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Full text of "Beiträge zu einer Kritik der Sprache Zur Grammatik und Logik"

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Beiträge  zu 
einer  Kritil<  der 
Sprachie:  Zur 
Grammatilc 
und  Logil< 


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BEITRÄGE 

ZU  £m£R 

KRITIK  DER  SPRACHE 

VON 

FRITZ  MAUTHNER 


DBITTEB  BAND 
ZUß  ÖBAMMATIK  UND  LOGIK 


STUTTQAtlT  UND  BERLIN  1902 

X  0.  CN>TTA'SCHB  BUOHHANDLüNe  NAGEFOLOER 

o.  H.  a  H. 


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ZUB 


GRAMMATIK  UND  LOGIK 


VON 


FRITZ  MAUTHNER 


STÜTTOART  UND  BERLIN  1902 

J.  G.  COTTA'SCHE  JBUCJHHANDLUNÖ  NACHFOLÖEE 

0.  M.  B.  U. 


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ALLE  BEGHTB  VORBEHALTEN 


Draok  der  Uniuu  Deutacbe  VerlagHgeaeUiioliaft  in  Btattgait 


Inhalt  des  dritten  Teils. 


Sprache  und  Orammatlk. 

Sfitf! 

I.  Uubestiiniutheit  des  yrtinimatischen  .Sinnes      .    .    .        .  1 

II.  Diia  Verluiin    55 

III.  Daa  Substantivmii  83 

IV.  Das  Adjektiviini  94 

"V.  Adverbien.    --  K.luiii  und  Zeit   .102 

\I.  Das  Zahlwort     .  132 

VII.  Syntai  185 

VIII.  Situatiun  uinl  Si>raclie  225 


Sprache  und  Logik. 

I.  Begriff  rxnd  Wort   265 

II.  Die  Definition   299 

ni.  Da«  Urteil   314 

IV.  Die  Denkge.sct/.e   350 

V.  Die  Schlugsfolgerunt.^   379 

VI.  Die  Induktion   457 

VII.  Termini  technici  der  induktiven  Widacnsjchaften  ....  500 

VIII.  Wissen  und  Worte   557 


Sprache  und  Grrammatik. 


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Daher  ich  beinahe  vermute,  dass  unstr.?  t^anze 
Philosophie  mehr  »ob  Sprache  ab  aus  Vernuiift  be- 
sieht ...  E«  lahlt  DIU  noch  Immer  an  einer  Onun* 
mttk  der  Tenianfl. 

Uamanu  an  Jacobi. 

Philosophie  nnd  Po^-tt". 
Verschlagen  vom  Wiud  der  Emphatik, 
Sie  sind  gestraadet,  ich  weise  niebt  wie, 
Anf  der  SMdbealc  der  Grammatik 

O  i  n  1  p  a  r  z  e  r. 

Qaod  in  subjeoto  est  impUcite,  iu  praedioeto  est 
ezplidle. 

Alter  locieclier  Bete. 

A  eenieBee  ts  but  a  cheveril  glov«  to  a  good  wit 
how  qoleklr  tbe  «rong  aide  may  be  tomed  oatward . . . 
Werde  ere  veiy  raeoals,  sinee  bonde  disgimoed 

them.  —  Th>  f  viTion?  —  I  can  jield  yon  none  withont 
vrords,  and  worda  are  grow»  so  false,  I  am  loth  tO 
prove  reasoB  «ith  them. 

Sbakeepeue. 

IMe  Werte  sind  niefate  als  Wind; 

lYw  G<-Kl.is:uiik.-it  t.f-stdit  lu-  nic1it>  nls  Worten; 
Ergo  ist  die  Oelehrsamkeit  nichts  al;«  Wind. 

Swift. 

Lea  d&a  de  la  nature  äout  pipfts. 

Qeliani. 

Of  all  the  Cents  wbieb  ere  oanted  in  tbis  eanting 
World  tlie  caat  of  ariUciktn     thf  mo<[  tüiin<-iiting. 

Sterne,  Tri>t.  bbanJj'. 

Di«'  kriti^<'lii<  Sdnili'  Iiat  sirli  in  Kants  System 
hiueiustudiert  und  uitiss  seinen  caut  reden. 

Herder,  Metakritik. 

Noe  eonges  ▼elent  nieulK  qne  nee  disoonre. 

Monteigne. 


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L  ITBbMtfntmlMt  dM  gramnuitMieB  SIdms. 


Em  liegt  die  Thatmche  Yor,  da«  eineneita  daa  Denken  orun- 
mch  m  den  Fomen  der  Gnunmatik  bewegt  (natOilich,  d* 
Sprache  DenksB  ist  und  die  jeweilige  SpracbfDmi  einer  Logik» 
Menschengruppe  auch  ihre  Denkfcmn  sein  muss),  daia  ander* 
neifes  dasselbe  Denken  nach  dem  Glauben  der  Logiker  die 
logischen  Formen  annehmen  muss,  um  bestehen  su  kduneiL 
Daher  die  alte  FragOi  wie  sich  Logik  und  Grammatik  au 
einander  Terhatten. 

Die  Alten  konnten  diese  Frage  so  scharf  noch  gar 
nicht  fassen,  weil  sie  ihre  Logik  (eben  die  Formen  ihrer 
Sprache)  schon  fertig  hatten,  als  sie  anfingen,  eine  be- 
sdieidene  Grammatik  auftubanen.  Daher  das  AltersTocrecht 
der  Logik,  welches  darauf  suraeksufUiren  ist,  dass  die  Philo- 
sophie in  ihrer  Kindheit  die  abstraktesten  Fragen  snerst 
und  am  liebsten  aufgriff;  dieses  Vorrecht  der  Logik  hat 
zur  Folge  gehabt,  dass  man  bis  auf  unsre  Zeit  die  Frage 
immer  so  steUt:  Wie  rerhUt  sieh  die  Grammatik  zur 
Logik,  etwa  das  ZuftDige  zum  Absoluten?  Für  etwas  Ab- 
solutes, fOr  ein  metaphysisches  Himmelsgeschenk  wurde  die 
Logik  immer  gehalten,  dieser  Menachenbau,  der  sich  Ton 
•adem  Menschenbauten  nicht  emmal  durdi  seine  Besündig- 
keit  unterMheidet, 

Gegenflber  den  vielfachen  Versuchen,  die  Grammatik 
nun  dadurch  zu  heben,  dass  man  in  ihr  dieselben  gMfichen 
Qnalitlten  wie  in  der  Logik  suchte  und  fand,  war  eine 
Reaktion  unTurmeidlich.  Gegenwärtig  behauptet  man  nicht 
mehr  eme  IdentitU  der  (niedern)  Grammatik  und  der  (hohem) 

HftKtliiiar,  Mtrtf«  ni  •tun  Kritik  dar  Spnek«.  HL  1 


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L  Unbeffeuninfheit  dei  giunniftliMlien  SiniiM. 


Logik;  man  begnügt  sich,  .die  göttlichen  Spuren  der  Logik 
in  der  Grammatik  nachzuweisen.  Und  ein  besonders  kriti- 
aclier  Forscher  wie  Steinthal  will  erkennen  (Abr.  d.  Spr.  1 62)^ 
dass  die  Sprache  onaibhängig  von  der  Logik  ihre  Formen 
in  ToUster  Autonomie  schaffe.  Diese  Erkenntnis  mnsste  sich 
ihm  aufdringen,  wenn  er  die  Fülle  der  Tersehiedenartigen 
Sprachformen  mit  der  (auch  von  ihm  geglaubten)  heiligen 
Einheit  der  Logik  yerglich. 

Sehen  wir  aber  in  der  überlieferten  hofjpk  nichts  ab 
eine  höchst  scharfsinnige  Auseinandersetzung  zwischen  Ah' 
stoteles,  dem  ordnungsliebenden  Klassifikator ,  und  seiner 
griechischen  Sprache,  so  wird  der  Satz  Steintiuds  etwas 
besclieidener  üI^  j  zu  lauten  haben:  Die  modernen  Sprachen 
schaffen  sich  ihre  Formen  in  vollster  Autonomie,  (beinahe) 
nnabhangig  von  den  griechischen  Formen.  Man  kann  es 
ebenso  als  etwas  Neues  verkünden:  Die  griechische  Mytho- 
logie oder  aber  der  Mohammedanismus  haben  sidi  unab- 
häng^  von  der  Theologie  des  heiligen  Augustinus  entwickelt. 

Nun  ist  es  —  und  das  ist  wieder  einmal  ein  httbsches 
Beispiel  f&r  die  Unzulänglichkeit  der  Sprache  und  der 
Logik  —  etwas  ganz  andres,  ob  man  behauptet,  Grammatik 
sei  mit  der  Logik,  oder  ob  man  sagt,  Logik  sei  mit  der 
Grammatik  identisch.  loh  meine,  es  ist  ganz  was  andres, 
ob  man  die  Grammatik  zum  Bange  der  Gottheit  Logik  er- 
heben will,  oder  ob  man  die  Logik  zum  Bange  der  Dienst* 
magd  Grammatik  eniiedrigt. 

Die  Sprache  ist,  wie  ich  nicht  mttde  werden  darf  zu 
wiederholen,  nichts  als  das  mangelhafte  Mittel  der  Men- 
schen, sich  in  ihrer  Erumerungswelt  zurechtzufinden,  das 
Gedftcktnis,  das  heisst  ihre  eigene  Erfahrung  und  die  ihrer 
Ahnen  auszunutzen,  mit  aller  Wahrscheinlichkeit,  dass  diese 
Brinnemngswelt  der  Wirklichkeitswelt  ähnlich  sein  werde. 
Die  Grammatik  jeder  Sprache  ging  Ton  der  Wirklichkeits- 
weit  aus,  schuf  aber  dann  in  der  Erinnerungswelt  selb- 
stftndige  Bequemlichkeiten,  Omnibusse,  Associationen,  Gleise. 
Die  Logik  hatte  nichts  als  die  grammatikalische  Sprache, 
um  sich  daran  zu  halten;  aber  die  Logik  ist  doch  nur  ein 


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Qraimnalft  und  Logik. 


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flwiimelfmme  fOx  die  Bemflluiiig,  in  der  Erinnerungswelt 
den  Lag^dan  der  WirUichkeÜBwelt  nieht  zu  Terlieien,  oder 
▼ielmelir  ihn  su  finden.  Gnunmatik  und  Logik  sind  ako  nur 
TerBehiedene  Seiton  der  gleichen  Henechenepraehe.  Oruu- 
matikaUedi  lieiset  die  Spreche,  wenn  sie  zum  AusUnseh 
der  Ennnenuigsnrexie  bequem,  g^att,  leicht  ist;  logisch  heisst 
sie,  wenn  die  Srinneruogswerto  den  WirkUchkeitswerton 
nicht  SU  fem  sind.  Es  ist  wie  auf  einem  grossen  Bahn- 
hof. Es  ist  wflnschenswert,  dass  die  Schienen  im  richtigen 
Abstand,  im  richtigen  Profil,  nicht  Terrostet  u.  s.  w.,  also 
durchaus  grammatikalisch  seien;  es  ist  auch  wünschenswert, 
daes  die  Schienen  mit  allen  Weichen  jedesmal  den  allein 
wirklichen  Bewegungen  derEisenbahnsUge  enteprechen,  dass 
sie  logisch  geordnet  seien.  Ein  Unglttck  kann  sowohl  durch 
Holprigkeit  der  Schienen  wie  durch  falsche  WeichenstoUung 
entstehen;  falsche  Grammatik  und  falsche  Logik  sind  gleich 
gefihrlich.  Gewöhnlich  aber  werden  holprige  Schienen  nur 
als  unangenehm  «npfunden,  unrichtige  Anordnungen  erst 
erzeugen  sicher  Katastrophen. 

So  ist  es  zu  ezUfiren,  dass  die  Sprache  einen  richtigen 
Gedanken  ungrammatikalisch  ausgedruckt,  wie  z.  B.  «eine 
Kreis  sind  runde*,  unangenehm  empfindet;  Aber  einen  ün- 
sinn  jedoch,  wenn  er  sich  grammatikalisch  ausweisen  kann, 
wie  z.  B.  «der  Kreis  ist  eckig*  mit  einer  gewissen  Ruhe 
hittllbergleitot.  Die  Katastrophe  kommt  nachher,  nicht  durch 
die  Logik,  nicht  durch  fidsche  SchlAsse,  sondern  durch  die 
ganze  Gleisanlage,  die  sich  in  dem  grammatikalisch  richtig 
ausgedrttekfeai  logischen  ünsinn  eben  nur  Gerrit. 

Die  Linguisten  haben  schon  gezeigt,  dass  unsere  spnoben 
Grammatik  nicht  die  aller  Sprachen,  dass  sie  vielmehr  gar  ^^^^ 
sehr  nur  die  einer  Minderheit  ist.  Es  wäre  eine  schöne 
und  fast  unlösbare  Aufgabe  der  Fachleute,  die  Logiken 
der  andern  Sprachp^ruppen  zu  schreiben.  So  wie  das  aber 
bisher  versucht  worden  ist,  scheint  mir  jeder  Versuch  er- 
gebnislos zu  sein.    Jeder  Versuch,  die  Logik  der  dravidi- 


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sehen,  chinesiftchen  u.  s.  w.  Sprache  durch  Vornahme  einer 
XJebpraetzunp  in  die  Muttersprache  zu  j^^e Winnen,  wird  zu 
einer  ungewollten  Fälschung.  A.  Stohrs  Versuch  einer 
.Alj^ebra  der  Grammatik",  der  die  GrundzUge  einer  neuen 
Kunstsprache  bieten  will ,  ohne  Rücksicht  auf  die  Gram- 
matiken der  Wirklichkeit,  aber  gläubig  für  die  Logik  und 
ihre  Algebra  —  dieser  Versuch  ist  oft  nur  eine  Aeusse- 
rung  unfruchtbaren  Scharfsinns. 

Sigwart  lässt  sich  (1  29)  die  Aeusserung  entschlüpfen, 
er  könne  nur  innerhalb  der  entwickelteren  Sprachen  eine 
Logik  aufstellen  wollen.  Dieses  Geständnis  ist  wer^oll. 
Die  ganze  Logik  des  Aristoteles  ist  nichts  als  eine  Betrach- 
tung der  griechischen  Grammatik  von  einem  interessanten 
Standpiisktd  ans.  Hätte  Aristoteles  Chinensch  oder  Dako- 
taisch gesprochen,  er  hätte  su  emer  gans  andern  Logik  ge- 
langen müssen. 

Wir  Europäer  nennen  diejenigen  Sprachen  die  ent- 
wickelteren, welche  für  die  verschiedenen  Kategorien  der 
Logik  besondere  Bedeteile  besitzen,  als  Dingwörter,  Eigen- 
schaftswörter u.  s.  w.  Nun  scheint  es  keine  Frage  zu  sein, 
dass  Aristoteles,  der  Heister  aller  Logiker,  die  Kategorien 
aus  den  Redeteilen  geschöpft  habe.  Wenn  das  nicht  der 
Schnttser  des  Zirkeb  ist,  dann  gibt  es  keinen  curcuhis 
▼itiosus. 

Und  es  ist  wohl  zu  erwägen,  ob  unsere  entwickelteren 
Sprachen,  welche  für  den  Körper  der  Fracht,  ftlr  ihre  Farbe 
und  für  ihr  Duften  besondere  Katogoiien  geschaffen  haben, 
welch  zwischen  der  Erdbeere,  ihrer  Eigenschaft  rot  und 
ihrer  Thätigkeit  duften  unterscheiden,  ob  diese  entwickel- 
teren Sprachen  nicht  das  Eindringen  in  das  Innerste  der 
Natur  erschwert  haben.  £0pfe  wie  Locke  und  Kant  waren 
nötig,  mn  unser  Denken  aus  den  Schubfitehern  dieser  Sprache 
zu  befreien.  Was  da  zur  Erdbeers  schwillt,  was  da  rot 
ist  und  was  da  duftet,  ist  ja  doch  nur  eins. 

Dazu  kommt  noch,  dass  die  Natorwissensohaft  anf  ihrer 
gegenwärtigen  Hdhe  mit  den  alten  Kategorien  der  Sprache 
nichts  mehr  anzufangen  weiss.   Wie  plump  und  veraltet 


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SpnMdMB  mMl  Logikeii. 


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irt  «igentiich  der  TJnterschied  zwischen  Eigenschall  und 
Thitigkdt.  Jeder  Eifer  ktim  freilich  emp&iden,  den  das 
siedende  Wasser  in  üiifcigkeii  ist,  sich  bewegt,  nnd  wenn  er 
l^inAiniaik^  dass  es  die  Efgensehaft  bat  beiss  su  sein.  Für 
unsere  gegenwirtige  Wissenschaft  Utaen  sich  nun  alle  Eigen* 
Schäften  m  Bewegungen,  sJao  ThStigkeiten  auf.  Wftnne  ist 
Bewegung  oder  Thitigkeit  Der  hohe  Ton  reist  unsere  Oe- 
hSrk^rperoheii  nur  h&ufiger  als  der  tiefe.  Die  rote  Farbe 
der  Erdbeere  ist  —  immer  nach  der  heutigen  Anschauung 
der  Wissenschaft  —  eine  Bewegung,  die  auf  unsere  Nets- 
hant  wirkt,  wfthrend  gerade  das  Duften  noch  nicht  so  klar 
als  eine  Bewegung  oder  Thitigkeit  nachgewiesen  ist. 

Wire  also  unsere  Sprache  auf  gleicher  Hübe  mit  der 
Wissenschaft,  so  iri&re  alles  Kstegorienwerk  durdieinander 
gesdimissen.  Wir  hfttten  dann  freilich  eine  werdende 
Sprache,  die  nur  ein  Bruchteil  der  Menschen  yerstehen 
kdonte.  Die  Sprache,  deren  sich  auch  die  Wissenschaft  be- 
dient, ist  aber  ein  Uassenprodukt.  Eine  entwickeltere  Sprache 
wire  die,  welche  seit  R.  Meyer,  Hebnholts  und  Mscb  gelernt 
bitte,  die  alten  EigenschaftsbegriiFe  der  Farben,  des  Lichts, 
der  Wirme  u.  s.  w.  durch  Verba  und  swar  durch  transi- 
tive Yerba,  ausandrQcken.  Solche  Aenderungen  kann  aber 
der  Einaelne  nicht  machen.  Und  ich  weiss  ganz  gut,  dass 
es  die  Menschen  liebem  würde  —  der  Ausdruck  ist  in  der 
Sdiweis  flblicb  —  und  sie  wundem,  wenn  ein  Gelehrter 
sagen  wollte:  Der  Baum  grünt  mich,  anstatt:  Der  Baum 
ist  grfln. 

« 

Das  Ziel  aller  Wissenschaft  ist,  Ton  der  Wirkhchkeits-  R«de- 
welt  eine  entsprechende  Yoistellung  zu  haben;  und  da  es 
unmöglich  wire,  alle  EinselTorsteUungen  im  'potentiellen 
Qediebtnis  lu  behalteD,  da  für  ihnlidie  Einzeldinge  der 
Wirküdikeit  susammmfassende  Wortzeichen  eintreten,  so 
liuft  das  Ziel  darauf  hinaus:  Die  Pyramide  oder  das  System 
oder  den  Organismus  der  WirkUchkeitswelt  durch  eine 
Pyramide,  ein  System  oder  einen  Organismus  von  Worten 


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L  Pnb<wtimin<hiit  det  gr*nmi>t.iwhwi  SiiuiM. 


festhalten  und  mitteilen  zu  kSnneii.  Bei  diesem  Ziel  der 
Wissenschaft  wird  offenbar  zweierlei  vorausgesetzt. 
Ordnimg.  Erstens,  dass  die  Wirklichkeit  irgend  etwas  in  sich 
au&aweisen  habe,  was  der  mechanischen,  logischen  oder 
lebendigen  Ordnung  entspricht,  die  wir  in  ihr  suchen;  wobei 
zu  bemerken  ist,  dass  der  Begriff  der  Ordnung  vielleicht 
etwas  so  sehr  dem  menschlichen  Verstände  eigentümliches 
ist,  dass  die  Natur  ausserhalb  des  Verstandes  eine  « Ord- 
nung* gar  nicht  kennt.  Was  mag  die  Natur  von  der  Sym- 
metrie wissen,  die  wir  doch  so  oft  an  ihr  bewundem? 

Zweitens  aber  wird  vorausgesetzt,  dass  unsere  Begriffe 
oder  Worte,  wie  sie  sich  als  Zeichen  für  Einzelvorstellungen 
mit  Einzeldingen  decken,  jedesmal  der  Art,  der  Gattung, 
dem  Stoff^  der  Abstraktion  u.  s.  w.  entsprecben,  die  wir  be- 
zeichnen woUen;  es  wird  also  Torausgesetzt,  dass  unsere 
Menschensprache  gewiBsermassea  ein  Facsimile,  ein  Phono- 
gramm der  WirklidikeitBwelt  ist,  woraus  dann  aUerdings 
hervorginge,  dass  durdx  Anhören  und  genaues  Vergleichen 
der  Worte  (durch  Sprechen  oder  Denken)  fortschreitende 
Erkenntnis  mOglieh  wftre.  Wie  wenig  die  Sprache  su  einem 
mechanischen  oder  logischen  Wissensgebftude,  sn  einem 
WeUkatalogf  geeignet  sei,  das  ist  an  anderer  Stelle  geseigt. 

Aber  nicht  einmal  sur  Beseichnung  der  einfachsten,  all- 
taglichsten und  bekanntesten  Verl^tnisse  und  Besiehungen 
swischen  den  Dingen  scheint  mir  unsie  Spreche  befähigt, 
trotzdem  die  gesamte  Sprachlehre  oder  Grammatik,  wenn 
sie  überhaupt  einen  Sinn  hat  (fOr  Hensdien,  welche  Ghram- 
matik  fOr  eine  Anleitung  cum  Richtigsprechen  halten, 
möchte  ich  nidit  schreiben),  nur  den  Sinn  haben  kann, 
dass  sie  die  Kategorien  der  Sprache  und  die  Kategorien 
der  WirklichkeitBwelt  miteinander  yergleicht  Ich  will  mich 
bemühen,  einige  Punkte  aufsuUiren;  und  ich  glaube  be- 
stimmt, dass  eine  weitere  Untersuchung  zu  dem  tragikomi- 
schen Ergebnis  ftQiren  wird:  wie  die  zehn  Kategorien  des 
Seins,  die  etwa  seit  Aristoteles  für  die  höchsten  Formen  des 
Veratandes  gelten,  einfach  und  kindlich  den  Bedeteilen  der 
griechischen  Sprache  entnommen  waren,  wie  die  fortechrei- 


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galMftantiy  und  Adjektiv. 


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tende  Erkenntnis  der  Kulturvölker  —  festgebunden  üu  die 
Radspeichen  .arischer"  und  ähnlich  gebauter  Sprachen 
sich  selbst  im  Kreise  drehte  und  die  Sprachformen  immer 
tiefer  in  die  Natur  hineinphantasiertet  so  ist  es  schliesslich 
eine  Selbsttäueehung,  wenn  wir  auch  nur  die  ofifSanbarsten 
Beziehungsformen  der  Sprache  ftür  Abbilder  der  vrirklichen 
Beziehiuigsformen  halten,  wenn  wir  auch  nur  solche  Kate- 
gorien wie  «Ding*  mid  «Eigenschaft",  weil  sie  in  der  Sprache 
sind,  in  der  Natur  zu  sehen  glauben.  Und  ich  glaube  ferner, 
dass  die  Entdeckung  Kants,  mit  der  er  die  Fonnen  der  Er- 
kenntnis dem  Ding-an-sich  absprach  und  dem  Intellekt  zu- 
wies, auf  die  Ahnung  dieser  meiner  Lehre  hinausläuft,  wie 
an  gehSziger  Stelle  zu  finden  ist.  Jawohl:  Die  Kategorien 
oder  Formen  aller  Erkenntnis  sind  nicht  in  der  Wirklich- 
keit, sie  sind  im  Denken,  d.  h.  in  der  Sprache,  dort  allein, 
und  darum  ist  mit  ihnen  kein  lebendiger  Hund  hinter  dem 
wannen  Ofen  herTorznlooken. 

leb  wiH  das,  so  einleuchtend,  ja  so  lachend  klar  mir 
auch  die  blosse  Bebauptung  erscheint,  Torlftufig  an  den  wich- 
tigsten Kategorien  oder  Redeteilen  aufzeigen:  Dem  Ding 
oder  SubstantiT,  der  Qualität  oder  dem  AdjectiT,  der  Wir- 
kung oder  dem  Verbum. 

Es  uns,  das  heisst  unserer  Sprache  nahe,  die 
Wortsflicihen  Är  die  wirklichen  Einseidinge,  also  die  kon- 
kreten SubstantiTe  wie  «Sonne*,  «Hund*,  für  die  ursprüng- 
lichsten und  wertroUsten  zu  halten;  wir  sind  geneigt  su 
glaube,  die  Menschen  könnten  sich  unteremsnder  mit  dem 
blossen  Stammeln  Ton  SubstaatiTen  zur  Not  verstindigen, 
es  wSren  also  AdyektiTe  und  Verben  sjAter  gebildet  worden. 

Was  ist  ein  Adjektiv?  Wllre  die  Sprachforschung  nicht  sub- 
seit  jeher  auf  dem  logischen  Abwege  gewesen,  sie  lültte 
seit  Locke  langsam  zu  der  Antwort  kommen  müssen,  die  A4l«kttT. 
hier  fast  ohne  Vorbereitung  paradox  erscheinen  wird.  Ich 
sage  nimHch  so:  Wir  bezeichnen  mit  einem  sub  st  an- 
tiTischen Wort  die  Gesamtheit  aller  SinneseindrUeke, 
die  wir  Ton  einem  und  demselben  Ding  als  seiner  Ursache 
heileiten,  z.  B.  wir  bezeichnen  mit  «Apf^l*  das  Ding,  das 


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8 


I.  Uiib«fltimiiitfaeit  des  graminatMchen  Siimea. 


uns  so  und  so  gross,  so  und  so  gefärbt,  so  und  so  duftig, 
so  und  so  süss  erscheint,  wir  bezeichnen  mit  , Sonne"  «las 
Ding,  dessen  Grösse  (resp.  EntfernunL!: L  dessen  Licht,  dessen 
Wärme  wir  so  und  so  empfinden;  wir  bezeichnen  aber  mit 
einem  adjektivischen  Wort^  einen  ei  n  zel  n  en  Sinnes- 
eindnick,  den  wir  unter  den  von  einem  Ding  hervorgerufenen 
Empfindungen  aus  irgend  einem  Interesse  besonders  be- 
merken wollen  oder  müssen,  z.  B.  wir  achten  je  nach  Um- 
s^nden  darauf,  dass  der  Apfel  «rot",  ^duftig",  „gross", 
,sfl8s*,  dass  die  Sonne  «weit*,  ,hell",  ,warm"  ist.  (Wenn 
wir  zufällig  Rote,  Duft,  SOssigkeit,  Helligkeit,  Wärme  sagen, 
hört  darum  der  adjektivische  Charakter  nicht  auf.) 

Wenn  man  nun  bedenkt,  dass  alle  abstrakten  Worte 
neuerer  Fasson  sind,  dass  die  ältere  Sprache  —  selbstver- 
ständlich und  nachweisUdi  —  mit  konkreteren  Worten  aus- 
kam, dass  aber  —  wie  wir  eben  entdeckten  —  alle  kon- 
kreten Adjektive  (die  Neubildung  muss  wohl  gestattet  sein) 
sich  psychologisch  von  den  konkreten  Substantiven  nur 
durch  die  Zahl  der  bezeichneten  Sinneseindrücke  unter- 
scheiden, 80  fallt  das  Gerede  T<m  swei  Kategorien  oder 
Formen,  denen  sie  angehören,  zusammen.  Hier  also  schon, 
an  der  Schwelle,  will  die  Sprache  oder  das  Denken  künst- 
liche Kategorien  in  die  lachende  Wirklichkeit  hineintragen. 

Und  man  hüte  sich  wohl,  zu  glauben,  jetat  sei  also 
das  Adjektiv  als  älter  anzusprechen,  W6Q  es  nur  einen  Ein- 
druck bezeichne,  das  Substantiv  aber  zwei  bis  sechs,  oder 
je  nach  Zählung  noch  mehr.  Denn  erstens  ist  der  Ge- 
samteindruck natürlicherweise  gewöhnlich  früher  da  als  die 
Einzelempfindung,  „Apfel"  früher  als  „rot".  Zweitens  aber 
ist  ja  eben  —  und  darauf  lege  ich  die  Betonung  —  nur 
die  Sinnesempfindung  wirklich  und  das  Zttchen  für  sie 
gleichgültig.  Vor  der  Unterscheidung  zwischen  Substantiv 
und  Adjektiv  ist  der  Sinneseindruck  da.  Und  wo  nur  eine 
Empfindung  überhaupt  vorhanden  ist,  da  verschwindet  der 
Unterschied  zwischen  Adjektiv  und  Substantiv.  Wenn  das 
Kind  einen  glänzenden  Punkt  am  Himmel  sieht  und  keine 
Neberempfindung  hat,  so  ist  es  gleich,  ob  es  «Stern*  sagt 


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Safaffcaatir  and  Verbum. 


9 


oder  ,hell";  ähnlich  ist  es  oft  gleich,  ob  wir  sagen  ,  Wasser" 
oder  ,nass*,  »Feuer*  oder  «heiss".  Ganz  gleich;  in  Wort 
und  Gedanken  j?leich. 

Es  ist  also  schon  hier  klar,  dass  der  Unterschied,  der 
etwa  dem  Unterschiede  zwischen  den  Kategorien  von  Sub- 
stantiv und  Adjektiv  entspreclieii  könnte,  ein  unvergleichlich 
andrer  ist  in  dpr  Wirklichkeitsweit  und  in  der  Sprachwelt. 
Will  ich  die  Ge&aintheit  von  Empfindungen  (oder  virlmehr 
ihi'e  gemeinsame  Ursache)  njit  einem  \\ Orte  va^^rp  bezeiclmt  n. 
so  sage  ich  ein  socrfniinnt«  s  Suljstantiv ;  beachte  icii  einen 
Teil  davon,  eine  einzelne  Eniptimlunij:.  so  sage  ich  ein  Ad- 
jektiv; beobachte  ich  diese  Einzeleiii{»tindung  so  aufmerk- 
sam, dass  ich  an  ihr  wieder  etwas  zu  unterscheiden  im  stände 
bin,  so  wird  das  Zeichen  wieder  ein  Substantiv,  ein  Abs- 
fractijni  (  Apfel  —  rund  —  Rundung),  So  schwanken  die 
scheinbar  festen  Katet^on'en  wirr  durcheinander,  wie  Traum- 
bilder von  jeder  Stimmung  des  Augenblicks  abhängig.  Und 
noch  mehi*.  Wenn  es  gewiss  ist,  dass  der  natdrliche  Mens«  h 
—  heut  wie  in  einer  Urzeit  —  früher  das  Dmg  wahrnuüm 
als  seine  Eigenschatt,  so  ist  es  ebenso  gewiss,  dass  er  das 
Ding  doch  nur  nach  einer  Sinnesempfindung  merken,  be- 
zeichnen, benennen  konnte,  dass  er  das  Substantiv  aus  ad- 
jektivischen Worten  metaphorisch  bildete.  Beispiele  lassen 
sich  nur  aus  der  jüngsten  Schicht  der  Sprache  beibringen; 
aber  es  muss  immer  so  gewesen  sein. 

Auch  zwischen  Substantiv  und  Verbum  scheint  nach  Sob- 
dem  Gerede  der  Sprachphilosophen  ein  tiefer  Kategorien-  "'"„^^ 
unterschied  zu  besteben.  Und  auch  meine  Erklärung  klingt  varbnm. 
vielleicht  ähnlich,  wenn  ich  sage:  Das  Substantiv  bezeichnet 
die  Gesamtheit  der  Empfindung,  die  von  einer  Ursache  aus- 
geht, das  heisst  es  bezeichnet  eben  die  Ursache,  das  Ver- 
bum aber  bezeichnet  eine  Veränderung  dieser  Ursache  in 
Raum  und  Zeit.  Man  achte  nur  auf  die  —  ich  will  sagen  — • 
konkreten  Verben,  s.  B.  »der  Baum  bl&hfc*;  wieder  be- 
achtet die  Sprache  eine  einzelne  Empfindung,  die  sich  aber 
Tom  A<iyektiY  («der  Baum  ist  grün")  dadurch  unterscheidet, 
dass  wir  eine  Aenderung,  eine  Entwickeiung,  eine  Bewegung, 


0 


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10 


I.  Unbestimmtlieit  des  grammaUacheu  Sinnes. 


oder  wie  man  es  nennen  will,  wahrgenommen  haben.  „Eis 
regnet''  sagt  darum  durchaus  nichts  anderes  als  das  Sub- 
stanti?  „  liegen  * ,  unter  Umstanden  nichts  anderes,  als  das 
Adjektiv  „nass".  Und  wieder  ist  daran  zu  erinnern,  dass 
ganz  gewiss  nn  vielen  Diugen,  den  beweglichen  zumeist, 
eben  die  Veränderung  am  meisten  auffiel,  dass  darum  diese 
Veränderung  das  sie  P.»  zeichnende  wurde  und  so  diejenigen 
Substantivp.  die  nicht  Adjektive  waren,  eben  Verben  waren. 
Woiili2:eiiii'i  kt,  zu  einer  Zeit,  als  die  Kategorien  noch  nicht 
aufgestellt  werden  konnten,  die  in  der  Wirklickkeitswelt 
nicht  sind. 

Ich  überlasse  es  anderen,  den  Spuren  nachzugehen,  die 
die  adjektivische  Welt  mit  andern  .Kategorien"  verbinden: 
für  mich  hat  es  immer  etwas  Adjektivisches,  wenn  Teü- 
vorstellungen  von  einem  Dinge  „ausgesagt"  werden.  „Vier- 
händig" ist  «50  ein  Adjektiv,  das  ebenso  hübsch  durch :  (der 
Affe)  „hat  vier  Hände"  ausgedrückt  werden  kann.  Mau  sieht 
die  Metapher  deutlicher,  wenn  wir  z.  B.  sagen:  Der  Apfel 
hat  ein  rotes  Ansehen,  rote  Backen,  hat  «Üssen  Geschmack, 
hat  den  und  den  Geruch,  anstatt:  Ist  rt^t,  süss  u.  s.  w. 

Decken  sich  also  die  allgemeinsten  Formen  der  Wirk- 
lichkeit, ihre  Kategorien,  schon  in  den  deutlichsten  Fällen 
nicht  mit  den  Redeteilen,  den  Kategorien  der  Sprache,  wie 
soll  es  erst  in  den  knifflichen  Fällen  der  Verhältniswörter 
und  Fürwörter  werden?  Und  wie  soll  die  Einheit  der  Formen 
in  Wirklichkeit  und  Denken  gerettet  werden,  wenn  wichtige 
Kategorien  der  einen  Sprache  in  andern  Kultursprachen 
fehlen?  Und  wie  soll  es  werden,  wenn  die  moderne  Natur- 
forschung endlich  das  Recht  beansprucht,  die  Sprache  zu 
verbessern,  wie  sie  durch  künstliche  Mittel  die  Sinnesorgane 
rerbesseit  hat?  Wie  wenn  sie  die  künstlichen  Sinnesempfin- 
dungen,  wie  wenn  sie  die  Ergebnisse  schwieriger  Experi- 
mente sprachlich  ausdrücken  wollte?  Wenn  sie  Schall,  Licht, 
Wärme  u.  s.  w.  als  Bewegungen  bewiesen  und  wahrge- 
nommen hätte  und  nun  verlangte,  dass  da  Adjektiv 
durchaus  zum  Verbum  würde?  Wo  blieben  dann  die  alten 
Kategorien  dee  Aristoteles? 


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Subjttklivitit  d«r  Kategorien. 


11 


I>och  selbst,  wenn  wir  den  Yorläufig  paradoxen  Qe- 
danken,  die  Zukunffcssprache  unsern  verbesserten  Sinnes- 
organen (Mikroskop,  Teleskop,  Mikrophon,  analytischer  Me- 
ehanik  und  mathematischer  Analyse)  anzupassen,  auf  sich 
beruhen  lassen  —  selbst  dann  ist  die  alte  Eategorienlehre 
nicht  zu  halten,  nicht  in  der  ursprünglichen  Fassung  und 
nidit  in  irgend  einer  Umdeutung. 

Piaton  ist  noch  frei  Ton  ihr,  was  aber  nicht  sein  Ver- 
dienst ist.  Er  hatte  eben  noch  von  den  Redeteilen,  die 
nach  ihm  aufgestellt  wurden,  keine  rechte  Vorstellung;  darum 
idlein  faselte  er  noch  nicht  von  den  Kategorien  des  Seins 
und  begnOgfce  sich  mit  einer  einzigen:  der  Idee;  seine  Ideen 
waren  üim  so  etwas  wie  Modelle  alles  dessen,  was  wir  vor- 
st«llen  können.  Er  war  der  Srzrealist,  im  8inne  der  Scho- 
lastiker natürlich,  und  h&tte,  wenn  er  von  Präpositionen 
gewusst  hätte,  irgendwo  in  Wolkenkuckucksheim  auch  eine 
Idee  der  Präpositionen  angenommen.  Seine  Ideen  waren 
ikm  die  MOtter,  die  Malarisen  unsere  EinzelTorstellungen; 
db  er  aber  glücklicherweise  noch  nicht  Grammatik  gelernt 
hatte,  so  hatte  wenigstens  jede  Vorstellung  nur  eine  Hutter, 
eine  Idee;  seit  Aristoteles,  der  schon  Grammatiker  war  und 
Logiker  dasni,  konnte  jede  Vorstellung  bis  zehn  solcher 
Hütter  haben. 

« 


Der  Mensch  steht  in  der  Welt  als  ein  Zusehauer,  wie 
im  Theater,  ünd  wie  es  eine  besondere  Optik  des  Theaters 
gibt,  durch  welche  uns  die  Bühne  erst  die  schöne  Illusion 
gewahrt,  so  gibt  es  für  die  Welterkenntnis  eine  Optik  des 
Geistes,  der  wir  die  Illusion  einer  Erkenntnis  Terdanken. 
Das  Denken  ist  das  Dlusionsmslrument  des  Menschen. 

Schon  beim  Bilden  der  einfachsten  Begriffe  das  heisst  K«t«- 
beim  Vei|^eiohen  der  Dinge,  wirkt  das  subjektiTe  Interesse  ^^^^^^^^ 
mit,  sei  es  das  Interesse  des  Einzelnen,  sei  es  das  gleiche 
Interesse  der  Menschen.   Es  kann  gar  kein  Zweifel  daran 
8«n,  dass  interessierende,  nützliche  oder  schädliche  Tier- 
Bxien  froher  benannt  wurden  als  gleichgültige.   Eine  ün- 


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12 


L  UnbestaouDtheii  d«s  grammatiiohen  Sinnes. 


zahl  gleichgültiger  Tierarten  hat  in  der  lebendigen  Sprache 
noch  heute  keinen  Artnamen,  wenn  dieser  auch  in  der 
wissenschaftlichen  Terminologie  scheinbar  existiert.  Noch 
stärker  äussert  sicli  lias  subjektive  Moment  des  Interesses 
bei  den  obersten  Artnanien  oder  Kategorien.  Die  Optik 
des  Geistes  hat  freilich  die  Illusion  hervorj?erufen ,  als  ob 
die  allgemeinen  Kategorien  der  Grammatik  (»dt  i  Logik,  wie 
diese  bei  uns  historisch  gewordt  ti  isL,  der  VVirklichkeitswelt 
entsprechen.  Wir  glauben  in  der  Wirklichkeitswelt  das  zu 
sehen,  was  wir  in  unseren  Eigenschaften  und  ihren  Steige- 
nmi^'en,  in  unseren  Verbeji  und  ihren  Zeitformen,  in  unseren 
Hauptworten  und  ihren  Zahilbrmen  sprachlich  besitzen. 

Vor  Ausbildung  dieser  jüngeren  Kategorien  besnss  die 
Sprache  oder  '\n<  Denken  jedentalls  andere.  Für  dns  Ei;^en- 
schaftswort  ist  es  charakteristisch,  dass  das  meist  gebrauchte 
(gut,  besser)  immer  noch  keine  sprachliche  Steigerung  be- 
sitzt; ebenso  hat  das  meist  gebrauchte  Yerbum  (sein,  bin, 
war)  keine  sprachliche  Konjugation.  Da"-'  ist  ganz  auffällig 
so  auch  in  anderen  Sprachen.  Es  scheinen  Reste  aus  einer 
Zeit  zu  sein,  in  welcher  die  Kategorien  der  Steigerung  und 
der  Zeit  noch  nicht  vorhanden  waren.  Man  kann  damit  den 
Dual  der  älteren  Sprachen  vergleichen,  der  aus  unseren 
Kultursprachen  verschwunden  ist. 

Dagegen  müssen  in  sehr  alter  Zeit  Kategorien  vor- 
handen gewesen  sein,  die  in  dieser  Art  heute  nicht  mehr 
gewürdigt  werden.  Als  noch  die  Welterkenntnis  auf  den 
Elementen  Feuer,  Wasser,  Luft  und  Erde  beruhte,  konnte 
der  Gegensatz  von  nass  und  trocken  so  tiefdeutig  erscheinen 
wie  heute  der  Gegensate  von  Geist  und  Körper.  Irgend 
einer  Weltanschauung,  dio  auf  dem  Gegensatz  der  Ge- 
schlechter beruhte,  mag  der  sprachliche  Unterschied  Ton 
männlich  und  weiblich  entstammen,  der  heute  noch  unsere 
Sprachen  beschwei-t.  Noch  weiter  zurückgehen  mag  der 
Gegensatz  des  Essbaron  und  des  Ungeniessbaren ,  zweier 
Kategorien  des  Naturmenscken,  die  in  der  Sprache  heute 
noch  z.  B.  bei  der  Einteilung  der  Pilze  fortleben.  Unsere 
stolze  Wissenschaftlichkeit  glaubt  dieses  subjektive  Moment 


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LitareM  noA  Aiibegiiff. 


IS 


in  der  Kafcegorienbildung  überwanden  zu  haben ;  aber  hinter 
deii  hOchston  EinteilungsgrOnden  jedes  Weltkatalogs ,  auch 
des  neaesteUf  steckt  irgend  der  alte  Gegeasats  awiechen  dem 
Essbaien  und  dem  Ungeniessbaren.  Das  Interesse  lenkt  die 
AnfknerkBamkeit,  die  AufiDerkaamkeit  scbafflt  sich  die  Er- 
innemi^,  die  Erinnerang  wird  nir  Sprache. 

Es  ist  gar  nicht  merkwürdig,  dass  die  allgemeinsten 
Begnffe,  die  in  der  sogenannten  Logik  aus  der  jeweiligen 
Welterkenntnis  abstrahiert  worden  sind,  sich  in  der  Gram- 
matik als  Benehnag^yrmen  der  Sprache  wiederfinden.  Es 
gibt  nimlich  gar  nichts  Allgemeineres  und  in  der  Sprache 
hiufiger  Aussudrückendes  als  diese  Beriehungen  z.  B.  auf 
Zahl,  Zeit  und  Ort.  Ein  Mensch  kann  in  seinem  Leben 
noch  so  viele  Hunde  bemerken  und  Anlass  finden  davon  za 
sprechen,  er  wird  dennoch  den  Begriff  Mehnabl  oder  den 
Begriff  Vefgangenheit  in  unendlich  häufigeren  FtUen  anzu- 
wenden haben.  Darum  konnte  das  Lautaeiehen  fllr  Hund 
spesifiaiert  bleiben,  wShrend  die  Lautaeiehen  fDr  Hehrzahl 
oder  Vergangenheit  zu  grammatischen  Kategorien  wurden. 
Die  lebendigen  Sprachen  haben  diese  Lautzeichen  z.  B.  fUr 
Mehrzahl  oder  Vergangenheit  nicht  einfach  genug;  die  Ver^ 
schiedenheiten  der  Deklinationen  und  Konjugationen,  die 
beim  Erlernen  einer  fremden  Sprache  solche  Schwierigkeiten 
machen,  sind  ganz  gewiss  unverstSndliche  Veberreete  aus 
Zeiten,  in  welchen  nach  der  damaligen  Weltanschauung 
handgreiflichere  Kategorien  wichtiger  eisehienen  als  die  der 
Zahl  und  der  Zeit 

Vielleicht  wird  man  es  nicht  zu  kOhn  finden,  wenn  ich  laiMreMe 
behaupte,  dass  dieses  subjektiye  Moment  in  der  Kategorien*  ^ 
bfldung  selbst  bei  Artbegriffen  thfttig  ist.    Hund  ist  ein  «esriff. 
Artbegriff.  Schreibt  aber  jemand  eine  Abhandlung  oder  ein 
Buch  Aber  Hunde,  so  wird  für  ihn  und  ftr  den  Leser  all- 
mählich Hund  zu  dem  interessantesten  Begriffe,  zu  dem 
obersten  Begriffe  eines  mehi;^rigen  oder  für  den  Leser 
wochenlangen  ausscUiesslidien  Intereeses.  Ebenso  wird  fttr 
den  feurigen  Liebhaber  der  Gegenstand  seiner  Liebe  zum 
obersten  Begriffe  seines  Interesses.  In  einem  Buche  Uber 


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14  I*  ünb— Ümmtheit  des  gnnunatudieD  SimiM. 

Hunde  wird  der  Hund  zur  Kategorie,  iiii  Denken  des  ernst- 
haft verliebten  Jünglings  wird  ein  weibliches  IndividiUim 
zur  Kategorie.  Und  das  äussert  sich  denn  auch  sofort  sehr 
einfach  in  der  Sj)rache  dadurch,  dass  in  dem  Buche  immer 
nur  von  «ihm"  die  Hede  ist,  in  dem  Denken  des  Jttnglings 
von  .ihr". 

« 

Die  ältere  Grammatik  lehrte  schlecht  und  recht,  dass 
Regeln  da  seien,  die  wie  andere  Gesetze  befolgt  werden 
müssen,  bei  Strafe  für  ungebildet  zu  gelten.  Gegenwärtig 
herrscht  eine  liberalere  Anschauung,  die  in  der  Sprache 
einen  Organismus  sieht  und  die  Herrschaft  der  Sprach- 
gesefase  weniger  äusserlich  macht.  Man  wird  z.  B.  heut- 
zutage Ton  bessern  Lehrern  nicht  mehr  hdren,  dass  die  Pra^ 
Position  den  Casus  „regiere*".  Man  möchte  gern  in  der 
Sprache  einen  anarchistischen  oder  wenigstens  demokrati- 
schen Idealstaat  sehen,  in  welchem  jede  Notdurft  sich  die 
passende  Form  selbstherrlich  neu  bildet. 

Nun  aber  ist  es  doch  nicht  wegzuleugnen,  dass  es  fest- 
stehende Formen  gibt,  dass  es  Präpositionen  z.  B.  gibt,  mit 
denen  wir  den  Sinn  einer  gewissen  Richtung  yerbinden, 
dass  es  Casus  gibt,  die  sich  regelmässig  fUr  einen  gewissen 
Sinn  sur  Verfügung  stellen.   Ohne  solche  Formen  wären  die 
Sprachen  nicht  möglich.    Sie  bringen  den  unennesslichra 
Gedächtnisstoff  unserer  SinneseindrQcke  und  der  aller  unserer 
Vorfahren  ein  bisschen  in  Ordnung,  sie  sind  die  Hilfen  des 
Oedachtnisses.   So  muss  man  sagen,  dass  z.  B.  die  Prä- 
positionen ihren  Casus  zwar  nicht  regieren,  aber  durch  die 
Analogie  so  fest  an  ihn  gebunden  sind,  dass  der  einzelne 
sich  ihrer  Tyrannei  nicht  entziehen  kann. 
üBbe.        Ein  Irrtum  aber  auch  der  neueren  Sprachwissenschaft 
heii  dir  ^       wenn  sie  dieser  Analogie  zu  sehr  vertraut  und  den 
XAte>  Formen  jedesmal  einen  bestimmten  Sinn  unterlegt.  Wir 
t»*^'  wissen,  dass  es  der  Sprache  wesentlich  ist,  unbestimmt  und 
nebelhaft  zu  sein.   Auch  der  konkreteste  Begriff  ist  noch 
Yerschwommener  als  die  Wirklichkeit  das  heisst  als  die 


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15 


Sinnefleindrücke,  welche  wir  von  ihr  empfangen.  Um  wie 
Tides  nnbeetammter  mttssen  dann  die  Formen  der  Grammatik 
sein,  welche  all<»&mt  Abstraktionen  sind. 

Was  zunächst  die  Präpositionen  betn£Pt,  so  liegt  die 
Bntwickelung  doch  offenbar  ähnlich  so  wie  b^  der  Ver- 
bindung des  Fh>nomen8  mit  der  entspreehenden  Form  des 
Verbums.  Wenn  ich  sage  «du  schreibst*,  so  war  nrsprOng* 
lieh  die  zweite  Person  schon  in  der  lindung  art*  aus- 
gedrückt; die  VonuMeteung  des  »du*  war  nrspittnglich  eine 
'Wiederholnng  des  Zeichens  flir  die  zweite  Person,  bis  in 
den  chinaisierenden  neuem  Sprachen  der  Sinn  der  Endsilbe 
Terloren  ging  und  das  Zeichen  f&r  die  zweite  Person  allein 
im  vdu*  haften  blieb.  Ebenso  gab  sicherlich  zuerst  die 
Gasosendung  eine  Richtung  und  dergleichen  an  und  diese 
Angabe  wurde  durch  ein  stSifceres  Wort  Terdoppelt  Als 
die  Sprachen  die  Gewohnheit  annahmen,  diese  Wiederholung 
zum  alleinigen  Ausdruck  des  Verhältnisses  zu  machen,  wurde 
auch  das  VerhBltniswort  zur  Präposition,  während  zuerst  der 
Sinn  der  Gasusform  Terblasste  und  schliesslich,  wie  im  Eng- 
lischen nnd  Französischen,  die  Casusform  selbst. 

Es  ist  rergebliches  Bemflhen,  in  den  alten  oder  neuen  Oenittv. 
Casusformen  eine  einzige  Bedeutung  entdecken  zu  wollen. 
Was  durch  die  ganze  Sprache  hindurchgeht«  werden  wir  auch 
hier  nachweisen  können.  Die  Umstände  lenken  die  Auf- 
merksamkeit dahin  oder  dorthin.  Im  sprachlichen  Ausdruck 
werden  die  einzelnen  Vorstellungen  nacheinander  wachge- 
rufen, um  wieder  durch  die  Erinnerung  der  begleitenden 
Umstände  aufeinander  bezogen  zu  werden.  Im  Laufe  der 
Zeit  haben  sich  nun  Casusfonnen  entwickelt,  weldie  die 
HaupiTOrstellung  von  den  NebenTorstellungen  scheiden,  aber 
diese  Scheidung  bleibt  immer  schwankend,  die  Beziehung 
der  NebenTorstellungen  bleibt  immer  unbestimmt  Wenn 
ich  ohne  Casusform  die  beiden  Worte  Komet  und  Jahr 
nebeneinander  setze,  so  kann  das  sowohl  heissen,  »das  Jahr 
eines  bestimmten  Kometen*  als  «der  Komet  eines  bestimmten 
Jahres*.  In  dar  ausgebildeten  Sprache  wird  nun  die  Neben- 
Yorstellung  im  Genitiv  susgedrflckt  Der  Genitir  bezeichnet 


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15  I.  üttbertiminlihea  dM  ggtauaalaatibm  fiiniiM. 

in  dem  einen  Falle  den  umfassenden  B^rifiT,  in  dem  andern 
den  umfitösten.  Man  hat  die  Bedeutungen  des  OenitiTS  sehr 
sauber  logisch  eingeteilt.  In  unseren  Schulgrammatiken 
heisst  der  GemÜT  der  BeeitefoU  (was  gar  nicht  aufrecht  zu 
erhalten  ist);  dann  teilt  man  ihn  in  einen  besitzanzeigenden 
GenitiT,  in  einen  QenitiT  der  Teilung,  des  Sfcoffii,  der  Sigen- 
sehaft,  in  einen  subjektiTen  und  ohjektiTen  GenitiT,  in  einen 
herrormfenden  und  abzielenden  Genitiv,  und  mnss  am  Ende 
noeh  einen  absoluten  Genitir  hininflBgen,  um  solche  An* 
Wendungen  susammenzufassen,  die  sich  dem  Schema  nicht 
fügen  wollen.  Aus  dieeem  Wirrwarr  hat  schon  Hermann 
Paul  dadurch  sich  zu  reiten  gesucht,  dass  er  sagte,  «in  den 
indo-germanischen  Sprachen  werde  der  GenitiT  zum  Aus- 
druck jeder  beliebigen  Beziehung  zwischen  zwei  SuhstantiTen 
Terwaadt*  (Pr.  d.  Spnichg.  S.  126),  wobei  er  Ton  dem  mit 
Verben  verbundenen  Genitiv  absah.  Wenn  wir  aber  be- 
denken, dass  alle  grammatischen  Sprachformen  ebenso  zum 
Ausdruck  Ton  Beziehungen  der  Vorstellungen  verwandt 
werden,  so  ist  die  verzweifelte  ErUirung  Pauls  noch  ftrmer 
als  sie  ihm  selbst  erschien.  In  Wahrheit  sagt  sie  nur,  dass 
der  Genitiv  eine  Sprachform  sei,  was  doch  eigentlich  noch 
unter  dem  NnUwert  einer  Tautologie  steht.  Wir  können 
nicht  darOber  hinaus,  im  Genitiv  dw  Form  eines  Wortes  zu 
sehen,  welche  uns  auffordert,  unsere  Aufmerksamkeit  von 
einer  Vorstellung  auf  eine  assodierte  Vontellung  zu  lenken; 
oder  vielmehr,  da  die  Association  unbewusst  erfolgt,  so  ist 
der  Genitiv  die  Ausdrucksform  für  die  nnbewusste  Asso- 
dationsthfttigkeit.  Man  könnte  einwenden,  dass  diese  Er- 
klämng  auf  jede  andere  Casusform  (um  nur  beim  Nomen 
zu  bleiben)  ebenso  gut  passen  wQrde.  Sie  passt  auch  auf 
jede.  Und  aUe  BemQhnngen,  in  den  Gebrauch  der  ver- 
sdiiedenen  Casusformen  logischen  ^nn  hineinzubringen, 
scheitern  an  der  Thatsache,  dass  in  den  verschiedenen 
Sprachen  jede  Beziehung  durch  jede  Casusform  ausgedrOekt 
werden  kann. 

Im  Lateinischen  kann  amor  patris  noch  heides  bedeuten: 
die  Liebe  des  Vaters  und  die  Liebe  zum  Vater.  Je  nach 


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17 


den  begleiteaden  Umständen  wird  der  Hörer  die  beiden 
-Worte  im  Sinne  des  Sprechers  richtig  verstehen,  ohne  dabei 
auch  nur  im  entferntesten  einen  Unterschied  im  Sinne  der 
Oenitivfonn  zu  empfinden.  Es  kann  uns  gleichgültig  seint 
durch  welchen  Zufall  der  Analogiebildung  die  Unbestimmt- 
heit der  Bedentang  in  diesem  Falle  so  gross  werden  konnte, 
dass  sie  Gegensätze  uinfasst.  Man  glaube  nicht,  dass  solche 
Fälle  vereinzelt  sind.  Im  Deutschen  bedeutet  Yaterliebe 
allerdings  nur  die  Liebe  des  Vaters;  aber  schon  das  nah- 
verwandte  Wort  Elternliebe  kann  nadi  unserm  Sprachgefühl 
sowohl  die  Liebe  der  Eltern  als  die  Liebe  zu  den  Eltern 
bedeuten  t  und  Vaterlandsliebe  ist  ganz  eindeutig  doch  nur 
darum,  weil  das  Vaterland  seinerseits  nicht  lieht.  Die  be^ 
gleitenden  ümstftnde  entscheiden. 

Die  herOhmte  hesitBanzeigende  Bedeutung  des  Genitivs, 
welche  doch  eine  Zahl  Ton  Beispielen  auswählt,  in  welchen 
diese  Gasusform  einen  bestimmten  Sinn  zu  haben  sehemt, 
ist  Tiel  unklarer,  als  unsere  Grammatiken  glauben  machen. 
Wo  steckt  die  besitzanzeigende  Bedeutung  eigentlich:  in  «der 
Fflrst  des  Landes*  oder  in  »das  Land  des  Fürsten*?  Ge- 
hört der  Fllrst  dem  Lande  oder  gehört  das  Land  dem  Fürsten? 
In  WirUiehkeit  gehört  nur  eines  zu  dem  andern,  in  unseren 
Vorstellungen  nimlich.  Der  GenitiT  bezeichnet  beidemal 
nur  eine  Association.  Aber  selbst  in  ganz  einlach  ausge- 
wShlten  Beispielen  des  deutlichsten  besitaanzeigenden  Sinnes 
wird  die  Vorstellung  je  nach  den  Umstanden  noch  schwanken. 
Wenn  ich  sage  »der  Bock  des  Vaters*,  so  kann  ich  damit 
immer  noch  TerschiedMie  Bedehnngen  ausdrücken  wollen 
z.  B.  zuerst  natürlich  «das  ist  der  Bock,  der  dem  Vater 
gehört*,  aber  auch  «das  ist  der  Bock,  der  dem  Vater  ge- 
stohlen worden  ist*,  oder  auch  «das  ist  der  Bock,  den  ich 
dem  Vater  zu  Weihnachton  schenken  will*. 

Bine  besitzanzeigende  Verwendung  scheint  es  durchaus 
zu  sein,  wenn  wir  den  Sonntag  den  «Tag  des  Herrn*  nennen. 
Dem  Sinne  nach  erfordert  das  Verhältnis  aber  offenbar  den 
DatiT.  Es  ist  der  Tag,  der  dem  Herrn  geweiht  ist.  Ebenso 
scheint  «das  Werk  des  Dichters*  eminent  besitzanzeigend. 

X  mn(k vttr»  BdtrSge  bb  elii«r  Kritik  dw  SpTaeli«.  HI.  2 


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18 


1.  UnbeBtimmthait  des  gnunmaUBChen  SmiiAi. 


Die  Beziehung  ist  aber  eine  ganz  andere;  es  soll  gesa^;t 
werden,  das  Werk,  welches  der  Dichter  der  Welt  geschenkt 
hat.  Und  in  der  Umkehruug  ,der  Dichter  des  Werks 
sagt  der  Genitiv  wieder,  der  Dichter  habe  das  Werk  (Ak- 
kusativ) verfasst.  Der  Genitiv  ist  nichts  weiter  als  das 
Mädchen  für  alles  und  hat  jedwrile  Be'/irhuug  einer  sub- 
stantivischen Votstellung  kurz  ausziulrii  n.  Eine  andere 
Analogie  hat  ihn  nicht  gebildet.  Nur  kleine  IJczirko  inner- 
halb seines  Gebrauchs  lassen  etwas  hestiiniutt  re  aber  nie- 
mals ganz  fest  definierbare  Analogien  erkenne n. 

»Ich"  das        In  derselben  Unbestimmtheit  bezeichnet  der  Akkusativ 
jede  Beziehung  irgend  eines  Substantivs  zu  irgend  einem 

Objekt.  Verbum.  Man  wird  einwenden,  dass  die  Hauptbeziehung 
zwischen  Substantiv  und  Verbum  (im  einfachsten  Satze 
nämhch)  durcii  den  Nominativ  ausgedrückt  werde.  Wir 
müssen  uns  unserer  Auffassung  vom  Satze  erinnern,  um 
diesen  natürlichen  Unterschied  zwischen  Nominativ  und 
Akkusativ  zu  begreifen  und  abzuthun.  Der  einfachste  Satz, 
der  nur  aus  Subjekt  und  Prädikat  besteht,  kann  und  muss 
darum  auf  jede  ('asusform  verzichten,  weil  er  ja  noch  gar 
nicht  zwei  Vorstellungen  in  Verbintlung  bringt,  sondern  nur 
eine  Vorstellung  auseinanderlegt.  ,Die  Sonne  leuchtet*"  ist 
nur  eine  einzige  Vorstellung;  „die  Sonne"  allein  gibt  den 
gleichen  Gedanken.  In  der  ausgebildeten  Sprache,  die  sich 
von  der  Anschauung  emancipiert  hat,  scheint  allerdings  der 
Prädikatbegrifif  zum  Subjektbegriö'  erst  hinzu  zu  treten; 
aber  er  ist  immer  aus  dem  Subjektbegriff  herausgenommen. 
Es  gehört  zum  Betriff  der  Sonne,  dass  sie  leuchtet.  „Der 
Baum  blüht*'  scheint  schon  mehr  zu  sagen,  weil  der  Baum 
doch  nicht  immer  blüht.  Aber  in  allen  individuellen  FäUen 
kaon  ich,  wenn  ich  nämlich  den  blühenden  Baum  Tor  mir 
sehe,  die  Vorstellung  des  Baums  ohne  sein  Bltlhen  gar  nicht 
fassen.  Zeige  ich  mit  meinem  Finger  auf  die  Sonne,  auf 
den  blühenden  Baum,  auf  das  schlafende  Kind,  auf  den 
strömenden  Fluss,  auf  denk  heranrückenden  Feind,  so  weise 
ich  jedesmal  untrennbar  auf  Subjekt  und  PiUdikat  zugleich 
hin.  Ich  kann  das  Prädikat  so  wenig  Tom  Subjekte  trennen. 


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.Ich'  das  gemeinsame  Objekt. 


19 


wie  in  dem  Satie  «der  Schnee  ist  weiss".  Es  wäre  gar 
kein  Schnee,  wenn  nieht  weiss  wire.  Es  wlre  zam 
mindeslen  nicht  dieser  Baum,  wenn  er  nicht  blühte,  es  wäre 
nicht  diese«  Kind  in  diesem  Angenblicke,  wenn  es  nicht 
schliefe  u.  s.  w.  Die  Orammailk  imtersch^det  das  Adjektiv 
^ weiss"  und  das  Yerbum  ^ schlafen'^  durch  den  Unterschied  in- 
von  Eigenschaft  nnd  Thfttigkeii  Dieser  Unterschied  he- '^JJ^'*^* 
steht  bereits  nicht  mehr  fUr  unsere  naturwissenschaftiicbe 
Psychologie;  um  wie  viel  weniger  sollte  er  für  die  Logik 
bestehen,  die  nur  mit  Merkmalen  der  Begriffe  zu  thun  bat. 
Ob  wir  im  einfachsten  Satz  einen  konkreten  Begriff  in 
Numen  und  Adjektiv  oder  in  Nomen  und  Verbuni  ausein- 
anderk'f^en .  das  hängt  doch  eigentlich  nur  von  unserer 
Naturerkenntnis  ab  oder  vielmehr  von  der  ererbten  (iewohn- 
heit,  uralte  Natuianscbaiuingen  sprachlich  wiederzugeben. 
Ob  ich  sage  wie  alle  Welt  _der  liiniiin.1  ist  blau"  oder 
, der  Himmel  blaut",  ob  ich  sage  ..die  Hose  ist  duftig"  oder 
-die  Rose  duftet"*,  da.s  ist  vorläufig  nirbu  weiter  als  ver- 
schiedene Sprachgewohnheit  und  ist  iiumer  nur  ein  Aus- 
breiten eines  Begrifis,  nicht  ein  Zusannnenfassea  zweier  Be- 
griffe. Es  ist  teils  falsche  Naturvorsteliung  gewesen,  teils 
reiner  Zutall.  dass  die  Merkmale  eines  Begriffs  bald  durch 
Adjektive,  bald  durch  intransitive  Verben  ausgedrückt  wer- 
den. Man  hätte  sämtliche  Adjektive  wegdenken  und  an 
ihrer  Stelle  intransitive  Verben  setzen  können.  Sämtliche 
intransitive  Verben  aber  sind  t.s  in  unserer  Vorstellung  nur 
darum,  weil  wir  uns  sprachlich  und  gedanklich  ir«  wi  lint 
haben,  ihr  alleiniges  und  gemeinsames  Objekt  nuht  zu  \>p~ 
achten.  Der  sprechende  Mensch  ist  das  gemeinsame  Objekt 
aller  inrrun' itivcn  Verben.  Deutlich  ist  das  an  denjenigen 
zu  erkeniitiU,  die  eine  unmittelbare  Re/ieluiiii,''  zu  uusern 
Sinnen  haben.  Wir  haben  diese  ti{iru(  li^re\v(jhuiieit  nur  nicht, 
weil  das  gemeinsame  Objekt  aller  binnesemdrücke  der  Welt 
un^  gar  zu  wohl  bekannt  ist.  Aber  in  Wahrheit  bin  ich 
es,  den  der  Baum  grünt. 

Nun  gibt  es  unzählige  andere  Beziehungen  in  der 
Natur,  wo  die  hervorgerufene  und  wahrnehmbare  Verände- 


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20  I*  Dnbertimmtbeit  dee  gMnunatiiokaii  Biiuiei. 

ruDg  nicht  unmittelbar  in  unseren  Sinnesorganen  Torgeht, 
sondern  ausserhalb  derselben  an  anderen  Objekten.  Wir 
drücken  die  eine  Qruppe  entweder  durch  ein  Adjektiv  oder 
durch  intransitive  Verben  aus,  die  andere  Gruppe  durch  die 
sogenannten  transitiTen  Verben.  Eine  genaue  Beobachtung, 
die  sich  allerdings  Uber  unsere  Spraehgewohnheiten  hinweg- 
setsen  muss,  wird  uns  lehren,  dass  der  Unterschied  swischen 
intransitiTen  und  transitiTen  Verben  nur  auf  ungenauer 
Psychologie  beruht  und  Überdies  keine  bestimmten  ChreU' 
zen  hat. 

Ich  nehme  es  als  zugestanden  an,  dass  die  Merkmale 
der  Dinge,  die  wir  durch  Adjektiye  ausdrücken,  ebenso  gut 
durch  intransitiTe  Verben  hätten  ausgedruckt  werden  k0nnen. 
Wir  wissen,  dass  die  Empfindung  der  grünen  Farbe  erst 
durch  eine  Wirkung  auf  unsere  Netshaut  herrorgerufen 
wird,  dass  wir  das  Objekt  des  scheinbar  intransitiTen  Ver- 
bums «grünen*  sind.  Der  Satz  «der  Baum  grünt  mich** 
ist  noch  ganz  und  gar  gegen  unser  Sprachgefühl  gebildet. 
Aber  unser  Sprachgefühl  gestattet  doch  schon  anstatt  «der 
Baum  ist  grün*  wenigstens  zu  sagen  «der  Baum  grünt*. 
Dasselbe  Sprachgefühl  gestattet  aber  nicht  das  AdjektiT 
«weiss*  in  das  intransitiTe  Verbum  «weissen*  zu  verwan- 
deln, vielleicht  nur,  weil  es  ein  transitives  Verbum  «weissen* 
gibt.  Das  Sprachgefühl  verfährt  dabei  ganz  unlogisch.  Die 
Thatsache,  dass  ich  das  Objekt  aller  Sinneseindrücke  bin, 
dass  ich  also  als  Objekt  zu  allen  intransitiven  Verben  hin- 
zugefügt werden  müsse,  ist  dem  Sprachgefühl  nicht  ganz 
fremd.  Wenn  mein  eigenes  Sprachgefühl  mich  nicht  Buscht, 
so  sucht  die  Sprache  diesen  Umstand  durch  den  sogenannten 
Dativus  ethicus  häufig  auszudrücken.  In  Prosa  und  Poesie 
können  wir  sagen:  Der  Apfel  schmeckt  mir  (süss),  die  Rose 
duftet  mir,  der  Baum  grünt  mir.  Versenken  wir  uns  in 
den  Sinn  dieses  Dativs,  so  w^en  wir  erkennen,  dass  er 
eigentlich  wirklich  das  Objekt  des  Schmeckens  und  Duftens 
ausspricht:  nur  weil  das  gewohnte  äussere  Objekt  nach  un- 
seren Spraehgewohnheiten  im  Akkusativ  ausgesprochen  zu 
werden  pflegt,  nehmen  wir  für  das  innere  Objekt  den  in- 


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Entatehiing  des  Tranntivams. 


21 


timeren  Dativ  zu  Hilfe.    Ich  kann  mich  nicht  anders  aus- 
drücken und  vertraue  aut  das  ÖpracliLrffnhl  des  Lesers. 

Nun  achte  man  auf  den  Ueber^Miijj;  vom  intransitiven  Eni* 
Verbunv  zum  transitiven  bei  denjenigen  Wahrnehmungen. 
die  uniiJittelbar  unsere  Sinne  betreffen.  Als  vermitteln(h's  Truwi' 
Beispiel  wählp  ich  das  Wort  , rufen".  Wollen  wir  damit 
mir  die  Khmf^'en  L  t^'"un<^  Hu^ili  iickeUt  die  s\ch  damit  begnügt, 
in  unsertiii  ( ichüroigari  einen  Klang  *'ni |iliiiflen  zu  lassen^ 
.so  fassen  wir  das  Wort  als  intransitiv.  ,Der  Kuckuck 
ruft*.  Empfinden  wir  dabei  eine  gewisse  Aufforderumr, 
zuzuhören ,  so  setzen  wir  wohl  den  Dativ  dahinter.  Faust 
sagt  tief  ergriffen:  ..Wer  ruft  mir?"  Soll  aber  mein  Ich 
das  äussere  Objekt  des  Kufens  werden,  soll  ich  daraufhin 
eine  Veränderung  mit  mir  vornehmen,  dem  Rufenden  ant- 
worten oder  zum  Kufendtn  lims^Hhf'n,  so  wird  das  Wort 
transitiv  und  ich  frage  ,wpr  rult  mich?" 

Ich  hoffe,  die  Sache  nun  im  Bereiche  anderer  Sinne 
noch  deutlicher  zu  machen,  wenn  mir  auch  kein  so  gutes 
Beispiel  mehr  einfällt,  wo  das  Verbuni  beim  Uebergang 
vom  Innern  zum  äussern  Objekt  dasselbe  bleiben  kann. 
Höchstens  der  Geschmackssinn  gibt  noch  Gelegenheit  dazu. 
Wir  sagen  „der  Pfeffer  brennt",  „die  gepfefferte  Speise 
brennt  mich" ;  der  Unterschied  ist  kaum  wahrnehmbar;  ich 
glaube  aber  doch,  dass  mit  dem  ,mich"  die  Erklärung  für 
eine  Reaktion  angedeutet  wird.  Ich  meine  das  so.  Wir 
sagen  «der  Schnee  ist  weiss"  oder  „der  Schnee  leuchtet"» 
solange  die  Weiss  Wirkung  auf  mein  Sehorgan  die  normale 
Stärke  nicht  überschreitet,  solange  ich  unbewusst  das  Ob- 
jekt der  Tbätigkett  des  Leuchtens  oder  Weissseins  bin.  Ich 
kann  dann  auch  aagen  .der  Schnee  leuchtet  mir",  was  frei* 
lieh  auch  noch  einen  andern  Sinn  erhidte.  Sowie  aber 
die  Einwirkung  des  Leuchtens  oder  Weissseins  auf  meine 
Ketahaut  so  stark  wird  (die  gepfefferte  Speise  brennt  mich), 
dass  ich  gezwungen  bis,  eine  Veränderung  wenn  auch  nur 
durch  Reflexbewegung  Tonanehmen,  die  Augen  za  schliessen, 
den  Kopf  abzuwenden,  Thränen  zu  vergiessen  und  der- 
gleichen! dann  werde  ich  sofort  aus  dem  innem  Objekt  des 


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22 


1.  Unbestimmtheit  des  grammatischen  Sinnes. 


Leuchtens  ein  äusseres  Objekt  und  ich  sage  «der  Schnee 
blendet  mich*.  Damit  glaube  ich  ein  gutes  Beispiel  geliefert 
KU  hAben  für  die  psychologische  Thatsache,  dass  ein  blosser 
Chradunterschied  einer  Naturthilktigkeit  aus  dem  intrandttTen 
Verbum  dn  trattsiti?e8  machen  kann.  Dass  wir  im  Deutschen 
zwei  Tcrschiedene  Verben  brauchen,  ist  ein  bloeser  Zufall. 
Akkoutiv.  Diese  scheinbare  ^bsdiweifimg  w&re  nidit  firnddlos 
gewesen,  wenn  sie  uns  auch  nur  dazu  gefuhrt  hütte,  dass 
eine  ungenaue  Psychologie  unklar  bald  den  Akkusatir  bald 
den  Dativ  fttr  das  gleicherweise  , leidende"  Objekt  stellen 
lässt.  Die  Abschweifung  war  aber  notwendig,  um  das 
Wesen  des  Akkusativs  besser  ids  bisher  zu  erklären  und 
daran  fügen  zu  können,  warum  sein  Sinn  unbestimmt  bleiben 
musste.  Wir  haben  gesehen,  dass  der  einfache  Satz  (Sub- 
jekt und  Prädikat)  nicht  eine  A.ssociation  von  zwei  Be- 
gritien  ist,  sondern  nur  die  Ansei nanderbreitunj^  Eines  Be- 
griffs. Mit  einem  Blick  lassen  sich  beide  Begriffe  unifas.sen, 
weil  der  eine  iiu  andern  enthalten  ist.  Das  Auge  braucht 
sich  gewisserraassen  beim  einfachen  Satze  noch  nicht  zu 
bewegen.  Mit  dem  einzigen  Hinweis  des  Zeigefingers  deuten 
wir  auf  das  Kind ,  das  schläft ,  auf  den  Baum .  der  blüht 
u.  s.  w.  Auf  ilas  ()])iekt  brauchen  wir  nicht  hinzuweisen, 
weil  das  Objekt  selbst  dem  Finger  die  Kichtung  gab.  Ich 
deute  mit  dem  Finger  aut  den  Baum,  der  blüht.  Vollzieht 
sich  die  Veränderung  aber  nicht  in  mir  selbst,  sondern  in 
der  Aussenwelt.  so  muss  ich  allerdings  das  Auge  bewegen, 
den  Finger  hin  und  her  fähren,  zwei  Begriüe  associieren. 
.Der  Fischer  hscht  den  Fisch",  ,der  Schlächter  schlachtet 
(las  Srhlarhtvieh*.  Ich  wähle  absichtlich  etymologisch  ver- 
wandte* Worit.  Die  einfachen  Sätze  .der  Fischer  fischt*, 
»der  Schlächter  schlachtet"  deuten  noch  auf  keine  Veräude- 
rung  in  der  Aussenwelt  extra  hin:  erst  wenn  eine  solche 
Veränderung  hei  vorgerufen  wir«!.  a'=s(H"iieren  wir  einen  neuen 
Begriff.  Und  die  Sprachen  haben  sicli  gewöhnt,  diejenigen 
Begriffe,  an  denen  «lie  durch  eine  Thätigkeit  hervorgerufene 
Veränderung  wahrneiimbar  wird,  in  der  Casusform  des 
Akkusativs  auszudrücken. 


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23 


Welches  soll  nun  d«r  gemeinsame  Sinn  dieses  Akku- 
sati'fs  sein?  Solange  wir  uns  im  Banne  der  Sprache  be- 
finden, werden  wir  ganz  einfadi  sagten:  er  bedeute,  dass 
der  Gegenstand  eine  Veronderung  erleide,  dasa  er  das  Ziel 
einer  Thätigkeit  sei  und  dergleichen  mehr.  Ein  genaues 
Hinhorchen  auf  unsere  e^jene  Sprache  muss  uns  aber  dar- 
über belehren,  dass  das  nur  bildliche  Worte  für  durchaus 
unvergkicbbare  und  unzusammenhängende  VerhUtnisse  sind. 
Kur  unter  dem  Banne  der  Sprache,  die  sich  eine  Analogie 
aller  AldEOsatiTe  eingeredet  hat»  um  den  Akkusatir  ana- 
logisoh  auf  alle  Objekte  anwenden  su  kdnnen,  werden  wir 
den  AkkusatiTen:  der  ScbUkhter  schlachtet  das  Bind,  ich 
liebe  die  Arbeit,  ich  schreibe  einen  Brief,  ich  nenne 
dich  mein  Heimchen,  Gelegenheit  macht  Diebe  n.  s.  w. 
einen  gemeinsamen  Sinn  unterlegen  kdnnen. 

Man  hat  ebenso  wie  beim  GenitiT  auch  beim  AkkusatiT 
eine  logische  Einieflnng  in  Tenchiedene  Bedeutungen  her- 
ausKufinden  gesucht  Ich  habe  vorhin  beim  GenitiT  den 
Punkt  nicht  erwihnt,  auf  den  ich  jefzt  hinweisen  muss. 
Angenommen  auch,  es  sei  eine  solche  logische  Einteilung 
da  oder  dort  möglich,  will  dann  irgend  ein  Grammatiker 
der  Welt  behaupten,  dass  beim  lebendigen  Gebrauch  der 
Casusfoiraen  irgend  ein  Bewusstsein  oder  auch  nur  die 
dunkelste  Ahnung  der  logischen  Einteilung  rorhanden  sei? 
Für  das  Sprachgeftlhl  des  Nichtgesdiulten  gibt  es  nur  einen 
GenitiT,  nur  einen  AkkusatiT.  Die  Unbestimmtheit  des 
Sinns  jeder  einzelnen  Oaimsform  ist  so  gross,  dass  nichts 
weiter  Qbrig  bleibt,  als  von  ihnen  zu  sagen:  sie  deuten  Be* 
Ziehungen  an.  Die  umgebende  Wirklichkeit,  respektiTe  die 
wacbgemfene  Erinnerung  an  sie  gibt  den  Casusformen  in 
der  jeweiligen  Anwendung  erst  ihren  besondem  Sinn.  Ich 
brauche  für  Fachleute  nicht  erst  hinzuzufügen,  dass  für  die 
flbrigen  Casus  noch  in  höherem  Hasse  gilt,  was  ich  fOr 
den  GenitiT  und  Akkusativ  nachgewiesen  habe. 

üebrigens  ist  die  Thatsache,  dass  wir  in  unseroi 
neueren  Knitntsprachen  mit  Wer  Casus  auskommen,  wih- 
rend  andenwo  (nach  der  Angabe  der  Sprachwissenschaft 


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24 


I.  Unbe«tiiamtheit  de«  gnunmatUcben  Sinnes. 


auch  in  der  t,ogenannten  Ursprache  der  Indo-Gernianen) 
acht  Casus  nötig  sind,  nur  ein  Beweis  dülüi ,  dass  die 
Sprache  in  ihrer  Entwickelung  allmählich  darauf  Verzicht 
geleistet  hat,  tilr  unbestimmte  und  unklare  Unterscheidungen 
besondere  Katecrorien  lest  m  halten.  Und  ich  bin  fest  Uber- 
zeugt davon:  Wenn  wir  nicht  die  vier  Casus  von  den  ^rrie- 
chischen  Schulmeistern  überkoniiuen  hatten  und  die  Sprache 
und  die  Grammatik  der  neuern  Sprachen  sich  nicht  hier 
und  überall  wechselseitig  beeinflusst  hätten,  man  würde  im 
Französischen  und  Englischen  längst  nicht  mehr  von  diesen 
Casustormeu  sprechen.  Ein  grammatisches  Genie,  meine 
ich,  das  ohne  Kenntnis  der  alten  Sprachen  und  der  ererbten 
Grammatik  einzig  und  allein  auf  das  Englische  oder  Fran- 
zosische aufgewiesen  wäre  und  eine  (iramraatik  einer  dieser 
Sprachen  schreiben  würde,  käme  gar  nicht  auf  den  (le- 
danken,  unsere  (Jasusformen  ant/.  istellen.  FIim  li^trus  würde 
es  sich  über  einzelne  selts;iMn  VVortver&nderungeu  ^wie  den 
sachsischen  Genitiv)  verwundern. 

Damit  auch  hier  die  Lächerliclikcit  der  Pedanten  nicht 
fehle,  ierncit  unsere  Schüler  als  eine  grammatische  Weis- 
heit, dass  du'  ('asusformen  die  Autworten  seien  auf  die 
Fragen:  Wer?  wessen?  wen»?  wen?  Und  Kinder  und  Gram- 
matiker glauben  mitunter  die  Bedeutung  oder  den  Sinn  der 
einzelnen  ('asusformen  in  diesen  Fragen  zu  besitzen,  leb 
brauche  kaum  lu  rvorzuheben,  dass  diese  Fragen  nichts  sind 
als  die  allgeiut  nisten  und  abstraktesten  Wii'derliolungen 
eben  der  (Jasusformen.  Nur  weil  wir  uns  in  dem  Irrtum 
befinden,  dass  jede  Casusform  einen  bestimmten  Sinn  habe, 
darum  bilden  wir  uns  ein.  die  allgemeine  (^asusform  (die 
Frage:  Wer':'  weisen?  wem?  wen?)  erkläre  uns  irgend  etwas. 
Dm  Oe-  Kürzer  kann  ich  bei  derjenigen  Sprachform  sein,  die 
•dhlflcbt  Geschlecht    heisst    und   bei   der   Erlernung  fremder 

Sprachen  eine  fast  unüberwindliche  Schwierigkeit  bietet. 
Man  sollte  daraus .  dass  verschiedene  Sprachen  und  selbst 
verschiedene  Dialekte  der  gleichen  Sprache  nicht  überein- 
stimmen in  dem  Geschlechte,  welches  sie  den  Dingen  bei- 
legen, die  Lehre  ziehen,  dass  Logik  und  Philosophie  mit 


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Dm  Geschlecht 


25 


uiustr  Kategorie  wenig  zu  schatten  liaben.  Wan  ist  üljer 
»He  Bedeutung  des  Geschlechts  niclit  Hlles  zusammengefal)elt 
worden!  Sicherlich  ist  ursprOngluh  die  Unterscheidung 
zwischen  den  getrenntt  ii  <  reschlechtern  der  wirklichen  Natur 
(Hengst  und  Stnte,  Mann  und  Frau)  der  Anlass  gewesen, 
dass  man  bildlich  den  Geschlechtsunferscbied  auch  auf  die 
Qbrigeii  Dinge  übertrug.  Es  kann  nicht  zweifelhaft  sein, 
dass  dabei  fine  üppige  Phantasie  thätig  war.  Jede  ge- 
schlechtliche Bezeichnung  eines  Dings  ist  metaphorisch. 
Während  aber  alle  Metapliern ,  durcli  welche  die  Sprache 
sich  sonst  bereichert ,  notwendig  und  nützlich  waren  und 
die  neue  Beobachtung  mit  Verwendung  des  alten  Wort- 
vorrats in  die  Sprache  aufnahmen .  musste  die  Einteilung 
der  Dinge  nach  Geschlechtern  you  jeher  ein  Luxus  sein, 
ein  Ballast. 

