwierigsten klimatischen
Verhältnissen sich glänzend bewährenden Feuerwaffen einen Antheil
an dem günstigen Erfolge der Expedition verdient. Für arktische
Expeditionen ist die Benutzung von Hinterlader und Magazin-
gewehren eine Noth wendigkeit, und nur durch deren Gebrauch in der
Hand guter Jäger war es möglich, ohne besondere Jagdexcursionen,
neben anderem Wild 511 Renthiere gerade dort zu erlegen, wo
Zeit und Umstände die Partie lokalisirten.“ (Dies hat sich bekanntlich
schon bei der deutschen Expedition 1869/70 gezeigt).
In Bezug auf das Klima liefert die Expedition einen neuen
Beweis der Tauglichkeit des Weissen für alle klimatischen Ver-
hältnisse.
Die Heimreise von King William Land nach Hudson Bai
wurde in den drei kältesten Monaten eines ungewöhnlich strengen
Winters und zugleich in jeneu Gegenden vollführt, die der Theorie
und Erfahrung nach zu den kältesten der Erde gehören. Mit einer
Thermometerlesung von — 71 “Fahrenheit am 2. Januar als Minimum,
notirte die Expedition 27 verschiedene Tage, an denen das Thermo-
meter zwischen — 60® und — 70° F. variirte, während die Durch-
schnittstemperatur für September 1879, Januar und Februar 1880
— 49° F. nicht überstieg. Die Kleidung, Nahrungs- und Lebens-
weise als Eskimos hat sich vollkommen bewährt, und während
eines zweijährigen Aufenthaltes in und an den Grenzen der Polarzone
bat die Partie weder ernste Erkältungen noch einen sonstigen
Krankheitsfall aufzuweiseu.
Diese neuen Erfahrungen für die Art und Weise polarer Land-
reisen sind für künftige Forschungen nicht minder wichtig, wie die
Expedition selbst mit allen ihren Anstrengungen und Mühen zur
Erfüllung einer rein idealen Aufgabe für Leutenant Schwatka und
seine Gefährten eine in jeder Beziehung ehrenvolle war.
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168 —
Polarexpedition oder Polarforschung?*)
Von Prof. Dr. Neumayer, Director der deutschen Seewarte in Hamburg.
Polarexpedition oder Polarforsclmng ist die Frage, welche alle
Kreise, die sich überhaupt für die Untersuchung der Polarregionen
interessiren, wahrend der letzten fünf oder sechs Jahre beschäftigt.
Auf den ersten Blick, nach dem ersten Eindrücke zu urtheilen,
könnte man zu glauben veranlasst sein, dass in derselben ein Gegen-
satz oder gar ein Widerstreit läge. Dass dem nicht so ist, hoffe ich
durch die Ausführungen dieses Vortrages Ihnen darlegen und zeigen
zu können, dass es sich vielmehr nur darum handelt eine Weise der
Forschung, wie sie bisher in den Polarregionen geführt wurde, nun-
mehr in die zweite Linie treten zu lassen, indem die wissenschaft-
liche Untersuchung in die erste Reihe gestellt ist. Wenn ich diese
Frage heute vor der Naturforscherversammlung verhandle, so
geschieht dies einmal, um gewissermassen einen Bericht über die
Entwicklung einer Sache zu erstatten, welche vor nunmehr 5 Jahren
vor der Naturforscherversammlung in Graz zuerst öffentlich zur
Sprache gebracht wurde. Es war nämlich bei jener Gelegenheit,
als der verdienstvolle Polarforscher Weyprecht zuerst in bestimmter
Form die Frage, die uns heute beschäftigt, besprach und daran
Vorschläge knüpfte, die sich auf die Weise bezogen, in welcher nach
seiner Meinung die Arbeit innerhalb der Polarregionen geleitet
werden müsste, wenn ein den grossen Anstrengungen entsprechendes
Resultat sich daraus ergeben sollte. Seit jenen Tagen hat der
Gedanke der systematischen wissenschaftlichen Durchforschung der
Polarregionen in weiten Kreisen Wurzel gefasst, und hat die Dis-
cussion desselben zu verschiedenen Besprechungen und Beschlüssen
die Veranlassung gegeben. So wurde auf Veranlassung des deutschen
Reichskanzleramtes im Monat October 1875 eine Commission deutscher
Gelehrten zusammenberufen, welche sich mit dem Modus der Polar-
forschung im Norden zu beschäftigen hatte. Der umfassende Bericht,
welcher von dieser Commission darüber verfasst wurde, legt Zeugniss
dafür ab, welche Bedeutung dieselbe dem Gegenstände für die Ent-
wicklung der Wissenschaft beimass. Wir werden Gelegenheit haben,
*) Wir freuen uns, durch das Entgegenkommen des Herrn Prof. Neu-
mayer in Stand gesetzt zu sein, diesen auf der diesjährigen Naturforscher-
Versammlung zu Danzig gehaltenen Vortrag hier seinem Wortlaute nach mit-
theilen zu können, behalten uns aber einstweilen unsere Ansicht darüber noch
vor, ob schon jetzt für die künftige Polarforschung die geographische Seite nicht
mehr, wie bisher, in erste Linie zu stellen und ob zur Lösung bestimmter Fragen
der Polar- Geographie die sogenannten Einzel -Expeditionen nicht auch ferner
noch das wirksamste und am leichtesten auszuführende Mittel sind. Die Red.
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169 —
auf den Inhalt jenes Berichtes im Laufe der gegenwärtigen Aus-
einandersetzungen zurückzukommen. Im Jahre 1879 wurde der
Gegenstand der Organisation der wissenschaftlichen Arbeit innerhalb
der Polarregionen vor dem im April jenes Jahres in Rom tagenden
Meteorologen-Congress verhandelt und so wichtig erachtete man die
dabei zur Sprache kommenden Gesichtspuncte, dass es gerechtfertigt
erschien, eine besondere Polarconferenz auf October desselben Jahres
nach Hamburg zu berufen. Diese Conferenz trat denn auch zu
jener Zeit, beschickt von verschiedenen europäischen Staaten, zu-
sammen und beleuchtete den Gegenstand von seiner prinzipiellen
und technischen Seite. Der über die Verhandlungen jener Commission
verfasste Bericht verbreitet sich über alle Puncte, welche für die
Inswerksetzung einer Polarforschung nach Weyprechts Vorschlägen
eine Bedeutung haben und wurden die damals niedergelegten Grund-
sätze auf der Versammlung der internationalen Polarcommission, die
aus der Hamburger Conferenz hervorging und in Bern im August
dieses Jahres zusammentrat, angenommen und die Weiterführung
der Agitation für eine zahlreiche Betheiligung an dem grossartigen
Unternehmen nach ihren Grundsätzen beschlossen.
Wenn ich so einer Pflicht genüge, indem ich vor dieser Ver-
sammlung Bericht erstatte über die Entwicklung des Gegenstandes
seit der Grazer Versammlung, erschien es mir andrerseits auch von
der höchsten Bedeutung nunmehr, nachdem die Sache soweit gediehen
und dieselbe ein allseitiges wissenschaftliches Interesse gewonnen,
vor den deutschen Naturforschern und Aerzten in Kürze die Be-
deutung der Forschungsarbeit innerhalb der Polarregionen darzulegen,
um dazu beizutragen, dass ein volles Verständnis in allen Kreisen
und Gegenden unseres Vaterlandes ermöglicht werde.
Doch lassen Sie uns nunmehr sofort zur Sache kommen und
zunächst hervorheben, worin etwa die Möglichkeit eines Widerstreites
in der Fragestellung, die uns beschäftigt, begründet liegen könne,
wodurch, wie ich glaube, auch gleichzeitig die Sache selbst am
gründlichsten beleuchtet wird. Bis vor wenigen Jahren wurde bei
allen Unternehmungen nach den Polarregionen in erster Linie die
Erreichung hoher Breiten, im glücklichsten Falle die Erreichung des
Poles, wie die Devise lautete, als deren Endzweck dargestellt und
auch verfolgt. Dass dadurch die Kenntniss der Polarregionen von
der geographischen Seite in hervorragender Weise gefördert werden
musste, liegt auf der Hand; ebenso einleuchtend ist es, dass diese
Gattung der Polarunternehmen in einem frühen Stadium unserer
geographischen Kenntnisse mit Recht als die bevorzugte erschien.
Was diese Bestrebungen, wir wollen sie im Gegensätze zu dem,
t
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was wir heute austreben, die geographischen nennen, geleistet haben,
davon legen die Berichte über die glorreichen, kühnen, von grossen Müh-
salen und oft genug von unglücklichen Ereignissen begleiteten Fahrten
nach den Polarregionen von Nicolo Zeno, Davis, Barents, Bering,
Parry, Ross, Franklin, Maclintock bis auf die Fahrten der deutschen
Expededitionsschiffe „Germania“ und „Hansa“ für den Norden ein
sprechendes Zeuguiss ab. In den antarktischen Gegenden wurde
durch Cook, Ross den Jüngeren, Bellinghausen für die Aufklärung
über die geographische Gestaltung unserer Erdoberfläche die Grund-
lage gelegt und dadurch auch wieder der strengen wissenschaftlichen
Forschung ein wesentlicher Vorschub geleistet; denn ohne geo-
graphische Kenntnisse ist eine Erklärung wissenschaftlicher Phänomene
in den meisten Fällen rein undenkbar. Wenn wir also den Muth,
die Opferwilligkeit und die Tüchtigkeit, welche durch die Jahrhunderte
und von der Zeit der Besiedelung Amerikas durch die Normannen
im Jahre 1001, im Norden wie im Süden für die Erweiterung
geographischer Erkenntniss eingetreten ist, verehren, vergessen wir
keinen Augenblick die wichtigen Dienste, welche diese Unternehmen
auch der wissenschaftlichen Forschung geleistet haben. Die Reihe geo-
graphischer Entdeckungsreisen innerhalb der Nordpolarregionen hat
in der allerjüngsten Zeit durch das ruhmgekrönte Unternehmen ihren
Höhepunct erreicht, welches Professor Nordenskjöld dadurch zu Ende
führte, dass er sein gutes Schiff „Vega“ von der Karasee, die nörd-
lichste Spitze von Asien Kap Tscheljuskin umschiffend, nach der Bering-
strasse und Ostasien brachte, wodurch ein geographisches Problem
seine Lösung fand, welches sich durch Jahrhunderte auf der Tages-
ordnung geographischer Erforschungsarbeit erhalten hatte. Der
Name des gelehrten Reisenden bürgt dafür, dass auch die Interessen
der Wissenschaft eine volle Berücksichtigung fanden.
Ohne Zweifel muss bei der Beurtheilung der Motive zu Unter-
nehmungen nach den Polarregionen, wie vielleicht überhaupt bei
allen grossen geographischen Expeditionen, dem dunkeln Drange nach
Klarheit über unbekannte Gegenden, der Liebe nach Erlebnissen
aussergewöhnlicher Natur eine grosse Rolle zugeschrieben werden.
Nennen wir es Wissensdrang, Liebe zu Abenteuern im besten Sinne,
wie immer wir wollen, von Marco Polo bis auf Stanley haben wir
durch sie für die Menschheit und deren Verbreitung über die Erde,
die grössten Erfolge zu verzeichnen.