Zur  Mythologie  der  Sprache  gehört  also  das  Ge- 
schlecht der  Substantive.  Es  ist  natürlich  und  darum 
nicht  mythologisch,  wenn  das  dritte  persönliche  Fürwort 
für  die  beiden  Geschlechter  verschiedene  Formen  besitzt; 
auch  hat  die  englische  Sprache,  nachdem  sie  den  Ballast 
des  Geschlechts  sonst  fast  vollständig  abgeworfen  hat,  die 
Trennung  von  ,er"  und  »sie*  beibehalten.  In  irgend  einer 
I  rzeit  der  Sprache  m^  68  auch  natürlich  gewesen  sein, 
die  beiden  Geschlechter  einer  Tierart  mit  verschiedenen 
Worten  zu  bezeichnen,  das  heisst  nicht  mit  yerschiedenen 
Geschlechtsformen  desselben  Worts.  Es  ist  bezeicbnend, 
dass  diese  verschiedenen  Worte  Tiere  betrafen,  welche  als 
Haustiere  dem  menschlichen  Interesse  am  nächsten  standen. 
Die  eierlegende  „Henne"  war  ?on  anderem  Nutsen  als  der 
Hahn,  die  .melkende  Kuh*"  won  anderem  Nutzen  als  der 
Stier  u.  s.  w.  Immerhin  mag  es  noch  nicht  Mythologie, 
sondern  falsche  Naturkenntnis  gewesen  sein,  wenn  sodann 
weniger  intime  Tiere  bald  dem  männlichen,  bald  dem  weib- 
lidi!  II  Geschlechte  zugeteilt  wurden,  wie  bei  uns  der  Spatz, 
die  Meise.  Natürlich  war  es  wieder,  wenn  in  einer  spätem 
Sprachzeit  nach  der  Analogie  männlicher  und  weiblicher 
Endungssilben  aus  der  Spatz  ,die  Spätzin''  gemacht  wurde. 


26 


I.  Unbestinuntheit  des  grammatitcbea  Sinnes. 


was  M'olil  zuerst  dem  Sprachgefühl  als  ein  Scherz  erscheinen 
mochte. 

Wir  kennen  jedoch  du  l'liantusie  alter  Zeiten  zu  wcnii^, 
um  ebenso  einfach  erklären  zu  können,  wie  es  zu  der  Auf- 
stellung des  schematischen  und  unnatürlichen  dritten  Ge- 
schlechtes kam,  des  sächlichen,  und  warum  schliesslich  in 
vielen  Sprachen  die  Einordnung  jedes  Substantivs  unter 
diese  drei  Klassen  notwendig  wurde.  Es  ist  aber  ein  Ge- 
setz des  Sprachgebrauchs  geworden .  dem  sich  z.  B.  die 
Griechen,  die  Lateiner  und  die  Deutschen  unweigerlich  füjjfcn 
mussten.  Diesos  pliantastische  Gesetz  erinnert  an  die  Ge- 
wohnheit altnjodisclier  Künstler  und  Dichter,  Dutzende  von 
abstrakten  Wehrten  wie  Treue,  Liebe  und  Hoffnung  zu  Gott- 
heiten zii  erheben,  trotzdem  sie  in  der  reichhaltir^en  Mytho- 
logie der  Alten  nicht  vorkamen.  Im  Französischen  wird 
die  Göttlichkeit  soldier  Abstraktionen  durch  einen  grossen 
Anfangsbuchstaben  angezeigt.  Und  dieser  Vorgang  berührt 
sii  h  noch  näher  mit  dem  Atifkommen  der  sprachlirhen  Cre- 
schlechtskategorio.  wenn  wir  erwägen,  dass  so  ein  allst rakter 
Begriff  zu  einem  männlichen  Gott  und  zu  einer  wrihlithen 
(TÖttin  gemacht  wird .  je  nachdem  der  Zufall  der  Sprach- 
geschichte ihn  zugeteilt  hat:  ein  deutscher  Bildhauer  wird 
den  ^Fleiss"  als  einen  Jtingling  darstellen,  ein  französischer 
als  eine  Jungfrau. 
O«-  L^'^nter  den  neuem  K  iil[  Ursprachen  hat,  wie  gesagt,  das 

''ujad*"'  Enghsche  die  Geschlechter  bis  auf  wenige  Reste  hinaus- 
SpracU-  geworfen.  Das  Französis(  he  hat  wenigstens  das  dritte  Ge- 
gebmeb.  j-^y^dji^  entfe)  nt.  Wir  Deutsche  aber  fjuälen  nicht  nur 
fremde  \'ölker,  die  unsere  Sprache  erlernen  wollen,  mit 
imsern  drei  Geschlechtern,  sondern  auch  uns  selbst.  Man 
kann  zuverlässig  l)ehaupten,  dn«s  e«;  keinen  Deutschen  gibt., 
der  von  jedem  Substantiv  mit  Sicherheit  anzugeben  wüsste, 
welchen  Geschlechtes  es  sei.  Das  gilt  nicht  nur  für  Fremd- 
wörter, wo  der  und  das  Cölibat.  der  Magistrat,  das  Rekto- 
rat, der  Hexameter,  das  Barometer,  der  Liqueur,  die  Cou- 
leur, das  Douceur  gesagt  wird.  Auch  bei  deutschen  Worten 
.schwanken  die  Gelehrten  und  die  besten  Schrit'tstelier  ebenso 


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Geschlecht  und  Sprachgebrauch. 


27 


wie  das  Volk.    Selbst  Jacob  Grinini  weiss  nicht,  ob  nv.m 
der  Euter  oder  das  Euter  sjifren  solle.    In  solt^hen  Fällen 
ist  auch  auf  Goethe,  Lessiug  und  andere  kein  Yerlass,  weil 
der  Sprachgebrauch  sich  verändert  hat  (mitunter  auf  die 
Autorität  eines  Wörterbuches  hin)  und  z.  B.  der  Ungestüm 
verlangt,  wo  Schiller  noch  das  UngestUui  .sehrieb.  Ganz 
willkürlich  hat  der  Sprachgebrauch  dann  mitunter  die  Ge- 
schlechtsbezeichnung zu   einer   Aenderung  der  Bedeutung 
benützt  wie  bei  der  Band  und  das  Band,  der  Yer  lii  iwt 
und  das  Verdienst,  der  Chor  und  das  Chor.    Wieder  m 
anderen  Fällen  gilt  das  enie  Geschlecht  für  poetischer  als 
das  andere;  der  l^ueii  ist  poetischer  als  die  Quelle,  aber 
in  der  bildlichen  Darstellung  ist  die  (lottheit  des  poetischen 
^'ik  Us   wieder   ein  Frauenzimmer,    in   Anlehnung  an  die 
Antike.     Docii   auch  hier  i.st  di»'  Plsantiisie  nicht  konse- 
quent.   Die  Donau   ist  ein  Weibchen .   der  Rhein  ist  ein 
alter  Herr,  trotzdem  beide  Flüsse  im  Lateinischen  männlich 
waren.    Es  ist  überflüssig,  die  Beispiele  zu  häufen:    m m 
kann  sie  bei  Andresen  (Sprachgebrauch,  S.  40  und  loigende) 
hübsch  bei  einan  ler  finden.  Wie  sehr  aber  unsere  Phantasio 
von   der  Geschlechtsmythologie  unserer  Sprache  abhängt, 
das  erfahren  wir  aus  der  Schwierigkeit,  die  uns  das  ver- 
änderte Geschlecht  anderer  Sprachen  macht,   und  aus  un- 
serem  albernen  Tjachen .   wenn   ein  Ausländer  gegen  die 
Genusregeln  unserer  Sprache  sündigt.    Wir  sind  in  diesem 
nivthologisrhen  Punkte,  wie  immer  in  KeligioDssacbeu,  em- 
piindiicher  als  sonst. 

Wenn  wir  nicht  die  besitzenden  Sklaven  einer  solchen 
geschlechtsfrohen  Kuitursju  ache  wären,  wenn  wir  ausserhalb 
stünden  und  nun  hören  würden,  dass  unsere  Geschlechts- 
klassifikation  eine  Ausnahme  bilde  unter  den  Sprachen  der 
Erde,  dass  die  meisten  Sprachen  das  Geschlecht  gar  nicht 
kennen,  dass  z.  B.  die  Elskimo  die  Dingwörter  in  belebte 
und  unbelebte  einteilen:  so  müssten  wir  wohl  unbefangen 
die  Sprachphantasie  der  Eskimo  bewundem  und  unsere 
eigene  Geschlechtsphantasie  barbarisch  finden. 

Die  genauere  Sprachgeschichte  der  Geachlechtekategorie 


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28  '     Unbestimmtheit  des  grammatischen  Sinnes. 


ist  in  Dunkel  gehüllt.  Aber  anch  die  Oasmformeii  der 
Terechiedenen  Geschlechter  in  den  alten  Sprachen  ftthren 
historisch  zu  einem  fthnUchen  Ergebnis,  wie  die  unge- 
lehrte  Betrachtung  der  Thatsache  selbst»  Nach  der  Ana* 
logie  natOilicher  Beaeichnungen  weiblidier  Tiere  mag  sich 
in  einigen  Sprachen  eine  weibliche  Deklination  von  der 
mSnnliehen  deutlich  nntwsehieden  abgezweigt  haben  und 
diese  Analogie  mag  dann  Terallgemeinert  worden  sdn  wie 
Dm  andere  Analogien.  Das  i^chliehe  Qeschlecht,  das  auf  Iia* 
teinisch  so  ehrlich  das  genus  neutrum  heisst,  sieht  Ter- 
sebiedit.  zweifelt  der  Schrulle  irgend  eines  yorzeitlichen  Grammatikers 
ähnlich,  die  dann  durch  irgend  eine  geistige  Mode  zu  einem 
Sprachgesetz  wurde.  Es  spricht  vid  daf&r,  dass  sich  diese 
Geschlechtskategorie  auf  solche  Weise  entwickelt  habe.  Der 
natürliche  Gegensatz  zwischen  dem  männlichen  und  weib- 
lichen Geschlecht  ist  in  den  alten  Deklinationen  und  auch 
im  Deutschen  viel  deutlicher  ausgeprägt  als  der  künstliche 
Gegensatz  zwischen  dem  niünulichen  und  dem  sächlichen 
Geschlecht.  Vielleicht  waren  in  irgend  einer  vorhistorischen 
Zeit  die  Dingwörter  der  bereits  mit  Dingwörtern  versehenen 
Sprachen  f^anz  anders  eingeteilt,  vielleicht  galt  der  Unter- 
schitii  der  beiden  Geschlechter  nur  den  belebten  Dingen 
und  das  Sprachgefühl  kannte,  wie  noch  heute  bei  den  nord- 
amerikanischen Stämmen,  daneben  die  Einteilung  in  eine 
belebte  und  eine  unbelebte  Klasse.  Es  war  dann,  wenn 
diese  „Hypothese"  richtig  ist,  die  Kategorie  der  Ünbelebtheit 
oder  Sächlichkeit  später  als  drittes  Geschlecht  zu  den  beiden 
natürlichen  hinzugetreten.  Alten  Grammatikern  ist  so  etwas 
zuzutrauen  und  niemand  wird  leugnen,  dass  unser  Sj^rach- 
gefUhl  mit  dem  dritten  Geschlecht,  dem  genus  neutrum,  den 
Begriff  der  unbelebten  Sächlicbkoit  verbindet,  wie  es  denn 
auch  im  Deutschen  jetzt  das  sächliche  Geschlecht  genannt 
wird,  während  „ucutre"  im  Französischen  negativ  ist  und 
auch  „geschlechtslos"  bedeutet. 

Für  diese  Annahme  würde  auch  die  Beobachtung  spre- 
chen, dass  sehr  liäufi<r  das  dritte  (ieschlecht  gar  keine  Ge- 
schlechtseudung  hat,  sondern  sich  zu  der  männlichen  Form 


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Das  dritte  Geschlecht. 


29 


etwa  so  TerlUUt  wie  der  Wortstamm  cum  NooiinaliT  s.  B. 
in  den  griechisclieii  Endmigeii  -o«,  -sut,  -t>.  Ei  konnte 
darum  das  dritte  Geeohlecht,  welchea  die  semitiaeheii  Spra- 
dien  gar  nidit  kennen,  in  den  romanisehen  SjHraclien,  wie 
im  FranaSsisclien,  so  leicht  wegfallen.  Dahin  mag  es  auch 
gehören,  dass  im  Deutschen  ein  wmbHdies  Wort  zum  säch* 
liehen  werden  kann»  wenn  es  seine  Endsilbe  Terloren  hat; 
aas  «die  Ecke*  wird  so  «das  Eck'. 

Wir  können  yermuten,  dass  auch  bei  dieser  allge- 
meinen ümformierungsmode  die  grammatische  Regel  einen 
unheilTollen  Einfluss  auf  die  lebendige  Sprache  gewann. 
Wir  können  uns  recht  gut  eine  alte  Zeit  vorstellen,  in  welcher 
die  Phantasie  des  Volkes  das  heisst  die  damalige  wissen- 
schaftliche Ueber/eugung,  in  vielen  Dingen  ausser  den  Tieren, 
in  Bäumen,  Flüssen  und  dergleichen  menschenähnliche  Wesen 
sah,  wie  sich  das  ja  auch  not  h  in  der  niedern  griechischeu 
Mythologie  ausspricht.  Wir  brauchen  nur  noch  etwas  weiter 
hinter  die  naturwissenschaftlichen  Irrtümer  des  Aristoteles 
zurückzugehen,  etwa  in  eine  Zeit,  wo  die  Fa))eln  des  Aesop 
noch  Hiebt  eigentlich  als  Märchen  wirkten,  sondern  der  gleich- 
zeitigen wissenschaifclichen  Weltanschauung  entsprachen,  um 
uns  auszudenken,  wie  zahlreiche  Dinge  geschlechtlich  vor- 
gestellt wurden,  wie  uia.u  m  gutem  Glauben  etwa  sagte: 
Der  Kheiu-Mann,  die  Eich-Frau.  Wo  die  Phantasie  einen 
solchen  Zusatz  nicht  verlangte,  gab  es  eben  kein  Geschlecht. 
E«5  ist  wohl  kein  Zweifel ,  dass  iu  ähnlicher  Weise  einmal 
audi  die  Deklination  der  Substantive,  die  Konjugation  der 
Verben  uud  die  Steigerung  der  Adjektive  unvollständig 
waren.  Erst  als  all  diese  Kategorien  den  redenden  Menschen 
so  weit  zum  Bewusstsein  kamen,  dass  die  Ahnung  einer  ge- 
wissen Gleichmässigkeit  wirksam  wurde,  da  wurde  die  Uni- 
form der  Deklination,  der  Konjugation  und  der  Steigerung 
aUen  Substantiven,  Verben  und  Adjektiven  aufgenötigt  und 
die  Sprachen  bereicherten  sich  so  durch  eine  Analogie,  die 
ursprünglich  falsch  genannt  w(M-den  musste,  l»illig  und 
schlecht,  mit  einer  Un/Bhl  neuer  Wortformen  (vergl.  11. 
89  f.).    Was  aber  lu  diesem  neuen  Gebrauch  schematisch 


20  I*  üübettiimntlwit  des  gnuniiiatiteh«n  SinneB. 

▼ollstftndiger  Deklinationen  und  Konjugationen  immerhin  eine 
grössere  Gelenkigkeit  der  Spracbc  Ijedeutete,  das  wurde  im 
aUgemeinen  Qebraueh  der  Gesdüechtebezeiclinung  zu  einem 
Hemmnis  der  Sprachen,  zu  ebem  phantastiaehen  Spiel, 
deasen  sich  die  Indianersprachen  schämen  würden.  Mich 
gemahnen  die  OeschkchtsbezeichnuDgen  der  Sprachen  leicht 
an  die  obscdnen  Kritzeleien,  mit  denen  unntttze  Bubenhinde 
alle  Wände  beschmieren. 

Wie  aber  diese  Kritzeleien  in  ihrer  Hauptmasse  einer 
sexuell  männlichen  Phantasie  angehdren,  so  ist  unsre  ganze 
Sprache  —  will  man  sie  einmal  darauf  hin  betrachten  — 
eine  Männersprache,  nidit  anders  als  unser  Redit  ein  ICänner* 
recht  ist.  Nicht  nur,  wenn  sie  Bücher  schreiben  wollen, 
verkleiden  sich  Frauen  zu  Männern.  Die  Frau  sagt:  «Ich 
bin  der  Herr  im  Hause**;  und  hat  sie  damit  Unheil  ange- 
richtet, so  findet  sie  nachher,  sie  sa  ein  Esel  gewesen* 
«Eselin*  wäre  ein  ganz  falsches  Bild  (Tergl.  Polle,  «Wie 
denkt  das  Volk  u.  s.  w.*  2.  Aufl.  3.  105).  Der  lustigste 
Bel^  für  meine  Anschauung  ist  bei  Polle  nicht  zu  finden. 
Pankraz  der  Schmoller  (in  Kellers  Novelle)  sagt  zu  seiner 
Schönen,  die  doch  eigentlich  nur  eine  Gans  ist:  «O  Fräu- 
lein! Sie  sind  ja  der  grSsste  Esel,  den  ich  je  gesehen  habe.* 
Und  er  fQgt  sprachphilosophisch  hinzu:  «Nur  wir  Männer 
können  sonst  Esel  sein,  dies  ist  unser  Vorrecht*  (weil  auch 
kluge  Leute  Eseleien  begehen  können),  «und  wenn  ich  Sie 
auch  so  nenne,  so  ist  es  noch  eine  Art  Auszeichnung  oder 
Ehre  für  Sie.* 

Man  kann  sagen,  dass  beim  bildlichen  Gebrauch  solcher 
Worte,  auch  bei  Uebertragung  von  Berufsworten  auf  Frauen  • 
(Arzt  und  dergleichen)  das  männliche  Geschlecht  neutral  sei. 

Die  Erfindung  des  dritten  Geschlechts,  des  Neutrums, 
erscheint  mir,  trotzdem  ich  in  meiner  Muttersprache  unter 
dem  Banne  dieses  dritten  Ges<dilechts  rede,  eine  der  ab- 
geschmacktesten und  albernsten  Erfindungen  des  Sprach- 
geiätes  zu  sein.  Freilich  gehe  ich  so  weit,  in  der  Einteilnng 
der  Substantive  nach  Geschlechtern  eine  vorübergehende 
Mode  zu  sehoi,  die  allerdings  ein  bisschen  lange  gedauert 


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Plunl. 


31 


liai,  n&mlich  seit  Jahrtausenden.  Aber  es  kann  kein  Zweifel 
daran  sein,  dass  in  üneiten  die  Worte  noch  kein  Geschlecht 
hatten  und  es  ist  eine  Thatsache,  dass  die  modernste  Welt- 
sprache der  Ck^nwart,  das  Englische,  Aea  Oesqhleehts- 
unterschied  bis  auf  wenige  Spuren  getilgt  hat.  Wir  kdnnen 
uns  also  den  Anfang  dieser  bescmdem  Metapher  vorstellen 
und  ihr  Ende  bereits  Toraus  ahnen.  Haben  einst  unsere 
Sprachen  erst  den  Luxus,  jedem  Bing  ein  Geschlecht  bei- 
zulegen, wieder  abgelegt,  dann  werden  sie  Tielleicht  auf  den 
früheren  Zustand  surttckblicken,  wie  wir  etwa  auf  den 
Suphuismus,  den  luzurierenden  Bilderreichtum,  wie  er  leider 
immer  noch  bei  Shakespeare  bewundert  wird. 

Die  Sprachform  der  Geschlechtsbeseichnung  gibt  also 
aberhaupt  kein  bestimmtes  Bild.  Irgend  ein  Zufall  der  End- 
silbe hat  in  den  alten  Sprachen  die  Phantasie  analogisch 
gelenkt,  als  es  einmal  Regel  geworden  war,  den  einselnen 
Worten  ein  Geschlecht  beisulegen.  Selten  nur  hat  das  Bild 
Oberhaupt  einen  Sinn  gehabt;  es  ist  meiBt  rein  SprachTcr- 
aemng  gewesen.  Der  Gebrauch  des  nach  Geschlechtem  ge- 
trennten Artikels  in  neueren  Sprachen  hat  den  Geschlechts- 
unterschied womöglich  noch  ftusserlicher  gemacht  Der  Ge- 
schlechtswandel ist  darum  eine  sehr  häufige  Erscheinung,  auch 
innerhalb  einer  und  derselben  Sprache.  Es  ist  eine  habsche 
Beobachtung,  dass  im  Deutschen  besonders  solche  Worte, 
welche  am  Itiiufigsten  in  dem  geschlechtslosen  Plunü  ge- 
braucht werden,  bei  denen  also  die  Geschlechtsbezeichnung 
des  Singulars  weniger  eingeübt  war,  ihr  Geschlecht  am  leich- 
testen verändert  haben.  .Woge",  «Thiine*  waren  im  Mittel- 
hochdeutschen m&nnlich;  «Wolke",  .Waffe"  waren  im  Mittel- 
hochdeutschen sichlicfa. 

Selbst  die  Sprachform  der  Mehrzahl,  die  doch  eine  viel  pia»i. 
klarere  Bedeutung  hat  als  Casus  oder  ^ar  Geschlecht,  ist 
nicht  so  bestimmt  wie  man  glauben  sollte.  Alte  Mehrheits- 
sngaben  wie  «Schock",  ^ Mandel",  „Dutzend*  werden  in 
vielen  Sprachen  singularisch  gebraucht.  Unser  .Geschwister" 
war  noch  bis  ins  18.  Jahrhundert  hinein  der  Singular 
.das  Geschwister*^.  Die  Bezeichnung  der  christlichen  Feste: 


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32  1*  Uabeitimmllidi  de«  gsammatudieii  SiniiM. 

Ostern,  Phngsten,  Weihnachten  sind  Singulare  f^eworden, 
ebenso  das  Wort  «Buch",  das  Althochdeutsch  (Buchstaben I 
ein  Plural  war.  Umgekehrt  wird  im  Englischen  „pcople** 
al^  Plural  gebraucht,  und  das  gleichbedeutende  altdeutsche 
„liut*  hat  sich  auch  formell  in  den  Plural  ^  Leute**  Ter- 
wandelt.  Wir  empfinden  eine  ganze  Anzahl  sehr  häufig  ge- 
brauchter Worte  wie:  „Drei  Fuss",  «sfiehnMark'*,  ,20  Pfund", 
,,tau<;end  Mann**  als  Singulare,  wenn  auch  einselne  davon 
ehemalige  Phirale  sein  mögen.  Und  gerade  in  diesen  Fallen 
ist  doch  die  Vorstellung  der  Mehnahl  durch  das  voran- 
gestellte Zabhvort  am  deutlichsten  gemacht,  ohne  dass  die 
Sprachform  der  Mehrzahl  nötig  wäre. 

Der  Sinn  dieser  Sprachform  wird  auch  dadurch  unbe- 
stimmtf  dass  sie  zwei  ganz  verschiedene  Mehrheiten  des  Be- 
griffs bexeichnen  kann,  nämlich  entweder  mehrere  Dinge 
derselben  Art  oder  mehrere  Arten  desselben  Dings.  Sind 
mehrere  Dinge  derselben  Art  gemeint,  so  liegt  die  Mehr- 
zahl eigentlich  schon  im  Begriffe  selbst.  Es  ist  auch  im 
Gedanken  vollkommen  gleich  ob  ich  sage:  „Der  Mensch  ist 
sterblich*  oder  „die  Menschen  sind  sterblich*.  Es  ist  darum 
eine  verkehrte  Ausdrucksweise,  wenn  man  ewig  die  Regel 
wiederholt,  dass  StofEnamen  keine  Mehrzahl  haben.  «Der 
Sand*  ist  dem  Sinne  nach  eine  Mehrzahl.  Umgekehrt  em- 
pfinden wir  die  Namen  Ton  Krankheiten  wie  «Blattern*, 
ttMasem*  u.  s.  w.  als  eine  Binzahl.  Wo  wir  aber  Stoffe 
nach  Arten  onterscbeiden ,  da  können  wir  auch  sprachlich 
eine  Mehrzahl  bilden  s.  B.  «die  Weine  seines  Kellers*. 
PBMivvm.  Nicht  ganz  so  offen  auf  der  Hand  liegt  die  TJnbestimmt- 
beit  des  Sinnes  bei  den  Sprachformen  des  Yerbnms.  Wer 
seinen  robusten  Glauben  an  sein  YerbSltnis  zur  Wiriüidi* 
keitswelt  nicht  durch  Nachdenken  verloren  bat,  der  wird 
besonders  die  Zeitformen  des  Yerbums  für  ausserordentlicb 
logische  Bestimmungen  halten;  ebenso  den  ünterscbied  «wi- 
schen ActiTum  und  Passivum.  Wir  sind  so  unüberwindlich 
daran  gewöhnt,  unsem  Worten  den  Sinn  au  geben,  den 
unsere  Vorstellungen  durch  die  begleitenden  Umstände  er- 
halten, dass  wir  natOrlicb  —  und  vom  Standpunkte  der 


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Psnivinii» 


33 


WirUichkeit  mit  Recht  —  einen  grossen  ünterschied  sehen 
swischen  «ich  ecblage  meinen  Bruder*  und  .ich  werde  Tcm 
meinem  Bruder  gesehlagen*.  Nun  kann  aber  kein  Zweifel 
daran  sein,  dass  die  Sprache  in  Urzeiten,  ebenso  wie 
heute  die  Sprache  eines  Kwe^lhrigen  Kindes,  keinen  Unter- 
schied machte  twischen  ActiTum  nnd  PassiTum.  »Bruder 
schlagen*  ruft  das  Kind  und  die  Hutter  erfUirt  mit  ToUer 
Deutlichkeit  aus  den  begleitenden  Umstinden  (dem  weiner- 
lichen oder  triumphierenden  Ton,  der  Stirke  und  der  Ge- 
wohnheit der  Kinder  und  dergleichen)  was  gemeint  ist. 
Wenn  wir  uns  erinnern,  was  eben  Uber  das  Wesen  des 
AkkusaÜTs  gesagt  worden  ist,  so  werden  wir  das  Passivum 
nicht  nfther  erklAren  können  als  durch  die  Thatsaehe,  dass 
es  Verinderungen  in  der  Aussenwelt  beseidine.  Der  Unter- 
schied Tom  ActiYum  besteht  nur  darin ,  dass  die  Aufinerk- 
samkeit  sunSohst  und  mit  voUem  Licht  auf  den  Gegenstand 
gelenkt  wird,  an  dem  die  Veiftnderung  siehtbar  wird.  Das 
Kind  ruft  z.  B.  ausnahmsweise  einmsi  so  tonlos  ^Bruder 
schlagen*,  dass  die  Uttiter  meint,  es  habe  den  Bruder  ge- 
schlagen* Sie  sankt.  Darauf  kann  das  Kind  ohne  Kenntnis 
des  Passivnms  ganz  gut  so  sich  ausdrucken:  »Ich  . . ,  schla- 
gen . . .  Bruder,*  wenn  es  nur  durch  Ton  oder  Oeste  den 
Bruder  als  die  handelnde  Person  hinstellt. 

Der  aufmerksame  Leser  wird  schon  bemerkt  haben, 
dass  diese  Erklärung  ron  ActiTum  und  Passivurn  so  ziem- 
lieh  zusammenfällt  mit  meiner  Erklärung  der  transitiven  und 
intransitiTen  Verben.  »Ich  fälle  die  Bäume"  ist  Transi- 
tiTum  und  Actirum;  „die  Bäume  fallen"  lässt  sich  aber 
ebenso  gut  als  Passivum  wie  als  Intransitivum  auffassen. 
-Die  Bäume  fallen"  unterscheidet  sich  • —  wenn  ich  es  all- 
gemein als  ein  Beispiel  ausspreche  —  ijaii/.  imd  gar  nicht 
von  ,die  Jiiiujiic  werden  gefällt".  Nach  iiiHinpni  Sprach- 
gefühl ist  alit  r  in  der  wirklichen  Sprache  eiiu-  Nuance  zwi- 
schen -die  Baume  fallen  (unter  dem  Beil  des  Holzhauers)" 
üu  l  -die  Biiunie  lallen  (durch  den  Sturmwind)".  Den  zweiten 
Satz  empfinde  ich  als  einen  bildhchen,  einen  poetischen  Aus- 
druck. Das  wäre  ebenso,  wenn  ich  gesi^t  hätte,  „die 
MAtttbaer.  Bettrtge  sn  dnor  KrHtk  d«r  Sprache.  JH.  8 


Z4i  I.  Uiib«rtiiiiintli«it  d«  gnunmatuelMii  8iiu«s* 

Bäume  werden  vom  Holzhauer,  sie  werden  vom  Sturmwind 
gefällt".  Das  eine  Mal  ist  die  handelnde  Person  wesentlich, 
welche  die  Veränderung  am  Aussending  hervorbringt,  das 
andere  Mal  ist  sie  mehr  eine  beschreibende  Zuthat. 

Aber  die  Unbestimmtheit  erstreckt  sich  noch  weiter  als 
auf  so  feine  Empfindungen  des  Sprachgeftlhls.  Wir  können 
das  an  den  modernen  Sprachen  deutlich  zeigen. 

Das  Passirum  wird  ausgedrückt  durch  ein  Hilfszeitwort 
und  das  Participium  perfecti  des  Verbums.  Im  Englischen 
and  Französischen  dient  dazu  das  Hilfszeitwort  «sein" :  I  am 
loved,  je  suis  aim^.  Darin  liegt  —  nebenbei  bemerkt  — 
deutlich  ausgedrückt  wie  das  äussere  Objekt  zum  innem 
Objekt  wird.  Der  Vorgang  ist  das,  \tas  uns  klar  ist.  War 
die  Aufmerksamkeit  mehr  auf  den  Schnee  gerichtet,  so  lautet 
der  Ausdruck:  «Der  Schnee  blendet  mich."  War  die  Auf- 
merksamkeit mehr  auf  mich  selbst  gerichtet,  so  lautet  der 
Ausdruck:  „Ich  bin  geblendet*^  (das  deutsche  Hilfszeitwort 
«werden"  gibt  nur  mit  intimerer  Beschreibung  noch  die 
Nuance,  dass  ehen  eine  Veränderung  vor  sich  gehe). 

Wenn  ich  nun  behauptet  habe,  es  sei  ein  sprachgeschicht- 
lieber  Zufall,  dass  Eigenschaften  der  Dinge  bald  durch  Ad-> 
jektive,  bald  durch  Verben  ausgedrückt  werden  (ist  grQn  ~ 
grünt>  scheint  mir  im  sogenannten  Passivum  das  tran- 
sitive Verbum  zum  Eigenschaftswort  zurückzukehren.  «Der 
Baum  ist  grün**  und  „der  Baum  ist  (wird)  gefallt*  unter- 
scheiden sich  ja  nur  darin,  dass  das  erste  Mal  die  Eigen- 
schaft, das  Merkmal,  der  Sinneseindrucfc  von  mir  bereits 
vorgefunden  wird,  so  dass  ich  ohne  besondern  Anlass  nicht 
nach  der  Ursache  frage ;  das  ganze  Werk  der  Naturwissen- 
schaft besteht  vielleicht  darin,  dass  von  fibermütig  wissens- 
durstigen  Menschen  dennodk  nach  der  Ursadie  von  Eigen- 
schaften gefi'agt  worden  ist,  die  durch  A^jdctive  und  in- 
transitive Verben  bezeichnet  werden  und  die  wir  vörfinden 
ohne  eine  Terinderong  wahrgenommen  zu  haben.  Das 
zweite  Mal  (der  Baum  ist  [wird]  gefällt)  sehe  ich  die  Eigen- 
schaft vor  meinen  Augen  entstehen,  «werden* ;  ich  filhle 
mich  daher  auijgefordert  nach  der  gewöhnlich  sehr  hknd- 


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greiflielien  Ura»che,  z.  B.  nach  der  handelnden  Person  zu 
fragen.  Beidemal  aber  bemerke  ich  eine  Eigenschaft.  Das 
Partidpium  Perfecti  isi  ein  Eigenschaftswort.  Im  Passivum 
ist  das  Zeitwort  zn  einem  Bigenschafiswort  geworden,  wie 
es  vielleicht  in  Vrxeiten  der  Sprache  ganz  und  gar  mit  dem 
Eigenschallswort  zusanunenfid. 

Und  nun  achte  man  darauf,  wie  unbestimmt  dieses 
Partidpiam  PerÜBCti  ist,  wenn  man  es  feinhörig  auf  aktiven 
oder  passiven  Sinn  untersucht.  Eigentlich  unterscheidet  sich 
dieses  Partidp  des  Perfekts  der  transitiven  Yerbeii  gar  nicht 
vöm  Parlicip  der  Gegenwart  der  intransitiven  Verben.  „Der 
Baum  ist  gefallt*  und  »der  Baum  ist  UOhend'*.  ■  Ich .  kann 
zwischen  dem  Passivum  und  dem  Activum  keinen  andern 
Unterschied  sehen  als  den  stftrkem  oder  geringem  Anreiz, 
nach  der  Ursache  einer  Eigenschaft  zu  fragen. 

Als.  etwas  Bekanntes  ftlge  idi  hinzu,  dass  eine  ganze 
Anzahl  solcher  pasnver  Partidpien  ganz  und  gar  zu  Eigen- 
sdiaftswdrtem  (in  aktiver  Bedeutui^f  also)  geworden  sind: 
ein  erfahrener  Mann,  ein  verdienter,  ein  (weit)  gereisteri 
ein  studierter  Mann  u.  s.  w.  Dazu  kommen  ähnliche  Worte, 
die  sich  erst  im  Sprachgebrauch  festzusetzen  suchen  wie: 
Stattgefunden,  stattgehabt.  Goethe  sagt  einmal:  „Das  dem 
Grafen  befallene  Unglück." 

Ich  habe  vorhin  gesagt,  der  einfache  Mann  mit  seinem  Gegea« 
robusten  Wirklichkeitsglauben  werde  namentlich  den  ver- 
schiedeneu  Zeitfortneu,  die  dofh  zu  den  wichtigsten  Kute- 
gorieii  der  Sprache  gehören .  einen  besonders  l)estimmten 
Sinn  zugestehen.  Nichts  scheint  deutlicher  zu  .?eiii,  als  die 
Stellung  des  Menschen  in  der  Zeit.  So  zuverlässig  wie  die 
Begriffe  von  rechts  und  links  scheinen  die  von  Vergangen- 
heit und  Zukuiiti :  und  der  Standpunkt  des  Menschen  zwi- 
schen rechts  und  luiks  ist  dann  der  Zeitpunkt  der  Gegen- 
wart, Ich  will  keinen  Wert  darauf  legen,  dass  der  Begriflf 
.Gegenwart"  ein  recht  dehnbarer  Begritr  ist.  Wenn  ich 
^age:  ,,Die  Urmenschen  kannten  kein  Feuer,  jetzt  ist  der 
Gel»! auch  des  Feuers  über  die  ganze  Erde  Terbreitet,"  so 
umtas.st  dieses  njetzt",  diese  Gegenwart,  ungezählte  Jahi'- 


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36 


L  Unbestimmtbeit  des  grammatucben  Sinntt. 


tausende.  Wenn  ich  sage:  „Jetzt  regiert  Wilhelm  II.,*  so 
liegt  der  Umfang  dieser  Gegenwart  einige  Jahre  zurück, 
während  ihr  Phide  unbestimmt  ist,  aber  imr  innerhalb  einer 
yerhältni.smässig  kleinen  Anzahl  voti  Jahren.  Wenn  ich 
sage:  «Jetzt  schlägt  er  zu,"  so  umfasst  die  Gegenwart 
einen  sogenannten  Augenblick,  in  Wirklichkeit  je  nach 
Umständen  einen  nach  vielen  Sekunden  messbaren  Zeit- 
raum. Der  Psychologe ,  der  die  Schnelligkeit  von  Sinnes- 
eiüdrücken  und  Reflexbewegungen  studiert.  arl)eitet  mit 
Apparaten,  deren  Jetzt  sich  auf  ein  Hunderstel  emer 
Sekunde  beschränkt.  Aber  immerhin  können  solche  Dif- 
ferenzen als  blosse  Gradunterschiede  aufgefasst  werden. 
Es  liegt  dann  die  T'^hIm  stunmtheit  des  Ausdrucks  in  den 
Begriffen  und  nicht  m  der  grammatischen  Kategorie  (xegen- 
wart. 

Zeiten.  Die  Vergleichung  /.wisrben  dem  Zeitpunkt  des  Redenden 

und  seinem  räumlichen  JStandiiunkt,  der  ihn  in  die  Mitte 
von  rechts  und  links ,  oben  und  unten ,  vorn  und  hinten 
st«llt,  bringt  mich  nun  —  bevor  ich  weiter  gehe  —  zu  der 
Beobachtung,  dass  danach  es  auch  ein  Zufall  genannt  werden 
IDUSS,  wenn  gerade  die  Kategorie  der  Zeit  sich  am  Verbum 
so  ausserordentlich  reich  entwickelt  hat,  während  die  Kate- 
gorie des  Raums  sdemlich  formlos  durch  Adverbien  bezeichnet 
wird.  Wir  dürfen  uns  durch  den  geistigen  Zwang  nicht 
irre  machen  lassen,  welchen  unsere  bekanntesten  Sprachen 
auf  uns  ausüben;  noch  weniger  dürfen  wir  es  als  selbst- 
verständlich hinnehmen,  dass  man  das  Verbum  um  seiner 
entwickelten  Zeitformen  willen  im  Deutschen  „Zeitwort* 
genannt  hat.  Die  Sprachentwickelung  hätte  ebenso  gut  den 
entgegengesetzten  Weg  nehmen  können,  nämlich  so,  dass 
z.  B.  die  Richtung  nach  vom  und  hinten  durch  besondere, 
unseren  Zeitformen  entsprechende  Raumformen  des  Yerbnms 
ausgedrückt  worden  wäre,  dass  die  Begri£fe  der  Vergangen- 
heit und  der  Zukunft  durch  eine  genauere  Ausbildung  der 
Adverbien  »früh"  und  »spät"  bezeichnet  wurden.  Entspricht 
doch  sogar  in  den  bestehenden  Sprachen  die  Möglichkeit, 
diese  Adverbien  zu  steigern  (frOher,  später)  in  mancher  Be- 


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Zeiten. 


37 


xiehang  den  kompUziertereii  Zeitformen  von  Yergaiigeiiheit 
und  ZukaafL 

Wenn  ick  hier  wie  an  vielen  andern  Stellen  die  Aus- 
bfldung  unserer  granunadschen  Kategorien  als  ein  Werk 
des  Zufalla  kinsteUe,  so  will  ick  damit  natOrlich  nur  sagen, 
dass  die  pkiloeopkische  Begründung  unserer  Grammatik  ein 
Irrtum  sei.  Diese  pkflosopkisdie  Ghsnuaatik  denkt  ebenso 
wie  Hegel,  der  alles  WirkUcke  ▼emOnftig  findet,  weil  es 
ist  Etwas  anderes  ist  es,  die  gegenwärtige  Kultur  Europas 
mOglickst  kistorisek  zu  erkliren,  etwas  anderes  sie  als  logisch 
notwendig  beweisen  zu  wollen.  Die  Spracke  ist  ein  Teil 
dieser  Kultur.  Notwendig  im  Sinne  der  KaturwiBsenscbaft 
ist  natürlick  auck  in  meinen  Augen  jede  Sprackform,  jedes 
Wort,  jeder  Laut;  notwendig  nur  in  dem  Sinne,  dass  jede 
Yerftnderung  eine  notwendige  Folge  vorangegangener  Yer- 
inderungen  war.  Wie  logiscke  Notwendigkeit  ttberkaupt 
ein  ünsinn  ist,  so  ist  auek  der  Lautwandel,  die  Wortbildung 
und  die  Formenentwickelung  nickt  logtsck  notwendig  t  sie 
sind  alle  im  Terhültnis  zu  der  Welt  der  Möglichkeiten  nur 
snfallig.   Notwendigkeit  ist  nickt  Gesetzmässigkeit 

In  unserm  besonderen  Falle  ist  auck  der  Grund,  wes- 
halb gerade  die  Zeitrerklltoisse  sack  formdkaft  gestalten 
konnten,  wikrend  die  RaumTerkftltnisse  immer  besonders 
augegeben  werden  mflasen,  lelcbt  einzoseken.  Wir  winen, 
dass  der  Raum  sick  nack  drei  Dimensionen  erstreckt,  zu 
denen  dann  die  Zeit  die  Tierte  Dimension  darstellt.  Die  Zeit 
▼erttuft  in  einer  einzigen  Richtung,  und  es  war  sehr  Tiel 
leichter,  diese  einzige  Richtung  nach  ihren  VerhSltnissen 
durch  blosse  Verbalformen  darzustellen,  als  die  komplizierten 
Verhältnisse  der  drei  Raumrichtungen.  Eine  Linie  ist  leichter 
zu  messen  als  eine  Flache  oder  gar  ein  Körper.  In  Ur- 
zeiten der  Sprache,  als  das  Verbum  seine  Zeitformen  zu 
bilden  anfing,  konnte  ganz  gewiss  schon  jeder  Knabe  eine 
einfache  Richtung  mit  deutlichen  Zeichen  sprachlich  aus- 
drücken ,  dass  z.  B.  von  der  Hütte  bis  zu  seinem  augen- 
blicklichen Standpunkt  zwanzig  Schritte  seien  und  dass  der 
Baum  vor  ihm  noch  zehn  weitere  Schritte  entfernt  sei.  Der 


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38  ^'  ünbcttinuiitlieit  Am  gnunmatisdteti  Sinnes. 

Vater  des  Knaben  aber,  und  weDn  er  ein  Gelehrter  des 
Stammes  war,  hätte  damals  noch  nicht  den  Kubikinhalt  der 
Hütte  oder  den  des  Baumes  sprachlich  ausdrücken  können. 
Raum-  Ich  s(  halte  hier  ein,  dass  ich  früher  den  Gedanken 
•Umen.  verfolgte,  die  Trennung  des  Zeitbegriffs  vom  Raumbegnff 
für  ebenso  zufallig  zu  ndimen  vie  die  Thatsache,  dass  der 
Zeitbegriff  in  Yerl^iilformen  ausgedrückt  wird  und- nicht  auch 
der  Raumbegriff.  Ich  hatte  mir  das  ungefähr  so  zureeht 
gelegpt,  dass  die  vier  Dimensionen  gleichwertig  seien;  man 
hätte  dann  z.  B.  Länge,  Breite  und  Zeifcrichtang  gemein- 
sam umfassen  und  die  vierte  Dimension  nach  Höhe  und 
Tiefe  abseits  behandeln  können ,  wie  n^h  unserem  Sprach- 
gebrauch eben  die  Zeit.  Da  ich  das  Gtoistreidisein  als  eine 
Übei-flUssige  Spielerei  .des  Menschengeistes  betrachte,  so 
werde  ich  wohl  sagen  dürfen,  dass  dieser  Gedanke  geist- 
reich ist,  um  so  mehr,  da  ich  hinzufOge,  er  ist  nur  scho* 
lastisch  geistreich,  eine  Spitsfindigkeit,  zu  der  ich  unbe* 
wusst  den  abstrakten  Begriff  der  DimeiunoB  inissbraucht 
hatte.  Denn  nach  unserer  unerbittUchen  Empfindung  und 
Sprachempfindung  gehören  die  drei  Dimensionen  des  Raums 
enger  zu  einander  als  zu  der  Tierten  Dimension  der  Zeit. 
In  den  drei  Dimensionen  des  Raums  muss  noch  keine  Be- 
wegung und  Veränderung  sein;  sie  bewegen  sich  aber  als 
Verinderung  gemeinsam  in  der  vierten  IHmendon,  in  der 
Zeit.  Es  liegt  etwas  Intrandtiyes  im  Baum,  es  liegt  etwas 
TransitiTes  in  der  Zeit.  Jener  Gedanke  leidet,  darum  an 
einer  UnToratellbarkeit,  die  flbrigens  auch  da  ein  starker 
Mangel  ist,  wo  die  Konstruktionen  der  neusten  Mathematik 
(mit  ihrem  Raum  von  n  Dimensionen)  zu  ähnlichen  Spitz- 
findigkeiten fObren. 
Ub-  Wir  kehren  zu  der  Behauptung  zurflck,  dass  auch  der 
^beifd!^  Sinn  der  Terbalen  Zeitformen  weit  unbestimmter  ist,  als 
z«it-  man  das  gewöhnlich  glaubt  Ja  ich  behaupte  noch  mehr: 
foTmAn.  nimlich  die  BaumTerhaltnisse  durch  die  Adrerbien 

weit  bestimmter  angegeben  werden  können  als  die  Zeitrer- 
hSltnisse  durch  die  Zeitformen  des  Yerbums.  Ein&ch  durch 
Steigerung  oder  Wiederholung  der  AdTerbien.   Ich  selbst 


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UnbtsliiimifheÜ  der  Zeitfoimtit. 


89 


bin  immer  fler  Orientierungspunkt,  ich  selbst  l)in.  möchte  ich 
sagen,  der  Schnittpunkt  des  Koordinatensystems.  Ich  kann 
dann  ganz  deutlich  nicht  nur  bezeichnen,  ob  der  Gegenstand 
vor  mir  oder  hinter  mir  stehe,  sondern  auch  weiter:  Ob 
ein  zweiter  oder  dritter  Gegenstand,  von  dem  ersten  aus 
gerechnet,  vor  oder  hinter  ihm  stehe,  näher  zu  mir  oder 
entfernter  von  mir.  Die  Sprache  ist  fähig,  ohne  Zuhilf e- 
ilfthme  der  Zeichnung,  z.  B.  die  Bewegungen  auf  einem 
Schlachtfeld,  ganz  genau  zu  besehreiben.  Die  Sprache  ist 
nicht  in  gleichem  Masse  befähigt,  die  relative  Vergangen- 
heit und  Zukunft  eindeutig  aussudrücken.  Ich  werde  mich 
im  folgenden,  um  ganz  klar  zu  sein,  der  geläufigsten  Be- 
zeichnungen der  Grammatik  bedienen. 

Auch  in  den  Zeitangaben  bildet  schliesslich  das  Ich 
des  Sprechenden  den  Ausgangspunkt.  Für  die  Zeit,  in 
welcher  er  .sptieht,  sei  es  ein  Äugenblick  oder  ein  Jahr» 
tausend,  besitawn  wir  die  Sprachform  der  Gegenwart.  Ich 
habe  schon  gesagt,  dass  diese  Gegenwart  recht  ungleich 
sein  kann.  Gegenwart  ist  „es  blitzt" :  Gegenwart  ist  auch 
der  Satz  „die  Erde  dreht  sich  um  die  Sonne",  obwohl  dieses 
Drehen  (wenn  die  Astronomen  recht  haben)  uranfänglich 
nicht  stattfand  und  einmal  aufhören  wird,  obwohl  diese 
Gegenwart  also  einen  Zeitraum  von  Billionen  Jahre  umfasst. 
Wir  haben  femer  I1lr  die  Zeit,  die  dieser  Gegenwart  TOr- 
ausliegt,  die  Form  der  Vergangenheit:  Es  donnert,  es  hat 
geblitat;  die  Masse  der  Erde  hat  sich  einmal  von  der 
Sonnenmasie  losgelöst.  Wir  haben  endlich  för  die  Zeit, 
wdehe  bevorsteht,  die  Sprachform  der  Zukunft:  es  bUtzt, 
es  wird  donnern;  die  Erde  wird  einmal  in  die  Sonne  zu- 
rückstürzen. 

Nun  aber  kOnnen  wir  bei  der  Zeit  wie  beim  Raum 
den  Ausgang  von  einem  Punkte  nehmen,  der  vor  oder 
hinter  uns  liegt  Messen  wir  von  einem  Punkte,  der  hinter 
uns  liegt,  so  beziehen  wir  Vergangenheit  und  Zukunft  auf 
diesen  Punkt,  so  dass  dessen  relatiTe  Zukunft  für  unsere 
persönliche  Gegenwart  schon  Vergangenheit  ist.  Das  ist 
nicht  etwa  eine  feine  Konstruktion,  sondern  der  alltig^ 


40 


I.-  Unbetttimmtbeit  des  grammatischea  Sinnes. 


liebste  Sprachgebrauch  in  der  Erzählung.  ,  Nachdem  das 
deutsche  Volk  Napoleon  besiegt  hatte,  ftlgte  es  sich  den 
alten  Regierungen.''  Der  Satz  hätte  ebenso  gut  oder  viel- 
leicht besser  lauten  können:  «Das  deutsehe  Volk  besiegte 
Napoleon  und  fügte  sich  dann  den  alten  Kegieimigeii/ 
Man  sieht  aus  diesem  Beispiel,  dass  das  ImperfLctum  wohl 
seinen  offiziellen  Sinn  haben  kann,  den  nämlich  einer  hinter 
uns  lief^enilen  Gegenwart,  aber  auch  den  des  Plusquauiper- 
fectums,  der  Vorvergangenheit.  In  dem  Satze  ,das  deutsche 
Volk  besiegte  Napoleon"  ist  es  giui/,  unbestimmt,  ob  das 
Impert'ectum  oder  das  Plusquami)erfectuni  gemeint  ist.  Er- 
inneiTi  wir  uns  daran,  was  über  die  Verwandtschaft  zwischen 
Particip  und  Adjekiiv  gesagt  wordeu  Lst,  so  werden  wir 
hier  bemerken,  dass  das  Besiegtsein  eine  Eigeiibchatt  oder 
ein  Zustand  ist,  den  wir  tiuem  Ding  in  der  Verganj?enheit 
beilegen.  Lassen  wir  uns  durch  unsere  Spraeht'ornien  nicht 
beirren,  so  werden  wir  die  vollständige  Identität  des  aktiven 
Plusquamperfectums  und  des  passiven  Iniperfectums  tröh- 
lich  gewahr  werden. 

Für  eine  Zukunft,  die  sich  relativ  auf  eine  Mitver- 
gangenheit bezieht,  haben  wir  keinen  besondern  sjnach- 
lichen  Ausdnick;  wir  haben  kein  Futurum,  welches  dem 
Plusquamperfecium  entspricht.  Im  Kautuvorhältnis  können 
wir  das  durch  Adverbien  sehr  gut  ausdnkken.  Blicken  wir 
von  Berlin  aus  nacii  Norden,  so  liegt  Italien  hinter  uns; 
zwischen  uns  und  Italien  oder  näher  an  uns  heran  liegt 
biut<;r  uns  Tirol.  In  der  Erzählung  ist  1:1-^  entweder  gar 
nicht  oder  nur  durch  mangelhafte  Umschreibuug  wieder- 
zugeben. Er  schickte  sich  an ,  er  gedachte  u.  s.  w.  sind 
Imperfekt'^,  di*^  nur  ungfniuu  die  Bedeutung  einer  hinter 
uns  lif^onden  Zukunft  hiiln-ii.  Jeder  Erzählei-  weiss,  wie 
schwer  es  oft  ist,  diesen  eiiitai  li-  n  Gedanken  auszudrücken. 
Gewöhnlich  hilft  man  sich  mir  der  gebräuchlichen  Zukunfts- 
form und  überlässt  lein  Leser,  lierauszufinden ,  ob  ein 
wirkliches  Futurum  geuH-itit  sei  oder  ein  relatives  Futurum, 
eine  Zeit,  die  zwischen  dem  Imperfekt  und  unserer  Gegen- 
wart liegt   Aus  der  Schwierigkeit  des  sprachlichen  Aus- 


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mbMÜwuntlwit  der  ZeitfoiiMB. 


41 


drucks  ist  es  TMUeickt  su  erUftren,  das8  die  Poeten  Yon 
dieeeni  sehAiioii  und  wirkimgsroUen  Hotiv  so  selten  Ge- 
braneh  machen.  Der  Diebter  des  Nibelungenlieds  bat  eine 
VoiUebe  für  diese  niobt  vorbandene  Spracbfom.  Qleicb 
in  den  ersten  Versen  Tersucbt  er  zweimal  ibren  Ausdruck 
XU  findtts. 
Er  sagt: 

.Xsiembfld  war  sie  gehdaieii,  die  mx  ein  «dtOne«  Weib, 
Baram  miMAeD  noch  vide  Degen  ferlieren  ihren  Leib/ 

Gemeint  ist  eine  vergangene  Zeit,  welche  für  den  Be- 
ii;ini;  des  Nibelungenlieds  eine  Zukunlr  ist.  Und  wenige 
Verse  weiter  lieisst  es  von  der  ilitterscliaft  zu  Worms: 

«Sie  aterben  j&mmerUcb  seither  Ton  iweier  Franen  Neid.* 

Wieder  baben  wir  also  eine  in  der  Vorrtdlung  deut- 
lieb  ausgepiigte  Zeitform,  die  logisch  genau  dem  Flus- 
qnamperfectum  entspricht  und  für  welche  es  trota  des  Be* 
dfirinisses  keine  Sprachform  gibt. 

Nehmen  wir  nun  aber  den  Ausgang  von  einem  Punkte 
in  der  Zukunft«  so  steht  es  noch  schlimmer  um  die  Formen 
und  um  die  Bedeutungen  der  Zeit.  Für  dm  Ausgangs- 
punkt selbst,  also  fOr  das  Geschehen,  das  wir  diese  au* 
künftige  Gegenwart  Torausseben,  besitsen  wir  keine  andere 
Ansdrucksform  als  das  sonst  ttbliche  Futurum.  Es  fehlt 
uns  also,  was  noch  niemand  bemerkt  au  haben  scheint,  ein 
Futurum  der  Propheseiung,  welches  dem  Imperfekt  der  Er- 
lihluttg  entspreche.  Wir  müssen,  was  doch  nach  meinem 
Sprachgefthl  eine  Unbestimmtheit,  eine  Verschiebung  der 
VcMTstellung  ist,  a.  B.  das  jüngste  Gericht  mit  Hilfe  des- 
selben Futurums  beschreiben,  mit  dem  wir  aussprechen: 
,Im  Juli  werde  ich  aufs  Land  fahren."  Es  f^t  uns  eine 
erzfthlende  Zukunft. 

'  Wir  besitaen  freilich  das  Futurum  exactum,  die  Vor- 
Kukunft,  anders  ab  das  Plusquamperfectum.  Wir  be- 
sitaen  sie«  aber  wir  gebrauchen  sie  in  der  lebendigen  Rede 
so  gut  wie  gar  nicht,  selbst  in  der  kCwstlicben  Schrift- 
sprache nur  mit  Widerstreben.  Dagegen  besitaen  wir  aber 


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42  Unbettmuntfaeii  dea  gxwaunftüieh«!  Sinnei. 

nicht  die  logisch  gefonlerte  Zeitform  für  eine  Zukunft,  die 
von  uns  noch  weiter  abliegt  als  der  zukünftige  Ausgangs- 
punkt. Wir  können  räumlich  ausdrücken,  dass  ein  Vogel 
höher  fliegt  als  der  Gipfel  des  Baumes  Uber  uns,  den  wir 
zum  Ausgangspunkt  nehmen.  Wir  können  dasselbe  Va> 
hältnis  in  der  Zeit  sprachlich  nur  wieder  durch  Adverbien 
ausdrücken ,  nicht  durch  eine  Yerbalform.  Man  stelle  sich 
den  Gedanken,  vor:  Die  £rde  wird  in  die  Sonne  zurück- 
stttizen;  Torher  wird  sie  ihre  eigene  Bewegungskraft  ein- 
bUssen;  nachher  einmal  wird  sich  vielleicht  eine  neue  Erd- 
masse als  Nebelball  von  der  Sonne  wieder  lösen.  Wir 
drücken  das  durch  Adverbien  aus,  die  oiTenbar  etwas  wie 
xllumliche  Bilder  bieten.  Den  ersten  Satz  können  wir  noch 
zur  Not  durch  eine  Verbalform  bezeichnen:  ^Wenn  die 
Erde  ihre  eigene  Bewegongskraft  eingebüsst  haben  wird, 
dann  wird  sie  in  die  Sonne  zurückstürzen."  Für  den  letzten 
Gedanken  haben  wir  durchaus  keine  Zeitform.  Wir  müssen 
mit  fast  kii^dlicher  Sprache  wiederholen:  „Und  noch  später 
wird  sich  vielleicht  eine  neue  Erdmasse  loslösen.* 

Die  Unljestimmtheit  der  verbalen  Zeitformen  scheint 
mir  also  ziH'ermSssig  bewiesen  zu  sein.  Unsere  Stellung  in 
der  Zeit  i]öti<,^t  uns,  mindestens  0  deutlich  ausgeprägte  Ver- 
schiedene  Zeitverhältnisse  auszudrücken;  wir  aber  besitzen  nur 
6  Verbalformen,  mit  deren  Hilfe  wir  ungefldir  sagen  was  wir 
wollen.  Hätte  ein  Händler  9  verschiedene  Sorten  Wein  und 
mtlsste  sie  in  nur  6  verschiedenen  FSssem  verwahren,  so 
könnte  er  nicht  schlimmer  daran  sein  als  die  Sprache  mit  ihren 
6  Zeitformen.  Dass  es  auch  noch  andere  Zeiten  gibt,  wie 
z.  B.  im  Indischen«  Griechischen  und  Slawischen  den  Aorist, 
macht  die  Sache  nur  noch  verwickelter;  denn  jeder  Fach- 
mann weiss,  wie  wenig  bestimmt  der  Sinn  des  Aorists  ist 
Man  hat  seine  Bedeutungen  nach  verschiedenen  (Gesichts- 
punkten in  Klassen  geteilt;  den  Griechen  konnte  aber  die 
Verschiedenheit  der  Aoristklassen  sicherlich  ebenso  wenig 
zum  BeWQSstsein  kominen  wie  uns  etwa  die  angeblif^en 
Klassen  dei*  Genitivbedeutung.  Es  wird  sich  also  wohl  nicht 
anders  verhalten,  als  dass  auch  die  Verbalformen  mangel- 


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PllMlU. 


43 


bafte  Yenuche  sind,  den  Ton  und  die  Geste  su  ersetzen, 
mit  denen  die  Sprechenden  einstens  die  seifliche  Stellung 
ihrer  Vorstellungen  ungenau  genug  ausdruckten.  Für  die 
Verhlltnisse  im  Baum  konnte  die  Geste  linger  ausreichen; 
sie  war  nnd  ist  leichter  ahsumalen.  Die  Gesten  der  Zeit 
mochten  ursprttnf^ch  Metaphern  Yon  den  Zeichen  »hinten, 
da,  Tom*  sein.  Wann  immer  sich  aus  diesen  Metiq>hem 
die  Formen  von  Veigangenheit,  Gegenwart  und  Zukunft 
entwickelt  haben  mögen,  sie  litten  an  der  Unbestimmtheit, 
wo  das  «da*,  die  Gegenwart  anzunehmen  sei,  und  leiden 
noch  heute  darunter.  Plusquamperfectum  und  Futurum  ex- 
actum  haben  immer  noch  etwas  yon  mathematischen  For- 
meln, sie  gehören  der  lebendigen  Sprache  kaum  an;  abge- 
sehen davon,  dass  sie  Formeln  zu  EUlfe  nehmen  müssen,  in 
denen  das  Verbum  seinen  Charakter  verloren  hat  und  Ad- 
jektiv oder  Nomen  geworden  ist.  Wie  wenig  aber  die  Zeit- 
formen dem  Bedürfnis  entsprechen,  unsere  Vorstellnngen 
dem  Hörer  anschaulieh  zu  machen,  ergibt  sich  vollends  aus 
der  weit  verbreiteten  Gewohnheit,  samtliche  Zeitverhiltnisse 
durch  die  ursprflnglidie  Form  des  Pkiteens  darzustellen  so- 
bald die  Rede  lebhaft  genug  wird.  Die  Grammatiker  helfen 
sich  damit,  dass  sie  sagen,  das  Prlsens  «vertrete*  dann  das 
erzahlende  Imperfekt  oder  hrgend  eine  Zukunft.  Das  Pktaeus 
kann  aber  auch  für  das  Plusquamperfectum  und  fttr  das 
Futurum  ezactum  eintreten.  «Blflcher  rttckt  heran,  Napoleon 
gibt  jede  Hoffnung  auf;*  weniger  lebhaft:  «als  die  Armee 
Blüchers  berangerttckt  war,  gab  Napoleon  u.  s.  w.*  oder 
«schliesoe  ich  das  Gesoh&ft  ab,  so  bekommst  du  ein  neues 
Kleid'*  anstatt:  «Wenn  ich  das  Geschftft  abgeschlossen  haben 
werde,  wirst  du  ein  neues  Kleid  bekommen.* 

Nur  das  eigentliche  Perfectum  liest  sich  nicht  durch  Maßn». 
das  Prisens  ausdiücken,  weil  es  eben  ohnehin  ein  Prisens 
ist  nebst  einem  adjektivisch  gewordenen  Yerbum. 

So  lassen  sich  simtHche  9  ZeitverhUtnisse  durch  das 
einzige  Prlsens  ausdrücken  und  die  Cnbeslammtheit  des 
Sinns  ist  ni^t  grösser  ab  bei  der  Verwendung  unserer 
6  Formen.    Denn  —  ich  mnss  es  immer  wiederholen  — 


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44  !•  UabertilBintheit  des  gitmaiAftisolMii  SiniiM. 


die  Bestimmtheit  der  durch  die  Sprache  im  Zuhörer  er- 
weckten Vorstellungen  rührt  imht  etwa  von  den  Vorzügen 
der  Sprache  her,  sondern  einzig  und  allein  von  der  grössern 
oder  geringem  Bestimmtheit  in  den  Vorstellungen  des  Zu- 
hörers, an  die  er  durch  die  Lautzeichen  des  Sprechenden 
erinnei-t  wird.  Die  begleitenden  Umstände  in  seiner  Er- 
innerung oder  in  der  Anschauung  lassen  den  Zuhörer  un- 
gefähr das  Verhältnis  der  Zeiten  herausfinden;  ob  er  durch 
eine  einzige  Verbalform  oder  durch  ein  halbes  Dutzend  un- 
genau orientiert  wird,  ist  für  den  lebendigen  Verkehr  der 
Menschen  fast  gleichgültig. 
Zeitlosem  Und  selbst  diese  neunfache  Unbestämmtheit  der  Haupt- 
Präsens.  fQj.j^  Verboms,  des  Präsens,  erschöpft  die  Unsicher- 
heiten noch  nicht.  Es  ist  nicht  wahr,  dass  das  Präsens 
(ausser  den  Fällen  wo  es  eine  andere  Zeit  bedeutet)  immer 
etwas  Oegen'vi^rtiges  bezeichne.  Die  unendliche  Menge 
solcher  Sätze  wie:  „Der  Hund  ist  ein  Saugetier,  Zeit  ist 
Geld"  haben  durchaus  nichts  mit  dem  Zeitverhältnis  des 
Redenden  zu  thun.  Es  ist  eine  ganz  falsoke,  unserm  Spraeh- 
geftüil  widersprechende  Konstruktion,  wenn  man  sagt,  solche 
Sftfcse  gelten  immer  und  fUr  alle  Zeit,  also  auch  fttr  die 
Gegenwart.  Solche  Sfttse,  ob  sie  nun  konkrete  oder  abs- 
trakte Urteile  aussprechen,  lassen  uns  durchaus  keine  Be- 
ziehung zur  Zeit  mitdenken,  sie  sind  zeitlos.  Der  Unter- 
schied des  Sinns  wird  deutlich,  wenn  wir  die  gelegentliche 
Anwendung  von  der  allgemeinen  trennen.  Wenn  wir  im 
Gegensatz  zum  Dunkel  der  Nacht  oder  zum  schlechten 
Wetter  yon  Torbin  sagen:  „Die  Sonne  leuchtet,*  so  ist  das 
eine  Gegenwart,  weil  wir  ausdrQcklich  mitteilen  wollen,  dass 
sie  jetzt  leuchte;  wenn  wir  nur  eine  Eigenschaft  der  Sonne 
angebend  (unser  Sprachgeftlhl  stdlubt  sich  gar  nicht,  das 
Verbum  eine  Eigenschaft  zu  nennen)  sagen:  „Die  Sonne 
leuchtet,*  so  ist  das  keine  Gegenwart,  sondern  Zeitlosigkeit. 
Der  Satz  hat  keine  Beziehung  zur  Zeü  ,Der  Wein  erfreut 
des  Menschen  Herz;*  wir  wollen  nidit  sagen,  er  erfreue 
immer,  also  auch  in  der  Gegenwart,  sondern:  Es  sei  eine 
zeitlose  Eigenschaft  des  Weines  zu  erfreuen.    «Die  Sonne 


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Kategorien  dar  Buigordttviig. 


45 


leuchtet''  hat  ftkr  unser  ehrliches  Sprachgefühl  nicht  im 
geringsten  mehr  Zeitbestunmung  oder  Zeit  Verhältnis  als: 
die  leuchtende  Sonne  (ww  man  freilich  noch  Particip  der 
Gegmwart  nennt),  aber  auch  nicht  mehr  als:  Der  weisse 
Schnee,  der  blaue  Himmel  u.  s.  w.;  ^der  Wein  erfreut" 
hat  nicht  mehr  Verhältnis  zur  Zeit  als  «der  sQsse  Wein". 
Wir  sehen:  die  Zeitkategorie,  deren  KOnsilichkeit  ein  auf- 
merksames Ohr  in  den  andern  Zeitformen  noch  bente  em- 
pfindet)  muss  sogar  zum  Präsens  erst  verhältnismissig  spät 
hinzugekommen  sein;  als  das  Verbum  und  das  AdjektiT  noch 
undifferenzierte  Bedeutung  hatten^  da  war  das  Verbum  noch 
kein  Zeitwort 

* 

Wir  lesen  mit  albemrai  Lächeln  hei  den  Forschem,  x^te* 
welche  asiatische  Sprachen  untersucht  haben,  welch  seltsame 
Kategorien  die  ZeitwQrter  vieler  dieser  Sprachen  zu  bilden  Bang. 
▼ermSgen.  Die  Höflichkeit  dieser  Volker  ist  so  gross,  daas 
sie  Kate(p>rien  erfinden,  welche  in  unseren  Schulgrsrnmatiken 
nicht  ihresgleichen  finden.  Zu  den  höflichsten  Völkern  ge- 
bdren  die  Japaner,  welche,  soweit  ihre  Sprache  in  Betracht 
kommt,  keinem  ▼omebmen  Manne  zumuten,  selber  etwas 
zu  thun,  aktiv  zu  sein.  Der  Japaner  wird  von  einem  hoben 
Beamten  nicht  einmal  sagen,  dass  er  selber  essen  solle; 
selbst  das  XSssen  und  die  Tbfttigkeit,  die  sogar  der  Kaiser 
Ton  CShina  selber  thun  muss,  wird  durch  ein  Wort,  das 
,thun  lassen*  bedeutet  oder  durch  ein  Passivurn  ausgedrückt. 
Fttr  die  Sprache  der  Koreaner  hat  inan  ausgerechnet,  dass 
sie  für  die  Rangordnung  zwischen  Höher-,  Nieder-  und 
Gleichgestellten  einerseits  und  für  den  Ton  der  höheren  oder 
der  niederen  Ehrerbietung  anderseits  27  Terachiedene 
Formen  hätte. 

Man  achte  aber  einmal  auf  unseren  Briefstil  und  auf 
den  Ton  amtlicber  Schriftstücke  vom  Flursehfltz  bis  hinauf 
zum  Kaiser  und  vom  Kaiser  hinunter  bis  zum  Flursehfltz. 
Man  wird  in  amtlidien  Mitteilungen  sofort  auch  ohne  Ken- 
nung der  Personen  erkennen,  ob  vom  Kaiser,  von  einem 


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46 


L  UBbetUmmtheit  des  grammatMohea  SiniiM. 


Minister,  von  einem  Oberpräsidenten,  von  eiuem  Landrat 
oder  einem  OrtsTorsteher  die  Rede  ist;  sogar  der  fast  blas- 
phemische  Stil  der  Japaner,  der  einen  vornahmen  Mann 
nicbt  selber  essen  lässt,  ist  uns  voUkommen  läufig  in  dem 
entsetiüohen  .geruhen*,  wenn  z.  B.  von  eint  in  Kaiser  blöd- 
sinnip^  ausgesagt  wird,  er  «reruhe  auszufahren,  und  unge- 
übtere Leute,  welche  mit  so  einem  Kaiser  n-den,  helfen  sich 
deuu  auch,  imiem  hw  das  Passivum  anweiideu. 

Ueberall  da,  wo  Hoheit,  Durchlaucht,  Excellenz  in  die 
Satzverbindung  hineingearbeitet  werden  soll,  hat  der  Amts- 
stil bei  uns  hinterindische  Formen  und  die  27  Ausdrucks- 
weisen der  koreanischen  Höflichkeit,  weiche  für  Korea  nur 
ausgerechnet,  nicht  aber  im  einzelnen  nachgewiesen  sind, 
dürften  sich  im  deutschen  Schreibwerk  sicherlich  nachweisen 
lassen.  Man  brauchte  nur  f  iiu»  Probe  darauf  zu  machen, 
ob  nicht  aus  einem  amtlichen  Aktenstück  —  ohne  Adresse, 
ohne  Unterschrift  und  ohne  s(»nstige  Andeutungen  —  der 
hierarchische  (irad  des  Schreibers  sowohl,  wie  des  Adres- 
saten sich  erkennen  liesse. 

Die  Pariser  sprachwissenschaftliche  Oescllschafl  hat 
zwei  Ziele  der  Untersuchung  von  ilirem  Programm  aus- 
geschlossen: Das  Streben  nach  einer  Universalsprache  und 
die  Frage  nach  dem  Ursprung  der  Sprache.  Die  erste  Be- 
stimmung ist  selbstverständlich  für  kluge  Männer;  audi  die 
zweite  erscheint  praktisch,  wenn  man  erwägt,  was  für  un- 
haltbares Zeug  namentlich  in  Frankreich  das  18.  Jahrhundert 
zu  Tage  gebracht  hat.  Auch  heute  noch  sind  die  Gelehrteo, 
welche  sich  mit  dem  Ursprung  der  Sprache  beschäftigen« 
der  gleichen  Gefahr  ausgesetzt  Grau,  freund,  ist  alle  Theorie, 
das  wusste  schon  JilephisUi;  wir  sind  geneigt,  in  jeder 
Theorie  Wortmacherei  zu  vermuten. 

Keine  Theorie  über  den  Sprachursprung  kann  sich  völlig 
davon  befreiet!^  erstens  die  Sprache  auf  die  einzelnen  Worte 
zurückzuführen,  sodann  die  einzelnen  Worte  in  die  soge- 
nannten Wurzehi  und  die  Bildungssilben  auseinander  zu 


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Otr  Salt. 


47 


hacken,  wie  man  einm  geschlachteten  ^>chsen  in  Fleischteile 
zerhackt,  die  dann  erst  —  fUr  den  Schlächter  und  für  die 
Köchin  ihre  besondere  Namen  erhalten.  Am  lebendigen 
Ochsen  gibt  es  keinen  edlen  Lendenbraten  und  keine  sclik  i  h« 
tem  Teile.  So  wird  es  auch  in  der  lebendigen  Sprache 
keine  Wurzeln  und  keine  Flexionen;  ja  eigentlich  auch  keine 
«inselnen  Worte  geben.  Hätten  .wir  unsere  künstliche  Gram- 
matik nicht,  so  be^ssen  wir  nur  Sätze,  die  durch  eigen- 
tümliche Betonungen  gegliedert  sind,  nicht  Worte.  Es  ist 
gimmmatische  Willkür,  dass  wir  z.  B.  «der  V^ater"  und  „des 
Vaters"  schreiben  und  es  darum  gebrannt  empfinden :  iti  der 
▼orschiißiUohen  Zeit  hätte  man  die  entsprechenden  Formen 
,d«nrater*  und  »desvaters"  gehört  und  empfunden.  Es  kann 
mir  nur  Mut  machen,  dass  so  jede  historische  Untersuchung 
mit  meiner  Kritik  der  Logik  zusammentrifft,  in  der  ich  zu 
beweisen  hoffe,  dass  psychologisch  der  'SchUiss  daa  Erste  ist, 
der  Sata  das  Zweite,  das  Wort  das  Dritte,  oder  dass. —  an- 
ders ausgedruckt  —  aus  dem  Worte  nichts  entwickelt  werden 
kann,  was  nicht  schon  drin  war.  Die  grammatische  Be-DtrB»tft. 
itachtung  lehrt  ebenso,  dass  in  irgend  einer  Urzeit  es  immer 
schon  Sitze,  niemals  blosse  Worte  gegeben  hat,  dass  der 
erste  Sprachschrei  schon  einw  Satz  ausdrtlckte. 

Ist  das  nun  richtig,  so  wird  die  Zerhackung  des  Wortes 
in  Wuneln  und  Bildungssilben  zu  einem  bloss  berufstechni- 
schen Vergnügen  der  Grammatiker.  Die  Bildungssilben, 
durch  welche  doch  erst  die  Wunsein  zu  einem  harmonischen 
Salsa  vereinigt  werden  sollen,  erscheinen  als  reine  Gewöhn* 
heiten  der  jüngera  Analogie,  wenn  schon  der  Slteste  Sprach- 
schrei den  Wert  eines  Satzes  oder  eines  Urteils  besass.  Um 
mich  nicht  selbst  in  graue  Theorie  zu  Tcrlieren,  will  ich 
daa  durch  einige  Bemerkungen  eilftutern  und  als  Motto  die 
bekannten  Verse  Toranssehicken,  mit  denen  Goethe  freilich 
wohl  keine  sprachphilosophische  Abhandlung  beabsichtigt 
hat  Faust  will  die  Bibel  flbersetzen  und  stockt  schon  bei 
der  ersten  Zeile:  »Im  Anfang  war  das  Wort' 

alch  kann  das  Wort  so  hoch  unmöglich  schätzen. 
mvm  e«  aaden  ttbersetien. 


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48 


I.  Unbestiinmtheit  det  (prArnrnfttiBchfln  Sinnet. 


Wenn  ich  vom  Geiste  recht  erleuchtet  bin.  I 
GeMtbrieben  «teht:  Im  Anfeng  war  d«r  Sinn." 

Uiizalrieden  versucht  er  es  noch  anders.  „Im  Anfang  war 
(Ii*  Kraft,"  dann  hilft  ihm  dor  Geist  und  er  bleibt  schliess- 
lich stehen  bei  ^im  Anfang  war  die  That". 

Hätte  der  Teufel  ihn  nicht  durch  sein  Heuieu  und 
Bellen  gestört,  Faust  wäre  vielleicht  von  der  Bibeiüber- 
«?etzung  zur  Hibelkritik  fll^er'j^etjang'en  und  hätte  den  Anfang 
«^es  Evangeliums  Johaimis  einfach  ftir  falsch  erklärt.  Im 
Anfang  war  gar  nicht  das  Wort,  mag  man  es  nun  als  Ad- 
jektiv od'^r  n!s  Substantiv  oder  als  Verbum  (Tliat)  auffassen; 
im  Anfang  war  der  Satz.  Goethes  Faust  bat  sich  schon 
so  viel  gefallen  lassen  müssen,  dass  ich  ihn  wohl  auch  ein- 
mal im  Scherze  so  benützen  darf. 

Als  einen  ältesten  Satz  stellen  wir  uns  den  Huf  des 
Staunens  oder  der  Ueberraschung  vor,  der  möglicherweise 
noch  in  einem  entfernten  sprachlichen  und  logischen  Zu- 
sammenhang mit  unserem  „da!"  stehen  mag,  den  wir  künst- 
lich meinetwegen  als  das  Demonstrativpronomen  „das*  deuten 
mögen  und  der  innerhalb  einer  bestimmten  gegenwärtigen 
Situation  iri^end  einen  Gegenstand,  eine  Eigenschaft,  eine 
Thätigkeit  oder  was  immer  bezeichnen  konnte.  Die  Sprach- 
forscher sind  übrigens  einig  darüber,  dass  die  meisten  an- 
dern Pronorainn  auf  das  alte  Demoustratirpronomen  zurück- 
zuführen sind,  dass  das  Demonstrativpronomen  ein  uialtor 
Besitz  der  „indoeuropäischen"  Sprachen  ist,  weil  es  den 
einzelnen  Sprachen  gemeinsam  sei  und  überdies  eine  sehr 
altertümliche  Flexion  habe.  Der  Eindruck  hohen  Alters  ist 
also  allgemein.  Nach  der  soweit  annehmbaren  Theorie 
▼on  Regnaud  ist  dieses  alte  Demonstrativpronomen  über- 
haupt der  oberste  und  umfassendste  Begriff,  das  genus 
generalissimum.  £s  entspricht  vollkommen  unserer  Er* 
kenntnistheorie,  wenn  Regnaud  annimmt,  die  nicbsten,  eben- 
falls äusserst  allgemeinen  Begriffe,  hätten  unserem  AdjektiT 
entsprochen.  Ursprünglich  konnte  z.  B.  das  Demonstra- 
tivum  allein  sowohl  den  Blitz  als  den  Donner,  sowohl  die 
weisse  Blüte  als  die  rote  Frucht  bezeichnen  ^  was  —  die 


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Flexion.  49 

gegenwirtige  und  gemeiiUMnie  Situation  ▼orausgesetat  — 
gar  keine  unvoDkommenere  Sprache  war  ab  die  unsere. 
Nachher  bfldeten  sieh  (es  geht  uns  nichts  an,  ob  aus  dem 
Demonstrativpronomen  heraus  oder  aus  neuen  Sprachquellen) 
die  Begriffe  des  Leuchtenden  und  des  Bollenden,  des  Weissen 
und  des  Boten  u.  s.  w.  Man  kann  diese  Entwickelung  noch 
weiter  rerfolgen  —  in  der  Phantssie,  eine  historische  Dar- 
l^ong  wird  nie  möglich  sein  —  bis  sur  Entstehung  des 
Substantivs,  Us  sur  Yerbmdung  Ton  SubstaotiT  und  Per^  fbKioa. 
sonalpronomen,  ohne  in  dieser  Ursprache  auch  nur  die  Mdg- 
lichkeiif  auch  nnr  eine  Stelle  für  die  Flexion  su  entdecken. 
Der  Sata  konnte  mnsübig  oder  Tielsilbig  sein,  seine  Har- 
monie wurde  —  wenn  ich  so  sageu  darf  —  durch  die 
Wirktiohkeit,  durch  die  Situation  hergestellt.  Es  war  ja 
der  Sprachschöpfung  keine  Grammatik  vorausgeganguu, 
welche  eine  harmonische  Koordination  der  Satzglieder  nach 
Geschlecht,  Zeit,  Zahl  u.  s.  w.  gefordert  hätte,  welche  über- 
haupt den  Satz  in  Glieder  zerhackte.  Erst  viel  später,  man 
kann  die  Zeit  unbedenklich  sehr  lang  nehmen ,  erst  bei 
einem  sehr  grossen  Reichtum  von  Sätzen,  wohlgemerkt  nicht 
von  Worten,  konnte  das  Vorhandensein  unbewusst  gebliebener 
Analogiebildungen  die  sprechenden  Menschen  dazu  fuhren, 
durch  Weiterbildung  der  Analogie  zu  Flexionen  zu  gelangen. 
Unter  Flexionen  verstehe  ich  selbstverständlich  alle  De- 
klinations-,  Konjugatioiis-  und  alle  anderen  ßilJungssilben. 
Ich  meine  in  irgend  einer  Urzeit  müssen  die  Analogien,  die 
uns  als  die  notwendigen  Flexionen  erscheinen,  wie  Sprach- 
witze, wie  Wortspiele  herausgekommen  sein.  Noch  in 
historischer  Zeit  gibt  es  solche  Analogiebildungen,  so  wenn 
die  Lateiner  die  Endung  -ia  häufig  an  Participien,  die  aul' 
-ent  ausgingen,  anhingen  (pru(k'ntia,  sapicntia,  dementia) 
und  so  die  Vorstellung  fassten,  die  Endsilbe  laute  -tia  und 
darum  amicitia  (  von  aniicus)  sagten.  Beispiele  aus  der 
gegenwärtigen  Sprachentwickeiung  fehlen  an  anderer  Stelle 
auch  nicht.  Ich  bemerke  nebenbei,  wie  getahrhch  es 
sein  muss,  in  die  Flexionen  der  vorhistorischen  Zeit  ein 

System  zu  bringen ,  wenn  wir  solche  irreführende  Wort- 
Mao  thner,  Beitrtge  zu  einer  Kritik  der  Sprache.  III.  4 


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50  Unbertimintha&t  des  gnminatifch«ii  SimiM. 

spiele  fart  unter  unsem  Augen  Sprachkraft  gewinnen  sehen 
(▼ergl.  n.  133  u.  f.). 

IKese  beiden  Bemerkungen  helfen  uns  TieUelcht,  uns 
das  Entstehen  der  Flexionen  etwas  weniger  unnatürlich  Tor- 
zustellen,  ab  es  die  Grammatik  gethan  hat  und  Ton  ihrem 
Standpunkt  thun  musste.  Ihre  ErUärungsversuehe  enthalten 
jedesmal  die  Voraussetiung,  dass  zu  einer  richtigen  Sprache 
so  und  so  viele  FiUe  des  Substantivs,  so  und  so  viele  Per^ 
sonen,  Zahlen  und  Zeiten  des  Verbums  gehören  und  dass 
es  nur  darauf  ankomme,  alle  diese  Flezionsformen  auf  eine 
bequeme  und  Übersichtliche  Weise  zu  bilden.  Auf  diesem 
Wege  kann  nach  mehrtausendjShrq^r  Herrschaft  der  Gram- 
matik ein  Volapttk  hergestellt  werden;  die  Sprache  kann 
nicht  so  entstanden  sein*  Es  ist  doch  offenbar,  dass  der 
gegenwirtig  angenommenen  Grammatik  eine  Zeit  voraus- 
gehen musste,  in  welcher  die  Regeln  dar  Grammatik  noch 
latent  oder  unbewusat  waren,  und  dieser  wieder  eine  Sltere 
Zeit,  in  welcher  sich  die  grammatischen  Gewohnheiten  erst 
entwickelten,  dieser  wieder  eine  älteste  Zeit,  in  welcher  es 
noch  gar  keine  Grammatik  oder  Analogie  gab,  in  welcher 
aus  der  Situation  heraus  jeder  Sata  seine  analogielose  Sprach- 
form  hatte.  Ebenso  ist  es  doch  mehr  als  wahrscheinUch, 
dass  der  der  Gesetzeszeit  vorausgehenden  Gewohnheitsepoche, 
in  welcher  die  Kultur  sich  unbewusst  nach  Bräuchen  rich- 
tete, eine  Zeit  vorausgehen  musste,  wo  solche  Btftuche  sich 
aus  ihren  ersten  Anfängen  entwickelten.  Die  Sprachgeschichte 
kommt  uns  da  zu  Hilfe,  wenn  sie  uns  mitteilt,  dass  die 
fünf  oder  sieben  Casus,  die  wir  jetzt  so  ordentlich  zu  unter- 
scheiden glauben,  oder  die  vielen  Verbalformen  sich  aus 
einer  Unzahl  von  Zufallsformen  entwickelt  haben.  Lassen 
wir  unsere  sprachbildende  Phantasie  ein  wenig  spielen,  so 
schemt  es  ganz  anschaulich,  wie  es  in  einer  Urzeit  gar  keine 
Flexionen  gab ,  wie  irgend  einmal  die  SprachbÜdung  z.  B. 
bei  den  verschiedenen  Casus  desselben  Substantivs  immer 
mit  neuen  Wortbildungen  einsetzen  konnte.  Ich  erdichte 
mir  d»  ganz  phantastische  Beispiele,  weil  es  mir  nur  darauf 
ankommt,  die  Möglichkeit  einer  solchen  Entwickelung  zu 


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51 


zeigen.  Hatte  <ler  Ruf  des  Staunens  oder  das  Demonstrativ- 
pronomen sich  zum  Namen  für  die  aufgehende  Sonne  ent- 
wickelt, so  konnte  sich  der  Seufzer  des  Bcdauirns  zum 
Namen  der  untergehenden  Sonne  entwickeln;  es  konnte  also 
dieselbe  Sonne  je  nach  ihrem  Stande  zwei  verschiedene 
Eigeniiaiiien  haben.  Ich  unterlasse  es  absichtlich,  auf"  ver- 
wandte Tbatsachen  der  Sprache  hinzuweisen.  Es  konnte 
ebenso  die  unreife  Frucht  mit  einem  andern  Stamiuworte 
bezeichnet  werden  als  die  reife.  Das  musst«  der  naiven 
Anschauung  irgend  welcher  Urzeitmenschen  so  nahe  liegen, 
wie  uns  die  Gewohnheit  Kalb,  Kuh,  Stier  u.  s.  w.  zu  sagen. 
In  diesen  verschiedenen  Wortstämmen  für  verschiedene 
Standorte,  Lebenslagen,  Lebensalter,  Geschlechter  der  Gegen- 
stände liegen  aber  die  Kategorien  unserer  Flexionen  ver- 
borgen. Die  Analogiebildungen  Lc'iwe  Löwin,  Löwe  Löwen- 
junges u,  s.  w.  sind  bei  den  ältesten  und  gebräuchlichsten 
Tiereigennameu  gar  nicht  vorhanden.  Es  sind  offenbar 
jüngere  Sprachbildungen.  So  dürfen  wir  auch  annehmen, 
dass  die  Gemeinsam i.j^it  des  Wortes  Sonne  für  das  auf- 
gehende und  das  untergehende  (i'  stirn  in  irgend  <  nu  r  ur- 
alten Zeit  eine  neue  Sprachsch(i{  tutig  war.  Die  Bestim- 
raungsworte  , aufgehend*'  und  , untergehend  sind  nur  Orts- 
üder  Richtungsbezeichnungen ,  wie  die  Flexionssilben  der 
Casus. 

Im  Chinesischen  trifft  das  Pronojnen  der  zweiten  Pereon 
mit  Konjunktionen  ftir  örtliche  und  zeitliche  Nähe  zusammen, 
ferner  mit  Ausdrücken  für  Aehnlichkeit.  Das  scheint  uns 
.so  absurd,  dass  wir  zuerst  nach  verwandten  Erscheinungen 
vergebens  suchen.  Es  Hesse  sich  aber  wohl  ein  Poet  vor- 
stellen, der  dichtete:  Eine  Rose  stand  der  andern  so  nahe, 
dass  sie  ihr  Du  sagte.  Und  umgekehrt  sagen  wir  mund- 
artlich von  einem  schönen  Gemälde,  einer  ausgezeicbneteu 
Fracht:  Da  muss  ich  Sie  sagen. 

Mit  solchen  Erscheinungen  und  den  alten,  jeder  Ana- 
logiebildung vorausgehenden,  gewissermassen  ungrammati- 
schen und  überreichlichen  Worten  wie  Kalb,  Kuh,  Stier 
u.  8.  w.  glaube  ich  nun  die  bekannte  Thatsache  wieder  m 


52 


I.  Unbestimmibeit  des  g^ranmiatischen  Sinnes. 


Zusammeiiliang  bringen  su  dflrfen,  das«  die  &ltesten  und  ein- 
geübtesten grammatiBclien  Reiben  ebenfalls  obne  Hilfe  Ton 
Flexionen  dureb  Tersditedeae  Wortstämme  ausgedrQckt  wer- 
den, im  Deiitscben  wie  in  anderen  Sprachen.  «Bin  —  war 
—  gewesen"  f  „gut  —  beaeer^  frappieren  durdi  die  flba> 
flüssige  Verwendung  neuer  Stimme;  bei  »besser*  für  das 
alte  „bass*  ist  es  besonders  deutlich^  wie  die  KomparatiT- 
flexion  nacbtrSglich  zu  dem  unTerständlich  gewordenen  Kom- 
parativ des  Adverbs  „gut"  hinzutrat  Es  ist  dieselbe  Er- 
scheinung, wie  wenn  ehemalige  starke  Verben  im  Deutschen 
die  sogenannte  schwache  Flexion  annehmen.  Die  Analogie- 
bildung rückt  siegreich  vor.  /u  dieser  flexionslosen  Ent- 
wickelung  von  Begrittsreiheii  möchte  ich  auch  die  Gruppen 
„ich,  du,  er",  „wir,  ihr,  sie",  ferner  die  so  altertümlichen 
Zahlwörter  von  eins  bis  zehn  rechnen.  Ein  bewusster,  auf 
der  Grauuuatik  stehender  Sprachschöpfer  hätte  all  das  sicher- 
lich mit  Ilüfe  von  Flexionen  erfunden. 
VokAtiv  Es  war  recht  unwahrscheinlich,  dass  uns  die  historische 
Sprachwissenschaft  die  Möglichkeit  gewähren  würde,  die 
Phantasie  von  einer  Sprachschöpfung  zu  illustrieren,  in  die 
Zeit  ziirtickzuleuchten,  in  welcher  ein  unflektierter  Ruf  doch 
den  grammatischen  Wert  eines  Satzes  haben  konnte.  Und 
dennoch  linde  ich  jetzt  ein  zweites  Beispiel  so  weit  vor- 
bereitet, dass  ich  es  vorsichtig  beibringen  möchte.  Es  handelt 
sich  um  eine  auffallende  Aehnlichkeit  zwischen  dem  Vokativ- 
casus des  Substantivs  und  der  Ini})erativform  des  Verbums. 
Sie  lassen  sich  beide  als  die  flexionslosen  Formen  betrachten. 
Wenn  wir  uns  von  unserer  Gewohnheit,  vom  Infinitiv  und 
vom  Noramativ  auszugehen,  ganz  belreien  könnten,  so  würden 
wir  einsehen,  dass  der  Vokativ  und  der  Imperativ  die  älte- 
sten Formen  des  Substantivs  und  des  Verbunis  darbieten. 
Darüber  weiss  die  hhT.tuiJsclie  Grammatik  hübsche  Einzel- 
heiten. In  vorhistorischer  Zeit  nun,  als  die  Kategonen  des 
Substantivs  und  des  Verbums  so  wenig  vorhanden  waren 
als  sie  es  heute  im  Chinesischen  sind,  konnte  eine  und  die- 
selbe Lautgrujjpe  natürlich  Vokativ  und  Imperativ  aus- 
drücken und  zwar  so,  dass  der  Hörer  die  Substantiv-  und 


Im 
P«rfttiv. 


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fladonen  ans  Riditiiiignrorteii  entitandMi. 


58 


die  Verbalform  identifizieren  musste.  Erinnern  wir  lu»  nun 
gar,  dasB  die  Sprache  swischen  den  Menachen  Ton  gar  niehta 
Anderem  auagehea  konnte  ala  Tom  aufiTordemden  Anruf,  ao 
beaitMn  wir  in  unserem  «du*  etwas  wie  eine  Seitenform  au 
dem  genuB  generaUssimum,  dem  Demonatrativpronomen  .da* 
oder  ,daa*,  eine  Seitenform,  welche  nicht  durch  Flexion, 
sondern  durch  ein  neues  Wort  zugleich  den  VokatiT  und 
den  ImperatiT  in  die  Sprache  hineinbrachte. 

Halten  wir  unsere  Phantasie  von  der  Entstdiung  derFi«iioMm 
Sprachfonnen  u.  s.  w.  fest,  so  sind  wir  nach  dem  lotsten  g"^. 
Beispiele  vielletcht  in  der  Lage,  uns  die  Entstehung  der  tuas^ 
'Casusfonnen  doch  glaubhafter  zu  erkUbren,  als  es  die  neue, 
unter  dem  Eii^uss  der  Sanskritisten  stehende  Sprachwissen-  itMi««!!. 
Schaft  gethan  hat.  Dieae  hat  bekanntlich  die  Sprachen  in 
flexionslose,  anklebende  und  flektierte  eingeteilt;  sie  denkt 
sich  die  Entstdiung  unserer  flektierten  Sprachen  so,  dasa 
ein  dunesischer  Zustand  der  Einsilbigkeit  vorausging,  dass 
das  Anldeben  roa  Sl&nmen,  die  nacUier  au  Bildungssüben 
abgeschwftcht  wurdeo,  folgte.  Abgesehen  nun  davon,  dass 
die  Flexionslosigkeit  des  Chinesischen  neuerdings  eher  wie 
das  Ende  als  wie  der  Anfang  der  Entwickelung  aussieht, 
dass  unsere  Kuliursprachen  (besonders  das  Euglische)  sich 
der  Flexionslosigkeit  nähern,  ist  auch  gar  nicht  abzusehen, 
wie  Casus-  und  Tempusformen  künstlich  gebildet  werden 
konnten,  bevor  es  eine  Gramnufttik  gab.  Und  eine  Grammatik 
wieder  in  unserem  Sinne  konnte  es  doch  ganz  gewiss  nicht 
lachen,  bevor  ihre  Formen  existierten.  Aus  diesem  Dilemma 
kiUt  vielleicht  eine  Vorstellung,  die  ich  mit  dem  „Mute  zu 
irren",  den  Sprachphilosophen  vorle|i?e.  Wie  wenn  uiclit  die 
Substantive  durch  (lie  Casusbezeicbtiuiigcn  (mututis  mutandis 
die  Verbal toiiiica)  naher  bestimmt  wurden,  sondern  die 
Casuseii  du  Ilgen  durch  die  Substantive?  Wie  wenn  die  an- 
geblichtju  Casusendungen  viel  ältere  und  ullgcnieinere  Worte 
gewesen  wären,  als  die  Menge  der  Substantive?  Ich  stelle 
mir  das  so  vor:  War  das  Demonsti ati\ prnnoiuea  „da"  oder 
»das*  das  genus  generalissiuiuui ,  so  konnten  die  Bezeich- 
nungen für  Lokalverhältnisse  (metaphorisch  auf  Zeitverh'ält- 


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54  I-  Unbeitiiniiith«it  dM  gnumnaiiioiMB  Simiei. 

niflse  angewandt)  «her,  hin,  zu,  fort,  oben,  nnten  u.  s.  w." 
sehr  aUgemeine  Begriffe  sein,  welche  in  einer  Uneit  aus 
der  Situation  heraus  fUr  die  Veistftndigttng  zwischen  den 
Menschen  genOgten.  Es  konnte  —  um  im  Phantasieren  zu 
bleiben  —  der  Oeneralbegriff  der  Entfernung  im  Gegensatz 
zu  dem  Oeneralbegriff  der  Annihenmg  z.  B.  den  AblatiT 
gegen  den  Ahkusativ,  die  zweite  Person  gegen  die  erste, 
die  Vergangenheit  gegen  die  Zukunft  bedeuten.  Dass  Sub* 
stantiY-  und  Verbalformen  dabei  durcheinander  laufen,  ist 
flir  eine  so  alte  Zeit  eher  eine  Untersittfezung  der  Hypo- 
these als  ein  Fehler.  In  dem  zum  Bichtungsworto  ent^ 
wickelten  Demonstrativpronomen  sprach  sich  die  Situation* 
des  sprechenden  Menschen  aus.  Als  diese  arme  Sprache 
dem  Reichtum  der  wachsenden  Seelensituation  nicht  mehr 
entsprach,  als  die  Bichtungsworte  durch  die  inzwischen  ent- 
standenen Substantire,  A^'ckttye  oder  Verben  näher  be- 
stimmt wurden,  analogische  Flezionssilben  wurden,  da  wurde 
die  Bedeutung  dieser  alten  Bichtungssüben  nachtriglich 
durch  die  Wirklichkeitswelt  gegeben  und  so  musste  es  frei- 
lich kommen,  dass  unsere  in  der  Grammatik  aufgezählten 
Casusfbrmen  eine  so  unzusammenhüugende  Fülle  Ton  Be- 
deutungen aufweisen  wie  z.  B.  unser  Genitiy.  Die  Unbe- 
stimmtheit aller  grammatikalisdien  Kategorien  wSre  dann 
aus  ihrem  Ursprung  erkUlrt. 

Wo  sich  diese  alten  Bichtungsworte  (die  meistens  durch 
ihr  altertOmliches  iGepräge  aufGdlen)  erhaUen  haben,  da 
weisen  sie  die  gleiche  unzusammenhängende  Fülle  der  Be- 
deutungen auf  wie  die  ffildungssilben  der  Casus.  Man  denke 
nur  an  den  fast  uneingeschrftnkten  Gebrauch  unserer  Worte 
flTon*  und  «Tor*.  Und  es  ist,  als  ob  die  Sprache  auf  den 
metaphorischeD  Gebrauch  der  Richtungsworte  gar  nicht  ver- 
zichten kdnnte.  Im  Französischen  und  gar  im  Englischen  ist 
die  Rückkehr  beinahe  Tollendet;  die  Richtungsworte,  welche 
einst  vielleicht  die  Sprache  ausmachten,  welche  dann  zu 
Oasusbezeichnungen  wurden,  sind  am  Ende  der  Worte  aus- 
gefallen, nach  langsamer  Abschw'dchung,  und  stehen  jetzt 
breit  und  schwer  im  gleichen  Dienste  vor  den  Worten,  ab 


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tonlofle  CaBUBseicben.  Und  selbst  die  Jakrtauflende  alte 
TrenimDg  Ton  SubstantiTeii  und  Verben  hindert  nicht,  dass 
dieselben  Richtnngsworte,  und  in  der  gleichen  Bedeutung, 
mehr  und  mehr  den  Verben  Torangestellt  werden.  Ich 
glanbe  es  deutiich  ToreteUen  zu  können,  dass  der  Ctoneral- 
begriff  ,in*  oder  „hin*  einmal  aus  der  Situation  heraue 
genügte,  um  Terstindlich  ausiudrDcken,  dass  entweder  der 
Sprecher  an  einen  bestimmten  Ort  gehen  wolle  oder  der 
Elker  hingehen  solle.  Der  grOwsre  Reichtum  der  Situations* 
bildung  mochte  dann  dazu  f&hren,  diesen  Oeneralbegriff,  der 
Verbum,  SubstantiT  und  Ricbtungsinteresse  zusammenfasste, 
weiter  zu  erklären.  , Gehen  —  Stadt  —  bin*  besagte  nicht 
mehr  ds  das  «bin''  allein.  Die  Sprachen  konnten  die  Be- 
griffe ordnen  wie  sie  wollten  (ire  urbem,  ire  in  urbem,  inire 
urbem,  inire  in  urbem),  das  Richtungswort,  der  Vorläufer 
der  Flexionssilben,  war  das  allein  Sagenswerte,  fast  möchte 
ich  sagen,  das  allein  Sagbare;  alle  übrigen  Satzbestandteile 
waren  nui*  ein  Ersatz  fUr  die  einst  gegenwärtige  Situation. 


II.  Das  Yerbum. 

Zu  der  Einsicht,  dass  den  Kategorien  der  Logik  oder  Lessiug. 
Grammatik,  dass  den  Redeteilen  in  der  Wirklirbkeitswelt 
nichts  entsprecht ,  dass  insbesondere  das  Thiiti^^keits-  oder 
Zeitwort  keine  einfache  Wahrnehmung  wiedergebe,  konnte 
Lessing,  abhängig  von  der  Psychologie  seiner  Zeit,  unmög- 
lich gelangen.  Starb  er  doch  in  dem  Jahre,  in  welchem 
Kant,s  Kritik  der  reinen  Vernunft  erschien;  und  die  grund- 
legenden Untersuchungen  Leckes  hatte  er  trotz  eingehender 
Beschäftigung  mit  Leibniz  nicht  weiter  geführt.  Um  so 
überraschender  ist  es,  wie  Lessing  durch  eine  seiner  ent- 
•scheidenden  Ideen .  durch  die  Grenzbestunniung  zwischen 
Poesie  unil  Malerei,  zu  einer  Definition  der  Handlung  ge- 
führt wird,  die  mit  einer  psychologischen  Auffassung  des 
Thätigkeitsbegriffs  fast  wörtlich  zusummenftllt.  Diese  De- 
finition, welche  eigentlich  schon  seinen  Laokoon  voraus- 


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56 


II.  Dm  TtrVnm. 


nimnit,  findet  sieb  in  seiner  Abhandlang  aber  die  Fabel  aus 
dem  Jahre  1759. 

«Eine  Handlung  nenne  ich  eine  Folge  Ton  Verilnde- 
rungen,  die  nisammen  ein  Ganses  ausmachen.  Diese  Ein«- 
heit  des  Chinzen  beruhet  auf  der  üebereinstimmung  aller 
Teile  zu  einem  Endzweck." 

Diesen  Endzweck  sieht  Lessing  allerdiugs  in  dem  mara- 
lisehen  Lehrsatz,  für  den  die  Fabel  erfunden  worden  ist; 
aber  der  erkenntnis-theoretische  Wert  der  Definition  geht 
weit  aber  diese  moralische  Nutzanwendung  hinaus.  Lessing 
spricht  es  unmittelbar  darauf  aus:  er  könne  es  für  eine  un- 
trttgliche  Probe  ausgeben,  dass  eine  Fabel  schlecht  sei,  dass 
sie  den  Namen  der  Fabel  gar  nicht  verdiene,  .wenn  ihre 
Tcrmeinte  Handlung  sich  ganz  malen  lAsst.*  In  diesen 
wenigen  Worten  liegt,  ¥rie  gesagt,  der  leitende  Gedanke  des 
Laokoon,  in  welchem  Lessing  nur  wenig  spifter  mit  all  seiner 
Scharfsichtigkeit  schon  die  sprachphiloeophiBche  Seite  der 
Sache  bemerkte 

Er  kommt  auf  diese  philosophische  Seite  der  Frage  im 
16.  Kapitel  des  Laokoon  und  ist  sich  der  Bedeutung  gar 
wohl  bewusst;  denn  er  beginnt  die  Auseinandersetzung  mit 
den  Worten:  »Doch  ich  will  Yersuchen,  die  Sache  aus  ihren 
ersten  Gründen  herzuleiten.*  Lessing  ist  so  sehr  auf  die 
enksk  Grfinde  seiner  üsthetiBehen  Fragen  eingegangen,  dass 
der  Laokoon  aber  seine  Absicht  hinaus  ein  Beitrag  zur 
Sprachphilosophie  geworden  ist 

Schon  in  den  einleitenden  Sfttieu  des  Werkes,  in  denen 
er  stolz  bescheiden  die  zufällige  Entstehnng  und  den  Mangel 
an  Ordnung  im  Werke  beklagt,  sagt  er  beiliutig  etwas,  was 
ich  zu  einem  der  Motti  meiner  Sprachkritik  machen  möchte. 
,An  sjrstematischen  Bachem  haben  wir  Deutschen  Ober- 
haupt keinen  Mangel.  Aus  ein  paar  angenommenen  Woi-t- 
erklärungen  in  der  schönsten  Ordnung  alles,  was  wir  wollen, 
herzuleiten,  darauf  verstehen  wir  uns,  trotz  einer  Nation  iu 
der  Welt.* 

Diest'  Verachtun^^  aller  Wortiti;u  In  rri  (die  sich  in  dem 
herrlichen  10.  Kapitel  des  Laoküuii   bis  zu  der  Einsicht 


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Lessiog.  57 

steigert,  dass  auch  die  Zeicheiupniclie  der  antüdsierenden 
Malerei  eine  hohle  ICadcerade,  ein  S|nel  mit  toten  Symbolen 
sein  könne)  mueste  dem  Verfasser  des  Laokoon  so  nahe 
Gegen,  weil  die  ersten  Grttnde  der  ganzen  Untersnchung  auf 
dem  Gelnete  der  Ansdrucksmittel  lagen.  Wo  er  su  dieser 
Frage  gelangt,  da  staunen  wir  acugleich  Uber  den  Scharf- 
sinn des  ausserordentlichen  Mannes  und  beklagen  die  ge- 
ringe Psychologie  seiner  Zeit.  £Sr  sagt:  «Wenn  es  wahr 
ist,  dass  die  Malerei  zu  ihren  Nachahmuugeii  ganz  andere 
Mittel  oder  Zeichen  gebraucht  als  die  Poesie,  jene  nlmlich 
Figuren  und  Farben  in  dem  Baume,  diese  aber  artikulierte 
Töne  in  der  Zeit;  wenn  unstreitig  die  Zdchen  ein  bequemes 
Verhftltnis  zu  dem  Bezeichneten  haben  mOssen:  So  können 
nebeneinander  geordnete  Zeichen  auch  nur  Gegenstände,  die 
nebeneinander,  oder  deren  Teüe  nebeneinander  existieren, 
aufeinander  folgende  Zeichen  aber  auch  nur  €^enstände 
ausdrücken,  die  aufeinander,  oder  deren  Teile  aufeinander 
folgen."  Lessing  sagt  dann  weiter,  dass  Gegenstände,  die 
aufeinander,  oder  deren  Teile  aufeinander  folgen,  Hand- 
lungen heissen;  dass  folglich  Handlungen  der  eigentliche 
Gegenstand  der  Poesie  seien.  Er  leitet  daraus  die  berühmte 
Sclilussfol^erung  her,  dass  die  Malerei  also  nur  einen  ein- 
zigen Augenblick  der  Handlunt^  nutzen  könne  und  daher 
den  prägnantesten  wühlen  müsse,  aus  welchem  das  Vorher- 
gehende und  Folgende  am  begreiflichsten  werde.  Es  ver- 
steht sich  von  selb.st,  dass  Lessing  bei  all  diesen  1  )aj  It^un^^en 
nur  an  solche  Darstellungen  der  bildenden  Kun.Nt  denkt, 
welche  eben  Handlungen  darstellen  wollen,  dass  Lessings 
Laokoon  darum  aul  die  homerischen  Gedichte  und  auf  Ge- 
mälde nach  Homer  weit  besser  passt  als  auf  moderne  Stim- 
mungsbilder und  moderne  Stimmungspoesie.  Wie  Lessing 
aber  immer  mit  seinen  Gedankenblitzen  weit  voraus  leuchtet, 
so  hat  er  auch  schon  (bis  Wort  ausgesprochen,  mit  welchem 
wir  seinen  Stninipunkt  kiitisieren  möchten. 

"Vielleicht  kam  er  zu  dem  Gedankenblitze,  den  ich  meine, 
dadurch .  dass  die  Theorie  des  Laokoon  sich  kaum  gegen 
eiu  anderes  berUhmtes  Werk  seiner  Zeit  so  sehr  zu  richten 


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58 


II.  Dm  TMbmn. 


schien,  wie  gegen  den  „ Frühling"  seines  lieben  Freundes 
Kleist.  Von  Herrn  von  Kleist  Tersichert  er  eifrig,  dass  er, 
hfttte  er  ISnger  gelebt,  dieser  malenden  Poesie  eine  andere 
Gestalt  gegeben  hätte;  ,er  würde  (es  sind  Worte  Ton  Mar» 
montel)  aus  einer  mit  Empfindungen  nur  sparsam  durch- 
webten  Beihe  von  Bildern  eme  mit  Bilden  nur  spantan 
durchflochtene  Folge  Ton  Empfindungen  gemacht  haben.* 
In  diesem  Zusammenhange  dtiert  Leesittg  eine  Stelle  aus 
einem  nicht  minder  berühmten  malenden  Gedichte,  ans  Hallers 
«Alpen*.  Lessing  will  den  Einwuif  machen,  daes  Hallers 
Beschreibung  denjenigen  keine  Vorstettung  gebe,  der  all 
diese  Kräuter  und  Blumen  noch  nie  gesehen  habe.  Und 
hier  steigt  Lessing  plötzlich  au  den  eisten  Gründen  herab, 
wenn  er,  mit  einer  seiner  bewundernswürdigen  Selbstnnter- 
brechungen,  ausruft:  »Ee  mag  sein,  dasa  aUe  poetischen 
Gemälde  eine  Torläufige  Behwontschaft  mit  ihren  Gegen- 
ständen erfordern.  Ich  will  auch  nicht  leugnen,  dass  dem- 
jenigen, dem  eine  soldie  Bekanntschaft  hier  zu  statten  kdmmt, 
der  Dichter  nicht  Ton  einigen  Teilen  eine  lebhaftere  Idee 
erwecken  konnte.* 

Hier,  an  diesem  Punkte  mttsste  die  neue  Psychologie 
einsetzen,  wollte  sie  Über  Lessing  hinaus  die  Grenaen  zwi- 
schen Malerei  und  Poesie  abzustecken  wagen.  Was  Lessing 
da  wie  mit  einem  ihn  blendenden  Blitze  beleuchtet  hat,  das 
lässt  uns  heute  den  Zusammenhang  zwischen  den  Ausdrucks- 
mitteln der  Malerei  und  der  Poesie  einerseits,  den  Zusammen- 
hang zwischen  der  Handlung  und  ihrem  sprachli^en  Zeichen, 
zwischen  der  Wirklichkeitswelt  und  dem  Yerbum,  zwischen 
dem  Mitteilungsinhalt  und  der  Sprache  begreifen.  Denn 
wir  wissen  ja,  dass  nicht  nur  alle  poetischen  Gemälde  eine 
vorläufige  Bekanntschaft  mit  ihren  G^enständen  erfordern, 
sondern  dass  alle  Mitteilung  (ToUzieht  sie  sich  nun  durch 
sichtbare  Sprache  oder  Malerei  oder  durch  die  Lautsprache) 
nur  Erinnerung  ist,  also  immer  und  unter  allen  Umständen 
vorläufige  Bekanntschaft  Toraussetzt.  Der  Sprachkritiker 
wenigstes  hat  gelernt,  dass  in  dem  artikulierten  Worte  der 
Lautsprache  niemals  etwas  anderes  liegt  als  die  Erinnerung 


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Zweck  im  Verbum. 


59 


an  SinnesdiidTfidce,  und  daas  auch  die  Halarei  oder  Zeich- 
nung eine  kttnatliclie  und  bis  su  einem  gewissen  Oxade  kon- 
TentioneUe  Artikulation  dessen  ist,  was  das  Auge  so  ganz 
anders  in  der  WirUicUceit  erblickt  (vergl.  I.  46). 

Insbesondere  die  Handlung,  welche  Lessing  in  seiner  zwMk 
Abhandlung  Aber  die  Fabel  so  pracbtroU  definiert  ^t,  und  ver^ 
welche  er  sich  so  einfach  durch  das  Verbum  darstellbar 
denkt,  haben  wir  als  etwas  kennen  gelernt,  was  durch  Worte 
gar  nicht  su  beschreiben  iak  Wir  wissen,  dass  wir  z.  B. 
mit  dem  Worte  .graben*  eine  Unzahl  minimaler  KSrper* 
bewegungen  unter  dem  menschlichen  Gesichtspunkte  eines 
Zwecks  zuBammenfassen.  Was  im  Gehirn  beim  Anblick 
eines  Bildes  und  beim  Anhören  des  entsprechenden  V erbums 
(des  Attsdrucksmittels  f&r  die  Handlung,  fOr  das  Objekt  der 
Poesie)  Torgeht,  ist  also  gar  nicht  so  Tsrschieden.  Aus  dem 
Augenblicksbflde  z.  B.  in  einem  GemUde  Ton  J.  F.  MiDet 
kommt  uns  die  Erinnerung,  dass  ein  grabender  Mensch  ein- 
mal auch  diesen  Anblick  gewShrt;  hören  wir  das  Wort 
graben,  so  bezeichnet  es  allerdings  nicht  einen  einzelnen 
Augenblick,  sondern  den  ganzen  Komplex  der  zweckmässigen 
Bewegungen,  aber  es  gfibt  doch  zur  Beschreibung  der  Thi&tig- 
keit  nidit  mehr,  sondern  wouger  als  das  Gemilde.  Es  gibt 
den  unaichtibaren  Zweck  des  Bewegungskoraplexes  als  Mittel- 
punkt der  Brinoerung  an  die  unzftUigen  Teilbewegungen. 
Und  woUte  der  sprechende  Mensch,  der  Dichter  nun  mehr 
tfaun  als  der  Maler  und,  wie  die  Theorie  Lessings  es  Ter- 
langen  würde,  an  Stelle  des  unsichtbaren  Zweckbegrifib  diie 
Teilhandlungen  auizählen  und  so  die  Oesamthandlung  zu 
beschreiben  suchen,  so  würde  sich  bald  herausstellen,  dass 
Handlungen  durch  die  Spraclu'  nicht  zu  beschreiben  sind, 
dass  die  Vorstellung  von  einer  Handlung  durch  eine  solche 
genaue  Beschreibung  nur  immer  undeutlicher  würde.  Oder 
Tielmehr:  Es  ist  die  komplizierte  Handlung  (z.B.  das  Sat- 
teln oder,  um  bei  Homer  zu  bleiben,  das  Anschirren  der 
Pferde)  dem  hörenden  Mensehen  entweder  geläufig  oder  sie 
ist  ihm  fremd.  Ist  sie  ihm  fremd ,  so  wird  die  Beschrei- 
bung, die  Aufzählung  der  Teilkandluugen  ihm  von  Seiten 


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60 


IL  Dm  Yeibnn. 


des  sprechenden  Menschen  nicht  eigenUich  eine  sprachliche 
Hitteflung,  sondern  eine  Neuigkeit  sein;  er  wird  wünschen 
den  ganzen  Vorgang  lieber  praktisch  Tor  sidi  zu  sehen, 
weil  er  der  Beschreibung  kaum  zu  folgen  vermag.  Ist  dem 
hörenden  Menschen  der  Handlungskomplex  Jedoch  geläufig, 
so  wird  die  Beschreibung,  die  Aufzählung  der  Teilhand- 
lungen, ihm  bis  zur  Lächerlichkeit  langweilig  eracheinra. 
MtiM,"  Man  stelle  sich  einmal  vor,  ein  epischer  Dichter  wSxe  auf 
den  TenUckten  Einfall  gekommen,  das  Verbum  «er  ging*, 
weil  es  doch  nur  den  Zweckniittelpunki  angibt  und  nur  die 
Illusion  eines  wirklichen  Bildes  erzeugt,  durch  eine  Be- 
schreibung des  Gehens  zu  ersetzen,  wie  sie  etwa  durch  die 
Brttder  Weher  anatomische,  durch  Anachütc  photographisehe 
Kenntnis  geworden  ist.  Der  Dichter  könnte  nun  eine  Reihe 
▼on  Seiten  an  die  Stelle  des  einfachen  «er  ging*  setzen; 
jede  Einxelbewegung  des  Apparates  von  Knochen,  Sehnen, 
Nerven  und  Muskeln  könnte  er,  mit  oder  ohne  MathemsÜk, 
aufeinander  folgen  lassen.  Unsere  WissensehalUer  würden 
das  eine  ElrklSrung  des  Gehens  nennen.  In  Wahrheit  aber 
Ware  es  natOrlidL  keine  Erklärung,  sondern  nur  eine  Be- 
schreibung, eine  Beschreibung  aber  auch  wieder  nur  fllr  die 
Vorstellung  des  Anatomen  oder  Physiologen,  der  eine  «vor^ 
Iftufige  Bekanntschaft*  mit  den  Teilhandlungen  besüsse;  für 
den  unvorbereiteten  Zuhörer  wftre  es  das  Gegenteil  Ton 
einer  Beschreibung.  Er  wQrde  nach  dem  Lesen  der  ganzen 
Aufsählung  Ton  Teilhandlungen  viel  eher  glauben,  die  Person 
b&tte  geturnt  als  sie  wftre  gegangen.  Denn  nicht  nur  die 
Poesie  als  die  Wortkunst,  sondern  die  Sprache  ttberhaupt 
setit,  wie  vrir  wissen,  den  Gegenstand  der  Mitteilung  als 
bekannt  voraus  —  um  diesen  Gedanken  endlich  einmal  so 
scharf  wie  möglich  auszudrücken.  Gerade  das  Verbum  als 
das  Ausdrucksmittel  der  Handlung  ist  für  diese  Erkenntnis 
sehr  wichtig.  Die  Adjektive  grOn,  sUss  n.  s.  w.  lassen  frei- 
lieh keinen  Zweifel  darttber,  dass  keine  Beschreibung  eine 
Vorstellung  des  Ghünen,  Sflssen  u.  s.  w.  dengenigen  liefern 
könnte,  dessen  Gesichtsnerven,  Geschmacksnerven  u.  s.  w. 
nicht  funktionieren.   Das  seheint  uns  aber  gar  nicht  mehr 


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Wortkiuuti 


61 


bemerkenswert,  weil  es  vor  aller  Psjcholoijie  klnrsein  rousst«, 
weil  —  wie  ich  hinzufüge  —  die  uinnittelbaren  Sinnesein- 
(lrii(  ko  immer  adjektivisch  sind  uud  darum  niemals  durch 
Be>»chreibungea  ersetzt  werden  können.  Bei  den  Substan- 
tiven ist  ein  Irrtum  schon  eher  möglich;  man  glaubte  die 
VorstelluMu*  von  einem  EU  lunten  in  der  Schule  durch  ad- 
jektivische ijeschreibungen  erzeugen  zu  können,  bis  die 
neuere  Pädagogik  in  allen  solchen  Füllen  den  Anschnnunsr^- 
unterricht  fUr  notwendig  erklärte.  Der  Anschauungsunter- 
richt versucht  durch  hübsch  kolorierte  Bihhr  auch  die 
Thiitigkeit  der  Handwerker  den  Kindern  beizuljringen.  Ein 
fruchtloses  Bemühen!  Niemals  wird  sich  das  Kind  von  der 
Thatigkeit  eines  Handwerkers  eine  Vorstellung  machen 
können,  wenn  es  seine  Werkstatt  nicht  besucht  hat.  Durch 
blosse  Beschreibung  der  Thatigkeit  kann  man  weder  einen 
Schuhmacher  noch  einen  Schwimmer  ausbilden;  man  kann 
aber  auch  dem  Nicht-Schuhmacher  und  Nicht-Schwimmer 
von  der  Thatigkeit  durch  blosse  Beschreibung  keine  Vor- 
stellung geben.  Handlungen  können  nicht  der  eigentliche 
Gegenstand  der  Poesie  sein,  der  Wortkunst,  weil  Thätig- 
keiten  sich  durch  Worte  am  allerschlechtesten  beschreiben 
lassen.  Poesie  kann  schon  aus  diesem  Grunde  immer  nur 
Seelenstimmungen  darstellen,  welche  der  Dichter  (unthätig, 
handelnd  oder  andern  handelnden  Personen  gegenüber  — 
lyrisch,  dramatisch  oder  episch)  empfindet  und  die  er  beim 
Leser  Avieder  erzeugen  will. 

Die  letzte  Entwickelnng  der  europäischen  Poesie  hat  wort- 
sich  revolutionär  vollzogen,  ohne  dass  irgend  einer  der  Dichter 
oder  der  Theoretiker  Termutet  hätte,  dass  der  Umschwung 
in  irgend  einem  Zusammenhange  stände  mit  den  erkenntnis- 
iheoretischen  Fragen  unserer  Zeit.  Ich  möchte  die  Aufgabe, 
diesem  Zusammenhange  nachzuforschen,  einem  Leser  dieser 
S)>rachkritik  stellen*  Die  begabtesten  unter  den  modernen 
Dichtem  Tendchton  auf  die  allein  selig  machende  Handlang 
sogar  im  Drama,  geschweige  denn  im  Roman,  und  lassen 
die  Handlung  mehr  aus  der  Stimmung  ihrer  Personen  er- 
raten, welche  sie  doch  allein  kennen;  und  wieder  die  Oha^ 


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62  Verbum. 

raktere  dieser  Personen  sehildern  sie  nur  indirekt,  weil  die 
Sprache  niclit  mehr  vermag;  und  sie  haben  es  aufgegeben, 
Musterbilder  von  Menschengruppen  aufzustellen,  weil  sie 
doch  nur  Individuen  kennen  und  weil  es  eine  typische  Sprache 
für  Typen  gar  nicht  gibt,  sondern  nur  Individualsprachen. 
Es  wäre  traurig,  wenn  die  l'robe  auf  das  Excmpel  niclit 
gestimmt  hätte,  wenn  die  neueste  Entwickelung  der  Wort- 
kunst der  Sprachkritik  widerspräche. 

Erkeautuistheoretische  Untersuchungen  haben  uus  zu 
der  Einsicht  geführt,  daHs  die  altberühmt^n  Kategorien  des 
Seins  doch  nur  die  aus  unseren  indoeuropäischen  Sprachen 
abstrahierten  Redeteile  der  Grammatik  sind,  und  dass  diese 
Redeteile  weder  der  Wirklicbkeitswelt  noch  unsern  Sinnes- 
eiudrilcken  von  ihr  kongruent  sind.  Wir  haben  gesehen, 
dass  unsere  Wahrnehmungen  von  den  Dingen  weit  eher  ad- 
jektivischer als  substantivischer  Natur  sind ,  und  dass  das 
Verbum  Beziehungen  im  Raum  und  in  der  Zeit  auszudrücken 
versucht,  etwa  Veränderungen,  also  Yergleichuugen ,  dass 
wir  aljer  von  Thätigkeiten  und  Zustanden  unmittelbar  gar 
nichts  wissen.  Nun  fnhreT\  uus  psycliulogische  Unter- 
suchungen auf  ganz  and»  r« m  W  ege  dazu,  das  \*erbum  auch 
sprachlich  übertiüssig  zu  tin.flen  zur  Auffassung  oder  Mit- 
teilung einer  Handlung.  Bei  elii}»tischen  Formen  wie  .,Her- 
.macben".  aus!"  ,Zu  Pferde!"  „Sehneil!"  und  dergleichen  ist  es  ja 
bekannt,  dass  das  Verbum  aus  der  Situation  ergänzt  wird. 
Das  ist  aber  nicht  mit  den  Sprachpedanten  so  zu  verstehen, 
als  verschweige  der  Sprecher  und  er^^änzp  der  Hörer  ein 
bestimmtes  Verbum  z.  B.  der  Scliauspieier  solle  heraus 
-kommen",  der  lästige  Besucher  solle  heraus  , gehen".  Man 
könnte,  wenn  tuhti  srhon  einen  ordentlichen  Satz  formu- 
lieren will,  in  jedem  solchen  Falle  das  Verbum  ..machen* 
eintreten  lassen,  welches  ja  so  häufig  als  allgemeinste  Be- 
zeichnung irgend  einer  Thätigkeit  fast  \s-\o  eine  Flexions- 
silbe gebraucht  wird.  Der  S]>rarhLf<  I  i hk  h  gestattet  die 
allerdings  für  unfein  geltenden  Redewendungen  wie  „nach 


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Yerboni  immer  nnvirklicfa. 


6a 


der  Schweiz  machen,  das  Schreckhorn  machen".  Vermut- 
lich ist  auch  das  lateinische  proficisci  (reisen)  aus  f&cw 
(machen)  entstanden.  , Machen heisst  dann  nicht  mehr  als 
die  verbale  Endsilbe,  welche  2.  B.  im  Deutschen  aus  Sattel 
«satteln^ f  aus  zwei  , entzweien",  aus  Schriftsteller  , Schrift- 
stellern" —  macht.  Weder  das  machen  im  Sinne  von  reisen, 
besichtigen,  besteigen  u.  s.  w.  noch  die  verbale  Endsilbe 
drückt  eine  bestimmte  Thätigkeit  aus  in  der  Umgrenzun|T. 
wie  etwa  die  Adjektive  grün,  gross,  laut,  einen  bestimmten 
Sinneseindruck  bezeichnen.  Unsere  Beispiele  umfassen  gieicli 
dreierlei  sogenannte  Thätigkeiten.  Satteln"  ist  von  einem 
Dingwort  abgeleitet,  welches  Objekt  einer  Veränderung  wird; 
«entzweien*  Ton  einem  Wort,  welehes  Ziel  einer  Thätigkeit 
wird;  „ Schriftstellern "  vergleicht  eine  Lebensweise  mit  der 
eines  besiammten  Berufs,  nnd  enthält  die  Nuance,  dass  die 
Aehnlichkeit  nicht  ganz  ziitrifTt.  (HierfQr  und  für  das  Fol- 
gende: Wegener  S.  138—150). 

Die  besten,  ich  möchte  sagen,  die  echten  Verben,  d  le  Vrrliiiin 
Zeitwörter  (weil  man  mit  ihnen  eine  Veränderung  in  der  "'^^ 
Zeit  ausdrücken  will),  lassen  sich  durch  die  Kunstmittel  des  «irUloh. 
Malers  nicht  mitteilen.  Das  Satteln  dauert  vielleicht  einige 
Minuten  lang  und  der  Maler  kann  bekanntlich  nur  einen 
onsugen  Augenblick  wiedergeben.  Dennoch  wird  ein  Reiter 
einer  guten  Zeichnung  von  einem  Kavalleristen  neben  seinem 
Pfetde  sofort  ansehen ,  ob  der  Kavallerist  aufsteigen  wolle 
oder  abgestiegen  sei  oder  ob  er  eben  die  Handlung  des 
Satteins  vornehme.  Seine  Sachkenntnis  deutet  ihm  die 
Situation  des  Augenblicks.  Nun  sagte  man  gewöhnliclit  dass 
die  in  der  Zeit  verlaufende  Sprache  die  Handlung  darstellen 
könne,  ja  dass  sie  nichts  als  Handlung  (in  der  Poesie)  dar- 
stellen dürfe.  Lessing  hat  in  seinem  Laokoon  die  Grenzen 
zwischen  Malerei  und  Poesie  auf  diesen  ünterschied  von 
Raum  und  Zeit  begründet»  Theoretisch  konnte  die  Psycho- 
logie dea  Torigen  Jahrhunderts  nichts  dag^n  einwenden; 
liCMsings  Theorie  war  ein  bedeutungsvoller  Fortschritt  gegen 
die  dichtenden  Malereien  seiner  Zeit.  Die  neuere  Psycho- 
logie aber  lisst  uns  erkennen,  dass  auch  das  Verbum,  in 


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Ii.  UnB  Verbum. 


weit  liein  Lossing  das  Hauptwort  der  poetischen  Darstellung 
hätte  sehen  müssen,  nur  ein  Situationsbild  wachruft,  aus 
welchem  sich   unsere  Sachkenntnis  eine  Veränderunf?  im 

Kuuine  (»der  in  der  Zeit,  eine  Thätigkeit  konstruiert.  Die 
von  Substantiven  abgeleiteten  Verben  sind  dafllr  besonders 
lehrreich.  .Satteln"  enthält  zwei  Bestandteile,  da.s  Sub- 
stantiv Sattel  und  die  Endsilbe,  welche  eine  sogenannte  ver- 
bale Vorstell erweckt;  das  Wort  heisst  etwa:  Etwas  mit 
dem  ^:^atu  l  nmchen ,  etwas  mit  dem  Sattel  vornehmen,  die 
Lage  des  Sattels  anders  werden  lassen  als  sie  vorher  war. 

Wir  haben  schon  gezeigt,  wie  unsere  Wahrnehniung 
die  unzähligen  Finger-  und  Handbewegungen  oder  gar  die 
Muskelreizungen  und  Innervationen  z.  B.  beim  üraben  oder 
Stricken  gar  nicht  sondert,  wie  unsere  Wahrnehmung  aus 
einem  augenblicklichen  Sitüationsbilde  oder  aus  mehreren 
solchen  die  Handlung  erst  kombiniert,  wie  erst  der  Zweck- 
begriff, den  wir  in  eine  unendliche  Reihe  von  minimalen 
Bewegungen  hineinlegen,  den  wir  bei  ihnen  voraussetzen,  als 
Handlung  einen  sprachlichen  Ausdruck  erhält.  Was  wir 
mit  den  Sinnen  wahrnehmen  heim  Satteln,  beim  Ackern, 
beim  Grahtu  oder  Stricken,  das  ist  in  keinem  Augenblicke 
etwas,  was  einer  Handlung  irgendwie  ähnlich  sähe.  Unsere 
Wahrnehmungen  sind  — -  wie  ge.sagt  —  immer  adjektivi- 
scher Art  Unser  Interesse  ist  es,  unter  Umständen  statt 
der  Adjektive  rot,  weich,  süss,  saftig,  die  gemeinsame  Ur- 
sache dieser  Adjektive  zu  beachten,  das  sogenannte  Ding, 
und  es  Aj>fel  zu  nennen.  Unser  Interesse  ist  es  wiederum, 
was  uns  veranlasst,  die  durch  einen  Zweckbegrilf  vereinigten 
Wahrnehmungen  ebenso  durch  ein  Verbum  zusamnn  uzu- 
fas^son.  Beim  Substitutiv  setzen  wir  in  der  WirklichkeiLswelt 
wenigstens  eine  Substanz  voraus,  die  die  vorausgegangene 
gemeinsame  Ursache  der  Adjektive  ist.  Beim  Verbum  ist 
das  (it  inem>ame,  der  Zwet  k  dei-  minimalen  Veränderungen, 
der  bmn  des  \'erbums  also,  in  der  Gcgenwartswelt  ganz 
gewiss  nicht  vorhanden.  Das  Verbale  in  den  Vorgängen 
kann  schon  aus  diesem  Gum  ]■  nicht  eigenthcli  mitgeteilt 
werden,  ein  eigeutüches  Verbum  ist  gar  sieht  möglich;  die 


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«essen". 


65 


verbalen  Formen  fordern  uns  nur  auf,  eine  Thätigkeife  und 
dergleichen  aus  den  Worten  heranssuhören  oder  in  sie  liin* 
^nxttlegen,  das  heisst  unsere  Aufmerksamkeit  mekr  auf  die 
Yet&ideruDg  der  Situation  als  auf  die  Situation  selbst  zu 
richten. 

Etwas  Ton  einer  wirkUchen  oder  möglichen  Aendemng 
der  Situation  meinen  wir  auch  bei  den  Verben,  die  keine 
Thätigkeiten  ausdrücken.  Der  unveränderte  Zustand  eines 
grünen  Waldes  heisst  in  der  Sprache  „der  Wald  ist  grün" ; 
sage  ich  -der  Wald  grünf",  so  verghnche  ich  den  jetzigen 
Zustand  mit  der  gruubrauiu  ii  Färbung  im  WiDt<?r.  (Dass 
wir,  hätte  sich  der  SpraihgLbriiUch  dem  Fortschritte  der 
Wissenschaft  angeschlossen,  auch  den  Zustand  mit  „der 
Wald  grünt  mich*  bezeichnen  müssten,  gehört  nicht  hierher.) 
Das  Verbuui  in  ,das  Buch  liegt  auf  dem  Tische*  sagt 
nicht  genau  dasselbe  wie  etwa  in  „das  Buch  ist  dick*" ;  im 
Liegen  witd  die  Möglichkeit  angedeutet  (unter  Umständen 
ganz  fühlbar),  dass  das  Buch  sicher  ruhe  und  nicht  herunter 
gefallen  sei. 

Wii-  kennen  schon  die  dominierende  Bedeutung,  welche 
die  Metapher  für  die  Entwickelung,  also  für  die  Entstehung 
der  S|»rache  besitzt.  An  nichts  erkennt  man  das  Schwanken 
der  Wortbedeutungen,  ihr  ä-peu-pr^s,  so  genau,  wie  daran, 
dass  die  Worte  sich  vergleichsweise  den  Umfang  ihres  Sinnes 
erobern.  Bei  der  metaphorischeu  Anwendung  der  Worte, 
ans  der  schliesslich  der  ganze  Spr»i  hschatz  entstanden  ist, 
laüj,.-,  im  raenschlicli«- n  (rfliirn  ein  unsiclioros ,  jx^ndelndes 
Tappeu  zwischen  <1< n  1  eiden  verglichenen  üegenstämlen  vor- 
handen sein,  ein  Tappen,  das  auch  im  schliesslichen  Ge- 
brauche der  Worte  versteckt  bleibt,  nachdem  die  Ver- 
gleichung  aus  dem  Öprachbewusstsein  verschwunden  ist; 
immerhin  weist  das  Substantiv,  nachdem  seine  metaphorische 
Entstehung  unbewusst  geworden  ist,  auf  eine  mehr  oder 
weniger  sinnliche  Vorstellung  hin.  Beim  Verbum  hört  dieses 
Vergleichen  niemals  auf,  dieses  pendelnde  Tappen,  dieses 
Wandern  des  Blickpunktes,  weil  wir  nie  eine  Thätigkeit 

wahrnehmen  oder  vorstellen  können,  weil  es  immer  etwas 
Uauthner,  BeitrftB«  zu  einer  Kritik  der  Sprache.  IH.  5 


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66 


n.  Das  Verbum. 


wie  d«r  Zweckbegriff  ist  (beim  SabstantiT  eine  Ursache), 
der  unsere  Aufinerksainkeil  rasch  fiber  die  imz&hligen  mi- 
nimalen Teilhandlungen  hingleiten  iSsst  und  errt  aus  der 
Vergleiebnng  der  Anfangs-  und  der  Sndsitaaticm  su  dem 
Begriff  der  TlAtigfceit  gelaugt  Uns  ist  von  diesem  ewigen 
Yeigleichen  nichts  bewusst  Bedenken  wir  aber,  dass  nur 
die  Sachkenntnis  uns  den  ThStigkeitsbegriff  auffassen  Iftsst, 
dass  die  Veigleichungspunkte  dem  Hdrer  genau  so  gegen- 
wärtig sein  mOssen,  wie  dem  Sprecher,  wenn  er  den  gleichen 
Thätigkeitsbegriff  in  das  gehörte  Wort  hinein  legen  will, 
80  wird  uns  die  Bedeutung  dieses  Umstandes  Uar  werden. 
Denken  sich  die  Menschen  schon  unter  den  SubstantiTen 
nienuds  mathematisch  genau  dasselbe,  so  wird  die  Ver^ 
schiedenheit  noch  grOsser  bei  den  Verben,  weil  da  mehrere 
Sitoationsbilder  zu  rei^leichen  sind  und  jedes  einielne  Si- 
tuataonsbild  schon  in  jedem  Kopfe  ein  anderes  ist  Eine 
Folge  davon  ist,  dass  seitliche  und  räumliche  Entfernung 
die  Vorstellung  des  gleichen  Verbums  verändert.  Ein 
deutscher  Kavallerist  sattelt  anders  als  ein  Kosak,  ein  Ameri- 
kaner pflfigt  andei-s  als  ein  alter  Aegypten  Man  nehme 
»Ms«B".  einmal  das  Wort  Zahn.  Ein  Neger  wird  eine  etwas  andere 
Vorstellung  damit  verbinden  als  ein  Chinese;  ein  Haifisch 
(wenn  er  sprechen  könnte)  eine  andere  Vorstellung  als  ein 
Mensch.  Nun  ist  Zahn  wahrscheinlich  durch  Lautwandel 
aus  dem  Worte  »der  £ssende"  entstanden.  Die  Vorstellung 
des  i^ens  ist  aber  noch  ?iel  ungleicher  bei  den  verschie- 
denen Völkern.  Es  hat  gewiss  eine  Zeit  gegeben,  wo  drä 
Menschen  wie  die  Tiere  ^frasseu**,  etwa  mit  Zuhilfenahme 
ihrer  Hände,  wie  die  AftVii.  Essen  bedeutete  damals  haupt- 
sächlich -init  den  Ziihnen  /erreissen  und  kauen";  »der 
Essende'"  war  damals  wirklich  der  Zahn.  Jetzt  ist  die  Hand- 
lung des  Essens  komplizierter  geworden.  Wer  heute  in 
der  Stadt  zum  ^E-ssen"  eingeladen  ist,  dem  zerfällt  das 
Verbum  in  eine  Menge  von  Teilhandlungeu,  von  denen  ich 
nur  einige  hervorheben  will:  Toilette  machen,  in  f?rosser  Zahl 
zusammenkommen,  niedersitzen  (vor  dem  reich  gedeckten 
Tisch),  Serviette  öfl'nen,  Lötfei  und  üabel  benutzen  (dazu  viel- 


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Zeit  in  der  Grwnmetik. 


67 


leicht  noch  Austernmesser,  Käsernesser,  Obstmesser  u.  s.  w.), 
verschieden p  Teller  benützen,  verschiedene  Gläser  u.  s.  w.; 
das  alles  kann  das  Verbum  essen  ausdrücken.  Aber  auch 
der  einfache  Mann  stellt  sich  essen  nicht  anders  vor,  als 
mit  Löffel  und  Gabel.  Hört  er  nun  vom  Essen  der  home- 
rischen Helden  oder  vom  Essen  chinesischer  Mandarinen, 
so  schiebt  er  den  Griechen  und  den  Chinesen  das  ihm  be- 
kannte Situationsbild  unter,  weil  er  nicht  weiss,  dass  die 
Griechen  weder  Löffel  noch  Gabel  gekannt  haben  und  dass 
die  Chinesen  beim  Essen  Stäbchen  gebrauchen.  Die  den 
einfachen  Mann  umgebende  Wirklichkeit  ist  zu  einem  auto- 
matischen Gebrauch  toh  Löffel  und  Gabel  geworden;  in 
seinen  Muskeln  nnd  Nerven,  also  auch  in  seinem  Gehini, 
spiegelt  sich  dieses  Wirklichkeitsbild  als  Einübung.  Hört 
er  das  Wort  essen,  so  verlegt  er  dieses  Nerrenbüd  seiner 
Tbätigkeit  in  den  Satz  hinein. 

Es  gilt  als  selbstverständlich,  dass  das  Zeitverhältnis  zeit  in 
eines  Satzes  zunächst  durch  die  Zeitformen  des  Verbums  ''^^^JJ' 
ausgedrückt  wird;  und  zwar  bezieht  sich  das  Zeitverhältnis 
iramor  auf  das  Subjekti  entweder  auf  das  Subjekt  des  Satzes 
oder  auf  das  den  Satz  aussprechende  Subjekt.  Dieses  Subjekt 
▼ertritt  die  Gegenwart.  Der  Sprecher  ist  immer  gegen- 
wärtig, das  grammatikalische  Subjekt  wird  entweder  als 
gegenwlrtig  gedacht  oder  mit  der  Gegenwart  des  Sprechers 
verglichen.  So  hat  jeder  mögliche  Satz  einerseits  eine  zeit- 
liche Mitbedeutung;  anderseits  wird  immer  nur  eine  Be- 
ziehung zur  Gegenwart,  also  Vergangenheit  oder  Zukunft, 
direkt  ausgedrückt.  Für  die  eigentliche  Gegenwart,  abge- 
sehen Ton  der  (m.  43)  erwfthnten  Zeitlosigkeit,  hat  das 
Terbum  so  wenig  einen  unmittelbaren  Ausdruck,  wie  das 
SubstantiT  für  den  Fall  der  BeziehungBloeigkeit.  Was  wir 
KominatiT  und  Prisens  nennen,  das  ist  wahrsdiemlich  eine 
höhere  und  sptttere  Bildung  als  Datiy  und  Accusativ,  als 
Perfektum  und  Futurum. 

Wir  haben  eben  gesehen,  wie  die  Unbestimmtheit  des 


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68 


XL  Das  Verbum. 


giatiiiticitischen  Sinnes  auch  im  zeitlosen  Pnisens  sieht* 
bar  wird. 

PriMiis  Sigwart  (1.  90)  macht  darauf  aufmerksam,  dass  das 
Oe^n-  PrsLsens  etwas  Verschiedenes  bedeute,  je  nachdem  es  dus- 
wftrt.  selbe  Prädikat  vou  einem  Begriff  oder  von  eiuem  Dinp  aus- 
sage. Ganz  richtig.  ^Die  Sterue  leuchten*  (das  heisst  iikhi 
erkennt  die  Sterue  gerade  daran,  dass  sie  leuchtende  Punkte 
sin  I  i  bedeutet  etwas  ganz  anderes  als  „die  Sterbe  lenrhten'' 
(das  heisst  jetzt,  wie  ich  eben  sehe,  leuchten  sie,  der  liiuiinel 
ist  also  nicht  bewölkt).  Das  Erste  kann  man  auch  bei  Tage 
sagen,  das  Zweite  nicht.  Das  Erste  ist  eine  völlig  leere 
Tautologie,  weil  wir  das  Leuchten  mitvorstelleu,  wenn  wir 
„Sterne"  hören;  das  Zweite  ist  eine  Tautologie  anderer  Art. 
weil  wir  auf  die  zweifelnde  Frage,  ob  der  Ilimmel  etwa 
bewölkt  sei,  bloss  „Stcme"  zu  antworten  brauchten  oder 
„Es  sind  Sterne  am  Himmel*.  Das  Leuchten  gehöi-t  dazu 
oder  ist  vielmehr  die  Voraussetzung  unsere  Sehens. 

Das  Präsens  bezeichnet  also  (vergl.  S.  44)  das  eine  Mal 
die  Gegenwart,  also  eigentlich  den  flüchtigen  Augenblick,  das 
andre  Mal  die  ewige  Dauer  in  Vergangenheit  und  Zukunft. 
Oder  sollte  etwa  die  Sprache  so  witzig  gewesen  sein,  da 
und  dort  mit  dem  Präsens  die  Zeitlosigkeit  bezeichnen  zu 
wollen?  Schwerlich.  Der  Witz  der  Sprache  ist  niemals 
Wortwitz;  so  dumm  wie  wortwitsige  Menschen  ist  sie  denn 
doch  nicht. 

Die  Eigentümlichkeit  des  Yerbums,  einerseiis  immer 
das  ZeitTerhältnis  anxugehen,  anderseits  nicht  die  Gegenwart 
selbfit.  sondern  stets  nur  eine  Beziehung  zur  Gegenwart, 
entspricht  den  subtilaten  Ergebnissen  der  Erkenntnistheorie. 
Jeder  Satz  muss  eine  zeitliche  Bestimmung  in  sich  tragen, 
weil  wir  die  Welt  nicht  anders  als  auf  dem  Kanevas  der 
Zeit  (und  des  Raums)  zu  erkennen  vermögen.  Aber  wir 
kennen  keine  Gegenwart  im  buchstäblichen  Sinne,  weil  die 
Gegenwart  immer  nur  der  mathematische  Punkt  zwischen 
Vergangenheit  und  Zukunft  ist,  niemals  ein  Besitz,  sondern 
im  Augenblicke  des  Erfassens  auch  schon  ein  verlorener 
Besits.   Psjchophysische  Experimente  haben  zur  GenUge 


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Piftaem  und  Oegemnurt. 


69 


nachgewiesen,  dass  die  einfachste  ESmpfindung  Zeit  braucht, 
am  uns  zum  Bewnsstsein  zu  kommen.  Wie  wir  nach  den 
Lehren  der  gegenwärtigen  Optik  daa  Licht  der  Fixsterne 
sehen,  das  vor  Jahren  den  Weg  za  ans  angetreten  hat,  so 
fühlen  vir  einen  Nadelstich  ak  gegenwartig  erst,  wenn  er 
der  Vergangenheit  angehört.  Die  Gegenwart  ist  also  nur 
in  unserem  Gehirn  oder  unserem  Bewusstsein,  nicht  in 
unserer  Wirklichkeit.  Pedantisch  mflssten  wir  sagen  «es 
blitzte*  und  nicht  »es  bliiaci*,  so  wie  die  Römer,  indem  sie 
sieh  in  den  Geist  des  Adressaten  hineindachten,  die  Ereig* 
niase,  die  sie  brieflich  meldeten,  zurfickdatierten. 

Fllr  die  Einsicht  in  die  Mängel  der  Sprache  ist  es 
besonders  lehnreich,  dass  sie  auch  auf  ihrem  eigensten  Ge- 
biete irre  fUhrt.  Die  Grammatik  ist  nichts  als  der  Sprach- 
gebrauch, der  auf  abstrakte  Kegeln  gebracht  worden  ist; 
und  nicht  einmal  fttr  die  Regeln  yon  der  Sprache  reicht 
die  Sprache  aus.  Wir  haben  eben  erfahren,  dass  es  eine 
eigentliche  Gegenwart  nicht  gibt;  wir  mflssen  annehmen, 
dass  das  undifferenzierte  Yerbum,  das  uns  heute  die  soge- 
nannte Gegenwart  bezeichnet,  zu  dieser  Bedeutung  erst  auf 
einer  höheren  Entwickelung  des  menschlichen  Geistes  ge- 
langt ist.  Dagegen  haben  wir  mehr  als  einmal  den  Saite 
wiederholt,  dass  die  Tiere  wenig  oder  gar  nichts  Ton  Ver- 
gangenheit und  Zukunft  wissMi  und  ganz  in  die  Gegenwart 
gebannt  sind.  Es  ist  offenbar,  dass  wir  da  und  dort  den 
Gegenwartsbegriff  in  einem  Terscfaiedenen,  ja  in  einem  ent- 
gegengesetzten Sinne  gebrauchen.  Denn  sonst  mOsste  ja 
das  Tier  der  Wirklichkeitswelt  mit  einer  bessern  Orientierang 
gegenüberstehen  als  der  Mensch.  Wir  können  den  Untere 
scbied  im  Gebrauche  des  GegenwartBbegri&  jedoch  nicht 
deutlich  fassen,  weil  uns  die  Worte  dafür  fehlen.  Die 
Sache  liegt  ungefähr  so.  Die  Gegenwart,  in  welche  die 
Tiere  gebannt  sind,  ist  die  Wirklichkeit,  welche  immer 
gegenwärtig  ist  So  mflssen  auch  die  Pflanzen  die  Wirk- 
lichkeit ab  gegenwärtig  empfinden.  Die  andere  G^jenwart, 
die  grammatikaHsehe  oder  logische  Gegenwart,  als  der  mathe- 
matische Trefl^unkt  zwischen  Vergangenheit  und  Zukunft, 


70 


IL  Dis  Verbnm. 


ist  nicht  wirklich,  ist  nur  in  unserem  Bewusstsein,  ist  nur 
in  unserer  Sprache.  In  der  Wirklichkeitsgegenwart  der 
Tiere  und  Pflanzen  erzeugt  der  Vcrgangenheitsmonient  immer 
den  Zukunftsmoment;  diese  Gegenwart  ist  fliessend.  In 
der  grammatikalischen  oder  logischen  Gegenwart  ist  der 
Versuch  gemacht,  den  FIuss  der  Zeit  aufzuhalten,  die  Hypo- 
these eines  starren  Augenblicks  der  ünveränderlichkeit  auf- 
zustelleiL  Ob  der  Baum  der  Wirklichkeitswelt,  zeitlich 
immer  Gegenwart,  zum  Material  der  Sinne  gehört,  das 
wissen  wir  nicht;  wir  wissen  nur,  dass  die  aUezeit  materia- 
listische Sprache  den  Raum  als  in  der  Q^nwart  starr  auf- 
fassen muss.  Diese  VorsteUung  von  einer  in  der  Welt  nicht 
existierenden,  fQr  unsere  6egri£fewelt  notwendigen  starren 
Ünveränderlichkeit  ist  das  Wesentliche  an  der  grammatika- 
lischen Gegenwart;  sie  kann  daneben  einen  möglichst  mathe- 
matischen Moment  ausdrücken,  wie  wenn  der  Experimentator 
im  pirfchophysischen  Laboratorium  sprachlich  oder  durch 
ein  anderes  Zeichen  mitteilt,  er  fQhle  jetzt  den  elektrischen 
Schlag,  sie  kann  etwas  wie  zeiÜose  Dauer  bezeichnen,  wie 
in  unzähligen  Begrifisdeflnitionen :  ^Die  £rde  ist  ein  Planet*. 
Dazwischen  wird  jede  mögliche  Zeitdauer,  wenn  man  nur 
die  in  ihr  sich  verändernde  Wirklichkeit  als  eine  relativ 
unvertUiderte  Einheit  auffasst,  durch  die  Gegenwart  be- 
zeichnet werden:  Es  ist  zehn  Uhr,  es  ist  Tag,  es  ist  der 
dritte  Mai,  es  ist  Mai,  es  ist  Frühling,  es  ist  das  Jahr  1899 
u.  s.  w. 

Begvin.  Die  menschliche  Sprache  oder  das  Denken  ist  also  höchst 
wahrscheinlich  von  einer  Torsprachlichen  WirkHchkeitsgegen- 
wart  ausgegangen  und  hat  erst  nach  einem  langen  Wege 
der  Abstraktion  einen  Ausdruck  für  die  sprachliche  Gegen- 
wart, für  die  grammatikalische  Gegenwart  gefunden.  In 
der  Sprache  war  also  die  Form  für  Vergangenheit  und  Zu- 
kunft frOher  da  als  eine  klare  und  bewnsste  Fonn  für  die 
Gegenwart.  Die  Tfaatsachen  der  Sprachgesdiichte  scheinen 
diese  Einsicht  bald  zu  bestätigen,  bald  zu  widerlegen,  sind 
aber  mit  Vorsicht  zu  benützen.  So  haben  die  semitischen 
und  altslavischen  Sprachen  nur  für  die  Gegenwart  und  für 


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Regeln. 


71 


die  Vergangenheit  eine  bestimmte  Form  and  man  aagt,  duB 
sie  die  Zukmift  durck  die  Oegeawart  KuadHlGkeii.  Was 
beisst  das:  eine  Sprache  drQekt  die  Zukunft  dmrch  die 
Gegenwart  aus?  Das  ist  dock  nnr  eitle  Wortmackerei. 
Selbst  In  unserer  Zeit  kat  das  PrSsens  unendlich  oft,  in  der 
Umgangsspracke  sowokl  wie  im  €kibrancke  der  Dickter,  den 
Sinn  des  Futumms.  „Ick  komme  gleick*,  sagt  jeder  Mensck, 
anstatt  ,ick  werde  gleick  kommen*.  —  «Wer  weiss,  wer 
morgen  Uber  uns  befieklt*,  sagt  der  Dickter,  anstatt  «wer 
morgen  Uber  uns  befehlen  wird*.  In  diesem  «anstatt*  liegt 
dieselbe  Wortmackerei,  derselbe  grammatikaliscbe  Hochmut 
▼erborgen,  wie  in  dem  SatM,  es  drttcke  eine  Spracke  die 
Zukunft  durck  die  G^nwart  aus.  Es  Tersteckt  sick  darin 
die  ewige  Vermesseakeit  der  AbstrakiaoD,  welcke  Uber  die 
WirUickkeit  kerrscken  will,  die  Unversckämtkeit  der  Kegel, 
welcke  mekr  sein  will  ab  die  fiinselfiüle,  auf  welcke  sie 
sick  ordnend  bezieht.  Die  fiegel  ist  nickts  als  ein  kuner 
Ausdruck  ftlr  den  Sprachgebrauck ;  nadidem  sie  jedock  in 
eine  Formel  gefasst  ist,  will  sie  den  Sprachgebrauch,  den 
sie  nur  aussprechen  sollte,  ändern.  Es  ist  wie  auf  allen 
Gebieten  des  Handelns.  Hat  man  durch  ein  Wort  aus- 
gedrückt, was  ist,  so  möchte  das  Wort  sofort  ein  Sollen 
sein.  Das  ist  immer  eine  Willkür,  auch  bei  der  Fixierung 
der  Zeitformen.  Durch  den  Gebrauch  der  „richtigen"  Zeit- 
formen kommt  in  die  Schriftsprache  eine  Nüchternheit,  ohne 
dass  die  Deutlichkeit  der  Umfrangssprache  erhöht  wird.  Ein 
Beispiel  für  die  Willkür  der  Grammatiker  ist  es,  dass  die 
gleiche  Form,  welche  in  der  arabi.schen  Grammatik  Präsens 
hellst,  im  Hebräischen  Futuiuai  genannt  wird. 

Man  hat  die  drei  Zeiten  der  Vergangenheit,  Gegen- 
Avart  und  Zukunft  die  absoluten  Zeitverhältnisse  genannt 
und  sie  so  von  den  relativen  Zeitverhältnissen,  wie  z.  6.  dem 
Plusquamperfektum  unterschieden.  Natürlich  sind  diese  Be- 
zeichnungen nicht  streng  zu  nehmen.  Gegenwart  und  Zukunft 
beziehen  sich  immer  aut  die  Gegenwart,  sind  immer  relativ, 
und  Plusquamperfektum,  Futurum  exaktum  u.  s,  w.  sind  nur 
relativ  in  zweiter  Potenz;  irgend  eine  Vergangenheit  oder 


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72 


n.  Dm  Vevbam. 


Zukunft  wird  gewissennassen  als  «ine  Koordiaatenachse  an- 
gen<xmnien,  auf  welche  nch  wiederum  eine  andere  Zeit  als 
Vergangenbeit  oder  Zukunft  beaebt.  Es  gab  und  gibt 
Sprachen  (wie  das  Althochdeutsche  und  trotz  grossen  Reich- 
tums  in  anderer  Beziehung  das  Slaviaehe),  welche  iRr  die 
Relativität  in  zweiter  Potenz  keine  grammatische  Form 
besitzen,  ohne  dass  Sprecher  und  Hörer  Aber  die  Zeitver- 
biltnisse  im  unklaren  blieben. 
ModL  Durch  die  Zeitformen  des  Verbums  wurden  und  werden 
oft  andere  Beziehungen  des  Satzes  ausgedrückt,  welche  in 
der  DarstelluDg  der  Grammatik  mit  den  Zeitunterschieden 
keine  Aehnlichkeit  haben.  Es  sind  das  die  sogenannten 
Modi;  der  Ausdruck,  dessen  Geschichte  für  Logik  und 
Grammatik  gleich  lehrreich  ist,  sagt  uns  nichts  mehr.  Spftter 
werden  wir  im  Zusammenhange  (mit  andern  sprachlich«! 
Andeutungsmitfceln  fttr  Zeit  und  Raum)  zu  zeigen  haben, 
wie  weit  die  Anwendung  des  Tempus  auf  den  Modus  meta- 
phorisch ist  oder  nicht. 

Der  IhdikatiT  ist  in  demselben  Stande  der  IndüFerenz 
wie  der  NominatiT  unter  den  FäUoi,  das  Piteens  unter  den 
Zeiten.  Wie  das  Prttsens  unter  Umstünden  jede  andere  Zeit 
ausdrücken  kann,  so  der  Indikativ  unter  Umstünden  jeden 
anderen  Modus.  Wie  die  sichere  Erwartung  der  Zukunft 
sich  durch  das  Prisens  ausspricht,  und  oft  besonders  nach- 
drücklich, so  z.  B.  der  Imperativ  durch  den  Indikativ,  ebenso 
nadidrQcklieh,  selbst  drohend.   ,Du  kommst!* 

Die  Form  des  Konjunktivs  ist  in  vielen  Sprachen  der 
Form  der  Zukunft  nahe  verwandt  Auch  kann,  wie  im 
Lateinischen  und  im  Hebrftischen,  der  Imperativ  durch  das 
Futurum  ausgedruckt  werden.  Und  es  gehört  gar  nicht 
viel  Phantasie  dazu,  um  einen  Sprachgeist  zu  verstehen, 
der  nicht  etwa  die  Zukunft  «anstatt''  des  Konjunktivs,  «an- 
statt* des  Imperativs  setzte,  der  vielmehr  Konjunktiv  oder 
Imperativ  klar  als  Zukunft  sah.  Der  Konjunktiv,  welcher 
in  unseren  Sprachen  von  Begriffen  des  Wttnschens,  Bit^ 
tens,  Befehlens  u.  s.  w.  «abhängig"  ist,  geht  immer  auf 
einen  künftigen  Zustand  und  hat  dennoch  Vezgang^nheits- 


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IterfttiTmn. 


78 


fonnen.  w<n86,  ob  EonjonktiTe,  die  jiicht  auf  die  Zu- 
kunft gehen,  nieiit  miBsvwetibidlielie  Anakigiebilduiigen  sind. 
Der  regebechte  KonjunkÜT  unserer  Schriftspraohe,  wie  er 
TOn  Schulmeistern  gefordert  und  Ton  gebildeten  Norddeut- 
schen unerbittlich  durchgeführt  wird,  hst  fdr  ein  sUddent- 
sdies  Ohr  oft  etwas  UnnatOrliches. 

Nicht  so  einleuchtend  ist  es  und  doch  charakteristisch,  it«i»* 
dass  die  relativen  Zeiten  in  zweiter  Potenz,  wefl  sie  sich 
nicht  auf  die  unmittelbare  Gegenwart  des  Sprechenden  be- 
ziehen, also  keine  greifbare  Wirklichkeit  bezeichnen,  leichter 
zum  Ausdrucke  der  Möglichkeit  werden  können.  Unter  die 
Hodi  mttsste  auch  der  Begriff  der  Unbestimmtheit  gerechnet 
werden,  der  —  auf  die  Zeit  bezogen  —  Unbestimmtheit 
der  Daner  oder  Unbestimmtheit  der  Wiederholung  sein 
kann.  Hier  mischen  sich  in  den  Sprachen,  welche  eine  be- 
sondere Form  des  Iterativs  haben.  Modus  und  Zeit  Im 
Deutsehen,  wo  wir  das  IteratiTum  schwerfttOig  durch  «ich 
pflege*  oder  «ich  pflegte*  das  und  das  zu  thun,  ausdrücken 
müssen,  wird  der  Zeitumstand  in  das  Hilfswort  verlegt  und 
dadurch  das  Zeitmoment  der  eigentlichen  Thfttigkeit  ver- 
wischt; und  die  Modalitiit,  welche  sich  in  dem  Hilfsworte 
ausdrückt,  geht  wieder  dadurch  verloren,  dass  das  Wort 
die  Bedeutung  der  zeitlichen  Wiederholung  angenommen 
hat.  Wir  denken  beim  Sprechen  nicht  mehr  daran,  dass 
»pflegen"  ursprünglich  und  noch  im  vorigen  Jahrhundert 
den  lebhaften  Anteil  an  einer  Person  oder  an  einem  Thun 
bedeutete  und  dass  es  erst  in  jüngster  Zeit  den  Begriff  der 
Gewohnheit  ausdrückt.  Die  Durchdringung,  man  kann  wohl 
sagen:  das  Durcheinander  von  Zeit  und  von  Interesse,  wie 
die  Form  des  Berativums  es  verdnigt,  ist  also  in  der 
deutschen  Umschreibung  des  Iterativums  deutlich  sichtbar. 
Manche  Sprachen,  vrie  die  einiger  in  der  Kultur  sehr  tief 
stehenden  Negerstämme,  besitzen  filr  d&i  Anfang  einer 
Handlung,  für  die  Intensität  der  Handlung  und  für  das  Ge- 
schehenlassen einer  Handlung  besondere  Verbalformen,  die 
uns  fehlen;  sie  hätten  längst  lehren  können,  dass  es  nicht 
im  Wesen  dieses  Redeteils  liegt,  sondern  in  einem  bequemen 


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74 


II.  Dm  Ywbam. 


Spradigebnucbe,  w«iiii  d«s  Verlram  io  niuereti  Spmhen 
Zeiiwoii  geworden  wt,  ^  das  heisrt  durch  seine  FiNruien  mt 
an  die  snbjekÜTe  oder  objekÜTe,  an  die  in  erster  oder 
zweiter  Potens  reUttre  Zeit  erinnert. 
Zeit  and  Und  dass  uns  die  Verbindung  der  ZeitverhÜtnieBe  mit 
feiir  Tldltigkeitsbegriffen  Sprachgebraucb  oder  beqnem  ge- 
worden ist,  das  ist  wobl  wieder  nur  ein-spraebgescbicbtlicber 
Zufall.  Es  war  nicht  notwendige  den  &itz  aus  Sulij^kt  und 
Prädikat  oder  z.  B.  aus  SubstantiT,  Copula  und  A^jektiT 
znsammensustellen;  es  war  darum  auch  nidit  notwendig, 
den  Zeitbegriff  an  das  Pr&dikat  (das  Verbum  oder  dieCbpula) 
zu  knttpfen.  Kach  Steinthal  herrscht  im  Jakutischen  der 
substantiTisehe,  vom  Subjekte  ausgehende  Satzbau  vor,  im 
Orffnländischen  tritt  Subjekt  und  Pridikat  hinter  das  Objekt 
zurQck.  Hit  der  Thatsache,  dass  die  Sonne  leuchtet,  muss 
also  auch  das  ZeitTerhSltDis  des  Leuchtens  im  Jakutischen 
an  die  leuchtende  Sonne,  im  GrönlSndisehen  an  die  be- 
leuchtete Erde  geknüpft  werden.  Und  gftbe  es  solche  Sprachen 
nicht,  so  läge  doch  kein  Grund  vor,  sich  solche  Sprachen 
nicht  Torzustellen. 

Es  war  nicht  notwendig,  dass  die  ZeitTerhlltmsse  gerade 
an  dem  PHldikate  bezeichnet  wurden;  es  war  nicht  not- 
wendig, dass  gerade  das  Yerbum,  also  der  Redeteil  fdr 
Thätigkeiten,  zum  Zeitwort  sich  entwickelte.  Nun  hatte 
aber  das  Yerbum  schon  den  Dienst  flbemommen,  die  snb* 
jektiren  Verhältnisse  mit  auszudrücken,  ob  nSmlich  der 
Sprechende  oder  der  Angesprochene  oder  dn  Dritter  etwas 
gethan  habe.  Das  Verbum  besass  gewissermassen  schon 
einen  Zapfen ,  um  welchen  sich  ein  Zeiger  herumdrehte  und 
auf  persönliche  Beziehungen  hinwies;  da  konnte  leicht  ein 
zweiter  Zeiger  angegliedert  werden,  der  bald  nach  Tom, 
bald  nach  liiiiten  wies  und  so  Zukunft  und  Vergangenheit 
bezeichnete.  AUe  Zeiten  sind,  wie  wir  gesehen  haben, 
relativ  in  Bezu«^  auf  eine  Gegenwart,  welche  es  nicht  gibt, 
welche  wir  uns  nur  als  einen  starren  Funkt  vorstellen.  Der 
Zapfen,  um  welchen  der  Zeiger  sich  dreht,  wäre  ein  un- 
schönes, aber  richtiges  Bild  für  diese  Gegenwart;  er  gibt 


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OopnU. 


75 


fttr  den  Züger  dem  ruhenden  Punkt  ab,  meg  die  Uhr  dabei 
im  Ranm  mnhergBtrieben  werden  oder  in  der  Zeit  fort- 
bestehen. 

Ich  ghiabe  nicht,  dass  die  Gopula  im  Denken  flber>  Copnii. 
hanpt  Torhanden  ist.  Und  d^r  ganze  Unterschied  awischen 
Sprechen  und  Denken  l&sst  sich  wieder  an  der  Gopnia  auf- 
zeigen. 

Diejenigen  Wilden  und  die  Kinder,  die  ,Baben  schwan* 
sagen,  denken  doch  absolut  nichts  andres  als  wir,  wenn 
wir  grammatikalisch  richtig  sagen  «die  Raben  smd  schwarz* 
oder  gar  corvi  sunt  nigri,  (wo  die  Bndung  des  A^jektiTs 

wohl  mit  zur  Copuk  gehört.)  Die  grammatischen  Formen 
sind  eben  Zierate,  Kleider,  welche  sich  den  Gedanken  an- 
schiniegen  und  je  nach  der  Mode  die  Gliederformen  bald 
herrorheben  bald  verstecken,  wie  die  weibliche  Brust  oder 
der  Steiss  nach  der  Kode  bald  unterstrichen  bald  durch- 
gestrichen wird.  Unter  den  Kleidern  aber  sind  wir  alle 
nackt  und  unter  der  Sprache  denken  wir  eigenÜieh  mit 
blossen  Worten  obne  Flerionasilben  nnd  andere  ftsthetisehe 
Gleichmachuiigssilben. 

Doch  die  Unbestimmtheit  der  Copula  und  ihres  Seins- 
begriffs kann  schon  hier,  Tor  der  Kritik  der  Logik,  weiter 
verfolgt  werden;  wob«  Toriäuiig  Ubersehen  werden  soll, 
dass  dieser  Seinsbegriff  etymologisch  oft  (iu  gormanischen 
wie  in  semitischen  Sprachen)  auf  konkretere  Begriffe  führt 
(vergl.  de  la  Grasserie:  ^du  verbe  fttre"). 

Man  kann  die  Ui-teile  in  zwei  grosse  Gruppen  tia- 
teilen,  je  nachdem  von  einer  Art  ausgesaj^.  wird,  dass  sie 
zu  einer  Gattung  gehört,  oder  von  dem  Individuum  einer 
Gattung,  welcher  Art  es  sei.  Alle  Urteile  laufen  schliess- 
lich Hui  die  heiden  Formen  heraus: 

1.  Die  Eiche  ist  ein  Baum. 

2.  Dieser  Baum  ist  eine  Eiche. 

Das  erste  Urteil  sagt  begreiflicherweise  niemals  etwas 
Neues,  wie  auch  aus  diesem  Urteil  niemals  etwas  Neues 


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76 


n.  Bat  Terbam* 


erschlossen  werden  kann.  Es  ist  zunächst  ein  Sprach- 
zuwachs, wenn  es  vom  Lehrer  etwa  dem  Schüler  heigehracht 
wu-d:  ,Die  Eiche  fällt  unter  den  Begriff  (das  Wort)  Baum/ 
Sein  =  Oder  noch  deutlicher:  ,Die  Eiche  (ausser  andern  Baum- 
heitsen.  ^j-^g^-j  jj^isst  ein  Baum.*  Auch  der  Lehrer  (jener  erste 
Lehrer,  der  den  Baumb^griff  gebildet  bat)  hat  nichts  ent- 
deckt, sondern  nur  etwas  erfunden;  er  hat  schwankender 
Aehnlicbkeiten  wegen  es  sich  bequem  gemacht  und  be- 
gonnen, sieh  80  und  so  Tiele  Pflanzenarten  an  dem  Worte 
„Baum*  ausammenzumerken.  In  dieser  ersten  Ürteilsgruppe 
konnte  man  also  flQr  die  Copula  ,ist*  auch  sagen  „heisst*. 

Noch  deutlicher  liegt  der  Fall,  wenn  ron  dem  Indi- 
viduum einer  Gattung  ausgesagt  wird,  welcher  Art  sie  zu- 
gehöre, das  heisst,  welchen  Unternamen  sie  trage.  Dieses 
Lebewesen  heisst  eine  Pflanze,  diese  Pflanze  heisst  ein  Baum, 
dieser  Baum  heisst  eine  Eiche,  diese  Eiche  heisst  eine  Sumpf- 
eiche, diese  Sumpfeiche  heisst  eine  amerikanische  Sumpfeiche, 
diese  amerikanische  Sumpf  eiche  ist  zwanzigjährig,  diese 
zwanzigjährige  amerikanische  Sumpfeiche  ist  mein. 

In  den  beiden  letzten  Urteilen  habe  ich  für  ^heissf* 
noch  Jst"  belassen,  weil  es  ungewohnt  klingen  mag,  Ziffern 
und  Eigentumsbezeiehnungen  als  Woi  tfragen  zu  behandeln. 
Und  doch  ist  es  keine  direkt  haftende  Ei^^enschafb  dieser 
Sumpfeiche,  dass  seit  ihrer  Entstehung  die  Erde  zwanzig 
Umdrehungen  um  die  Sonne  gemacht  hat;  es  ist  ein  YöUig 
äusserliches,  hervorragend  sprachliches  Merkzeichen.  Und 
noch  weniger  ist  es  eine  Eigenschaft  dieses  Baums,  »mein* 
zu  sein;  der  Eigentamsbegriff  gehört  durchaus  zu  meiner 
Begriffswelt,  zu  meinem  Sprachschatz.  Wir  sagen  also 
weiter:  diese  amerikanische  Sumpfeiche  heisst  zwansig- 
j&hrig,  diese  swanzigjfthrige  amerikanische  Sumpfeiche 
heisst  mein. 

So  dOrfbe  es  auch  nicht  mehr  paradox  erscheinen, 
wenn  auch  die  sogenannten  Eigenschaften  schliesslich  als 
Wortfiagen  erkannt  werden.  Die  rote  Farbe  des  Blattes 
ist  freilich  meine  Empfindung;  aber  sowie  ich  diese  Em- 
pfindung merken  will,  sowie  ich  sie  als  Pklldikat  in  Be- 


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TnuMitiram  und  WiUeiufreiheit. 