In den verschiedenen Epochen hatten die Polarfahrten je nach
den Impulsen, welche ihnen zu Grunde lagen, einen besonderen
Charakter, der sich auch in den Errungenschaften ausspricht;
während ursprünglich der Drang nach Erweiterung des Thätigkeits-
171 —
gebietes des immer voranstrebenden Menschengeschlechtes, das Inter-
esse für Jagd und Fischfang vorwaltete, so sehen wir später die grossen
Interessen des Verkehrs auf der Erde bestimmter hervortreten. Die see-
fahrenden Völker bemühten sich, neue Handelswege zu finden und auch
nach den Polargebieten, wie unwirthlich diese Regionen der Erde auch
sind, richtete der Unternehmungsgeist seine Fahrten. Mächtig
wirkten hier zunächst die Erzählungen des Marco Polo über das
Land Kathai, nachdem man einmal erkannt hatte, dass dieselben auf
wirklich Erlebtem beruhten, auf die Bestrebungen kühner Seefahrer
ein und so entstand die Frage der nordöstlichen uud der nordwestlichen
Durchfahrt nach der Beringstrasse, um auf diesem Wege Ostasien
zu erreichen, Probleme, welche so recht eigentlich in ihrer Bear-
beitung den Kern aller Unternehmungen nach den Nordpolarregionen
bilden. Wie die erste Frage, das Auffinden der nordöstlichen Durch-
fahrt, ihre Lösung in unseren Tagen fand, habe ich schon berührt. Die
Lösung der nordwestlichen Durchfahrt, zum Mindesten in indirecter
Weise, durch Maclure und Franklin ist für den Gegenstand, der
uns heute beschäftigt, von ganz besonderer Bedeutung geworden.
Hier darf ich als bekannt voraussetzen, wie Sir John Franklin Mitte
der vierziger Jahre auszog, um nach Nordwesten die „Erebus“ und
„Terror“ zur Beringstrasse zu führen, wie diese Schiffe bei König
Williams Land zu Grunde gingen, und wie man im Laufe der Jahre
Expeditionen auf Expeditionen aussandte, um nach den Spuren
Franklins zu suchen. Der Charakter, welchen naturgemäss diese
Nachforschungsexpeditionen haben mussten, war ganz darnach an-
gethan, auch die wissenschaftliche Erforschung der Polarregionen,
wie wir sie heute auffassen, zu fördern, und so bilden die hier
betonten Unternehmungen gewissermassen einen Uebergang von der
Arbeit innerhalb der Polarregionen älteren zu jener neueren Datums.
Es würde zu weit führen, wollte man im Einzelnen auf einen Nach-
weis des hier Ausgesprochenen eingehen, es mag nur gestattet sein,
auf eines der Nachforschungsunternehmen oder eigentlich auf eine
Gruppe von Unternehmen dieser Art hinzuweisen, welche für die
wissenschaftliche Kenntniss der Polargegenden ein hervorragendes
Interesse hat. Wir meinen hier die Expedition unter Sir Edward
Beicher, der in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre mit einem
ganzen Geschwader nach den Nordpolargegenden zog, und eine sich
von dem Eingänge des Lancaster Sundes bis zur Melville-Insel aus-
dehnende Standlinie für die Nachforschung und auch für die wissen-
schaftliche Erforschung bildete. Wenn diese Expedition auch mit Bezug
auf die ihr gestellte unmittelbare Aufgabe, die Aufklärung des Schicksals
Franklins, wenig erfolgreich war, so muss ihr doch andererseits zum
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Ruhme augerechnet werden, dass für die wissenschaftliche Arbeit
innerhalb der Nordpolarregionen durch sie ganz Erhebliches ge-
leistet wurde.
Allein wie hoch wir auch die Leistungen der Nordpolarfahrten
vergangener Zeiten mit besonderer Beziehung auf die Förderung
wissenschaftlicher Erkenntniss anzuschlagen geneigt sind, so müssen
dieselben in gewissem Sinne mit Rücksicht auf die Bedeutung
derselben für die nunmehr angeregte Forschungsweise zurückstehen
gegen die Ergebnisse, welche durch eine Reihe von Unternehmungen
nach den antarktischen Regionen erzielt wurden und zwar um
deswillen, weil in diesem Falle der wissenschaftliche Zweck in erster
Linie stand und die Vorbereitungen unter Anwendung der grössten
wissenschaftlichen Umsicht getroffen waren. Wie gross auch die
geographischen Errungenschaften der Expeditionen von Sir James
Clarke Ross, denn von diesen sprechen wir, durch die Entdeckung des
Victorialandes anzuschlagen sind, so haben dieselben doch vor Allem
als wissenschaftliche Unternehmungen für die Gebiete des Erd-
magnetismus, der Meteorologie und der Hydrographie eine epoche-
machende Bedeutung gewonnen. Um dieses in einer allgemein
verständlichen Weise zu beleuchten, muss ich mir folgende Aus-
führungen gestatten.
Als nämlich theils durch die Arbeiten Humboldts auf dem
Gebiete des Erdmagnetismus, vorzugsweise aber durch die bahn-
brechenden und unvergänglichen Forschungen unseres grossen Gauss
und des Göttinger magnetischen Vereins eine Grundlage für syste-
matische Beobachtung auf dem Gebiete des Magnetismus der Erde
geschaffen war, wurde auch schon daran gedacht, nunmehr an die
Bearbeitung der für die Begründung einer Theorie erforderlichen
Vorfragen zu schreiten. Wir sehen, von diesem Gedanken geleitet,
zu Ende des dritten Decenniums unseres Jahrhunderts die britische
Regierung damit beschäftigt, an verschiedenen Puncten der Erde,
namentlich in höheren Breiten gelegene Observatorien für die Beob-
achtung der erdmagnetischen Erscheinungen zu errichten. Diese
Observatorien hatten wiederum die Bestimmung, den Expeditions-
Unternehmungen, welche, und wir sprechen hier zunächst von der
südlichen Hemisphäre, nach dem hohen Süden gerichtet waren, als
Basis zu dienen. So entstand das magnetische Observatorium am Kap
der guten Hoffnung und jenes in Hobarttown, und so geschah es, dass
Sir James Ross mit allen Mitteln der Wissenschaft und Technik
ausgerüstet wurde, um die antarktischen Regionen zu erforschen
und wissenschaftlich zu bearbeiten. Allerdings war auch im Norden
durch die Errichtung des Observatoriums in Toronto ein wichtiger
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Stützpunct für die Forschungsarbeit gewonnen worden, allein es
vermag aus jener Zeit doch nur das Unternehmen von Ross mit
vollem Rechte oder in vollem Umfange als ein Vorläufer der neuen
Richtung der Polarforschung bezeichnet zu werden. Erst die Neu-
zeit hat auch im Norden ein Forschungsunternehmen aufzuweisen,
welches jenem des jüngeren Ross im hohen Süden mit Rücksicht
auf System und Umfang an die Seite gestellt werden kann. Wir
meinen hier die letzte, in den Jahren 1874 — 1876 ausgeführte und
von Na res geleitete Nordpolarexpedition, welche sich durch ihre
wissenschaftlichen Arbeiten, neben den geographischen, eine hervor-
ragende Stelle erruugen hat. Es würde unrecht sein, wollten wir
diesen Theil des Vortrages abschliessen, ohne der wissenschaftlichen
Verdienste zu gedenken, welche für die deutsche Polarexpedition
unter Kapitän Koldewey beansprucht werden muss.
Wenn bisher mit gutem Recht die Förderung der geographischen
.Arbeit in erster Linie betont, Ausrüstung, Umfang nud Route danach
eingerichtet werden mussten, so erscheint nunmehr der Zeitpunct
als gekommen zu erachten, bei den Expeditionen nach den Polar-
gebieten die geographischen gegen die rein wissenschaftlichen Ziele
zurücktreten zu lassen und die geographische Entdeckung oder
den Zweck der geographischen Entdeckungen an zweiter Stelle zu
nennen. Weit davon entfernt aber, einen Widerstreit oder gar
eine Unterschätzung der Leistungen früherer Polararbeiten zu
bedingen, ist vielmehr fürderhin nur den betreffenden Bestrebungen
eine solche Richtung und Ausbildung zu geben, dass durch dieselben
grosse wissenschaftliche Ergebnisse gesichert werden können. Um
dieses Ziel zu erreichen, scheint es geboten, die wissenschaftliche
Forschung nunmehr an festen, für längere Zeit in Thätigkeit zu
erhaltenden Beobachtungsstationen innerhalb der Polarregionen zu
führen. Wey p recht, welcher, wie schon erwähnt, diesen Plan
der Forschung zuerst öffentlich darlegte, gelangte zu der demselben
zu Grunde liegenden Ueberzeuguug, gerade durch die Erfahrungen,
welche er auf seiner Expedition nach dem B’ranz Josephslaude machte.
Sowohl die früher erwähnte Commission deutscher Gelehrten, als
die Hamburger Conferenz nahmen den Plan der Forschungsarbeit
an festen, um die Polargegenden gelagerten Stationen an und ent-
warfen Programme, die sich sowohl auf die wissenschaftlichen Ziele,
als auf die Modalitäten der Ausführung erstrecken. Wer sich
einen Begriff von der Bedeutung, welche deutsche wissenschaftliche
Autoritäten, wie sie in jener Commission vertreten waren, dem hier
in Frage stehenden Unternehmen beilegen, machen will, den ver-
weise ich auf jenen im Aufträge des Reichskanzleramtes gedruckten
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Bericht derselbeu. Es geht daraus hervor, dass sämmtliche For-
schungsgebiete der Wissenschaft durch eine systematische Unter-
suchung in den Polarregiouen gefördert werden könuen, ja dass
Untersuchungen in jenen Gegenden nicht zu entbehren sind, wenn
es sich um die Aufstellung wissenschaftlicher Theorien und die
Erkenntnis» des inneren Zusammenhanges der Erscheinungen auf
unserem Erdkörper handelt. Das Programm der Hamburger Con-
ferenz beachtet zunächst nur die Interessen zweier wissenschaftlicher
Zweige in hervorragender Weise: nämlich den Erdmagnetismus und
die Meteorologie und mit diesen beiden wollen wir uns denn auch
heute nur befassen.
Nachdem ich die beiden wissenschaftlichen Disciplinen genannt
habe, um deren Förderung es sich bei der Polarforschung vor allen
Dingen handelt, wage ich unmittelbar hinzuzufügen, dass es über-
haupt als unmöglich bezeichnet werden muss, ohne Hinzuziehung der
Beobachtungen aus den Polargebieten, die genannten Wissenschaften
auch nur annähernd richtig zu begründen oder gar abzuschliessen.
Mit Beziehung auf die Klimatologie und Meteorologie ist die dahin
gerichtete Beweisführung verhältnissmässig einfacher Natur und er-
giebt sich gewissermassen a priori. Wie sollte es beispielsweise
möglich erscheinen, über Strömungen der Luft, über Vertheil ung der
Wärme und des Luftdrucks, über die Wege der atmosphärischen
Depressionen allgemeine Gesetze zu ermitteln und über diese wichtigen
Elemente eine klare Einsicht zu gewinnen, wenn so umfassende Ge-
biete unseres Planeten , wie sie die Polarregionen darstellen , mit
Rücksicht darauf ganz unbeachtet bleiben müssen ! Was heisst aber
in meteorologisch-klimatologischem Sinne unbeachtet bleiben? Sind
nicht ganze Ländergebiete der der Kultur zugänglich gemachten
Erdoberfläche mit zahllosen Beobachtungsstationen überzogen, sind
nicht Tausende von Kapitänen emsig bei Tag und bei Nacht thätig,
um in allen Meereu die meteorologischen Verhältnisse durch Hundert-
tausende von Beobachtungen festzustellen und damit die Möglichkeit
der Ableitung allgemeiner Gesetze und Schlüsse zu sichern! So
lange aber solche Untersuchungen nicht über alle grösseren Gebiete
der Erde ausgedehnt werden können, so lange bleiben diese Gebiete
bei den Forschungen unberücksichtigt, das Material wird dement-
sprechend lückenhaft und die Ableitung allgemein gültiger Gesetze
mangelhaft sein.
Daraus folgt unmittelbar, dass wir die wichtigen Fragen der
Klimatologie und Meteorologie nicht durch Beobachtungen, au einer
oder der anderen Stelle der arktischen und antarktischen Regionen
angestellt, zu lösen vermögen, sondern dass wir auch im Falle der
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Polarregionen einer Anzahl nach bestimmten wissenschaftlichen Grund-
sätzen gewählter Stationen bedürfen, um überhaupt jene Lücken in
ihren Folgen abzuschwächen, dem Mangel, der bisher den abgeleite-
ten Schlüssen anhaftete, abzuhelfen und überhaupt zu verhindern,
dass eine wissenschaftliche Beobachtungsarbeit im schönsten Theile
ihrer Erfolge verkümmert werde. Es soll hier keineswegs behauptet
werden, dass in demselben Verhältnisse, in welchem die Schwierig-
keiten sich steigern, wenn man bei der Erkeuntniss des innern Zu-
sammenhanges der Gesetze der Luftströmung von den Tropen zu den
Polen fortschreitet, sich auch die Zahl der Stationen für die Forschung
vermehren sollte, allein es muss doch betont werden, dass nur durch
Beobachtung an einer genügenden Zahl von, nach wissenschaftlichen
Grundsätzen gewählten Beobachtungsstationen in den Polarregionen,
wie dies durch das Programm der Hamburger Conferenz vorgesehen
wird, Resultate erzielt werden können, welche für die theoretischen
sowohl als für die practischen Folgerungen die erforderlichen Grund-
lagen bieten. Wie das Untersuchen der atmosphärischen Vorgänge
auf Grundlage einseitiger, nicht genügender Beobachtungen zu falschen
Schlüssen und irrigen Anschauungen führen muss, dafür liefert uns
die Geschichte der Entwicklung der Meteorologie in unseren Tagen
die treffendsten Beweise und möge dabei nur an die Ableitung des
Drehungsgesetzes der Winde und an die daraus gezogenen Con-
sequenzen erinnert werden.
Diese wenigen Ausführungen müssen genügen, um die Noth-
wendigkeit einer Ausdehnung des Forschungsfeldes nach den Polar-
gebieten hin vom meteorologischen Standpuncte zu erweisen. Lassen
Sie uns nun noch in aller Kürze einen Blick auf die vorliegenden
Fragen werfen, der uns belehren soll, wie es um die Förderung
wissenschaftlicher Kenntnisse auf dem Gebiete des Erdmagnetismus
beschaffen ist, wenn wir diesbezügliche Untersuchungen innerhalb
der Polarregionen ausser Acht zu lassen genöthigt sein sollten.
Die Erfahrungen, welche wir aus den Ergebnissen früherer
Expeditionen zu schöpfen vermögen, lehren uns, dass wir durch ein-
zelne und nur hie und da angestellte Beobachtungen, die grossen
Fragen, die mit Bezug auf den Magnetismus der Erde zu beant-
worten sind, um es kurz zu sagen, nicht beantworten können. Die
magnetischen Erscheinungen, sofern sich dieselben auf die Ver-
keilung der erdmagnetischen Kraft und auf eine bestimmte Zeit-
epoche beziehen, vermögen wir einigermassen zuverlässig und zu-
treffend darzulegen. Wir wissen beispielsweise, dass an verschiedenen
Puncten der Erdoberfläche die magnetischen Elemente, Declination,
Inclination und Intensität annähernd genau genug angegeben werden
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können und zwar für eine bestimmte Zeit und so lange sieh die erd-
magnetische Kraft in der Gleichgewichtslage befindet. Ueber die
Bewegungen aber, die Veränderungen, die in den Elementen vor sich
gehen, sobald diese Gleichgewichtslage aus der eiuen oder der anderen
Ursache gestört ist, wissen wir nur sehr wenig, und das, was wir
darüber wissen, ist nur als ganz annäherungsweise und vorläufig
festgestellt zu erachten. Die periodischen unter den Bewegungen
der magnetischen Elemente sind Dank den zahlreichen Beobachtungs-
reihen an den britischen Observatorien und namentlich auch in
Deutschland mit ziemlicher Gründlichkeit untersucht worden. Das,
was wir daraus kennen lernten, deutet darauf hin, dass die erd-
magnetische Kraft zu dem Centralkörper unseres Sonnensystems in
einer gewissen Beziehung steht, ja, zu einem Theile wohl kosmischer
Natur ist und ist wohl danach augethan, den Eifer menschlicher
Forschung im höchsten Maasse auzuspannen. Eine andere Gattung
magnetischer Erscheinungen, welche gleichfalls die hier kurz bezeicli-
neten Beziehungen erkennen lassen, ist von ungleich grösserer Be-
deutung für die Erklärung der Natur der erdmagnetischen Kraft-
äusserung; es ist dies die Summe der Erscheinungen, welche wir als
magnetische Störungen, Stürme, Ungewitter, wie sie Humboldt
bezeichnete, zusammenzufassen pflegen. Was dieser Gattung der
Erscheinungen ein ganz besonderes Interesse verleiht, ist ihre nahe
Beziehung zu der Entfaltung der Polarlichterscheiuungen. Die Polar-
expeditionen früherer Zeiten haben nach dieser Richtung hin vielfach
aufklärend gewirkt, sie haben aber auch den Satz gelehrt und be-
gründet, dass an eine Erklärung der Polarlichterscheinungen und damit
zusammenhängend au eine Erklärung der magnetischen Störungen
ohne gründliche Beobachtungen innerhalb der Polarzonen absolut
nicht gedacht werden kann. Lassen Sie uns hier zur näheren
Beleuchtung der Sache einen Vorgang dieser Art besonders an-
führen. Als im September des Jahres der grossen magnetischen
Störungen und Polarlichtentfaltungen 1859 auf dem damals von mir
geleiteten Observatorium in Melbourne die Nadeln der magnetischen
Instrumente als in grosser Bewegung, in grossen Störungen in
allen drei Elementen des Erdmagnetismus befindlich zu erkennen
waren, da beobachtete man auch in Toronto und in den Ob-
servatorien der Vereinigten Staaten die gleichen Erscheinungen
und zur selben Zeit trat in der nördlichen, wie in der südlichen
Hemisphäre die Entfaltung prachtvoller Polarlichter ein; in solchem
Maasse waren damals die magnetischen Kraftäusserungen der Erde
erhöht, dass man überall in der Leitung der electrischeu Telegraphen
Ströme eigener Art wahrnahm, die sich als so bedeutend erwiesen,
dass man mittels derselben allein zu telegraphiren vermochte, dass
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man Aufzeichnungen bewirken konnte, die über Richtung und Starke
der Ströme Aufschluss geben konnten. Jene allgemeinsten Gesetze,
die sich schon aus den Arbeiten des Göttinger Vereins ableiten
Hessen, ergaben sich auch aus der Beobachtung jener Epoche grosser
magnetischer Störungen, nämlich dass solche Störungen sich gleich-
zeitig über ein grosses Gebiet, um nicht zu sagen, über die ganze
Erdoberfläche verbreitet zeigten, dass die magnetischen Elemente an
allen Puncten, wo Beobachtungen gemacht wurden, gestört erschienen.
Es zeigte sich ferner in dem Charakter der Abweichungen von dem
Mittelwerthe der Elemente eines Ortes bei näherer Untersuchung
eine gewisse Gesetzmässigkeit; allein über die, diese Störungen
erzeugende Kraft, über deren Sitz, kurz über eine Theorie, welche
ermöglichen würde die verschiedenen Erscheinungen unter gemein-
samem Gesichtspuncte zu erkennen, wissen wir, trotz jener Errungen-
schaften heute so wenig, wie vor einem halben Jahrhundert, als man
zuerst in systematischer Weise magnetische Forschungen aufnahm.
Ferner, wenn es uns gelungen ist, mit Bezielmug auf Charakter und
Grösse der periodischen Schwankungen während eines Tages und
während eines Jahres manches festzustellen, was auf eine Abhängig-
keit dieser Schwankungen von der geographischen Breite und von
der Stellung der Erde in ihrer Bahn um die Sonne schliessen lässt,
wenn es ferner gelungen ist, über die Erscheinungen der uuperiodischeu
magnetischen Schwankungen einiges Licht zu verbreiten, das zum
erhöhten Eifer in der Forschung antreibt, so verdanken wir dieses
zu einem guten Theile gerade den Beobachtungsreihen, welche inner-
halb der Polargebiete gewonnen wurden. Eine andere Gattung
magnetischer Vorgänge, die Veränderungen der magnetischen Er-
scheinungen in Jahrzehnten und Jahrhunderten, die Säcularänderungeu,
bleiben heute noch, wenn auch vereinzelt, für gewisse Theile der Erde
festgestellt, vorzugsweise um deswillen vollständig unerklärbar, weil
Beobachtungen darüber aus den Polarregionen, wo diese Beobachtungen
derNähe derCentrender erdmagnetischen Thätigkeit wegen ein erhöhtes
Interesse haben, noch vollständig mangelu. Dass ein Gleiches auch
mit Beziehung auf die Erklärung der Einwirkung der Polarlichter
auf die magnetischen Elemente gesagt werden kann, leuchtet un-
mittelbar ein, wenn man die Häufigkeit des Auftretens jener Er-
scheinungen innerhalb der Polarregionen erwägt und auch berück-
sichtigt, dass die Untersuchungen über diesen, das Wesen des
Magnetismus tief berührenden Eiufluss um so schwieriger werden,
als die Thatsache, dass an einzelnen Orten und in einzelnen Fällen
bei einer Entfaltung der Polarlichter sich jener Einfluss manifestirt,
während er in anderen Fällen und an anderen Orten nicht beobachtet
wird, vielfach verwirrend wirken muss.
Geographische Blätter, Bremen 1880. ^ 12
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Alles dieses, und wir meinen hier sowohl die aus dem Gebiete
der Meteorologie, wie aus jenem des Erdmagnetismus angeführten
Thatsachen erweisen, dass zur Ausbildung dieser Wissenschaften und
zur Förderung der Erkenntnis« auf den bezeiclmeten Gebieten noch
unendlich viel zu thun übrig bleibt, dass das, was zu tliun ist,
unmöglich bei Gelegenheit vorübergehender und einzelner Expeditionen
innerhalb der Polargebiete geleistet werden kann, sondern nur zu
leisten ist durch Beobachtungen, welche an fest begründeten Obser-
vatorien ausgeführt werden.
Es ist bei diesem Vortrage nicht möglich in die Einzelheiten
einzugelieu, die Kürze der Zeit, die mir zur Verfügung steht, gestattet
dieses nicht, auch gewährt einem jeden, der sich für die Sache
interessirt, das schon erwähnte Programm der internationalen Polar-
commission einen Einblick. Nur soviel sei mir gestattet aus jenem
Programme hervorzuheben, dass bei der Durchführung eines Gedankens
der Polarforschung im Sinne dieser Commission auf 3 Puncte ein
besonderer Nachdruck gelegt werden muss, die ich nur noch flüchtig
in Nachfolgendem anzudeuten mir erlaube.
In erster Linie ist hier zu betonen, dass die Wahl der Stationen
um die Polarregioueu nach einem festen, durch gemeinsames Ueber-
einkommen vereinbarten Plane zu geschehen hat, und dass die ein-
zelnen Nationen, die sich an der Durchführung betheiligen, sich
unter einander über die so gewählten Stationen zu verständigen haben.
In zweiter Linie muss auf volle Einheitlichkeit der Organisation
der Arbeit, auf Gleichheit der Methoden und Uebereinstimmung der
Instrumente gedrungen werden, während drittens Gleichzeitigkeit der
Beobachtung, die Identität der Beobachtungsepoche, als eine uner-
lässliche Bedingung für das Gelingen des ganzen Unternehmens an-
zusehen ist. Der Besprechung dieser Puncte wird in dem Programme
der internationalen Polarcommission in eingehendster Weise Rechnung
getragen und als Beginn der Beobachtungsepoche der Herbst der
nördlichen Hemisphäre des Jahres 1882 festgesetzt.*)
Sie sehen aus diesen flüchtigen Umrissen auch ohne nähere
Beleuchtung sofort den tief greifenden Unterschied zwischen den
Polaruntornehmungen vergangener Zeiten und jenen der Aera, die
nunmehr anbrechen soll. Bei der Polarforschung, wie sie heute auf-
gefasst werden muss, gilt es vor allen Dingen, den Grundsatz der
Unterordnung unter einen grossen, dem ganzen Unternehmen zu
Grunde liegenden Gedanken festzuhalten und durchzuführen. Franzosen,
Engländer, Amerikaner, Holländer, Deutsche, Russen, Italiener, Schwe-
den, Dänen, sie alle müssen, wollen sie bei der Durchführung des Planes
sich betheiligen, jenen Grundsatz dem ganzen Umfange nach anerkennen
*) Ursprünglich war dafür Herbst 1881 festgesetzt worden.