77 


rcitsrhaft  haben  will,  muss  ich  eine  Anzahl  ähnlicher  Em- 

ptiiuiuiin^en  oberflächlich  zusammenfassen,  muss  für  das 
ü-peu-pri3.s  ihrer  Aehnlichkeit  ein  Wort  erfinden,  das  Wort 
,rot*  eben  muss  aus  der  Ge^enwartswelt  in  die  meines 
."Sprachschatzes  eintreten.  Ganz  ebenso  mit  dem  VVorte 
»Blatt".  Und  so  ist  es  auch  am  Ende  eine  Wortfolge  und 
kein  Sachurteil,  wenn  ich  sage:  «Meine  Eiche  ist  jetzt  rot- 
blättrig.'*   Sie  heisst  rotblättrig. 

Die  wahre  Copula  aller  TTrtelle  oder  Sätze  ist  also 
nicht  das  Wort  «sein*,  sondern  da^  Hilfszeitwort  „heissen". 

Man  mag  die  Worte  demnach  tiigen,  wie  kunstvoll 
mau  will,  was  herauskommt,  wird  demnach  memals  etwas 
andres  sein  als  —  Sprache. 

Wie  falsch  der  Gebraucli  trruisiliv»  ]  oder  aktiver  Verben  Tr»n»I- 
für  das  ist,  was  wir  ebenso  falsch  die  Thätigkeit  unserer 
Sinnesorgane  n«  nnen,  das  erhellt  auch  daraus,  dass  wir  nur  Wiileaa- 
je  ein  Wort  für  sehen,  hören,  riechen  u.  s.  w.  haben,  und 
dass  wir  die  Unterschiede  durch  hundert  verschiedene  Worte 
für  die  verschiedenen  Wirkungen  in  die  Dinge  zurück- 
verlegen. Bei  wirklich  transitiven  Verben  wie  essen,  trinken, 
hegt  die  Handlung  in  unserem  Willen  oder  scheint  wenig- 
stens darin  zu  liegen.  Bei  den  Wahrnehmungen  aber,  das 
heisst  bei  den  Wirkungen  der  Aussenwelt  auf  uns  ist  allmäh- 
lich auch  der  Schein  der  Freiheit  verloren  gegangen.  Und 
so  liegt  zwischen  der  transitiven  Sprache  unserer  Sinnes- 
bezeichnungen  und  unserem  Wissen  schliesslich  dieselbe 
IHskrepnis  wie  zwischen  der  wissenschafUiclien  Ueber- 
zeugung  von  der  Unfreiheit  des  Willens  und  unserer  Un- 
fähigkeit, ohne  den  Schein  der  Freiheit  zu  handeln.  Wie 
jede  Fingerbewegung  des  Mens(  heu  unter  dem  alten  Glauben 
an  die  Freiheit  geschieht,  so  erhält  unsere  Sprache  auch  den 
Scbein  der  Freiheit,  der  Aktion  bei  allem  Beden  Ton  Sinnes- 
emdrttcken. 

Was  die  Vorstellung  von  diesen  Dingen  so  erschwert, 
das  ist  der  Umstand,  dass  das  Sehen,  Schmecken  u.  s.  w. 


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78 


IL  Dm  Varbum. 


(sprachwidrig  ausgedrückt:  das  Begrüntwerden,  das  Be- 
blaut-, Besüsst-,  Bebittertwcrden)  nicht  in  den  anerkannter- 
massen  passiven  Sinnesorganen,  sondern  irgendwo  hinter 
ihnen  im  Zentralnervensystem  vor  sich  geht.  Merkwürdiger- 
weise geht  in  derselben  Dunkelkammer  auch  dasjenige  vor 
sich,  was  unfrei  mit  dem  Schein  der  Freiheit  die  motorischen 
Nerven  arbeiten  lüsst.  Und  unsere  Sprache  ist  ebenüo 
unfähig,  die  Passivität  unserer  Sinne  auszudrücken,  wie  die 
Passivität  unserer  Willensakte.  Selbst  der  theoretischen 
Ueberzeugung  dieser  beiden  Passivitäten  kann  sie  sich  nur 
im  Dunkeln  tastend  nähern. 

Sigwart,  welcher  (11.  166)  den  Gegensatz  zwischen  den 
aktiven  Verben  unserer  Wahrnehniungsbezcichnungen  und 
der  wissenschaftlichen  Deutung  wohl  bemerkt  hat,  ist  doch 
80  sehr  ein  Sklave  der  Sprache,  dass  er  auf  Grund  dieses 
sprachlichen  Scheins  sotrar  von  einer  Willensfreiheit  unserer 
Sinne  oder  ihres  Zonti  imis,  gleichzeitig  jedoch  von  Im  pera- 
tivcn  df"<  Sphens  und  Hörens  spricht,  kategorischen  Impera- 
tiven waLi.M^^btunlich.  Gleichzeitig  weist  er  auf  die  Auf- 
merksamkeit als  eine  Bedingung  des  deutlichen  Öehens  u.  w. 
hin,  'dh  ob  die  Aufmerksamkeit  tou  einem  freien  Willen 
ftibhinge. 

So  berührt  sich  die  \V  ahru«  Immngstheorie  mit  der 
Ethik  durch  die  Spruche:  diese  Imt  unterirdische  Fehler- 
quellen und  Fehlerströiuunm'ii,  dabin  und  dorthin  führen. 
Man  hat  oft  im  Sclierze  von  emer  katholischen  Mathematik 
u.  s.  w.  gesprochen.  Der  Begriff  ist  aber  nicht  nur  mög- 
lich, sondern  eine  Thatsache.  Auch  die  Erkenntnistheorie 
war  im  Mittelalter  katholisch.  Drei  Glaubenssätze  standen 
als  Ausgangspunkt^)  voran,  um  hintennach  als  Ergebnisse 
logisch  wieder  herauszukommen :  Unsterblichkeit  der  Seele, 
Gott  und  Willensfreiheit.  Auf  das  erste  Ergebnis  fängt 
man  zu  verzichten  an,  weil  die  Sprache  in  diesem  Begriff 
ad  absurdum  geführt  worden  ist.  Den  zweiten  Qlaubens- 
satz  versuchen  alle  nicht  materialistischen  Forttcher  zu  kon- 
servieren, indem  sie  ihn  verschämt  langsam  seines  jrnnzen 
Glaubenainhalts  berauben.   Der  dritte  und  eigentlich  allein 


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Transitiyius  and  Wiliemfreiheit. 


79 


moraUaclie  Begriff,  d«r  der  WOlanaMheit,  treibt  ndi  aber 
noch  xiendich  unTerlndert,  ak  ein  niUshÜicher  Scbmoggler, 
auf  den  Onnzgebieten  der  Physiologie  umker  nnd  maeht 
die  jttngste  und  stolzeste  der  natorwissensohaftiichen  Dis- 
ziplinen gegen  ihren  Willen  zu  einer  moralisch-phjsikalischen 
Physiologie. 

Die  Unbestimmtheit  des  transitiven  Verbs  ^wollen' 
mag  viel  dazu  beigetragen  haben^  die  Lehre  von  der  ^Villen.s- 
freiheit  zu  verwirren.  Was  sich  aUein  auf  ein  Objekt  be- 
zieht, die  transitive  Thätigkeit  der  unbekannten  Seele,  das 
Begehren,  raüsste  sprachlich  genau  vom  Wollen  unterschieden 
werden.  Den  letzten  Zweck ,  einen  Apfel  oder  ein  Weib 
begehre  ich,  das  heisst  wünsche  ick  mein  zu  niuchen.  Mein 
Utliim  erfindet  zur  Erreichung  diases  Zweckes  eine  schlaue 
Maschjjierie,  zu  der  sich  Knochen,  Mu.skeln,  Sehnen,  viel- 
leicht auch  projizierte  Organe^  wie  Leitern,  Scheren  und 
dergleichen  verbinden  müssen.  Auslösend  steht  zu  Beginn 
dieser  Maschinerie  irgendwo  im  Nervenbereich  das  Wollen, 
welches  gar  kein  Transitivum  ist,  sondern  ein  Zustand  wie 
sehen  und  hören.  Man  könnte  auch  sagen,  dass  die  transi- 
tiven Verben  dieser  Art  den  Schein  der  Aktion  dadurch 
erhalten,  dass  ihnen  das  Zentralnervensystem  dient,  die 
Küche  des  Bewusstseins  oder  Selbstbewusstseins.  Die  Wir- 
kungen der  sympathischen  Nerven  erzeugen  diesen  Schein, 
dieses  H^wiubtdein  der  Aktion  nicht.  Darum  sind  schwitzen, 
atmen,  frieren  intranKTbrnj  Vejben  geworden;  sehen,  hürcn 
u.  s.  w.  transitive.  Der  Mensch  ist  da  wie  ein  Fürst  ge- 
wesen, dem  das  grosse  Netz  seiner  engverkiuipiitn  Diener 
das  unzerstörbare  S^lbstbewusstsein  der  eigonert  Aktion  ge- 
geben hat,  währciil  die  verborgenen  Freunde,  die  sein 
Leben  schützen ,  ihm  sagen  könnten,  wie  auch  er  nichts 
von  sich  weiss,  wie  auch  er  passiv,  ohne  Freiheit,  gebunden 
wie  die  sklavische  Pflanze  dahin  lebt. 

Die   gebil  I<"ten  Leute  ,    die   Sclmllehrer   und  andere 
Pedanten  nennen  es  einen  bprachiehler ,  wenn  das  Kind 


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80 


ii.  Da«  Verbum. 


seine  lebendige  Sprache  anders  spricht,  als  die  toteOram- 
matik  es  Tonclireil»t.  Der  Berliner  Junge  soll  nach  ihnen 
mir  und  mich  «Terweehsebi*.  Ebenso  gut  kdnnte  man  toh 
einer  Rosenvarietitt  sagen,  dass  sie  gelb  und  rot  ver- 
wechselt  habe. 

Ein  Sprachfehler  abw  ist  es  und  ein  Temichtender 
Sprachfehler,  dass  unsere  Muttersprache,  unsere  Volkssprache 
der  Erkenntnis  der  besten  Köpfe  immer  um  Jahrzehnte,  in 
manchen  Dingen  um  Jahrhunderte  nachhinkt.  Und  es  ist 
eine  viel  erklärende  Lächerlichkeit,  dass  es  immer  Schrift- 
steller gibt,  die  tu  unserer  Zeit  fQr  modern  gelten,  die  aber 
mit  den  tieferen  Begriffen  ihrer  Sprache  bei  Cicero,  bei 
Luther,  bei  Kant  oder  bei  Hegel  stehen  geblieben  sind.  Es 
bat  an  die  tausend  Jahre  gebraucht,  bevor  die  Einsichten 
des  Aristoteles  aufhörten ,  technische  Ausdrücke  zu  sein, 
und  in  die  neuen  Volkssprachen  aufgenommen  wurden.  Es 
wird  vielleicht  wieder  so  lange  brauchen,  bevor  die  Ein- 
sichten von  Newton  ~  über  die  wir  ja  im  grossen  und 
ganzen  noch  nicht  hinausgekommen  sind  —  ein  lebendiges 
Wissen  der  Mutterspruche  sein  werden. 
Mytho-  Ich  bin  natürlich  nicht  im  stände  aus  der  Sprache  kinaus- 
Transi"  zuspringcn.  Icli  kann  aber  von  fern  auf  einige  Beispiele 
tiveu.  hinweisen,  tu  denen  unser  Sprachbau  unserer  Erkenntnis  so 
wenig  mehr  dient,  wie  das  Gasröhrennetz  einer  Stadt  mit 
elektrischer  Beleuchtung. 

Otfenkundig  ist  das  Beispiel  von  der  Sonne,  die  unsere 
Sprache  immer  noch  sich  um  die  Erde  drehen  lässt.  Man 
sajg^  immer  noch  „die  Sonne  geht  auf  anstatt  „die  Sonne 
ist  erreicht*.  Nun  sieht  nia^i  sofort,  dass  der  Ausdruck, 
der  bis  aui  Ku[  it  i  nikii<<  den  gegliiul)ten  TiiaUachen  entsprach, 
s*  ittl»'i;j  ein  bil*lln  hri  [geworden  ist.  Und  man  konnte  mir 
einwerfen,  dass  solche  Sprachbilder  ulltiiglich  seien.  Wenn 
wir  auf  einem  Boot»»  den  Rhein  abwiirts  fuhren,  so  schei- 
nen sich  die  Ufer  gegen  uns  zu  bewegen,  und  wir  können 
ebenso  gut  sagen  „Rüdesheim  ist  erreicht"  wie  „Rüdes- 
heim erscheint".  Aber  es  gibt  unzählige  FäUe,  in  denen 
der  Gebrauch  des  intransitiven  Verbs  anstatt  des  transi- 


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Ifjrthologte  im  TnunitiTeti. 


81 


tiven  nicht  ein  Bild  ist,  sondern  eiu  UuvernuMjfen  der 
Spradje,  sich  auf  der  Höhe  unserer  ahnenden  Erkenntnis 

2U  erhalt<?n. 

Wir  nehmen  z.  B.  seit  Locke  und  Kant,  noch  allgemeiner 
seit  Heimholte,  an,  dass  die  Eigen«:chaften  der  Körper  (z.  B. 
Failu  n,  (Tt-rüche  u,  s.  w  )  nicht  dinglich  an  ihnen  haften, 
sondern  iJewecrungserscheniungen  sind,  die  erst  in  uusern 
Organen  durch  die  ]>erühmten  spezifischen  Sinnesenergien, 
also  subjektiv,  zu  Tönen,  zu  Farben,  zu  Gerüchen  u.  s.  w. 
werden.   Wir  dürften  also  seit  Locke  oder  doch  seit  Helm- 
holtz  nicht  mehr  sagen  ,der  Baum  ist  j^rün",  sondern  „der 
Baum  grünt  mich*.    Ich  .sclilage  die  Aendcrung  nicht  vor. 
Doch  niair   man  ruhig  seine  Witze  darüber  reissen  und 
lachen.    Der  Vorgang,  dass  die  Baumkrone  meine  Netz- 
haut grün  affiziert,  ist  derselbe,  wie  wenn  das  Feuer  meine 
Haut  wärmt.    Was  ich   sagen  wollte,   ist  das,   dass  die 
Eigenschaften  der  Körper,  die  nach  der  alten  Sprache  durch 
die  Copula  mit  einem  Subjekt  verbunden  werden  oder  (  was 
dasselbe  ist)  von  ihnen  in  intransitiven  Verben  ausgesagt 
werden,  (der  Baum  grünt,  die  Blume  duftet),  dass  diese 
Eigenschaften,  sage  ich,  nach  der  neueren  Einsicht  transitive 
Verben  sein  müssen.    Der  Baum  grünt  mich,  die  Ikjse 
duftet  mich,  wie  mich  das  Feuer  wärmt  und  wie  mich 
der  Esel  lächert,  der  darüber  lacht. 

Vielleicht  noch  seltsamer  mag  es  erscheinen,  wenn  ich 
auch  in  unsem  gewohnten  transitiven  Verben  einen  uralten, 
fUr  das  Denken  rerhftngnisToUen  Sprachfehler  entdecke. 
Wir  glauben  gar  nicht  anders  ssj^en  und  denken  zu  können 
ab:  das  Wasser  treibt  das  Mühlrad,  der  Magnet  sieht 
ISsen  an,  der  Regen  befruchtet  die  Pflanzen.  Hierher» 
mag  ich  nicht  einmal  die  Sprache  künstlich  zu  einem 
anderen  Ausdruck  zu  zwingen.  Und  doch  liegt  in  allen 
diesen  transitiven  Verben  der  Begriff  des  Bewirkens,  der 
Ksnsalitftt  und  ist  in  diese  Verben  zu  einer  Urzeit  hinein- 
gekommen, als  die  Kausalität  noch  ein  ganz  mythologi- 
scher Begriff  war.  Man  sagte  damals:  «Apollo  schiesst  die 
Pestpfeile,  Poseidon  regt  das  Meer  auf,  die  Parze  hat 
]iftvtlin«r.  Baititc«  n  einer  Krittti  d«r  Spraohe.  III.  6 


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82 


U.  Das  Yerbum. 


diesen  Menochen  getötet,  das  Wasser  treibt  das  HflUrad." 
Heute  sucht  man  hinter  den  transitiTen  Verben  nicht  mehr 
eine  Gottheit,  wohl  aber  einen  nackteren  Fetisch,  den  Kraft- 
begrifP.  Und  solange  kein  G^elehrter  weiss,  was  Kraft  ist, 
solange  steckt  die  Mythologie  im  TransitiTen.  Und  weil 
wir  dies  wissen,  darum  haben  wir  kein  Recht  mehr,  es  su 
brauchen. 

Re-  So  steht  als  Dämmerung  einer  künftigen  Revolution 

^''te^  der  Sprache  vor  uns  die  Möglichkeit,  dass  sich  einst  alle 
Spn^  Eigenschaftswörter  in  transitive  Verben ,  alle  transitiven 
Verben  in  irgend  welche  Zustandsbezeichnungen  auflösen 
werden.  Vorher  werden  zahlreiche  Aussagen  zu  bildlichen 
Ausdrucken  werden  mOssen,  und  hunderte  von  abstrakten 
•Worten  aus  dein  vermoderten  Sprachschatz  des  Mittelalters 
werden  verschwinden  und  vergehen,  —  wenn  nur  nicht  »ver- 
schwinden'' wieder  ein  Wort  wäre,  das  nach  unserer  gegen* 
Wärtigen  Kenntnis  sinnlos  ist. 

Diese  künftige  Revolution  der  menschlichen  Sprache 
wird  den  angeblich  unzerstörbaren  Bau  des  Aristoteles  endlich 
zusammenwerfen.  Unsere  sauber  präparierte  Grammatik, 
mit  der  anfangs  alle  begabteren  und  reicheren  Kinder,  und 
schlie«;slich  in  unserem  gesegneten  .lulirhundert  gleicbmässig 
alle  Kinder  verdummt  wordiMi  sind,  wird  auseinaiiderfallen 
wie  ein  (lerippe,  desst'n  Gcivf-be  verfault  sind,  unsere  Logik, 
von  deren  llöbeu  zwei  .lahrtausende  auf  uns  heruuterschauen, 
wird  sich  als  die  beschreibende  Anatomie  dieses  verfallenden 
Gerijtpes  herausstellen,  und  dann  erst  wird  man  mit  dem 
alten  Aristott  les  fertig  ni  sein  glauben.  Dann  wird  man 
freilich  it'  <(>'uen  Schriften  den  Gegensatz  von  Möglichkeit 
und  ^\  jrklu  likeit  wieder  entdecken  und  wird  stutzig  werden, 
und  wird  an  dem  Materalksuius  zweifeln  lernen,  der  wiederum 
allein  zu  jener  Revolution  des  Sprechens  und  Denkens  führen 
konnte.    Denn  die  Sprache  ist  die  Erzniaterialistin. 

Und  ich  glaube  «las  Entsetzen  des  Mannes  zu  fühlen, 
der  mitsamt  den  Werken  des  Aristoteles  die  alte  Sprache 
in  die  Flammen  wirft  und  der  bei  ihrem  letzten  Aufflackern 
den  Dualismus  von  Möglichkeit  und  Wirklichkeit  schwarz 


Digitizcct  bv  Cnnnjp 


Revolution  der  Sprache. 


8S 


auf  weiss  erblickt,  schwarz  auf  weiss,  das  Dunkel  auf  der 
BlenduDg.  An  das  WirUiche  kann  die  Sprache  nicht  heran, 
weil  nch  nur  wahrnehmen,  nicht  aher  aussprechen  iSsst,  was 
irgend  ist  An  das  Mögliche  kann  die  Sprache  nicht  heran, 
weil  das  Mögliche  noch  nicht  wirklich  ist,  ftlr  uns  also 
noch  gar  nicht  wirklich  ist,  weil  das  Mögliche  nur  für  sich 
wirklich  ist.  Und  so  weiss  der  ehrUche  Prophet  der  grossen 
Sprachrevolntion  nicht,  was  nach  der  Zertrammemng  kommen 
wird,  woflir  er  denn  auch  nach  GebOhr  Ton  allen  lächernden 
Eseln  ausgelacht  za  werden  Terdient. 

Wir  stellen  uns  den  eben  befruchteten  Keim  eines 
Hundes  Tor  und  daneben  den  eben  befruchteten  Keim  eines 
Mensdien.  Durch  keines  unserer  Sinnesorgane  können  wir 
die  beiden  Dinge  unterscheiden,  kein  Mikroskop  unterscheidet 
sie,  sie  sind  fdr  jede  Beobaditung  identisch.  In  ihrer  Wirk- 
lichkeit für  uns  sind  sie  dasselbe,  sind  sie  gleich,  sind  sie 
lÜDB,  und  unswe  Sprache  hat  keinen  Ton,  um  da  xweierlei 
Wirkliches  lu  beseichnen.  Und  dodi  wird  der  eine  ein 
Hund  werden,  der  andere  ein  Mensch,  zur  Gewissheit  wird 
uns  die  Möglichkeit,  nur  unterscheiden  können  wir  die 
Keime  nicht. 

So  stehen  wir  sprachlos  vor  dem,  was  werd^  wird, 
und  nennen  es  mit  dem  geheimnisvollsten  Worte  unserer 
Sprache:  das  Leben. 


in.  Das  SvbstantlYniii. 

Was  den  alltäglichen  Gebrauch  der  Sprache,  den  Amiiien- 
und  Kellnerj^ebrauch,  von  der  wissenscbaftlichen  Benutzung 
der  Sprache  unterscheidet,  oder  doch  unterscheiden  soilte, 
das  i<=^t  srhlie.sslich  die  Bedeutunu;  des  Dings.  Das  Kind, 
der  Bauer  und  der  Kellner  nennt  das  Ding  da  einen  Apfel 
und  weiss  es  nicht  anders,  als  dass  da  wirklich  ein  Apfel 
süss  ist,  am  Baume  hängt  odor  auf  dem  Teller  liegt.  Das 
Kind,  der  Bauer  und  der  Kellner  verstehen  es  einfach  nicht, 
wenn  man  ihnen  sagt:  Das  geschriebene  Wort  Apfel  ist 


Digitizco  by 


84 


Iii.  Dm  Subitajatirum. 


ein  sichtbares  Zeichen  ftlr  das  gesprochene  Wort  Apfel, 
welches  wieder  nur  ein  hörbares  Ermnerungszeichen  ftr 
einen  Begriff  ist,  in  dem  sich  hunderte  Ton  mehr  oder 
weniger  ähnlichen  Arten  nnd  Ton  lülliarden  gewesener, 
gegenwärtiger  und  xukflnfÜger,  grosser  und  kleiner,  süsser 
und  saurer  Aepfel  unklar  Tereinigen.  Aber  auch  dieses 
hier  vorhande  Apfelindtviduum,  das  deine  Hand  wigt  und 
als  glatt  und  rund  empfindet,  das  deine  Nase  riecht,  dein 
Gaumen  schmeckt  und  dessen  rote  Backe  dein  Auge  sieht, 
ist  dir  als  Ding,  als  etwas  ausser  dir  Toükommen  unbekannt, 
es  ist  nichts  ab  die  älteste  und  allgemeiiBte  Hypothese  der 
Menschheit,  die  Hypothese  der  einheitlichen  Ursache  gleich- 
zeitiger Wahrnehmungen.  Wir  nennen  die  angraommene 
Ursache  gleichzeitiger  Wahrnehmungen  ein  Ding;  und  wir 
nennen  die  regelmässig  vorangehende  Wahrnehmung  eine 
Ursache  der  Folgen.  AVir  wissen  von  diesem  Apfel  da  nichts 
als  die  gleichartigen  Empfindungen  in  der  Hand,  im  Auge, 
am  Gaumen  und  an  der  Nasenscbleimhaut.  £ia  geschickter 
Mechaniker  oder  Taschenspieler,  welcher  uns  durch  TOr- 
schiedene  Ursachen  gleichzeitig  alle  diese  Empfindungen 
vermitteln  würde,  könnte  wirklich  einen  Apfel  künstlich 
erzeugen.  Um  das  Aeusserste  über  die  Katego ricnrerwir- 
rung  zu  sagen:  wie  das  Verbum,  als  ohne  Zweck  unvor- 
stellbar, immer  etwas  vom  Futurum  hat,  so  das  Dingwort, 
als  Ursache  von  Empfindungen,  immer  etwas  vom  Perfectuni. 

Wo  möglich  noch  unfassbarer  wird  der  Dingbegrift'  liir 
den  philosophischen  Physiker.  Ernst  Mach  hat  (Wärme- 
lehre 355  und  Analyse  d.  Euipt.  '2b2)  prachtvoll  gezeigt: 
„Was  wir  Materie  nentioti ,  ist  ein  gewisser  gesetzmässiger 
Zusauimenliiing  der  Empfindungen." 
Dince  Wer  das  alles  aber  weiss.  tVillt  trot/deni  immer  wieder 

^J*^  in  die  Anschauung  des  Kindes,  dos  Hauers  und  des  Kellners 
zurück,  weil  auch  seine  Spra<  b*-  mir  die  gleirho  Ammen- 
sprnche  ist,  und  weil  nach  zweiliundertjährigein  Bestehen 
unserer  P-^y«  hologie  die  Sprache  noch  keine  anderen  Worte 
hat  als  (lu'jeiiigen,  welche  wie  früher  objektiv  die  Dinge 
selbst  bezeichnen  wollen.  Für  das  Kind  ist  scheinbar  jedes 


._^  kj  i^  -o  Google 


Dinge  idmI  Wotte, 


85 


Wort  ein  Eigenname;  Vater  ist  sein  Vater,  Hund  ist  sein 
Hund,  Suppe  ist  anfangs  der  augenblicklich  vor  ihm  stehende 
Teller  Suppe;  für  uns  ist  eigentlich  nlle^,  snijar  der  Eigen- 
name ein  Abstraktum.  Homer  ist  natürlich  nur  der  abstrakte, 
vielleicht  nur  gedachte  Dichter  der  llias.  Aber  selbst  der 
Zeitgenosse  Bismarck  ist  fHr  die  Analyse  nur  die  trotz 
aller  Bücher  \'6\\\i;  uiibekannte  Ursache  einer  Reihe  von 
Wahrnehmungen,  «iie  wir  teils  direkt,  teils  indirekt  unseren 
Sinnesorganen  verdanken. 

Nun  ist  für  unseren  alltäglichen  Sprat^^liLrr'ni  auch  aller- 
dings der  Eigenname  einer  Person  das  konkreteste  Kon- 
kretum.  Machen  wir  aber  aus  unserer  Erkenntnis  Ernst, 
so  greift  das  Reich  des  Abstrakten  weiter  und  weiter,  bis 
wir  einsehen,  dass  wir  nichts  wiesen  als  Abstraktionen,  nur 
Worte  und  keine  Dinge. 

Ist  Schatten  ein  konkretes  Ding-'  Es  ist  Abwesenheit 
von  Licht,  so  gut  wie  die  schwarze  Farbe.  Und  der  Schatten 
hört  darum  nicht  auf,  noch  weniger  als  ein  Abstraktum, 
nämlich  eiwas  Negatives  zu  sem,  weil  wir  ein  positives 
Wort  für  seine  Empfindung  besitsen. 

Ist  Fltmme  da  Inmkietfifl  Ding?  Was  wir  in  der  Lampe 
CO  dauernd  leuchten  sehen,  sieht  frnlich  darnach  aus,  als 
ob  es  so  etwas  w9re.  Es  ist  aber  doch  nur  die  Vereinigung 
zwder  0ase,  die  wir  wahrnehmen,  und  zwar  nicht  etwa 
die  konkrete  Vereinigung,  die  beiden  vereinigten  Gase  selbst, 
sondern  der  Akt  ihrer  Vereinigung,  ein  Abstraktum. 

Ebenso  ist  auch  Wind  kein  konkretes  Ding,  sondern 
eine  Bew^ng.  Und  der  Wunsch  aller  heutigen  Natura 
Wissenschaften,  jede  Wirkung,  abo  jede  Wahrnehmung  auf 
periodische  Bewegni^en  surQcksufllhren,  b^egnet  sich  end- 
lich mit  der  seit  zweihundert  Jahren  langsam  reifenden 
UeberzenguDg,  dass  unsere  ganze  Erkenntnis  subjekttv,  dass 
unsere  ganze  Sprache  ein  luftiges  Nest  Ton  Abstraktionen  sei« 
Dabei  ist  es  nun  kein  Zufall,  sondern  ein  höchst  er- 
freulicher Grund,  an  der  Wirklichkeit  unseres  Daseins  nicht 
zu  zweifeln,  dass  die  Lehre  von  den  Dingen  oder  von  der 
Wirklichkeit,  die  Naturwissenschaft^  gerade  bei  der  Bewegung 


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8Ö 


III.  Dw  SntkilaiiAiTitin. 


als  der  obersten  Form  stehen  geblieben  ist,  während  die 
Worte  der  Sprache,  wenn  sie  aus  der  Höhe  der  Abstraktion 
bis  zu  den  Dingen  hcrabtaurhen  wollen,  schliesslich  im 
tiefsten  Gründe  ebenfalls  auf  die  Bewegung  sfeossen.  Näm--' 
lieb  so. 

Wir  haben  tresehen,  dass  Apfel  ein  unklares  Abstraktum 
ist.  Wir  k  j)i!U  ii  uns  einem  solchen  bestimmten  Ding  all- 
mählich nahern,  indem  wir  zu  den  l)ekannten  Eigen  «Schäften 
des  Begriffs  Apfel  (oder  zu  den  bekannten  Enunerungs- 
bildern  der  durch  unzählige  Aepfel  bewirkten  ähnlichen 
Siniji^wahruehmungen)  noch  andere  abgrenzende  Eigen- 
schaften hinzufügen,  wie  z,  B.  ein  diesjährij^er.  reifer,  grosser 
Borsdorfer  Apfel.  Es  ist  wie  eine  Treil>jagd  auf  den  Be- 
griff, der  immer  naher  umstellt  wini.  Zur  Vorstellung  eines 
Apfelindividuums,  also  zu  der  uns  allein  zugänglichen  sub- 
jektiven W'ahruehniung  eines  Dings,  gelangen  wir  aber 
schliesslich  nur,  indem  wir  an  einem  durch  drei  Dimen- 
sionen bestiminteti  Ort  zu  einer  bestimmten  Zeit,  seiner 
yierten  Dimension,  nicht  mekr  einen  Apfd,  sondern 
Apfel  da,  wahrnehmen.  Erst  durch  Raum  und  Zeit  bestimmt 
«rscheint  uns  der  Begriff  ein  Ding.  Raum  und  Zeit  aher, 
wenn  sie  lebendig  sind,  sind  Bewegung.  So  ist  die  Be- 
wegung die  Brücke  zwischen  Worten  und  Dingen;  und  wie 
im  menschlichen  Kdrper  es  einen  Kreislauf  des  Blutes  gibt, 
wie  die  äusseraten  und  feinsten  Verästelungen  der  Arterien 
in  die  feinsten  Yerftstelungen  der  Venen  Übergehen,  und 
das  Leben  awischen  ihnen  liegt,  so  berührt  sich  die  Wirk- 
lichkeit und  die  Sprache  in  der  unsui^glichen  Erscheinung 
der  Bewegung.  Die  Worte  berühren  die  Dinge  nie,  aber 
sie  umschweben  sie,  wenn  sie  gute  Worte  sind,  wie  nach 
der  Theorie  der  Bewegung  ein  sagenhafter  Aether  die 
Moleküle  umspült.  Auch  die  besten  Worte  noch  sind  Sage. 

Unsere  ganze  Weltanschauung  w&re  einheitiicher,  wenn 
unsere  Spradhe  sich  gewöhnen  wollte,  die  Hypothese  der 
Ursache,  die  Wirkung  der  Dinge  aufeinander,  auch  bezQg- 
lidi  unseres  Denkens  aus/udrt\cken.  Seit  jeher  sieht  der 
Mensch  die  Dinge  untereinander  ab  Ursachen  von  Wirkungen 


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EigeniMoieii  imbeatimiiit. 


87 


an  und  drückt  es  auch  so  aus.  Die  Sonne  vränut  den  Stein, 
das  Schaf  frisst  das  Kraut.  Aber  mit  dem^«  ll  en  Hochmut^ 
mit  dem  er  durch  ungezählte  Jahrtausende  die  Erde  für 
den  Drehpunkt  der  Sonne  gehalten  hat,  weigert  sich  der 
Mensch,  seine  Sinne  als  das  Spielzeuj^  der  Dinge  sprac-lilich 
anzuerkennen,  trotzdem  er  bis  vor  kurzem  gar  niclit  wusst«, 
dass  die  Zufallssinne  (oder  vielmehr  ihre  Gehirnzentren) 
auch  aktiv,  dass  die  Zufallssinne  des  Menschen  vm  leben- 
diges Spielzeug  sind.  Wenn  ich  mit  der  Katze  spiele,  spielt 
vielleicht  die  Katze  mit  mir  (Montaigne  II.  12).  Der  Mensch 
will  nicht  begreifen,  dass  die  Welt,  weil  sie  stärker  ist,  die 
Spielregeln  stellt.  Und  doch  würde  er  dadurch  erst  recht 
zum  Mittelpunkte  der  Welt,  freilich  nur  jeder  einzelne  zum 
Mittelpunkte  seiner  eigenen  kleinen  Wdt. 

« 

Es  ist  aber  unmaglicli  für  eine  Urzeit  der  Spraehwerdnng  mgm- 
oder  fbr  die  Zeit  des  ersten  Sprachlemens  bei  unsera  Ein- 
don  psychologiscb  su  nntmdieiden ,  ob  mit  den  ersten  BtiamU 
Worten  oder  deiktischen  Sprachlauten  mehr  Eigennamen 
oder  mehr  Gattungsnamen  gemeint  seien.  Die  Verwirrung 
in  der  Seele  des  Kindes  und  des  Urmenschen  ist  Tielleicht 
sogar  noch  grösser,  als  unsere  Sprachmittel  leicht  auszu- 
drftcken  gestatten;  es  Tcrbinden  sich  vielleicht  Extreme, 
welche  Uber  den  Oegensats  Ton  Eigennamen  und  Gattungs- 
namen weit  hinaus  gehen.  Vidleicht  gibt  es  in  der  Seele 
des  Urmenschen  und  des  Kindes  einen  Zustand,  in  welchem 
des  Indindttum  »Papa"  noch  nicht  als  das  immer  gleiche 
Individuum,  also  als  der  Träger  des  Eigemuunens  «Papa* 
^annt  wird,  wo  Papa  noch  viel  individueller  «den  da* 
ausdrückt,  der  augenblicklich  mit  seinem  schwansen  Barte 
im  Gesichtsfelde  ist  und  der  dem  andern,  der  vor  einer 
Stunde  da  war,  nur  ähnlich  sieht;  auf  dieser  Stufe  vermischt 
sich  in  der  Seele  des  Kindes  der  Gebrauch  von  Papa  als 
Gattungsname  für  Mann  und  als  ein  Momentname,  der  noch 
individueller  Ist  als  die  Person  des  Vaters.  Eibenso  kann 
das  Kind,  welches  den  Mond  am  Himmel  erst  links  und 


88 


III.  Dm  SttbsiaatiTttm. 


dann  rechts  von  einem  Gebäude  erblickt,  beide  Erschei- 
nungen für  zwei  Moraentanmonde  halten,  sie  also  Über  den 
Eigennamen  hinaus  individualisieren  und  doch  einen  Gat- 
tungsbegriff (etwa  n Lampe")  unklar  d«iiit  yerbinden.  ünd 
mders^itB  kann  es  das  Merkmal,  an  welchem  es  den  Pap» 
erkenntt  in  der  Schwftrze  des  Bartes  entdecken,  jeden  dunkel» 
bärtigen  Menschen  Pap»  nennen  und  hat  dann  seheinbar 
den  Gattungsnamen  «Mann"  erfasst,  in  Wahrhat  jedoch 
nur  eine  adjektivische  Vorstellung. 

Ich  g^ube  nicht,  dass  diese  sdiwankende  Haltung  der 
Sigennamen  ganx  und  gar  aus  der  Sprache  der  Erwach- 
senen Tsrschwunden  sei.  Hitta  jeder  Mensch  aus  eigner 
Kraft  sprechen  gelernt,  das  heisst  aus  eigner  Erfahrung 
Begriffe  abstrahiert,  so  wäre  jeder  Gattungniame  für  ihn 
ein  Repräsentant  von  mehr  oder  weniger  Eigennamen,  da 
für  ihn  jede  einsebie  Erfahrung  den  Wert  eines  Individual- 
namens  hatte.  Ich  habe  AArika  in  Algier  flüchtig  betreten 
und  dort  wenig  Neger,  gar  keine  Kamele  und  Lfiwen,  wohl 
aber  MOndiener  Bier  Totgefunden;  dieser  Begriff,  also 
«Algier",  würde  für  mich  mit  dem  Begriff  Afrika  susammen- 
iBiessen,  wenn  ich  nicht  von  minder  bequemen  Beisenden 
erfahren  hätte,  dass  fUr  sie  der  Begriff  „Afrika*  Kamele 
und  Lchvon  und  sehr  viele  Neger  mit  umfasst.  Könnten 
die  Menschen  sich  genau  genug  beobachten,  so  würden  sie 
begrdfen,  dass  unzähligen  ihrer  Begritio  Iiidividualerfah- 
rungen  zu  Grunde  liegen,  dass  diese  Begriffe  also  Eigen- 
namen sind.  Weil  nun  dir-  Spiachp  zwischen  den  Men- 
srlien  entstanden  ist,  die  Menschen  aber  nicht  die  gleichen 
Individualerfahrungen  besitzen,  so  schleifen  sich  alle  diese 
Individual begriffe  im  Verkehr  zu  Gattungsnamen  tun.  Heute 
noch  sind  für  viele  Dörfer  Berg,  Fluss,  Kirche,  Pfarrer, 
Graf,  Wald,  Schloss  u.  s.  w.  Eigennamen;  kommen 

aber  Einwohner  verschiedonor  Dörfer  zusammen,  80  werden 
diese  Worte  wieder  zu  (jaüunifsnunieu. 

Doch  auch  in  streng?  wissenschaftlicher  Anwendung, 
und  da  erst  recht,  haben  die  Ei<(ennanien  einen  Charakter, 
der  leicht  zeitlich  und  räumlich  zu  den  Kollektivnamen  hin- 


Eigtuiamai  imbertunmL 


89 


ober  schwanken  kann.  Man  hat  schon  darauf  aufmerksam 
gemacht,  dass  musterhafte  Eigennamen  wie  BeHiii  nur  dann 
Eigennamen  sind,  wenn  man  unter  ihnen  eine  Stadt  in  einer 
bestimmten  Epoche,  pedantisch  genommen:  in  einem  be- 
stimmten AugLublicke  versteht.  Berlin  voi  tausend  Jalii  en 
und  das  heutige  Berlin  haben  miteinander  nur  den  Ort,  un- 
gefähr die  Gegend  auf  der  Erdoberfläche  gemeinsam;  im 
übrigen  giebt  es  gewiss  nicht  einen  Stein,  nicht  einen 
Balken,  der  von  dem  alten  Berlin  noch  flbrig  geblieben  ist 
Und  ▼fthrend  der  Mensch,  welcher  mit  Eigennamen  Fried* 
rieh  Wilhelm  Schulse  heisst,  hei  swuudgjähriger  Yerüade- 
mog  sSmtlidier  Atome  doch  durch  ein  Geheimnis  seines 
Qrgft&ismus  wenigstens  emigennassen  seine  Form  bewahrt 
hat,  bietet  Berlin  auch  ein  durchaus  anderes  Bild  als  das 
Berlin  vor  tausend  Jahren.  Spridit  man  also  von  einer  «Ge- 
schichte Berlins*,  so  ist  Berlin  kein  Eigenname  mehr;  dem 
Lidiridttum  Friedrich  Wilhelm  Sdiulze  das  Recht  auf  einen 
Eigennamen  absusprechen  wftre  darum  bedenklich,  weil 
Schuhe  ein  Gedlchlnis  hat,  eine  Continuitftt  seines  Bewusst- 
seins  und  damit,  mit  Recht  oder  Unrecht,  die  Vorstellung  yon 
seiiier  Ihdiridualitftt. 

Gehen  so  historische  Eigranamen,  ich  meine  Eigen- 
namen, welche  sich  entwickelnde  Menschen  oder  Menschen- 
schöpfungen  oder  Menscheogruppen  beieichnen,  leicht  in 
seitliche  Eollektivnamen  über,  so  sind  Eigennamen  tou  kon- 
krrten  Dingen  streng  genonunen  fast  immer  rSumliche  Kol- 
lektiYnamen,  welche  wieder  dem  Gattungsname!  sehr  nahe 
stehen.  Sprachlich  wird  selten  ein  Unterschied  gemacht, 
z.  B.  kann  „Bibliothek*  ein  Gattungsname  sein,  aber  ohne 
jede  sprachliche  Aenderung  auch  ein  Eigenname,  wenn  ich 
nach  der  ,Bibliotiiek*  schicke  und  die  königliche  Bibliothek 
meine,  oder  aus  der  „Bibliothek"  ein  Buch  herunterholen 
lasse  und  (was  mir  bei  der  Bescheidenheit  meiner  Biblio- 
thek allerdings  nicht  geläufg  ist)  an  meine  eigene  Biblio- 
thek denke.  Jede  individuelle  Bibliothek  umfasst  zahlreiche 
Bücher  und  „Buch*  kann  wieder  Gattungsname,  Sammel- 
name oder  Eigenname  sein.   Mit  Beispielen  dafUr  könnte 


90 


Iii.  Das  SubfltantiTum. 


ich  ein  Buch  fttUen  oder  ein  Blatt  eines  Buches  ToUschreiben 
oder  dieses  Buch  um  ein  Blatt  Termehren:  Gattungsname, 
Sammelname  und  Eigenname. 

Ein  Sehwanken  iwisehen  den  verschiedenen  Arten  der 
Substantive  ist  auch  da  mOglich,  wo  das  Wort  auf  den 
ersten  Blick  als  ein  guter  Eigenname  erscheint  So  ist 
»Erde*  ganz  gewiss  etwas,  was  unter  die  Definition  der 
Eigennamen  föUt.  Ich  sehe  natOrlich  ab  von  der  Mehr> 
deutigkeit  des  Wortes,  infolge  deren  es  bald  einen  Stoff* 
namen  (Ackererde)  bald  einen  Gattungsnamen  (Erden  =  Erd- 
arten), dann  wieder  den  unbestimmten  Teil  des  Erdbodens, 
auf  welchem  wir  gerade  stehen,  bezeichnen  kann;  ich  sehe 
ferner  ab  davon,  dass  die  Erde  eine  Entwidclungsgesohichte 
hat  und  in  sofern  ebensowenig  wie  Berlin  oder  Friedrich 
Wilhelm  Schulze  zu  verschiedenen  Zeiten  ein  und  dasselbe 
Individuum  ausdrückt.  Nehmen  wir  Erde  einzig  und  allein 
als  Wortzeichen  fUr  unsern  Planeten,  so  ist  es  doch  etwas 
wie  ein  Sammelname  für  (\'\e  Vorstellung  des  Geologen,  ein 
Gattungsname,  wenn  z.  B.  Klopstock  von  den  Planeten  als 
von  Erden  redet ,  und  ein  Eigenname  erst  fi\Y  die  astro- 
nomische Anschauung,  die  nur  diesen  einen  Weltkörper  so 
nennt,  oder  gar  für  die  kosmische  Anschauuiiju'  Fechner's, 
die  diesem  Weltkörper  auch  noch  eine  IndividuaLseele  zu- 
weist. Wer  diese  kosmische  Anschauung  chicanieren  wollte, 
könnte  dann  weiter  fragen,  ob  auch  die  Meteorsteine  im 
Fluge  zu  diesem  Erdeuindividuum  gehören,  wie  doch  sicher- 
lich die  Atriiosi)häre,  welche  wieder  in  der  Gemeinvor- 
stellung nicht  zur  Erde  gehört. 

Namen  der  Flüsse  sind  Fjij^ennanKMi.  Das  lernen  wir 
iu  der  Schule.    Es  ist  afjer  auch  nicht  ganz  wahr. 

Eigennamen  sind  sie  nicht  ganz  so  wie  Peter  '»l«^' 
Paul.  Unter  uns  sind  Peter  und  Paul  auch  nicht  mehr 
Eigenimnien.  Eigenname  i.st  »  rst  , Peter  Müller",  das  heisst 
so  viel  als  der  schwarze  oder  der  bucklige  Müller.  In 
diesem  Sinu  ist  dann  „Donau"  ein  Begriff  wie  ,I'eter  Müller*. 
Und  dass  , Donau*  nur  das  Bett  be/eichnet  ,  in  dem  ein 
unaufhörlich  wechselndes  Wasser  tliesst,  da.s  hindert  die 


MftOMn  der  Flttne. 


91 


Aehiilicbkeit  nicht:  denn  am  letzten  Ende  bezeichnet  uuch 
, Peter  Müller'*  nur  das  Bett,  die  Summe  der  (selbst  wieder 
wie  das  Phissbett  sich  langsam  wandelnden)  Gcfässe  und 
Organe,  durch  welche  das  tätlich  durch  neue  iSaiirung  neu 
geschafi'ene,  neu  entsprungene  lilut  strömt. 

Doch  mit  den  Flussnamen  hat  es  noch  was  Besondres 
auf  sich.   Es  hat  gewiss  Zeiten  gegeben,  in  denen  nament- 

grosse  Ströme  und  Ozeane  von  den  Terschiedenen  an- 
wolmenden  TSlkem  ▼eraehieden  benannt  wiurden  und  zwar 
80,  dafls  sie  nicht  wnssten,  es  sei  derselbe  Fluss.  Ja,  wenn 
Kolumbus  »logisch*  daehte,  so  monte  er,  da  er  bis  an 
sein  Lebensende  nichts  yon  Amerika  (dem  spätem  Em* 
merichland)  «wusete",  glauben,  Bombay  liege  am  Atlanti- 
schen Osean,  und  musste  diesen  Glauben  fllr  eine  neue 
Wahrheit  halten. 

Als  dann  die  abendllndische  Menschheit  fVx  grosse 
StrOme  einheitliche  Kamen  annahm,  schien  «Donau*  end- 
lich ein  E^enname  su  werden,  ein  Einselbegriflr.  Wie  aber 
steht  es  mit  der  Taufe  dieses  Wassers?  Mit  dem  Grunde 
der  Namengebung?  ZufUlig  wurde  der  Hauptstrom  Missouri 
genannt,  der  Nebenfluss  Mississippi;  luföUig  hiess  der  Haupt- 
atrom  Inn,  der  Nebenfluss  Donau.  Weil  aber  die  Strecke 
unterhalb  des  Zusammenflusse«  hier  Mississippi,  dort  Donau 
hieas,  darum  erhielt  der  ganse  Lauf  den  Namen  des  Neben- 
flusses* Sowie  Mohammed,  nachdem  ihm  von  Ghadidscha 
ein  Sohn  Kasim  geboren  worden  war,  Abulkasim,  der  Yaler 
des  Kasim,  hiess.  Der  Vater  wird  nach  dem  Sohne  ge- 
nannt. Der  Fluss  bei  Hambuig,  der  Moldau  heissen  sollte 
nach  dem  Hauptflusse  Böhmens,  heisst  Elbe. 

Das  ist  uns  gani  gleichgültig,  weil  die  Flüsse  für  uns 
Marktwaren  sind,  weil  das  Wasser,  einerlei  unter  welchem 
Namen,  fest  gebettet  und  besrhrieben  ist,  und  weil  die 
Flüsse  nicht  lebendig  sind.  \N  ie  aber  wenn  jemand  den 
Schluss  ziehen  wollte,  dass  die  Wassermasse  der  Donau  bei 
Passau  grösser  sein  müsse,  als  die  des  Inn,  weil  der  Strom 
weiterhin  Donau  heisse?  Dann  würde  er  denselben  Fehler 
begeim,  den  die  redende  Menschheit  seit  jeher  begeht,  in- 


92 


III.  Dm  SabataafciviuiL 


dem  sie  die  Logik  für  etwjLs  Ursprüngliches  halt,  trotzdem 
die  Logik  nur  aus  Namen  abgezogen  ist. 

Wir  haben  unzählige  Begriffe,  die  Haupt-  und  Neben- 
strom verwechseln,  oder  die  (z.  B.  Weser  aus  Werra  und 
Fulda)  plötzlich  den  alten  sprachlichen  Zusammenhang  ver- 
lieren; und  am  Enfle  ist  es  für  die  Wirklichkeit  wirklich 
ebenso  ^gleichgültig,  ob  ikie  Begriffe  j)assen,  wie  für  das 
Walser  unterhalb  Passau,  ob  es  Donau  oder  Inn  heisst. 
Graugrün  ist  es  doch. 
B»-  Verwandt  mit  diesem  Schwanken  selbst  der  Eigennamen 

'*iwS*'''^  ist  der  Gebrauch  des  Wörtchens  »der",  welches  im  Laufe 
weniger  Jahrhunderte  (ähnlich  liegt  die  Sache  in  andern 
modernen  Sprachen)  den  Weg  Tom  Lanteeichen  für  Moment- 
indiTiduen  bis  zum  Lantseichen  des  Allgemeinaten  und  der 
Bedeutungslosigkeit  surQckgelegt  hat.  Urapranglich  war 
es  nämlich  wohl  noch  mdir  als  ein  Banonstrativpronomen, 
war  es  der  Ausruf,  welcher  die  Auftnerksamkeit  auf  das 
gerade  Tor  Augen  stehende  Ding  da  richtete,  es  also  für  den 
Hörenden  hezeiehnete.  SpUer  als  wirkliches  DemonstratiT" 
pronomen  individualisierte  es  noch  einen  Qattungsnamen; 
«der  Mensch*  das  heisst  dieser  Mensch  und  kein  anderer. 
In  aUmShUcher  AbsdiyiUihung  beseichnet  es  als  Artikel 
gerade  urngdtdirt  nicht  ein  Individuum,  sondern  ein  gleich- 
gOltiges  Beispiel  seiner  Gattung:  «der  Löwe  hat  eine  Mähne* 
heisst  so  viel  wie:  jedes  Tier  dieser  Art,  gleichgOltig 
welches. 

anbe-  Nicht  uBahnlich  ist  der  Weg,  welchen  der  unbestimmte 
'^■^kel  im  Deutschen  gemacht  hat.  «Ein*  ist  ursprQng^ 
lieh  ein  sogenanntes  Zahlwort,  das  heisst  die  Bezeichnung 
für  den  Individualbegriff,  far  die  Einheit,  von  welcher  die 
Thfttigkeit  des  Zählens  dann  ausgeht,  wenn  die  Empfindung 
der  Gleichheit  zweier  Individuen  zum  GefOhlsausdruck  zwei 
geftlhrt  hat.  Im  Deutschen  ist  diese  ursprüngliche  Bedeu- 
tung durch  die  gehäufte  Anwendung  dos  tinbestimmten 
Artikels  so  sehr  unterdrückt  worden,  und  die  Schwierigkeit, 
die  Betonung  des  ursprünglichen  flEin*"  durch  den  Druck  her* 
vorzuheben,  hat  dazu  geführt,  dass  wir  für  «ein*  oft  den 


Bestimmter  und  unbestimmter  Artikel. 


93 


sebwnlstigea  Aiudraek  «ein  und  dwaelbe*  finden.  Die  erste 
Abflchw&cliang  fiUurte  xu  der  Anwendung  Ton  ein  im  Sinne 
eines  unbestimmten  Pronomens,  etwa  unseres  «man*,  wobei 
in  einem  seltsamen  Torstellungsgemisch  der  B^priff  der  be- 
stimmten Einheit  verloren  gegangen  ist,  der  Begriff  der 
PersOnlidikeit  aber  bestdien  bleibt  wie  in  «unser  einer*. 
Endlich  wurde  «ein*  sum  sogenannten  unbestimmten  ArtikeL, 
was  ein  sehr  unglQcUicher  Ausdruck  ist.  Dorn  mit  dem 
sogenannten  bestimmten  Artikel  beseichnet  »der  Löwe* 
jeden  Löwen,  also  ein  unbestimmtes  IndiTiduum  der  Art; 
ftngt  jedoch  eine  Fabel  mit  «ein  Löwe*  an,  so  ist  ein  be- 
stimmtes Individuum  gemeint,  und  wenn  sich  im  Verlaufe 
der  Fabel  «er*  auf  den  Helden  der  Fabel  bezieht,  auf 
«einen  Löwen*,  so  ersetzt  dieses  er  ein  bestimmtes  Indi- 
viduum, einen  Eigennamen.  In  unserer  Tierfabel  steht 
Beineke  nicht  für  «der  Fuchs*,  sondern  fttr  «ein  Fuchs*. 

Um  SU  zeigen,  wie  wideisprechend  sich  die  Sprache 
zu  scheinbar  so  durdhsichtigeii  VerhSitnissen  wie  die  der 
EigemuHnni  veihilt,  will  ich  diesen  bisher  übersehenen 
Ohankter  des  unbestimmten  Artikels  durch  Verbindung  mit 
einttOCl  Eigenuamen  illustrieren.  Heisst  es  in  einer  kurzen 
Chronik  der  Familie  Bismarck  irgendwo:  «Ein  Bismarck 
hat  das  neue  deutsche  Reich  gegründet",  so  wird  der  Eigen- 
name Bismarck  zunächst  zu  einem  Gattungsnamen,  der 
hundert  Individuen  umfasst,  und  dann  erst  wird  gerade 
durch  den  sogenannten  unbestimmten  Artikel  ein  bestimmtes 
Individuum  hervorgehoben  und  sein  Name  wieder  zu  einem 
Eigennamen  p^emacht,  genau  wie  durch  die  übliche  Be- 
zeichnung «Otto  von  Bismarck".  Sage  ich  aber:  ,Die  Bis- 
marck kommen  nicht  in  der  Mehrzahl  vor*,  so  mache  ich 
aus  dem  Eigennamen  Otto  von  Bismarck  zunächst  einen 
wirküdien  Gattungsnamen,  um  nachher  von  ihm  auszusagen, 
dass  es  von  ihm  eine  Mehrzahl  nicht  gehe ,  tlass  er  also 
in  vollendeter  Weise  ein  Rif^ennnnip  sei;  man  schläi^t  der 
Sprache  ein  Schnippchen,  indem  man  die  Einzigkeit  des 
Mannes  dadurch  hervorhebt,  dass  man  sefnp  Mehrzahl  bildet 
und  die  Möglichkeit  dieser  Mehrzahl  leuguet. 


94 


17.  Das  A^jektivuin. 


IT.  Das  A4jektiTam. 

Unter  den  Tontdlimgsreichen  Redeteilen  ist  das  Ad* 
jektiT  in  der  Geschichte  dee  Verstandes  der  älteste,  in  der 
Geschichte  der  Grammatik  der  jüngste.  Aristoteles  kannte 
das  Adjektiv  noch  nicht,  weil  er  es  fttr  die  Ansgestaltnng 
seiner  Kategorientafel  nicht  n<(tig  zu  haben  glaubte  odor 
▼ielmebr,  weil  er  die  Unterschiede  zwischen  Adjektiv  und 
Substantiv  im  Sprachgebrauch  noch  nicht  dÜferenzierte; 
sein  Epitheton  ist  eine  Art  des  Substantivs  und  unser  Ad- 
jektiv und  Beiwort  sind  Uebersetsungen  des  Wortes  Epi- 
theton. 

FOr  die  Behauptung  jedoch,  dass  das  Ac^ektiv  in  der 
wirklichen  Sprache  dem  Substantiv  und  dem  Yerbum  vor- 
ang^angen  sei,  ist  mit  historischen  Gründeu  nichts  auszu- 
machen, trotzdem  es  sich  um  eine  Zeitfrage  handelt.  Am 
wenigsten  mit  etymologischen  Gründen;  denn  die  Etymo- 
logie neigt  einerseits  dazu,  für  die  neuere  Zeit  die  Adjek- 
tive von  SubstantivMi  und  Verben  abzuleiten,  womit  sie 
sicherlich  recht  hat,  andererseits  für  die  älteste  Zeit  z.  6. 
(He  Gattungsnamen  der  Tiere  und  Pflanzen  von  auffallenden 
Merkmalen  oder  Adjektiven  abzuleiten,  womit  sie  vielleicht 
abermals  recht  hat.  Wir  wissen  aber  schon,  dass  Etymo- 
l<^e  uns  ebensowenijT  der  Entstehung  der  Sprache  nähern 
kann ,  als  etwa  ein  Autstieg  im  Luftballon  uns  der  Sonne 
erheblich  näher  bringt.  Nur  mit  psychologischen  Erwä- 
gungen können  wir  uns  in  Urzeiten  der  Sprache  orien- 
tieren. 

Merkmal  Es  wird  also  darauf  ankommen,  was  wir  unter  dem 

Begriti"  eines  Merkmals  verstehen  und  was  in  ri!>rr  Urzeit 
als  Merkmal  zum  Merken  oder  Benennen  eines  Dnif^s  ge- 
führt Imt.  Wir  verstehen  unter  Mi-rkmalen  sehr  ungleieho 
Begriß'e,  je  nachdem  wir  entwtdt-r  unserer  zu}alli<;en  Mutter- 
sprache folgen  oder  die  logi.seh  verschulte  Grammatik  ein- 
gebläut bekomnun  haben  oder  £^nr  bedächtig  dureii  die 
höhere  Schule  der  Logik  selbst  gegangen  sind.  Unter  allen 


._^  kj  i^  -o  Google 


Mei^mal. 


95 


Umständen  sehen  wir  Adjektive  neben  Substantiven  in  folgen- 
den Beispielen:  ein  borstiges  Tier,  ein  süsser  Apfel,  ein 
weisses  Pferd,  eine  schwere  Kii^jel ,  ein  hoher  Ton,  ein 
schönes  Gesicht,  ein  trauriger  Vorfall,  ein  guter  Mensch. 
Nach  gebräuchlichen  Vorstellungen  wird  man  annehmen, 
dass  die  hier  ausgesagten  Adjektive  von  den  konkretesten 
bis  zu  den  abstraktesten  Merkmalen  fortschreiten.  Nach 
di^n  Vorstellungen  sprechen  die  Adjektive  gut,  traurig 
nnd  BehDn  Werturtdle  aus,  die  Adjektive  hock  und  schwer 
immerhin  noch  sabjektive  Urteile^  die  Adjektive  weiss  und 
sfiss  geben  Empfindungen  wieder  und  gar  das  Adjektiv  borstig 
nebtet  die  Aufmerksamkeit  auf  ein  gans  konkretes  Herk* 
mal,  auf  einen  körperlich  abtrennbaren  Teil  des  Gänsen. 
Mir  ist  es  nun  sunftcbst  darum  xu  tbun,  auf  das  Enge  und 
Inrefttkrende  dieser  ünterscbiede  luniuweisen. 

In  den  extremen  Fftllen,  wo  das  Adjektiv  sieh  auf 
einen  körpolicb  abtrennbaren  Teil  des  Substantivs  bezidit, 
ist  die  konkrete  Vorstellung  allerdings  schwer  aus  unserer 
Phantasie  zu  vertreiben;  aber  auch  da  wiU  das  Adjektiv 
nicht  einen  Kl^rper  beaeichnen,  sondern  den  Eindruch,  den 
das  €kuize  durch  dra  httrvozgehobenen  körperlichen  Teil 
auf  uns  macht.  Wir  denken  bei  aborstig*  nicht  an  die 
losgetrennten  Borsten  oder  an  eine  ihrer  Verwendungen, 
aondem  einsig  und  allein  an  die  Eigenschaft,  welche  das 
Tier  auf  unsere  Augen  und  etwa  noch  auf  unser  Tastgefilhl 
marhf.  Das  zeigt  sich  vielleicht  noch  deutlicher,  wenn,  wir 
ein  Adjektiv  von  noch  derbem  Körperteilen  hernehmen, 
wobei  zu  bemerken  ist,  dass  dergleichen  konkreteste  Ad- 
jektive wohl  sämtlich  neuere  und  neueste  Schöpfungen  sind. 
Sagen  wir  .Der  Mensch  ist  ein  zweihändiges  Tier",  so 
stellt  nch  dar  Hörer  je  nach  seiner  naturwisseDschaftlichen 
Bildung  eine  ganse  Menge  Merkmale  vor,  die  mit  der  Zwei- 
händigkeit zusammenhängen,  aber  die  beiden  abgehauenen 
Hände  stellt  er  sich  nicht  vor;  im  Grunde  wird  bei  «zwei- 
händiges Tier*  nicht  anders  an  zwei  konkrete  Hände  er- 
innert als  in  der  Bezeichnung  „zweihändiges  Klavierstück". 
Die  beiden  Hände,  die  Borsten  werden  nur  im  Geiste  von 


96 


IV.  Daa  Acyeküimin. 


dem  Ganzen  absiirahiert,  um  ein  untenckeidendes  Merkmal 
zu  gewinnen. 

Ganz  ikolick  ISge  die  Sacke  kei  eUas  und  weiss,  wenn 
wir  gelegentlick  darauf  aditon  wollten,  dass  eine  bittere 
Pille  mit  sttsaem  Safte  Aberzogen,  daea  ein  missfarbiger 
Hals  mit  weissem  Puder  bedeckt  ist   Wer  die  Pille  oder 
den  Hak  durck  den  besonders  dazu  geeigneten  Sinn  wahr- 
nimmt, wird  zunäckst  die  Empfindung  sQss,  weiss  kaken, 
am  nackker  zu  erkennen,  dass  diese  Eigensckaftsworte  auf 
abtrennbare  Teile  des  Ganzen  gingen,  dass  er  getftusckt 
worden  sei.  In  den  kftufigsten  Fillen  des  Gebrauckes  von 
sQss,  weiss  und  ftknlicken  Adjektiven  li^  aber  eine  viel 
feinere  Tausckung  vor,  der  der  einfacke  Mensck  immer 
wieder  unterworfen  ist,  wenn  die  Psyckologie  die  Sack- 
lage auch  sckon  vor  Jakrkunderten  aufgekl&rt  kati  Das 
natOrlicke  Denken  möckte  immer  sagen,  die  Dinge  selbst 
seien  sfiss  oder  weiss ;  es  gekört  dne  erkenntnistbeoreiucke 
Ueberlegung  dazu,  auck  diese  Eigenschaften  sckon  als  sub- 
jektive  zu  erkennen.  Nichts  auf  der  Welt  w&re  weiss,  ^be 
es  keine  Augen,  nickte  auf  der  Welt  wäre  sQss,  hätten  wir 
keine  Geschmacksorgane.  Dass  der  weissen  Farbe  im  Gegen- 
satze zu  andern  Farben  ein  bestimmtes  objektives  Yerkaltnis 
zu  Grande  liegt,  ebenso  dem  sOssen  Gescbmack,  das  gebt 
uns  hier  nichts  an;  erstens  wissen  wir  unendlich  wenig  von 
der  objektiven,  meinetwegen  substantivischen  Grundlage  der 
Eigenschaften  und  zweitens  würden  auch  bei  vollständiger 
Kenntnis  der  Ursachen  alle  Eigenschaften  doch  Eigenschaften 
bleiben,  das  heisst  Urteile  Uber  die  Wirkungen,  welche  diese 
Ursachen  in  unsern  Sinnesoi^anen  hervorbringen.  Schweine- 
borsten sind  viel  greifbarere  Ursachen  als  die  hypothetischen 
Aetherwellen,  welche  auf  uns  den  Eindruck  .weiss"  machrn; 
wenn  aber  schon  .liorstig"  nur  an  einen  Eindruck  erinnert 
und  nicht  uninittell)ar  an  die  Öchweineboi-sten  seihst,  so  noch 
vielmehr  , weiss",  ilessen  Ursache  wir  nicht  begreilen  können. 
Sonst  wären  die  entsprechenden  Negativhegriffe  nicht  sprach- 
hch  und  logisch  gleichwertig.    Wir  sageu  aber  ganz  parallel 
borstig  und  nackt,  weiss  und  schwarz. 


97 


Es  gab  eine  Zeit,  in  welcher  man  die  Eigenschaft  der 
Schwere  ebenso  in  den  Dingen  selbst  suchte,  wie  die  Eigen- 
schaften der  Süsse  und  der  Weisse;  seit  der  Aufstellung 
des  Gravitationsgesetzes  ist  es  jedem  Gebildeten  „leicht* 
geworden,  die  Eigenschaft  der  Schwere  sich  als  von  den 
schweren  Dingen  getrennt  oder  abstrahiert  vorzustellen. 
Wir  wissen  sogar,  dass  ein  Pfundgewicht  auf  unsei^r  Hand 
uns  ganz  anders  «rscheinen  wfirde,  wenn  wir  auf  dem  Monde 
lebten.  Üarma  wird  es  uns  leidit,  .schwer*  als  dnen  mb- 
jektiviiB  Bmdruok  su  venteheii,  nodi  leioliter  die  Beseich- 
mugen  ftr  die  T4fne,  fttr  welche  wir  woUl  auoh  dämm  in 
der  ganz  populären  Bpraehe  so  wenige  Worte  haben,  weä 
die  Hensefaen  die  Tfoe  Ton  jeher  nicht  den  Dingen  seihet 
beilegten.  Die  Wellenbewegung  eixur  Btimmgabel  kann 
man  sehen,  die  Schwingungen  einer  Glocke  kann  man  fühlen; 
es  ist  dämm  seit  alter  Zeit  ausgemacht,  dass  das  TOnen 
eher  zu  den  Xhifcigkeiten  ab  su  den  Eigenschaften  der 
Dinge  gehört.  Wobei  ich  nicht  untersnchen  kann,  ob  nicht 
in  irgend  einer  ürteit  ein  Bach  oder  ein  Wasserfall  laut 
hiesa  wie  der  Schnee  weiss.  Die  Gemeinsprache  ist  der 
wissfloischaftlichen  Einsicht  nicht  gefolgt  und  macht  immer 
noch  einen  tTnierschied  swischen  einer  Thatigkeit  der  Glocke, 
die  eudge  hmidertmal  in  der  Sekunde  schwingt  und  darum 
den  Ton  g  giebt,  und  swischen  der  Eigenschaft  eines  Blattes, 
dessen  Oberlllche  nadi  der  jetat  geltenden  Hypothese 
bSlionenmal  in  dw  Sekunde  schwingt  und  darum  die  Farbe 
grfln  gibt.  Wir  aber  müssen  einsehen,  dass  zwischen  den 
Gruppen  süss  und  weiss  einerseits,  schwer  und  hoch  (in  der 
Musik)  anderseits  nach  den  Lehren  der  augenblicklichen 
Wissenschaft  ein  psychischer  Unterschied  nicht  besteht. 

Wenn  wir  nun  endlich  Werturteile  fUlen,  wenn  vrit 
ein  Gesicht  sdxön,  einen  Vorfall  traurig,  einen  Mensdien 
gut  nennen,  so  ist  es  am  klarsten,  dass  wir  dabei  nur  an 
unsere  Gefühle  denken  und  nicht  an  abtrennbare  Ttile  der 
Dinge,  die  wir  so  bezeichnen.  Es  ist  ttberflflssig,  an  dieser 
Stelle  näher  auf  diese  Fragen  einzugehen  und  so  im  Vor* 
überp^eKfn  diV  Prinzipien  der  Aesthftik  und  der  Etiiik  kiiti- 

Maatbner,  Beitrage  zn  einer  Kritik  der  Sprache.  Ul,  7 


98 


IV.  Daa  Ac^jektiv. 


sieren  zu  woDen.  Das  ist  hauptsäcUieb  yon  Hobbes  und 
hoAB  so  gründlich  ausgeftthrt  wmrden,  daaa  niemand  mit 
der  Umwertung  aller  Ssthetiscliea  und  etbisohen  Werte  auf 
Nietesche,  den  Dichter,  h&tte  zu  warten  brauchen. 

Das  Srgebms  dieses  XTeberblicks  ist  ntm  freilich  iusserst 
Imnal:  alle  Eigenschaftswörter  erinnern  uns  nur  an  Ein- 
drlfa&e  oder  Sinneswahniehmungen,  welche  die  Dinge  auf 
uns  gemadit  haben.  Was  wir  die  Dinge  sdbst  nennen, 
was  wir  konkret  nennen,  das  sind  die  Komplikationen  Ton 
Sigensdiaften,  die  wir  einer  und  derselben  Quelle  zuschreiben. 
Bin  Apfel  ist,  was  zuglddi  und  hypothetisch  aus  derselben 
Quelle  stammend  auf  unsere  Augen,  unseni  Tastsinn,  unsera 
Geruchssinn  und  unsem  Oesdimack  diese  und  diese  Ein- 
drücke ausübt.  Eigenschaften  sind  die  Teüeindrücke ,  die 
wir  im  Geiste  von  dem  Ganzen  abtrennen,  indem  wir  sie 
nach  unsem  Sinnesorganen  klassifizieren.  Und  da  nichts 
in  unserm  Verstände  ist,  was  nicht  vorher  in  den  Sinnen 
war,  da  unsere  Aufinerksamkeit  so  beschränkt  ist,  unser 
Bewusstsein  so  eng,  da  wir  endlich,  warn  die  Dinge  all- 
mählich nl^er  kommen,  zunächst  immer  nur  Irgend  einen 
besondern  Umstand  an  ihnen  wahrnehmen,  ttitweder  die 
Farbe  oder  den  Ton  oder  die  Form  u.  s.  w.,  so  kdnneii  wir 
wohl  sagen,  dass  Eigenschaften  die  ersten  Eindrücke  waren, 
die  wir  von  der  Aussenwelt  hatten.  Die  Psychologie  wird 
uns  nicbi  Lügen  strafen. 

Ganz  anders  ]\egi  die  Frage,  wenn  wir  sie  vom  Stand- 
punl^to  der  ETitv,-ickelungsgeschichte  historisch  auffassen. 
Dann  können  wir  ^if^  überhaupt  nicht  beantworten.  Denn 
niemals  werden  wir  erfahren,  ob  drr  Mensch  einer  Urzeit 
seinen  Ucsichtssinn  z.  B.  fllr  die  Farbe  Grün  schon  difi'eren- 
ziert  hatte,  als  er  den  Baum  als  ein  Ganzes  erkannte  und 
benannte,  oder  umgekehrt:  niemals  werden  wir  erfahren, 
ob  für  den  werdenden  Menschen  das  Ganze  oder  der  Teil 
früher  da  war. 

Wie  immer  es  nun  um  das  Bewusst.sein  eines  Urzeit- 
menschen gestanden  haben  iiüig,  ob  er  die  allein  wahr- 
genommenen einfachen  und  komplizierten  Wirkungen  der 


Digitizc^' ' 


Eigenschaft  und  Wirklichkeit 


99 


Dinge  melu  als  Eigenschafton  oder  mehr  als  Thätigkeiten  Eigen- 
empfand oder  ob  er  gar  mit  der  ältesten  und  kühnsten  aller  '^'^^ 

Hypothesen  sogleich  substantivische  Ursachen  dieser  Wir-  Wiik- 
,  ,.      .  ,         ...  ,  Uobk«U 

kungen  m  die  Aussenwelt  projizierte,  wir  müssen  nach 

unserm  Sprachbewusstsein  adjektivisch  auffassen,  was  uns 

die  Sinne  und  deren  Kombinationen  TOn  der  Aussenwelt  er- 

dUilen.  Ton  diesem  Apfel  in  meiner  Hand  weiss  ieli,  dass 

er  f^att,  süss,  rot,  schwer  ist,  dass  er  gelegentlicli  beim 

F^en  auf  die  Brde  ]i5rliar  wird,  und  dass  er  mir  ange- 

nelim  ist   Was  er  abgesehen  von  diesen  A^ktiven  noch 

weiter  sein  mag  (alles  was  wir  von  ihm  als  Chemiker,  als 

Botaniker  u.  a.  w.  wissen,  Hesse  sich  ebenso  in  A^ektiTon 

ausdrucken),  das  ist  eine  metaphysische  Frage.  FOr  vata 

ist  er  eine  Gruppe  von  Adjektiven,  aus  denen  sich  seine 

Körperlichkeit  aufbaut;  was  der  Apfel  an  sich  ist,  das  wissen 

wir  nicht. 

Der  Aufbau  der  Körperlichkeit  aus  den  Eigenschaften 
voOsieht  sich  vorsprachlich;  auch  der  Affe,  wenn  er  einen 
Apfel  frisati  stellt  sidi  wahrscheinlich  aus  den  Eigenschaften 
glatt,  sQss,  rot,  schwer  u.  s.  w.  die  Hypothese  Apfelding 
susammen.  Sowie  aber  die  Sprache  durch  besondere  Worte 
Erinneruiigen  an  die  Eigenschaften  geschaffen  hatte,  war 
es  mö^ch  und  lag  nahe,  durch  geeignete  ZuaammensteUung 
von  Adjjektiven  Erinnorai^en  an  alle  möglichen  Dinge  her- 
vonuntGm,  auf  die  Aehnlidikeit  der  Merkmale  aufinerksam 
SU  werden  und  so  langsam  die  Arbeit  der  Klassifikation, 
der  Weltkatalogisierung  nach  Arten  zu  beginnen,  eine  Arbeit, 
welche  heute  noch  in  groben  Umnasen  steckt  und  deshalb 
niemals  vollendet  werden  kann,  weil  die  EtinteilungsgrOnde 
Adjektive  oder  Sprachworte  sind,  die  Natur  jedoch  sich  nicht 
um  die  Sprache  kümmert*  Uns  armen  redenden  Menschen 
bleibt  aber  nichts  übrig,  wenn  wir  uns  in  der  Welt  nicht 
verirren  wollen,  als  die  Sprache  zum  Führer  zu  nehmen. 
Und  innerhalb  der  Grenzen  der  Sprache,  mit  der  Gewiss- 
heit also,  der  Natur  Gewalt  anzuthun,  besitzen  wir  an  den 
Adjektiven  den  allein  artbildenden  Redeteil. 

Mit  dieser  wichtigen  Thatsache  hängt  vielleicht  eine 


^  .d  by  Google 


100 


IV.  Das  AdjektiT. 


Gegen-  Beobaehtung  zusammen,  wektho  sdioii  rem  altoi  Adelung 
^^^^^[^^^  gemacht  und  dann  Ton  Karl  Ferdinand  Beeker  Terfolgt 
worden  kt;  dass  nftmlich  die  AdjektiTe  sehr  hftnfig  als 
<}^nsalzpaare  anflareten  wie  gross  und  klein,  alt  und  jung, 
gut  und  bfise,  arm  und  leieh,  warm  und  kalt,  sobwer  und 
leicht  n.  s.  w.  u.  s.  w.,  dass  in  den  meisten  andern  IWm 
der  Oegensats  dureh  eine  Negationspartikel  gebildet  werden 
kann  wie  in  bequem  und  unbequem.  Wir  brauehen  aber 
gar  nicht  mit  Beeker  anzunehmen,  dass  diese  Gegensitalieh- 
keit  irgendwie  im  Wesen  des  AdjektiTS  liege;  es  wfirde 
diese  Vorstellung  leicht  dasu  fDhren,  an  den  von  Abel  auf* 
gestellten  Ghrundsats  Tom  Gegensinn  der  ürworte  su  glauben. 
Das  mag  flir  das  Altigyptische  richtig  sein,  für  das  AU- 
^jptische  der  Aegyptologen  nämlich,  welche  schliesslich 
dieses  höchste  Prinsip  der  ünTersündUchkeit  erfinden  mnss- 
ten,  um  die  Texte  lu  Terstehoi.  Wir  können  das  Auf- 
kommen der  gegensfttslichen  Adjektive  für  die  Zeit  der 
Sprachentwiekelttng  aufsparen,  in  welcher  die  Verwendung 
der  Adjektive  als  artbildender  Attribute  allgemein  wurde. 
Es  gibt  eine  sprachliche  Entstehung  der  Arten.  Nichts  war 
verlockender  als  den  Umfang  jedes  Begriffe  dadurch  sauber  in 
Ewei  Teile  su  teilen,  dass  man  zwei  widersprechende  Attri- 
bute nacheinander  mit  der  Oberklasse  verband  und  diese 
widersprechenden  Attribute  wohl  oder  flbd  bildete.  Ganz 
vorsichtig  möchte  ich  an  dieser  Stelle  darauf  hinweisen,  dass 
viele  Adjektive  aus  Stoffhamen  so  entstanden  sind  als  ob 
der  Genitiv  des  Stoffes  adjektivischen  Sinn  erhalten  hätte. 
FOr  mein  Sprachgefühl  liegt  in  der  Stoff  bezeiehnung  immer 
eine  Artbezeichnung,  wie  im  adjektivischen  Attribut. 

Becker  macht  die  hübsche  Bemerkung  (Organtsm  der 
Sprache  S.  lOd),  dass  die  Adjektive  zu  Komparativen  und 
Superlativen  erhoben  werden  können,  weil  die  Komparations- 
formen nur  Verhältnisse  des  gesteigerten  Gegensatzes  be- 
zeichnen; Substantive  und  Verben  Hessen  sich  (lamarli  nur 
darum  nicht  steigern,  weil  nichts  Gegensätzliches  in  ihn--n 
liegt.  Auffallend  ist  es  jedenfalls,  dass  künstlich  gebildet 
Adjektive  wie  die  Farticipien  erst  dann  einen  Komparativ 


Aril»ild«iide  A^j^^*^ 


101 


und  Superlativ  zulassen,  wenu  sie  durcli  den  Sprachgebrauch 
zu  richtigeu  Adjektiven  fre worden  sind,  wo  «if»  dann  aller- 
dings leicht  etwas  Exklu-^ives  und  dadurch  Gegensätzlirliea 
erhalten.  Doch  haben  wir  dafür  im  Deutschen  keine  ganz 
feste  Uebung.  Lessing  und  Goethe  haben  Participien  ge- 
steigert, wo  niemand  eine  Nachahmung  empfehlen  möchte. 

Um  aber  nach  der  erkenntnis-theoretischen  Unter-  aiv- 
suchuüg  auch  einen  kleinen  iS  utzen  filr  die  Grammatik  nicht  jj^*^^^ 
zu  verschmähen:  es  scheint  mir,  dass  der  Streit  um  die  Zu- 
lassung verd  ulitiger  Adjektive  durch  die  Fratri'  nath  ihrer 
artbildendfcu  Kraft  entschieden  werdeu  könnte.  Es  brüiicht 
hierbei  nicht  an  die  berüchtigten  Beispiele  von  der  .reiten- 
den ArtiUeriekaserne"  und  der  „geriebeueu  Oelfarbenhand- 
lung**  erinnert  zu  werden;  Andresen  entlehnt  ähnliche 
Schnitzer  solchen  Sprachmeistem  wie  Lessing  und  Grimm; 
Lwmng  sagt  einmal  ,  verschmitzte  FrauensroUen",  Grimm 
«ungeboreiie  LimmerfeBe*.  Jhas  hier  ein  Fehler  genncht 
wird,  fftUt  in  die  Augen;  der  Fehler  scheint  mir  aher  nmr 
darin  au  liegen,  daas  die  artbildende  Kraft  des  A^jektiTs 
nach  dem  festen  Sprachgebrauche  im  Cteiite  mit  einem  fal- 
scihen  Worte  Torbanden  wird.  Das  wird  maek  einleuchten- 
der, wenn  wir  die  FiUe  ins  Auge  fassen,  in  denen  der 
FeUw  nicht  so  leicht  empfunden  wird,  ich  meine  die  ans 
Eigennamen  gebildeten  A^ektire.  Alle  Welt  spricht  Ton 
Sdbratischer  Methode,  SchOlerschen  Gedichten,  Bismarck- 
scher Politik.  Das  ist  unsauber,  wenn  mit  den  Worten  die 
Politik  Bismarcks,  die  Gedichte  SchiUers,  die  Methode  des 
Sokratea  beieidmet  werden  sollen.  Die  Ausdrücke  sind  aber 
tadeiloe  und  sehr  prignant,  wenn  Sokrates,  Schiller  und 
Bismarek  ab  Schöpfer  dner  neuMi  Art  gedacht  sind  und 
gemeint  ist:  es  habe  s.  B.  Lessing  mitunter  die  Sokratisclie 
Methode  geübt,  oder  es  gehOre  dies  und  jenes  dazu,  Schüler^ 
sehe  Gedichte,  Bismareksche  Politik  madien  su  dOifen.  Wir 
eiinneni  uns,  wovon  wir  eben  bei  der  Betrachtung  des  Ad- 
jektifs  ausgegangen  smd.  „Schillersche*  Gedichte  sind  <Je- 
didhte,  die  ein  besonderes  Merkmal  an  sich  tragen,  eine 
ganae  Art  also;  nicht  an  das  Individuum  Schiller  will  das 


102 


V.  Adverbien.  —  Battm  und  Zeit. 


Adjektiv  erinueni,  sondern  an  don  subjektiven  Eindruck, 
den  seine  geistige  Individualität  artbiidend  auf  uns  ge- 
übt hat. 


T.  Adrerbien.  —  Baum  und  Zeit. 

Ad-  Steintlial  und  Benfey  sind  trotz  einiger  AVidersprüche 

beide  durch  sprachgeschicbtlicbe  Untersuchungen  dazu  ge- 
Ctoua.  langt,  das  Adverbium  für  einen  jungen,  „sozusagen  einen 
nacbgeborenen  Redeteil*  zu  erklären.  Man  kann  das  Ad- 
verbium, sowohl  das  Adverhiiiiii  des  Ortes  wie  das  AdTerbium 
der  Art  und  Weise  ab  einen  besonderen  Oasns  des  Nomens 
auffassen  und  h&tte  dann  nur  psychologisch  zu  erklSren, 
warum  die  Orammatiker  fttr  diese  Beziehungen  schliesslich 
einen  besonderen  Bedeteü  aufgestellt  haben.  Der  Haupt- 
grund wird  wohl  wieder  der  sein,  dass  die  Sprache  ilter 
und  reicher  ist  als  die  Grammatik  und  so  bei  ihren  Bil- 
dungen auf  die  Bedflrfhisse  der  Grammatik  nicht  Rücksicht 
nehmen  konnte«  so  wenig  wie  die  Natur  bei  der  Erzeugung 
der  Lebewesen  auf  das  ElassifikationsbedOrfnis  der  Natur* 
forscher  Rtteksicht  genommen  hat  Was  wir  jetzt  Adverbium 
nennen,  das  konnte  durch  den  Ablativ  und  Lokativ,  das 
konnte  durch  den  Instrumentalis  ausgedrfickt  werden.  Im 
Sanskrit  ist  es  infolge  dieser  Verhältnisse  gar  nidit  nötig, 
besondere  Adverbien  oder  einen  *  besonderen  adverbialen 
Casus  anzunehmen.  Im  Lateinischen  scheint  die  Sache  so 
SU  li^^,  dass  die  adverbialen  Oasusformen  auf  -ter,  -tim, 
-itus  (gradatim,  fiznditus)  vor  Ausarbeitung  einer  lateinischen 
Grammatik  sieh  so  eingeschränkt  hatten,  dass  sie  in  die 
bekannten  Deklinationsformen  nicht  mehr  aufgenommen  zu 
werden  brauchten.  Das  ist  noch  deutlicher  im  Griechischen 
zu  beobachten,  wo  die  Ablativendung  -«K  frühzeitig  ab 
modabr  Casus  zur  Herrsdiaft  gelangte;  da  wurde  bald  ver- 
gessen, dass  diese  Bndung  nur  einer  bestimmten  substantivi- 
schen Deklination  angehörte,  sie  wurde  durch  Analogie  auch 
den  Adjektiven  einer  anderen  Form  angehängt.   Weil  die 


Adverfaiiim  und  Gmdb. 