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und in ihren betreffenden Maassnahinen bethätigen. Bei den Polarreisen
früherer Zeiten waren es einzelne kühne und tüchtige Männer, welche
sich der grossen Aufgabe widmeten; selten war es möglich, solche Unter-
nehmungen zu einem gemeinsamen Wirken und nach einem gemein-
samen Plane der Organisation zu vereinigen, heute gilt es, alle
Nationen zu einer Zeit nach gemeinsamer Organisation, jede au die
von ihr übernommene Stelle in die Polargegenden oder in die Gebiete
an deren Grenzen zu rufen. Ks muss hier besonders hervorgehoben
werden, dass es sich, da man die Wissenschaft des Magnetismus der
Erde in hervorragender Weise dabei zu fördern strebt, als unbedingt
nothwendig ergiebt, dass die Untersuchungen in beiden Polarregionen
zugleich geführt werden müssen. Der Charakter der magnetischen
Störungen, das gleichzeitige Auftreten derselben über unsere ganze
Erde, lässt es uns als unstatthaft erscheinen, wollte man die Unter-
suchungen auf das eine oder das andere der Polargebiete beschränken.
Indem ich nun an jenen Theil meines Vortrages gelange,
welcher sich auf den greifbaren Nutzen der in so grossartigem Maass-
stabe geplanten Unternehmungen bezieht, fühle ich das Bedürfuiss,
einige vor Missverständniss sichernde Bemerkungen vorauszuschicken.
Es wird gewiss vielen in dieser Versammlung als überflüssig
erscheinen, vor deutschen Naturforschern einen greifbaren Nutzen
darzulegen, wo es sich um die Förderung menschlicher Kenntnisse
auf dem Gebiete der Naturforschtiug handelt. Eine Versammlung,
wie diese, bringt an und für sich ein volles Yerständniss der wissen-
schaftlichen und ethischen Bedeutung einer Untersuchung zum Vor-
theile menschlicher Erkenntniss in dem von mir dargelegten Sinne
mit sich und es bedarf wahrlich nicht meiner schwachen Kraft,
diesem Verständnisse an dieser Stelle erst einen Boden zu schaffen ;
allein, wo es sich darum handelt, staatliche Mittel in einem so hohen
Maasse zu fordern und zu erlangen, wie in dem Falle, der uns liier
beschäftigt, erscheint es mir zweckmässig, um nicht zu sagen als
eine Pflicht, auch von den greifbaren Vortheilen, welche aus dem
Unternehmen hervorgehen müssen, ein Wort zu sagen. Es ist in
solchen Fällen aber wohl getlian, daran zu erinnern, was bereits im
Verlaufe der Zeit durch die Wissenschaften, um deren Förderung es
sich in erster Linie durch eine systematische Polarforschuug handelt,
an practisch Verwerthbarem geleistet wurde, welche Vortlieile dem
staatlichen Leben durch eine Pflege jener Wissenschaften zugeweudet
wurden. Lassen Sie uns auch hier zunächst der Meteorologie
gedenken. Es kann mir nicht einfallen, die grosse Bedeutung der
meteorologisch klimatologischen Forschung, wie dieselbe seit Ende
des vorigen Jahrhunderts betrieben wurde, für das Staatslebeu und
die alltäglichen Verrichtungen der verschiedensten Berufskreise
12 *
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beleuchten zu wollen. Lassen Sie mich vielmehr nur von einem
Dienste sprechen, welchen die Meteorologie dem Verkehr der Menschen
zur Sec zu leisten vermochte und der, da sich dessen Einwirkungen
innerhalb der Erinnerungen der meisten von uns zur Geltung
brachten, auch am leichtesten verstanden wird. Die Pflege der
Meteorologie, so wie dieselbe von Maury, Piddington, Reid und Dove
mit Beziehung für deren Bedeutung zur See verstanden wurde, hat,
vergessen wir das nicht allzuleicht, mit Beziehung auf die Reisen
nach entfernten Erdtheileu eine vollständige Umwälzung zur Folge
gehabt. Die mittels Segelschiffen zurückgelegten Entfernungen
wurden in ganz erheblicher Weise gekürzt; durch ein stetig sich
fortbildendes Erkennen der meteorologischen Verhältnisse in den
verschiedenen Meeren musste nothgedrungen nicht nur die Kürzung
der Reisedauer, sondern auch die Sicherheit der Schiffe Hand in
Hand gehen. Ich habe schon vor nunmehr 5) Jahren bei Gelegenheit
der Naturforscherversammlung in Rostock in’s Einzelne gehend, die
Errungenschaften der angewandten Meteorologie auf dem Gebiete
des Weltverkehrs zur See dargelegt, und darf es wohl als überflüssig
erachten, heute nochmals auf die unberechenbaren Vortheile zurück-
zukommen, welche Weltverkehr und Welthandel von der Pflege der
maritimen Meteorologie zu ziehen vermochten. Zum vollen Ver-
ständnisse dieses wichtigen Gegenstandes habe ich nur hiuzuzufügen,
dass das, was wir bisher auf diesem Gebiete errangen, den statistischen
Erhebungen zu verdanken ist und dass mit Rücksicht auf die Ver-
werthung streng begründeter theoretischer Anschauungen in der
weiteren Ausbildung unserer Wissenschaft noch ein weites Feld des
Wirkens übrig bleibt. Unsere Wissenschaft beginnt nunmehr, erst
auf dem Boden der factischen Erhebungen begründet, sich fester
und für die Anwendung brauchbarer und zuverlässiger zu gestalten,
so dass sich bald unter steter Weiterentwickelung zu deu, auf
statistischem Wege errungenen Erfolgen auch weitere gesellen
werden, die der klaren Einsicht in das Wesen der atmosphärischen
Erscheinungen ihre tief greifende Bedeutuug verdanken. Wie aber
jene Einsicht durch systematische Beobachtungen innerhalb der
Polargegenden gefördert werden könne, habe ich schon an einer
früheren Stelle dieses Vortrages anzudeuten Gelegenheit genommen.
Nun lassen Sie uns noch einen Augenblick bei diesem Thema
verweilen, um auch der practisch verwerthbaren Errungenschaften
der Forschungen der erdmagnetischen Wissenschaft zu gedenken.
Als vor nun 60 Jahren die ersten Erscheinungen des Electro-
Magnetismus beobachtet worden waren, wer glaubte wohl damals
aussen in der Welt an eine Verwertlmng dieser Entdeckung, die sie
zur wichtigsten der Neuzeit gemacht hat? Es bedurfte einer geraumen
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Zeit, bis das bereits in dem Geiste des Forschers gestaltete Gewicht
der neuen Entdeckungen zum Gemeingut wurde und endlich in der
Richtung zahlloser Systeme telegraphischer Einrichtungen in seinem
vollen Werthe realisirt werden konnte. Dieser gewaltige Schritt
im Interesse der Civilisation ist so oft dargelegt worden, dass ich
wahrlich hier nicht viel Worte zu machen habe, um die immensen Vor-
theile des Studiums der Wissenschaft des Electro-Magnetismus zu be-
leuchten, ich ziehe es vielmehr vor, einen andern verwandten Gegenstand,
welcher kaum von minderem Relange ist, hier noch kurz zu berühren.
Es ist Ihnen Allen bekannt, wie sich nach und nach der Verkehr
zur See auf eisernen Schiffen im Gegensätze zu jenem auf hölzernen
Fahrzeugen der älteren Art zu stets wachsender Bedeutung erhoben
hat, und gewiss haben Sie sich alle schon die Frage gestellt, wie es
denn unter solchen Verhältnissen auf eisernen Schiffeu überhaupt
möglich ist, die Compassnadel in der practischen Navigation zu
benutzen? Die Antwort darauf fasse ich dahin zusammen, dass es
unausgesetzten Forschungen auf dem Gebiete des Magnetismus ge-
lungen ist, die Theorie der Einwirkung der Eisenmasse eines Schiffes
auf die Compassnadel so fest zu begründen, dass es möglich geworden
ist, auf den Eisenfahrzeugen neuerer Zeit den Weltverkehr ebenso
sicher durch den Gebrauch des Compasses zu vermitteln, wie einst
und heute noch auf hölzernen Schiffen. Ohne jene Studien und
deren Ergebnisse erscheint ein Gebrauch der Magnetnadel auf eisernen
Fahrzeugen als absolut unmöglich. Es ist aber gewiss nicht zufällig,
dass die berühmten Arbeiten Arago’s über Magnetismus von jenen
Poissons über die Vertheilung des Magnetismus in eisernen Schiffen
gefolgt wurden, dass die verdienstvollen Untersuchungen Airy’s über
die Deviation der Magnetnadel auf eisernen Schiffen nahezu gleich-
zeitig in die Oeffentlichkeit gelangten wie die bahnbrechenden Unter-
suchungen von Gauss über die magnetische Kraft und deren absolute
Werthbestimmung. Ueberall erkennen wir den innigen Zusammen-
hang der theoretischen Forschungsarbeit und der Verwerthung der
Ergebnisse derselben im practischen Leben und darum ist es wohl
daran gethan, in einem Falle, in welchem die Staatshülfe in hervor-
ragender Weise beansprucht werden muss, sich an diese Thatsache
zu erinnern und sich die Frage vorzulegen, wie es wohl heute um
die Gestaltung des Weltverkehrs stünde, wenn auf den beiden hier
uns zunächst beschäftigenden Gebieten die Forschung nicht in dem
Maasse eingegriffen hätte, wie sie es wirklich that.
Es ist nicht meine Art, mich in Spekulationen zu vertiefen
über das, was dermaleinst noch die wissenschaftliche Forschung dem
practischen Leben der Völker zu leisten vermag, es sei mir nur
gestattet, ehe ich zum Schlüsse eile, noch folgendem Gedanken einen
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Ausdruck zu verleihen. Wenn wir gesehen haben, dass in den zwei,
durch die vorgeschlagenen Polarforschungen besonders zu fördernden
Wissenschaftszweigen noch allenthalben die feste theoretische Be-
gründung mangelt, dass trotzdem diese beiden Wissenschaften in
hervorragender Weise dem staatlichen Leben und besonders dem
Weltverkehre zum Vortheile gereichten, so können wir mit logischer
Bestimmtheit daran die Hoffnung knüpfen, dass die vollkommen
wissenschaftlich begrüudeteu Zweige der Meteorologie und des Erd-
magnetismus, sobald die Begründung erstrebt sein wird, jene segens-
reichen Wirkungen auf Cultur und Civilisation noch in erhöhtem Maasse
zur Folge haben werden. Die vorgeschlageue Polarforschung strebt
mit Gewissheit des Erfolges nach einer theoretischen Begründung
und einer Kenntniss des innern Zusammenhanges der Erscheinungen
auf dem Gebiete der Meteorologie und des Erdmagnetismus und
deshalb erscheint uns die Beanspruchung der staatlichen Hülfe für
die Durchführung derselben in hohem Maasse begründet.
Wenn es mir rathsam erschieu, bei meinen Ausführungen die
soeben dargelegten practischen Gesichtspunete besonders hervor-
zuheben, den Nutzen zu kennzeichnen, der nach einzelnen Richtungen
hin aus der systematischen Polarforschung zu ziehen sein wird, so
veranlasste mich dazu wahrlich nicht die Ueberzeugung, dass man in
unserem Vaterlande eines materiellen Impulses benöthigt sei, damit
wissenschaftliche Untersuchungen gefördert werden könnten. Vielmehr
erfüllt mich die Ueberzeugung, dass kein Volk der Erde gleich
dem deutschen die Forschung lediglich um der Forschung willen,
die geistige Arbeit lediglich um der Erkenntniss willen zu pflegen
versteht. Die Geschichte unserer Bildung, die Entwicklung unserer
Nation zu ihrer heutigen Weltstellung unter den Culturvölkern der
Erde, erfüllt mich mit der sichern Zuversicht, dass auch die deutsche
Nation in dieser hochwichtigen wissenschaftlichen Sache au den ihr
zufallenden Beobachtungsposten erscheinen werde und dass ihre zur
Förderung des Unternehmens berufenen Gelehrten an Tüchtigkeit,
Opferfreudigkeit und Hingabe an die Sache der systematischen
Polarforschung, den Gelehrten keiner anderen Nation uaclistehen
werden. Lassen Sie mich mit dem Wunsche schliesseu, dass das
grossartige internationale Unternehmen, welches ich vor Ihnen dar-
zulegen die Ehre hatte, durch das friedliche Zusammenwirken aller
civilisirten Nationen gesichert und zur Ehre und zum Nutzen der
Menschheit zu Ende geführt werden möge.
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— 183 —
Kleinere Mittheilungen.
Aus der Geographischen Gesellschaft in Bremen. Neu in Verbindung und
einen gegenseitigen Schriftenaustausch sind mit unserer Gesellschaft getreten :
die Kaiser!. Leopoldinisch - Carolinische Akademie und die Sociöte Suisse de
Topographie in Genf. Den Herren J. Gordon Ben nett in Newyork. General-
Konsul Dr. Schumacher in Newyork, General-Konsul Focke in Shanghai und
Minister-Residenten Gülich in Santiago ist die Gesellschaft für fortgesetzte
gefällige Zusendungen von Zeit ungen und anderen Publikationen zu Dank verpflichtet.
Der niederländischen Geographischen Gesellschaft in Amsterdam sind wir für
das wcrthvolle Geschenk: „Börö-Bodor“ ebenfalls zu lebhaftem Dank verbunden.
Unser Vorstands-Mitglied, Herr Dr. 0. Finsch, hat über seine Forschungen
und Erlebnisse auf den Südseeinseln eine lange Reihe Berichte und Mittheilungen
in den „Hamburger Nachrichten“ veröffentlicht; für die gefällige Uebersendung
der betreffenden Zeitungs-Nummern sagen wir der Redaction der „Hamburger
Nachrichten“ auch hier unsern Dank. Wir haben diese Berichte zu einem kleinen
Bande vereinigt und derselbe ist den Mitgliedern der Gesellschaft zugänglich.
Die diesjährigen Vorträge unserer Gesellschaft wird Herr Professor
F. Ratzel aus München eröffnen. Derselbe wird an zwei Abenden über „die
natürlichen Bedingungen der Entwickelung der Vereinigten Staaten von Amerika“
sprechen.
Für die Geographische Gesellschaft resp. die Redaction der „Deutschen
Geographischen Blätter“ gingen ausser den im regelmässigen Schriftenaustausch
erhaltenen Schriften die folgenden ein oder wurden für den geographischen
Lesezirkel resp. die Bibliothek angeschafft: Ein verschlossenes Land. Reisen
nach Corea, von Ernst Oppert. Leipzig, F. A. Brockhaus, 1880. — Reise
nach Westsibirien im Jahre 1876. Wirbelthiere, von Dr. 0. Finsch. — Choix
d’nn Meridien initial unique par Beaumont. — Dr. F. C. Sc hübe ler, Professor
der Botanik an der Universität in Christiania, Pflanzenkarte von Norwegen. —
Dr. Emil Holub’s Ausstellungs-Katalog. Wien. — Dr. Emil Holub: Sieben
Jahre in Süd-Afrika. Erlebnisse, Forschungen und Jagden auf meinen Reisen
von den Diamantfeldern zum Zambesi (1872 — 1879), Liefg. 9 — 20. — Dr. F.
Ratzel, Die vereinigten Staaten von Nordamerika, II. Band. — R. Werner,
Erinnerungen und Erlebnisse aus dem Seeleben. — Verzeichniss der nach-
gelassenen Bibliothek desjHerrn Hofrathes Prof. Dr. Wappäus. — Die Nord-
polarreisen Adolf Erik Nordenskjöld’s 1858 — 1879. Leipzig, F.A. Brockhaus.
— Nordost -Passagen vid Publicistklubbensfest för Nordenskjöld den 30. April
1880. — Graf von Waldburg-Zeil, Literatur -Nachweis für das Gebiet des
„unteren Ob“. Zweiter Anhang zu Dr. 0. Finsch, Reise nach Westsibirien im
Jahre 1876. — Dr. Emil Holub: Eine Culturskizze des Marutse-Mombundo-
Reiches. — Journal of the Royal Asiatic Society. — Philippson, Ueber
Kolonisation. — A. Kirchhoff, Die Südseeinseln und der deutsche Südsee-
handel. — Dr. R. Schramm, Italienische Skizzen. — Cypern im Jahre 1879.
Von Sir Samuel White Baker. Aus dem Englischen von Richard Oberländer.
Leipzig: F. A. Brockhaus. 1880.
Franz Josephsland wieder erreicht. Unser Mitglied Kapitän Dali mann,
kürzlich aus dem Eismeere nach Hammerfest zurückgekehrt, schreibt von dort
in einem am 14. October angekommeneu Briefe an seine Rheder: „Dieser Tage
war hier eine Dampfjacht, ein grosses hölzernes Schiff, welches von hier via
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Tromsoe nach Schottland (Petcrhead) weiter ging. Das Fahrzeug wurde
in Peterhead im letzten Winter erbaut; der Eigenthiimer, Herr Leigh
Smith aus London, war an Bord. Der Kapitän war zufällig ein Bekannter
von mir, da ich in der Davisstrasse mit ihm zusammen gefischt hatte; er
suchte mich auf und erzählte mir, dass sie im Juni Peterhead verlassen und
bei Jan Mayen sich einige Tage zwischen Robbenfängern und Robben auf-
gehalten, selbst einige hundert Robben geschossen hätten und dann weiter
bis östlich von Spitzbergen gedampft wären. Darauf seien sie ohne besondere
Umstände und ohne viel Eis nach Franz Josephsland gekommen; sie
seien da, wo die Oesterreicher mit dem „Tegetthoff“ gewesen, gelandet, hätten
auch einen Cairn (Steinhaufen) und andere Spuren am Lande gefunden, das
Schiff selbst aber nicht gesehen. Herr Smith zeigte mir seine Karten und er
hat darnach noch etwa 50 bis 100 Seemeilen mehr den österreichischen
Entdeckungen hinzngeffigt ; ohne viel Zeitverlust und ohne viel Eis getroffen
zu haben, wären sie nach Spitzbergen zurückgedampft, hätten dort noch einige
Tage Renthiere geschossen und wären in 56 Stunden von da nach Hammerfest
gekommen.“ — In Betreff der weiter östlich und südlich, um Nowaja Seralja
belegenen Meeresgebiete lauten dagegen die Nachrichten über die Eisverhältnisse
sehr ungünstig. Von den nach Sibirien (Ob und Jenissej) bestimmten Schiffen
ist nur der „Neptun“ glücklich nach dem Ob und wieder zurückgekommen, hat
aber auch mit manchen Schwierigkeiten durch das Eis zu kämpfen gehabt; um
Mitte September segelte ein Norwegischer Wallrossfänger durch die Karische Pforte
50 miles in's Karische Meer und kehrte ohne Schwierigkeit durch Eis, wieder zurück.
Beim Schluss dieses Heftes erfahren wir noch einiges Nähere über
die Fahrt der Dampfjacht „Eira“ durch directe Mittheilung aus Peterhead.
Nach kurzem Verweilen bei Jan Mayen wurde zunächst (auf 75° 50' N. B.) der
Versuch gemacht, die Ostküste Grönlands bei Kap Bismarck zu erreichen, allein
hier bot der Eisgürtel der ostgröuländischen Küste ein unüberwindliches Hinder-
niss*). Dann kreuzte die „Eira“ nach Spitzbergen herüber, um entweder nördlich
oder südlich herum Wiche’s Land (König Karls Land) zu erreichen. Beide
Versuche scheiterten an den Eisverhältnissen, besser dagegen gelang das Vorhaben,
Franz Josephs Land zu erreichen. Am 13. Juli, auf 78" 17' N. B. und 46° 19' 0. L.,
steuerte die Jacht NO. und dann N. Um 4 Uhr Nachmittags des 14. ankerte die
„Eira“ an einem Eisfelde, welches sich an eine schmale Insel anschloss, die
letztere gelegen auf 80" 5' N. B. und etwa 53° 20' 0. L Hier traf man Schaareu
von Walrossen, von welchen 17 noch an demselben Abend getödtet wurden. Von
diesem Puncte aus wurde neues Land entdeckt. Der nördlichste vom Schiff
erreichte Punct war 80° 29' N. B. und 45° W. L. Das Land sah man sich
nordwärts auf 46 miles erstrecken, allein das Eis trieb das Schiff zurück und
letzteres konnte nicht weiter vorwärts kommen. Herr Smith entdeckte u. a.
einen guten Hafen, der durch zwei Inseln gebildet wird und auf 80" 5' 25" N. B.
und 48° 35' W. L. gelegen ist. Der Hafen erhielt den Namen „Eiraharbour“ und
von hier aus wurden kleine Expeditionen in die Fjorde und zu benachbarten Inseln
gemacht. In einer der Baien traf man eine grosse Menge Wale, wie der Bericht
sagt right whales. Verschiedene Inseln wurden entdeckt und auf einigen Berichte
zurückgelassen. Im Ganzen wurden 110 miles Land entdeckt, abgesehen von
dem Lande, das man noch weiter nordwärts sich erstrecken sah. Das Schiff
steuerte dann östlich und lag am 30. August dicht unter Kap Tegetthoff. Um
Mittag desselben Tages lag die Jacht gerade da, wo die österreichische Expedition
ihr Schiff verliess (bei der Wilczckinsel.) Im Westen und Nordosten war überall
*) Der östlichste Ort der [„Eira“ war Immerhin noch 44 »/a deutsche Mellen von dem in
grader Richtung nächsten KUstcntheilc, den Kol dewey- Inseln, entfernt.
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Packeis. Südwärts um das Siidkap von Spitzbergen steuernd, drang die „Eira“
noch durch Wybe Jans Water bis zur Ginevra Rai und in die Walther
Thymen’s Strasse vor, allein weiter östlich zu dem sogenannten Wiche’s Land kam
sie nicht nnd kehrte dann mit einer reichen Jagdbeute an Walrossen, Seehunden
und lebenden Eisbären nach Hammerfest zurück.
Italienische Stidpolar-Expedition. Der Marine-Lentenant Giacomo Bove.