103 


alten  adverbialen  Casus  so  unregehnussig  aus  der  Sprach- 
geschichte verschwanden,  darum  gibt  es  auch  in  «?ut  durch- 
forschten Sprachen  so  viele  unerkläite  Adverbien  ^Steinthal, 
Kleine  Schriften  S.  446  u.  f.). 

Sehen  wir  so  im  Adverbium  nur  einen  besonderen  Casus, 
so  werden  wir  die  komische  Verlegenheit  der  Giaujmiitiker 
begreifen,  welche  die  Worte  aus  dieser  Bedeutungsgruppc 
gerade  deshalb  zu  Linem  besonderen  Kedeteile  machten,  weil 
sie  sich  nicht  deklinieren  Hessen.  Man  stelle  sich  einmal 
vor,  dass  ein  Grammatiker  aus  dem  Oenitiv  deshtilb  einen 
besonderen  Redeteil  gemacht  hätte,  weil  der  Genitiv  sich 
nicht  weiter  deklinieren  lässt.  Wir  sehen  keinen  Grund,  im 
eine  besondere  Woiturt  aufrecht  zu  halten.  Wo 
die  sogenannte  Wunel  des  AdTeirbiums  sich  noch  in  anderen 
Formen  erhalten  hat,  da  ist  seine  Gasuseigenschaft  oft  noch 
recht  sichtbar;  idi  yerwelse  nur  auf  die  deutschen  Worte: 
rechts,  links,  flugs.  Ist  die  Endung  im  Lautwandel  abge- 
sdiliffen,  oder  ist  der  Wortstanun  Terloren  gegangen,  dann 
ist  das  YerhlltniB  natOrlich  nidit  mdir  so  durchsichtig,  wie 
a.  B.  in  .bald*,  dessen  ursprüngliches  Adjektiv  (=  schnell, 
kflhn,  tapfer)  unseran  Sprachgefühl  nidit  mehr  gegen- 
wirtig  ist. 

Alle  AdTerbien  konnten  sonadi  nur  Ton  deklinierenden 
Worten  gebildet  werden,  Ton  SubstantiTen,  AcQektiven,  Tom 
Pronomen  und  vom  Zahlwort.  Die  logieehe  Ajudysa  des 
im  Satse  ausgesprochenen  Urteils  hat  sn  der  Besnehnung 
AdTerbium  (eine  wörtliche  Uebersetiung  des  griechischen 
inppi]tta)  gefOhri 

In  den  modernen  Sprachen  hat  sich  eine  sehr  kon- 
ventionelle Art  ausgebildet,  aus  jedem  Adjektiv  durch  eine 
bestimmte  Endung  ein  modales  Advwbium  zu  schaffen.  Das 
gilt  besonders  ftlr  die  schulgerechtem  romanischen  Spr«;hen. 
Da  kann,  wie  ihre  Granimatiker  lehren,  z.  B.  im  Französi- 
scheu  aus  jedem  Affektiv  durch  Anhängen  der  Endsilbe 
ment  ein  Adverbium  werden.  Der  ungelehrte  Franzose 
woss  nicht,  wenn  er  aus  vrai  (wahr)  ein  vrniment  (wahr- 
lieh) macht,  dass  dieses  ihm  so  gel&ufige  Wort  einmal 


104  V.  AdTerbien.  —  Baum  und  Zeit 

«Imhm  kSittdkli  entsbiiideii  ul,  tn«  wenn  er  ans  irgend 
emem  rnttenerai  Adjektir  dnrofa  Analogielnldiiiig  das  ent- 

Ich  bemerke  dwEU,  dase  solche  Formen  wie  tfnormtfment 
eigentlick  nicht  ins  Leadkon  gehören,  weil  ne  okoe  AuS' 
mÄane  Yom  A^jektivatunm  gebildet  werden  kOnnen,  weil 
sie  me  Xieocikon  nur  durch  die  Behauptung  der  Qrammatiker 
hinzugekommen  flincl,  es  sden  die  Adverbien  als  eine  be- 
sondere Art  Ten  Bedeteilen  aufeufassen.  Der  angelehrte 
Fransose  weiss  nun  femer  nidit,  dass  die  Endsilbe  ment 
nichts  weiter  ist  als  eine  bestimmte  Gasusform  des  lateini- 
schen Wortes  mens.  Fortemoit  findet  sieh  im  Lateinischoi 
in  der  Form  forti  mente,  mit  starkem  Geiste.  Der  AbhutiT 
von  mens  konnte  um  so  leichter  au  einer  tonlosen  Endung 
werden,  weil  sich  das  lateinische  Wort  im  FramOsisohen 
nicht  erhalten  hatte  (die  Erhaltung  in  mention  ist  dem 
Sprachbewusstsein  nicht  gegenwärtig)  und  sich  so  der  Be- 
deutungswandel yoUständig  Tollziehen  konnte,  Haz  MOllMr 
hat  darauf  aufinerksam  gemacht,  dass  die  Endsilbe  ment 
aucli  dann  angewandt  wird,  wenn  von  Geist  oder  Gemttt 
nicht  mehr  die  Rede  sein  kann,  wie  vreaxk  z.  B.  ein  Uammer 
lourdement  zu  Boden  fällt,  dass  femer  eine  Ahnung  des 
alten  Sinnes  sich  im  Spanischen  noch  erhalten  hat,  wo  man 
anstatt  daramente^  concisamente  j  elegantemente  eleganter 
sagen  kann:  dara.  roncisa  y  elegante  mente.  Im  Portu- 
giesischen leuchtet  wenigstens  noch  der  feminine  Charakter 
der  Endsilbe  mente  hervor. 

Die  deutsche  Sprache  ist  freier  von  Verschultheit  und 
gebraucht  das  abstrakte  Adjektiv  sehr  häufig  ohne  Form- 
änderung als  Adverbium.  Die  Endsilbe  lieh  hat  offenbar 
die  Nei^mg  (wie  in  wahrlich,  treulich)  im  Sinne  des  fran- 
zösischen ment  verwendet  zu  werden,  aber  der  Sprach- 
gebrauch ist  nicht  fest;  oft  kann  man  im  Deutschen  zwi- 
schen lieh  und  ig  wählen.  Sonst  wäre  der  Hinweis  lehrreich > 
dass  das  deutsche  lieh  (enfT^lisch  like  oder  auch  ly)  im  Gegen- 
sätze zu  dem  romanischen  mente  vom  Körper  hergenommen 
ist  (Leichdom  »  Dom  im  Körper)  und  dass  Leiche  oder 


Bewegung. 


105 


Körper  solcherj^estalt  die  Bedeutung  von  Gestalt,  angenco innen 
hat  wie  uui  uaigekekrtem  Wege  das  lateinische  Wort  für 
Geist. 

Wenn  nun  also  das  Adverbium  nicht  als  besonderer 
Redeteil,  sondern  als  eine  alte  Gasusform  aufzufassen  ist 
(die  massenhaften  Adverbien  auf  -ment  oder  -lieh  als  Casus- 
fonnen  der  formelhaft  gewordenen  Worte  mens  und  Leiche 
in  YerbnidnBg  nufc  vamn.  Ac^ektiT),  wenn  die  Casusfonneii 
ursprünglich  stete  linniHdie  Befiehvilgen  aaseigen,  wenn 
die  PMposilicmen,  durch  welche  die  neuem  Sprachen  Omar 
formen  «udrOcken,  erst  rechi  ursprünglich  PriLpositionen 
des  Baumes  sind;  sb  werden  wir  sa  dem  Schlüsse  gelbhrt, 
dass  aQe  unsere  AdTorbien  Ton  Hause  aus  lokale  Adverbien 
sind.  Es  Terstefat  sieh  Ton  selbst,  dass  dieser  aospreohende 
Schluss  ein  TrugscUuss  ist;  denn  wir  haben  kein  Becht, 
die  Yermutungen  Ober  die  historischen  Gasusformen  gar  auch 
noch  auf  die  TozhiBtoiischen  aussudehnen.  Es  kommt  aber 
noch  mancherlei  nisammen  um  uns  fester  daran  glauben  su 
lassen,  dass  die  Adverbien  sich  ursprünglich  nicht  von  Be- 
riehnngen  des  Baumes  trennen  lassen. 

Unsere  gegenwirtige  Weltanschauung,  mag  sie  sich  nun  b«. 
lieber  Atomistik  oder  lieber  Energetik  nennen,  muss  su  der 
Yorstelluag  {dhren,  dass  alles  Wirkliche,  das  heisst  Jede 
Erscheinuag  tn  unserem  Bewusstsein  an  sich  Bewegung  sei, 
Bewegung  im  Baume.  In  Bewegung  im  Baume  wird  auf- 
gelöst, was  inuner  unsere  Sinne  uns  Uber  die  Wirklichkeits- 
welt berichten,  und  in  unserem  Geistesleben  ist  nichts  als 
was  die  Sinne  uns  berichtet  haben.  Eine  Idealsprache  also, 
welche  in  keinem  Punkte  mit  der  gegenwftrtigen  Welt- 
uisdiauung  in  Widerspruch  geraten  wollte,  müsste  in  jede 
Aussage  über  die  Wirklichkeit  den  Begriff  der  Bewegung 
als  den  Urbegnff  der  Wirklichkeit  hineinlegen.  Solche  Ge- 
danken waren  noch  vor  wenigen  Jahrhunderten  nicht  denk- 
bar«  waren  noch  vor  wenigen  Jahrzehnten  seltene  Phanta- 
sien,  und  da  wäre  es  nicht  wunderbar,  irmii  die  alte  Sprache 
nodi  mehr  als  sie  es  thut  von  der  modernen  Weltanschauung 
abwiche.   Der  Naturmensch  kannte  die  Bew^ng  nur  als 


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106 


\'.  Adverbien.  —  Uaam  imd  Zeit. 


eine  makroskopische  Erscheinung,  sie  wurde  ihm  nur  für 
plumpe  Bewegungec  durch  die  Augen  vermittelt;  was  die 
anderen  Sinne  darboten  und  «dbsb  das  Leuchten  oder  der 
farbige  Scliein  des  Gesichtssinns  war  im  Gegensake  anr 
Bewegung  ein  Zustand  der  Buhe.  Da  ist  es  nun  seltsam 
genug,  dass  eine  aufinerksame  Untersuchung  des  Sprach- 
materials zeigt,  eine  Terhaltoisrnftssig  wie  grosse  Menge  von 
WurzelwQrtem  das  heisstTon  unerkl&rten  Wörtern  den  Be- 
griffen der  Bewegung  dient.  Wir  haben  besondere  Worte 
für  die  Bewegung  der  Lebewesen,  für  die  Bewegung  der 
Luft  und  des  Wassers,  wieder  besonder«  Worte  für  die  Be- 
wegung der  Yierf&ssler,  der  YOgel,  der  Fische,  besonde» 
Worte  ftlr  besondere  zweckentsprechende  Bewegungen  der 
Menschen.  Ohne  Ahnung  von  den  mechanischen  Theorien 
der  Gegenwart  ist  die  Bew^ng  für  die  Sprache  einer  der 
reichsten  Begriffe  geworden. 

Alle  Bewegung  bezeichnet  Ortrerhaltnisse,  Beziehungen 
Koorcii-  2^  verschiedenen  Orten  im  Baum.   Alle  VerlüSltnisse  im 

aaten- 

sjttea.  Baum  mflssen,  das  bedarf  keines  Beweises,  relaliT  sein;  sie 
beziehen  sich  aufeinander  und  b^ehoi  sich  alle  zuletzt  auf 
das  Koordinatensystem,  welches  durch  den  Standpunkt  des 
Sprech^den  gdit.  Man  braucht  nie  etwas  von  einem  Ko* 
ordinatensystem  gehört  zu  haben  und  arbeitet  dennoch  un- 
bewusst  mit  diesem  Hilfsmittel.  Die  Erde  ist  der  Mittel- 
punkt des  Koordinatensystems,  nach  welchem  Fixsterne  und 
alles  andere  am  Himmel  bestimmt  wird,  und  das  hat  sich 
auch  durdfai  Kopemikus  nicht  geändert;  das  Menschenindin- 
duum  ist  der  Mittelpunkt  des  Koordinatensystems,  von  wel- 
chem aus  der  Himmel  und  die  Sterne,  aber  auch  Haus  und 
Dorf  und  Land,  Sitte  und  Gesetz,  Glück  und  Unglück  des 
Individuums  gerechnet  wird.  Ich  brauche  nicht  erst  zu 
sagen ,  dass  dieser  Mittelpunkt  des  Koordinatensystems  für 
die  Yerschiedeuen  Menschenindividuen  der  gleiche  ist,  sobald 
es  sich  um  Fixstcrnentfenuingen  handelt,  dass  dieser  Mittel- 
punkt langsam  unterscheidbar  wird,  je  geringer  die  Ent- 
fernungen werden.  Für  Glück  und  Unglück,  für  gut  und 
böse,  ist  der  Standpunkt  recht  individuell.   Für  ethische 


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107 


und  ästhetische  Begriffe  ist  der  Sta?id]>!inkt  bei  grösseren 
Mpnsrheni^ruppen  ,  die  sich  N  ölker  nennen,  indiTiduell,  fUr 
Fragen  der  menschlichen  Erkenntnis  ist  der  Ort  auf  Erden 
fast  so  gleichgültig  wie  für  die  äussersten  Grössen  der 
Astronomie.  Wenigstens  haben  die  guten  Menschen  nach 
erkenntnislheoretischen  Parallaxen  noch  nicht  gefragt.  Darum 
ist  der  Ausdruck  des  individuollen  Standpunktes  oder  die 
Sprache  für  ethische  und  ästhetische  Fragen  so  verschieden 
bei  verschiedenen  Völkern:  darum  zeigen  die  Si)racheu  so 
grosse  Uebereinstimmung ,  wo  es  sich  um  die  Erkenntnis 
der  Wirklichkeit  handelt,  üeberall  finden  wir  den  Versuch 
der  Sprache,  sich  über  die  Beziehungen  der  wirklichen 
Dinge  durch  räumliche  Beziehungen  zu  orientieren. 

Halten  wir  das  Bild  vom  Koordinatensystem  fest,  in 
dessen  Kreuzungspunkte  der  Sprechende  steht,  so  kann  er 
nie  etwas  anderes  aussprechen  als  entweder  das  Rauraver- 
bältnis  eines  Dings  zu  ihm  selbst  oder  das  Kaum  Verhältnis 
eines  Dings  zu  einem  anderen;  offenbar  ist  der  letzte  Fall 
nur  eine  Komplikation  des  ersten,  weil  dann  beide  Dinge 
in  ein  V^bältnis  zu  dem  Sprechenden  gebracht  werden 
mllssen.  Auf  sthmi  Standpunkt  kommt  es  immer  an.  Nur 
die  höhere  Komplikation  hnt  zur  Folge,  dass  im  allgemeinen 
das  RaumTerhtttiiia  eines  Dings  mm.  Sprechenden  dnreh 
alte  formelhaft  gewordene  Adverbien,  daas  das  Raumrer- 
haltnis  der  Dinge  untereinander  durch  andere  Hilfsmittel 
der  Sprache  ausgedrQckt  wird.  Ich  branche  nicht  erst  her^ 
Toiznhehen,  dass  der  Sprechende  seinen  eigenen  Standpunkt 
in  nndUdigen  FfiUea  metaphorisch  auf  emen  anderen  Men~ 
sehen  oder  auf  irgend  ein  Ding  flberträgt.  Dass  femer 
jeder  Richtung  im  Raum  eine  entgegengesetzte  Richtung 
entspricht,  dass  darum  die  Adverbien  des  Raumes  gern  paar- 
weise auftreten  als  redits  links,  oben  unten,  Tom  hmten; 
das  liegt  so  sehr  im  Wesen  der  Raumerscheinung,  dass 
kein  Mensch  TÖUig  ohne  diese  analylasdhe  Qeometrie  lebt» 
Qeist^^  wie  kOiperlich  fUhlte  sich  der  Mensch  einst  mehr 
demi  jetzt  mit  seiner  Brde  als  Mittelpunkt  der  Welt;  geiBtig 
und  köfperlich  f&hlt  ach  das  zum  Bewusstsein  erwachende 


108 


V.  Adverbien. 


—  Banm  nad  Zeit 


Kind  als  Mittelpunkt  seiner  Welt.  Es  ist  ^da",  diks  heisst 
im  Kreiizung5?punkt€  seines  Koordinutt  .1  vstems. 
Rieh-  Wir  gewänuen  ungeahnte  Ausblicke  iu  das  VV  i  st  n  des 

JUJJl^  Menschengeistes,  wenn  wir  in  eine  Urzeit  der  Sprache  hinab- 
steigen könnten,  in  welcher  sich  die  Adverbien  ^da"  und 
,wo"  voneinander  schieden.  Dieses  Rätsel  wird  über  uje- 
maLs  gelöst  werden.  Wir  müssen  uns  damit  begnügen, 
diese  beiden  Adverbien  als  die  beiden  Stamme  anzusehen, 
aus  denen  sich,  wirklich  genau  wie  durch  Flexion,  zahl- 
reiche andere  Adverbien  des  Raums  oder  der  Richtung  ent- 
wickelt haben.  Denken  wir  uns  den  Standpunkt  des 
Sprechers  als  die  sinnlichste  Antwort  auf  die  Frage  ^wo", 
80  tesst  sich  im  Grimde  jeder  andere  Punkt  im  Räume  auf 
die  rclatiTe  Lage,  auf  die  Beziehung  woher  und  wohin 
bringen.  Fflr  den  Standpunkt  des  Sprechers  ist  das  fast 
ohne  Beispiele  klar.  Bei^iele  zeigen  uns  nur,  wie  die  drei 
ÄntmjxUai  auf  die  Tragen  wo,  woher  und  wdiin  alte  Casus- 
foimen  Ton  sogenannten  Wurzeln  sind,  die  wir  oft  etymo- 
logisch meki  mehr  nachweisen  können.  In  den  drei  deutschen 
Antworten  hier,  her  und  hin  wird  noch  etwas  wie  De- 
Uination  empfunden;  der  Engttndw,  der  an  seinem  Sub- 
stantiv eine  Deklination  kaum  mehr  kennt,  kann  alte 
Gasusformen  an  seinem  here,  hüher  und  hence  kaum  mehr 
herausMilen.  Im  Deutschen  ist  dabei  die  Vorstellung  einer 
Antwort  namentüch  auf  die  Fragen  woher  und  wohin  so 
lebendig  geblieben,  dass  her  auch  als  Vorsilbe  zunftchst 
immer  die  Kichtnng  einer  Thfttigkeit  auf  den  Sprechenden 
zu,  hin  die  Bewegung  Ton  dem  Standpunkt  des  Spredimden 
hinweg,  die  Bichtung  von  dem  Sprechenden  aus  bedeutet 
Dabei  ist  es  gleichgOltig,  ob  das  letzte  Wort  archaistisch  in 
seiner  ToUsten  Form  »hinnen"  gebraucht  wird  oder  ob  die 
Stammsilbe  ,hie'  ganz  wegfllllt  und  nur  die  Art  Casus- 
endung ,n*  übrig  geblieben  ist  wie  in  ,*naus'^. 

Es  braucht  nicht  ausdrQcklich  gesagt  zu  werden,  dass 
die  Umgangssprache  mit  ihren  alten  Ortsadverbien  nicht 
die  Mittel  besitzt,  den  Ort  so  genau  zu  bestimmen,  wie  die 
Oeometrie  mit  ihren  Absdssen-  und  OrdinatenlSogen  und 


Digitizec' 


Biefatoogsadverbien. 


109 


Strem  ganzen  Apparate  toh  Massen.  Die  Alltagssprache 
behOft  flieh  Ar  die  Kilbe  und  Ferne  wSk  einem  Ungefähr. 
Tiotodem  isl  auch  der  Alltagssprache,  wenn  nicht  filr  den 
Ort  eines  Dings  oder  einer  Thätigkeit,  so  dodi  für  die  Be- 
weguDgsriehtung  eine  ansserordentlzch  feine  Untmeheidiuig 
mOgUch,  niehi  weiter  jedoch,  als  die  Orientierung  des  nn- 
geofmetarisehen  Menschen  geht  Die  Sprache  tastet  im  Bawne 
umher,  wie  ein  Eind  mit  seinen  Hbiden,  wie  der  erwach- 
sene Mensch  mit  seinen  Augen.  Das  Hilfinnittel  dam  ist, 
daas  der  Sprechende  den  Erensungspmikt  des  Koordinaten- 
systems amsser  sich  Terlegt,  in  den  Standponkt  eines  an- 
deren Menschen  oder  in  den  Standpunkt  eines  Ereignisses. 
Man  konnte  die  Hinausvsrlegong  des  Ereusungspuoktes 
mathematisch  genau  nach  dem  Eoordinatensjstem  richten 
und  die  sechs  mOgüchen  Standpunkte  ausserhalb  des  Ichs 
(rechts,  links,  unten,  oben,  vom,  hinten)  auf  den  Achsen 
abmeasen;  in  Wahrheit  begnOgt  sich  die  AUtagssprache 
auch  hier  mit  einem  üngefthr,  denkt  bei  rechts  und  links, 
bei  oben  und  unten,  bei  ?<»s  und  hinten  nicht  an  geo- 
metrisch genaue  Verhittnisse,  ist  dafilr  aber  ftlr  die  Be- 
wegnagsrichtung  in  der  Lage,  die  Beantwortung  der 
Frage  voher  und  wohin  wieder  durch  Endungssilben  an 
die  Adverbien  rechts  und  links,  oben  und  unten,  vom  und 
hinten  auszudrücken.  Moderne  Schriftsprachen  allerdings 
haben  diese  Fähigkeit  nelfach  yerloren;  sie  müssen  sich 
mit  Zusammensetzungen  wie:  von  oben,  von  unten,  nach 
oben,  nach  unten  behelfen.  Noch  das  Gotische  besass  jedoch 
die  Formen  dalatha  (unten),  dalath  (nach  unten),  dalathrft 
(Ton  unten);  dalath  besitzen  wir  eigentlich  noch,  wenn  wir 
„zu  Thdl"  Tom  Abwärtsfliessen  der  Flüsse  sagen.  Sehr 
schön  b^tzt  das  Böhmische  diese  Richtungsdeklination  in: 
dole  (unten),  dolu  (hinunter),  zduly  (von  unten);  am  reichsten 
au  solchen  Richtungsformen  scheint  das  Finnische  zu  sein, 
welches  die  Fragen  wo,  wohin  und  woher  für  seine  Ad- 
Terbien  draossen,  drinnen,  oboi  und  unten  liektieread  be- 
antwortet. 

Noch  reicher  wird  die  Zahl  der  RichtungsadTerbien, 


110  ^-  Adverbien.  —  Ilauiu  und  Zeit. 

wenn  xum  Kreiizungspuiikte  der  Koordinaten  ein  Ort  ge* 
oommen  wird,  von  dem  es  nicht  bestimmt  wird,  ob  er  recbis 
oder  links,  oben  oder  unten,  Tom  oder  hinten  Tom  Sprechen- 
den liege,  Ton  dem  nur  gesagt  wird,  dass  er  anderswo  sei 
oder  irgendwo  oder  nirgendwo;  das  Böhmische  dekliniert 
alle  diese  Adverbien  für  die  Fragw  wo,  wohin  und  woher 
und  fügt  noch  einen  vierten  Caans  fllr  die  Frage  wodurch 
hinzu;  dieser  vierte  oder  kausale  Casus  ist  jedoch  flberflUssig 
und  ungebr&uchlich  und  kann  aus  Orfinden,  die  wir  gleich 
kennen  lernen  werden,  durch  den  Woher-Casus  ezsefaEt  werden. 
Priposi-  Im  Vorabergehen  nur  ein  Wort  Ober  die  ganz  natür- 
liehe  Art,  wie  aus  diesen  Richtungsadverbien  unsere  soge- 
nannten Präpositionen  entstehen  konnten  und  mussten.  Es 
gilt  zu  zeigen,  wie  einfach  die  schlichte  Alltagssprache  ihre 
armen  Worte  zur  Orientierung  in  dem  primitiven  Koor- 
dinatensystem des  Sprechenden  bentttst  hat.  Versetze  ich 
mich  nämlich  in  den  Standpunkt  einer  anderen  Person  oder 
eines  Ereignisses,  so  brauche  icb  nur  rechts,  links,  oben, 
unten,  vom,  hinten  zu  sagen  und  die  Ortsbezeichnung  ist 
fertig;  das  nennt  man  dann  ein  Adverbium.  Potenziere  ich 
jedoch  die  Hinausverlegung  des  Standpunktes,  indem  ich 
midi  zunächst  an  einen  anderen  Ort  versetze  und  von  dort 
aus  wieder  emen  Punkt  recbts,  links,  unten  u.  s.  vr.  be- 
zeichne,  so  muss  ich  das  Adverbium  mit  dem  Gegenstande 
des  anderen  Orts  verbinden  und  die  sofrenannte  Präposition 
ist  fertig:  rechts  der  Strasse,  links  der  Strasse,  ob  der 
Enns,  unter  der  Enns,  vor  der  Mauer,  hinter  der  Mauer. 
Dass  rechts  und  links  in  der  Gra7nmntik  nicht  als  Prä- 
positionen aufgeführt  werden,  kann  mich  nicht  irre  machen; 
der  Grund  ist  wohl  darin  zu  suchen,  dass  beide  Worte  nicht 
so  alte  Schöpfungen  sind,  wie  oben  und  unten.  Insbesondere 
besass  das  Deutsche  im  Mittelalt-er  ein  altes  Wort  ftir  rechts 
(zesei.  da^  erst  sj)ät  durch  den  metaphorischen  Gebrauch 
der  richtigen,  der  rechten  Hand  Tman  sH£rf  In  ate  noch  den 
Kindern  .gib  das  gute,  las  schöne  liiuidclu'ir)  verdrängt 
wurde.  Man  kann  wohl  sagen,  dass  wir  die  Richtungs- 
adverbien, welche  an  besonders  bezeichnete  Orte  sich  an- 


Digitized  by  CoooIp 


Prft|K)aitionen. 


III 


lehnen,  um  so  mehr  als  Präpositionen  empfinden,  je  älter 
sie  sind,  je  unerklärbarer  ihre  Etymologie  ist.  Dass  diese 
Präpositionen  einen  bestimmten  Casus  ihrer  Ortsbeziehun^ 
»regieren",  wird  heute  von  bessern  Schulmeistern  nicht 
mehr  gelehrt.  Nicht  von  der  Präposition,  sondern  von  der 
Frage  »wo*  oder  «wohin"  hängt  es  ab,  ob  wir  den  Punkt, 
auf  welchen  mk  Tom,  hinten ,  oben,  unten  bezieht,  im 
DiÜT  oder  im  AcauaÜT  ansdrOciken.  Vielleicht  hängt  es 
mit  der  heute  noch  im  Sprachgefühle  voihendeneii  Cwuh 
bedeiitiing  des  wo  und  wohin  ausunmen,  daaa  wir  diese 
beiden  Richtungen  leicht  an  viele  AdTerhien  knüpfen  kennen; 
dagegen  ist  nns  ein  Casus  für  das  woher  so  siemlidi  Ter* 
loren  gegangen  und  so  hat  sich  fttr  diese  Richtung  eine 
bestimmte  Fkftposition  ausgebfldett  unser  .von*,  welches 
wieder  in  Txelen  Sprachen  ak  Tertreter  fllr  die  absterbende 
Csansfonn  des  Genitivs  getreten  ist.  Dieses  unser  ,Ton* 
ist  aber  hfichst  wahrscheinlich  (griechisch  «so)  hexgeleitet 
▼on  dem  Ricfatungsadycrbium  oben  oder  ob  und  ist  rom 
Standpunkte  des  unten  die  Antw<nrt  auf  die  Frage  woher; 
Ton  oben  herab,  »abe*;  in  der  Schweis  gibt  es  noch  Fa- 
miliennamen wie  ,Ab  der  Fluh",  welches  unserem  »Von 
der  Fluh*  entsprechen  wflrde.  Es  ist  flberaus  lehrreich,  die 
nlchst  Terwandten  Präpositionen  daraufhin  zu  betrachten; 
,illr*  kt  noch  ganz  deutlich  das  RichtungsadTcrbium  «vor*. 
Wie  sidi  die  Formen  ob,  unt«r,  vor,  hintw  lu  den  Ad- 
▼erbialformen  oben,  unten,  vom,  hinten  verhalten,  das 
gehört  in  die  Zufallsgeschichte  der  deutschen  Sprache;  nach 
meinem  Sprachgeftlhl  würde  der  Gebrauch  der  adverbialen 
Form  als  Präposition  nicht  nur  immer  verständlich  sein, 
sondern  sogar  eine  gewisse  poetische,  sinnfällige  Kraft  haben. 
Man  lausche  einmal  auf:  oben  dem  Baume,  nnten  dem 
Berge  u.  s.  w. 

Konnten  und  mussten  die  Richtungsadverbien  so  in  vor- 
Verbindung  mit  dem  Orte  ihrer  Beziehung  zu  sogenannten 
Präpositionen  werden,  so  sehen  wir  sie  in  Verbindung  mit 
den  Thätigkeitsausdrücken,  mit  den  Verben,  eine  zweite 
Metamorphose  an  sich  vollziehen  und  zu  tonlosen,  aber 


._^  kj  i^  -o  i.y  Google 


U2 


V.  Adverbien.  —  Itaum  und  Zeit. 


bedeatungsreichen  Tonilben  werden.  Wir  befcradifteii  darauf 
hin  die  Vorsilben  ei^  und  ver-;  da  tritt  uns  snnftehBt  das 
reine  Riehtungsadverbinm  und  dann  die  ganae  Fidle  der 
meÜiapliorisdien  Anwendungen  entgegen.  Wir  haben  auaaer 
dem  Deutsehen  keine  moderne  Kultursprache,  die  uns  noeh 
so  naturwüchsig  den  Weg  von  iftomlichen  Beaiehungen  su 
anderen  zeigte. 

VoraUDe  Die  Yorsflbe  er-  ist  in  so  vielen  FSUen  ' identisch  mit 
der  alteren  Vorsilbe  ur-*  dass  wir  annehmen  können,  sie 
sei  entweder  aus  ihr  entstanden  oder  es  habe  sie  einmal  in 
irgend  einer  tJebeigangsaeit  eine  Art  VoDcselfmokgie  gleieh 
gesetst  Die  Vorsilbe  ur-  hat  in  Neubildungen,  wie  sie 
namenilidi  in  der  flbeimittigen  Sprache  der  Studenten  ent- 
stehen, den  Sinn  einer  VerstSrkung  angenommen,  wie  in 
urgemütlich,  urdumm  o.  s.  w.;  diese  Verwendung  stammt 
vielleicht  von  Worten  wie:  uralt,  or deutsch,  dann  Urbild, 
ürvolk,  Urmensch,  Ursprache,  Urkraft  u.  s.  w.,  lauter  Neu- 
bildungen, in  denen,  wie  im  ersten  dieser  Worte,  die  Vor* 
silbe  ur-  das  hohe  Alter  einer  Sache  (etwas  ander«  hat  sich 
Ursache  entwickelt)  anzeigt.  Den  Sinn  der  Herkunft  ans 
uralter  Zeit  begreifen  wir,  wenn  wir  erfahren,  dass  ur- 
(gotisch  tts)  im  Althochdeutschen  auch  als  Präposition  im 
Sinne  Yon  aus  gebraucht  wurde.  Die  wenigen  alten  Worte, 
die  mit  ur  zusammengesetzt  sind,  verraten  gewöhnlich  für 
ein  aufmerksames  Ohr  den  Sinn  der  Herkunft,  der  denn 
auch  in  der  abgeleiteten  Vorsilbe  er-  herausklingt.  Urkunde 
können  wir  recht  gut  auf  Erkundschaft  oder  Erkenntnis 
zurück tilhren ,  Urlaub  auf  Erlaub.  Ursprung?  auf  Ersprung, 
Urteil  auf  die  Entscheidung,  die  das  Geriebt  erteilt.  Dieser 
bmn  t  iner  Bewegungsricbtung  von  innen  heraus,  häufig  von 
unten  nach  oben,  gewissermassen  zum  Sprechenden  hin,  ist 
allerdinijs  vorhlasst,  wobei  zuErleich  ein  Tonloswerden  der 
Vorsilbe  stattiand;  denn  ur-  ist  betont,  er-  ist  tonlos.  Suchen 
wir  nun  unter  den  vielen  Bedeutungen  der  Vorsilbe  er-  nach 
derjenigen,  welche  unserm  Sprach u^i sie  die  nächste  ist, 
welche  wir  beim  Aussprechen  der  Vorsilbe  schon  empfinden, 
bevor  noch  das  Stammwort  ausgesprochen  ist,  so  scheint 


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Vorsilbe  .er*  und  .vei-'. 


113 


mir  kein  Zweifel  daran  besteben  zu  können,  dass  diese  Be- 
deutung in  der  Bewef^ng  an  den  Spreckenden  heran,  in 
der  Ergreifung  eines  materiellen  oder  geistigen  Besitzes  zu 
finden  sein  wird.  Fängt  jemand  einen  Sais  an  mit  den 
Worten:  »Ich  habe  mir  das  er . .  ."i  so  erwarte  idi  ak 
Schluss  irgend  ein  Verbnmt  den  Auedruck  irgend  einer 
Tkfttigkeit,  dnreli  weldie  »das*  in  den  Benta  des  Spreehers 
überging.  »Ich  haibe  mir  daa:  eijagt,  erklettert,  erlamclit, 
erlaoert,  ersdüiehen,  erbeten,  erbettelt,  erdningen  (Gk>eÜie), 
erfoditen,  erfiscbt,  erkargt,  eraehmeiohelft,  ertrotz,  enongen, 
exaeaaen,  erweint  (Sduller),  erlogen,  erlritaimt*  Es  gibt 
kaum  ein  TbStigkeitswort,  welches  nicht  so  analogiadh,  sei 
es  auch  nur  im  Sdierae,  mit  er-  TMbonden  werden  k(fonte. 
Wir  kftnnea  ans  Geschichten  erfinden,  die  damit  enden, 
daaa  ein  YermUgen,  eine  Stellung,  ein  Titel,  was  man  will, 
erradelt  oder  erliebt,  eistottert  oder  erschrieen  worden  ist 
Wo  ein  intransitiTes  Verbum  in  Verbindung  mit  er-  tran* 
aitiT  wird,  handelt  ea  sich  immer  um  den  Wunsch  oder  die 
Thatsaehe  einer  Besüceigreifung,  einer  Bewegung  nach  dem 
Sprechenden  hin,  wie  in:  erharren,  ersehnen,  eratreben. 
Allen  diesen  neuem  Bildungen  stehen  iltere  Zusammen- 
sefcaungen  mit  ei^  gegenflber,  die  entweder  den  Beginn  dea 
Zustandea  beaeicluien,  den  sonst  daa  unznsammengesetEte 
Verbum  ausdrOi^le,  wie  in:  ergrUnen,  erglänaen;  oder  das 
Ergebnis,  besonders  das  tödliche  Ergebnis  eines  sonst  gleich- 
gültigeren Geschehens,  wie  in:  erfrieren,  ertrinken.  Ich 
glaube  nicht  fehl  au  gehen,  wenn  ich  diese  beiden  Wirkungen 
der  Vorsilbe  er-,  nämlich  die  des  Anfangs  einer  Handlung 
und  die  d^  Endresultats,  zusammenfasse  in  dem  Sinne  dea 
Interesses  fOr  den  Sprechenden,  beoiehungsweise  desjenigen, 
auf  dessen  Standpunkt  der  Sprechende  sidi  stellt.  Es  ist 
das  Ergebnis  einer  Handlung  dasjenige,  was  ein  Geschehen 
hergibt,  was  es  mir  herausgibt,  was  ich  mir  herananehme 
ans  einer  Thatsache.  Sehr  merkwürdig  ist  es  nun,  wie  die 
Voraflbe  ver-,  jetzt  der  Gegensatz  zu  er-,  nur  langsam  in 
diesen  G^ensatz  hineinwuchs.  Noch  in  der  älteren  neu- 
hochdeutschen Sprache  sagte  man  analog  zu  den  eben  er- 

Maatbner,  B«ltr&ge  za  einer  Kritik  der  Sprache.  lO.  8 


114 


V,  Adverbien.  —  Raum  und  Zeit. 


wähnten  Worten  z.  B.  erarmen,  erhungern,  wo  wir  jetzt  rer^ 
armen,  verhungern  sagen  mflasen;  provinzieU  wird  dagegen 
jetzt  notih  vid&ek  Ter-  im  Siiiiie  von  er-  gebrandit.  Aber 
es  hat  sich  namentiich  in  mstaphorisoher  Anwendung  ein 
sdndFer  Gegensais  herausgehildet;  wir  mtlsseu  sageu  er- 
hoben und  Tertiefen,  erweitern  und  verengen.  Der  Sprechende 
stellt  sich  also  gern  auf  den  günstigsten,  auf  den  ehren- 
ToUsten  Standpnnkt;  er  steht  auf  dem  hohen,  auf  dem  weiten 
Standpunkt.  Was  erhobt,  was  erweitert  wird,  das  sdieint 
sich  ihm  von  innen  heraus,  von  unten  nach  oben  auf  ihn 
zu  zu  bewegen;  was  vertieft,  was  verengt  ist,  bewq^  sich 
von  ihm  hinweg  und  bdiilt  diese  Sprachfonn  auch  dann, 
wenn  s.  B.  die  Vertielung  nicht  ein  verichtiiches  lK>ch  in 
der  Erde,  sondern  metaphorisch  eine  grössere  GrOndliddceit 
bez^chnet 

Diese  Vorsilbe  ver-  ISsst  sich  etymologisch  (selbst  mit 
Zuhilfenahme  der  Volksetymologie)  niöht  so  einfach  erUiren, 
wie  die  Vorsilbe  er».  Man  hat  versucht,  sie  mit  zweien 
oder  dreien  verschiedMideutigen  gotnehen  oder  sogenannten 
indogermanischen  Wurzeln  in  Verbindung  zu  bringen.  FOr 
unser  Spnchgel&hl  bedeutet  es  jedoch,  einerlei  ob  es  da 
mit  d^  gotischen  fra-  identisch  ist  oder  nicht,  die  Oegen- 
richtung  Ton  er-,  das  Verschwinden  oder  das  Zugmadegdien, 
das  Beseitigen  oder  Zii^^ndenchten,  und  zwar  ebenfalls 
mit  dem  Erfolge ,  dass  der  Hörende  diese  Empfindung  schon 
gewinnt,  sobald  nur  die  Vorsilbe  ausgesprochen  worden  ist» 
,Bs  ist  ver . .  .*  erzeugt  sofort  die  Erwartung,  dass  etwas 
verschwunden  oder  verloren  sei,  und  das  folgende  Stamm- 
wort gibt  nur  noch  die  nähere  Art  des  Verschwindens  oder 
Verlierens  an.  Wieder  gibt  es  kaum  ein  Verbum,  das  nicht 
q»rachgebräuchlich  oder  scherzhaft  mit  ver^  zusammengesetzt 
werden  könnte «  und  die  Grund  anschauung  ist  dabei  immer 
eine  Bewegung  vom  Sprechenden  hinweg,  eben  ein  Verlust. 
Man  kann  sein  Vermögen ,  seine  Gesundheit ,  seinen  Verstand 
verfressen  und  vertrinken,  verbuhlen  und  verspielen;  man 
kann  das  alles  verjubein,  man  kann  (hier  ist  der  Sprach- 
gebrauch etwas  enger)  seine  Jugend,  sein  Leben  vertrauern, 


Geiduclito  d«r  Aävarbien. 


115 


schiebte 


<!as  heisst  durcb  Gebrauchsmanj^el  verlieif n.  „Sie  ver- 
jammert  und  verbetet  ihr  Leben"  (Gortbri.  Aus  der  Walir- 
nehmuno;'  des  Sprechenden  liinwfü;,  in  weiterer  Metapher 
aus  der  Absicht  des  S]ii  Lcheuiien  hinweg  führen  Zusammen- 
setzungen wie;  verktrei),  verkramen,  verfitzen,  verbauen, 
verzeichnen,  verziehen  u.  s.  w.  Ganz  körperUch  wird  die 
räumliche  Kntferaung  ausgedrückt  in:  verjagen,  vertreiben, 
verseuden,  verschleppeu  u.  s.  w.  u.  s.  w.  Sehr  häufig  liegt 
etwas  Verachtung  in  den  Zusammensetzungen  mit  ver-;  so 
hiess  veralten  früher  (bei  Luther,  aber  auch  noch  vor  hundert 
Jahren)  nicht  mehr  als  alt  werden;  jetzt  heisst  es  durch 
Alter  unbrauchbar  werden,  besonders  aus  der  Mode  kommen. 
Lutlis  r  und  Goethe  konnten  noch  von  veralteten  Wui/.cin, 
von  eintni  veralteten  Baume  reden;  heute  sagt  man  höch- 
stens noch,  die  Tulpe  sei  eine  veraltete  Blume  oder  sie  sei 
wieder  in  die  Mode  gekommen. 

Aus  allem  bisher  Gesagten  lässt  sich  zunächst  lernen,  o«- 
dass  die  Sprache  in  ihren  Bezeichnungen  für  Richtungs- 
verhältnisse regellos,  das  heisst  willkOrlicli  oder  zuf^ig  Ad- 
btld  Advwlnm,  bild  FriLpositionen,  bald  Vonolbw  von 
VwImii  beofitat,  und  dass  die  FkttpoaHioiien  und  VonÜben 
nichts  anderes  sind  als  Adverbien,  velehe  sieb  in  der  Form 
diffi^renriert  haben,  je  nachdem  sie  an  das  SubstanÜT  als 
an  die  scheinbar  ruhende  Ursache  eines  Sinneeeindrucks, 
oder  an  ein  Yerbum  als  an  die  scheinbar  unmittelbar  ge- 
schaute  Thttigkeit,  herangetreten  sind. 

Fassen  wir  die  Sache  psychologisch  und  streng  dasu, 
so  erhalten  wir  eine  fibcErrasdiende  Besl&tigung  der  ge- 
wonnenen Veberzeugung,  dass  Dinge  und  Th&tigheiten  oder 
SabstantiYe  und  Terben  nur  optische  Täuschungen  unseres 
moiscshlichen  Verstandes  sind,  dass  wir  in  Wirklichkeit 
niemals  Dinge  und  Thätigkeiten  wahrnehmen,  niemals  die 
ürsaefaen  unserer  Eindrücke  und  die  Zwecke  der  Bewegungen, 
aondeni  immer  nur  Eigenschaften  der  WirUichkeitswelt, 
das  heisst  Wirkungen  auf  uns,  die  wir  in  einer  pedantisch 
iogischen  Spradie  nur  durdi  Adjektive  ausdrdckttii  kfinntw. 
Die  BichtungsverhaHnisse  (die  dann  metaphorisch  Verbili* 


Digitizcü  by  ^(j^j^l 


116  V.  Adverbien.  —  Raum  und  Zeit 

nisse  der  Zeit  ,  des  Grundes  u.  s.  w.  mitbezeichuen )  kuüpfen 
sich  (iaiuiii  am  besten  uii  Adjektive,  von  denen  die  Gram- 
matik denn  auch  alle  neuem  Adverbien  ableitet.  Mit  dem 
Substantiv  verbunden  wird  das  Adverbiuni  zur  Präposition, 
weil  das  Richtuogsverhältnis  durch  den  Casus  des  bub- 
stantivs  noch  einmal  ausgedruckt  wird  und  dieser  Casus  von 

präpositionellen  AdTerbiom  abzuhängen  scheint.  Mit 
dem  Yttbum  Terbundoi  schleift  sich  das  Adrerbium  zur 
Vonübe  ab;  aber  diese  Vorsilbe  wflrde  mit  beeserem  Beehto 
den  Nemen  AdTerbiom  ftthreii  als  das  selbstBudige  Wort 
ftlr  das  Richtungsyerh&ltniB. 

Fassea  wir  die  Sache  im  Simie  der  Gtammatik,  so 
erscheiiit  mis  das  Sltere  AdTerbium  wie  gesagt  als  Caans^ 
form  irgend  eines  Urwortes  tob  BewegungsverhSltDiBsen  und 
es  steht  niehts  im  Wege,  die  Gasusformen,  welche  vor  Ent- 
stehang  der  AdTerbien  eben  diese  Bachtungsv'erhiltnisse  aus- 
drOclcten,  als  noch  Sltere,  bedeutende  Wortformen,  ab 
Gasosformen  noch  Slterer  Worte  allgemeiner  ThltiglEeit  auf* 
mftasen.  Es  wSren  dann  die  Deklinationsendmigen  der 
ursprQngHchem  Sprache  ebenso  an  die  Stammsilben  heran- 
geketen,  wie  die  DeUinationsfonnen  modemer  Sprachen 
mit  Hilfo  von  Adrerbien,  das  heisst  Prilpositionen  gebildet 
worden  sind.  Ich  will  die  Phantasien  der  Tergangenen  und 
der  gegenwSrtigen  Etymologie  nidit  Termehren  und  yerrichte 
darauf,  solche  Endungssilben  aus  den  in  allen  Sprachen  so 
reichlich  rorhandenen  Verben  der  Bewegung  hensuleiten.  . 

Bevor  ich  kurz  auf  die  met^ihorische  Verwendung  der 
Raumbezeichnungen  hinweise,  möchte  idi  noch  einmal  die 
Neigung  der  Sprache  unterstreichen ,  Ortsverhältnisse  durch 
Bewegungsverhältnisse  wiedenugeben.  Eine  Vergieichung 
Ton  stehen  und  stellen,  sitzen  und  setsen  lässt  vermuten, 
dass  der  Bewegungsbegriff  alter  sein  mag,  als  der  Zustands- 
begrifP;  wohnen  scheint  (verwandt  [?]  mit  dem  lateinischen 
Temus  und  dem  Sanskritwort  vanas  für  Lust)  ursprünglich 
den  Sinn  lieb  „gewinnen*  gehabt  zu  haben;  im  Worte  ge- 
winnen mag  vielleicht  die  noch  ältere  Bedeutung  desselben 
Stammes  stecken.    In  den  Parailelbeseichnungen  stehen 


Sitnatfam. 


117 


stellen,  sifczen  setzen  werden  die  Fragen  wo  und  wohin  mit- 
beantwortet.  Ich  uehme  an ,  dass  die  Antwort  auf  die  Frage 
■wohin  älter  sei,  als  die  Antwort  auf  die  Frage  wo,  weil 
unser  Bild  vom  Koordinatensystem  uns  lehrt,  wieviel  leichter 
der  Naturmensch  sich  über  die  Richtung  aul  ihn  zu  oder 
von  ihm  weg,  als  über  den  Ort  oneutieren  kann.  Die  Rich- 
tung kann  durch  eine  einzige  Dimension  ausgcdi  ückt  werden, 
der  Ort  auch  im  einfachsten  Falle  nur  durch  zwei  Dimen- 
sionen. Damit  mi^  es  zusammenhängen  ^  dass  vielfach  die 
Antwort  auf  wo  durch  die  Form  erfolgt,  die  sonst  eigentlich 
der  GasQB  ffSx  die  Frage  woher  ist.  Später  haben  sich  für 
diesen  Wo-CasoB  NthoiGasiis  entwidceit  und  es  ist  gaos 
^flicligQitig,  daiB  dieser  Wo-FaU  im  CMeehiicheii  mit  dem 
DatiT  sQsammeiif&llt,  im  Lateinischen  mit  dem  AblatiT,  im 
Slavischen  mit  dem  Lohafav.  Wie  so  häufig  die  alten  Formen 
sich  gerade  an  den  geläufigsten  Worten  erhalten  haben,  so 
wird  im  Lateinischen  das  RaumTerhUtnis  durch  Richtung»- 
casus  bei  dem  Worte  domus  nur  dann  beseiehnet,  ▼enn 
domus  das  Zuhause  beseichnet,  durch  Prftpoeitionen,  wenn 
es  das  Bing  Hans  beseichnet.  AehnUche  Bichtungscasus* 
formen  finden  sich  gerade  bei  demselben  Begriffe  im  Alt- 
hochdeutsehen  (heime,  heim  und  heimina)  und  in  den  sk^i» 
sehen  Sprachen. 

Nun  muss  aber  doch,  um  Missverstindnisse  anszu-  sitwtios. 
scUiessen,  ausdrlU^fich  darauf  hingewiesen  werden,  dass 
der  Naturmensch  und  das  Kind  von  einem  Koordinateusysteme 
nichts  wissen,  dass  aUe  richtunggebenden  Laute,  seien  sie 
nun  Gaauaendungen,  AdTerbien,  Mpositionen  oder  Vorsilben, 
die  Richtung  nicht  etwa  wie  in  der  Geometrie  eindeutig 
angeben.  Wir  wissen  ja  Iftngst,  dass  das  Wort  erst  durch 
den  Sate  Tersttndlidi  wird,  der  Sata  erat  durch  die  Situation, 
die  Situation  gar  erst  durch  die  ganze  Persönlichkeit  des 
Sforechenden ,  durch  seine  eigene  Entwickelung.  Da  ist  es 
denn  nicht  wimderbar,  dass  der  Sinn  eines  Adverbiums  u.  s.  w* 
sieht  durch  den  Laut,  sondern  wahrhai'tig  erst  durch  den 
Sinn  klar  wird,  durch  die  Situation  des  Sprechenden.  Die 
Situation  sagt  uns,  ob  z.  B.  »zu*  nach  mir  lu  oder  nach 


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118 


Y.  Adverbien.  —  Baum  und  Zeit 


einem  anderen  Orte  sa  bedeutet,  ob  unter,  ob  über  nnf 
mich  oder  auf  einen  anderen  belogen  wird  oder  ob  diese 
Worte  yielleicbt  sieh  auf  die  GegenaSke  von  innen  und 
auesen  belieben.  Kacb  der  Situation  des  Spreebenden 
können  die  AdTerbien  u.  s.  w.  sehr  leicht  direkte  Gegena&iM 
ausdrucken;  und  hftufig  genug  bat  sich  im  Sprachgebraucbe 
durch  Fonnrerinderung  dn  AdTorbium  su  soldien  Gegeu- 
sfttien  difiiBrenziert.  Cum  und  contra,  sub  und  super  mdgen 
als  Beispiele  genOgen. 
Raam,  Ohuc  Phantasie  geht  es  freilich  nicht  ab,  wenn  ich 
b«Mti>  nun  versuche  —  mehr  schematisdi  als  gesehichiüch  —  die 
wt-  Entwickelung  der  RaumTsrldlbiisse  an  den  Beddieilen  und 
dann  die  metaphoriflche  Anwendung  der  RaumrerhSltnisse 
in  den  Redeteüea  su  skizoeren.  Natürlich  ist  in  einer  Ur- 
leit,  welche  ich'  annehme  und  welche  sich  mit  dem  Auf 
und  Nieder  des  Weges  Ober  ungemessene  Zeiträume  er* 
starecken  kann,  von  ein«n  grammatikalischen  Bewusstsein 
TOn  Redeteilen  noch  keine  Spur.  Aber  wir  können  nach 
der  Erfindung  der  Grammatik  von  Grammatik  nicht  anders 
als  grammatikalisch  reden. 

Es  handelt  sich  also  darum,  wie  sich  die  entwickelnde 
Sprache  in  den  Weltanschauungsformen  orientiert  haben 
mag,  die  wir  jetzt  Raum,  Zeit  und  Kausalität  nennen.  Die 
Psychologie  der  einfachsten  Lebewesen,  der  Protisten,  hat 
uns  (I.  350)  vermuten  lassen,  dass  es  in  der  Geschichte  der 
Vernunft  eine  Epoche  gab,  in  welchu*  Ton  diesen  drei  Vor^ 
Stellungen  nur  die  Raumvoistellungen  vorhanden  waren. 
Aus  dem  raumscha£fenden  Tastsinne  habmi  sich  auch  bis 
zu  den  Menschen  herauf  die  anderen  Sinne  entwickelt.  Das 
kann  aber  unmöglich  so  zu  Terstehen  sein,  dass  im  unbe- 
wussten  Leben  der  Oi^anismen  Zeit-  und  EausaUtätsvor- 
Stellungen,  zuletzt  nur  Eausalitätsvorstellungen  völlig  fehlten. 
Wir  müssen  uns  das  Leben  der  Sprache  oder  des  Denkens 
so  denken,  dass  es  instinktiv  den  Weg  von  der  Kausalität 
zum  Räume  einschlug,  um  dann  bei  der  bewussteren  Ver- 
wendung der  Kaumbegrifi'e  wieder  zur  Zeit  und  zur  Kausali- 
tät zurück  fortzuschreiten. 


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Baum,  Zeit  und  EAUMlit&t  119 

Ich  stalle  mir  eine  grammatisch  uiiditterenziertc  Be- 
griffsftlUe  einer  Urzeit  vor,  in  welcher  die  einzelnen  Worte 
mehr  adjektivischen  Charakter  hatten,  die  Wukuiig  der 
Dinge  und  der  Veränderungen  aul  das  Individuum  aus- 
drückten, also  von  der  Kausalität  lebten,  ohne  jedoch  die 
Aussenwelt  als  objektive  Ursache  dieser  Eindrücke  klar  zu 
erfassen.  Das  Individuum  wurde  von  der  Frucht  berStet, 
▼OD  der  Sonne  erwärmt,  vom  fallenden  Aste  gestosmi,  olue 
dasB  mit  diesen  Adjektiven,  die  vir  Terbal  annadrfldkaii 
genötigt  sind,  Biclitaiigs-  oder  BaamyerhSltaiiase  deutiich 
▼erbmiden  wann.  Die  Farbe,  die  Wärme,  der  Stoes  wurden 
im  Individuum  empfanden.  Darin,  dass  das  Individuum  sich 
in  seinen  Bewegungen  diesen  Empfindungen  anpassle,  das 
Bote  ass,  die  Wärme  aufeuchte,  dem  Stesse  auswich,  et* 
kannte  es  die  Wahrnehmungen  als  Wirkungen  an,  gewiss  ohne 
sie  sprachlich  ab  Eausalitätserscheinungen  anssudr&cken. 
Wir  können  recht  wohl  b^(reifen,  wie  dann  s^Uber  die  ob- 
jektive Aussenwelt  sieh  sunädist  in  YorsteUungen  verbalen 
Charakters  als  Ranmanschauung  der  Bew^gungarichtung, 
noch  später  in  YorsteUungen  substantivischen  Charakters 
als  Banmanschauung  des  Ortes  ausbildete.  So  konnten 
Moese  Otientiernngen  im  Baume  f&r  dasjenige  eintreten, 
was  uns  jetst  YorsteUungen  des  Baums,  der  Zeit  und  der 
Kausalität  sind.  .Als  nun  die  Sprache  versuchte  mit  ihren 
Mittehi  die  ZeitvorsteUungen  und  endlich  die  EausalitSts- 
vorsteUungen,  die  sich  gebildet  hatten,  zu  formen,  da  machte 
es  die  Sprache  wie  das  Denken,  wdl  Denken  Sprache  ist: 
sie  drtlckte  durch  Raumbegriffe  zunächst  zeitliche  Verhält- 
nisse und  dann  Kausalitatsb^piffe  aus.  Tch  bemerke  noch, 
dass  der  sprachliche  Ausgang  vom  Baume  sich  besonders 
stark  aufdrängt,  wenn  wir  uns  erinnern,  wie  deiktisohe  Hin- 
weise, heute  noch  im  DcInonstrati^'pronomen  vorhanden, 
an  den  ursprünglichen  Gebrauch  der  Sprache  geknüpft 
waren.  Das  uralte  «da*,  welches  für  jedes  Adjektiv,  jedes 
Yerbum  und  jedes  Substantiv  sich  einstellen  konnte  und 
kann,  ist  räumlich  gemeint,  erst  recht  räumlich,  wenn  es 
die  Gegenwart  bedeutet   Gegenwart  hängt  mit  wärts  in* 


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120 


V.  Adverbien.  —  Baum  und  Zeit. 


sammen  (vielleieht  auch  mit  dem  lateimschen  verto),  und 
dieses  heürt  aonA  wie  Dach  einer  bestimmten  Richtung 
gewendet» 

Der  Gehranch  der  Bamnbegrifle  für  ZeitrerhSltniMe 
ist  in  anen  Sprachen  bis  cur  Stunde  lo  allgemein,  daas  die 
Beispiele  dafür  fllr  den  Sprachbeobachter  fiberflItaHng,  f&r 
den  Neuling  Terblllffend  und  flbeneugend  sind.  Wir  nenn«! 
eine  Zeit  erafaeh  Umg  oder  kurs,  eine  Iftngere  Zeit  sogar 
noch  kecker  einen  Zeitraum.  Anfang  und  Ende  wird  gaai 
geliufig  von  der  Zeit  wie  vom  Baume  gesagt.  Sehr  hflbsch 
ist  es,  wie  im  FranaOsiscfaen  die  ftusserste  Nihe  einer  Zeit 
durch  Bichtungsworte  des  Baumes  beieichnei  wird:  il  nent 
d^arrirer  und  il  Ta  partir.  Beide  Bedensarten  sind  eigent- 
lich Pleonasmen.  ,Er  kommt,  er  kommt",  das  heisst  er 
kommt  soeben;  .ergeht,  ergeht",  das  heisst  er  geht  gleich. 

Ein  objektiTes  ZeitrerhSltDis  wird  auch  durch  die  so- 
genannten Adrerbien  der  Zeit  nicht  —  wie  das  fUschlich 
behauptet  worden  ist  —  ausgedruckt;  genau  dasselbe,  was 
die  Zeitformen  des  Vttbums  können,  leistet  auch  nach  dem 
Sprachgebraudie  das  Adverbium.  ünd  man  kann  es  vielen 
Adverbien  heute  noch  ansehen,  dass  sie  die  Orientierung 
in  der  Zeit  durch  eine  rilumliche  Metapher  auszudrQckeo 
suchten.  Das  sehr  interessante  Adverbium  .wo",  das  ge- 
wiss nach  dem  Orte  fragt,  wird  im  Relativsatze  in  zeit- 
Mdiem  Sinne  ai^ewendet,  wenn  auch  nicht  so  häutig  wie 
«da*,  das  wiederum  wie  andere  Zeitadverbien  leicht  kausale 
Bedeutung  erhält.  Die  Richtung  woher  und  wohin  wurde 
ftüher  durch  eine  Art  Flexion  von  «wo*,  durch  wannen  und 
war,  ausgedrückt;  in  „wann"  oder  «wenn''  hat  sich  die  aus 
dem  räumlichen  Bilde  hervorgeprangene  Zeitbestimmung  rein 
herausgelöst,  nur  dass  die  bedingende  oder  kausale  Be- 
deutung wieder  hinzugetreten  ist.  Eine  scharfe  Scheidung 
im  Ctebrauche  von  wann  und  wenn,  wie  schon  Adelung  sie 
verlangt  hat,  ist  bis  heute  weder  in  der  Umgangssprache 
noch  in  der  dichterischen  Sprache  diirrhi,'p.setzt  worden. 
Gemeinsam  ist  für  Raum-  und  Zeitverhiiituisse  auch  das 
lateinische  ubi.  Doch  selbst  nach  vollzogenem  Bedeutungs- 


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»hie*. 


121 


Wandel,  nachdem  der  Sprachgebrauch  Zeit-  und  Orisadyerbien 
geschieden  hat,  lässt  sich  immer  noch  die  Zeit  durch  den 
Ort  und  der  Ort  durch  die  Zeit  darstellen;  nur  dass  wir 
bei  der  leitliehen  Yenrendnng  von  «wann*  das  BewiurtBein 
maet  metaphmdMn  SprediwetM  nicht  mehr  ftttüeo,  wohl 
tber  uns  einer  leisen  Metapher  wieder  bewosst  werdeii,  wenn 
wir  V.  B.  ,hie  und  da*  als  Zeitbestimmnng ,  .dann  und 
wann'  ab  Ortsbestimmui^  verwenden. 

Bieee  leigerhafte,  deOdäsche  also  demonstratiTe  Her-  »u«*. 
konft  sehr  neler  Zeitadverbien  liegt  oft  am  Tage,  oft  ist 
sie  in  der  Spraehgeschiebto  andeirtJich  geworden.  Hobsch 
lassen  sich  die  Fllle  anfUftren,  in  denen  das  eben  dtierte 
DemonstmliTpronomen  .hie"  (=  hier)  als  ein  temporales 
DemonsfaratiTum  snr  Bildung  TCn  ZeitadTerbien  gefllhrt  hat. 
«Heute*  ist  gans  gewiss  aus  emem  alten  »hin  tagu*  Ober 
hiuigu  mid  hiuttu  zu  seiner  «heutigen*  Vorm  gekommen. 
Die  Abstammung  ist  so  sehr  aus  dem  Spfachgeftthl  Ter- 
achwunden,  dass  Luther  gelegen^ch  «heute  dieses  Tages* 
sagen  konnte  und  landschaftlich  noch  heute  der  Ausdruck 
«heutiges  Tags*  oder  «hentes  Tags*  vorkommt.  Wir  wissen, 
dass  msn  rinmal  die  vierundzwanng  Stundra  einer  voU- 
slindigen  Erdumdrehung  nach  Nichten  sShlte;  von  da  her 
msg  das  einst  neben  «heute"  einhergehende  Adverbiom 
kommen,  welches  im  Althochdeutschen  hl  —  naht,  im  Mittel«* 
hochdeutschen  hlnet  hiess  und  welches  in  süddeutschen 
Mundarten  heute  noch  als  gheint*  ftbr  unser  schriftdeutsches 
«heute"  gebraucht  wird.  Ebenso  wurde  aus  hiu  j&ru  das 
süddeutsche  Adverbiura  heuer  (=  in  diesem  Jahre),  welchem 
sich  die  norddeutsche  Schriftspradie  leider  immer  noch  ver- 
schliesst.  Sine  Parallelbildung  zu  «heutiges  Tags'  findet 
sich  in  den  romamschen  Sprachen,  wie  übrigens  das  lateini- 
sche hodie  (hoc  die)  dem  deutschen  heute  vollkommen  ent- 
spricht. Aus  hodie  wurde  das  italienische  oggi,  aus  diesem 
wieder  oggidt,  worin  »dies"  (der  Tag)  also  zweimal  vor- 
kommt wie  in  heutes  Tags,  wie  im  französischen  aujourd'hui. 

Die  Orientierung  in  der  Zeit  durch  metaphorischo 
Uebertragoog  von  Orientierungsworten  des  Jäaums  musste 


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122 


V.  Adverbien.  —  Raum  und  Zeit. 


es  mit  Bieh  bringen,  dass  durch  die  Sitesteil  Zeitedverbieii 
wolü  die  zeitlidie  N&he  und  Feme  ausgedruckt  werden 
konnte,  nicht  aber  immer  die  Richtung  .woher  und  wohin, 
Dicht  immer  also  der  Unterschied  twischen  Vergangenheit 
und  Zukunft.  Das  deutsche  ,da*  (auch  ,einst'),  das  lateini- 
sche tunc,  das  englische  then  drflckt  ebenso  die  Zukunft 
wie  die  Vergangenheit  aus.  Die  AdTerbien,  welche  sich 
ausschliesslich  auf  die  Zukunft  oder  auf  die  Vergangenheit 
hemmen,  sind  Neubildungen.  Man  kann  das  an  den  ein- 
fachsten Begriffen  ftlr  diese  Verhaltnisse,  an  »morgen*  und 
«gest«m*  deuUich  sehen  und  beachte  dabei,  dass  diese 
fast  einfÜtigett  AdTerbien  dennoch  von  Kindern  schwer  be- 
griffen und  noch  im  fünften  Jahre  miteinander  Terwechselt 
werden.  «Morgen*  bedeutet  uxBprflnglich  eine  Tagesseit, 
den  Tagesanbruch;  wie  weit  das  Wort  mit  einem  slavischen 
Worte  für  Dunkelheit  zusammenhängt  und  dadurch  die  Be- 
deutung Dimmerung  zu  erklären  ist,  geht  uns  hier  nichts 
an.  Jedesfalls  kannte  das  (gotische  den  Gebrauch  von 
«morgen"  für  den  auf  heute  folgenden  Tag  noch  nicht.  Erst 
im  Althochdeutschen  hiess  ^niorgane*  so  viel  wie  «am 
Morgen",  nämlich  am  kOnftigen  Morgen.  Genau  ebenso 
wurde  aus  dem  lateinischen  mane  das  französische  demain, 
das  italienische  domani.  Nicht  so  einfach  liegt  der  Fall 
bei  «gestern  \  das  »StammTerwandtschaft*'  mit  lateinischen 
und  griechischen  Worten  aufweist,  die  schon  den  vergangenen 
Tag  bezeichnen.  Gerade  in  germanischen  Sprachen  jedoch 
bezeichnet  , gestern*  (gotisch  gistra  dagis,  altnordisch  igaer) 
den  andern  Tag,  kann  also  auch  fUr  morgen  stehen.  Erst 
später  hat  sich  im  Deutschen,  Englischen  und  Niederländi- 
schen der  Gebrauch  illr  den  Tergaogenen  anderen  Tag  fest- 
gesetzt. 

schüu"  Komplizierter  ist  der  Bedeutungswandel  in  dpji  beiden 

und^    Adverbien,  welche  in  einer  bestimmten  Hichtung  den  Uegen- 

"  '  satz  zu  einer  frühem  und  einer  spätem  Zeit  ausdrücken,  in 
den  Adverbien  ^schon*  und  »erst*.  Schon'*  im  Sinne  von 
«nicht  später"  und  ^erst*  im  Sinn<^  von  , nicht  früher* 
scheinen  uns  sehr  notwendige  Zeitpartikeln  zu  sein  und  smd 


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^aohon"  und  ,ent*. 


128 


doch  neuere  Schöpfungen  der  Sprache.  „Schon"  ist  nachweis- 
bar nichts  anderes  als  das  Adverbiuni  von  „ schön  und  hat 
noch  im  Mittelhochdeutschen  nicht  die  Bedeutung  einer  Zeit- 
partikel; es  heisst  vielmehr  so  viel  wie  „auf  schöne,  ordent- 
liche, richtige  Weise" ;  es  liesse  sich  oft  mit  «richtig''  oder 
„YoUst&ndig"  Ubersetzen.  KonTentionell  wurde  dann  das 
Wort  ebenso  wie  «auch*  in  den  Verbindungen  ,ob  schon' 
»wenn  schon"  gebraucht,  aber  erst  etwa  seit  Lutiier.  Einen 
leitlidieD  Charakter  erbSlt  ««ehon*  in  Bilsen  wie  .er  wird 
schon  kommen*,  «es  wird  schon  reichen* ;  wobei  jedoch  die 
bemhigende  Yerdeherung,  dass  alles  in  schönster  Ordnung 
sein  werde,  noch  mitverstanden  wird.  Erst  wenn  dieses 
«scibon"  auf  eine  yergangene  Thatsache  angewandt  wird, 
eiigibt  sich  die  neurae  Bedentang  Ton  ,nicht  später*;  «er 
ist  schon  gekommen*  hat  also  immer  noch  den  Nebensinn: 
er  ist  gekommen,  wie  es  sich  gehörte,  ordentlich,  iitr  rieh«» 
tigen  Zeit.  Etwas  von  der  Urbedeutung  «schön*  steckt 
auch  noch  in  der  leise  ironischen  Verwendung  des  Wortee; 
«wir  zahlen  schon  genug  Steuern*  erinnert  znnAchst  daran, 
dass  die  schon  Torhandenen  auch  ohne  die  künftig  noch 
drohenden  genOgen,  aber  es  werden  daneben  die  nach  der 
Memung  des  Sprechers  ttbermSssig  hohen  Steuern  ironisch 
«rechte*  Steuern  genannt,  so  dass  man  in  demselbeii  Sinne 
sagen  könnte:  «Wir  saUen  schön  Steuern,  wir  sahlen  ordent- 
lich Steuern*.  Bei  diesem  Bedeutungswandel  hat  das  Ad- 
Terbium  Ton  „schön",  welches  ursprünglich  einen  ordent- 
lichen Zustand  der  Buhe  oder  der  Beruhigung  ausdruckte, 
allmählich  die  Stimmung  der  Ungeduld  bekommen,  welche 
der  Bedeutung  , nicht  später"  zu  Ghrunde  liegt.  «Wie  heisst 
er  doch  schon?"  ebenso  im  franzosischen:  comment  donc 
s'appelle-^ü  döjä?  (di  giä,  jam).  Einen  Accent  der  Un- 
geduld oder  der  Beschwichtigung  einer  Ungeduld,  je  nach- 
dem es  Frage  oder  Antwort  ist,  wird  man  auch  häufig 
in  der  so  schlichten  Verwendung  «schon  gestern"  finden. 
.Warum  ist  er  nicht  schon  gestern  gekommen?*  —  «Er 
ist  schon  gestern  gekommen." 

Parallel  dazu  geht  der  Gebrauch  Ton  «erst  morgen* 


124 


y.  Adverbien.  —  Raum  und  Zeit 


dis  hdast  nioht  firOlier  aU  iiioig«ii.  Und  dieses  Adrerbium 
«erst",  welches  uns  jetzt  so  oasweifeUiaft  den  TeviB^eiehenden 
Begriff  .mclit  froher*  ins  Bewusstsein  hiingk,  bedeatete 
^xnerst*  gensu  das  Oegenteil,  nSmUch  »froher".  Es  ist  der 
Superlstiy  su  einem  Worte,  welches  vielleicht  einst  die  frohe 
Tagesieit  bedeutete  wie  «Morgen*,  welches  im  EompsmtiT 
«eher*  noch  heute  so  Tiel  wie  froher  heisst,  welches  denn 
im  SuperlatiT  sunichst  wirklich  steigernd  den  ersten,  frühe- 
sten Tordersten  Zeitmoment  oder  Gegenstand  angab  («erst 
komme  idi*),  dann  aber  am  häufigsten  ein  Ereignis  be- 
zeichnete, welches  froher  geschehen  musste  als  das  Hanpt- 
ereignis.  «Erst  Kinder  und  dann  Brot  fOr  sie  zu  schaffen.* 
Wo  möglich  noch  dnnflüliger  wird  die  Bedeutung  «frUher* 
in  SfttzMi  wie:  «Erst  war  er  pOnkÜich,  bald  aber  kam  er 
ins  Bummeln.*  Aus  diesem  «früher"  wurde  nun  in  neuerer 
Zeit  ein  ebooso  entschiedenes  , nicht  früher*.  Der  Gegensatz 
kann  nicht  starker  sein.  „Er  kann  erst  morgen  kommen/ 
Diese  Umkebrung  des  Sprachgebrauchs  lässt  tief  in  das 
Wesen  der  Spraclie  blicken.  Wir  erfahren  es  erst  aus  unserer 
kritischen  Logik,  dass  nicht  der  Gedanke  durch  das  Wort 
deutlich  gemacht  wird,  sondern  das  immer  schwankende  Wort 
durch  den  mitunter  klaren  Gedanken.  Bei  „ersV  liegt  die 
Negation  in  der  Vorstellung  des  Sprechers^  dass  der  Abge- 
nommene Zeitmoment  früher  eingetreten  sein  müsse  als  das 
Ereignis,  auf  welches  der  Accent  gelegt  wird,  <hiss  der 
morgende  Tag  da  sein  raClsse ,  bevor  er  kommt ,  dass  er 
nicht  frühi-r  kommen  kann.  Wie  sehr  unsere  beiden  Ad- 
verbien „schon"  und  .erst"  nach  der  Stimmung  des  Sprechers 
gewählt  werden,  kann  man  daraus  ersehen,  dass  ihr  Wert 
nur  aus  dem  Zustande  der  Erwartung  zu  erklären  ist,  wenn 
z.  B.  ein  Verliebter  seine  Geliebte  erwartet,  auf  die  Uhr 
sieht  und  je  nach  der  Zeit  der  Verabredung  entweder  un- 
geduldig sagt  „es  ist  srlmn  ein  Uhr"  oder  sich  selbst  be- 
schwiclitij^'oiKl  ist  ti-t  »in  Uhr".  Er  hätte  ebenso  gut 
mit  geänderter  iietonung  sprechen  oder  mit  geändertem  Qc- 
fOhle  denken  können  „es  ist  ein  Uhr".  Was  den  Ausschlag 
gibt,  ist  die  Stunde  der  Verabredung.    Die  Stimmung  der 


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«adion*  und  ,ent*. 


125 


Ungeduld  oder  der  Beschwichtigung  war  bei  den  Menschen 
schon  vorhanden,  als  diese  Zeitadverbien  noch  nicht  gebildet 
waren.  Das  Französische  drückt  unser  „erst"  immer  noch 
durch  eine  Umschreibung  aus,  durch  ne-que.  Mitunter  tritt 
aber  doiic  dafür  ein ,  allerdings  nicht  in  dem  abgeleiteten 
negativen  Sinne.  Et  moi  donc!  Und  ich  erst!  Donc  ist  aber 
das  lateinische  tunc ,  also  eine  Zeitpartikel,  die  reciit  gut 
unserem  „früher'  entspricht. 

Zeitrerhältnisse ,  welche  nicht  so  alltäglich  sind,  dass 
sich  zu  ihrer  Beseichnung  Adverbien  ausgebildet  haben, 
werden  durch  SabstantiTe  der  Zeit  in  Verbindung  mit  Prä- 
positionen ausgedruckt.  Zu  Ostern,  vor  Osfearo,  nsck  Ostern. 
Die  seitHelie  Bedeutung  dieser  Pritposifioiien  ist  durelians 
jangem  Datums,  abgeleitet  tob  der  filteren  rftumlidien  Be~ 
dentung.  Doch  selbst  die  Zeitbestinimung  in  diesen  Sub- 
stantnren  ist  immer  sckon  abgeleitet  In  dieser  Beäehnng 
ist  die  Geschichte  unserer  Worte  fllr  Tageszeiten  und  Jahres- 
seiten  ttberaus  lebrreicfa.  «Herbst*  bedeutet  im  Oberdeut- 
schen noch  die  Obst-  oder  Weinernte  und  wird  etymologisch 
mit  xspsoc  (Frucht)  in  Zusammenhang  gebracht.  Die  Etymo- 
logie Ton  «Winter*  ist  ganz  ungewiss;  man  weiss  nicht  ob 
man  das  Wort  mit  Sturm,  Sdmeestnrm,  Wind  oder  weiss 
in  Zusammenhang  bringen  soll;  das  ist  aber  offenbar, 
dass  das  Wort  ilter  ist  als  das  Bewusstwerden  einer  regel- 
missig  wiederhehrenden  Jahresseit.  Sagt  man  nun  im 
Herbst,  im  Winter,  so  enqifinden  wir  heute  noch,  dass  der 
Zeitbegrüf  rftumlich  gefant  wird  wie  etwa:  in  Norwegen, 
in  Sibirien. 

Die  Sprache  kann  keine  Zeitbegriffe  bilden;  die  Baum-  „LHgt- 
begriife  mllssen  im  Nebenamte  die  Zeit  bestimmen.  Wir 
werden  noch  sehen  oder  zu  sehen  glauben,  warum  das  so 
kam.  JedesfaUs  ist  dieser  Sprachgebrauch  so  alt  und  so 
allgeniein,  dass  wir  gar  nicht  das  Gefühl  einer  Metapher 
haben,  wenn  wir  z.  B.  den  Baumbegriff  «lang*  auf  die  Zeit 
übertragen.  Es  ist  auch  längst  keine  Metapher  mehr.  An- 
statt Beispiele  zu  häufen,  die  immer  nur  dasselbe  lehren 
würden,  möchte  ich  auf  ein  aufschlussreiches  Wort  hin- 


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126  ^-  Adverbien.  —  Kauui  und  Zeit. 

weisen,  das  den  Rsumbegriff  gleich  sveimel  «nf  die  Zwk 
anwendet  und  so,  man  möchte  fast  sagen  philosophisch,  ein 
starkes  Bewusstsein  Ton  der  Zeit  ausdrackt,  ohne  dass  dieser 
Weg  zum  Bewusstsein  kirne.  Ich  meine  das  Wort  Lange- 
weile. Lang  druckt  eine  Dimenrion  des  Baumes  ans  und 
darnach  eine  Dimension  der  Zeit.  Es  ist  ein  rektirer  Be- 
griff: was  wir  lang  nennen,  ist  immer  lang  im  YerhAltnisse 
zu  einer  andwen  Dimension.  Weile  empfindoi  wir  jetit 
nur  noch  als  einen  Abschnitt  der  Zeit;  es  hingt  aber  wahr- 
scheinlich mit  altnordischen  Worten  filr  Ruhe  (hvild)  zu- 
sammen, etwa  auch  mit  dem  lateinischen  quies  und  be- 
seichnete  urspilnglich  den  Ruhepunkt,  die  Baumsfcelle  des 
Ausruhens;  hvila  hdsst  im  Altnordischen  ein  Bett.  Lange- 
weile bedeutet  also  streng  historisch  genau  dasjenige,  was 
es  uns  heute  empfinden  iSsst:  einen  Zeitpunkt  des  Aus- 
mhens,  der  uns  relativ  lang  erscheint.  Das  hflbsche  Wort 
ist  eine  spezifisch  deutsche  Erfindung.  Wenn  der  Franzose 
ennui  sagt,  was  ziemlich  gewiss  ron  dem  lateinischen  in 
odio  herkommti  so  denkt  er  unmittelbar  an  das  Verdriess- 
liche  der  Langeweile,  nicht  an  die  L&nge  der  Zeit, 
.w«!!"  Den  metaphorische  Uebergang  eines  Raumbegriffs  Uber 
den  Zeitbegriff  zum  Ursachbegriff  können  wir  an  demselben 
Worte  Weile  beobachten.  Aus  dem  Akkusativ  dieses  Raum- 
begrifis,  der  inzwischen  längst  zum  Zeitbegriffe  geworden 
war,  entstand  das  redensartliche  die  Weile  oder  dieweil, 
welches  endlich  Nebensätze  einleitete  und  so  in  dem  Sinne 
▼on  „so  lange  als*  zur  Koi^unktion  wurde.  „Dieweil  Mose 
seine  Hände  empnrhielt,  siegete  Israel."  Aus  der  Ver- 
stärkung alldieweil  hören  wir  den  zeitlichen  Sinn  immer 
noch  heraus.  Bei  dieweil,  wie  wir  es  in  altertümelnder 
Sprache  gern  anwenden,  ist  die  Metapher  von  der  Zeit  noch 
nicht  ganz  verloren  gegangen.  Das  abgekürzte  weil  wurde 
nocli  von  Lessing  und  Schiller  in  zeitlichem  Sinne  gebraucht 
(=  als),  heute  ist  es  durchaus  eine  begründende  Konjunktion 
geworden. 

In  ähnlicher  Weise  entsfand  flns  begründende  .denn". 
Es  war  noch  im  Anfang  des  18.  Jahrhunderts  im  Sprach- 


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Modi. 


127 


gebrauche  dem  zeitlichen  „dann*  vollkommen  gleich.  Die 
Entstehung  von  dann  ist  zwar  nicht  vollkommen  deutlich, 
es  ist  aber  doch  wohl  ein  Kichtuugscasus  von  da  und  eine 
Casusform  des  Demonstrativpronomens,  des  hinweisenden, 
also  orts weisenden  da,  jedesfalls  ursprünglich  räumlich.  Dazu 
sei  noch  bemerkt,  dass  z.  B.  unser  entgegensetzendes  den- 
noch (frfllier  ^bumodi)  eimnal  lätlich,  noch  frOlier  also  rilmii- 
lieh  war.  üeberaU  da  war  natQrlich  eine  noek  sUrkere 
Unbestimiiitiidt  iHUirrad  der  XTebergangszeiten  Torhauden. 

Da  wir  auf  dem  Wege  der  Begriffe  von  ri&umlichen  mmi. 
SU  den  BegrUFen  toh  seitlichen  Yoratellungen  auch  noch 
den  üebergang  von  den  seitlichen  sn  kansalen  und  ver- 
wandfeen  Voratellnngen  einmal  in  Betraeht  gezogen  haben, 
M  mu8s  besonders  darauf  aufinerksam  gemacht  werden, 
dass  die  Uebertngong  der  Zeitformen  des  Verbums  anf  die 
Hodusbi^riffe  der  Möglichkeit  u.  a.  w.  nicht  gans  in  das 
Oebiet  der  Metaj^er  fÜlt  (s.  B.  si  je  pourais,  anch 
B.  HL  S.  72).  Es  ist  ja  richtig,  dass  nur  die  Gegenwert 
uns  wirklich  ist,  dass  umgekehrt  nur  ein  wirklicher  Vor- 
gang uns  entweder  gegenwttrtig  scheint  oder  doch  als  Ver- 
gangenheit oder  Zukunft  unmittelbar  auf  die  Gegenwart 
belogen  wird.  Es  ist  eine  uneigentliche  Verwendung,  wenn 
wir  die  Spraehformen  der  Zukunft  ftr  einen  mSglichen  Vor- 
gang gebrauchen,  wenn  manche  Sprachen  namenilieh  die 
verneinten  Bedingungen  also  die  Ünmfiglichkeiten  in  Zeit- 
formen der  Vergangenhat  ausdrucken.  Man  wird  sogar  an 
lebhaft  gestikulierenden  Personen  bemerken  können  (ich 
machte  die  Beobachtung  an  galizischen  Juden ) ,  dass  sio 
eine  räumliche  Metapher  anwenden  und  sowohl  Mäglichkeit 
als  Unmöglichkeit  mit  den  Händen  von  der  räumlichen 
Gegenwart  wegschieben.  Die  Möglichkeit,  das  „vielleicht'* 
wird  dadurch  räumlich,  da.ss  zunächst  die  Schultern  und 
dann  die  HUnde  nach  oben  fahren,  gewissermnsf^en  nach 
einer  möglichen  Zukunft;  die  Ueberzeugang  der  Unmög^ 
Ucbkeit  wird  durch  ein  Abwinken,  ein  Beiseiteschlagen  mit 
der  rechten  Hand  ausgedrückt.  Wo  aber  solche  Modus- 
begriffe ihre  bestimmten  Formen  auegebildet  haben,  wie 


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128 


V.  Adverbien.  —  Raum  und  Zeit. 


besonders  im  LttleimsdieB  und  FnmiOsisciien,  da  haben 
diese  komplizieiien  VorateUnngen  eben  Formen  gefünden, 
die  niohi  mehr  metaphorisch  sind.  Wohl  sind  die  alten 
Zeitformen  der  Verben  bentttst,  aber  sie  smd  auch  lautlich 
SU  Mbdttsformen  differensiert.  Im  Deutschen  ist  der  Spraoh« 
gebraueh  darin  schwankend,  in  Norddeutschland  logischer 
als  in  Sttddeutschland.  Das  Englische  kennt  besondere 
Modnsformen  so  gut  wie  gar  nicht. 