Theilnehmer der Vega- Fahrt , beabsichtigt eine Südpolar - Expedition. Nach
dem Reiseplane wird die Expedition drei Jahre in Anspruch nehmen. Der
Abgang ist vorläufig auf Mai 1881 festgesetzt. Im Ganzen sollen die nöthigen
Kosten der Expedition 600 000 Lire nicht übersteigen; hiervon sind 250 000 für
das Schiff, 100000 für die Proviantirnng und 150 000 für andere Ausgaben
bestimmt. Der Plan ist folgender: Der Dampfer nimmt seinen Kurs über
die Falkland-Inseln nach dem Graham-Land und beginnt dort, nach Vervoll-
ständigung der Dallmann’schen Aufnahmen von 1878 — 74, eine Umfahrung des
vermutheten Südpolarlandes von Osten nach Westen. Zunächst wird die Gegend
von Bellingshausen's Alexander-Land und Peter-Insel untersucht, über das von
Wilkes im März 1839 gesehene Land womöglich Klarheit gewonnen, nnd im
Allgemeinen festzustcllen gesucht, ob man es in dieser Gegend nur mit Inseln
oder mit einer grösseren Landmasse zu thun hat. Im ersteren Falle wird
Leutenant Bove südlich von den Inseln direct nach dem von Ross im Februar
1842 befahrenen Meerestheile im Osten des Victoria - Landes zu gelangen sich
bestreben und in diesem Meerestheile überwintern, andernfalls dürfte die erste
Ueberwinterung am Bellinghausen-Land geschehen und die Befahrung des Ross-
Meeres erst im zweiten Sommer erfolgen. Die zweite Ueberwinterung ist bei
d’Urville’s Adelie-Land projectirt. Längs Wilkes-Land nnd weiter westlich hofft
Bove Ocffnungen zwischen Land oder Eis zu finden, die ihm die Erreichung
einer hohen Breite gestatten, bevor er bei der Kemp- oder der Enderby - Insel
zum dritten Mal überwintert und von dort die Rückfahrt antritt.
Die dritte Reise des „Willem Barents“. Wie in den beiden vorhergehen-
den Jahren, 1878 und 1879, wurde auch in diesem Sommer von den Niederlanden
aus der Scgelschuner „Willem Barents“ zu Untersuchungen in das europäische
Eismeer ausgesandt. Ueber den Erfolg dieser Expedition geben wir unsern
Lesern in Uebersetzung die eingegangenen vorläufigen Berichte, welche das
„Aardrijkskundig Weekblad“ in No. 50 und 51 veröffentlichte. Es heisst dort:
An Bord des „Willem Barents“, Hammerfest, 4. September 1880.
Sehr geehrter Herr!
Telegramme werden Ihnen bei Empfang dieses Schreibens unsere glück-
liche Ankunft und das uns widerfahrene Unglück gemeldet haben. Ich habe jetzt
die Ehre, Ihnen einen kurzen Bericht über unsere Reise nach unserer Abfahrt von
Vardö zu erstatten. Durch das Einnehmen von Wasser, sowie durch Wind-
stille wurden wir so lange aufgehalten, dass wir Vardö erst am 8. Juli verlassen
konnten. Wir richteten unsern Kurs nach Karmakuli (Süd-Nowaja Semlja), welches
wir am 16. in Sicht bekamen. Vor der engen Strasse, welche nach dem Anker-
platz führt, angekommen, wurde der Wind aus SO. so heftig, dass wir zwei Tage
beilegen mussten und daher erst am 19. vor Anker kamen. Zu unserer nicht
geringen Enttäuschung fanden wir die Station verlassen; wir trafen nur einen
Samojeden mit Frau nnd Kind. Glücklicherweise waren diese im Stande, uns
das ganze Etablissement zu zeigen; nur konnten wir kein Wort mit ihnen
wechseln. Zwischen der Insel und Nowaja Semlja lagen sechs russische Schuner,
mit Fischfang beschäftigt ; aber vergeblich versuchten wir mit einem Kapitän der-
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selben eine Unterredung anzuknüpfen. Nachdem wir Wasser und Ballast
geladen, die Station aufgenommen und magnetische und astronomische Beob-
achtungen gemacht hatten, Hessen wir ein an den Stationscommandanten und an
das Komittee gerichtetes Schreiben zurück und verliessen am 20, Abends die Bai.
Dichter Nebel und ONO. — NO. begleiteten uns auf unserer Fahrt nach dem Eise.
Auf 76° n. Br. und 42'/i 0 ö. L. trafen wir das erste Eis an. Die herrschend
gewesenen NO.-Winde hatten es sehr auseinander getrieben, so dass wir ohne
Mühe vier Meilen nordwärts steuern konnten, wo das Eis dichter zu werden
begann. Mit südöstlichem Kurs waren wir bald aus demselben heraus, und nun
wurde die Eisgrenze bis 51° ö. L. verfolgt. Hier ist es unthunlich, mit südöst-
lichem Kurs aus dem Eise zu gelangen. Mit W. und SW. kamen wir in offenes
Wasser und sahen nun, dass die Eisgrenze sich um den Süden zog, was mich
schon befürchten liess, dass wir, eben wie Wood und Lütke, auf das Eis stossen
würden.
Den L August wurde in der Krenzbai geankert, und wurden wie gewöhn-
lich magnetische und astronomische Beobachtungen angestellt, Wasser und Ballast
eingenommen, Bericht in einem Cairn zurückgelassen und am 3. die Bai ver-
lassen und nördlich gesteuert. Am Morgen des 7. August hörten wir zum ersten
Male die Brandung gegen das Eis und sahen einzelne Eisstückc. Wir befanden
uns auf 76° dCF n. Br. und 56° ö. L., und da ich das Eis hier so weit nördlich
fand, so war mein Plan gemacht. Ich beschloss nämlich, um das Eiskap zu fahren
und zu versuchen, Eishafen zu erreichen. Seit dem LL Juli hatten wir anhaltend
Nord- und Nordostwind, und ich vermuthete, dass das Eis, im Osten aufgebrochen,
sich durch die Barentssee verbreitet hatte und, wie wir's erfahren, die Fahrt
erschwerte. Dm durch Deponirung eines Berichts in einem Cairn Kunde von
meinem Vorhaben zu geben, steuerten wir nach Berchciland.
Als wir bei Bercheiland angekommen waren, wurde cs still und der Wind
Südwest, während die Strömung Nordost setzte. Bei der Stille wurde eingebüsst,
was mit einer anfkommenden leichten Brise gewonnen worden war. Wir lotheten
BQ und 4Q Faden, weshalb wir durch Ankern das Gewonnene nicht festzuhalten
vermochten. Während der ersten Wache kamen wir etwas voraus. In der Hoffnung,
dass es so bleiben werde, und da ich nördlichen Wind, wenigstens eine Veränderung
erwartete, ging ich ll a /* Uhr zur Koje, in der Voraussicht, vor der Einfahrt zu
sein, wenn ich aufstand.
Auf der Hundewache schlug Frackers mir vor, von der Küste abzuhalten, da
wir trotz einer ziemlichen Brise nicht vorauskamen, sondern verloren. Er ver-
muthete weiter in See weniger Strömung. Da ich den Vorschlag annehmbar fand,
so wurde weit oberhalb der Kreuzinseln nordwestlich gesteuert.
Zwar war es etwas nebelig, doch das Riff gut zu sehen. Als Frackers um
12 3 /i Uhr mit den wachthabenden Leuten auf dem Back stand, um auszuschauen
und das Riff schon hinter sich glaubte, sah er luvwärts lichte Brandung, und
unmittelbar darauf stiess das Schiff. Das Riff erstreckt sich unter Wasser
wenigstens '/» geogr. Meile weiter, als auf der Karte angegeben ist. Segel wurden
geborgen, rund um das Schiff gelothet, Schaluppen ausgesetzt, ein Stoppanker
ausgebracht, Dampf gemacht und ein schwerer Anker hinten hinuntergelassen.
Das Schiff stiess heftig, und rundherum trieben Stücke vom losen Kiel und von
Doppelhaut. Umsonst wurde versucht auf die Anker zu hieven ; das Schiff legte
sich auf die Seite und musste gestützt werden; die Kette des schweren Ankers
wurde abgedreht und das Wasser fiel. Wind und Brandung nahmen zu und ich
fing an das Schlimmste zu befürchten. Mit steigendem Wasser wurden Ballast
und Steinkohlen aus dem Vorderschiff über Bord geworfen und um ll*/a Uhr
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kam das Schiff nach einigen harten Stössen frei. Den Anker musste ich schlippen
lassen und sobald möglich auf den Stopp holen, welcher in 2 Faden lag. Zum
Glück war das Schiff dicht geblieben. Der Wind wurde stärker und ich konnte
hier nicht liegen bleiben. Wir waren gezwungen, mit einem Spring (Hülfsanker)
unter Segel zu gehen und waren damit ausser augenblicklicher Gefahr, hatten
aber als einziges Grundtakel nur einen Warpanker. Eine Schaluppe, um das
Schiff zu lichten, konnte bei der inzwischen gewachsenen See nicht von Bord.
Auf freiem Wasser wollte ich erst das drohende schlechte Wetter abwarten und
dann sehen, ob nicht Anker wicderzuerlangen seien. Das schlechte Wetter blieb
nicht aus ; trotz der hohen schweren See blieb das Schiff trocken, was uns nicht
wenig beruhigte. Alle, sowohl Officiere als Mannschaft, haben mit lobens-
werthem Eifer gearbeitet.
Den 1 fi. konnten wir nach Krcuzeiland segeln, um zu versuchen, die Anker
aufzufischen ; bis dahin hatte dichter Nebel uns daran verhindert.
An der Stelle, wo unsere Anker lagen, ging die Brandung, obgleich die
See ziemlich ruhig war, so hoch, dass wir schon froh waren, nur den Stopp-
anker znrückzubekommen. Dnd nun keinen Augenblick länger an dieser gefähr-
lichen Stelle verweilt! Wir richteten das Steuer erst N., später NO., und auf 77°
n. Br. ONO. Ausser einigen Eisbergen wurde kein Eis angetroffen.
Als wir am 12. Morgens bei Eiskap waren, sahen wir die Bai flach hinauf
geschlossenes Eis. welches sich nordwestlich und südöstlich ausdehnte. Gegen
Norden war das Eis frei. Heller Eisschein gegen Nordost und Ost Hess an-
nehmen, dass es mit dem Eise aus der Karasee identisch sei und dass letzteres
gegen die Ostküste aufgestaut sein werde. Den Eishafen zu erreichen, schien
mir unmögHch, aber die Oranien-Inseln hoffte ich zu gewinnen.
Der Denkstein wurde heraufgezogen und Alles bereit gemacht, um den-
selben aufzurichten. Ein ziemlich plötzlich ausbrechender Sturm aus ONO.
nöthigte uns, diesen Plan vorläufig aufzugeben und nach Westen zu flüchten.
Im dicken Nebel wurde nun inmitten einer Menge Eisberge gelenst, aber von
Zeit zu Zeit, wenn der Nebel zu dicht war, angehalten, um von den Eisklippen
frei zu bleiben.
Beim Aufziehen des Steines war die Entdeckung gemacht worden, dass
ein Kielbolzen 8 cm über das Kielholz hervorragte, ein zweiter ein wenig gehoben
war. Nun unterlag es keinem Zweifel, dass an dieser Stelle ausser dem tannenen
losen Kiel auch der eichene fehlte, aber auch noch ungefähr ln cm vom Kiel
selbst weg sein mussten.
Da das Schiff sich bei schlechtem Wetter so gut gehalten hatte, dachte ich
anfangs nicht an Einstellung der Expedition, obgleich die Lenkbarkeit des Schiffos
sehr vermindert war. Wenden wollte der „Barents“ nur noch in ganz stillem Wasser.
Nun konnte ich mich auch noch nicht zur Rückkehr entschliessen. Ich
wollte so gern wenigstens erst den Stein auf der Oranien - Insel aufrichten und
so den letzten Theil meiner Instruction ausführen.
In Folge des Sturmes aus ONO. mussten die Oranieninseln nach unserer
Annahme in dem Eise stecken, welches wir nördUch von denselben gesehen hatten.
Ich beschloss darum in den Russenhafen einzulaufen, um wenn möglich, das Schiff
nachzusehen, Ballast und Wasser einzunehmen und eine günstige Gelegenheit abzu-
warten, um mein Glück aufs neue zu versuchen. Das Schiff hatte sehr geHtten
und war geschwächt, was ich deutlich an den eigenthümUchen Bewegungen
und Stössen im Hinterschiff merkte, wenn im Zeug gearbeitet wurde oder die
See heranschoss. Früher hatte ich diese niemals wahrgenommen. Aber das
Schiff war im Sturmwetter bei hoher See dicht geblieben.