Was  dennoch  an  der  Beofttsung  der  Zeitformen  zu 
Hodusformra  metaphorisdi  ist,  insbesondere  aber  der  meta- 
phorische Gebrauch  der  Zeitadverbien  als  Eausslbegiüfe 
ftthrt  sofort  su  den  leisten  Fragen  menschlicher  IMwnntnis. 
Ist  derUrsachbegrUF,  wie  die  konsequentesten  Skeptiker  ge* 
lehrt  haben,  wiiUich  nur  in  den  Zeitbegttif  hineingedacht, 
wissen  wir  wirklich  von  den  Erscheinungen  nur,  dass  sie 
nacheinander  sind,  nicht  aber,  dass  die  folgende  durch  die 
vorhergehende  ist,  dann  bandelt  die  Sprache  weise  daran, 
den  Grund  nur  durch  Zeitadverbien  auszudrücken,  und  am 
allerweisesten  der  österreichische  Sprachgebrauch,  der  mit 
unbewusster  Skepsis  ,nachdeni'*  rein  kausal  gebraucht. 
Nicht  nur  der  Realgrund,  sogar  der  Erkenntnisgrund  wird 
in  Oesterreich  mit  einem  «nachdem"  angekündigt.  «Nach- 
dem es  geblitzt  hat,  ist  ein  Gewitter  da."  Hume  könnte 
zufrieden  sein.  Und  man  darf  sagen,  daas  diese  raum^de 
Art,  die  sich  scharfblickend  aber  unthätig  mit  der  Kritik 
begnügt,  recht  gut  mit  dem  Charakter  der  Deutschester« 
reicher  zusammenstimmt. 
Ort«  Nicht  so  tiefgreifend,  darum  auch  nicht  so  leicht  mit 

Zeltilnii  '-7'''^'^^^  abzuthun  ist  die  erste  Metapher,  die  von  den 
Itaumbegriften  zu  den  Zeitbegriffen  tüiirt.  Warum  ist  unsere 
Welt,  wie  sie  sich  in  unserer  Sprache  darstellt,  so  Üboraus 
räumlich?  Warum  orientieren  wir  uns  in  dem  dn  i  liiii.  n- 
sionalen  liaume  früher  als  in  der  eindimensionalen  Zert? 
Denn  dies  allein  kann  der  Grund  sriu,  weshalb  Zeitabschnitte 
immer  nur  durch  Raumabschnitte  ausgesagt  werden  kouneu. 
Warum  ist  der  Kaum  im  menschlicheD  Verstände  früher 
gewesen  als  die  Zeit  ? 


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Ort-  und  Zeitsinn. 


120 


W«ü  unser  Sehorgan  uns  ▼on  der  Wirküdikeitewelt 
reichere  Daten  suAllirt  ak  irgend  ein  anderes  Sinnesorgan. 
Weil  unser  Sehorgan  nebenbei  immer  als  Baumofgan  dient. 
Weil  wir  im  Qdidr  nicht  in  ebensolchem  Masse  nebenbd 
ein  Zeitoigan  besitaen.  Der  Streit  darObert  ob  unsere  Augen 
uns  immittelhar  BanmTorsiellungen  in  allen  drei  Dimensionen 
(auch  die  Tiefendimenaionen)  gew&kren,  oder  ob  Baum- 
yorateUnngen  aus  den  Daten  des  Gesichts  erst  im  Verstände 
entstehen,  ist  ftr  unsere  Frage  gans  nebensichlich. 

Für  die  wissenschafUiche  Erkenntnis  lisst  sich  die  Zeit, 
die  längste  und  die  kOneste,  ebensogut  bestimmen  wie  der 
Baum.  Anders  fDr  den  schCchten  MensdtenTerstand  oder 
fbr  den  Tierventand.  Das  Bennpferd,  das  Aber  einen 
Graben  oder  eine  Hecke  springt,  der  Sehfitse,  der  einen 
Falken  im  Fluge  trifft,  legt  seinen  Muskelbewegungen  Baum* 
masse  zu  Grunde,  denen  sich  in  seiner  unwillkürlichen 
Schätzung  der  Zeit  nichts  auch  nur  ontfemt  an  die  Seite 
stellen  lässt.  Der  Grund  ist  so  ausserordentlich  einfach. 
Auf  den  Ortpunkt  lässt  sich  mit  dem  Finger  hinweisen, 
auf  den  Zeitpunkt  nicht  Wir  nehmen  die  Zeit  mit  keinem 
Sinnesorgane  wahr.  Ich  möchte  unsere  Wahrnehmung  der 
Zeit  etwa  mit  der  Ortswahmehmung  vergleichen,  die  uns 
das  GehQr  bietet,  wenn  wir  es  für  Ortswahmehmungen  nicht 
beson^lers  geschult  haben.  Wir  hdren  dann  ungefähr  einige 
Unterschiede  von  Nähe  und  Ferne,  ungefähr  einen  Unter- 
schied der  Richtung;  nicht  mehr.  Und  der  tiefere  Grund 
hierfUi-  ist  wohl  der,  dass  bei  den  Daten  des  Auges  der 
handgreiflichste  Kaumsinn,  der  Tast-  und  Muskelsinn,  wesent- 
lich mitbeteiligt  ist,  bei  den  Daten  des  Gehörs  nicht,  wenig- 
stens nicht  nachwe{?:^;^r  beim  Menschen.  Stellen  wir  uns 
ein  Gehörorgan  vor,  welches  die  Ohrmuschel  durch  Muskel- 
hewf^rrungpn  jedesinal  so  stellte,  dass  der  Schall  auf  einen 
Fleck  des  deutlichsten  Hörens  träte,  em  Grehörorgan,  welches 
ausserdem  das  innere  Ohr  der  Entfernung  des  Schallerregers 
accomodiei  te ,  stellen  wir  uns  ferner  Einrichtungen  vor, 
welche  bei  jeileiii  Hören  beide  Ohren  in  ihren  iimem  und 
äussern  Teilen  koordinierten,  dann  hätten  wir  von  den 
Maathner,  Beitrftge  zu  einer  Kritik  der  Sprache.  Q.  % 


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130 


V.  Adverbien.  —  Baiuu  und  Zeit 


ObMB  ebensolche  Ortsangaben  sa  erwBTton  wie  jetst  durch 
unsere  Augen.  Soldie  Ohren  haben  wir  nicht  Aber  auch 
solche  Ohren  wSren  noch  nicht  Im  stände«  im  Nebenamte 
den  Zeitsinn  so  su  Tersorgen  wie  unsere  Augen  den  Orts^ 
sinn  Teraofgen.  Und  xwar  aus  einem  Gnmde,  der  so  wa^ 
reichend  ist,  dass  man  niemals  anderswo  bitte  suchen  sollen. 
Bei  der  Orientierung  im  Baume  kommt  das  Oedichtnis  erst 
in  sweiter  oder  dritter  Linie;  Zeitrorstellungen  werden  erst 
durch  das  Oedftehtnis  aUein  geschaffen.  Dieser  Grundunter- 
schied zwischen  Raum  und  Zeit  ist  noch  niemals  sur  Auf- 
hellung dieser  Fragen  benfllBt  worden. 
Zeit  Als  die  Menschheit  G^rechen  lernte,  war  das  Oedichtnis 
sicherlich  ausgebildet  genug,  um  Erinnerungen  zu  ermög- 
lichen und  gewiss  auch  Erwartungen.  Ob  aber  die  Menschen 
damals  schon  sich  auf  einem  Grenxpunkte  der  eindimen- 
sionalen Richtung  zwischen  Yei^tangenheit  und  Zukunft 
stehend  erapfandeut  das  scheint  mir  gar  nicht  so  ausgemacht. 
Unsere  Kinder  von  zwei  bis  drei  Jahren,  welche  sich  in 
den  drei  DimensionMi  des  Raumes  wie  alte  Mathematiker 
zurecht  finden,  können  die  einfachen  Zeitbegriffe  gestern 
und  morgen,  Yogangenheit  und  Zukunft  noch  nicht  an- 
wenden, weil  sie  sie  noch  nicht  fassen  können.  Ich  habe 
einmal  einem  sehr  intelligenten  Kinde  von  zwei  Jahren  und 
acht  Monaten  den  Unterschied  von  früher  und  später  mit 
den  Ausdrücken  hinten  und  vorn  mit  gutem  Ergebnis  deut- 
lich j^emacht.  Das  Kind  bildete  nach  ungezählten  Jahr- 
tausenden eine  Metapher  Avieder,  welche  wir  in  den  Worten 
Vergangenheit,  Zukunft  gar  nicht  mehr  empfinden. 

Der  I^aum  ist  beim  Sehen  immer  gegenwärtig.  Für 
den  Raum  hat  das  Gedächtnis  keine  andere  Funktion .  als 
dass  es  uns  (abgesehen  von  der  kleinen  Hilfe  emer  Oi  initie- 
run^  im  Finstem)  den  abstrakten,  den  geometrischen  Kaum 
vorstellt  II  l'asst.  Unsere  isscnschaft  vom  ?>1istrakten  Haume 
Ware  ohne  Gedarlitui^  iii(}it  möglich:  für  unsere  Orientie- 
rung im  —  ich  mijchte  sagen :  —  praktischen  Räume  genügen 
unsere  Augen  in  der  Gogenwart.  Das  Instrument  ist  so 
fein,  dass  Orte,  deren  Bilder  auf  der  Netzhaut  nur  ^/looo 


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Zeit  o&d  Ged&chtDU. 


181 


eines  Millimeters  voneiiiander  entfernt  liegen,  noch  deuÜich 
unterschieden  werden.  So  feine  Zeiteinteilungen  gibt  es  in 
der  abstrakten  Wissenschaft  ebenfalls.  Feine  Zeitunterschiede 
empfindet  das  Gehör  des  Musikers,  aber  immer  nur  durch 
ihre  ästhetische  Wirkung,  nicht  so  unmittelbar ,  wie  das 
Auge  die  Kaumunterschiede. 

Und  wo  die  Augen  versagen ,  da  ist  ja  immer  noch 
der  eigentlich  raumschaflFende  Sinn,  der  Tastsinn,  vorhanden, 
der  die  Raumumstände  immer  g^enwärtig  macht,  so  un- 
veruidert  gegenwärtig,  dass  wir  um  einen  Raum  herum- 
gehen und  die  Baumverhiltnisse  der  Dinge  von  allen  Seiten 
betrachten,  ihre  UnTerindezUchkeit  prüfen  können  und  so 
vieUetcht  erst  dam  gehagt  dnd,  nicht  nur  die  Raum- 
Teihaitnisse,  sondern  auch  den  abetrakten  Raum  Ar  etwas 
Wirkliches  zu  hatten,  was  dann  auf  die  Zeit  Übertragen 
wurde. 

Die  TerhSltnismftssige  Reafitit  des  abatrskten  Raumes, 
die  ▼erhSltnisrnBasige  Idealiüt  der  abstrakten  Zeit  Tenrftt 
sich  settsam  darin,  dass  die  letaten  Konsequenzen  aus  dem 
Zcitbcipnife,  weil  er  ein  leereres  Wort  war,  firOher  gezogen 
wurden,  als  die  aus  dem  Raumbegrifb.  Unendlichkeit  des 
Raumes  nämlich  wurde  zwar  schon  yon  den  alten  Atcmdsti- 
kem  gelehrt,  ist  aber  bis  zur  Stunde  nicht  ttbw  den  Schul- 
streit  ganz  heraus.  Noch  Wundt  hat  einmal  den  Versuch 
gemacht,  die  Begrenztheit  des  Raumes  dem  Yorstellungs- 
▼ermOgen  nahe  zu  hnngen.  ünendlichkeit  der  Zeit  jedoch, 
die  sogenannte  Ewigkeit,  ist  ein  uralter  Begriff.  Sprechen 
wir  formelhaft  Ton  Zeit  und  Ewigkeit,  so  wirkt  dabei  die 
christlidie  YorsteUung  mit,  weldie  die  Zeit  als  den  be- 
grenzten irdischen  Zeitraum  und  die  Ewigkeit  eis  die  un-* 
begrenzte  himmlische  Zeit  auffasst.  Nichts  ist  natOrlichMr, 
als  das  Zögern  der  Menschheit,  den  Begriff  des  Raumes 
ebenso  grenzenlos  auszudehnen.  Glauben  wir  doch  im 
Himmel  die  Grenzen  des  Raumes  zu  sehen. 

Ich  möchte  noch  eine  Bemerkung  hinzufügen,  nicht 
über  die  Organe,  aber  über  die  Sitze  des  Zeit-  und  des 
Ortssinns.  Spencer  stellt  a  priori  die  Hypothese  auf  und 


182 


VI.  Das  Zahlwort. 


glaubt  sie  nachher  durch  zahlreiche  Beobachtongen  uoler- 
stOtsen  zu  ktfimeii,  dass  bei  Tieren  und  Menschen  das 
Kleinhirn  ein  Organ  des  Ortsinnes,  das  Grosshim  dn  Organ 
des  Zeiisinnes  sei.  Die  Zeit  ist  hoffontlich  nicht  mehr  fem, 
wo  man  es  aufgeben  wird,  in  so  wortabergliubiacher  Art 
die  Lokalisation  der  wortgebildeten  Denkprorinzen  zu 
suchen.  Idi  glaube,  bei  solchen  Untersuchungen  oft  Men- 
schen zu  sehen,  die  miteinander  Blinddmh  spielen,  aber 
so,  dass  alle  Mitspieler  wirklich  blind  sind  und  jeder  ein- 
zelne in  seinem  eigenen  abgeschlossenen  Oarten  umhertappt. 
Man  findet  einander  nicht  Hätte  aber  Spencer  nur  ge- 
sagt, dass  die  Qedächtnisarbeit  (ich  möchte  gern  bewusste 
Gedftchtoisarbeit  sagen)  im  Grosshim  yor  sich  geht,  dann 
wäre  M  ja  selbstrerst&ndlich,  dass  das  Grosdiim  unter 
anderem  auch  der  Sitz  des  Zeitsinnes  ist,  wie  es  der  Sitz 
des  abstrakten  Oitsinnes  sein  muss.  Wenn  das  Kleinhirn 
der  Baubyögel  eine  ungewöhnlich  starke  Entwickelung  zeigt 
und  so  erklftrt,  dass  die  Raubvögel  Distanz  und  Flugnchtung 
ihrer  Beute  ausserordentlich  scharf  zu  erfassen  TermÖgen, 
so  reicht  dieses  Kleinhirn  dennoch  nicht  hin,  den  Pytha- 
goreischen Lehrsatz  begreifen  zu  lassen. 


YI.  Das  Zahlwort 

Ent-  Wenige  Ergebnisse  der  Etymologie  scheinen  so  ge- 

lehnoag  giriert,  wie  die  Gemeinsamkeit  der  „Wurzeln"  in  den  Zahl- 
wörtern der  indoeuropäischen  Sprachen;  das  dva  und  tri 
in  allen  seinen  Veränderungen  zu  verfolj?en .  ist  ein  Stecken- 
pferd der  Sprachforscher.  Wie  aber,  wenn  die  Ueberein- 
stimiTiunj:f  sich  ^auz  ohne  Etymokigie  einfacher  erklären 
Hesse,  durch  Entlehnung?  Wie  wenn  die  Völker,  die  hier 
in  Fraije  kommen,  die  Zahlwörter  als  eine  nützliche  neue 
Erfindung  von  einem  rechenfrohen  Volke  geborgt  liiitt«  a? 
Am  Ende  gar  von  einem  nicht  indoeuropäischeiir  Wie 
ihre  ZiflTeru?  Möglich  wäre  es  schon,  dass  irgend  einmal 
die  »Indo-Europäer"  trotz  ihrer  Begabung  noch  nicht  bis  drei 


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ZBUcn  «UM  Exflndniig. 


ISS 


zählen  konnten,  wie  das  ja  heut  noch  von  den  Chiqiiito* 
Indianern  erzählt  wird.  Ja,  nicht  nur  möglich  wäre  das. 
Es  ist  gewiss,  wenn  wir  ihre  Kulturgeschichte  nur  weit 
genug  zurttckverfolgen,  eben  bis  zu  ihrer  zahlenlosen  Zeit. 

Es  ist  also  bei  diesen  Worten  noch  wichtiger  als  bei 
den  anderen,  darauf  hinzuweisen,  dass  auch  Zahlwörter  dem 
Sprachschatz  eines  andern  Volkes  entnommen  werden  können 
und  häufig  entnommen  wnrdon  sind.  Man  nimmt  jetzt  an, 
dass  die  Hebräer  ihre  erstauuJirli  ähnlichen  Worte  für  sechs 
und  sieben  (schesch  und  scheba)  den  Indogerjnanen,  ihr 
Wort  ftlr  acht  den  Aeirvptern  entlehnt  haben.  Sehr  häufig 
wird  in  unserer  Zeit  beobachtet,  dass  unkultivierte  Völker- 
schaften ihre  Zahlworte  den  europäischen  Ein'lriiiLrhiigen 
entlfhnen;  als  die  Portugiesen  ein  mächtigeü  V  olk  waren, 
nahm  ein  brasilianischer  Volksstamni  portugiesische  Zahl- 
worte an,  jetzt  entnimmt  man  sie  in  der  Südsee  dem  eng- 
lischen Sprachschatz.  Aber  wir  brauchen  gar  nicht  so  weit 
zu  gehen.  In  historischer  Zeit  haben  wir  das  Wort  Dutzend 
aus  einer  roiiianischen  Sprache  entlehnt,  in  noch  jUngerer 
Zeit  d»ju  Bcgriii  und  das  Wort  Million. 

Das  letzte  Beispiel  macht  es  besonders  klar,  waruiu  zahlen 
Zahlworte  von  einem  Volke  zum  andern  hinüber  wandern 
konnten.  Es  wird  diese  Erscheinung  am  besten  mit  Wande- 
rungen Ton  andern  Erfindungen  und  ihren  Namen  ver- 
glidieii  werden.  Denn  das  Ztiüen  ist  eine  Erfindung  der 
Menschen.  Die  Zahl  isfc  in  der  Natur  nicht  zu  finden, 
tKnoAem  nnr  Verhtitniaae,  welche  der  menschUche  Verstand 
sich  durch  Zahlen  begreiflich  macht  Nicht  nur  wie  Mass- 
«inheiieD  (Heter)  bei  einem  Volke  erfunden  wurden  und 
dann  Über  die  ganie  Erde  wanderten,  kdnnen  wir  uns  die 
ZaUsD  Tontellen,  sondem  geradesu  wie  die  Erfindung  des 
Wagens  s.  B.,  der  wohl  ursprOnglich  eine  Walze  war  und 
bis  auf  die  neuesten  Sutsdifonnen  sehr  häufig  absondere 
liehe  Namen  erhalien  hat,  die  dann  mit  der  Wagenfcnrm 
Aber  die  Volksgrenze  hinauswaaderten.  Auch  das  ZShlen 
wurde  nicht  |^ch  bis  zu  seiner  heutigen  Entwiekdung 
fertig  erfunden.   Selbst  mit  Hilfe  der  Finger  einer  Hand 


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184 


YL  Dm  Zahlwort. 


bis  fihii  m  zUklen,  so  weit  auch  diese  Kuust  über  die  Erde 
verbreitet  ist,  haben  von  selbst  nicht  alle  ^'ölke^  gelernt.  Es 
gibt  ja  solche,  die  nur  bis  drei  zählen  können,  und  andere, 
welche  ihrem  Zahlensystem  nicht  die  Fünf  zu  Grunde  gelegt 
haben.  Es  gibt  einen  sehr  geistreichen  etymologischen  Vor- 
schlag, nach  welchem  «das  den  indogermanischen  Sprachen 
gemeinsame"  Wort  fllr  acht  als  2  x  4  erklart  wird  imd  zwar 
80,  da»  vier  ehr»  «eine  Hand  weniger  eins*  bectouten 
würde.  Es  wird  tiek  niemab  feeMeUen  latten,  ob  dieeer 
Einfall  irgend  etwas  Richtiges  enthalte.  Er  gibt  aber  un* 
serer  Vorstellung  einen  Ausgangspunkt  Wir  können  be- 
greifen, aof  welchem  Wege  ein  besonders  ftlr  das  ZShlen 
Yeraalagtes  Volk  dazu  gelangen  konnte.  Aber  fünf  hinaus 
ZaUbegriffe  zu  bilden.  Solange  es  kein  Wort  fllr  acht  gab, 
gab  es  auch  nicht  die  Zahl  adit.  Wir  kOnnen  uns  weiter 
ganz  gut  Torstellen,  wie  im  primitiTen  HandeUrerkehr  die 
neuen  Begriffe  sechs  bis  zehn,  wenn  ein  Volk  sie  eist  ge- 
bildet hatte,  zum  Nachbarrolke  Obergingen.  Notwendig 
war  dieser  TJebergang,  wenn  ein  Volk  die  AnAnge  des 
dekadischen  Systems  ausgebildet  hatte  und  das  Nachbar- 
volk diese  Erfindung  für  sich  benfltMU  wollte.  In  noch 
froherer  Zeit  konnte  so  audi  die  Zahlengruppe  eins  bis 
fünf  als  eine  neue  Erfindung  mitsamt  den  Worten  aufge* 
nommen  werden,  wenn  z.  B.  das  kultiTiertere  Volk  bereits 
mit  den  Fingern  der  Hände  rechnete,  das  unkultiTiMiere 
noch  nicht.  So  sehen  wir  im  lüttelalto'  viele  mathematische 
Begriffe  aus  dem  Arabischen  direkt  oder  in  TTebersetzungen 
nach  Europa  kommen,  weil  die  SorO|Aer  z.  B.  den  Sinus 
durch  die  Araber  kennen  lernten.  Warum  soll  ein  solcher 
Vorgang  nicht  auch  in  'alterer  Zeit  stattgefunden  haben,  wo 
die  Erfindung  eines  FQnfersjstems  mindestens  ebenso  epoche- 
machend war,  wie  später  die  Erfindung  der  Trigonometrie? 

Die  geheimnisvollen  BesonderheitMi  der  Zahlwörter  sind, 
wenn  wir  diesen  Umstand  nicht  vergessen,  nur  fQr  Mathe- 
matiker Toihanden.  Wer  eine  Zahl  als  Zahl  anwendet,  und 
wäre  er  auch  nur  ein  Heringsverkäufer,  der  seine  Ware 
mit  Pfennigen  rergleicht,  der  ist  in  diesem  Augenblicke 


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185 


Mutliematiker,  so  gut  wie  ein  Astronom,  mit  Differen- 
tialeTi  unH  Logarithmen  rechnet.  Er  ist  ein  Mathematiker 
im  Verhältnis  zu  den  Chiquifco-Indianem ,  zu  dem  zahlen- 
losen  Kulturzustand  der  «Indo-Europäer" . 

Banri  al)er  <^ibt  es  einen  Rückweg,  auf  welchem  der  z»hi- 
Spi  achgebrauch  ili*  Zalilworte  ganz  unmathematisch  als 
allgemeine  Merkmaie  anwendet.  Namentlich  die  runden  jekuve. 
Zahlen  werden  bei  uns  geni  so  gebraucht.  Der  Tauscndfuss 
hat  nicht  1000  Füsse,  die  Centifolie  hat  nicht  100  Blätter. 
In  noch  seltsamerer  Wei^c  sagen  wir  den  Orientalen  nach: 
tausend  und  cme  Aaclit:  ,Jahr  und  Tag"  dagegen  ist  wieder 
mathematisch,  weil  es  ein  Minimum  bedeutet. 

Wir  erwachsenen  Indo-Europ'aer  unserer  Zeit  sind  nicht 
so  unmathematisch  bei  niedem  Zaklen.  Bis  zwei  und  drei 
können  wir  schon  zählen,  auch  unbewusst.  Unsere  kleinen 
Kinder  sind  es,  die  «zwei*  im  SiimftTOn  «vier  gebramobeii, 
weil  gie  eben  votk  mehi  bis  iwei  itiilflii  kUnneii  — >  ehr» 
wie  Chiqmto-Indianer.  Aber  auch  uns  kOnnen  sich  die 
oiederrten  Ordnimgflnhleii  in  A^jektire  Terwandeln. 

Sage  ieh  auf  die  Frage:  ,Wie  fahren  Sie?*  «Zweiter* 
oder  «Dritter?*  —  so  danke  ich  auf  keinen  Fall  an  die 
OrdnungSEBhL  Entweder  Terbinde  ich  mit  dem  Worte  eine 
Vorstellung  dee  F^reises  oder  —  gewöhnlich  »  nur  die  Vor- 
Stellung  der  Einrichtung;  «Zweiter*  heisst  Bequ^nlichkeit 
und  PoktersitBe,  «Dritter*  heisst  Hdzbank.  Bei  der  Ber- 
liner Stadtbahn,  die  nur  swei  Klassen  eingefilhrt  hat  und 
enf  der  nach  der  Aehnlichkeit  des  Gomforts  dennoch  Ton 
einer  sweiten  und  einer  dritten  Klasse  gesprochen  wird,  ist 
dieses  YerhiUnis  noch  auffallender. 

Diese  Bemerkung  seheint  kleinlich.  Aber  sie  ist  wichtig, 
wenn  wir  ans  einem  Bdspiel,  das  wir  miterieben,  deutlich 
erkennen,  dass  ein  Uebergang  Tom  Zahlwort  su  andern 
Kategorien  möglich  ist  und  dass  in  alten  Zeiten  eben  auch 
Entlehnung  oder  Import  von  Zahlwörtern  möglich  war.  Als 
die  Oase  entdeckt  wurden,  schuf  ein  Holländer  künstlich  das 
Wort  daftür;  und  es  wurde  in  alle  Kultursprachen  importiert 
Kun  war  es  doch  auch  eine  Entdeckung  oder  Erfindung, 


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136 


VL  Das  ZaUwort. 


als  ein  überaus  genialer  i\rriiheMi;itiker  (ein  Mann,  der  eiu 
r)enkni;il  verdient  wie  Newton)  aiit  den  überaus  fruchtbaren 
Einfaii  kam,  Ein  Schaf  mebr  als  vier  Schafe  ^ftJnf  Schafe 
zu  nennen.  Er  erfand  fUr  seine  neue  Weltanschauung 
neue  Worte,  er  stählte,  er  war  der  erste;  er  zählte  viel- 
leicht bis  drei,  bis  acht,  bis  zwölf,  wer  weiss  es.  Er  zählte 
vieUeicht  zuerst  nicht  Schafe,  sondern  sich  und  seine  Fa- 
milienmitglieder: obwohl  (ernsthaft!)  das  Zählen  von  Schafeii 
oder  andern  Eigcutuaiseinheiten  dem  mathematischen  Genie 
näher  liegen  mochte  als  das  Zähleu  von  Kindern. 

Konnten  aber  die  Zahlwörter  —  als  neue  Erfindungen  — 
so  leicht  yon  einem  Volke  auf  das  andere  übergehen  (wie 
Ton  den  Melaaesiem  glaubhaft  berichtet  wird,  du»  sie,  die 
ttbxigens  neuenmgBsQchtig  genug  sind,  um  Sprachfehler  der 
EuropSer  gm  amniiehmeii,  besonders  Zahl-  und  FOrvOrier 
TOD  den  Mabien  entlelmt  haben),  so  ist  es  sdilimm  bestellt 
um  alle  logischen  Schlllsse,  welche  aus  der  Verwandtschaft 
gerade  dieser  Wörter  (und  der  FOrwOrter)  auf  Stammes- 
yerwandtschafl  der  Sprachen  leiten  sollen.  Fast  ausschliess- 
lich aus  AehoUchkeit  von  Zahlwörtern  sucht  man  die  Ver- 
wandtschaft der  semitischen  Sprachen  mit  den  sogenannten 
hamitischen  su  folgern.  Ebenso  gut  könnte  man  aus  dem 
Vorkommen  einer  leeren  Sardinenbflchse  in  der  WOste 
Sahara  darauf  schliessen,  dass  die  Wflste  einst  Sardinen 
gedeihen  liess. 

Ist  die  Entlehnbarkeit,  die  allgemein  menschliche  Brauch- 
barkeit des  Zahlworts  noch  atftrker  als  die  andrer  Bedeteüe, 
so  könnte  msn  daraus  schliessen,  dass  die  Unbestinmitiieit 
seines  grammatisehoi  Sinnes  weniger  gross  sei,  dass  das 
Zahlwort  der  Wirklidikeitswelt  besser  entqiceche  als  Sub- 
stantiv, Aii^ktiT  und  Verbum.  Man  glaubt  es  auch. 

pjth».         Dass  der  Zahlbegriff  in  seiner  allgemeinen  Bedeutung 
suM.  mir  eijie  leere  Abstraktion  ist  und  nicht  der  Wirklichkeit 
angehört,  dass  das  Wort  Zahl  z.  B.  in  der  Frage:  „Wie  gross 
ist  die  Zahl  der  Einwohner  dieser  Stadt?"  nichts  weiter 


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pyuuigoiM.  137 

v-ill  uml  kann  als  die  Aufnierksumkeit  darauf  richten,  diö 
Antwort  in  Ziüern  zu  suchen  und  zu  finden,  das  ist  von 
selbst  einleuchtend.  Dass  aber  auch  die  einzelnen  ganzen 
Zahlen,  1,  2,  3  u.  s.  w.  nicht  der  Wirklichkeit  entsprechen, 
sich  in  der  Xntiir  nicht  finden,  sondern  nur  Erfindungen 
des  raenschhehen  Verstandes  sind ,  das  ist  einer  noch  ge- 
nauem Betrachtung  wert,  weil  die  Naturwissenschaften  gegen- 
wärtig wie  vor  dritthalb  Jahrtausenden  wieder  geneigt  sind, 
die  Zahl  zum  Urelemcnte  der  Naturvorgänge  zu  machen. 
Besässeu  wir  eine  Geschichte  des  menschlichen  Verstandes 
wie  wir  eine  Geschichte  der  Dampfmaschine  besitzen,  so 
würde  sich  Tielleicht  eine  lehrreiche  Vergleichung  zwischen 
dem  beatmen  und  dem  alten  ZahlenftlMnr|^anbai  Tom^luaeQ 
lassen.  Da  wir  aber  Ton  der  Vorgeschichte  unseres  Ver- 
standes nieht  viel  mehr  wissen  als  der  erwachmde  Henseh 
Ton  seinen  Traumznstftnden  im  Mutterleibe,  so  kann  ich 
darüber,  was  F^agoras  den  Zahlen  zuschrieb  und  was  in 
dem  gleichen  Sinne  die  heutigen  Chemiker  den  Zahlen  ni- 
schreiben,  nur  Vermutungtti  aufstellen. 

Es  trifft  sich  fttr  diese  Vermutungen  nett,  dass  der 
Name  des  alten  Philosophen  an  den  ttberaus  wichtigen  Pytha- 
goreischen Lehrsata  geknfipft  ist  Diese  Verknüpfung  be- 
weist, dass  I^rthagoras  entweder  selbst  das  interessante  Ver- 
hiltnis  swischen  den  Dreieckseiten  suerst  bewiesen  hat  oder 
dass  er  es  doch  war,  der  diese  Entdeckung  in  Griechenland 
bekannt  msdite.  JedesfaDs  sdgt  sie,  dass  Pjthagoras  ein 
Mathematiker  war,  bevor  er  aus  den  Zahlen  eine  Art  Re- 
ligion machte.  "V^r  stehen  mit  Fyiliagoras  sichtbarlich  in 
einer  Zeit,  die  vor  Freude  über  die  neuentdeekten  Zahlen- 
▼erhiltnisse  in  Mathematik  und  Oeometrie  ausser  sich  ge- 
raten war.  Wir  können  etwas  Ton  dieser  Freude  heute 
noch  bei  mathematisch  Teranlagten  Kindern  beobachten, 
wenn  sie  in  der  Schute  zum  erstenmale  die  erstaunlichen 
Verhältnisse  kennen  lernen,  in  welche  z.  B.  die  teilbaren 
Zahlen  oder  Hypotmuse  und  Katheten  zu  einander  stehen. 
Dass  man  aus  der  Sunmie  der  Ziffern  sofort  erkennen  kann, 
ob  eine  vielstellige  Zahl  durch  9  teilbar  ist  oder  nicht,  das 


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138 


VI.  Das  Zatüwort. 


ist  die  Folge  eines  Verhiiltuisses ,  (ias  in  uiiserciii  dekadi- 
schen System  begründet  ist;  die  Entdeckung  dieses  Ver- 
hältnisses macht  dennoch  Vergnügen.  Das  Verhältnis,  wel- 
ches im  Pythagoreischen  Lehrsatz  ausgesprochen  ist,  mag 
eine  Folge  des  uns  geläufigen,  uns  Ton  den  Zufallsinnen 
gebotenen  Raumsystems  Min,  seine  Entdeckung  musste  den« 
nodi  ein«  anflseiwdentKGlie  Ihreude  hwvoinifon.  Bs  war 
oifeiibar,  es  gab  io  der  Nator  ZahlenTerhiltnisse. 

Der  Standpunkt  der  damaligen  MatiMmUtik  konnte  diese 
Verhiltniaee  gar  nicht  anders  ausdrucken  als  durch  die  Zahlen. 
IKe  Yerh&ltnisse  schienen  in  den  Zahlen  selbst  au  liegen. 
Die  Zahlen  sind  Worte,  scheinbar  Worte  wie  andere  Be- 
griffsworte auch.  So  war  es  nur  eine  Aeussemng  des  uns 
wohlbekannten  Wortabor^ubens,  wenn  im  ersten  Rausche 
mathematischer  Entdeckerfreude  den  Zahlworten  mystische 
Eigenheiten  beigelegt  wurden. 

Man  nehme  dasu  den  kindlichen  Wortaberglauben  der 
WelterklSrungsTersuche,  die  sich  damals  Philosophie  nannten. 
Auch  Anaximander  und  Thaies  glaubten  etwas  dabei  zu 
denken,  wenn  sie  das  Unendliche  oder  das  Wasser  Ahr  den 
Ursprung  aller  Dinge  erklärten.  Ich  neige  Überdies  zu  der 
Uebetzeugang,  dass  wir  niemals  werden  erfahren  können, 
was  die  Philosophen  vor  Piaton  sich  bei  den  rereinselten 
ScUagworten  gedacht  haben  mögen,  die  Ton  ihnen  über- 
liefert sind.  Man  stelle  sich  vor,  Darwin  Mtte  nie  eine 
Zeile  geschrieben.  Wir  erfuhren  Uber  ihn  bloss  was  seine 
EnkelschUler  gelegentlich  und  irrtOmlich  auf  ihn  zurflek- 
fUhren,  und  es  bliebe  eines  Tages  von  dem  ganzen  Lebens- 
werke Darwins  nichts  übrig  als  das  Schlagwort  „der  Mensch 
stammt  vom  Affen  ab* ;  das  einsige,  was  wir  dann  von  ihm 
wUssten,  wäre  etwas,  was  er  nie  gesagt  hat.  Nietzsches 
Kritik  der  Notizensammlnng  des  Diogenes  Laertiua  ist  nur 
philologisch,  darum  nicht  sachlich  radikal 

Mühsam  können  wir  uns  aus  einigen  solchen  auf- 
bewahrten Schlagworten  nur  die  Gewissheit  verschaffen, 
Fjrthagoras  habe  gelehrt:  1.  die  Zahlen  sind  die  Ursache 
der  Wirklichkeit,  die  wirklichen  Dinge  seien  nur  Nach- 


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DetimaUgrikenL 


m 


ahmungen  oder  Symbole  der  Zahlen;  2.  die  Zahlen  sprechen 
mir  Verhältnisse  zur  Einheit  aus,  es  ist  als(>  die  Eins  der 
Anfang  oder  der  Ursprung  aller  Dinge;  3.  da  die  Zahlen 
älter  sind  als  die  Natur,  da  sie  die  Natur  erst  gemacht 
babrn.  so  kann  man  die  Natur  und  die  Zukunft  nur  aus 
den  Elementen  das  ist  den  Zahlen  erkennen ;  Zalilunharmo- 
nien  verkünden  eine  günstige  Chance  (xaipoc),  die  Heilig- 
keit der  Zahl  10  z.  B.  verbürgt,  dass  es  zehn  bewegliche 
Himmelskörper  geben  müsse  u.  s.  w. 

Der  QUube  an  die  Heiligkeit  der  Zehnzahl  zwingt  o«ii«nl* 
mich  zu  einer  Ideinen  Abachweifong.  Es  spricht  sich  in  *'*^' 
diesem  CHauben  eine  Freude  ana  Uber  die  vielleicht  neu  ent** 
deckten  SchUnhelteii  des  dekadiedien  ZaUenflyatonu.  Man 
bat  unbewusst  die  10  zur  Omndaahl  eines  Systems  gemacht 
und  wundert  sich  nacbher  darüber,  daes  sie  die  Gnmdsabl 
ist  Da  ich  docb  diese  Fragen  mit  der  Entwidcelung  der 
Vernunft  in  Zusammenbang  zu  bringen  rersuche,  so  mSchte 
ich  an  dieser  Stelle  die  Untersuchung  unterbrechen  und  auf 
den  Unterschied  swiscben  Entdeckung  und  Erfindung  in  der 
Zahlenwelt  hinweisen.  Ich  hoffe,  es  wird  höchstens  ein 
Umweg,  aber  kein  Abweg  werden.  Die  Geschichtsschreiber 
des  dekadischen  Zahlensystems  tftuschen  sich  nämlich  meiner 
Meinung  nach  iosofem,  als  sie  ttberall  da  ein  dekadisches 
System  annehmen,  wo  unBTÜisierte  TOlker  aus  natOiüchen 
Chrttnden  nur  bis  zu  sehn  oder  bis  swanaig  sikhlen  gelernt 
haben.  Ebenso  falsch  ist  es,  flberall  da  Beate  eines  Zwaur 
sigersystems  zu  eiblicken,  wo  wie  im  FransOsischein  80 
durch  4  X  20  ausgedrückt  wird,  oder  Spuren  eines  Zwdlfer- 
sjstems  da,  wo  Mehrfache  von  12  einen  ersten  Abschluss  der 
Zählung  abgeben,  wie  wieder  im  Französischen  die  Zilfor  60 
innerhalb  des  ersten  Hundert  das  letzte  regelmässig  ge- 
bild^  Zahlwort  ist  und  sich  in  dem  Worte  six-nngt  ein 
merkwürdiger  Ausdruck  für  120  findet.  Alle  diese  reizen« 
den  Beispiele,  die  namentlich  Ton  Reisen  dm  unter  den  In- 
dianerstibnmMi  vermehrt  worden  sind,  scheimu  mir  nur  An* 
aeichmi  dsftlr  zu  sein,  dass  das  dekadische  System  sehr 
langsam  m  das  Sprachbewusstsein  der  Völker  eingedrungen 


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140 


VI.  Das  Zahlwort. 


ist.  Eiii  bih  zum  Aeussersten  durchgetuhrtcs  dekadisches 
System  besitzen  wir  AbeiuUunder  erst  seit  wenigen  hundert 
Jahren;  nicht  älter  sind  die  Ausdrücke  Billion,  TrilHon u. s.w. 
Wenn  ein  Volk  seinen  Groschen  oder  seinen  Schilling  in 
zwölf  Teile  einteilt,  so  mag  das  auf  eine  Zeit  zurückgehen, 
in  welcher  die  Zwölfzahl  irgend  «ine  BoUe  spielte;  von 
einem  Zwölfersystem  mau  dabei  nidil  die  Bede  sein.  So 
weit  z.  B.  die  Griechen  ihr  Zahlensystem  bewusst  in  Zahl- 
worten ansgearbeiirt  hatten,  bis  zu  der  Ziffer  10000  ntan- 
lieh,  war  es  ein  dekadisches  System.  Dagegen  kommt  es, 
je  weniger  wir  die  Entwickdungsgeschichte  der  Zahlworte 
kamen,  um  so  woiiger  in  Betracht,  dass  schon  im  Griechi- 
schen wie  ün  Französischen  das  Zahlwort  sechzig  regel- 
missiger  gebildet  war  als  die  ZahlwQrter  für  70,  80  und  90. 
Auch  im  Deutschen  wird  die  Zahl  00,  die  sonst  ihre  nnter^ 
geordnete  Stelle  im  dekadischen  System  hat,  zu  einer  runden 
Zahl,  sobald  wir  daflQr  Schock  sagm  und  nach  Schock 
zahlen.  Bs  ist  offsnbar,  dass  das  Scbodr  schon  im  Orient 
vielfach  eine  runde  Zahl  gewesen  ist.  In  unserer  Zeitp 
rechnung  mit  ihren  2  x  12  Stunden,  00  Hinuten  und  00  Se- 
kunden, in  uns^r  Kreiseinteflung  in  6  X  60  Grade  sind 
noch  unTcrtilgte  und  scheinbar  unvertilgbare  Beste  aus  einer 
Zeit  Torhanden,  in  welcher  die  zwölf  zum  mindesten  ebenso 
heilig  schien  wie  die  zehn.  An  ein  Zwtflfersystem  ist  da 
aber  so  wenig  zu  denken  wie  an  ein  ausgebildetes  Zehner^ 
System.  Wir  müssen  es  so  scharf  wie  möglich  feststellen, 
dass  jede  Art  TOn  Svst^ni  eine  Erfindung  ist,  eine  Erfindung 
zur  Erleichterung  des  Rechnens,  w&hrend  die  Einsicht  in 
die  ZahleoTerhältnisse  auf  Entdeckungen  zurückzuführen  ist. 
Es  würe  z.  B.  auch  in  einem  durchgefQhrten  Zwölfersystem 
die  Zahl,  welche  wir  25  nennen  und  schreiben  und  die  im 
Zwölfersystem  etwa  21  hiesse,  nach  wie  Tor  das  Fünffache 
Ton  6  oder  5';  nur  die  Zählung  wäre  eine  andere.  Wir 
müssen  uns  nur  klar  machen,  dass  die  Menschen,  wenn  sie 
wirklich  an  den  zehn  Fingern  ihrer  Hände  zählen  gelernt 
haben,  damit  noch  nicht  das  dekadische  System  erfanden, 
so  wie  es  jetzt  jeder  Schu^unge  lernen  muss*  Für  uns  ist 


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Oktafeaqystein. 


Ul 


aber  nur  wichtig,  dass  es  erfunden  wurde.  Bine  Er- 
findung kann  nie  ein  BUd  der  WiiklielikeitsweU  seio. 
Die  dekadische  Mili1«ng  kann  niehl  der  WIrUiehkeii  ent- 
sprechen. Wir  werden  bald  sehen,  oh  die  Zfthlung  über- 
houpii  ohne  Systom«  wirklich  sein  kann. 

Wenn  die  Natur,  die  sich  um  die  mensdiliehe  Sprache  oktowm- 
so  wenig  hekOnunert  wie  eine  Pappel  um  den  Pythagorei**  vm*»- 
sehen  Lehrsats,  mit  dessen  Hüfe  wir  ihren  NutiholEwert 
berechnoa,  wenn  die  Katur  sich  im  Menschen  oilwickdt 
hUte  n  vier  Fingern  an  jeder  Hand,  so  hitten  wir  ein 
Oktavensystem  anstatt  eines  Deomalsystems.  Unsere  Vier- 
undsechsig  hiesse  hundert  und  wflrde  mit  swei  Nullen 
geschrieben,  ffinige  ewige  Wahrheiten  des  Deaimalwesens 
würden  wunderlidi  auasehen.  Aber  alles  wflrde  stimmen, 
wenn  nur  die  Nullen  au  der  richtigen  Stelle  aSssen.  So 
wttrde  auch  die  Spradie  ni  jeder  anderai  natOriichen  Ent- 
wickehmg  passen,  wenn  nur  die  Nullen  richtig  wftren.  Demi 
der  Tiefsinn  der  Sprache  ist  ihre  NulUtIt.  Man  muss  er- 
kennen, dass  die  Worte  wertlos  geworden  sind.  Was  uns 
wert  ist,  fühlen  wir  darum  worÜos  am  besten.  Daa  ist 
kein  Woiispiel,  es  ist  vieltnehr  eine  reine  Tautologie.  A  ist 
nicht  B,  B  ist  nicht  A.  Im  wirklichen  Wortspiel  ist  der 
Geist  wahnsinnig  geworden.  Er  nimmt  die  Worte  zwar 
richtig  für  das  was  sie  sind,  für  mathematiBche  Funktionen, 
vergisst  aber  wie  nur  ein  wahnsinnig  gewordener  Mathe- 
matiker ihre  Bedeutung  in  der  Torliegenden  Aufgabe,  setzt 
eine  Fonnel  aus  Buchstaben  Ton  Tmrgestem  und  von  heute 
zusammen  und  kommt  so  zu  den  vollkomraen  Tertrtrttelten 
Sätzen  geistreicher  Schriftsteller.  Z.  B.  die  Menschen  sind 
die  Gedanken  der  Erde  (Börne).  Ebenso  sinnlos  wie  geist- 
reich. 

Das  Zäklsystem  der  Menschheit,  wenn  die  Menschen 
rier  Finger  an  jeder  Hnnd  und  vier  Zehen  an  jedem  Fuss 
hätten,  denkt  man  so:  man  zählt  1,  2,  3.  4.  Die  4  hätte 
dann  die  Stellung  unserer  jetzigen  5.    Weiter  5,  6,  7,  8. 


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142 


VL  Das  Zahlwort. 


Die  8  aber  würde  als  die  höhere  Einheit  10  geschrieben. 
Da  8  (2  X  4)  die  höhere  Einheit  wäre,  so  würde  ihr  dop- 
peltos (16  =:  2  X  8)  nicht  anders  geschrieben  werden  können 
als  20,  ihr  dreifaches  (24  =  3  X  8)  nicht  andera  als  80, 
ihre  Potenz  (64  =  8  X  8)  nicht  andera  als  100. 

Es  wiederholt  sich  heim  Zthlenlernen  der  Menschheit 
fibrigens  die  uralte  Frage,  wie  denn  die  Menschen  ohne  den 
Besits  der  Sprache  sprechen  lernen  konnten.  Konnten  die 
Menschen  schon  bis  sehn  zShlen,  als  sie  ihre  Finger  dasn 
gehranchten,  so  hatten  sie  das  Odilen  nicht  an  den  Fingern 
gelernt  und  die  Sntstehnng  des  Dekadensystems  macht  neue 
Schwierigfceiton;  hatten  sie  aber  keinen  BegriflP  Ton  Zahlen, 
dann  ist  wieder  nicht  einzusehen,  wie  sie  gerade  durch  den 
Anblick  der  Finger  auf  die  Idee  des  Zählens  gekommen 
sein  sollen. 

Der  nächstliegende  Weg  aus  diesem  Dilemma  heraus- 
ankommen  ist  f&r  uns  die  geläufige  Vorstellung,  dsss  das 
Zählen  sich  unendlich  langsam  entwickelt  habe,  wie  die 
Organismen  und  ihre  Nerroi,  wie  die  menschliche  Kultur, 
wie  der  menschliche  Verstand.  Es  ist  darauf  schon  (yergL 
B.  n.  S.  668)  hingewiesen  worden.  Für  alle  andern  ^t- 
wudcelungsreihen  ist  der  Anfangspunkt,  der  Keim,  unauf- 
findbar. Der  Anfangspunkt  des  Zählens  war  aber  scheinbar 
in  der  Natur  gegeben ,  sobald  ein  Mensch  dazu  gelangte, 
die  Individuen,  Menschen,  Tiere,  Pflanzen  oder  Steine  als 
Einheiten  aufzufassen.  Gi  l  t  es  in  der  Natur  die  Einheit, 
so  ist  zwar  immer  noch  kein  Zahlensystem  natürhch,  wohl 
aber  das  Zählen  überhaupt. 
Einheits-  Mit  dem  Begriffe  der  Einheit  wird  gerade  in  seinem 
be«rur.  abstraktesten  Gebrauche  ein  ai^er  Missbrauch  getrieben; 
und  weil  in  der  Gemeinsprache  der  abstrakte  Begriff  der 
Einheit  und  der  ebenfalls  auf  Umwegen  entstandene  Begriff 
der  Einzahl  sich  vermischen,  so  geht  der  Missbrauch  bis 
in  die  Umgangssprache  hinüber.  Die  Copiila  „ist"  heisst 
so  viel  wie  «ist  einerlei  mit*.   Dieser  Sinn  umfasst  zwei 


EinbeiUb^iff. 


148 


grosse  Gruppen,  diA  neh  ung^fllir  mit  «ist  Sdonincli  mit* 
imd  .ist  enihaltea  in*  ftwdrOckeii  Hessen;  die  Algebn  der 
Logik  snh  aieh  darum  genötigt,  dieee  simple  Oopnla  durch 
ein  Doppeiseichen  fifar  beide  Bedeutungen  der  Sinerleiheit 
in  erselMn.  Da«  Zeichen  bdaBt  sowohl  «ist  einerlei 
mit*  als  .ist  enthalten  in*;  es  bedeutet  aber  in  Wahrheit 
daneben  auch  bald  die  TfiUige  Identitit,  bald  die  nuancierte 
Einerleiheit,  bald  die  logiMshe  Einheit  unter  einem  Ober- 
heipnS*  Alle  diese  Einheüsbedeutongen  sind  aber  auch  in 
dem  berühmten  Satie  A  =  A  oder  A  s^  A  enthalten,  der 
so  schön  als  das  leerste  Symbol  der  Tautologie  an  der  Spitse 
dflor  Logik  steht  Han  kann  ans  diesem  Satie  der  Identitit 
oder  der  Einheit  ebenso  wenig  iigend  etwas  enchliessen, 
wie  man  aus  der  Einheit  allein  ohne  die  erste  wirkliche 
Zahl,  die  Zwei,  irgendwie  die  einfachste  Rechnung  bitte 
hervorgehen  lassen  können. 

Die  Verworrenheit  des  Einheitsbegnfis  ist  wichtig  Ar 
die  Psyehohigie,  weil  man  da  gern  Ton  der  Einheit  des  Be- 
wusstseinB  redet,  wo  doch  nur  der  einhdtüche  Augenblick 
im  indiTiduellen  Gedichtuisse  die  Einheit  herstellt  oder  den 
Schein  der  Einheit  erzeugt,  anderseits  von  der  Vielheit  der 
psychologischen  Begriffe  redet,  wo  es  doch  offenbar  im 
mensdilichen  Denken  eine  unterscheidbare  Vielheit  nicht 
gibt.  «Die  in  den  philosophischen  Betrachtungen  Uber  den 
Geist  gebräuchlichen  Einteilungen  können  nur  oberflächlich 
richtig  sein.  Instinkt,  Vernunft,  Wahrnehmung,  Vorstellung, 
Gedächtnis,  Einbildung,  Wille  u.  s.  w.  müssen  entweder 
ma  als  konventioneUe  Gruppierungen  dnr  Zusammenhänge 
selbst  oder  als  einielne  Abteilungen  der  Thätigkeiten,  welche 
tm  Hersiellang  der  Zusammenhänge  dienen,  betrachtet 
werden"  (Spencer,  Psychologie  I  S.  404).  In  diesem  Sinne 
ist  unser  Denken  för  uns  eine  Einheit  wie  ein  Baum  mit 
Krone,  Stamm  und  Wurzelwerk  für  uns  eine  Einheit  ist, 
auf  deren  Teile  wir  Avohl  wechsehid  unsere  Aufmerksam- 
keit richten  können ,  deren  Teile  wir  aber  nicht  ablösen 
können,  wenn  sie  noch  Teile  des  Ganzen  bleiben  sollen.  In 
einem  andern  Sinne  dürfen  wir  aber  nicht  von  einer  Ein- 


144 


VI.  Daa  Zablwoi-t. 


heS/k  der  Seele  oder  dae  Bewimlaeuu  redot,  weil  i.  B.  durch 
narkotisclie  Uütel  oder  durch  Krankheit  guue  Qnipp«i  ver» 
niehtet  werden  kOnaeii,  der  individuelle  TrSger  des  Bewnesl- 
eelns  eich  selbet  noch  mit  dem  frohem  Heneehen  identi- 
fiziert, während  der  ohjektive  Zuschauer  ein  anderes  hsk  vor 
sich  sieht  (vergl.  auch  I.  608). 

War  der  Emheitsbegiiff  jedoch  erst  einmal  da,  so 
kennen  wir  uns  recht  gut  ausmalen  wie  geringe  Mehrheiten 
aUmlhlich  mit  einem  Blicke  Übersehen  und  untenchieden 
werden  konnten*  So  hatten  wir  als  Kinder,  hevor  wir  ordent- 
lich zählen  konnten,  die  Dreizahl  im  Gefühl  und  im  OiüF 
und  zählten  unsere  Bohnen  nach  »Würfen'  8),  die  wir 
mit  grosser  IScherheit  zu  fassen  wuseten.  Versetzen  wir 
uns  zu  unserer  Bequemlichkeit  in  irgend  eme  weit  fort- 
geschrittene Urzeit,  in  welcher  ein  Tertoltnismtesig  sehr 
EiTiliaertes  Volk  bereits  bis  4  zählen  konnte. 

Eine  Entdeckung  war  es,  dasa  die  4  auf  zwei  ver- 
schiedene Arten  entstehen  konnte,  indem  man  nlmEch  ent- 
weder drei  Einheiten  zur  ersten  Einheit  hinsufttgte  oder 
indem  man  zwei  Häufchen  zu  je  zwei  zusammenstellte.  Da- 
mit war  das  überaus  wichtige  Zahlenverkältnis  2x2  =  4 
entdeckt.  Hätte  sich  nun  ein  Sprachgenie  gefunden,  welches 
die  Zahl  4  sprachlich  als  2  X  2  ausdrückte,  so  wie  wir  die 
Zahl  20  ^zwanzig*  nennen  das  heisst  2  x  10,  so  wäre  eine 
drollige  Erfindung  gemacht,  so  wäre  der  Zahlenschatz  auf 
ein  hilfloses  Zweiersjstem  zurückgeführt  worden.  Zahlreiche 
Spuren  in  der  Geschichte  der  Zahlworte  weisen  darauf  hin, 
dass  mit  Hilfe  solcher  rechnerischer  Erfindunpren  der  Zahlen- 
schatz sich  überaus  langsam  entwickelt  hat.  Die  1  als  ur- 
älteste Zahl  hat  heute  noch  in  vielen  Sprachen  adjektivi- 
schen Charakter;  die  Gruppe  1  bis  4  deutet  auf  ihre  Ent- 
stehung ohne  System  hin,  weil  sie  vielfach  deklinierbar  war, 
die  Gruppe  1  bis  3  im  Deutschen  noch  vor  kurzei  Zeit; 
verwandten  sprachlichen  Bau  zeigen  dann  wieder  nachein- 
ander die  Gru])pen  l  bis  5,  1  bis  0,  1  bis  10,  1  bis  12, 
1  bis  20,  T  bis  60. 

Gehen  wir  nun  mit  einem  grossen  Sprung  von  einer 


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145 


solchen  grauen  Urzeit  zu  der  des  Pythaßfora^  über.  Die 
raathematisclien  und  j^^i  omotriseheii  EnUieckuagen,  die  nur 
die  Zahlenverhiiltjii^st  brtiafen,  waren  reich  gediehen;  die 
Erfindungen  iuif  dem  Gebiete  des  dekadischen  Systems 
waren  diesen  Entdei  kun^^ni  niclit  gefolgt. 

Nun  werden  wir  scLit»n  besser  begreifen,  wie  die  Philo-  *X«-4 
Sophie  in  ihrer  Kindheit  die  neuentdeckten  geh eimnis vollen 
Zfthlenverliältjiisse  als  weltbauende  Ki  atte  aulliiü.seii  konnte, 
Su  kann  ich  es  mir  recht  gut  vorstellen ,  dass  jenes  Volk, 
das  nur  bis  4  zahlen  konnte,  als  es  das  Verhältnis  2  >c  2  —  4 
entdeckte,  den  graden  Zahlen  2  und  4  eine  höhere  Ver- 
ehrung schenkte  als  der  ungraden  3  und  dass  es  das  Ge- 
heimnis 2  X  2  sss  4  einer  besonderu  ^^chen  Kraft  zu- 
schrieb. Möglicherweise  hat  die  mystiBdie  Vienahl  damals 
aaek  Kmikhdfteii  heilen  mteen.  in  weift  reidierar  imd 
inteFeflsanterer  FoUe  sah  ^äiagoras  nenentdeckfce  maihe- 
matische  und  geometrisohe  YerhSlinlsse  vor  sich.  Diew 
VerhSltnisse  hatten  keine  ErkUning,  sie  mnesten  Uisachen 
ihrer  sdbsli  seht,  und  waren  ne  erst  einmal  ürsaeken  oder 
Krifte,  so  konnte  man  ihnen  auch  andere  Wirkungen  an- 
schreiben. Es  scheint«  dass  f^thagoras  aberglftubische  Vor- 
stellungen Ton  der  Wirkmig  der  kindisch-mjstbchen  Zahlen- 
quadrate  hatte.  Sein  vielbewunderter  Hauptgedanke  aber 
war:  in  der  Flucht  der  Erscheinungswelt  sind  die  Zahlen- 
▼eihiltniese  die  bleibenden  Pole,  es  mllssen  also  die  Zahlen- 
TeihftlftnisBe  die  Ursachen  der  WiiUichkeitswelt  sein.  Und 
weil  er  die  Verhiltniase  mit  den  Zahlen  Terwechselto,  weil 
er  nicht  wusste,  dass  es  in  der  Natur  doch  höchstens  Ver- 
hiltnisse  und  keine  Zahlen  gibt,  darum  machte  er  die  Zahlen 
oder  die  Zahlworte  zu  den  XTisachen  der  WirUidikeit. 
Zahlen  lassen  sich  schwer  mit  irgend  welchen  andern  Er- 
acheinungen  vergleichen.  Und  doch  ist  es  noch  nicht  lange 
her,  dass  auf  dem  Gebiete  df  >  M  tirretismus  und  der  Mddiri- 
cttftt  mehr  Entdeckungen  als  Erfindungen  gemacht  worden 
waren  und  dass  diese  Erscheinungen  darum  zu  Ursachen 
unerklärter  Wirklichkeiten  gemacht  worden  sind.   Auf  die 
Zahlen  angewandt:  Pythagoras  sah  noch  Harmonien  in 
Manbliii«r.  B«ltrtge  sa  einer  Krttik  der  Spraolie.  m.  10 


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146 


VI.  Dm  Zahlwort 


Zahlenverhäitnissen ,  die  nur  Korrelate  des  Systems  sind. 
Für  uns  nm  die  Frage  bedeutungsvoll,  ob  die  Zahlen- 
verkältnis^'.  olmp  System,  oh  die  Verhältnisse,  die  sich  aus 
dem  blossen  Abzählen  <it  r  Einheiten  ergeben,  wirklich  sind 
oder  nicht?  Oh  der  (il  Alenibei-t,  Disc.  prel  ),  der  sagt 
2  -|-  2  =  4,  irgend  et^vas  mehr  weiss  als  der,  der  sich  be- 
gnügt zu  saj^en  2  -f  2  ist  2  -f-  2?  Ob  nicht  rix  usu  die 
geometrischen  Axiome  nur  verschiedene  Standpunkte  zu  einer 
und  der^t'iben  Vorstellung  sind?  D'Alenibtrt  fugt  hinzu  (und 
Goethe  hat  sich  das  Wort  zu  eigen  gemacht):  Nous  devons. 
comme  Tont  ubservt^  quelquti.  Philosophes,  bien  des  erreurs 
ä  Tabus  des  mots;  c'est  peut  6tre  ä  ce  m^me  abus  que  nous 
devons  les  axiomes. 
Z*W«i  Bei  keinem  Kedet«il  scheint  es  so  einleuchtend  wie 
wirlüicb.  ^^^^  Zahlwort,  dass  die  sprachliche  Bezeichnung  der  Wirk- 
lichkeitswelt entspreche.  Je  mehr  die  moderne  Naturwissen- 
schaft mathematisch  geworden  ist,  je  mehr  sie  Siimesem- 
drUeke  wie  Tone  und  Farben,  je  mehr  sie  ehemiscfae  Er- 
sdieinungen  auf  ZahlenTerhiltnisse  nirttckfÜhrt,  desto  mehr 
will  es  Schemen,  ab  ob  die  Lehre  des  alten  Pythagoraa 
wieder  zu  Ehren  hommen  solle,  dass  nSmlich  die  Harmonie 
des  Weltalls  wie  die  der  Musik  auf  ZahlenTerhXUaiisse  ge- 
grQndet  sei.  Wie  aber  wenn  «Zahlen*  an  sich  schon  Ver- 
hältnisse wiren,  das  Wort  ZahleuTerhlltnis  also  ein  Über^ 
flnssiger  PleonasmusP  Dann  wOrde  die  Ansicht  der  alten 
und  der  neuen  Pythagoreer  nur  noch  deutlidier  lum  Aus- 
druck kommen:  dass  nftmlieh  das  innerste  Wesen  der  Welt 
aus  Zahloi  bestehe,  dass  —  modern  ausgedruckt  —  das 
Ding-an-sich  die  Zahl  sei.  Ich  weiss  nicht  ob  diese  Hypo- 
these schon  einmal  mit  so  dOrren  Worten  ausgesprochen  wor- 
den ist,  aber  sie  liegt  unserer  Physik  und  Cbemie  an  Chrunde. 

Dem  gegenüber  machte  ich  die  Frage  aufwerfen,  ob 
es  für  uns  ttberhaupt  Torstellbar  sei,  Zahlen  in  den  Dingen 
selbst  anzunehmen,  Zahlen  anderswo  ansunehmen  als  in 
unserem  Menschenkopf?  Wenn  in  meinem  Oarten  zehn  Birn- 
bäume stehen,  so  firage  ich:  Wo  in  aller  Welt  kann  die 
Zahl  zehn  stecken  als  in  meinem  Kopfe?  Ich  meine  damit 


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147 


nicht  bloss,  dass  die  Birnbäume  von  ihrer  Zahl  nichts  wissen, 
sondern  dass  die  Zahl  mit  ihrer  Existenz,  mit  den  Ursachen 
und  den  Folgen  ihrer  Existenz  nie  und  nimmer  etwas  zu 
Schäften  haben  kann.  Wenn  zehn  Birnhäunie  mehr  Nahrung 
aus  dem  Boden  saugen  und  mohr  Früchte  tragen  als  fünf 
Birnbäume,  so  ist  dieses  Verhältnis  nur  in  meinem  Ko})fe 
vorhanden;  in  der  Wirklichkeitswelt  gibt  es  diu*  den  Stofi- 
wechsel  und  die  Fruchtbildung.  Die  Zehnzahl  ist  nicht  in 
den  Birnbäumen,  nicht  in  einem  einzigen  und  nicht  in  allen. 
Sie  ist  ein  Verhältnis,  durch  welches  ich  memen  Schaden 
oder  Nutzen  bequemer  übersehen  kann. 

Aber  auch  in  der  Physik  und  Chemie,  wo  die  Zahlen 
eine  ganz  andere  wissenschaftliche  Bedeutung  haben,  scheint 
mir  der  Gedanke  nicht  vorstellbar  zu  sein,  dass  die  Zahlen 
wirklich  wären.  Wenn  eine  bestimmte  Anzahl  von  Schwin- 
gungen einen  bestimmten  Ton  oder  eine  bestimmte  Farbe 
erzeugt,  so  ist  wohl  das  Verhältnis  der  Schwingungen  vor- 
handen, das  Verhältnis  zur  Zeit,  aber  nicht  ihre  Zahl.  Genau 
so  wie  eine  grössere  Anzahl  von  Birnbäumen  einen  anderen 
Erfolg  hat  als  eine  geringere,  hat  aucli  eine  grössere  Zahl 
TOD  Schwingungen  einen  anderen  Erfolg  als  eine  geringere. 
Und  das  viel  regefanftssiger.  Aber  die  Regelmässigkeit  be- 
weist nichts  ftlr  die  Wirklichkeit  der  Zahlen;  wäre  der 
Pflanzenwuchs  so  einfadi  wie  die  Schwingungen  einer  Saite, 
bSten  Sonne,  Feuchtigkeit,  Wind,  Insekten  u.  s.  w.  nicht 
tansend  Komplikationen,  auch  der  Erfolg  der  Birnbäume 
wäre  regebnissig  nach  ihrer  Zahl,  nnd  die  Zahl  wäre  danim 
dennoch  nicht  wirUieh.  Eboiso  scheint  mir  dttr  Gedanke 
nnTorsteUbar,  dass  die  Zahlen  wirklich  seien,  in  deren  Yer- 
häUttis  sich  die  Atome  zu  Molekfllen  vereinigen  sollen.  Die 
Begelmissigkeit  mag  noch  genauer  sein  als  in  der  Optik 
und  Akustik;  die  Wirklichkeit  ist  damit  nicht  bewiesen. 
Hag  die  Anordnung  von  sechs  Atomen  za  gewissen  Mole- 
kOlen  so  notwendig  sein,  wie  die  Stellungen  nnd  Bewegungen 
von  acht  Personen  au  gewissen  Tänzen,  so  ist  die  Sechs- 
zahl der  Atome  darum  so  wenig  in  der  Wirklichkeit  wie 
die  Achtzahl  der  Tänzer.   Beim  Tanxe  wird  man  es  mir 


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148 


VI.  Dm  Zahlwort 


zugeben.  Die  Achtzahl  isi  weder  in  einem  der  Tänzer  noch 
in  ihnen  allen,  noch  im  Tanze,  noch  im  Tanzsaal,  sondern 
einzig  und  allein  in  den  Köpfen.  So  ist  die  Sechszahl  der 
Atome  weder  in  einem  von  ihnen,  noch  im  Molekül,  noch 
im  Räume,  noch  in  der  Zeit,  sondern  nur  im  Kopfe  des 
Chemikers,  der  sich  seine  Sechszahl  übrij^ens  auch  thatsäch- 
li('h  nicht  vorstellen  kann.  Das  chemische  Kekul^sche  Sechs- 
eck ist  eingcstandenerniassen  eine  bildliche  Ausdnu'ksweise 
für  eine  unvorstellbare  Wirklichkeit,  eine  Meta|>her.  Man 
hat  sich  in  der  Physik  nur  noch  nicht  darauf  besonnen,  dass 
auch  die  Zahlen  der  Schwingungen  Metaphern  sein  mögen 
für  einen  Vorgang,  den  wir  niclit  beschreiben  können. 

"Wir  wissen  von  der  Wirkiichk  if  nur,  dass  in  ihr  neben 
andern  Verhältnissen  auch  Einheitsverhaltnisse  bestehen.  Die 
einzig  wirklichen  Verhältnisse  waren  vor  den  Zahlen  da. 
mit  deren  Hilfe  wir  sie  messen,  wie  die  VerliUltnisse  noch 
nicht  gemessener  Räume  doch  schon  da  smd.  Es  gibt 
auf  der  Welt  eben  so  viele  Schafsköpfe  wie  SchafsherTien ; 
und  auf  jeden  Schafskopf  kommen  vier  SchafsfUsse.  Dieses 
letztere  Verhältnis  ist  aber  nicht  mehr  ganz  der  Natur 
entsprechend  ausgedrückt;  die  Natur  kann  nicht  zählen, 
nicht  bis  zu  Tier.  Die  Natur  kennt  nnr  die  „Einheit" 
nnd  darum  ini  sie  sich  nie.  Sie  liefert  zu  jedem  Schafe- 
heraen  den  nötigen  Schafskopf  und  nur  darum  Hefert  sie 
▼on  beiden  die  gleiche  Zahl»  Aber  sie  weiss  nidit  wie  viele 
Schafskopfe  und  Schaftheraen  es  gibt.  Sie  weiss  es  nicht 
nur  nicht,  die  Anzahl  ist  auch  in  der  Natur  nicht  vorhanden, 
auch  nicht  einmal  stillschweigend,  nicht  einmal  unbewusst 
Es  gibt  keine  Zahl  ausser  im  Henachenkopfe.  ünd  auch 
da  ist  die  Zahl  erst  durch  die  Sprache  entotanden.  Denn 
minder  entwickelte  Volker  kennen  ebenfalls  nur  Einheits- 
Terhftltnisse,  nicht  aber  Zahlen.  Es  gibt  «wilde*  YOlker- 
schaften,  bei  denen  man  z.  B.  die  Zahl  der  drohenden  Feinde 
noch  in  natOrlicher  Weise  angibt  Da  diese  Leute  nicht 
zählen  gelernt  haben  und  die  sie  interessierende  Gefahr 
dennoch  im  Verhältnis  steht  zu  der  Anzahl  der  Feinde,  so 
verständigen  sie  sidi  mit  ihren  Bundesgenossen,  wie  die 


Zahlen  iiowirklich. 


149 


Natur  es  macht,  wenn  eie  hundert  Schafen  hundert  Köpfe 
SU  geben  hat  Sie  giht  jedem  den  aeinigeii.  tfnd  sie  kann 
sich  nicht  inen,  weü  sie  eben  keine  Zahl  kennt»  Hat  also 
unsere  wilde  Völkerschaft  die  Feinde  erschlagen,  so  schickt 
sie  s.  B.  ihre  abgehauenen  Köpfe  oder  rechten  Hände  oder 
ihre  Nasen  an  ihre  Freunde  und  wenn  der  Feinde  siebaehn 
waren,  so  werden  siebzehn  Köpfe  oder  H&nde  oder  Nasen 
eintreffen.  Weder  die  Sieger  noch  ihre  Freunde  werden  Uber 
das  Yerhältnis  im  Zweifel  sein,  obwohl  sie  für  die  Zahl  sieb- 
zehn keine  Ziffer  und  kein  Wort  haben.  Genau  so  wie  die 
Zahl  siebzehn  auch  bei  den  Feinden  nicht  wirklich  war.  Und 
vor  dem  Kampfe  werden  die  Angegriffenen  siebaehn  Steineben 
oder  Muscheln  an  ihre  Freunde  schicken,  wenn  sie  Hilfe  be- 
dürfen.   Auf  jeden  Feind  ein  Steinchen  oder  eine  Muschel. 

Wenn  ich  nun  wie  den  andern  Kedeteüen  auch  dem 
Zahlworte  die  Bedeutung  abspreche,  ein  sprachlicher  Aus- 
druck fOr  Kategorien  der  Wirklichkeit  ku  sein,  so  kann  man 
mir  auf  Grund  dieser  meiner  Darstellung  entgegenhalten: 
Die  Zahl  müsse  durchaus  genau  der  Wirklichkeit  entsprechen, 
wenn  sie  auch  nur  das  Verhältnis  der  Einheiten  (wie  bei 
den  Schafsköpfen  und  Schafsherzen)  zur  Grundlage  habe; 
denn  c«?  k:ime  ja  doch  nur  in  den  Zahlworten  unserer  Sprache 
zu  unserem  Bewusstsein,  was  in  der  Natur  uubewusst  aber 
wirklich  sei,  wie  die  Zahl  cU-r  Biinbiiunic  in  meinem  Garten. 
Diesem  naheliegenden  Einwand  sollte  aber  schon  vorhin 
entgegengetreten  werden  mit  den  Worten,  es  bandle  sich 
nicht  bloss  darum,  dass  div  Birnbäume  selbst  ihre  Zahl 
nicht  wissen.  Wieder  sind  wir  bei  dem  Punkte  angekommen, 
wo  die  Darstellung  unseres  Gedankens  an  den  Grenzen  der 
Sprache  sclieitert.  Weil  wir  die  Wirkung  einer  Kraft  nicht 
anders  als  durch  Zahlen  ausdrücken  können,  darum  verlegen 
wir  die  Zahl  auch  noch  in  die  unbewussten  Dinge  hinein. 
Wir  sagen:  Gut,  das  Bewusstsein  der  Zehnzahl  der  Birn- 
bäume mag  allein  in  meinem  Kopfe  sein;  aber  was  dieser 
Zehnziiiil  in  der  Wirklichkeit  entspricht,  das  ist  auch  in  der 
Natur,  ihr  unbewusst,  dieselbe  Anzahl.  Nein,  antworteich; 
schon  der  uubestimmte  Begriff  Anzahl  ist  sprachlicher  Art. 


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150 


VI.  Das  Zahlwort. 


raet»- 


Die  Natur  sShlt  weder  bewusst  noch  unbewusfli.  Nur  soviel 
kann  lugestanden  werden,  dass  das  terfcium  comparatioius 
iwiechen  der  Zahlenmetapher  und  den  Eiiften  der  Wirk- 
liebkeit,  dass  der  Yergleicbungspunki  zwischen  beiden,  den 
wir  nicht  kennen,  besser  gewählt  ist  als  z.  B.  der  Ver- 
gleichnngspunkt  zwischen  dem  Bedeteil  SubstantiT  und  der 
Wirklichkeitskategorie  des  Dings.  Wir  kommen  za  dieser 
Vermutung,  weü  die  matiiematischen  Operationen  mit  Zahlen 
nicht  so  leidit  zur  Sinnlosigkeit  fuhren  wie  die  logischen 
Operationen  mit  anderen  Bedeteilen.  Was  freilich  daher 
kommen  kann,  dass  andere  Worte  schlechte  Bilder  der 
Wirklichkeitserinnerungen  sind,  Zahlworte  aber  ganz  un- 
wirklich, einzig  und  allein  gute  Bilder  ihrer  selbst.  Aber 
die  Geschichte  der  Zahlwörter  wird  uns  doch  auf  einige 
Störungen  in  der  Metapher  dieses  Bedeteils  aufmerksam 
machen. 

zahlen  Vor  allem  dürfen  wir  nicht  rogessen,  dass  unsere  Zahl- 
wörter höchst  wahrscheinlich  genau  so  entstanden  sind,  wie 
die  Wilden  ihre  Feinde  zählten,  wie  der  Wirt  die  Zahl  der 
getrunkenen  Seidel  mit  Strichen  ankreidet,  wie  auf  Würfeln 

und  Spielkarten  die  ZifPern  durch  die  Anzahl  der  Zeichen 
oder  Punkte  angetreben  werden.  Freilich  zählt  der  Karten- 
spieler nicht  ab,  ob  die  Karte  in  seiner  Hand  acht  oder 
zehn  Herzen  zeigt.  Die  Gewohnheit  hat  seinen  Blick  dazu 
gebracht,  ilas  Bild  des  Achters  oder  des  Zehners  sofort  zu 
erkennen,  als  ob  es  eine  ZiftVr  wäre.  Die  Anordnung  ist 
ein  Bild,  ist  Schriftsprache.  Ebenso  sind  auch  unsere  Zahl- 
wörter Bilder,  die  wir  uns  anzuwenden  durch  Jahrtausende 
so  gewöhnt  haben,  dass  wir  zu  zählen  glauben.  In  Wirk- 
lichkeit aber  steckt  hinter  ihnen  ein'  Vergleichen  der  Ein- 
heiten, nicht  ein  Zählen. 

Ein  Reisender  berichtet,  wie  die  Grönländer  das  Ver- 
ständnis für  ihre  Zahlwörter  dadurch  erleichtern,  dass  sie 
Hände  und  Füsse  zu  Hilfe  nehmen.  Die  Hände  haben  zwei- 
mal fünf  Finger,  die  Füsse  eben  so  viele  Zehen,  ein  .ganzer 
Mensch"  gelangt  also  mit  seinen  vier  Extremitäten  bis  zum 
Bilde  für  zwanzig  Einheiten.    Nun  zeigen  die  Grönländer 


Ly  Google 


Zahlen  metaphorisch. 


151 


htim  Spnclwii  Fingtr  and  Zelten  tot,  von  denen  jeder  and 
jede  iliren  bestimmten  Nunen  hat  and  einem  Zablworte 
entepiidit.   Was  Uber  swansig  ist,  sdieint  ilmen  one  on- 
Uare  hohe  Zi£Eer  ni  sein.  Aber  hundert  kdnnen  sie  durch 
das  Bild  »lllnf  Menschen*  anadrttcken.  Was  bei  den  QrSn- 
lindem  wie  ünknltar  erscheint,  das  findet  sich  auch  in  der 
jungem  Po^e  der  bider.   Es  gibt  da  Lehrgedichte  aus 
dem  &.  Jahrhundert  nach  Christi,  in  denen  symbolische  Zahl- 
worte gebraucht  werden.  Es  thut  nichts,  dass  die  Symbole 
auf  falschen  Beobachtungen  beruhen.    Uebersetze  ich  die 
Beispiele  in  unser  Denken,  so  würde  die  Zahl  4  auch  „Mond" 
heissen  können,  weil  er  vier  verschiedene  Phasen  zeigt,  die 
Zahl  5  .Apfeiblfite',  weil  sie  ftlnf  Blätter  enth'alt  u.  s.  w. 
Es  kann  kaum  einem  Zweifel  unterliegen,  dass  die  niedersten 
Zahlnamen  auf  dies^em  Wege  entstunden  sind.    In  wie  alte 
Zeiten  diese  Sprachschöpfung  zurückreicht,  ob  die  Aehn- 
lichkeit  der  niedersten  Zahlwörter  (bei  tausend,  mille,  x^^^^ 
hört  die  Aehnlichkeit  bekanntlich  auf)  auf  sogenannter 
Verwandtschaft  oder  Entlehnung  beruht,  dartlber  wurde 
schon  gesprochen.     Wir  können  nur  annehmen,   dass  in 
vorhistorischer  Zeit  bereits  die  Bedeutung  dieser  Worte  sich 
differenzierte,  dass  z.  B.  „Hand''  (mit  oder  ohne  Lautwandel) 
insbesondere  fünf  hiess  und  so  der  neue  Kedeteil,  das  Zahl- 
wort, entstand.    Ich  wiederhole  aber,  dass  damit  die  Zahl 
für  die  Wirklichkeit  nicht  bewiesen  i^i,  dass  wir  nicht  zu 
glauben  brauchen,  es  habe  in  jener  Zeit  den  Menschen  der 
Zahlbegriif  a  jiriori  vorgeschwebt.     Bilden  wir  uns  doch 
auch  ein,  dass  unsern  Kategorien  des  Substantivs  und  des 
Verbums  je  eine  Kategorie  der  Wirklichkeit  entspreche. 
Sicherlich  haben  schon  (ielehrte  der  vorhistorischen  Zeit,  Ge- 
lehrte, deren  Kenntnisse  wohl  unter  denen  unserer  zehu- 
jabrigtn  Dorfiimgen  waren,  Ordnung  gebracht  in  das  Ein- 
heitsverhiiltuis  zwischen  den  Zahlworten  und  den  Dingen.  Es 
waren  sicherlich  vorhistorische  Gelehrte,  die  die  Grundlage 
schufen  für  unser  dekadisches  System.   Aber  die  Bilder  der 
Zahlen  von  1  bis  20  mögen  sie  schon  vorgefunden  haben. 
Als  eine  Kuriosität  füge  ich  hinzu,  dass  diese  metaphorische 


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152 


Tl.  Dm  Zablwovi 


Grundlage  des  dekadisehen  Systeiiis  ncli  etwis  Torindett 
auch  aonsfc  Torfindoi  So  erwihnt  Stenley  -der  Negier-' 
sprachen  f  welche  anstatt  Yon  zwei  Händen  bkws  von  emer 
Hand  ausgehen,  das  heisst  ein  FUnfersystem  besitzen.  Sie 

zählen  demnach  von  eins  bis  ftlnf,  wie  wir  von  eins  bis  zehn 
und  bezeichnen  acht,  neun  wie  wir  dreizehn»  vierzehn.  In 
einer  dieser  Sprachen  heisst  z.  B.  1  ben,  2  yar,  5  gurum; 
6  heisst  also  gurum  ben,  7  gurum  yar  u.  s.  w.  Aehnlich 
hatten  die  Azteken,  die  .Ureinwohner*  Mexikos,  ein  schön 
ausgebildetes  Zwanzigersystem.    93  wurde  ausgesprochen 
4  X  20  -j-  13.   Das  quatre-vingt-treize  der  Franzosen  ent- 
spricht genau  diesem  aztekischen  Ausdruck ;  und  die  Grund- 
zahl 20  entspricht  der  Psychologie  der  Grönländer,  denen 
,ein  ganzer  Mensch"  mit  zwei  Händen  und  zwei  Füssen  eine 
Metapher  für  20  ist.    In  die  Psychologie  jedoch  der  Neu- 
seelander, welche  11  zur  Grundzahl  haben  un(-I  in  die  eines 
südainpriknTiischeu  Indianprstammes,  welcher  die  2  zur  Gnmd- 
zahl  mmmt  li^l,  können  wir  uns  freilich  nicht  mehr  kinein- 
leiiken.    Für  die  Verschiedenheit  der  Zahlensysteme  einer- 
ücits  und  der  —  ich  möchte  sagen  —  syntaktischen  Zahlen- 
hezeichnun^T  anderseits,  ist  die  folgende  Tabelle,  die  ich 
f'inpr  Studie  von  Hermann  Schubert  entnehme,  sehr  be- 
lehrend.   Es  wird  z.  B.  die  Zahl  18  auf  mindestens  zehn 
verschiedene  Arten  gebildet 

Deutseh  ' .   .   .       8,10  (achtzehn) 
Französisch  .   .        10,8  (dix-huit) 

Lateinisch    .    .  10-4-  8  (decem  et  octo) 

oder    .   .  20  —  2  (duodeTiginti) 
Griechisch    ,    .  8+10 

Bretonisch  .  .  3x6 
Wallisisch    .    .  2x9 

Aztekisch     .    .  15  -f"  3 

Neuseeländisch  .  11  -f-  ^ 

Aphö  ....  12  H-  6. 

Diese  Tabelle  betrifft  nur  den  sprachlichen  Ausdruck  und 
beweist  darum  an  sich  nichts  fttr  meine  Behauptung,  dass 


Hei'hnea  eine  Gründung. 


163 


wir  die  Dinge  in  tiefem  Grunde  unse»  Gehirne  niehi  zSUen, 
sondern  nnr  Bilder  der  EinheitByerli&Waniiwe  Toretellen.  Wenn 
wir  aber  erwSgen,  dase  die  dabei  Torgenommenen  mathe- 
matiseben  Operationen  des  Addierens,  Subtrahierens  nnd 
Mnltiplirierens  niebt  eigentlioh  ans  der  Nalnr  genommen, 
sondern  nnr  uns  zur  zweiten  Gewohnheit  gewordene  Ab- 
ktlnangen  und  Bequemliehkeiten  der  üebersicht  sind,  dass 
diese  mathematischen  GrundbegiüFe  Uetaphem  sind  fttr  ganz 
andere  Yoigiage,  so  werden  wir  uns  vieUeieht  etwas  leiditer 
mit  dem  Oedanken  vertraut  machen  kennen,  dass  auch  die 
Gnmdsahlen  5,  10  und  20  die  Dinge  nicht  gezählt  haben, 
sondern  in  den  Metaphern  Hand,  Finger,  Mensch  höchst 
primitive  Mitteilungen  enthalten,  wie  sii  in  h  einem  noch 
nicht  füllenden  Volke  zuzutrauen  sind.  Die  Thatsuclie,  da^ 
diesen  Bildern  irgend  etwas  entspricht,  ist  sehr  erfreulich 
und  bequem  für  uns.  Warum  wir  aber  mit  Hilfe  dieser 
Zahlen  und  Zifiera  recHnen  künnen^  das  wissen  wir  noch 
weniger  wie  den  Grund  mancher  Ueberraschungen  in  den 
mystischen  Zahlenquadraten  und  ähnlichen  Spielereien. 

Sodann:  gäbe  es  in  der  Wirklichkeit  dieselbe  Kategorie  Rechnen 
der  Zahl  wie  in  unserer  Sprache,  so  miisste  unsere  Rechen- 
methode,  weil  sie  ein  Geheimnis  der  Wirklichkeitswolt  ent- 
litiUt  hätte,  eine  Entdeckung  heissen.  Instinktiv  spredton 
wir  nber  da  von  einer  Erfindung.  Die  Bezeichnung  Er- 
findung gilt  aber  nicht  allein  etwa  unserem  dekadischen 
Zahlensystem;  man  darf  also  nicht  glauben,  dass  das  zu- 
fälhge  System  allein  eine  Erfindung  wäre ,  die  Rechnung 
aber  eine  Entdeckung.  Auch  die  Algebra,  die  zu  jedem 
Zahlensystem  pa.ssi,  ist  niii-  « itie  Erfindung  und  keine  Enfc- 
(ieckung.  Es  wird  in  diesem  Zusammenhange  auch  nicht 
mehr  schwer  fallen  einzusehen,  dass  auch  die  übrigen  llede- 
teile  unserer  Sprache  Erfindungen  sind,  Erfindungen  in  jedem 
Sinne  des  Worts.  Wenn  die  alte  Kategorientafel,  die  sich 
seit  Aristoteles  bis  auf  unsere  Tage  weiter  geschleppt  hat, 
eine  tiefere  Bedeutung  hätte,  su  müsste  man  die  ihr  ent- 
sprechenden Redeteile  ebenfalls  Entdeckungen  der  Menschen 
nennen,  was  fUr  mein  Sprachgefühl  etwas  unsäglich  Lächer- 


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154 


VI.  Du  Zahlwort 


liches  hätte.  Die  ramisehe  Schreibart  der  Zahlen,  die  ähn- 
lich wie  bei  den  Chinesen  (ebenso  wenig  konsequent)  auf 
der  Addition  der  Zahlenseichen  beruhte,  war  schon  eine 
hübsche  Erfindung.  Eine  Terbeaserung  der  Erfindung  war 

es,  als  auf  den  Rechenbrettern  der  Griechen  und  Römer 
(ubacus)  der  Stellenwert  für  die  einzelnen  Ziffern  die  Ad- 
dition erleichterte.  Es  gibt  heute  noch  slavische  V<}lker, 
die  das  Rechenbrett  bendtsen.  Eine  neue  Yerbesaerung  der 
Erfindung,  eine  epochemachende  Verbesserung  war  es,  als 
die  Inder  vor  anderthalb  Jahrtausenden  die  Null  erfanden, 
die  sie  recht  geistreich  tadphra  nannten,  »das  Leere".  (Das 
Wort  kam  Über  Arabien  zu  uns  und  verwandelte  sich  da  und 
dort  in  zero,  Ziffer  und  chiffre.)  Es  war  damit  die  Rechen- 
kunst sehr  vereinfacht  und  als  im  13.  Jahrhundert  die  mit  der 
NuU  bewaffneten  Algorithmiker,  die  SchUler  der  Araber,  über 
die  Abacisten,  die  Schüler  der  Römer,  siegten,  war  unsere 
gegenwärtige  Rechenkunst  erfunden ,  wie  etwa  die  Dampf- 
maschine durch  den  antoniatischen  Heguhitor  fertig  erfunden 
war.  So  ist  alles  Ei-ündung,  was  den  Gebrauch  der  Grund- 
zahlen bequem  gemacht  hat.  So  wenig  Logarithmen  irgendwo 
in  der  Wirklichkeitswelt  exi.stieren,  und  so  wenig  ihre  Er- 
findung eine  Entdeckung  war,  so  wenig  rechnet  die  Natur. 
Und  die  Gruudswihlen  sind  Gruppenbilder  von  Einheitsver- 
hältnissen. Die  Zahlen  smd  Bilder  von  Verhältnissen,  aber 
nicht  so  wie  Begriffe  Bilder  von  andern  verglichenen  Vor- 
stellungen sind.  Zahlen  sind  keine  Begriöe  (I.  S.  189  f.j. 
Zahlen  sind  unmittelbare  Zeichen  (abgesehen  davon,  ob  sich 
die  arabischen  Ziffern  1 — 5  wirklich  aus  1 — 5  Strichen  er- 
klären Hessen  oder  nicht);  sie  sind  unmittelbare  iSchrift- 
sprache.  Wir  lesen  sie,  wie  der  Chinese  seine  Schrift;  wir 
lesen  die  Ziffern,  die  grösseren  gewiss,  in  einem  französi- 
schen Buche  deutsch. 


SSaM,  Für  das  hohe  Alter  unserer  Grundzahlwörter  spricht 

^  il^d'"  Begriffsworte,  das  heisst  als  konkrete 

Nouea.  Metaphern  wie  Hand,  Fuss  u.  s.  w.  nicht  mehr  nachweisen 


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Zahl,  Verbum  and  Nomen. 


155 


küiiLieii,  so  wenig  wir  mit  Sicherheit  die  unregelmässigen 
Zahlwörter  Schock,  Mandel,  Stiege  und  dergleichen  etymo- 
logisch bestimmen  l^imeii.  Es  ii^  aber  wohl  mdglieh  eine 
Urzeit  sich  Tonostelkii,  in  welcher  ein  zahleneifindendes 
Volk  es  bis  SU  8  gebracht  bitte,  ab«r  darüber  noch  nicht 
heranagekonunen  war,  oder  gar  nur  bis  zn  2,  so  dass  die 
3  bereits  die  allgemeine  Hehrzalil  war,  wie  fUr  den  OrOn- 
linder  das,  was  Uber  20  ist.  Denn  bitten  wir  uns  in  jene 
Zelt  die  Entstehung  der  Anzshlbeaeichnung  unserer  Sub- 
stantiTe  und  Yerben  zu  denken.  Es  schdnt  sich  noch  nie- 
mand darüber  gewundert  zu  haben,  dass  diese  sonst  so 
durchaus  Terschiedenen  Redeteile  beide  die  Zahl  bezeichnen 
können,  was  doch  nach  unserer  Psychologie  nur  dem  Sub- 
stantiT  natürlich  ist  Wie  aber,  wenn  in  jener  ürzeit  Sub- 
stantiv und  Verbum  noch  gar  nicht  geschieden  war,  dagegen 
aber  bei  jedem  Ding  und  bei  jeder  Handlung  von  Wichtig- 
keit schon,  ob  Ding  oder  Handlung  einmal,  zweimal  oder 
▼ielonal  das  hdsst  dreimal  da  war?  Wie  wenn  in  allen 
aolchen  FSllen  der  Singular,  Dual  oder  Plural  bezeichnet 
worden  wäre  imd  durch  Analogie  diese  Formen  auf  alle 
Substantive  und  Verben  abertragen  worden  wären?  Wie 
nun  gai%  wenn  die  Menschen  jener  Urzeit  bei  dieser  primi- 
tiven Vergleichung  der  Einheitsrerhältnisse  so  wenig  an  dn 
Zählen  gedacht  hätten,  dass  sie  das  Verhältnis  dieser  drei 
Zahlen  fUr  das  pronominale  Verhältnis  hielten  und  1  mit 
ich,  2  mit  du  (dva),  8  mit  er  gleichgesetzt  hatten?  Worauf 
gleich  zurückzukommen. 

Wenn  dieser  Oedanke  nur  einen  Schimmer  von  Aehn- 
lichkeit  mit  der  Wahrheit  in  sich  hat,  so  muss  er  uns 
lehren:  dass  der  Zahlbegriff  den  Menschen  nicht  immer 
eigen  war,  dass  ausserordentlich  grosse  Zeiträume  vergingen, 
bevor  der  Mensch  auch  nur  die  niedersten  Gruppen  der  Ein- 
heit vergleichen  lernte,  dass  also  vielleicht  nur  die  ererbte 
Gewohnheit,  mit  diesem  Redeteil,  dnn  Zahlwörtern,  zu  ope- 
rieren, uns  dazu  verleitet,  die  iiategorie  der  Zahl  in  die 
Wirklichkeit  selbst  hineinzudenken.  Ich  füge  die  kleine  Be- 
merkuug  hinzu,  dass  die  sogenannten  unbestimmten  Zahl- 


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156 


VI.  Dm  Zahlwort 


Der  Dif- 


wörter  mit  den  imbcstimmten  Fflrwörtern  (z.  B.  etwas  im 
■djekÜTischeii  Gebrauch)  nocb  heute  lUBammenfliessen* 


Wollen  wir  den  Zahlenaberglauben  des  Pythagoras  mit 


'Si^ff!  neuesten  mathematischen  Abeiglauben  TSigleichen  und 
uns  damit  unserer  eigentlichen  Fraget  was  die  Zahl  sei, 
nlhem,  so  mttssen  wir  auf  diejenige  Erfindung  eingehen, 
durch  welche  das  gegenwärtige  Rechnen  sich  grundsitalich 
von  dem  Rechnen  aller  früheren  Zeiten  unterscheidet,  auf 
die  Differential*  und  Integralrechnung,  die  keine  Entdeckung 
ist,  sondern  nur  eine  Erfindung,  die  mir  aber  den  Beweis 
zu  liefern  scheint,  dass  wir  für  die  Naturbetracfatung  die 
Zahlen,  die  in  der  Natur  nicht  sind,  nicht  einmal  als  Krücken 
brauchen.  Ich  bin  mir  der  gefährlichen  Vermessenheit  wohl 
bewusst,  mit  welcher  ich  ohne  rechte  Erf abrang  im  Dif- 
ferenzieren auf  allgemeine  Kenntnisse  hin  den  Begriff  sprach- 
lich untersuchen  vrill;  aber  gerade  die  Mathematiker  haben 
den  Begriff,  den  sie  doch  erfunden  haben,  erkenntnistheo- 
retisch wenig  gefördert  und  vielleicht  übersieht  derjenige  eine 
Landkarte  besser,  der  sie  sich  selbst  för  seine  Zwecke  ver- 
einfacht hat.  Wie  zur  Philosophie  Piatons  niemand  ohne 
einige  Kenntnisse  der  Geometrie  zugelassen  werden  sollte, 
so  verlangt  die  Erkenntniskritik  einige  Vorstellungen  von 
der  hohem  Analyse.  Wer  sich  der  jedoch  ganz  gewidiuet 
hat,  pflegt  für  erkenntniskritische  Fragen  keine  Zeit  übrig 
zu  haben  und  den  Differentialbegriff  als  ein  imerkiarhehes 
Geschenk  des  Himmels  zu  betrachten,  als  ein  (ieheinmis  der 
Natur,  wie  man  sonst  die  Zahlen  ansah. 

Ich  habe  vorhin  gesagt,  nach  unserm  Sprachgebrauch 
seien  die  Grössenverhältiiisse  der  Wirklichkeit  durch  Ent- 
deckungen zu  erfahren,  die  Zahlen  jedoch,  durch  welche 
diese  Verhältnisse  bestimmt  werden,  durch  Erfindungen  zu 
messen.  Wie  sehr  unser  Rechnen  mit  dem  dekadischeu 
System  eine  Erfindung  sei,  erhellt  vielleicht  deutlich  bis  zur 
Lustigkeit  aus  der  Art  wie  (nach  Pott)  irgend  ein  wilder 
Volksstamm  drei  Menschen  zu  einer  lebendigen  Eechen- 


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DübranüallMgriir. 


157 


nascliine  n^g  bat,  wean  mehr  als  hundert  H&ute  gezählt 
werden  sollen.  «Einer  zählt  dann  an  den  Fingern  die  Ein- 
heiten, indem  er  von  der  linken  Hand  mit  dem  klein«! 
Finger  beginnt  und  reihenweise  an  den  Händen  die  Finger 
einen  nach  dem  andern  streckt.  Der  zweite  Mann  beginnt 
ebenfalls  mit  äem  kleinen  Finger  an  der  linken  Hand  der 
Reihe  nach  durch  Ausstrecken  der  Finger  die  Zehner  bis 
zum  letzten  Finger  der  rechten  Hand,  das  ist  bis  zum  kleinen 
Finger  zu  zählen.  Der  dritte  Mann  hat  die  Aufgabe  durch 
Streckung  der  Finger  die  vollendeten  Hunderter  anzudeuten." 

Se  uon  e  vero,  e  molto  ben  trovato.  Stellte  man 
den  ersten  Mann,  den  Einer-Mann  rechts  auf,  den  z'^veit'^n, 
den  Zehner-Mann  links  iiri)oa  den  ersten  und  den  dritten, 
den  Hunderter-Mann  wiedri  emen  Schritt  weiter  nach  links, 
so  besass  mnn  eine  Erliiiiiunir,  die  ziVmliclx  (?enau  der 
Hechenmaschiue  der  Roms  i-.  iil itMh[iu] it  jedem  lu'diueu  vor 
Erfindung  der  Null  entsprach.  I)ie  Erfindung  des  Rech- 
nens mit  dem  dekadischen  System  ist  bedeutend  ver- 
bessert worden;  schon  das  ßechnen  mit  Logarithmen  wäre 
durch  eine  lebendige  Rechenmaschine  nur  schwer  darzu- 
stellen und  vollends  die  Differentialrechnung  ist  eine  sub- 
tile Ertindung.  Eine  Erfindung  ist  sie  dennoch.  Was  dem 
Differentialbegriff  als  Wirklichkeit  zu  Grunde  liegt,  ist  das 
Verhältnis  zwischen  veränderlichen  Grössen.  Verhältnisse 
müssen  entdeckt  werden,  aber  diese  Verhältnisse  lagen  auch 
schon  früher  zu  Grunde  und  dass  der  Differentialbegriff  auf 
veränderliche  Grossen  angewandt  wird,  wllirend  die  be- 
stimmten ZaUen  fllr  imTerSnderEdie  GrOasen  zu  genügen 
sdiienen,  nimmt  ihm  nichts  Tom  COiaralter  eines  Instru- 
ments. 

Dieses  Instrument  wurde  gesucht  und  erfünden  als  die 
führenden  Geister  Kepler,  Galilei  und  Newton  die  Aufgabe 
lOsen  wollten,  die  geometrisch  und  sahlenmSssig  berechneten 
Bahnen  der  Haneten  physikalisch  zu  erkllren  durch  Be- 
wegung. Stellte  man  sich  die  Bahnen  als  fertige  EUipsen 
vor,  so  konnten  sie  nach  altem  Brauche  durch  Zahlen  ge- 
messen werden.  Stellte  man  sich  dieselben  Bahnen  als  ent- 


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158 


VL  Bat  Zahlwoit 


stehend  vor,  erknmle  man  gar  ihre  Verwandtscliaft  mit  den 
Bahnen  geworfener  irdischer  Körper,  SO  stand  man  Yor 
minimalen  Anfangsgeschwindigkeiten,  vor  minimalen  Rieh- 
tungsänderungen  und  keine  Zahl  war  klein  genug,  um  un- 
endlich kleine  R'aumc,  unendlich  kleine  Zeiten  und  unendlich 
kleine  Geschwindigkriten  in  der  Rechnung  zu  vertreten.  Die 
Notwendigkeit,  eine  unendlich  kleine  Einheit  zur  untersten 
Re<  liiiungsgrösse  zu  machen,  ergab  sich  vor  allem  hei  den 
minimalen  Kichtungsänderuugen.  Jeder  i'unkt  einer  Kurve 
war  identisch  mit  dem  Punkte  seiner  gradlinigen  Tangente 
und  deiuiuth  erzeugte  die  Beweirung  des  einen  Punktes 
einmal  eine  Lnue ,  das  andere  Mal  eine  Kurve  von 

bestimmten  Verhältnissen.  Dachte  man  sich  den  kurven- 
erzeugenden Puukt  alü  eine  Linie  von  unendlich  kleiner 
Ausdehnung,  so  ergab  er  mit  den  dazu  gedachten  Abscissen- 
und  Ordiuatenveränderuugen  ein  unendlich  kleines  rechtwink- 
liges Dreieck,  das  selbst  wieder  ein  Punkt  war,  auf  weiches 
jedoch  der  Pythagoreische  Lehrsatz  anwendbar  bheb.  Die 
Liiut'  von  unendlich  kleiner  Ausdehnung  drückte  das  Ver- 
hältnis von  Ahscisse  und  Ordinate  aus.  So  konnt4iU  zum 
erstenmale,  seitdem  Menschen  auf  der  Erde  sich  zum  Masse 
aller  Dinge  gemacht  hatten,  die  der  Wirklichkeit  zu  Grunde 
liegenden  Verhältnisse  gemessen  werden,  ohne  dass  Zahlen 
bemüht  wurden.  Denn  die  der  Wirkliehke^  in  Grande 
liegenden  Yerhilfaiisse  sind  immer  Verhiltnisse  T«iinder^ 
lieber  QrOssen.  Alles  fliessi.  Der  Diffi^'entialbegriff  war 
das  Instrument  fttr  das  zahkniose  Messen  wirklicher  Ver- 
hiltnisse. Das  Differential  ist  nicht  mehr  und  niolit  weniger 
als  die  minimale  Einheit  in  den  Naturrorgängen;  so  wenig 
es  aber  da  eine  wirkliche  Einheit  gibt,  so  wenig  ist  das 
Differential  wirklich.  Es  ist  durch  geniale  Mathematiker 
nach  anstrengenden  Tentandesoperationen  in  den  KalkOl 
eingeführt  worden;  die  einfachste  Ueberl^ping  mnss  jedoch 
lehren,  dass  auch  die  Eins,  die  sprachlich  so  wohlbekannte 
Einheit  unseres  IXtleoB,  ebenfaUs  nur  durch  einen  genialen 
Kopf  nach  einer  höchst  abstrakten  Verstandesoperation  in 
die  Rechnung,  die  freilich  dadurch  erst  möglidi  war,  ein- 


Newton  und  Leibus. 


159 


geführt  werden  könnt o.  Die  Integralen:  Eine  Sekunde,  Eine 
Trillion,  JSüne  Sprache,  Eine  Art,  Ein  Ton,  Eine  Farbe 
sind,  wenn  wir  von  unserer  ererbten  Spracbgewohnheit 
absehen,  nicht  weniger  abstrakt  als  ein  Differential.  Das 
Differential  ist  ein  so  neuer,  dem  Altertum  so  gänzlich 
unbekannter  Begriff  wie  das  Telephon;  Ei-findungen  sind 
beide.  Newton  erfand  das  Instrument  als  er  es  brauchte;  Newton 
und  er  brauchte  es,  ^vpil  rlns  Bedürfnis  nach  diesem  Instru-  fJSü!i«. 
ment  sich  seit  hundert  Jahren  langsam  entwickelt  hatte. 
Er  sah  vielleicht  weniger  klar  als  Leibniz  den  Unterschied 
zwischen  lim  Unemllichkleinen  der  antiken  Mathematik  und 
dem  voji  ihiu  eingelührt«n  Beerriffe.  Wf»Tin  die  G-riechcn 
bei  ihrer  Quadi'atur  des  Zirkeh  'lio  Exhaustioubnirth()de  an- 
wandten und  nach  ihr  den  Flachenunterschied  zwi.sthen  dem 
Kreise  und  dem  eingeschriebenen  Unendhcheck  als  unendlich 
klein  aunahuieii,  so  waren  sie  dabei  weit  von  der  Erfindung 
des  Differentialbegriffs  entfernt,  weil  sie  nur  die  Fläche  des 
fertigen  Kreises  ausrechnen,  nicht  aber  die  Entstehung  des 
Kreises  als  Bewegung  erklären  wollten.  Der  Sinn  des  Dif- 
ferentialbegriffs ist  aber  in  Newtons  Ausdruck  1- luxiun  meta- 
phorisch gut  ausgesprochen;  er  war  dem  Vorgänger  Ca- 
vaheri  entnommen;  wenn  die  zu  messende  Wirklichkeit 
fliesst,  so  ist  die  Beweguugseinheit  oder  Veränderungseinheit 
Xeder  minimale  Akt  des  Fliessens,  die  Fliudon.  Ldbniz 
daekfee  abeftraktor,  kOlrner,  fassbe  rasdi  den  Gedanken,  dass 
die  Differentialeinheili  wirklicher  sei  als  die  ZaU  und  woUie 
das  Endliche  durch  die  Litervention  des  Unendlichkleinen 
bestimmen.  Van  kann  wohl  sagen,  dass  Newton  die  Fluxion 
erfanden  hat,  daes  Leibniz  das  Differential  zu  entdecken 
glaubte,  daa  heiast  daas  Newton  die  Differentialverftnderung 
mehr  als  ein  Instrument  auffasate,  Leibniz  in  ihr  mehr  eine 
Realität  sah. 

Dieser  G^DpensatK  geht  seit  zweihundert  Jahren  durch 
alle  Versuche,  den  Differentialbegriff  logisch  zu  begrOaden. 
Auf  der  einen  Seite  stehen  diejenigen  Begründungen, 
welche  die  hdhere  Mathematik  auf  die  Elementannathematik 
sarttckfnhren  möchten  (was  Übrigens  Newton  und  Leibniz 


._^  kj  i^  -o  i.y  Google 


160 


TL  Dm  Zahlwort 


ferentUl 


selbst  schon  thaten)  un*l  zu  diesem  Zwecke  das  Differential 
abwechselnd  der  Nuil  gleich  setzen  und  es  als  relauvo  Null 
wieder  in  Rechnung  stellen;  Leibniz  scheint  dieseu  üegen- 
satz  gelegentlich  für  einen  Wortstreit  zu  halten,  wenn  er 
das  Differential  einmal  als  einen  m  n  lus  loquendi  bezeichnet. 
Auf  der  andern  Seite  steht  die  Einptindung,  dass  das  Dif- 
Dif-  ferential,  richtiger  die  Dift'erentialveränderung  eine  Realität 
sei,  in  der  Darstellung  von  Hermann  Cohen  („das  Prinzip 
der  Infinitesinial-Methode")  die  *  iu/ij^o'  wirkliche  Realität, 
die  einzige  intensive  Grösse,  die  tiuzigu  Zahl,  welche  nicht 
bloss  Relativität  besitzt.  Man  muss  seine  Vorstellung  uai 
von  dem  naiven  Realismus  befreien,  welcher  die  sinnliche 
Wahrnehmung  zum  Prüfstein  der  Realität  macht,  welcher 
schliesslich  auch  noch  Kant  zwar  in  der  Wirklichkeitswelt 
ein«  ÜTBcheiiiung,  das  Ding-an-dch  jedoch  in  etwas  Hand- 
grdflicheiB  hinter  der  Realität  erblicken  lint  Die  Dif- 
ferentiattndentng  wird  dadurdi  snr  jüngsten  Form  des  alten 
Steins  der  Weisen ;  sie  ist  das  Perpetuum  mobile  (sie  ist  es 
wirklich),  sie  ist  die  Quadratur  des  Zirkels  (sie  leistet  sogar 
die  Quadratur  aUer  Keg^sehnitte),  ^e  kann  die  similiche  wie 
die  geistige  Welt  erseugen  und  kann  zuletzt  auf  die  Ent- 
stehung der  einen  Welt  aus  der  andern  angewandt  werden. 
Die  Differentialftndenmg  kann  aUein  helfen,  dem  jetzt  herr- 
schenden Entwidkelungsgedanken  einst  eine  mathMualasche 
Unterlage  zu  geben.  Uns  freilich  wird  die  Differentialande- 
rung  zugleich  an  das  ä  peu  prte  erinnern,  wdches  wir  in 
jedem  Begriffe  versteckt  gefonden  haben. 

Die  Metaphysik  des  Begriflk  der  Differential&nderung, 
die  streng  logische  Begründung  der  Dlfferentialeinh«t  führt 
zu  unlösbaren  Widersprüchen,  jedoch  nicht  zu  andern  Wider- 
sprüdisil  als  zu  denen  auch  die  logische  Begründung  der 
wohlbekannten  Einheit,  dar  Eins  unserer  Zahlenreihe  führen 
musste.  Wollen  wir  unserm  Ziele  näher  kommen,  der 
Frage  nach  dem  Wesen  der  Zahl,  und  darum  zunächst  den 
Zahlenaberglauben  unserer  Tage  durchschauen ,  so  müssen 
wir  die  Metaphysik  des  Differentialbegriffs  preisgeben  und 
ihn  daraufhin  betrachten,  was  seine  rechnerische  Anwendung, 


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Differential  und  Katur. 


161 


abgeseheu  von  den  selbstherrlichen  Schai-fsiniiigkeiteii  der  i>i(- 
böchsten  Mathematik,  zur  Erkenntnis  der  Wirklickkeitüwclt  ^^^^"j'* 
beiträgt.  Und  da  scheint  es  mir  doch  richtig,  dass  alles  Naiur. 
ältere  Rechnen  nui*  die  Grössenverhältnisse  der  Natur  ver- 
gleichen, das  heisst  ihre  relativen  Quantitäten  l)estin)men 
konnte,  während  der  Begriff  der  Differentialiindei ung  ein 
Symbol  ist  dieser  Verhältnisse  oder  Quantitäten  selbst  und 
damit  der  erste  Versuch,  den  Qualitäten  der  Wirklichkeit 
erkenntnistheoretisch  beizukommen.  Das  lässt  sich  sogar 
auf  die  einfachsten  Probleme  der  Differentiabrechnung  aus- 
dehnen. Als  ArchUnedoB  nch  mit  der  Quadrabir  Ton  Kegel- 
schnitten heschfiftigte,  wollte  er  nur  ihr  relatives  YerhUtnis 
zn  bequemer  ansmessbaren  Fliehen  bestimme;  die  Dif- 
ferentialrechnung sagt  von  den  Kegelschnitten,  wie  sie  durch 
Bewegung  entstehen,  also  wie  sie  sind.  Auch  die  alte  Geo- 
metrie erzihlte  in  ihrer  Weise,  wie  Kegelschnitte  für  unser 
Ange  gemacht  werden  können;  aber  sie  ahnte  nicht,  wie 
sie  an  sich  entstehen.  Auf  dem  Gebiete  der  Mechanik  und 
der  Chemie  hat  es  die  Differentiabrechnung  eigentlich  immer 
nur  mit  Qualititen  zu  thim  und  der  ungeheure  Fortschiitt 
unserer  Zeit  Uber  das  Altertum  besteht  eben  darin,  dass  es 
zuerrt  in  der  Mechanik,  dann  aUmahlich  auch  in  der  Chemie 
gelungen  ist,  Qnalitilten  durch  relative  Quantitäten  aus- 
zudrflcken.  Zuletzt  muss  freilich  immer  die  bestimmte  Zahl 
heran;  aber  der  Hinblick  auf  die  Differentialftnderung 
muss  es  jedem  klaren  Kopfe  nnabweislich  machen,  dass  in 
den  bestimmten  Zahlen  nur  Symbole  von  Relativitftten  vor- 
handen sind,  so  gut  wie  in  der  Differentialrechnung  die  ^ull 
zur  relativen  Grösse  wird  und  das  unendlich  kleine  Dreieck, 
das  wir  uns  für  das  Verständnis  des  Tangentenproblems 
vorstellen  müssen,  in  seinen  drei  Seiten  drei  Nullen  von  be- 
stimmter Relation  bietet. 

In  der  Phantasie  oder  Theorie  befreit  uns  der  Dif- 
ferentialbegriff von  der  konventionellen  Einheit,  die  es  in 
der  Natur  nicht  gibt;  in  der  Phantasie  oder  Theorie  dringt 
das  Differential  unmittelbar  in  die  Natur  ein  und  schafft 
ein  Korrelat  zum  Thätigkeitsbegriff,  zur  Bewegung,  wofür 
Maatbner,  Beiträge  zu  einer  Kritik  der  Sprache,  in.  11 


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162 


VI.  Daa  Zahlwort. 


wir  sonst  (wie  wir  gesehen)  keine  Worte  haben.  Nur  meta^ 
phorisch  aber  leistet  das  Differential  diesen  IKoist  und 
darum  durfte  ich  eben  Theraie  und  Phantasie  gleich  setMn. 
In  der  Praxis  ist  daa  Differential  nur  ein  feineres  Instrument 
als  die  Ziffer,  schafft  es  nur  eine  kleinere  Einheit  FOr  eine 
bestimmte  Dynamo  ist  (weil  Edt  =  Csinada) 


uud  endlich 

E  =  4Cn,  weil  n  (Toureniahl)  =  ^  ist. 

Für  die  in  dieser  Formel  nicht  ausgedrückte  Zahl  der  Spulen 
ist  die  diskrete  Zahl  das  unmittelbare  Zeichen;  für  die 
fliessende  Bewegung  der  Spulen  und  das  Kraft  anwachsen 
und  -nachlassen  im  Feld  ist  die  alte  ^Fluxion"  ein  bessere» 
Bild  als  die  Zahlenrechnung,  aber  doch  nur  ein  Bild;  im 
Resultat  fehlt  das  Bild,  mit  dem  der  Elektrotechniker  nicht 
das  kleinste  Licht  anzünden  könnte;  auch  fUr  t  (die  Zeit) 
wäre  das  Differential  so  ein  Bild,  wenn  wir  nur  wüssten» 
ob  das  Bild  von  etwas  Wirklichem  oder  das  Bild  von 
einem  Bilde. 

Der  Gegensatz  zwischen  der  modernen  und  der  alt- 
griechischen Naturphilosophie  zeigt  sich  ausser  in  der  Un- 
menge von  Einzclbeobachtunpi'en ,  die  in  der  Mechanik  seit 
Galilei,  in  der  Chemie  seit  etwa  hundert  Jahren  das  Bild 
verändert  haben,  vielleicht  am  besten  darin,  dass  im  Alter- 
tum die  Atomistik  und  die  geheimnisvolle  Zahleulchre  des 
Pythagoras  unvereinbar  schienen,  während  gegenwärtig  die 
Atomistik  mathematisch  geworden  ist.  Das  hat  der  Begrili' 
der  Dillerentialverändeining  dadurch  bewirkt,  da.ss  er  die 
Qualitätsversehicdenheiten  vorstellbar  machte.  Man  lacht 
heutzutage  über  die  deutsche  Naturphilosophie  aus  dem  An- 
fang des  19.  Jahrhunderts.  Das  Lachen  knüpft  sich  immer 
an  den  Kamen  Schelling.  Man  denkt  nicht  <laran,  das.^ 
Hegel  in  seiner  Habilitationsschrift  (18<)1)  die  Planeten- 
abstände  mit  Hilfe  einer  mystischen  Zahlenreihe  des  Pytha- 


0 


Atomistik. 


168 


goras  zu  deuten  suclite,  um  )>aM  darauf  rhirrh  neno  Ent- 
deckiiiiiren  Lügeji  ge>ttalL  zu  werden.  T^i'  di  iit  ^  he  Natur- 
philosoplue  wollte  nur,  was  die  Philosupkie  iriimer  gcthan 
hat,  mit  unzureichenden  Mitteln  die  Welt  erklären,  wollte 
nur  mit  der  Sprache  von  heute  in  das  Wissen  von  morgen 
hineinspringen,  trotzdem  Wissen  und  Sprache  einerlei  ist 
uml  darum  die  Sjtrache  oder  das  Wissen  niemals  von  der 
Zukunft  borgen  kann.  Mit  unendlich  reichern  Mitteln  will 
die  gegenwärtige  Atomistik  dasselbe,  soweit  sie  Naturphilo- 
sopliie  ist. 

Zwei  Uauptgcbiete  der  gegenwäi-tigen  exakten  und 
mathematischen  Naturwissenschaft  mögen  zeigen,  dass  trotz 
der  epochemachendeo  Bereicherung  unseres  Rediensjstcms 
durch  da«  Biffinfential  auch  heute  noch  die  Rechnung  in  den 
letzten  Fragen  der  Naturerkenntoia  in  Mystik  übergeht 
Wenn  naturwisaenschaftliche  Köpfe  rUhmen  wollen,  wie  wir 
es  80  herrlieh  weit  gebracht  haben,  so  weisen  sie  auf  die 
Entwicklung  der  Mechanik  seit  mehr  als  zweihundert  und 
auf  die  Entwickelung  der  Chemie  seit  hundert  Jahren;  und 
doch  heissen  die  Begriffe,  in  deren  Dienst  niedere  und  höhere 
Mathematik  arbeiten  mflssen,  immer  noch  Gravitation  und 
Affinitiit,  Namen,  von  denen  niemand  weiss,  ob  sie  Gott- 
heiten, Erilfte  oder  z  bezeichnen. 

TTeber  die  seit  Newton  nur  klarer  gewordenen  Schwierig-  or»vi- 
keiten  des  Gravitationshegriffs  wDl  ich  an  dieser  Stelle  nichts 
Neues  zu  sagen  versuchen.  Nur  eine  Bemerkung  zu  dem 
geistreichen  Hinweis  von  Lange,  dass  die  Bestätigung  der 
Atomistik  durch  rein  theoretische  Entdeckung  neuer  Ele- 
mente höchstens  in  gleichem  Lichte  betrachtet  werden  könne, 
wie  etwa  die  Bestätigung  der  Lehre  Newtons  durch  die 
Entdeckung  des  Neptun.  Lange  wendet  ein,  dass  die  Ent- 
deckung des  Planeten  Neptun  nichts  Aber  die  Ursache  und 
Geheimnisse  der  Gravitation  verrate,  gibt  aber  zu,  dass  die 
Hypothese  Newtons  durch  diese  Entdeckung  eine  glänzende 
Bestätigung  erhalten  habe.  Ich  kann  nach  genauer  Prüfung 
nicht  einmal  das  zugeben.  Zu  einer  Vermutung  Uber  dea 
Ort  des  Neptun  hätte  auch  ohne  die  Gravitationshypothese 


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164 


VI.  Das  Zahlwort. 


eine  genaue  Abmessung  der  Planetenbiihiieii,  eine  exaktere 
Weiterftlhrung  der  Keplerischen  Gesetze  führen  müssen.  Die 
That  Newtons  wird  durch  diese  Bemerkung  nicht  rerkleinert. 
Habe  ich  aber  rechfc  mit  der  Annahme,  (la<?s  exakt  bdob' 
achtete  Planetenbahnen  auch  ohne  jeden  £rklärungsvenacb 
zur  Vermutung  des  Neptunortes  hätten  führen  können,  so 
folgt  daraus  für  uns  etwas  Wichtiges:  dass  vor  Einführung 
der  FhlxSonsreehnimg  in  die  Astronomie  deren  Zahlenver- 
hältnisse auffindbar  waren  durch  die  Hilfsmittel  der  alten 
Mathematik.  Und  sieht  man  frei  in  die  Frage  hinein,  so 
erscheint  die  Zahlenharmonie  von  Pythap^oras  und  Heitel 
zur  Erkenntnis  des  Planetensystems  von  der  Zablenharnionie 
Keplers  nur  dadurch  versclüeden,  dass  Pythnirnras  phan- 
tastische ,  Kepler  gut  beobachtete  Zahlen  in  Kechnung  ge- 
setzt hatte.  Was  durch  Zalileaverhältnisse  ausfrodrückt 
werden  konnte,  das  war  schon  der  alten  Mathennitik  mög- 
lich. Was  die  Einführung  der  Fluxionsrechnung,  die  rech- 
nerische Verwertung  der  Differentialänderung  hinzuftlgte, 
war  nicht  ein  neues  Wissen,  sondern  nur  die  Vorstellung 
von  einer  mythologischen  TIrsaclie,  von  der  Gravitation.  Wir 
wollen  uns  merken,  warum  das  wohl  so  kommen  musste:  weil 
es  in  der  Natur  nicht  Zahlen  gibt,  sondern  höchstens  Zahlen- 
verhältnisse, weil  diese  Verhältnisse  uns  nur  in  Zahlen  er- 
kennbar sind  und  weil  das  Differential  der  fast  übermensch- 
•  liehe  Versuch  ist,  die  Verhältnisse  selbst  und  unmittelbar 

und  ohne  Zahl  zu  Uberblicken. 

Auch  die  Zuverlässigkeit  der  Atomistik  scheint  vielen 
Forschern  dadurch  bewiesen,  di»s  auf  dem  W' ege  atomisti- 
scher  Theorien  neue  Elemenie,  also  doch  auch  WelÜcQrpw, 
gefunden  worden  sind.  Dagegen  ist  schon  von  Lange  und 
auch  von  Helmholtz  eingewandt  worden,  dass  jene  atomisti- 
sehen  Theorien  das  Atom  in  der  WirkUchkeitswelt  fanden, 
weil  sie  es  bei  Beginn  ihrer  Schlussfolgernngen  voraussetzten. 
Zur  Entdeckung  der  neuen  Elemente  führte  die  gdstreiche 
Analogie  zwischen  guten  Beobachtungen;  die  Theorie  war 
eine  Verzierung.  Erstünde  uns,  mehr  als  zweihundert  Jahre 
nach  Robert  Boyle,  ein  neuer  Ghemista  scepticus,  so  wtttde 


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Affinität. 


165 


er  gegen  die  grandlegenden  VorsteUuiigeii  unserer  Atomisten 
lebbftfber  auftreten  können  als  unsereiner  es  vennag.  Kekal^ 
hat  sdion  1861  gesagt,  dass  Atome  weder  gemessen  nock 
gewogen  werden  kOnnen,  dass  nur  Betrachtung  und  Speku- 
lation zur  hypothetiscken  Annahnie'bestimn^ft  r  Atomgewichte 
fuhren  kann;  und  gegenwärtig  streiten  die  Theoretiker  der 
Physik  immer  noch  darQber,  ob  die  Atome  stoiflose  Kraft- 
ausgangspunkte seien  oder  doch  unendlich  klein  ZU  den- 
kende Körpor.  Es  wiederholt  sich  beim  modernen  Atom 
die  Frage  der  DifFerentialmetaphysik;  auch  das  Atom  wird 
bald  als  einzig  geu'eljene  intensive  Grösse  bald  als  Null  auf- 
gefasst,  stofflich  als  absolute  Null,  dynamisch  als  relative 
Null.  Schon  Gnv-Lussac  hat  die  Atome  wie  Differentiale 
der  Körper  betrachtet. 

Auch  hier  stehen  die  bestimmten  Zahlen  und  die  Dil-  AtfinitAt. 
ferentialrechnun^  im  Dienste  eines  unkontrollierbaren  Be- 
griffs, der  in  der  Zeit  der  Alrhymie  als  Aftinitiit  auftrat  und 
trotz  aller  Vorkleidungen  auch  aus  der  nio«Uriien  Clicniie 
nicht  auszumerzen  ist,  weil  er  «diliesslich  doch  nur  die  Ur- 
sache der  wirklichen  Erscheinung  anzugeben  sucht,  dass  die 
chemischen  Stoti'e  sieh  l)al(l  verbinden,  bald  nicht  verbinden. 
Den  Charakter  der  rrsacli(>  hat  dor  Bcsfriff  allmählich  ver- 
loren; er  ist  beinahe  zu  einem  Austhuck  ftlr  die  unerklärte 
Thatsache  geworden.  Die  will  man  aber  (hx  h  erklären  und 
die  modeine  Chemie  hat  auf  (irund  von  Erfahrungen,  deren 
Fülle  ein  Laie  si( herlich  nicht  zu  übersehen  vermag,  mit 
Hilt\^  namentlich  der  mnltiplen  Proportionen  die  Erscheinung 
so  gut  beschrieben,  dass  die  Beschreibung  einer  EikUuung 
zum  verwechseln  ähnlich  sielü.  Es  ist  aber  erstaunlich, 
wie  klein  die  bestimmten  Zahlen  sind,  innerhalb  deren  sich 
diese  periodisch  veränderlichen  Grössen  bewegen.  Es  mutet 
an,  als  wäre  die  Natur  bei  der  Auswahl  ihrer  Elemente 
aber  die  Anfänge  des  Z&hlens  nicht  hinausgekommen.  Aber 
da  soll  noeh  mehr  erklärt  werden,  da  soll  das  YerhSltnis 
zwischen  den  unbekannten  Molekfilen  und  den  unbekannten 
Atomen  klar  gemacht  werden,  da  soU  ftlr  die  makroskopi- 
sche Vorstellung  gezeigt  werden,  wie  und  warum  das  Atom 


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VJ.  Das  Zublwurt. 


in  bdderlei  Gestah,  das  werdende  Atom  und  das  gewordene 
Atom,  sich  zu  dem  Atom  anderer  Elemente  so  und  nicht 
anders  verhalt,  wie  und  warum  die  Atome  in  den  MolekOlen 
einen  Tanz  ToUziehen,  der  nicht  Uhel  an  die  Harmtniie  der 
Sphären  erinnert,  wie  und  warum  jedes  Atom  wieder  als 
eine  Welt  im  Verhältnis  zum  Atom  zweiter  Ordnung  steht 
tt.  s.  w.  Alle  diese  geistreichen,  die  Beobachtung  sicherlich 
ordnenden,  die  Forschung  anafemden  Phantasien  haben  nur 
den  einen  Zweck,  das  zu  erkl&ren,  was  man  früher  Aflinit&t 
genannt  hat;  denn  wenn  in  den  Kdrpem  sich  nicht  rer- 
schiedene  Elemente  mischten,  wQrde  man  schwerlich  die 
Hypothese  so  weit  treiben,  um  bloss  die  letete  Zusammen- 
setzung der  Körper  begreiflich  zu  machen.  Wieder  sehen 
wir,  dass  die  Verhaltoisse  der  Elemente  sich  recht  gut  durch 
Zahlen  ausdrucken  lassen  und  dass  wir  durch  die  Einführung 
der  Differentialänderung  nur  den  Versuch  machen,  das  Ver- 
hältnis der  Elemente  Tor  aller  Messunt^,  im  Koimzustande 
zu  Uberrumpehi.  Darum  kann  sich  die  Theorie  bei  dem 
Atom  erster  Ordnung  nicht  genügen  hissen;  darum  klimmt 
der  menschliche  Geist  weiter  zum  Atom  zweiter  und  dritter 
Ordnung,  bis  er  sich  eingestehen  muss,  dass  diese  Ordnungen 
ebensowenig  ein  Ende  nehmen  können  wie  die  Reihe  un- 
serer gewöhnlichen  Zahlen.  Dazu  kommt  noch  Eins,  um 
diese  atomistische  Theorie  bedenklich  erscheinen  zu  lassen. 
Tn  der  Rechnung  kann  man  das  Differential  zweiten  Grades 
im  Verhältnis  zum  Differential  ersten  Grades  vernachlässigen, 
ebenso  das  Differential  dritten  Grades  im  Verhältnis  zum 
Differential  zweiten  Grades.  In  der  Rechnung,  aus  prakti- 
schen Gründen.  In  der  Naturerkenntnts  der  Atoniistiker 
jedoch,  die  Naturerkläninj^'  l)iett'n  iniW  Ute,  niusste  das  Atom 
des  ii-ten  Grades  erst  der  wahre  Jakob  sein,  erst  die  wir- 
kende, die  erzeugende  intensive  Grösse,  erst  die  let/.te  Er- 
klärung; und  da  unser  Verstiind.  fast  möchte  ich  .sagen, 
nach  seinen  Fallgesetzcn .  hinter  dnn  Aton)  n-ten  Grades 
unwiderstehlich  zum  Atome  (n  -f  1  )teu  Grades  vurdringt, 
so  kann  der  arme  N'crstand  auch  bei  der  Atomistik  nicht 
zur  Ruhe  koiumcn. 


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Eraft  nnd  Stoff. 


167 


Die  Gegenüberstellung  der  modernen  und  der  alten  Kr»ft 
zahlengljlubigcn  Weltanscbauung  hatte  filr  uns  nur  den  einon 
Zweck:  darauf  hinzuweisen,  dass  für  die  bildliche  Uebersicht 
der  in  der  Natur  beobachteten  Zahlenverhilltnis'^f"  die  ältere 
Mathematik  genü^,  dass  der  Differentialbegritt"  zur  V^orstell- 
barkeit  der  mathematischen  WeUarr-Thnnung  nichts  V)eitr�t. 
Wird  er  in  der  Mechanik  oder  m  der  Chemie  reclinerisch 
benutzt,  so  ist  aus  der  Vorstellung  des  Uechtiers  nicht  nur 
alle  Dillerentialnietaphy.sik ,  sondern  sognr  jcil*'  Beziehunsj 
zwischen  algebraischen  Zeichen  und  VV  irklu  hkeit  verschwun- 
den; die  Rechnung  geht  ihren  eignen  Weg.  Was  aber  zur 
letzten  Erklärung  an  Hypothesen  erfunden  worden  ist,  z.  B. 
die  Begriffe  Gravitation  un(i  Atom,  das  wird  durch  den  Dif- 
ferentialbeirriti'  nicht  anschaulicher.   Ich  fürchte  sogar,  dass 
noch  nienial.-.  ein  Mensch  im  stunde  war,  die  beiden  Be- 
griffe, die  erst  durch  Verbindung  zu  eiuem  Satze  etwas  zur 
Welterkl'ärung  beitragen  können,  wirklich  zusammen  zu 
denken;  ich  fürchte,  dass  die  Gravitationshypothese,  welche 
im  ganzen  und  grossen  das  Wesen  der' Kraft,  und  die  ato- 
mistische  Hypothese,  welche  das  Wesen  des  Stofis  zu  er- 
USren  snelit,  gar  nicht  im  Denken  veninigi  werden  können, 
dass  es  eine  Selbsttäuscliung  der  sprechenden  Menschen  ist, 
wenn  sie  die  Worte  Kraft  nnd  Stoff  in  einem  Satse  Ter- 
einigen,  während  sie  doch  dabei  bald  vor  dem  Spiegel 
stehen,  bald  hinter  den  Spiegel  springen.   Die  Atomistik 
gibt  vor,  irgend  ein  winziges  Stofiteilchen  immer  in  der 
Phantasie  zu  behalten,  wfthrend  sie  den  Stoff  doch  in  eine 
Bewegung  durdbeinandertanzendw  Eraftausgangspunkte  auf' 
löst;  das  zeigt  sich  am  grellsten  in  der  hoch  entwickelten 
Wtonetheorie,  ohne  welche  die  neuere  Atomistik  der  Oase 
und  damit  überhaupt  die  neuere  Atomistik  nicht  zu  denken 
ist.   Die  Bew^i^ng  wiederum,  welche,  einmal  Torhanden, 
sich  recht  gut  rechnerisch  durch  die  Zahlenverhiltnisse  in 
Raum  und  Zeit  ausdracken  Ifisst,  welche  in  ihrer  Entstehung 
und  in  ihrer  Wirkung  Eraftbegriffe  voraussetet,  kann  nicht 
umhin  bei  den  verursachenden  wie  bei  den  verursachten 
Kräften  die  Masse  zu  verlangen,  also  gerade  das  Stoffliche, 


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168 


VI.  Daü  Zaiilwort. 


das  die  Atomistik  eben  in  Kräfte  AufgeUtet  bat.  Es  ist  ein 
Yenerspiel  des  Verstandes,  der  je  naeh  seinem  augenblidc- 
lieben  Literesse  entweder  den  Stoff  hinter  der  Kraft  oder 
die  Kraft  hinter  dem  Stoff  nicht  sieht.  Wie  man  auf  einem 
Veiierbilde  je  nach  der  Richtung  der  Aufmerksamkeit  bald 
eine  Gruppe  von  Zweigen,  bald  eine  Katse  sieht  Ein  ähn- 
licher Qedanke  muss  Helmholts  bewegt  haben,  da  er  in 
seiner  Oedttchtnisrede  auf  Gustav  Kagnus  (1871)  Terlangt, 
auch  die  mathematische  Physik  mflsse  als  rdne  Erfahrungs- 
Wissenschaft  angesehen  werden.  .Wir  mflssen  zurückgehen 
auf  die  Wirkungsgesetze  der  kleinsten  Yolumteile,  oder  wie 
die  liathematiker  es  bezeichnen,  der  Volumelemente.  Diese 
aber  sind  nicht,  wie  die  Atome,  disparat  und  verschieden- 
artig, sondern  kontinuierlich  und  gleichartig/  Helmholts 
wendet  sich  an  dieser  Stelle  gegen  das  Streben  „aus  rein 
hypothetischen  Annahmen  über  Atombau  der  Naturkörper 
die  Grundlagen  der  theoretischen  Physik  herzuleiten".  Lange 
unterstreicht  dic«;en  Satz  und  fügt  hinzu,  dass  sich  dies  für 
'    ein  mathematisches  Verfahren  nach  den  Prinzipien  der  Dif- 
ferential- und  Integralrechnung  besser  eignen  muss  als  die 
Atomistik.    Nicht  nur  besser.    Der  Differentiaibeghff  ist 
eigentlich  nur  auf  kontinuierlich  wachsende  Grössen,  auf 
Bewegung,  auf  Kaum,  auf  Zeit  anwendbar  und  verUert  die 
Winzeln  seines  l?eclits,  wenn  er.  der  doch  nur  kontinuier- 
lich flicsst,  aber  uuch  die  kleinste  Lücke  nicht  überspringen 
kann,  auf  Atome  ausgedehnt  werden  soll,  die  durch  leere 
Räume  getrennt  sind.    Diese  h'eren  Küunie  zwischen  den 
Atomen,  mag  man  sie  auch  durch  die  Annahme  von  leerf>a 
Käunun  zweiter  Oidiumg  zwischen  den  Atomen  /weiter 
Ordnung  u.  s.  w.  noch  so  sehr  verdünnen,  machen  nieuier 
Phantasie  auch  die  neueste  (xestalt  der  Atomistik  unan- 
nehmbar.   Ich  kann  es  mir  zur  Xot  vorstellen,  dass  die 
Atume  eine-s  Eiseustückes  in  Wirklichkeit  diüküntinuierlich 
sind  wie  ein  Mückenschw  arm ,  dass  man  mit  einer  unend- 
lich feinen  Sdim  idc  durch  ein  Eisenstüek  hindurchfahren 
könnte  wie  nut  einem  Stocke  durch  den  Mückeuschwarm, 
ohne  den  Zusammenhang  dos  Eisens  zu  stören,  aber  ich 


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Zuhlenverhältnisse  unwirklich. 


169 


kann  mir  niclit  mehr  vorsteUen,  dass  auch  die  Organismen 
Ton  Glänzen  und  Tiaren  wie  MUdrenacliwänne  leben  und 
dass  man  aueh  dmrch  den  Menschenleib  mit  einer  enir 
sprechend  feinen  Schneide  hindurchfahren  kdnnte,  ohne 
etwas  Wesentliches  an  ihm  su  ändern.  Wir  haben  in  un- 
serm  KaturrorsteUen  zu  wählen  zwischen  Atomistik  und 
Kontinuitilt  Fechner  sagt  in  seiner  Atomenlehre  geistreich 
und  fast  poetisch:  .Das  Zahlensystem  der  Natur  hat  nur 
eine  Ziffer,  das  Atom,  und  reicht  damit  zu  den  Rechnungen 
des  Alls.*  Sehr  schOn;  aber  der  menschliche  Verstand  ge- 
hört auch  zur  Natur  und  in  ihm  sind  die  Zahlen  Torhanden, 
welche  die  GrOssenTerhäUausse  der  äussern  Natur  ausdrttcken 
und  diese  GrOssenTerhältnisse  sollen  sich  nun  aus  Atomen 
zusammensetzen.  Als  Ziffer  angesehen  ist  das  Atom  die 
Differentialänderung.  Dieser  Begriff  ist  nur  auf  kontiimier- 
liehe  Grössen  anwendbar  und  die  Atome  sind  entwedfor^^on- 
einander  getrennt  oder  sie  sind  keine  Atome. 

* 

Wir  müssen  uns  somit  in  die  Vorstellung  flttchten,  dass  Auch  ver- 
alles  nur  in  unserm  Bewusstsein  ist|  worauf  irgend  welche 
Zahlenbegriffe  sich  beziehen.  In  unserm  Bewmntsem  allein  viruteh. 
sind  die  Grässenverhältnisse,  die  wir  mit  unserem  Zahlen* 
^stem  messen,  in  unserm  Bewusstsein  allein  ist  die  Konti- 
nuität, deren  einzelne  Punkte  wir  durch  den  Diffcrcntial- 
begriff  zu  bestimmen  suchen.  Wenn  oben  gesat^'t  worden  ist, 
dass  die  Zahlen  unwirklich  sind,  die  Grössenverhältnisso  uber 
wirklich,  so  war  das  eben  nur  mit  den  Mitteln  der  Sprache 
ausgedrückt.  Es  ist  in  der  Natur  etwas  Wirkliches,  was  den 
Grössenverhältnissen  entspricht;  in  der  Natur  selbst  können 
es  aber  keine  Verhältnisse  sein,  weil  diese  erst  durch  Ver- 
gleichung,  uLio  durch  Yerstandesthätigkeit  entstehen.  Die 
logischen  Untersucliuugeu  Spencers  zeigen  deutlich  (Prin- 
zipien der  rsycholugie  II  S.  283),  „dass  das  Erkennen  von 
aufeinanderfolgenden  Zuständen  und  Veränderungen  des  Be- 
wusstseins  als  gleich  oder  ungleich  dasjenige  ist,  worin 
eigentlich  das  Denken  besteht",  dass  —  kurzer  ausgedrückt  — 


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170 


VI.  Das  Zahlwort. 


alles  Denken  auf  die  Empfindungen  der  Oleichheit  und  Un- 
gleichheit zurückgeht.  Dean  wenn  Spencer  weiter  versucht, 
Beziehungen  der  Gleichheit  und  UngleicUieit  durch  abs- 
traktere Begriffe  SU  definieren,  wenn  er  sie  durch  Verände- 
rungen im  Bewuflstaein  erklärt,  so  rerttsst  er  unbewusst 
den  Boden  der  F^chologie  und  hält  eich  an  einen  Aus- 
druck, der  zugleich  eine  physiologische  Deutung  zolässt. 
Dieser  Fehler  wird  jedesmal  gemacht,  wenn  eine  Darstellung 
des  menschlichen  Innenlebens  Uber  die  Empfindung  hinaus- 
geht und  das  organische  Leben  oder  gar  die  Aussenwelt 
mit  in  Rechnung  zieht;  dieser  Fehler  macht  das  gesamte 
Gebiet  der  Psychophysik  unsicher.  Denn  ihr  ist  es  wesent- 
lich, ein  mdgÜchst  ziffemmässiges  Verhältnis  zu  suchen  zwi- 
schen der  Empfindung  und  dem  Reize,  der  die  Empfindung 
remrsacht  hat.  Allerdings  liegen  auch  die  Masse  für  Reiz- 
grOssen  in  unserm  Bewusstsein,  aber  nicht  anders  ab  alle 
Wirklichkeitswelt  erst  in  unserm  Bewusstsein  unser  ist,  mit 
der  unausweichlichen  HypoÜiese,  dass  diese  Aussenwelt  Ton 
gleicher  Art  sei  wie  unser  Edrper,  der  die  gegebene  Elle 
der  Aussenwelt  ist;  die  Masse  fQr  unsere  Empfindungen 
dagegen  sind  einzig  und  allein  in  unserm  Bewusstsein  und 
es  fehlt  durchaus  an  einer  GIcidnmg  zwischen  jener  korper- 
lidien  und  dieser  psychischen  £Ue. 

Mit  dieser  Erklärung,  dsss  auch  die  Empfindungen  der 
Gleichheit  und  Ungleichheit  nur  Thatsadben  unseres  Be- 
wusstseins  sind,  sind  wir  zunächst  nicht  nur  nicht  vnn  der 
Stelle  gerückt,  sondern  haben  unserm  Ausgangspunkte,  dass 
die  Zahlen  nur  in  unserm  Denken  vorhanden  sind,  jeden 
Wert  genommen.  Diese  Erklärung  s^i^ie  doch  nur  dann 
etwas,  wenn  die  Zahlen  unwirklich  waren  im  Go*?"nsat/e 
zu  den  wirklichen  Verhältnissen  und  gar  den  wirklichen 
Dint^^rn.  Erinnern  wir  uns  ntjn  jetzt ,  dass  tlie  bisher  als 
wirklich  anjrrcnoinMienon  Grösscnverhiiitnissc  ah  Ergebnis'^e 
einer  Vergieichung  nur  Bewusstseinszuständo  sein  können, 
und  dass  schliesslicli  alk*  und  jede  Kenntnis  von  der  W'irk- 
lichkeitswelt  au(  h  nur  menschliche  Denkoperation  ist,  so 
scheinen  die  Zahlen  nur  mit  allen  andern  Vorstellungen  in 


Zahlcuverbältmiase  imwirklicb. 


171 


den  dutiklen  Abgrund  der  Erkenntniskritik  zu  versinken. 
Dennoch  zwingt  uns  eine  Gewissheit  dieses  unseres  zer- 
faserten Denkens,  bezüglich  der  Realität  einen  Unterschied 
wa  machen  zwischen  imserm  Bewusaftsein  von  natürlichen 
GrSasenTerhIhnissen  und  nnsenn  Bewusstseio  Ton  ihrer 
menschlichen  Messung,  TOn  den  Zahlen.  Dem  Wesen  dieses 
üntonchiedes  i^ern  wir  uns,  soweit  dies  ttherhsupt  mSg- 
lich  ist,  Tielleicht  durch  einen  Huiweis  auf  die  Thatsache 
oder  die  Wahrscheinlichkeit,  dass  das  Denken  des  Mensehen 
geworden  ist,  sich  entwickelt  hat,  also  auch  die  Vorstellung 
von  GrSssenTerhIltntssen  ihre  besondere  Entwickelung  durch« 
gemacht  haben  mag.  Ich  werde  es  nicht  Tersuchen  auf 
diesem  Felde  mehr  als  eine  melancholische  Vermutung  ku 
geben,  die  nämlich,  dass  unsere  ZahlenYontellungen  einer- 
seits kaum  begonnen  haben  den  Standpunkt  einer  empiri- 
schen Anfilngersehafit  zu  verlassen,  dass  aadetseits  unser 
vielgerOhmtes  logisches  Denken  noch  nicht  einmal  auf  dem 
Standpunkte  unserer  Zahlenvorstellungen  angelangt  ist  Nur 
eine  ganz  kurze  Bemerkung  soll  diese  Worte  rechtfertigen. 

Das  UFSprQngliche  Verhältnis,  in  welchem  auch  das  Tier 
und  das  Kind  und  der  Wilde  au  den  Quantitäten  d^  Natur 
steht,  war  offenbar  das  der  Anschauung.  Sehr  bald  mögen 
die  BegriS'e  ^einige"  und  .viele"  dazugekommen  sein.  Als 
nun  die  Menschheit  mit  unsäglicher  Qeistesanstrengung 
zählen  lernte,  zuerst  mit  einer  epochemachenden  Erfindung 
bis  2,  dann  bis  3,  bis  4,  bis  5,  bis  6,  bis  10,  bis  12,  bis  20, 
da  war  die  Zahlen  Vorstellung  ganz  offenbar  auf  dem  kind- 
lichsten Standpunkt  stehen  geblieben  wie  etwa  die  BAum- 
vorstellungen  des  Kindes,  welches  sein  Bettchen  schon  aus- 
messen  kann,  aber  das  Fenster  seines  Zimmers  und  den 
Mond  vor  dem  Fenster  eben  auch  noch  auf  Aermchenlänge 
entfernt  glaubt.  Gar  so  sehr  veränderte  sich  dieser  kind- 
liche Zustand  nicht,  als  die  Griechen  nach  jahrtausende- 
langer Verbesserung  der  Zahlcnerfinduntr  bis  zu  zehntausend 
zählen  gelei  nt  hatten.  Das  T^r?f'ndlichkeitssystera  des  Archi- 
medes  war  unbrauchbar  für  das  eigentliche  Weiterzählen 
ins  Unendliche.  Immer  lautete  die  Antwort  auf  die  Frage, 


172 


VI.  Dfts  Zahlwort. 


wie  gross  die  Sonne  sei:  8o  gross  woU  wie  ein  Fader 
Heu.  Das  änderte  sich  erst,  als  durch  den  Gedanken,  man 
könnte  ins  Unendliche  weiterzSUen ,  unser  dekadisches 
Zahlensystem  eigentlich  erst  perfekt  wurde.  Von  jetzt  ab 
konnte  man  ins  üneiulliche  messen,  das  heisst  vergleichen, 
und  v^gass  darüber,  dass  vergleichen  nicht  erkennen  ist. 
Ins  Innere  der  Natur  dringt  kein  erschaflfener  Geist;  und 
die  Zahl  ist  nicht  einmal  ein  erschaffener  Geist,  sondeni  nur 
ein  erfundenes  Instrument.  Ins  Innere  der  Natur  konnte 
man  mit  Hilfe  drr  diskreten  Zahlen  nicht  dringen,  auch 
wenn  man  in  der  Phantasie  zählend  zum  Unendlichgrossen 
fortschritt.  Wie  aber,  wenn  man  umgekehrt  die  Lücken 
zwischen  den  diskreten  Zahlen  ausfüllte,  wenn  man  unend- 
liche Reihen  des  Unondlitlikloinon  zwischen  sie  warf,  die 
Znhl  dadurch  kontinuicrlicb  raaclito  und  durch  den  Bej^ritt 
der  Ditrereutialänderung  die  Entstehung  der  XHtur]>ewe- 
gungen  kennen  lernt«,  den  Anfang  der  liewegung?  Ich 
möchte  nicht  wiederholen,  was  oben  gesagt  worden  ist.  Ejit- 
weder  die  Diftereiitialiinderun^^  ist  nur  ein  mathematisches 
Sviuljül  für  die  unendlich  kleinen  Momente  der  in  der  Natur 
wirkenden  Kräfte,  nur  <  in  Symbol  iler  auf  einen  ausdehnun^'s- 
Idsen  Punkt  zusammengedrängten  Grüssenverhältnissc,  dann 
Ist  das  Üitlerential  nicht  eine  Zahl,  sondern  eine  logische 
1  lilfsYorstellung  zur  Natui-erklürung ;  oder  es  ist  eine  Zahl, 
dann  ist  es  nur  eine  niathoraatische  Hilfskonstruktion  in  der 
Uecuniuig.  nicht  in  der  Natur.  Tnd  zwischen  diesen  heiden 
Worten,  der  Zahl  und  (h>ni  i>itiei  eutialbcgriti,  liat  die  Sjtrai  he 
der  Gegenwart  also  unsere  gegenwärtige  Weltanschauun'.j 
noch  keine  Verbindung  herzustellen  vermocht.  Noch  ein- 
mal: entweder  das  Diflferential  gehört  der  Sprachwelt  an» 
dann  ist  es  das  Bild  von  etwas  Unvorstellbarem,  dann  ist 
es  metaphorisch,  schwehend  wie  alle  Begriffe,  oder  es  ge- 
hört der  Zahlwelt  an  und  dann  ist  es  kein  Begriff. 

TMbeii.       Von  Kindern  und  von  Wilden  wissen  wir  es,  daas  sie 
mit  den  neu  gelernten  Zahlbegriffen,  z*  B.  mit  der  3  oder  4, 


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Vielheit 


i7S 


zuerst  den  Begriff  der  Vielheit  verbinden,  je  nach  Um- 
ständen möglicherweise  den  der  geringen  oder  der  grossen 

Vielheit.  Lesen  wir  Aristoteles  oder  irgend  einen  andern 
Lehrer  der  Logik,  so  erfahren  wir  ebenfalls,  dass  der 
Begriff  oder  feierlicher  die  Kategorie  der  Quantität  in  die 
Unterbegriffe  der  Einheit,  der  Vielbeit  und  der  Allheit 
zerfällt. 

Dass  Vielheit  ein  ungenuuer  BegrifT  sei  wird  jeder  zu- 
geben. Ungenau  gesprochen  umfasst  die  Unterkategorie  der 
Vielheit  sämtliche  Zahlwerte  .  die  sich  von  der  Unendlich- 
keit selbst  nur  durch  deren  l)eide  Endwerte  unterscheidet; 
auch  vom  ^Standpunkte  des  Gefflhls  ist  nie  vorher  zn  wissen, 
ob  der  Sjjrachlicbe  Ausdruck  ,viel"  iui  Verhältnis  zu  einer 
kleinem  Zahl  als  gross  oder  im  Verhältnis  zu  einer  grös.sem 
Zahl  als  klein  werde  empfunden  werden,  ob  mit  den  Vielen 
eine  Majorität  oder  eine  Minorität  bezeichnet  sei.  Das  ist 
dann  banal  bei  Geldsiuiinien,  bei  Ausdehnungen  von  Grund- 
stücken, kurz  überall  wo  der  Besitz  einer  Vielheit  bei  dem 
Besitzer  oder  Besitzwollenden  ein  Interesse  erregt;  es  ist 
aber  auch  einleuchtend  in  rein  iugistUeu  Folgerungen,  wo 
die  Berufung  auf  „viele"  bald  ein  allgemeines  Urteil  be- 
gründen, bald  als  belanglos  angesehen  werden  kann.  Zwei 
Beispiele.  »So  viele  Menschen  ich  geprüft  habe,  Hessen  sie 
sich  alle  von  ^oistischen  Motiven  leiten;  also  sind  alle 
Menschen  Egoisten.*  Ich  weiss  wohl,  dass  es  nur  ein 
sprachlicher  Zufall  ist  und  nur  im  Deutschen  notwendig, 
dass  hier  .so  viele  Menschen*  die  Worte  .viele  Menschen" 
mit  enthält;  bringe  ich  den  Sats  aber  auf  eine  streng  logi- 
sche Form,  so  kommt  das  reine  .viele*  zum  Yorschein  und 
zwar  in  einem  unvollständigen  induktiven  Beweise:  ich  habe 
viele  Menschen  geprüft,  diese  alle  verrieten  Egdomus,  also 
erwarte  ich  Egoismus  auch  bei  allen  andern.  Das  ist  der 
psychologische  Weg,  auf  welchem  doch  schliesslich  induktiv 
alle  unsere  Urteile,  das  heisst  alle  Begriffe  und  die  in  den 
Begriffen  verborg«ien  Urteile  entstanden  sind.  Es  ist  eine 
Frage  des  Sprachgebrauchs,  ob  man  mit  dem  Begriff  «viele* 
die  zum  induktiven  Beweise  einer  B^l  wünschenswerte 


174 


Vi.  Dm  Zahlwort 


Zahl  oder  die  gleichgültige  Zahl  der  Ausnahme  von  dieser 
Kegel  begreift.  Es  ist  also  in  dem  zweiten  Beispicli  :  ^  Viele 
Menschen  kommen  ohne  Beine  auf  die  Welt;  trotzdem  ge- 
hört es  zur  Vorstellung  vom  Menschen,  dass  er  zwei  Beiue 
liahe*  —  dieselbe  Unterkategorie  der  Vielheit,  welche  sonst 
cur  Herstellung  des  induktiTen  Beweises  genügt,  gar  nicht 
in  Betracht  gezogen.  Gerade  die  I%Ue  von  organischen 
MissbÜdungen  sind  für  unser  sprachlcritisches  Interesse  be- 
sonders lehrreieh,  bei  dem  äussersten  Grade  der  Miss- 
bildung die  Regel  (ausgedrückt  in  der  Definition  oder  in 
der  Beschreibung  des  Begriffs  Mensch)  einfach  dadurch  ge- 
rettet wird,  dass  man  die  Terkllmmerte  Frucht  gar  nicht 
unter  den  Menschenbegriff  aufnimmt.  Als  man  noch  an  die 
Existenz  von  Menschenkindern  mit  Tierköpfen  glaubte,  gab 
es  Uber  die  Anwendung  des  Mettschenbegri&  Geologischen 
und  juristischett  Streit;  heutzutage  wird  es  keinem  Menschen 
einfallen,  eine  Mole  fÖr  seinesgleichen  anzusehen,  eine  Mole 
einen  Menschen  zu  nennen,  trotzdem  es  «yiele'*  Molen  gibt, 
die  die  PrUchte  Ton  Menschen  sind. 

Die  Einheit  ist  zwar  ein  viel  brauchbarerer  Begriff  als 
die  Vielheit,  aber  aus  der  Wirklichkeitswelt  genomm«i  ist 
auch  sie  nicht.  Genau  betrachtet  gibt  es  auf  der  ganzen 
Welt  fUr  jeden  Menschen  nur  eine  einzige  Einheit,  die  Ein- 
heit seines  Bewusstseins,  und  wenn  man  diese  Einheit  ana- 
lysiert, so  bleibt  auch  da  an  Stelle  der  diskreten  Einheit 
nur  die  Kontinuität  des  Bewusstseins  bestehen  (I.  595  f.). 
Wo  immer  wir  sonst  von  einer  Einheit  ausgehen,  da  handelt 
es  sich  nur  um  eine  Konzentration  unseres  Interesses,  also 
um  einen  vorübergehenden  Gesichtspunkt  unseres  Bewusst^ 
seins.  Die  Eins  ist  noch  keine  Zahl,  sondern  nur  der  GrenZ' 
begriff  des  Zählens.  Die  Zwei  ist,  wie  gesagt,  die  erste 
wirkliche  Zahl. 

Allheit.  Die  Unterkategorie  der  Allheit  scheint  der  deutlichste 
von  diesen  Begriffen  zu  sein ;  wir  verbinden  jedoch  mit  dem 
Worte  sehr  vei-sehiedene ,  eigentlich  entgegengesetzte  Vor- 
stellungen :  alle  möglichen ,  sodann  alle  wirklichen .  das 
heisst  alle  noch  nicht  gezählten  und  beobachteten,  endlich 


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AUheit. 


175 


alle  gezählten  und  beobachte teu.  Es  ist  klar,  dass  .alle" 
in  dem  zweiten  Falle  nur  eine  Zusammenfassung  von  „viele* 
ist;  ob  ich  in  meinem  kurzen  Leben  hundert  Menschen 
kennen  gelernt  und  als  egoistaach  erkannt  habe  und  darans 
den  indukÜTeii  SgUum  adle,  alle  mir  unbekannten  seien 
so  egoistisch  wie  die  rielen  nur  bekannten,  oder  ob  die  in 
der  Sprache  niedergelegte  Weltanachauung  der  Menschheit 
seit  Jahrtausenden  Milliarden  Ton  Menschen  beobachtet  hat, 
die  alle  sterblich  waren,  und  so  aus  den  sehr  vielen  vielen 
FSUen  ihren  induktiTen  Schluss  zieht,  es  seien  alle  Menschen 
sterblich,  das  ist  im  Grunde  dasselbe.  «Alle"  besieht  sich 
fast  regelmässig  surQck  auf  die  »vielen*,  welche  in  meinem 
individuellen  Gedächtnisse  oder  in  dem  Gedächtnisse  der 
Menschheit  vorhanden  sind.  In  jedem  induktiven  Schlüsse 
wird  ein  solches  «viele*  ausdrficklieh  oder  implicite  in  ein 
«slle*  verwandelt.  Dieses  »alle"  besieht  sieh  jedesmal  auf 
eine  diskrete  wenn  auch  unbeuannte  Zahl,  einerlei  ob  es 
sich  um  10  oder  um  eine  Quadrillion  von  HinselflUen  handelt. 
In  dem  Urteile  «alle  Revolutionen  ftthren  cur  Diktatur*,  das 
man  ja  wohl  gelegentlich  hören  kann,  wird  der  induktive 
Beweis  aus  4  oder  5  Beispielen  geschöpft,  seine  Wahr^ 
scheinlichkeit  ist  kleiner,  seine  psychologische  Entstehung 
ist  aber  nicht  anders  als  in  dorn  Urteile  ^alle  Menschen 
sind  sterblich".  £ine  unendliche  Zahl  wird  bei  dem  Be- 
griffe der  Allheit  nur  dann  mitverstanden,  wenn  die  Vor* 
Stellung  über  die  Erfahrung  hinaus  ausgedehnt  wird,  sei  es 
durch  die  Hypothese  des  Unendlichkleinen,  wie  z.  B.  in 
,alle  Atome  haben  die  Eigenschaften  des  Stoffes,  den  sie 
bilden",  sei  es  durch  die  Zwangsvorstellung  einer  unendlich 
grossen  Reihe,  wie  z.  B.  in  ,aUe  diskreten  Zahlen  lassen 
sich  durch  das  dekadische  System  ausdrücken". 

Der  doppelsinnige  Gebrauch  des  Wortes  ^alle"  bald 
für  eine  bestimmte,  wenn  wwh  im  Aug*Miblicke  vielleicht, 
unbekannte  Anzahl ,  bald  für  alle  möglichen  Fälle,  weiche 
unter  einen  Begrifi"  fallen,  ist  ein  logi??cher  Fehler,  den 
manche  Sprachen  vermeiden,  andere  Sprachen  nach  ihrem 
Wortvorrat  vermeiden  könnten.    Wir  könnten  z.  B.  im 


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176 


Vi.  Dm  Zahlwort. 


Deutschen  .alle"  und  «sämtliche'^  differenzieren  wie  man 
im  Lateinisclieii  onines  uüd  cuncti  unterscheidet. 
Negation.  Zuletzt  ist  freilich  überall  der  doppelsinnige  Ge- 
brauch des  Wortes  „alle"  doch  nur  begreiflich,  weil  der 
Unterschied,  wie  oben  schon  angedeutet,  ein  Gradunter- 
schied ist.  Weil  spätti  au  /li  vou  der  Negation  als  einer 
neben  der  Quantität  für  die  ioiiuale  Logik  wichtigen  Kate- 
gorie die  Kede  sein  wird,  will  ich  an  dieser  Stelle  gleich 
die  Bcmerku ug  hinzufügen ,  dass  auch  die  Negation  unter 
Umständen  nicht  mehr  zu  bezeichnen  braucht  als  einen 
Gradunterschied.  Man  nehme  einmal  die  Begriffe  «blind* 
und  «taub*.  Es  sind  in  positiver  Sprachform  Torhandene 
Negationsbegriffe,  wdelie  den  Hangel  bestimmter  Organe 
oder  (was  eigentlidk  dasselbe  ist)  den  Mangel  ihrer  psycho- 
logischen Fwiktion  ausdrücken.  Sage  ich  ohne  mefaftphori- 
sehe  Anwendung  «dieser  Tisch  ist  blind*,  so  ist  das  ein 
ebenso  sinnloses  Urteil,  wie  wenn  ich  sagen  wollte  »die 
Tapferkeit  ist  nicht  dreieck^*.  Alle  solche  Sinnlosigkeiten 
können  in  einem  bestimmten  Zusammenhange  metaphorisch 
sinnvoll,  wltsig,  symbolisch  und  wer  weil»  was  noch  sein. 
vDiese  Mannorstetue  der  Venus  ist  teub*  gibt  einen  Sinn. 
Was  für  einen  Sinn  hat  nun  ein  solches  Wort  in  seiner 
üblichsten  Anwendung  z.  B.  «N.  ist  blind*?  Doch  wohl 
nur  den:  N.  ist  ein  Mensch  und  ich  subsumiere  ihn  unter 
den  Menschenbegriff,  trotzdem  er  sich  von  dem  Normal- 
menschen dadurch  unterscheidet,  dass  er  nicht  sehen  kann. 
Ebenso  würde  ich  N.  noch  zu  den  Menschen  rechnen,  wenn 
er  ausserdem  taub  und  lahm  wäre,  audi  dann  noch,  wenn 
er  mit  einem  so  unvollständigen  Gehirn  geboren  wäre,  dass 
zur  Definition  des  Menschen  der  Verstand  fehlte.  Dann 
würde  er  freilich  ftir  die  Rechtsprechung  nicht  mehr  unter 
den  MenschenbegrilV  fallen.  Wäre  er  aber  vollends  ohne 
Kopf  auf  die  Welt  gekommen  und  (man  gestatte  die  Hypo- 
these) dennoch  lebensfähig,  so  würde  man  gar  nicht  mehr 
sagen  können  „N.  ist  blind**;  dann  hätte  dieses  selbe  Ge- 
schöpf, diese  selbe  Leibesfrucht  gar  keinen  Namen  und  weil 
es  oder  sie  nicht  mehr  mit  dem  Normalmenschen  verglichen 


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Algebm  nnd  Logik. 


177 


würde,  dürfte  man  die  relative  Negation  „blind"  nicht  mehr 
anwenden.  Ich  habe  hier  eine  unlogische  TJeberschätzung 
eines  blossen  Gradunterschiedes  in  dem  Falle  von  „alle"  und 
in  dem  Falle  der  sprachlich  positiven  Negationsworto  zu- 
sammengestellt, weil  beide  Fälle  mir  die  Unsicherheit  unserer 
Kategorien  deutlich  zu  machen  scheinen. 

Ünd  auf  dipsrn  rhoi  unlogischen  Unterkategorien  der 
Oberkategorie  Quantität  ist  der  ausschlüsfgebende  Teil  der 
formalen  Logik,  die  Lehre  von  den  Sr]ilüssen,  fast  wesent- 
lich aufgebaut.  Man  braucht  zu  dem  Be^^rifte  dor  Ein- 
heit, der  Vielheit  und  der  Allheit  nur  noch  die  gefähr- 
lichen Begriffe  der  Positivität  und  der  Negutivität  hinzu- 
zutügen  und  die  gesamte  Lehre  von  den  Schlüssen  steht  in 
ihrem  berflhmteu,  den  Jahrtausenden  scheinbar  tiotzenden 
Aufbau  vollendet  da.  Es  ist  kein  Wunder,  wenn  die  Er- 
kenntniskritik unseres  Jahrhunderts  endlich  den  rein  mathe- 
matischen Charakter  aller  dieser  Begriffe  erkannte,  wenn 
Logiker  der  angelsächsischen  Rasse,  die  von  jeher  Kadika- 
lismus  mit  umera  seltsam  konservativen  Geiste  verbunden 
hat,  auf  den  Gedanke u  gekommen  sind,  die  alte  Logik  zu 
retten  dmxh  Anwendung  der  Algebra  auf  die  Logik. 

Ich  kann  nicht  wissen,  ob  ich  die  Kraft  und  die  Zeit 
.  haben  werde,  auch  diese  neue  Disziplm,  die  Algebra  der 
Logik,  kritisch  und  sprachkritisoh  vorzutragen;  darum  möchte 
iek  ao  dieser  Stelle  nur  auf  den  Chimdintum  binweiBen,  der 
ISmst  Schröder  TerfUirt  luit,  die  neue  Form  der  Logik  eine 
exakte  Logik  zu  nennen.  Die  Tor^h^den  Bemerkungen 
Ober  das  Wesen  der  Einheit,  der  Vielheit  nnd  der  Allheit, 
dazu  eine  üeberzeugung,  dass  alles  deduktire  Schliessen  nur 
em  Kreislsuf  in  der  Tautologie  ist,  daas  neue  Begriffe  mit 
allen  in  ihnen  enthaltenen  ürteilen  nur  aus  dem  induktiTen 
Schliessen  hervorgehen,  dass  endUch  alles  induktive  Schliessen 
nur  auf  unvollständigen  Induktionen,  auf  der  Vielheit  be- 
ruht, —  all  das  liest  mich  behaupten,  dass  die  Algebra  der 
Logik  nicht  eine  NeubegrOndung  der  alten  Wissenschaft, 
sondern  ihre  Auflösung  ist.  Eine  Auflösung  in  Wahrschein- 
lichkeitsrechnung und  Statistik;  em  gsnzes  arbeitsames  Leben 
llftatka«r,  Beiferl«»  n  iln«r  Kritik  d«r  Spnolie.  XtL  12 


178 


VI.  Daa  Zahlwort 


würde  gerade  hinrcicheu,  diese  erschreckliche  W  iiliriieit  im 

einzelnen  für  diese  junge  Disziplin  nachzuweisen. 

ZM  Auf  meinem  Wege  stehe  ich  jetzt  au  dem  Punkte,  wo 

ich  erfahren  kann,  ob  das  Rätsel  der  Zahlen  einen  seiner 
futiir«   

vielen  Schleier  abwerfen  wird  oder  nicht  Wir  haben  näm- 
lich gesehen,  dass  alle  lofpBchen  Operationen,  welche  für 
uns  doch  nur  AnfdrQselungen  psychologischer  Begriffiilnldung 
sind,  auf  die  üntorkategorie  der  Quantität,  auf  die  unbe- 
stimmten Zahlen  eins,  viel  und  alle  xurOckgehen.  Eins  ist 
nur  als  Hülfie  der  ersten  Zahl  zwei  eine  diskrete  Zahl;  ab 
Einheit  ist  sie  unbestimmt,  wie  sie  denn  auch  in  vielen 
modernen  Sprachen  mit  dem  unbestimmten  Artikel  zu* 
sammenftilt.  Von  d«r  Allheit  haben  wir  gesehen,  dass 
dieser  Begriff  (Hypothesen  abgerechnet)  immer  nur  eine  im 
Bewusstsein  vollzogene  Vereinheitiichu]^  der  Vielheit  ist. 
Mit  dieser  Vielheit  operiert  unser  Denken  gewöhnlich  ohne 
Ziffern,  ohne  Algebra.  Was  aber  die  Algebra  der  Logik 
Neues  wissenschafilich  versucht  hat,  das  liegt  in  der  Natur 
vor,  seitdem  es  dne  Natur  gibt.  Es  gibt  in  Berlin  in  einem 
bestimmten  Augenblicke  nicht  «viele*  Menschen,  auch  nicht 
lUngefähr*^  anderthalb  Millionen,  sondern  eine  ganz  be- 
stimmte Zi^  von  Individuen,  eine  viel  bestimmtere  Zahl 
B<^ar,  als  die  Statistiker  mit  den  Fehlerquellen  ihres  Zählens 
herausbringen  können.  Auf  dem  Kopfe  jedes  dieser  Indi- 
viduen sind  nicht  viele'  Haare,  sondern  auf  jedem  Kopfe 
eine  diskrete  ZidiL  Die  Vielheit  ist  nur  im  Kopfe  unter 
diesen  Haaren  vorhanden;  in  der  Wirklichkeitswelt  gibt  es 
keine  unbestimmten  Zahlen.  Aber  in  der  Wirklichkeitswelt 
gibt  es  anderseits  überhaupt  keine  Zahlen,  weil  nicht  die 
Natur  zählt,  sondern  der  Mensch.  Wir  stehen  also  vor  dem 
alten  Widerspruch,  den  wir  jetzt  mit  den  Mitteln  unserer 
Sprache  etwa  so  ausdrücken  können:  (iass  in  der  Natur 
etwas  ist,  was  mit  untrüglirhi^r  Sicherheit  unscrn  Zalilen 
und  allen  mö^^lichen  Hechnungsarten  entspricht,  dass  die 
Thätigkeit  des  Zühleiis  jedoch  Menschenwerk  ist  ,  Verstandes- 
arbeit. Und  da  scheint  mir  doch,  dass  wir  um  einen  kleinen 
Schritt  vorwärts  gekommen  sind,  da  wir  vorhin  Zahlen  und 


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Zahl  uad  zahlen. 


179 


ZaUenTerltiÜtnisse  in  das  BewosstMin  ziirttdcgewiesen  und 
die  BenehungBn  der  OleicUieit  nnd  Ungleichheit  ab  die 
Gnindthatsache  alles  Denkens  erkannt  haben.  Wir  können 
nns  jetEt  Torstdlen,  dass  der  Unterschied  der  QrSssenver- 
hSltnisse  auf  nnsere  Empfindung  von  Unglmcfaheit  surttek* 
geht,  und  dass  die  Empfindung  der  Gleichheit  die  erste 
Yenuüassung  zur  Thtttigkeit  des  ZShlens  gegeben  hat.  Es 
Teisteht  sieh  von  selbst,  dass  die  Besiefaungen  der  Gleich- 
heit und  die  auf  ihnen  sich  allmShlich  ^hebende  Mathe- 
matik Ton  Schritt  SU  Schritt  auf  die  Beziehungen  der  Un- 
gleichheit, das  heisst  auf  die  Grössenverh&ltmase  in  der 
Natur  aufgebaut  Vörden  sind  und  dass  demnach  auch  die 
wirklicLen  Grössenverhältnisse  der  Natur  in  zweiter  Potenz 
nur  Thatsachen  unseres  Bewusstseins  sind,  erstens  weil  die 
Empfindung  der  Ungleichheit  ein  ])sy(-liüIogischer  Zustand 
ist,  zweitens  weil  das  Ausniessen  der  l Ungleichheiten  oder 
der  GrfissenTerhältnisse  erst  mit  Hilfe  der  Gleichheits« 
empfindungen  möglich  ist. 