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Seitdem wir Eiskap verlassen hatten, begleitete nns fortwährend dichter
Nebel. Jedesmal, wenn er anfsticg. wurde landwärts nach dem Russenhafen
gesteuert; aber nach kurzer Zeit zwang er uns immer wieder die See zu halten.
Den 22., als einer der Matrosen das Eis aus der Fockwant schüttelte,
fühlten wir nach hinten hin solche Stösse, dass ich befürchtete, das Schiff könnte
mehr Schaden genommen haben, als ich anfangs vermuthet hatte, und nun
zögerte ich wenn auch ungern, nicht, den Erfolg, der möglicherweise noch zu
erreichen war, der Erhaltung von Schiff und Mannschaft zum Opfer zu bringen.
Das Schiff hatte sich bis heute gut gehalten ; ich wusste nicht, ob es so bleiben
würde. Alle Officiere theilten meine Meinung, worauf die Rückkehr beschlossen
und der Kurs nach Hammerfest gerichtet wurde.
Ungeachtet unserer verfrühten Rückkehr können wir mit Zufriedenheit
sagen, dass Dank der günstigen Witterung im Anfang viel hat gethan werden
können. Die Eisgrenze ist ziemlich genau aufgenommen, magnetische und
serial temporäre Beobachtungen sind mehr angestellt, als vergangenes Jahr, und
es ist mehr gepeilt und mit dem Schleifnetz gearbeitet worden, so dass ich hoffe,
die zoologische Collection werde Artis zufrieden stellen.
Auf unserer Rückreise haben wir vom 2iL August an sieben Tagen nach-
einander Sturmwetter aus SW. und NW. gehabt. Heute Mittag hier angelangt,
beeile ich mich, dieses Schreiben für die Post fertig zu stellen. Ich habe noch
keine Gelegenheit gehabt, zu untersuchen, ob wir hier repariren können oder
nach Tromsö segeln müssen.
Ich glaube nicht, dass es viel Geld kosten wird, wenn ich einen losen
Kiel und ein paar Doppelhautplanken anbringen lasse. Ich werde mein Möglichstes
thun, das Schiff so billig als möglich nach Holland zu bringen.
Dankbar dafür, dass wir wohlbehalten binnen gekommen sind, hoffe ich,
die Reise bald fortsetzen zu können und Sie bei guter Gesundheit wiederzusehen.
Meinen ergebenen Grüssen füge ich die der anderen Officiere hinzu.
Mit der grössten Hochachtung habe ich die Ehre zu sein
Die im obigen Schreiben des Commandanten des .Willem Barents“ ent-
haltenen Berichte finden ihre Ergänzung in einem seitdem eingegangenen durch
„Nieuws van den Dag“ veröffentlichten Schreiben des Leutenants Calmeyer, in
welchem klar gestellt wird, dass auch diese Expedition nicht fruchtlos gewesen
ist, die Mittheilungen des Herrn v. Broekhuijzen über den Aufenthalt an der
Küste von Nowaja Semlja aber doch recht kurz gefasst sind.
„Nach einem kurzen Aufenthalte auf Vardö, wo wir wieder aufs Zuvor-
kommendste von dem niederländischen Consul Meyer bewirthet wurden, ging der
„Willem Barents“ am T. Juli zum zweiten Male in See und wurde der Kurs
auf Nowaja Semlja gerichtet.
Das Ziel war die russische Rettungsstation auf Karmakuli in der Möllerbai.
Die Fahrt, ging nach Wunsch, und das günstige Wetter gestattete uns fast
täglich das Auswerfen des Schleifnetzcs, was uns eine angenehme Abwechselung
verschaffte. Jeder Zug brachte für uns neue und fremde Arten von Thicren zum
Vorschein, und als auf geringerer Tiefe die Kurre gebraucht wurde, fehlte es fast
an Händen, um das schwer beladene Netz an Bord zu bringen, und an Gefässen,
um den Inhalt zu bergen und zu sortiren.
Den 15. Juli schien das Wetter sich ändern zu wollen; der Wind erhob vq
sich mehr und mehr aus SO. und die Kälte nahm fortwährend zu. So näherten
Ihr ergebenster
H. van Broekhuijzen.
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wir nns bald der Küste von Nowaja Scmlja, welche zu gleicher Zeit mit einem
grossen Eisberge nnd einigen leichten Schollen Treibeis in der Nacht vom
UL Jnli in Sicht kam.
Obgleich dein nicht ohne Mühe erkannten Ziele so nahe, war es uns nicht
gestattet, an dem Tage noch binnen zu kommen. Der Wind, welcher bald zum
Sturin anwuchs, nöthigte uns, vorerst noch einige Tage vor der Einfahrt zu
kreuzen. Erst den lil liefen wir zwischen den Inseln durch und ankerten an
der bestimmten Stelle. Was unsre Aufmerksamkeit gar bald anzog. war ein
grosser Brütejilatz von Lummen, der einen grossartigen Anblick darbot. Tausende
dieser Vögel sassen, ein betäubendes Geschrei ausstossend, an den steilen Fels-
wänden der Karmakuliinsel. Dann und wann flogen Hunderte auf; doch schien
dies die Zahl der Zurückbleibenden nicht zu verringern. Diese blieben nnbeweglich
neben einander sitzen und bildeten mit ihren weissen Brüsten einen scharfen
Contrast gegen die dunkelgrauen Felsen.
Nach unsrer Ankunft wurde von Lamie und mir sobald als möglich der
Anfang mit magnetischen Beobachtungen gemacht, die auch soweit thunlich in
See angestellt worden waren, während Lamie zugleich astronomische Orts-
bestimmungen vornahm. Im Ucbrigen wurde die Zeit ausgenutzt, um das Eine
nnd Andere an Schiff und Geräth nachzusehen und frisches Wasser einzu-
nehmen.
Schon bald statteten der Commandant und die übrigen Officiere der
russischen Niederlassung einen Besuch ab. Dieselbe lag ungefähr 1 engl. Meile
von unserm Ankerplatz entfernt auf der festen Küste von Nowaja-Semlja. Wider
Erwarten trafen wir als einzige Bevölkerung nur eine samojedische Familie an,
bestehend aus Mann, Frau und Kind. Nicht ohne Mühe erfuhren wir durch
Zeichen und andere Hülfsmittel, dass der Commandant, ein russischer Officier,
und die übrigen Samojeden auf einige Zeit nach Archangcl verreist waren. Der
Tag ihrer Rückkehr war nicht bekannt; gleichwohl licss der Commandant einen
Brief an den russischen Officier, sowie eine gelegentlich zu befördernde Nachricht
für Holland zurück. Die Niederlassung schien in jeder Hinsicht darauf angelegt
zu sein, eine Ueberwinterung in diesem rauhen Klima zu ermöglichen. Sie
bestand hauptsächlich ans zwei geräumigen Blockhäusern, die aus mächtigen
Balken zusammengesetzt waren und auf steinernen Fundamenten ruhten. Das
eine war für den Conunandanten bestimmt, welcher mit seiner Familie darin
wohnt, das andere für die samojedischeu Familien, welche die Bevölkerung aus-
machen. Beide Behausungen waren in geräumige, mit grossen steinernen oder
eisernen Ocfcn versehene Zimmer cingetheilt, die als Wohnzimmer, Proviant-
kammern, Küchen u. s. w. dienten. Ausserdem gehörten zur Station nur noch
eine einfach eingerichtete Kapelle, ein Badehaus, welche beide durch einen über-
deckten Gang mit der Commandantur in Verbindung standen, und ein Schuppen,
worin ein grosses, zweckmässiges Rettungsboot verwahrt wurde.
Denselben Tag empfingen wir einen Gegenbesuch von der samojedischen
Familie, welche wir so gut. wie möglich bewirtheten.
Der Mann, klein von Statur, hatte in seiner äusseren Erscheinung sehr
viel von einem Japaner und schien, während er nur Russisch sprach, ziemlich
gebildet zu sein, auch lesen und schreiben zu können. Die Frau war nicht
hässlich , sah aber nichts weniger als appetitlich aus. Ein verwirrter,
fuclisrother Haarbusch, verziert mit Schnüren und bunten Korallen, bedeckte
den Kopf, während der Körper in einem formlosen Gewände aus Renthierhäuten,
die Füsse in grossen fcttledernen Stiefeln steckten. In auffallender Weise hatte
sie auch ihren Säugling verhüllt. Dieses kleine Wesen lag nämlich in einem
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schmalen Holzkasten, der gerade gross genug war, am es aafzunehmen, und mit
Lappen und Fellen so eingepackt, dass es nicht die geringste Bewegung machen
konnte.
Aasser diesen Samojeden sahen wir hier noch andere Fremdlinge und
zwar Mannschaften von einigen rassischen Fahrzeugen, die mit Fischfang be-
schäftigt waren. Diese Leute besorgten uns einige Lachse, die hier in den
Flüsschen häufig Vorkommen. Wir gaben ihnen in Tausch etwas Taback, Käse
und Branntwein, womit sie sehr erfreut von Bord gingen
Nach einem Aufenthalt von zwei Tagen auf Karmakuli wurde am 20. der
Anker wieder gelichtet und das Schiff nach Norden gesteuert, um nach dem
Eise zu fahren. In See bemerkten wir bald eine grosse Veränderung, sowohl
im Wetter, als in der Temperatur; es wurde nämlich kalt und nebelig, so dass
wir am 24., als wir in die Nähe des Eises gekommen waren, einige Zeit an einer
grossen Scholle ankern mussten, um helleres Wetter abzuwarten. Als das
Wetter sich aufklarte und wir nördlich steuerten, stiesson wir bald auf dicht
zusammengedrängtes Scholleneis. Wir segelten von da an möglichst die
Eisgrenze entlang gegen Osten, bestimmten jeden Tag die Temperatur in ver-
schiedenen Tiefen und fischten, wenn es möglich war.
Während einiger heller Tage bemerkten wir eine starke Luftspiegelung,
welche uns das Eis, das meilenweit entfernt und für das Auge unsichtbar war,
am hellen Himmel deutlich darstelltc. Besonders war dies im Osten der Fall.
Dass die Erscheinung Wirklichkeit sei, zeigte sich, als wir den 28. Juli, nachdem
wir geraume Zeit nördlich gesteuert hatten, im offenen Wasser auf dicht
zusammengepacktes Eis stiessen, welches sich unabsehbar um den Süden erstreckte,
so dass wir es mit südsüdwestlichem Kurs umschiffen mussten, und erst um Mittag
des andern Tages den Horizont im Osten frei sahen. Als wir durch das aus-
gebreitete Treibeis segelten, bemerkten wir sehr viele grosse Robben, welche
sich schaarenweise im Wasser tummelten oder auf Schollen ausruhten.“
Die Pacific -Expedition von Dr. 0. Finsch*). Nach einer Mittheilung
vom 1. Juni aus Jaluit war Dr. Finsch Anfangs Januar d. J. von seiner
Reise nach der Gilbert- oder Kingsmillgruppe wieder in Jaluit eingetroffen
und zunächst beschäftigt, alle seine bisher in Mikronesien gemachten Samm-
lungen in 30 grossen Kisten an die Königlichen Museen in Berlin abzu-
fertigen, da die dänische Bark „Therese“ für die Herren Hernsheim&Co. am
24. Januar nach Hamburg unter Segel ging. Dr. Finsch besuchte im Februar
und März mit Herrn Konsul Hernsheim zusammen die Karolinen und zwar
die Inseln Kuschai und Ponapfe. Beide Inseln sind hoch, vulkanisch, von
Barrier-Riffen umgeben und zeigen die grösste Uebereinstimmung. Die Berge
dieser Inseln erreichen auf Kuschai 2000, auf Ponapö an 3000 Fuss und sind
bis auf die höchsten Spitzen mit der üppigsten tropischen Vegetation, meist von
waldartigem Charakter, bedeckt. Beide Inseln erzeugen Yams, Arrowroot, Taro,
Melonen, Zuckerrohr, Bananen, Kokosnüsse, Brodfrüchte, sowie eine Menge anderer
nutzbarer Gewächse. An Nutzhölzern für Schiffsbau ist ebenfalls kein Mangel,
darunter sind mächtige Stämme, welche den in Ostindien hochgeschätzten Yatti von
Java und den „Bermuda-bedar“ ähneln. Schwäne und Hühner sind verwildert
auf beiden Inseln, auf denen auch Rindvieh und Schafe trefflich gedeihen, aber
nur in wenigen Exemplaren gehalten werden. Diese Inseln wurden zur Zeit der
*) Mit gefl. Erlaubnis» der Ked&ction der „Original -Mittlieilung für die Ham-
burger Nachrichten" entnommen.
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Blüthe des Walfiscbfanges, also zwischen 1840 und 1860, von vielen Walern
besucht, die hier Provisionen, frisches Fleisch und Wasser einnahincn, haben aber
seitdem an Bedeutung verloren. Die Ausfuhr ist gegenwärtig unbedeutend und
beschränkt sich auf Kopra, Yams, etwas Steinnüsse, Schildpatt. Perlmutter und
Kawa, da die Einwohner zu faul sind, zu arbeiten. Bei einigermassen fleissiger
Bevölkerung könnten die Inseln, welche gleichzeitig wegen ihres gesunden Klimas
und ihrer guten Hafeuplätze sich trefflich zu einer Mariuestation eignen, eine
Menge Ausfuhrartikel produciren und würden ein werthvoller Besitz sein, trotz
der geringen Grösse, denn Knschai hat nur 6, Ponape 13 deutsche Meilen
Umfang. Jedenfalls sind sowohl Kuschai als Ponape die reichsten Inseln
nicht nur der Karolinen, sondern auch von ganz Mikronesien und wegen ihrer
geographischen läge als Zwisrhenstation von Wichtigkeit. Die Bevölkerung ist
auf beiden Inseln im Aussterben begriffen. Auf Kuschai gab es 1856 noch
1100 Seelen, jetzt nur 200; Ponape zählte 1852 an 15 000 Bewohner, jetzt
kaum 2000. Kuschai ist fast, ganz christianisirt, Die Missionare herrschen hier,
haben sich bereits viel Land schenken lassen und werden, wenn dies so weiter
geht, vielleicht die ganze Insel iu Besitz erhalten, wenn nicht vorher eine Macht
einschreitet.
Von besonderem Interesse sind in Kuschai noch die zahlreichen Steinwälle
und Mauern, welche die einzeln zerstreuten Häuser und Gärten einrahmen, „ln
Lälla(Lele. Lila), der Hauptniederlassung von ganz Kuschai“, schreibt Dr. Fi nsch ,
„kann man solche neue und alte Steinbauten dicht neben einander sehen, und dass
uns die letzteren selbstredend im höchsten Grade interessirten, lässt sich denken.
Gehören sie doch zu Denkmälern einer längstvergangenen, unserer Kenntniss leider
total entrückten Zeit, wie sich deren in ganz Polynesien nur wenige finden! Wie cs
scheint, sind diese interessanten Ruinen bisher noch nicht genauer aufgenommen,
und wir konnten bei der Kürze der Zeit und ohne genügende Instrumente erst
recht nicht an eine solche Arbeit denken. Ohne jedes Hülfsmittel ist cs daher
schwer für den Fremdling, sich über die Lage der verschiedenen Mauern, mit
ihren Eingängen, Nebengängen u. s. w. eine richtige Vorstellung zu machen,
besonders weil durch die üppige Vegetation: colossale Räume mit ihren enormen
Farrnbüscheln, Rankengewächsen u. s. w. jeder einigermassen befriedigende
Ceberblick gehemmt ist. Die Ruinen nehmen im Dorfe unmittelbar bei’m Hause
des Tokoscha ihren Anfang und erstrecken sich von hier bis zum Nordwestende
der Insel, wo ihre Mauern zum Theil in der See enden und die Insel gegen die
letztere schützen. So weit ich die Ruinen kennen lernte, bestehen sie der
Hauptsache nach aus Mauern von 1 bis 12 Fuss Dicke und von 4 bis an 30 Fuss
Höhe. Diese Mauern sind aus lose aufeinandergelegten meist abgerundeten
Basaltstücken, zum Theil colossalen Blöcken, deren einzelne mehrere Centner
Gewicht haben mögen, oder aus grossen Säulen der bekannten sechs- oder sieben-
seitigen Absonderung des Basalts errichtet, wie dieselbe auch an vielen Orten
iu Deutschland vorkommt, und die der Unkundige so leicht als von Menschen-
hand bearbeitete Stücke ausicht. Diese Säulen sind dann holzstossartig iu der
Weise aufeinandcrgelegt, dass eine Reihe in der Quere auf einer zweiten längs-
liegenden und so abwechselnd ruht. Einzelne der colossalen Wälle, von denen
es übrigens nur wenige giebt, bestehen nur oder doch vorherrschend aus solchen
Säulenlagen, andere vorzugsweise aus aufeinandergehäuften Blöcken, wahren
Cyklopenbautcn, deren Errichtung offenbar ungleich mehr Mühe und Arbeit
gekostet hat, als die der ersteren. Die hohen Wälle schlicssen mehr oder-
minder vollständige Vierecke ein, oder bilden zum Theil die Wand eines an
40 Fuss breiten Canales, der mit dem Meere in Verbindung steht und noch
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heute für Canoes befahrbar ist. Dieser Hauptcanal ist von anderen kleineren
Canälen durchschnitten und bildet somit einige künstliche Inseln, die sehr wohl
zur Vertheidigung geeignet gewesen sein müssen. Die ein paar Hundert und
mehr Fus^ langen Mauern ziehen sich jedoch nicht schnurgrade, sondern in
winkeligen Linien hin und schliessen zu beiden Seiten schmale Gänge ein. Hie
und da lassen sie mehrere Fuss breite Räume frei, die gleichsam als Tliüren
gedient haben mögen, oder schliessen grössere viereckige freie Plätze, von ein
paar Hundert Fuss im Quadrat, ein, die zum Thcil mit flachen Basaltstücken
belegt, wie gepflastert aussehen und vielleicht als Wohnungen dienten. Wie bereits
erwähnt, lässt sich der Zusammenhang der verschiedenen Mauern, Gänge, offenen
Räume, Canäle etc. jetzt nicht mehr wohl erkennen und aus diesem Grunde
bleibt auch hinsichtlich der Bestimmung und des eigentlichen Zweckes dieser
colossalcn Bauten der Speculation weiter Spielraum offen. Nach meinem Dafür-
halten haben dieselben einst lediglich als Befestigungen gedient, in welche sich die
kleine Bevölkerung Lällas, der thatsächlich die Hauptinsel Ualan unterthan war,
bei feindlichen Ueberfällen sammt ihrer Canoeflotte zurückziehen konnte und
jedenfalls haben die unterdrückten Bewohner der Hauptinsel an diesem Zwinguri
mit bauen helfen. Denn diese Bauten können bei den geringen Mitteln, welche
diese Leute hatten, nur mit Hülfe einer grossen Anzahl Menschen errichtet
worden sein. Was diese Bauten noch bei Weitem interessanter macht und viel
mehr Bewunderung erregt, ist der Umstand, dass das Material weit vom anderen
Ende der Hauptinsel herbeigeschafft werden musste, denn Lälla besteht vorzugs-
weise aus Corallcnbildung. Nach Kapitän Wright, der längere Zeit auf der Insel
lebte, ruhen die ganzen Ruinen auf einer acht Fuss hohen künstlich aufge-
schütteten Schicht von Basalt, denn erst, bei dieser Tiefe soll man auf den
eigentlichen Grund der Insel, Corallkalk, stossen. Doch fand ich das Terrain
vorherrschend aus losem Corallgrund bestehend. Auf welche Weise die colossalcn
Blöcke nach dieser Stelle transportirt wurden, bleibt übrigens ebenso unerklärbar,
als die Bestimmung der Bauten selbst. Jedenfalls würden die heutigen, wahr-
scheinlich schon in der ältesten Zeit in gleicher Weise gebräuchlichen Canoes
nicht ausgereicht haben, und man könnte höchstens an colossale Flösse denken.
Ob die Bauten, neben ihrem Zwecke als Befestigung, auch als Gräber hoher
Häuptlinge dienten oder religiöse Bestimmung hatten, bleibt der Vermuthung
überlas, en. Meines Wissens sind bis jetzt keinerlei Nachgrabungen angestellt oder
Funde gemacht worden, welche solche Annahmen näher zu beleuchten im Stande
wären. Die heutigen Bewohner, obschon ohne Zweifel Abkommen jener Cyklopen,
haben über die Zwecke jener Bauten nicht mehr die leiseste Vorstellung. Selbst
über deren Erbauer fehlt ihnen jede Tradition und wenn Einzelne die Ruinen
als „Teufelswerke“ bezeichnen, so erkennt man leicht die Quelle missionärer
Einflüsse. So wenig als über die Reste der staunenswerthen Riesenarbeiten
ihrer Vorfahren, die ohne Zweifel weit kräftigere Menschen gewesen sein müssen,
wissen die heutigen Kuschaier irgend etwas über ihre eigene Herkunft.“
Berichtigung:
Im II. Hefte d. B., Seite 64, muss als Uebersetzer des Artikels Dr. Duhm-
berg statt K. Jewtropow genannt werden.
Für die Itedaction verantwortlich: Dr. W. Wolkenhauer.
Druck von Carl Schünetnann. Bremen.
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MADAGASK/
zur Übersicht von DT (.In: Rutcnb
1877- 1878.
Nach (UniiTagt*bud\&den Skizzen des
den engl. Ad nii ralitälskarten.den A
tlrandidier.MuUens u.A.
Mn U st ab 1:5.000.00
Deutsch«» Öco«raph. Blättr-r
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Die Geographische Gesellschaft ln Bremen
(der frühere Verein für die Deutsche Nordpolarfahrt)
verfolgt laut § 2 ihres bei Veränderung des Namens am 29. Decbr. 1876
angenommenen Statuts den Zweck, geographische Forschungen
und Kenntnisse zu fördern und darauf gerichtete Bestrebungen zu
unterstützen. Die Gesellschaft, welche die Hechte einer juristischen
Person besitzt, sucht diesen Zweck in erster Linie durch die
Anregung, die Unterstützung und die Leitung von Ent-
deckungs- und Forschungsreisen, sowie durch die Ver-
werthung der Ergebnisse derselben zu erreichen (§ 3 des Statuts).
Durch freiwillige Beiträge aus allen Kreisen der Nation, namentlich
auch von Deutschen im Auslande unterstüzt, veranstaltete sie
bisher zwei wissenschaftliche Reisen (nach Ost-Grönland
1869/70 und nach West-Sibirien 1876), veröffentlichte die Ergebnisse
beider durch zwei grössere Reisewerke und durch eine Volksausgabe
der Polarreise und überwies die aus Ost -Grönland mitgebrachten
Sammlungen an 43 wissenschaftliche Anstalten des Iu-
und Auslandes.
Der Zweck dieser, von der Gesellschaft herausgegebeneu Zeit-
schrift ist die Förderung geographischer Kenntnisse
und die Pflege der Länder- und Völkerkunde.
Der Jahresbeitrag der Mitglieder beträgt 15 Mark; die
Zeitschrift der Gesellschaft wird jedem Mitgliede kostenfrei zugesandt.
Anmeldungen zur Mitgliedschaft sind gefälligst an den
Rechnungsführer George Albrecht (Firma: Joh. Lange Sohn’s Wwe.
& Co.) Bremen, Langenstrasse 44, zu richten.
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BOUND
MAR 1 •' -4
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LIBRARY
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