Hier  aber  wollten  wir  ja  nur  untersuchen,  was  Zahlen  ZaU 
sind ;  auf  unserm  jetzigen  Standpunkte:  wie  die  Empfindung 
der  Gleichheit  zu  der  Vorstellung  von  Zahlen,  richtiger  zu 
der  Thütigkeit  des  Zühlens  führen  konnte.  Die  Ersetzung 
des  Substantivs  Zahl  durcli  das  Verbnm  zahlen  ist  für  unser 
Weiterdenkeii  nicht  j;H*'ieh^ülti}X.  Wir  luiben  oben  flüchtig 
bemerkt,  dass  nicht  nur  die  Ausbildung  dtr  Mathematik, 
sondern  sogar  die  Ausbihlung  des  Zahlensystems  ^ur  Ent- 
wickelungsgeschichte  des  mensclilichen  Verstandes  gehört, 
dass  das  Instrument  Zahl  niclit  immer  (Ui  war,  sich  viel- 
mehr in  liistorischer  Zeit  (wenn  man  die  Beüba<  }itnngon  an 
wilden  Völkern  ins  Historische  übersetzt")  vom  lohesteu  Zu- 
stande bis  zu  der  bewundernswerten  Kechenmaschine  ver- 
feinert hat,  als  (iie  sich  die  gegenwärtige  Mathematik  dar- 
stellt. Es  würde  uns  in  endlose  Widersprüche  verwickeln, 
wenn  wir  das  so  ausdrücken  wollten,  dass  die  bnitalen  Sub- 
stantive, die  Zahlen  sich  entwickelt  haben.  Man  könnte 
ebensogut  saj^en,  dass  die  unzähli^^en  Insektenarten,  welche 
seit  hundert  Jahren  neu  beobachtet  worden  sind,  sich  durch 


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180 


VI.  Da«  Zahlwort. 


die  Beobachtangen  entwickelt  haben,  oder  die  umähligen 
Sterne  durch  die  Anwendoi^  des  Femrohis;  noch  genauer 
betrachtet  liegt  dieser  Widerspruch  in  dem  Worte  Snt- 
widcelung,  vefl  dines  mit  dem  Bilde  ^er  Auswiekdung 
schon  ▼orhandener  Gegenstiinde  einen  stark  tfaeoIogiMshen 
Beigeschmack  hat»  Das  Wort  Teriiert  diesen  widerwärtigen 
Beigeschmack  fast  ganz,  wenn  wir  es  auf  das  organische 
Wachsen  einer  menschlichen  Th&tigkeit  anwenden,  in  diesem 
Falle  auf  das  Verbum  zählen. 

Und  auf  dem  Gebiete  des  Zählens  haben  wir  es  bessw 
als  irgend  sonst,  wo  wir  <^cr.  Begriff  der  Entwickelung 
durchzufuhren  streben.  Ueberall  sonst  fehlt  uns  der  An* 
fang;  der  Keim,  ans  welchem  alle  organische  Entwickelung 
und  damit  auch  das  Menschengehim  hervorgegangen  ist, 
bleibt  so  unvoUstellbar,  dass  das  Organische  entweder  fertig 
in  die  Welt  hineinspringt  wie  ein  Clown  in  den  Zirkus  oder 
dass  die  abstrusesten  Eintagshypothesen  nötig  sind,  um  uns 
den  Ueberganj]^  vom  Unorj^anischen  ins  Organische  mit 
TaschenspielerkUnsten  vorzumachen.  Der  Keim  des  Zähleas 
steht  jetzt  auf  einmal  deutlicli  vor  uns. 

In  überzeugender  Weise  hat  Ernst  Mach  mehrfach,  zu- 
letzt in  der  dritten  Auflage  seiner  Mechanik  (S.  472  u.  f.i 
die  Wissenschaft  und  die  Sprache  nh  eine  ökonomische  Ein- 
richtung erklärt,  als  eme  Arbeitsersparun«;]^.  Wo  immer 
Mathematik  zu  andern  Wissenschaften  herangezogen  wii-d, 
da  kommt  die  ganze  vorgel>ildete  Uekonomie  der  Mathematik 
diesen  Wissenschaften  zu  ;:,nite.  ,.I)ie  Mathematik  ist  eine 
Oekunomie  des  Zählens.  Zahlen  .sind  ( )rduungszeichen,  die 
aus  Rücksichten  der  Uebersicht  und  Ersparung  selbst  in 
ein  einfaches  System  gebracht  sind.  Die  Zähloperationen 
werden  als  von  der  Art  der  ()l)jekte  unahhiln«j;ii^  erkannt, 
und  ein  für  allemal  eingeübt  .  .  .  Alle  Rechnungsoperationeu 
haben  den  Zweck,  das  direkte  Zählen  zu  ersparen,  und 
durch  die  Resultate  schon  vorher  vorgenommener  Zähl- 
prosesse  zu  ersetzen  ...  Es  kann  hierbei  vorkommen,  dass 
die  Resultate  von  Operationen  verwendet  werden,  welche 
vor  Jahrhunderten  wirklich  ausgefthrfc  worden  sind  . . . 


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,2*  die  ente  Zahl. 


181 


Aehnlich  sparsam  verfahrt  der  Ksufiliftnn,  indem  er,  statt 
seine  Kisten  selbst  herumzuziehen,  mit  Anweisangen  auf 
dieselben  operiert."    Die  Einführung  der  Ludolfischen  Zahl 
oder  der  Logarithmen  in  die  Rechnung  ist  ein  schlagendes 
Beispiel  solcher  Arbeits crspamis  durch  Bcniitzung  einmal 
vorhandener  Rechnunp;sresultatü.    Das  gewalti|^ste  Beispiel 
bleibt  jedoch  die  jedem  Kinde  geläufige  Anwendung  unseres 
Zahlensystems,   welches  das  Resultat  des  in  unendlichen 
Zeiträumen  sich  entwickelnden  Zilhlens  ist.  Dieses  Zählen, 
welches  aller  Mathematik  und  zunächst  den  Zahlen  zu  Grunde 
liegt,  muss  jedoch  seinen  Ausgang  genommen  haben  von 
dem  Akte  des  Biszweizählens,  von  dem  Gefühl  der  Gleich- 
heit (der  für  unser  Interesse  relativ  vorhandenen  Gleichheit) 
zweier  Gegenstände.  Wir  haben  vorhin  schon  die  Zwei  die 
erste  Zahl  genannt;  wir  erkennen  jetzt,  dass  sie  die  einzige 
natürliche  Zahl  ist.    Wir  vermögen  uns  freilich  nicht  den 
psychologischen  Vorgang  einer  Urzeit  vorzustellen,  in  welcher 
den  Menschen  die  Begriffe  der  Einheit  und  der  Gleichheit, 
das  heisst  der  Zwei/.iihl  noch  fehlten.     Wir  können  uns 
aber  recht  gut  vorstellen,  wie  eines  Tages  das  grösste  raathe- 
matische Genie,  das  jemals  auf  Erden  gelebt  hat,  für  das 
Gefühl  der  Gleichheit  zweier  Dinge  einen  sprachlichen  6e- 
ftthlsausdruck  suchte,  zwei  sagte  und  damit  das  ZSUeii  er- 
fand. Wir  können  tms  Torstellen,  wie  diese  epochemacliende 
Erfindung  FortBchritte  maclite,  wie  man  von  der  Zwei  zu 
ihrem  Zweiten  u.  s.  w.  gelangte  und  wie  fllr  Gruppen, 
welche  noch  mit  den  Augen  zu  Übersehen  oder  mit  den 
tastenden  Fingern  zu  Tergleichen  waren,  Empfindungsaus- 
drOche  sprachliche  Firiemng  fanden,  die  dann,  je  nach  dem 
0enie  eines  Volks,  bis  zu  5,  bis  zu  10,  bis  zu  12  oder  bis 
zu  20  gingen,  wie  dann  wieder  ein  mathematisches  Genie 
die  EmpfindungsausdrUcke  zu  äUilen  anfing  (zwanzig  ist  deut- 
lich —  2  X  10)  und  wie  so  der  zufWige  Grund  gelegt  wurde 
zu  unserm  Zahlensystem.   Nichts  kann  mir  femer  liegen 
als  bei  meinem  Misstrauen  gegen  alle  Torhistorische  Etymo- 
logie das  indoeuropäische  Wort  för  zwei  zur  Erklärung 
heranzuschleppen.   Es  wäre  aber  ganz  hQbsch,  wenn  das 


182 


VL  Bas  Zahlwort. 


Zahlwort  zwei  (  vielfach  tva  oder  dva)  und  das  Fürwort  ilu, 
,8"  nud  das  Fürwort  der  zweiten  Person  (im  8anskrit  tvani)  ursprüng- 
lieh  ein  und  dasselbe  Wort  gewesen  wäre.  Wir  haben  ge- 
sehen: es  gibt  in  der  weiten  Welt  der  psycholoirischen 
Wirklichkeit  nur  eine  einzige  Einlieit,  die  Einheit  des  in- 
dividuellen Bewusst.seins,  die  P]inheit  des  leb;  und  da  wäre 
es  doch  n^arjz  hübsch,  wenn  das»  erste  niatliematische  Genie 
am  Kebeumeuschen  die  Entdeckung  gemacht  hätte,  dass  er 
auch  so  ein  loh  sei,  wenn  er  den  BegritV  des  Zweiten  zuerst 
auf  einen  Nebenmeuschen  angewandt  hätte,  wenn  das  „du* 
eigentlich  geheissen  hätte  „mein  zweites  Ich".  Dann  hätte 
der  berühmte  Satz  der  Veden  „Tat  tvam  asi"  in  irgend 
einer  fernen  fernen  Vorzeit  wirklich  den  Öiim  gehabt:  ,Du 
bist  mein  zweites  Ich." 

Die  unabweisbare  Vorstellung  einer  Verwandtschaft 
zmaehea  den  Begriffen  zwei  und  du  wird  sichtbar  an  den- 
jenigen Sprachen,  welche  am  Yerbum  und  am  Substantiv 
eine  besondere  Bfldungsform  fUr  die  Zweizahl  haben,  den 
DuaL  Der  Dual  ist  in  den  modernen  Spradien  fast  völlig 
verloren  gegangen.  Das  ausgebildete  Zahlensystem  hat  die 
einzige  natOrliche  Zahl,  die  Zwei,  verschlui^en  und  an  ihre 
ordnungsmässige  Stelle  gesetzt,  wo  sie  sich  an  Sprachwert 
von  der  1  und  3  nicht  zu  unterscheiden  scheint.  In  dem 
Dual  der  alten  Sprachen  liegt  aber  das  Geheimnis  versteckt, 
dass  wie  die  2  die  einzige  Zahl  ist  so  auch  das  Wort  zwei 
das  einzige  Zahlwort,  welches  aus  dem  organischen  Bau  der 
Gemeinsprachen  nicht  herausfallt.  Das  übrige  Zahlensystem 
ist  eine  Sammlung  wissenschaftlicher  Zeichen,  welche  selbst- 
verständlich zum  weitern  Begriffe  der  Sprache  ebenso  gut 
gehörtti  wie  die  noch  allgemeinem  algebraischen  Zeichen, 
welche  aber  nur  in  dem  Masse  in  dar  Gemeinsprache  Ver- 
wendung finden,  als  die  wissenschaftlichen  YorsteUungen 
der  Mathematik  durch  jahrtausendelange  Einübung  Gemein- 
gut des  täglichen  Lebens  gewordi  n  sind.  Es  i>i  noch  nicht 
gar  so  lange  her,  dass  die  Hechner  eine  Tafel  mit  dem 
Einmaleins  neben  sich  liegen  hatten  und  hineinblickteUf  wie 
sie  heute  die  Logarithmentafeln  nachschlagen;  damals  ge- 


•2"  and  .du*. 


183 


hörte  zwar  schon  die  Zahl  56  zur  Gemeinsprache,  als  Ord- 
nungszahl eigentlich,  welche  hinter  55  kam,  aher  noch  nicht 
die  Vorstellung  von  56  aU  ein  Piodukt  von  7  und  8.  Und 
in  irgend  nner  alten  Zeit  oder  bei  mmdiftn  ladiaaerstänunen 
von  heute  gehOrt  auch  4ie  Grundzahl  56  noch  mdit  rar 
Gemeinsinrache,  wenn  so  ein  Rechner  den  Betrag  auch  durch 
die  Summierung  Ton  swei  Menachen,  iwei  Hftnden,  dem 
linhen  Fuss  und  einer  Zehe  des  rechten  Fusses  ra  stände 
gebracht  haben  kann.  Daran  hat  die  Ausbildung  der  HaUie- 
matik,  der  hdheren  Mathematik  und  der  Metamathematik 
nichts  gdbiderfc.   So  wenig  die  Logik  TOr  IrrtOmem  be- 
wahren kann,  so  wenig  kum  die  Behenschung  der  Maihe- 
ma^  oder  das  Auswendigwiasen  Ton  100  sechsstelligen  Loga- 
rithmen einen  Gelehrten  daTor  schfitKsn,  einmal  7  X  8  =  54 
SU  setzen,  wenn  er  das  alte  Resultat  der  Einmaleinsrechnung 
zufftUig  nicht  im  Ged&ehtnis  hat  Ist  2  wirklich  die  einzige 
echte  Zahl,  so  liesse  sich  der  ganze  stolse  Bau  der  Ifathe- 
matik langsam  und  sicher  herauskonstntieren  aus  der  Ur- 
gleichung  2  —  1  =  1.  Beispielsweise  würden  sich  die  über- 
raschendsten Thatsachen  der  Zahlentheorie  aus  dieser  Glei- 
chung eigeben.  Alle  Zahlen,  wie  dann  alle  mathematischen 
Zeichen,  erfassen  die  Welt,  welche  unser  Übriges  Denken 
▼on  Seite  der  in  uns  erregten  Empfindungen,  also  von  Seite 
ihrer  Qualitäten  erfasst,  einzig  und  allein  Tom  Gesichts- 
punkte der  züli Ibaren  Quantität   Sie  bilden,  immer  abge- 
sehen von  der  Zwei,  einen  Wert  für  sich,  eine  Sprache  für 
sich,  vielleicht  eben  darum  eine  Weltsprache.  Schopenhauer 
hat  einmal  den  mystischen  Ausspruch  gethan,  es  sei  die 
Musik  die  Welt  noch  einmal.   Mit  grösserem  Höchte  konnte 
man  sagen,  die  Zahl  nei  die  Welt  noch  einmal,  und  auch 
Schopenhauer  kam  zu  seinem  Worte  nur,  weil  er,  angcrep;t 
von  Pythagoras  und  den  seitdem  fortgesetzten  Studien  über 
zahienmässige  Tonharmonien,  der  Musik  Zahlen  zu  Grunde 
icfjte.    So  wenig    i'ix  i-  die  Zahlen  Verhältnisse,  welche  mit 
den  Tonharmonien  übereinstimmen,  mit  unsem  Tonem})tin- 
dungeu  irgendwie  vergleichbar  :sind,  so  wenig  ist  die  \\  elt 
der  Zahlen  mit  der  Sinnenwelt  vergleichbar,  die  wir  nicht 


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184 


VI.  Das  Zahlwort. 


anders  sb  mit  dem  metaphysiflchen  Vorbehalt  die  Wirk- 
lidbkeitswelt  nemien  kOimeti.  Die  Welt  der  Zahlen  ist  ein 
fremdes  ISement  in  unserer  Sprache,  immer  abgesehen  von 
der  Zwei  freilich,  wekhe  dem  Erkenntnisse  der  Qleichheit 
einen  Namen  gegeben  hat;  und  es  ist  vielleicht  nicht  bloss 
Zufall,  wenn  wir  im  Deutschen  für  «der  gleiche*,  das  heiast 
der  aweite  auch  sagen  können  «der  nämliche",  das  heisst 
der  genannte.    Die  Mjstik,  mit  welcher  I^thagoras  die 
Mathematik  seiner  Zeit  sur  Aufklärung  der  WeUarätsel  be- 
nutien  wollte,  gilt  heute  nicht  mehr  für  geftiu-lidi;  es  ist 
aber  nur  eine  feinere  Mystik,  wie  wir  jelatt  endlich  seh«i, 
wenn  neuerdings  die  ausserordentlich  ausgedehnte  Anwen- 
dung der  Mathematik  auf  die  Naturwissenschsiten  und  zu- 
letzt auf  die  Logik  mehr  bieten  will,  als  Ersparnis,  üeber* 
sieht  im  1  Klarheit,  wenn  sie  Erklärung  sein  will  und  aus 
der  Welt  der  Zahlen  die  Lösung  der  Welträtsel  hofft.  Die 
Welt  der  Zahlen  hat  ihren  eigenen  Schlüssel,  der  zu  den 
Rätsein  der  Sinnenwelt  nicht  passt.   Emst  Schröder  ver- 
steigt seine  Phantasie  so  weit,  dass  er  einmal  (I.  S.  125) 
Denk-   durch  die  Algebra  der  Logik  die  Erfindung  einer  »Denk- 
raaschine"  fUr  möglich  hält,  „analog  oder  vollkommener 
wie  die  Rechenmaschine,  welche  den  Menschen  einen  selir 
beträchtlichen  Teil  ermtldender  Denkarbeit  fortan  abnehmen 
wird,  gleich  wie  die  Damptma'^'  liine  es  mit  der  physischen 
Arbeit  erfoli^reich  thut."    Vielleicht  soll  eine  künftige  Zeit, 
indem  ein  sclüichter  Manu  oder  ein  elektriücher  Motor  die 
Kurbel  der  Denkmaschine  dre)it,  so  die  sieben  Weltriitsel 
lösen  Oller  doch  einige  neue  ><aturgeset/.e  entdecken.  Die 
Lehre  von  der  Erhaltunf:^  (jer  Energie  hätte  dem  geistreichen 
Manne  sagen  sollen ,  dass  auch  eine  Denkmaschine  nichts 
hervorbringen  kann,  was  nicht  vorher  in  sie  hineingesteckt 
worden  ist.     Der  Vergleich  mit  der  Rechenmaschine  ist 
vortrell'lich,  aber  spricht  nicht  zu  Gunsten  der  Denkmaschine. 
Die  Rechenmaschiao  ist  möglich,  weil  ihre  Ergebnisse  einzig 
und  allein  innerhalb  der  autonomen  Zakkuwelt  Gültigkeit 
haben    und   niemand  von   der  liecheumaschine  Auskunft 
darüber  verlaugt,  ob  nachher  die  Münze  der  Zahlung  falsch 


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185 


ist  oder  nicht,  ob  die  Zahlen  auf  Aepfel  oder  Nüsse  be- 
zogen werden  sollen.  Die  Denkmaschine  jedoch  hat  es  ent- 
weder mit  der  Wirklichkeit« weit  zu  thun  und  dann  fehlt 
die  Brücke  von  der  Maschine  zur  Welt,  oder  sie  wird  nach 
den  Prinzipien  der  algebraischen  Logik,  nach  dem  Locfik- 
kalkul  konstruiert ,  und  dann  wird  sich  wohl  herausstellen, 
dass  die  so  stolz  als  exakte  Logik  auftretende  Algebra  der 
Logik  nichts  ist,  wie  schon  gesagt,  als  Statistik  und  der- 
gleichen, dass  sie  das  Ende  der  Logik  ist,  das  Ende  des 
Glaubens,  eine  Lehre  von  den  Denkgesetzeu  könne  anders 
als  durch  eine  gewisse  Hebung  das  Denken  fSräem*  Mir 
scheint  die  Anwendung  der  Mathematik  auf  die  Logik,  ge- 
rade in  ihrer  bewundernswerten  Ehrlichkeit  und  Konsequenz, 
den  Sfcors  der  modernen  mathematischen  Mystik  Tonu- 
bereiten.  Audi  auf  sie  trifflb  zu,  was  Emst  Mach  (Mechanik 
S.  479)  warnend  gesagt  hat:  «Die  Erinnerung  ist  keine 
eigentliche  Arbeit,  sondern  eine  Auslosung  yon  zweckmSesi- 
gerer  Arbeit.  Gerade  so  vertoilt  es  sich  mit  der  Verwendung 
wissenschaftlicher  Oedanken.  Wer  Mathematik  treibt«  ohne 
sich  in  der  angedeuteten  Richtung  AufklSrang  zu  ver- 
schaffen, muss  oft  den  unbehaglidien  Eindruck  erhalten,  als 
ob  Papier  und  Bleistift  ihn  selbst  an  Intelligenz  QbertriUen. 
Mathematik  in  dieser  Weise  als  Unterrichtsg^genstiand  be- 
trieben ist  kaum  bildender,  als  die  Beschlftigung  mit  Eab- 
bala  oder  dem  magischen  Quadrat.  Notwendig  entsteht 
dadurch  eine  mystische  Neigung,  welche  gelegentlich  ihre 
FrOchte  tr&gt' 


TII.  Syntax. 

Wir  haben  gelernt,  dass  diejenigen  neuen  Begriffe,  die 
wir  nur  als  Deklinationsformen  des  Nomens  und  als  Kon- 
jugationsformen des  Yerbums  zu  betrachten  gewöhnt  sind, 
durchaus  keine  deutlichen  und  eindeutigen  Vorstellungen 
wachrufen;  alle  Beziehungen,  die  sie  angeblich  bezeichnen, 
sind  unbestimmt  und  nebelhaft.  Erst  unsere  aussersprach- 


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186 


VII.  Sjutiix. 


liehe  Bekanntscliaft  mit  der  Wirklichkeit  bringt  zu  den 
Formen  Bestimmtheit  hinzu.  Wir  werden  also  schon  ver- 
muten, das8  unsere  Satigefilge,  die  doch  nur  Kombinationen 
▼on  Wortformen,  also  Steigwungen  dieser  Unbestimmtheiten 
sind,  erst  recht  den  Glauben  an  die  Eindeutigkeit  der  Sprache 
erschüttern  werdoi. 

Um  diesen  GUuben  ToUends  aufzugeben,  mttssen  wir 
uns  freilich  erst  hinwegsetsen  Ober  die  Ammenmirdien,  die 
uns  in  dw  Grammatik  erzählt  werden.  Wir  mOssen  in 
unserm  Denkoa  den  Bann  der  Sprache  brechen,  in  welcher 
wir  denkeu.  Erst  wenn  die  Sprachwissenschaft  so  ihre 
dgenen  Ergebnisse  angewandt  haben  wird,  erst  wenn  die 
Sprachwissenschaft  die  Denkgewohnbeiten  unserer  Kultur^ 
sprachen  auch  praktisch  als  Lokalsitten  der  abendländischen 
Menschheit  auffassen  gelernt  haben  wird,  wenn  sie  die  Denk- 
gewohnbeiten fonnenarmer  Sprachen  als  ebenbürtig  erkannt 
haben  wird,  so  wie  die  neuere  £thni^raphie  die  Sitten 
mlder  Völkerschaften  zu  bemoralisieren  aufhört,  erst  dann 
wird  die  Revolution  vollzogen  sein,  für  welche  die  Sprach- 
wissenschaft alinnngslos  seit  hundert  Jahren  gearbeitet  hat. 

Ich  nehme  meinen  Ausgangspunkt  wieder  einmal  von 
einer  Erfaiirung,  die  sonst  kaum  henhachtet  Avird,  weil  sie 
alltäglich  ist.  Ich  will  zeigen,  dass  die  Synt^ix  für  die  Er- 
kenntnis womüglich  noch  gleichgültiger  ist  als  die  gram- 
matische Wortform,  dass  vielmehr  die  Aufmerksamkeit  auf 
die  dem  Satzgefüge  zu  Grunde  liegenden  Vorstellungen  einzig 
und  aliein  Zweck  und  Erfolg  einer  Kede  ist. 

Welchen  Wert  und  welche  Bedeutung  hat  die  Svntax 
für  uns,  wenn  wir  eine  Rede  anhören?  Der  Abgeordnete 
spricht  eine  Stunde  über  eine  Gesetzvorlage,  der  Professor 
über  eine  neue  Entdeckung,  der  Pfarrer  über  die  Qualen 
der  Hülle.  Nehmen  die  Zuhörer  einen  Anteil  an  den  \ Or- 
stellungen  dieser  Rede,  sind  sie  an  diesen  Vurstellungen 
aus  direktem  oder  indirektem  Egoismus  beteiligt,  so  werden 
sie  dem  sogenannten  Gedankengang  des  Keduers  fulgen. 
Worin  besteht  dieser  Gedankengang?  Etwa  in  der  Syntax 
seiner  Rede?  So  wenig  doch,  will  ich  hofifen,  wie  der  Kausal- 


Syntax  des  Bednen. 


187 


zusammeuliaug  der  Weltereij^isse  auf  den  Formeln  beruht, 
welche  Pedanten  die  loc^isclien  Gesetze  genannt  haben.  So 
wenig  als  der  Wort  eines  Bildes  von  seinem  Rahmen  ab- 
hängt. Der  Gerlfiiiktugang  des  eintiussreichen  iiedners  —  den 
ich  streng  vom  ^uten  Uedner  oder  dem  Schwätzer  unter- 
scheide —  zeichnet  sich  von  deru  Träumen  des  Si-hlafenden 
oder  des  einftussloscn  Hin-  und  Herred eus  doch  nur  dadurch 
aus,  dass  er  aus  der  Fülle  der  sich  aufdrängenden,  hin- 
und  herschiessenden  Associationen  diejenigen  auswählt  und 
bequem  zusammenstellt,  die  nach  seiner  Ueherzeugung  oder 
seinem  Interesse  der  Wirklichkeit  entsprechen.    Der  Poli- 
tiker erinnert  uu  diejenigen  uationalökonomischen  Thatsachen, 
die  für  oder  gegen  den  Gesetzentwurf  sprechen,  der  Pro- 
fessor zeigt  die  nähern  oder  fernem  Wirkungen  einer  neu- 
beobachteten Naturarselieinung ,  der  F&rrer  erregt  Bilder 
Ton  den  Peinigungen,  mit  denen  gebömte  Teufel  die  Un- 
gläubigen iwicken.  Die  AufmerioMmkeit  wird  allein  durch 
die  erregten  Vorstellungen  erweckt  Interessieren  die  Vor- 
stellungen nicht,  weil  der  Professor  onsthaft  Anschauungen 
des  Torigen  Jahrhunderts  vorträgt,  weil  der  Politiker  auf 
einem  unmodernen  Steckenpferde  herumreitet,  so  werden 
die  ZuhOrer  ebenso  einschlafen  wie  unerweckte  Ifenschen 
in  der  Kirche.  Hören  die  Leute  im  Parlament,  im  Kolleg, 
in  der  Kirche  dem  guten  Redner  zu,  trotzdem  die  von  ihm 
gewetMen.  Vorstellungen  sie  nicht  interessieren,  wirkt  also 
die  Bede  als  solche,  so  haben  wir  es  mit  einer  kOnstleri- 
sehen  Wirkung  zu  thun,  die  uns  hier  nichts  angehen  soll. 

In  diesem  letzteren  Falle,  bei  der  künstlerischen  Wir- 
kung etaer  interesselosen  Bede,  spielt  die  Syntax  der  ge- 
meinsamen Sprache  eine  henrorragende  Bolle.  Welche  Rolle 
spielt  sie  aber  beim  Anhören  einer  Bede,  die  ich  einfluss- 
reich genannt  habe,  also  einer  Bede,  die  allein  der  Absicht 
der  Sprache,  von  Mensch  zu  Mensch  zu  wirken,  der  Ab- 
sicht der  Suggestion  entspricht?  Ich  wül  die  Dinge  nicht 
auf  die  Spitze  treiben  und  will  zugeben ,  dass  dio  Sjmtax 
so  gut  wie  die  grammatischen  Wortformen  bei  der  bequemen 
Anordnung  der  VorsteUungsreihen  ein  wenig  mithilft.  Wie 


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188 


die  Casusfornien  und  die  Tempusformen  ungefähr  und  nebel- 
haft es  eikiclitern,  die  einzelnen  Begrifie  aufeinander  zu 
beziehen,  so  gibt  es  auch  im  Satzgefüge  analogische  Kate- 
gorien, die  uns  ungefähr  mitdenken  lassen:  der  Redner  legt 
auf  den  einen  Satz  mehr  Gewicht  als  auf  den  andern,  er 
fasst  die  eine  Thatsache,  v.  as  luan  si;  sagt,  als  Ursache  der 
andern  auf  u.  s.  w.  Aber  eigentlich  ist  die  Syntax  lüi  die 
Wirkung  der  Rede  viel  gleichgültiger  als  man  glaubt.  Sie 
ist  wie  alle  Sprachrichtigkeit  beinahe  nur  von  negativer 
Bedeutung.  Wir  werden  auf  die  Sjntaz  erst  aufmerksam, 
wenn  ein  Redner  aDsa  grob  gegen  ihre  Oewohnbeiten  oder 
Regeln  TerstOeet  Es  wird  uns  aber  —  abgesehen  Ton  der 
ftfläletiscbra  Würdigung  —  gar  nicht  einfallen,  uns  darum 
zu  bekflmmem,  ob  der  Redner  innerhalb  der  grossen  Frei-* 
heit  unserer  syntaktischen  Gewohnheiten  seine  Gedanken 
mit  d«r  kindliehen  Einfalt  eines  Botokuden  aneinnnderreiht 
oder  im  Üppigen  Periodenstil  eines  fransösischen  Akade- 
mikers« Die  Sjntaz  ist  uns  innerhalb  dieser  vdten  Grenze 
so  gleichgtlltig,  wie  die  Kleidung  des  Redners  innerhalb  der 
Grenaen,  die  wir  anständig  nennen*  Erst  Ahlwardts  zer- 
rissene Hosen  eiregen  Anstoss.  Im  Itbrigen  kann  der  Redner 
erscheinen  wie  er  wiU.  Und  es  ist  bezeichnend,  dass  einer 
der  besten,  das  keisst  einflussreichaten  Redner,  die  je  gelebt 
haben,  dass  Fflrst  Bismarck  im  Sinne  der  Grammatiker  ein 
schlechter  Redner  war,  dass  er  geradezu  oft  die  Regeln  der 
Syntax  umwarf,  weil  sein  Nachsatz  einfach  sprachlich  zum 
Vordersatz  nicht  passte.  Ganz  köstlich  ist  es  übrigens,  dass 
die  Grammatik  diese  Unverbindlichkeit  der  Syntax  fUr  die 
besten  Geister  längst  bemerkt  hat,  dass  sie  sie  sogar  zu 
ihrem  nicht  geringen  Schmerze  bei  den  Uber  alles  berühmten 
homerischen  Gleichnissen  registrieren  musste,  und  nun,  wie 
für  jede  Ausnahme  von  ihren  Regeln,  auch  für  den  Mangel 
an  Syntax  einen  schönen  syntaktischen  Ehrennamen  ge- 
schaffen hat.  Die  Grammatik  befiehlt  bei  strengen  Strafen 
Gehorsam  gegen  rlie  Syntax;  Ungehorsam  ist  aber  dann  eine 
neue  Schönheit  und  heisst  Anakoluthie,  das  heisst  Nichtfolge. 
Die  Wertlosigkeit  der  Syntax  wird  vielleicht  noch  klarer, 


Wortfolge. 


wenn  wir  ao  die  wirklidie  Aufnahme  einer  sosunmen- 
hSngenden  Bede  denken,  abo  an  unsere  psychologische 
ThStigkeit  beim  AnhOren,  Es  iet  bekannt,  dass  wir  beim 
Lesen  die  Wortbüder  su  flflchtig  anf  nns  wirken  lassen,  vm 
so  leicht  Druckfehler  lu  bemerken.  Jahrelange  gelegent- 
liche Beobachtungen  in  Zeitungsdmckereien  haben  mich 
etwas  Neues  dazu  gelehrt:  dass  nftmlicii  von  d^  Schrift- 
steilem  (dk  gewöhnlich  schlechte  Korrektoren  sind)  Druck- 
fehler in  den  Wortsttmmen  wohl  mit  ^img^r  Sichei^ett 
entdeckt  werden,  viel  seltener  aber  Druckfehler  in  den  Ab- 
leitungssilben. Ich  habe  (II.  S.  385)  darauf  hingewiesen, 
dass  wir  wieder  in  besonderer  Weise  falsch  hören.  Es  geht 
ja  auch  die  Tendenz  der  Sprachentwickelung  dahin,  die 
Büdungssüben  des  Nomens  und  des  Verbums  abzuschleifen 
und  verschwinden  zu  lassen,  was  gar  nicht  mdgli<^  wäre^ 
wenn  nicht  die  sprechenden  und  die  hörenden  Menschen 
gleichpfültig  waren  gegen  den  Ausdruck  dieser  Formen, 
üebersehen,  Ueberhören  der  Fehler  ist  danach  das  Ele- 
ment, das  Urphänom«i  des  Lautwandels.  Die  Reihen- 
folge der  Vorstellungen,  wie  sie  durch  die  Wortstämme 
allein  schon  in  uns  erweckt  werden,  ist  für  die  Auf- 
nahme des  Gedankengangs  die  Hauptsache.  Dazu  kommt 
dann  freilich  als  wichtigster  Ausdruck  des  Gedankengangs 
und  als  wichtigste  Erscheinung  ulier  Syntax:  die  Wort-  Wort- 
folge. Wollte  mau  die  Wortfolge  allein  sclion  Syntax  '"'ß^- 
nennen ,  so  müssto  ich  hier  meine  Kritik  der  Syntax  alj- 
brechen  und  sagen:  die  Wortfolge  ist  allerdings  von  Wichtig- 
keit für  unsere  Spruclie :  denn  in  der  Wortfolge  lieürt.  wenn 
nicht  die  Ordnung  der  Wirklichkeit,  so  doch  iliejenige  Ord- 
nung ausgedrückt,  in  welcher  wir  die  Wirkliciikeit  uns  nach 
unserni  Staudpunkte  vorstelleu.  Es  sind  aber  nur  einige 
weit  entlegene,  der  Sprachwissenschaft  sehr  wenig  bekannte 
Sprachen,  in  denen  Wortfolge  und  Syntax  zusammenfallen. 
In  unsem  Kultursprachen  ist  die  Wortfolge  nur,  ich  niüchte 
sagen,  das  üerippe  der  Syntax.  Das  Satzgefüge  bis  hinauf 
zum  viel  bewunderten  Periodenbau  verlangt  einen  ganz 
anderen  Aufwand  von  Ausdrucksmitteln  für  die  koordinierten 


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190 


VII.  SyntML 


und  subordinierten  Sätze  und  fOr  die  scbmttckenden  Zier- 
rate, in  irelche  jeder  einzelne  S«tsteil  verwandelt  werden 
kann.  Was  die  Grammatik  die  Syntax  nennt,  das  ersch^nt 
in  ihrer  Darstellung  wie  die  nStUvoUe*  Fassade  eines  Pracht^ 
bans;  in  Wirklichkeit  ist  sie  die  unwaihre,  der  Mode  unter- 
worfene, sehr  oft  durchaus  unlogische,  äusserlich  angeklebte, 
7.im\  BI  niden  bestimmte  Strassenfassade ^  mit  welcher  ge- 
fällige Architekten  die  Mietskasernen  der  Grossstadt  be- 
werfen. Inwendig  die  Reihe  von  Arbeitsadmmer  und  Schlaf- 
zimmer, von  Speisezimmer  und  Klosett,  wie  das  Bedürfnis 
es  verlangt,  auswendig  Renaissancestuck  oder  gotischer 
Stuck,  wie  die  Eitelkeit  des  Mieters  und  das  Geschäft  dee 
Vermieters  es  verlangt. 
Steno  Wie  wenig  die  Syntax  zum  Wesen  der  Sprache  gehdrt, 

giaphie  2:ur  Verbindung  und  Mitteilung  bequemer  Vorstellungsreihen, 
kann  man  an  der  psychologischen  Thätigkeit  unserer  Kammer- 
stenogra]>hen  sehen.  Sie  notieren  mit  v(dlcr  Deutlichkeit 
doch  im  Grunde  nur  einige  Lauttmippm  ,  welche  die  ent- 
scheidenden Vorstellungen  wachrufen;  für  die  Bihlungsformeu 
der  Worte  und  auch  für  die  syntaktische  Oliederun!^  der 
Satze  haben  sie  ausreichende  Zeichen.  Man  könnte  mir  ein- 
wenden, dasf?  die  streni^-*^  (To^etzniässigkeit  der  Syntax  sich 
grade  daran  erweise;  diu  *t(  st  i /-ii  issi^keit  zwinge  den  Steno- 
graphen, nachher  dieselben  Worte  zu  gehnuiclien  wie  der 
Redner.  Nein,  das  gute  Gedächtnis  des  Stenographen  spielt 
wesentlich  mit,  wenn  er  eine  hall)e  Stunde  nach  tlem  Steno- 
graphieren sein  Stenogramm  umschreibt.  Ein  Mann  mit 
noch  bessern)  Gedächtnis  könnte  die  Rede  vielleicht  aus  dem 
Kopf  nachschreiben.  Dasjenige  Gedächtnis,  welches  die  ur- 
sprüngliche Rede  aus  den  flüchtigen  Zeichen  wieder  herstellen 
lässt,  ist  freilich  kein  anderes,  als  das  Sprachgedächtnis 
selbst,  als  die  in  unserm  Gehirn  vorhandenen  syntaktischen 
Kategorien,  als  die  durch  ungefähre  Analogie  entstandene 
Gewohnheit,  unklare  Gruppen  von  Satzbeziehuugen  durch 
gewisse,  ihrem  Sinne  nach  unbestimmte  Formen  auszudrücken. 
Der  Kammerstenograph  entlastet  aber  fast  nur  sein  Sprach- 
gedaehtnis  für  grammatische  und  syntaktische  Formen;  dieses 


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Stenographie. 


191 


G^ppe  hat  er  nachher  sichtbar  vor  sich  und  vervollständigt 
es  lu  eiaem  lebendigen  Gebilde  durch  sein  Gedächtnis  fQr 
die  Sitoalioii  dee  F^unentg,  för  die  Seelensituation  des 
Redners.  Das  NichtBagensverto,  die  Caane-  und  Tempus- 
formen  und  die  Eonjunktionea  haifc  er  fixiert;  das  Sa^^na- 
werte,  die  Wortstftmme  von  Adjektiv,  Yerbum  und  SuV 
etaativ  ergänzt  «r  aua  dem  Situation^fedüchtniB.  Anders 
bei  einer  Debatte  um  Branntwein,  anders  bei  einer  um  die 
Schule.  Die  Kammerstoiographie  —  nach  der  verbreitetsten 
Methode  —  schreibt  nicht  wie  wir  sprechen.  Auch  nicht 
wie  wir  hdren.  Sie  ist  eine  mnemotechnische  Hilfe;  sie  er» 
innert  durch  die  ZufUügkeiten  der  Syntax  (die  fllr  jede 
Sprache  anders  unbestimmt  sind)  an  den  Gedankengang. 
Auch  der  beste  Stenograph  könnte  eine  rasche  Rede  kaum 
in  einer  Uebersetaung  niederschreiben. 

Haben  wir  uns  erst  an  den  Gedanken  gewöhnt,  dass 
die  Bedeutungen  der  syntaktischen  Satzgliederung  ebenso 
unbestimmt  sind  wie  der  Sinn  der  Cwsus-  und  Tempusformen, 
haben  wir  nun  femer  erfahren ,  dass  wir  beim  Aufnehmen 
einer  Rede  nur  mit  halbem  Ohr  auf  diese  formalen  Teile 
der  Worte  und  Sätze  hinhören,  so  fehlt  uns  nicht  mehr  viel 
zu  der  Einsicht,  dass  die  AnaiogiebiMiingen  der  Syntax  mit 
allen  ihren  schönen  Gesetzen  nur  Zufälligkeiten  sind,  Zu- 
fälligkeiten unsrer  Sprache,  die  grade  wir  ererbt  haben.  Das 
GefQge  des  zusammengesetzten  Satzes  braucht  sich  von  dem 
einfachen  Satze  nicht  mehr  zu  unterscheiden,  als  der  Kleider- 
stoflF,  welchen  der  Verkäufer  faltenreich  vor  der  Kundin 
ausbreitet,  von  demselben  Kleiderstoff  im  Ballen.  Für  den, 
der  mit  den  begleitenden  Umständen  Bescheid  weiss,  ist  die 
flüchtigste  Tage})nchnotiz  ebenso  inhaltreich  und  deutlich, 
wie  der  aus  ihr  entwickelte  einfache  Satz  und  wie  die 
reicherp  Periode.  Wenn  ich  mir  ins  Tagebnch  schreibe 
„gestern  Erbfürs ter  G.**  so  ist  das  für  mich  eljensoviel  wie 
für  einen  Eingeweihten  die  Mitteilung  »ich  habe  gestern 
abend  im  Theater  bei  Baumeister  meinen  Freund  G.  ge- 
sjtrochen*.  Einem  ganz  Fh  im  Um  könnte  ich  die  Sache 
ebenso  genau  durch  Uinzutilguug  weiterer  Nebenumstände 


192 


berichten,  ohne  die  Grenzen  des  einfachen  Satsee  xu  Aber- 
schreiten.  Manche  Sprachen  kOnnen  es  gar  nicht  anders. 
Ich  kann  aber,  indem  ich  meine  Bedeweise  mehr  und  mehr 
der  in  Bomanen  flblichen  Schriftsprache  nXhere,  ein  Satt» 
geftige  daraus  machen:  «Als  gestem  abend  der  Tortreffliche 
Baumeister,  welcher  als  Gast  aus  Wien,  wo  er  sonst  wiikt,  su 
uns  gekommen  ist,  im  Neuen  Theater  den  Heldeii  im  »Brb- 
förster*  spielte,  dem  aufregenden  Trauetspiele  Otto  Ludwigs, 
traf  ich  im  Foyer  meinen  eimdgen  Freund  0.,  dem  ich  alle 
m^ne  Gediuiken  miteuteflen  gewohnt  bin  und  der  mit  seinen 
herzlichen  Anteil  die  Entstehung  meines  Werkes  Ton  Stufb 
zu  Stufe  Teriblgt,  als  ob  für  ihn  auf  der  Welt  nichts  Wich* 
tigeres  bcsttlnde;  da  die  Verhältnisse  es  gestatteten,  hatte 
ich  die  Freude,  ihn  einige  Minuten  zu  sprechen."  Sollte 
jemand  mein  Denken  so  genau  kennen  wie  ich  selbst,  so 
würde  er  aus  den  drei  Worten  der  Tagebuchnotiz  den  voli** 
ständigen  Inhalt  dieser  Periode  erfahren,  nicht  etwa  erraten, 
wenigstens  nicht  in  einem  andern  Sinne  erraten,  als  auch 
die  breiteste  Ausdrucksweise  bloss  erraten  lässt.  Je  nach- 
dem die  einzelnen  Vorstellungen  im  andern  schon  Torhanden 
sind  oder  erst  geweckt  werden  sollen,  müssen  mehr  oder 
weniger  BegriflFe  in  einer  bequemen  Wortfolge  gebraucht 
werden.  Die  syntaktische  Gliederung  aber  ist  fUr  den  Er- 
folg so  gut  wie  gleiclinrültig. 
Komiank-  Für  die  syntaktische  Gliederung  sind  in  der  eben  aus- 
ttonen.  gesprochenen  Periode  eine  Anzahl  von  Worten  wesentlich,  die 
man  Verbindungsworte  oder  Konjunktionen  nennt  oder  wenig- 
stens in  einem  weitern  Sinn  so  nennen  könnte,  nämlich:  als. 
web  her,  wo,  als  ob,  da  u.  s.  w.  Diese  Verbindungswörter 
spielen  v(ir  dem  Satze  dieselbe  liolle  wie  die  Präpositionen 
vor  dem  Substantiv.  Beide  Wortarten  sind  wir  nicht  ge- 
W(»lint  Iiis  Zeiclien  für  Begriffe  anzusehen;  sie  sind  uns  Zeichen 
von  Beziehungen.  Und  diese  Beziehungen  sind  so  unbe- 
stimmter Art,  dass  wir  eben  darum  nur  selten  festumschiie- 
bene  Begriffe  mit  ihnen  verbinden  können.  Ja  noch  mehr: 
ein  und  dasselbe  Wort  hat  sehr  häufig  bald  den  Dienst 
einer  Präposition  bald  den  einer  Konjunktion  zu  versehen. 


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KoqjmiktioiMn. 


193 


Nun  stellt  es  ausser  Frage,  dass  alle  die<^c  Verbindtti^p- 
worte  nrsprOiiglicli  anschauliche  BegriffiB  bezeichneten;  wir 
stehen  also  vor  derselben  Erscheinung  wie  bei  den  Formen- 
silben  des  Nomens  und  des  Yerbums,  die  ursprQnglich  selb- 
ständige Worte  waren  und  ersfc  allmählich  so  weit  ver- 
blassten,  dass  wir  an  ihnen  blosse  Beziehangen  erkannten. 
Wir  wissen  oder  lehren  wenigstens,  dass  die  zahlreichea 
Formbildungen  der  Deklination  und  Konjugation  ursprünglich 
selbständige  Worte  waren  und  sich  erst  mit  der  Zeit  so 
gruppierten,  dass  wir  in  ihnen  nur  noch  grammatische  Kate- 
gorien erblicken.  Es  ist  das  eine  rechte  Bequemlichkeit 
beim  Sprechen,  mehr  nicht.  Eine  eben  solche  Bequemlich- 
keit, aber  auch  Tiicht  mehr  ist  es,  wenn  die  obigen  Worte 
(als,  wo  u.  s.  w.)  zu  Verbindnn£fsworten  verblasst  sind  und 
wir  mit  ihnen  eine  syntaktische  Kategorie  verbinden,  bei 
der  wir  uns  nur  insofern  etwas  Bestimmtes  vorstellen,  als 
unsere  Vorstellungen  ohnedies  schon  bestimmt  sind. 

Die  zum  Instinkt  gewordene  Bequemlichkeit,  mit  welcher 
durch  die  Sprache  Vorsti  lluiiL^en  von  Dingen  und  Voi^tfl- 
lungen  von  Beziehungen  hervorgerufen  werden,  tiiusclit  den 
Forscher  immer  wieder  darüber,  wie  armselig  der  Organis- 
mus der  Sprache  ist  gegenüber  dem  Organismus  der  Welt. 
Ist  das  schon  deuthch  nachweisbar  an  den  verhältnisniässig 
konkreten  Worten,  den  Verben  und  Substantiven,  und  an 
ihren  Deklination«-  und  Konjugationsformen,  so  tritt  es  am 
hellsten  hervor  im  Gebrauche  der  Konjunktionen ,  weil  diese 
die  logischen  Verhältnisse  der  Gedanken  mitteilen  sollen 
und  dazu  völlig  ungeeignet  sind.  Betrachten  wir  so  die 
drei  allergewöhnlichsten  Konjunktionen:  und,  aber,  oder. 

Zunächst  bitte  ich  jeden  Leser,  mir  einen  einfachen  tm. 
Versuck  nachzumachen.  Er  lasse  sich  einmal  eine  beliebige 
Seite  mit  all  ihren  unds,  abers  und  oders  völlig  tonlos  Tor* 
lesen,  hierauf  eine  andere  beliebige  Seite  mit  guter  Be- 
tonung, nur  mit  Hinweglassung  dieser  Konjunktionen.  Er 
wird  (dme  Zweifel  meine  Erfahrung  bestätigt  finden,  dass 
der  Ton  für  das  Yerstindnis  wichtiger  ist  als  der  Gebranch 
der  Konjunktionen.    Man  achte  ferner  darauf  (Beispiele 

]la«tbn«r,  Bdtilg«  n  «law  Kritik  d«r  Syimsh«.  m.  18 


._^  kj  i^  -o  i.y  Google 


194 


finden  sich  in  K.  F.  Becktih  „Organism  der  Sprache"  2.  A. 
S.  471  f.,  einem  tiefdringenden  und  feinhörigen,  mit  Un- 
recht Ton  Steinthal  viclgeschmähten  Buche),  welcher  Luxus 
mit  Konjunktionen  in  wissenschaftlichen  und  in  epischen 
Darstellungeu  getrieben  wird,  während  sie  in  der  dramati- 
sckem  Rede  oft  und  mit  besonderer  Wirkung  fortgelassen 
werden.  Denn  das  WegiUlen  der  Eoi^iuiktion  (WegfaUen  ist 
ein  alberner  Sebnlaasdrack)  zwingt  zu  starker  dramatischer 
Betonung.  Man  achte  endlieh  wo  mOglich  auf  den  Unter- 
schied zwischen  dem  innem  Denken,  dem  hiusUchen  Ge- 
pjauder  und  der  Anwoidung  einer  offiziellen  korrekken 
Sprache,  üeberdenken  wir  eine  Sache,  so  gehen  dabei 
samtliehe  Glieder  des  Gedankengangs  durch  unser  Bewusst- 
sein,  aber  kein  einz%es  «und*,  kein  einziges  .aber*,  kein 
einziges  «oder*.  Bescheiden  ist  der  Gebrauch  dieser  Worte 
auch  im  intimoi  GesprSdie  i.er  Familien.  Erst  die  Fremdheit 
zwischen  Sprecher  und  H9rer,  erst  die  Sorge,  dass  der  Be- 
wusstseinszustand  des  einen  nicht  der  des  andern  sei,  n9lagt 
zu  der  Eselabrttcke  der  Konjunktionen,  Ton  denen  dann 
natürlich  besonders  dw  gespreizte  Stil  des  Schulauftataes 
und  der  Kandidatenprosa  (das  Wort  ist  Ton  Lichtenberg) 
wimmelt.  Kümmern  wir  uns  nicht  um  Schwatzerei,  halten 
ittr  uns  an  den  ernsten  Gebrauch  der  Konjunktionen.  Da 
sind  sie  in  die  tonlose  Schriftsprache  gekorTmion ,  um  den 
Missverständnissen  abzuhelfen,  die  aus  der  Tonlosigkeit  ent- 
stehen. Was  sie  aber  bewirken  ist  zuletzt  nur  eine  unbe- 
stimmte Erregung  der  Aufmerksamkeit.  Nicht  in  den  und, 
aber,  oder  liegt  der  Sinn,  den  die  Grammatik  ihnen  beilegt. 
In  den  Gedankenverhältnissen  li^  der  Sinn  und  fast  jedes 
GedanlwnTerhältnis  lässt  sich  in  jede  dieser  Koigunktionen 
hineinlegen. 

»«»d*.  Die  Konjunktion  »und"  verbindet  Begriffe  und  Sätze 
gewiss  häufig  mit  einer  gleichmachenden  Tendenz.  In  diesen 
Fällen  kann  das  ,und"  einfach  erspart  werden.  ,Und* 
kann  aber  nicht  fortbleiben,  wenn  es  eine  Steigerung  ( .hohler 
und  hohler  hört  inan's  heulen" ),  einen  Gegensatz,  eine  Be- 
dingung (aDu  musst  und  kostet'      mein  Leben")  ausdrückt. 


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,imd*,  «aber*,  .oder*. 


195 


Auf  einen  besonders  feinen  Unterschied  im  Gebrauche  des 
«lind*  hat  Schröder  hingewiesen  und  ihn  dadurch  zu  be- 
zeichnen gesucht,  dass  «und*  im  Subjekt  die  Addierung, 
im  PrSdikat  die  Multiplikation  der  beiden  durch  ,und*  ver- 
bundenen Begriffe  bedeute.  Das  ist  ohne  Gewöhnung  an 
die  Sprache  des  Logikkalküls  unverständlich.  Alle  Beispiele 
für  diesen  Fall  spielen  ein  wenig  mit  der  Grammatik.  «Be- 
trogene und  Betrfl^er  sind  bedauemsM'ert  —  Frömmler  sind 
Bf^'trogene  und  Betrüger;  schwarz  und  weiss  sind  Farben, 
manche  Malereien  sind  schwarz  und  weiss.*  Man  sieht, 
das  ,und"  im  Subjekt  liesse  sich  durch  ,aber  auch*  er- 
setzen, das  „und"  im  Prädikate  durch  , zugleich*.  Wollte 
ich  das  logische  Verhältnis  m  einer  mathematischen  Formel 
ausdrücken,  so  würde  ich  schreiben:  a  -f  b  2^  c,  c  (a  |  b). 
Mit  den  Zeichen  der  voralgebraischen  Logik  ausgedrückt, 
würde  das  heissen:  im  Subjekt«  verbmdet  ein  «und"  Teil- 
begriffe des  Umfangs,  im  Prädikate  verbindet  es  Teilbegriffe 
des  Inhalts.  Da  nun  die  Begriffe  im  umgekehrten  Ver- 
hältnisse ihres  UnitanL's  und  Inhalt«  zu  einander  stehen,  so 
habe  ich  damit  streng  logisch  formuliert,  dass  das  ^und" 
entgegengesetzte  Beziehungen  auszudrucken  vermag. 

Die  Konjunktion  «aber"  verrät  auf  den  ersten  Blick  .aber^ 
die  Verwendung  in  so  entgegengesetztem  Sinne  nicht  Sie 
wird  am  häufigsten  verwandt,  um  die  Aufmerkeamkeit  auf 
einen  wirUiehen  Oegensate  sq  tnregen.  Ihm  «aber*  ebeoao 
wie  «und*  eine  Steigerung  beieidinen  kann  (Ich  liebe  iboi 
aber  noch  mehr  seine  Frau)  oder  eine  Einschränkung  (Das 
ist  viel,  aber  nicht  genug)  kOnnte  noch  nnter  den  BegrüF 
des  Gegensaties  faUen,  obgleich  manches  B^Bpiel  (Und  ich 
hab*  es  doch  getragen,  aber  fragt  mich  nmr  nicht  wie) 
den  Gedanken  an  einen  Qegensats  kaum  mehr  aufkommen 
liest  In  der  Redensart  «aber  ja,  aber  nein*  drQckt  das 
«aber*  die  ungeduldige  Versicherung  aus,  dass  der  Gegen- 
stand der  Frage  gar  keinen  Widersprach  vertrage,  dass  die 
Antwort  BelbstrerstSndlich  sei.  Endlich  aber  (ich  bitte  auch 
sagen  können:  und  endlich)  wird  ti^ber*  namentlich  in  Nach- 
ahmungen homerischer  Sprache  voUstiad^  gleichwertig  mit 


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196 


YIL  SjBtu. 


^und"  behamielt,  wie  wenn  z.  B.  Goethe  sagt:  ^Also  sprach 
sie  und  steckte  die  itixige  nebeneiDander,  aber  der  Bräu- 
tigam s])rach." 

aodor".  Am  schiiiisten  beobachtet  ist  der  verschiedene  Gebrauch 
von  „oder",  weil  es  im  Lateinischen  durch  so  verschieden- 
wertif?e  Worte  zu  Obersetzen  ist  wie  sive,  aut  und  vfA.  Im 
Deutschen  ist  der  ungleiche  Gebrauch  leicht  zu  bemerken, 
wenn  man  oder  in  diesen  drei  Bedeutungen  ersetzt  durch: 
oder  violmehr,  oder  aber,  oder  auch. 

Etymolotrische  Annahmen  gelien  nun  dazu  einen  merk- 
würdigen Anhitltspunkt;  immer  mit  dem  Vorbehalt,  dass 
es  eine  .sichere  vorhistorische  Etymoloj?!  '  cil^  ntlich  nicht 
giebt.  ^Und"  scheint  auf  ein  SansknLwort  zui iu  kzufUhren, 
■welches  auch  (oder  vielmehr)  ferner  bedtulet;  «aber* 
weist  noch  sicherer  auf  ein  Sanskritwort  hin,  das  etwas 
Späteres  ausdruckt  (apari  =  Zukauft);  «oder*  ist  etwas 
rätselhafter,  dfirfte  aber  doch  mit  einer  attgermaniseheu 
Zeitpartikel  zusammenhSiigeii.  Ich  glaube  sogar,  dass 
dieser  Oebraudi  Ton  »oder*  noch  nicht  ausgestorben  ist;  in 
der  sehr  gebriLuchlichen  Drohung:  ,Sei  still  oder  , ,  A* 
liesse  sich  «oder*  recht  gut  dqrdi  .ehe  dass*  ersetzen. 
»9ei  still  ehe  dass  du  noch  weiter  PMgel  bekommst*  Es 
wire  sonach  gar  nicht  unml^lich,  dass  die  Koigunktionen 
und,  aber,  oder,  so  wie  sie  gegenwärtig  nur  die  Aufmerk-, 
samkeit  des  Hörenden  darauf  hinweisen,  es  werde  der  Ge- 
danke in  irgend  einem  VerhUtnis  sum  Torhergehenden  weiter 
gefbhit  werden,  auch  ursprünglich  beim  Redenden  nur  elende 
Hilfen  waren,  seinen  Gedanken  weitersospinnen,  etwa  in  dem 
Sinne:  weiter,  femer,  sodann.  Im  Hebriischen  gibt  es  denn 
auch  ftlr  und,  aber  und  oder  nur  eine  einzige  Partikel. 

Haupt.  Wie  wenig  die  syntaktischen  Kategorien,  die  die  Gram- 
matik  aufzählt,  mit  unserer  Erkenntnis  oder  auch  nur  mit 
Mts.  unseren  Hitteilungen  zu  thun  haben,  mag  daraus  klar  werden, 
dass  nicht  einmal  die  umfassendste  Unterscheidung,  die  in 
Haupt-  und  Nebensatz,  irgend  einen  de&nierbaren  Sinn  er- 
gibt. Was  ein  Hauptsatz  sei,  das  kann  man  Uberhaupt  nur 
durch  die  Gegenttberstellung  zum  Nebensatz  klar  machen, 


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Haupt-  und  NebensaU. 


197 


und  dann  nur  mit  Worten,  die  ganz  nnd  gar  bOdlieh  sind. 
Hauptsate  soll  derjenige  Sata  aein,  yon  dem  ein  Nebenaata 
ein  Saiqiitied  unuohreibt,  von  dem  also  ein  Nebensatz  ab- 
bftngi.  Wenn  die  Onunmatiker  wOssten,  was  sie  sagen 
wollen,  80  wttrden  sie  doch  nicht  ein  so  nnfaasbares  Wort 
wie  «abhängen*  gebranehen.  Heinetwegen  aber  mag  der 
Hanptsais  so  eitiärt  werden,  nimlieh  so,  dass  er  kein 
Nebensata  seL  Dann  mllsaten  wir  aber  wenigstens  erfehren 
was  ein  Nebensatt  ist.  Ein  Nebensata  aber  wird  erUftrt 
als  ein  Sata,  der  ein  Ba^lied  an  der  Form  eines  Satzes 
erweitert.  SehzeehHch,  aber  auch  das  will  ich  hinnehmen. 
Wir  sehen  in  diesem  SrUftrungsTersnche  eine  Beatttigung 
dafDr,  dass  ein  Unterschied  zwischen  einem  SatagHed  (Be- 
stimmungswort der  Zeit,  des  Grundes  u.  s.  w.)  und  einem 
Nebensatz  fUr  den  Sinn,  also  für  die  Absicht  der  Sprache 
nicht  vorhaiiden  ist  Nun  aber  weiter.  Wenn  simtliche 
Satzglieder  die  Form  von  Sätzen  erhalten,  wird  dann  auch 
das  Hauptglied  zu  einem  Nebensatz?  Im  Sinne  der  Scbul- 
grammatik  gewiss.  Aber  so  wie  im  einfachen  Satze  die 
Kategorien  Subjekt,  Copula  und  Prädikat  sich  durchaus 
nicht  immer  mit  ihren  Definitionen  decken,  wie  je  nach  der 
Absicht  des  Redenden  oder  den  begleitenden  Umständen 
sowohl  Prädikat  als  Copula  die  Bedeutung  gewinnen  kann, 
die  wir  dem  Subjekt  zulegen,  so  kann  im  Satzgefüge  jeder 
Teil  zur  Hauptsache  werden.  Dürrh  Wnrt^toliiui^'  oder  Be- 
tonung kann  ich  in  dom  ( iülachen  Satzt  .icli  sprach  gestern 
im  Tlieater  meinf^n  ö."  nacheinander  jedes  Wort 

zur  Hauptsache  n^K  In  n,  zu  dem,  was  man  das  psychologi- 
sche Subjekt  genannt  hat.  Je  nachdem ,  was  an  meiner 
Mitteilung  das  Neue  ist,  worauf  ich  die  Aufmerksamkeit 
lenken  wiii,  kann  ich  sagen:  »Meinen  Freund  G.  sprach  ich 
im  Theater  gestern"  oder  ,ich  sprach  meinen  Freund  G. 
gestern  im  Theater"  oder  „ich  sprach  gestern  im  Theater 
meinen  Freund  G."  oder  .,meinen  Freund  G."  oder  , meinen 
Freund  G."  u.  s,  w.  Habe  ich  aus  dem  Satze  eine  Periode 
gemacht,  so  liegt  das  Verhältnis  durchaus  niclit  anders.  Das 
Neue,  das  worauf  ich  die  Aufmerksamkeit  richten  will,  kann 


198 


Vn.  Sjntax. 


sehr  wohl  im  Nebensatze  ausgedrückt  sein.  Wenn  Torhin 
in  der  langen  Periode  der  Relativsatz  vorkommt  ,  welcher 
mein  einziger  Freund  ist",  so  Terschwindet  für  mich  und 
vielleicht  auch  ftlr  den  Hörer  die  Bedeutung  des  ganzen 
Satzgefüges  hinter  diesem  Nebensats.  Die  Bezeichnung 
Hauptsatz  und  Nebensatz  verliert  in  allen  solchen  Fällen 
jeden  Sinn;  das  Abhängigkeitsverhältnis  —  um  das  bild- 
liche Wort  schon  zu  gebrauchen  —  wird  durch  die  Wirk- 
lichkeit bestimmt  und  nirht  durch  syntaktische  Formen.  Ja 
ich  verlasse  mich  auf  mein  eigenes  Siitarhgofühl  und  be- 
haupte ganz  entschieden,  dass  unter  Umstünden  der  eben 
frebildete  Nebensatz  trotz  seines  Relativpronora ens  (das  för 
mich  den  Wert  eines  mit  einer  Konjunktion  verbundenen 
Pronomens  hat,  wie  denn  auch  Schopenhauer  solche  Be- 
ziehungen gern  mit  ,als  welcher"  ausdrückt)  in  unserer 
Vorstellung  nicht  nur  den  Hauptgedanken  enthält,  sondern 
sogar  die  sprachliche  Empliudung  des  Hauptsatzes  erzeugen 
kann.  Wenn  ich  in  einer  noch  so  laugen  Periode,  in  der 
sich  Haupt-  und  Nebensätze  verschlingen,  endlich  nach  An- 
pjabe  aller  Zeit-  und  Ortsbestimmungen  zu  dem  Schluss 
konitne  „.  .  .  G.,  welcher  (als  welcher)  mein  einziger  Freund 
ist",  ao  Ivann  die  Sachlage  dazu  führen,  dass  ich  die  ganze 
Periode  dieses  Bekenntnisses  wegen  gebildet  habe  und  dass 
ich  dann  diesen  Nebensatz  nach  meinem  Sprachgefühl  deut- 
lich auch  formell  ab  Hauptsatz  empfinde,  etwa  so:  jawohl, 
jawohl  dieses  Menadienkind,  von  dem  ich  euch  jetzt  so  viel 
erzählt  habe,  ist  G.  und  der  oder  die  ist  mein  einziger 
Freund. 

Die  Hauptkategorien  der  Syntax,  Haupte  und  Neben- 
satz, sind  also  nidit  bestimmend  fitr  den  Sinn  des  Sats* 
gefüges.  Die  syntaktischen  Formen  tftoschen  uns  durch 
unsere  Gewohnheit  nicht  minder  als  die  Casusformen  und 
die  Tempusformen.  Lösen  wir  ein  Satzgeftige  in  lauter  ein- 
fache SStze  auf,  so  erkennen  wir  oft  deutlich,  wie  t&uschend 
die  Analogie  des  Sinnes  war,  die  die  Syntax  uns  voi^fe- 
spiegelt  hat.  Die  Sitze  ,ich  traf  0.,  mit  dem  (den)  ich 
sprach*  und  «ich  traf  G.,  den  du  kennst"  sind  im  Sinne  der 


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Schhftspradie. 


199 


Syntax  ToUkotmneD  gleichwertige  Sfttie.  Sie  haben  aber  in 
Wirklichkeit  gar  keine  Analogie  miteinander.  Der  erste 
Sata  will  sagen  «ich  traf  0.,  darauf  sprach  ich  mit  ihm*; 
der  swdte  Sats  sagt  «ich  traf  G^.,  du  kennst  ihn  ja*.  Der 
erste  Sais  endÜiH  weiter  und  beginnt  in  einer  Laune  der 
Sprache  die  Hauptsache  mit  dem  RelatiTpronomen;  der 
zweite  Sats  ftgt  ebenso  einen  Nebennmstand  an.  Man  wird 
geneigt  sein,  eine  sokdie  Verwendung  des  Nebensaties  ftlr 
eine  Naebliasigkeit  su  halten;  die  Philologen  wissen  aber, 
dasa  sie  in  den  mosten  wohlgeordneten  8chriftq»rachen  tot- 
kommt,  dass  sie  besonders  in  der  mn  ihre  Logik  gerOhmten 
lateinisdien  Grammatik  gar  nicht  fibwsehen  werdm  kann* 
So  geht  es  aber  immer,  wenn  die  Anfberksamkett  sieh  auf 
irgend  eine  Kategorie  der  Syntax  richtet.  Man  entdeckt 
zuerst  eine  gewisse  Unbestimmtheit  in  der  Bedeutung  der 
Kategorie,  dann  eine  Anomalie  oder  Nachlässigkeit  in  ihrer 
augenblicklichen  Anwendung,  bis  man  durch  die  Wieder- 
holung solcher  Beobachtungen  zu  der  Ueberzeugung  gefüLrt 
werden  mag,  dass  Unbestimmtheit,  Anomalie  und  Nach- 
Iftssigkeit  zum  Wesen  jeder  syntaktischen  Gewohnheit  wie 
zum  Wesen  der  Sprache  Oberhaupt  gehört. 

Wir  sind  allerdings  so  sehr  daran  gewöhnt,  uns  nament-  Schrift- 
lich bei  ruhiger  Darstellung  komplizierter  Gedankengänge 
von  den  geläufigen  Formen  der  Syntax  leiten  zu  lassen, 
dass  wir  die  Ordnung  der  Gedanken  der  Syntax  zu  ver- 
danken glauben,  während  wir  in  Wirklichkeit  beim  Sprechen 
nach  einer  unbewussten  Ordnungsliebe  erst  die  syntaktischeu 
Ausdrucksmittel  wählen  und  beim  Hören  nach  dtni  unbe- 
wusst  erzeugten  Vorstellungsp^uppen  erst  nachher  einen 
Sinn  in  die  syntaktischen  Formen  hineinle|?en.  Es  t";lllt  uns 
schwer,  uns  eine  ebenso  logische  Sprache  wie  die  unsre 
ausserhalb  unsrer  Syntax  vorzusteHen.  Aber  wir  selbst 
reden  in  zweierlei  Syntaxeu,  je  nachdem  wir  die  SchiitV 
sprache  reden  oder  die  Umgangssprache.  Die  natürliche 
Sprache  kennt  die  Periode  gur  nicht.  Man  braucht  einem 
Menschen  auf  der  Bühne  nur  eine  längere  Periode  in  den 
Mund  zu  legen,  und  wäre  es  die  bestgebaute  Periode,  und 


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m 


m  Sjntas. 


man  kann  Heiterkeit  damit  erKgen,  -~  ea  w&re  dam  in 
einem  «klassisclian''  SiQcke,  dem  wir  die  8cluriflq>raehe  lu 

gute  halten. 

Ich  möchte  dahei  einachalten,  daaa  das  Wort  Schrift- 
sprache, wenn  wir  es  genau  untersuchen,  zwei  gaas  Ter- 
schiedene  Bedeutungen  haben  kann.  Ich  habe  es  soeben 
nach  dem  eingeführten  Sprachgebrauch  in  dem  Sinne  ge- 
nommen, der  die  Schriftsprache  als  eine  dem  idealen  Muster, 
der  idealen  Grammatik  sich  möglichst  nähernde,  im  Grunde 
kflnsÜiche  Sprache  der  weit  mehr  individual  gefärbten  Um- 
gangsprache entgegenstellt  Mit  dieser  Vorstellung  reden 
wir  dann  von  einer  reinen  Sprache  oder  einer  Schriftsprache 
unserer  Dichter,  Professoren  und  Redner.  Wohl  gemerkt, 
auch  von  einer  Schriftsprache  der  Redner.  Denn  in  diesem 
Sinne  wird  die  Schriftsprache  immer  noch  von  den  Sprach- 
werkzeugen geschaffen  und  vou  den  (iehörwerkzmrrpn  auf- 
genommen. Sie  heisst  SctirifKjiraclie  nur  iti^^iterii,  als  sie 
sich  in  ihrer  vermeintlichen  Schönheit  haiiptsaciilich  in  den 
Littel  aturprudukten  finden  soll.  Gei5bt  wird  sie  l)egreif- 
licherweise  nur  von  den  gebildeten  Ständen  eines  Volkes. 
Ich  habe  (II.  S.  558  f.)  schon  darauf  hingewiesen,  dass 
sie  sich  gegenüber  den  Mundarten  als  eine  ideale  Gemein- 
sprache erst  ausbilden  konnte,  als  die  Einführung  der  Buch- 
staben eine  Uniforniierung  in  den  Sprachen  weiterer  Land- 
schaften möglieh  und  notwendig  gemacht  hatte.  Auch  darum 
kommt  dieser  angeblichen  Idealsprache  die  Bezeichnung 
Schriftsprache  mit  Recht  zu.  Für  mein  Sprachgefühl  liegt 
schon  in  dieser  Bezeichnung  eine  Verurteilung. 
8oiirift>  Aber  mit  der  weitem  Entwickelung  der  Buchstaben- 
^^^^  Schrift  hat  sieh  nnter  den  höchst  Gebildeten  eines  Volkes 
das  heisst  unter  seinen  Büchennenachen,  eine  neue  Art  der 
Schriftsprache  herausgebildet,  die  Ton  «aktoa  PiqrchologeB 
noch  genauer  untersncht  werden  sollte,  wenn  auch  das 
Grundphinomen,  von  dem  ich  jetat  ausgehe,  lange  schon 
bekannt  ist  Wir  alle  sind  in  einem  so  hohen  Grade  Bficher- 
menschen  geworden,  dass  es  sich  bei  yieUea  von  uns  fragt, 
ob  die  Worizeichen,  die  unsre  Augen  sehen,  Überhaupt  noch 


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201 


mit  den  Schallvorstfllimgen  der  lebendigen  Sprache  etwas 
2U  thun  hiibeu.    Wenn  ich  z.  B.  nach  einer  oberflächlichen 
Schätzung  Iis  jetzt  etwa  zwanzigtausend  Bücher  gelesen 
habe,  so  iiut  sich  ohne  Frage  in  meinem  Gehirn  eine  direkte 
Verbindung  zwischen  dem  J5ichtbaren  Wortbild  und  seinem 
Begriffe  hergestellt.    Wir  Büchermenschen  denken  —  in- 
solange  wir  lesen  —  mit  den  Augen ,  mit  unseren  Buch- 
stabenaugen ;  glücklich  die,  welche  sich  die  Frische  bewahrt 
haben,  um  vorher  und  nachher  mit  diesen  Augt-n  auch  die 
lebende  Natur  aulnehmen  und  mit  allen  übrigen  Sinnen  em- 
pfinden zu  können.    Aber  insolange  wir  lesen,  denken  wir 
doch  —  wie  gesagt  —  mit  den  Augen.    Was  wir  dabei 
auf  unsere  Vorstellungen  wirken  lassen,  ist  demnach  in  einem 
g»os  ejagetchrlakteii  Sinne  eine  schriftliche  Sprache.  Es 
flUt  mir  kein  iMranehlMaes  W<nt  fttr  diesen  neaen  Begriff 
ein;  Augensprache,  Bildeispnehe,  Buchspraehe,  alles  ist 
schon  von  andern  Begriffen  in  Anspruch  genonuMn.  Und 
doch  ist  der  B^riff  einer  solchen  rein  scfarifUichen  Sjpraehe 
ohne  entsprediMide  begleitoide  SchallTorrtellungen  Iftngst 
▼orhanden.  Die  Gelehrten  wissen,  dass  ee  eine  chineasche 
Schiätepnche  giht,  in  der  sich  die  diinemschen  Qelduien 
▼ersOndigen  kOnnent  trotzdem  sie  sie  Terschieden  lesen,  dass 
es  eine  chinesisehe  Schriftsprache  gibt,  welche  die  Gelehrten 
lesend  Terstehen,  ohne  an  ihre  Aussprache  xa  denken.  So 
sdunerzlidi  es  auch  fBr  unsem  europüschen  Eulturstols  sein 
mag:  ich  behaupte,  dass  die  sogenannten  fthrenden  Geister 
unsrer  Völker,  freilicli  nur  die  Bllchetmenschen,  YoOkommen 
jenen  chinesischen  Gelehrten  gleichen,  wenn  sie  schreibend 
oder  lesend  ihre  Schriftsprache  (in  diesem  beechrftnkten 
Shme)  gebrauchen. 

Wenn  wir  nun  eingesehen  haben,  dass  die  syntaktischen 
Formen  um  so  strenger  nach  den  Regeln  der  Grammatik 
angewandt  werden,  je  mehr  sich  unsre  Gemeinsprache  der 
künstlichen  Sprache  der  Schriftsteller,  Professoren  und  Redner 
nähert,  so  werden  wir  jetzt  begreifen,  dass  das  eigentliche 
Feld  der  Syntax  die  völlig  tote,  nur  für  die  Augen  vor- 
handene, unwirkUche  Schriftsprache  (in  beschränktem  Sinn) 


202 


yn.  Syntax. 


jgi.  Es  ist  also  gar  niclit  verwundetlich,  wenn  die  zofUlige, 

von  uns  gar  nicht  mehr  mitempfundene  Syntax  einer  toien 
Sprache,  die  des  Laieinischen ,  zum  Musterbilde  unserer 
Bflclierspniche  geworden  ist.  Weiter  konnte  sich  die  mensch- 
liche Sprache  von  ihrer  ursprünglichen  Aufgabe  nicht  mehr 
entfernen:  durch  Töne  Vorstellungen  zu  erwecken.  Oder 
ist  auch  diese  Klage  wieder  nur  die  reaktionäre  Anschauung 
eines  Mannes,  der  bei  allem  Radikalismus  dennoch  die  alte, 
Uittgiende,  Ansi  lüuiungen  weckende  Sprache  liebt  und  sie 
darum  schön  ündet^  wie  der  Stier  die  Kuh  schön  findet? 
Ist  auch  diese  meine  Klage  über  das  Absterben  der  Sprache, 
über  ihre  Yeniichtung  durch  die  Bildung"  nur  ein  Beweis 
für  die  Ünzuläuglichkeit  meiner  Kritik,  für  die  Befangen- 
heit, ja  Rückständigkeit  meiner  Ansichten t*  Ist  die  Ver- 
wandlung der  heissgeliebten ,  oft  so  berückenden,  tönenden 
Muttersprache  in  die  lautlose  Büchersprache,  ist  yielleicht 
die  lautlose  Büchersprache,  ist  vielleicht  die  Ausbildung  H»^'^ 
direkten  WV«xes  in  imserm  Gehirn ,  die  Entstehung  eines 
farblosen  Buciistabendenkens,  ist  sie  vielleicht  gar  ein  Fort- 
schritt? Ich  glaube  es  nicht.  Dass  ich  es  abei-  nicht  glauben 
kann,  ist  wahrscheinlich  nur  eine  Folge  meiner  Beschränkt- 
heit. Wer  diese  letzten  Zeilen  für  eine  Koketterie  hält, 
wer  nicht  aus  ihnen  den  stillsten  und  bittersten  Zweifel  an 
der  Möglichkeit  jeder  Sprachkritik  und  jedes  Bis-ans-Ende- 
Denkens  herausliest ,  der  hat  freilich  keine  Veranlassung, 
auf  jueine  Beschränktheit  herabziLsehen. 
App«r-  Durch  solche  Gedanken  muss  man,  wie  mich  dünkt, 
««ptioft.  jgj.  Ueberzeuguug  gelangen,  dass  die  zufälligen  syntakti- 
schen Kationen  unserer  zwischen  dem  Mittelmeer  und  der 
Gegend  Ton  Island  gerade  in  diesem  AngonMieke  gebrauchten 
Sprachen,  dase  unsere  syntaktischen  Regeln  für  die  immer 
noch  behauptete  Aufgabe  der  Sprache,  für  die  Welterkenntnis, 
nicht  mehr  Bedeutung  haben,  als  etwa  die  Figuren  eines 
Contretanzes  f&r  GefGßile,  die  ein  Liebespaar  zu  dem  Tanze 
zusammenftihren  mögen,  2fag  der  Tanzmeister  sich  ärgern, 
wenn  das  Paar  Brust  an  Brust  gepresst  die  Figur  vergisst 
oder  gar  vergessen  hat,  dass  der  Walzer  keine  Polka  ist, 


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Apperzeption. 


208 


der  Dreitakt  kein  Zweitakt.  Die  beiden  Leute  werden  sich 
auch  im  Zweitakt  Teratehen.  tJnd  wenn  nachher  in  der 
Kritik  der  Logik,  der  logischen  Syntax,  das  Wesen  der 
Appeneption  klar  weiden  kann,  so  wird  die  pedantische 
Lftdieriichkeit  aller  Syntax  lielleieht  pldtdich  Ton  ihrer 
psychologischen  Seite  her  klar  werden.  Es  ist  ja  wirklich 
nnr  ein  ewiger  Zweitakt,  in  welchem  unaufhörlich  hald  lang* 
samer  hald  schneller  unsere  Erkenntnis  Ton  der  Wirklich* 
keitswelt  fortBchreitei  und  in  welchem  sich  auch  die  Sprache 
bewegen  mOsste,  wenn  sie  jemals  im  stände  w8re,  dem 
psychologischen  Vorgang  zu  folgen.  Jedes  Fortsdiretten  in 
der  Erkenntnis,  jede  Bereicherung  unserer  Sprache  (und  kein 
Blick  unsers  Auges,  kein  Augenblick  kann  gedacht  werden 
ohne  dne  solche  minimale  Bereicherung)  ist  ein  Vorgang 
▼on  Apperzeption,  ein  Vorgang,  in  welchem  die  Gesamtheit 
onsres  bisherigen  Wortschataes,  die  Gesamtheit  unsrer  bis- 
her^en  Weltanschauung  eine  neue  Beobachtung  in  sich  auf- 
ninmit,  sich  durch  ihre  Assimilation  erweitert,  so  wie  irgend 
ein  zu  unterst  stehender  Tierorganissmus  ohne  sichtbare 
Organe  Nahrung  in  sich  aufni^ninf  AJle  natürliche  Syntax 
der  Sprache  sollte  also  nur  darin  bestehen,  dass  sie  eine 
Kategorie  hätte  für  die  vorhandene  Anschauung  oder  doch 
für  den  Teil  derselben ,  der  t^rade  die  Aufmerksamkeit  auf 
sich  lenkt,  und  für  die  Bereicherung  oder  nähere  Rostini- 
mung  dieser  Anschauung  oder  dieses  ihres  Teils;  man  mag 
die  erste  weite  Vorstellung  das  Subjekt  nennen,  die  zweite, 
neu  bestimmend  herantretende  Vorstellung  das  Prädikat. 
Aber  nicht  einmal  diese  überaus  vagen  Bezeichnungen  würden 
sich  festhalten  lassen.  Denn  selbst  da  kommt  es  noch  darauf 
an,  was  unser  Interesse  erregt  hat,  was  eigonthch  für  unsre 
Aufmerksamkeit  das  bestimmende  und  duü  bestimmte  Qlied 
ist.  Man  denke,  dass  Kolumbus  nach  allen  Sorgen  und  Ge- 
fahren sein  Ziel  erreicht  hat,  ein  Ziel,  da«  er  bekanntlich 
nicht  ahnte  und  niemals  erkennen  lernen  sollte,  mau  stelle 
sich  vor,  dass  in  diesem  Augenblicke  die  ungeheure  Be- 
reicheruüg  der  menschlichen  Welterkenntnis,  das  was  mau 
die  neue  Zeit  ueuut,  sich  zuerst  und  mit  der  ersteu  Ahuuug  iu 


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204 


aemem  Qehirii  ToIMebt,  und  daw  der  sprachliche  Auedruck 
dieses  ungehettem  Sreignisses  siuaohlich  eheoso  gut  heiesen 
honnte:  «Das  ist  Land*  als  «Land  ist  dort*.  Ich  weiss 
nicht,  ob  ein  Gbtunmatiher  der  Welt  in  diesem  Augenblick 
blödsinnig  genug  gewesen  wäre,  darüber  nachzudenken,  ob 
^Land"  richtiger  und  logischer  als  Subjekt  oder  als  1*t^ 
dikat  ausgesprochen  werde.  Der  Matrose  im  Mastkorb  aber 
war  kein  Grammatiker.  Er  wusste  nichts  Ton  Subjekt  und 
Prädikat,  wie  die  Wirklichkeit  und  die  Natur  nichts  davon 
weiss.  »Land!*^  rief  er  und  die  neneZeit  brach  an,  trots- 
dem  die  Syntax  dabei  zu  kurz  kam. 

Alle  Syntax  hat  nur  einen  Zweck:  fttr  den  Sprecher 
und  für  den  Hörer  möglichst  bequem  aneimmder  zu  reihen, 
was  in  dem  grossen  Zweitakt  des  Denkens  in  jedem  Falle 
die  bestimmende  Vorstellung  und  was  die  bestimmte  Vor- 
stellung sei.  Was  in  der  Logik  das  Urteil  ist,  das  ist  in 
der  Grammatik  der  Satz.  Meine  Satzlehre  oder  Syntax  muss 
also  in  ihrem  Ergebnis  mit  der  Logik  zusamraent reffen,  wenn 
ich  nicht  an  jedem  Wert  dieser  Untersuchungen  verzweifeln 
soll.  Diese  Uebereinstimmung  alier  ist  jetzt  zu  stände  ge- 
komnu  n,  ohne  dass  ich  bei  diespin  Al>.sehnitt  auch  nur  einen 
Auirniblick  an  das  in  der  Lugik  zu  Lehrende  gedacht  hatte. 
Erst  das  Ergebnis  der  syntaktischen  Untersut  hunu*"  erinnert 
mich,  allerdings  zu  meiner  Freude,  an  das  logische  Er- 
gebnis. 

a  priori.  Ich  werde  dort  nämlich  ausführen ,  dass  die  hoch- 
gelahrte Üuterscheidung  in  Urteile  a  priori  und  in  Urteile 
a  posteriori  sich  im  wesentlichen  deckt  mit  der  Unter- 
scheidung in  erklärende  und  in  erzählende  Urteile,  dass  die 
erklärenden  Urteile  ihrem  Werte  nach  noch  unter  die  Tauto- 
logie hinabsinken,  dass  die  erzählenden  Urteile  schlichte 
Tautologien  sind,  wenn  sie  nicht  ausnahmsweise  als  be- 
schreibende Urteile  eine  neue  Beobachtung  dem  Sprach- 
schatse  einfügen.  Alles  Sprech«!  oder  Denken  in  ürtdlen 
ist  ein  Brinnem  und  die  Terschiedenen  Formoi  des  Urteils 
entstehen  dadurch,  dass  je  nach  den  begleitenden  ümstSnden 
oder  unserm  Interesse  die  Auimerksamkeit  bald  auf  den  In- 


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%  priori 


205 


halt  bald  auf  d«n  Umfang  eines  Begriffs  gerichtet  ist.  Die 
Logik  alknn  weiss  mit  den  beiden  Begriffen  „Baum*  und 
«läche*  gar  nichts  anzufangen.  Erst  unser  Interesse  an 
einer  Erkenntnis  oder  einer  Mitteilung  führt  entweder  zu 
dem  erklärenden  Urteile  .die  Eiche  ist  ein  Baum",  das  nicht 
einmal  den  vollen  Wert  einer  Tautolop^ie  besitzt,  oder  zu 
dem  eraählenden  Urteile  «dieser  Baum  ist  eine  Eiche",  das 
wirklich  und  wahrhaftig  so  viel  wert  ist  wie  eine  Einübung 
der  beiden  Begriffe.    Das  Urteil  stecktf»  im  Begriff. 

Nun  hat  uns  schon  unsro  I^etrachtung  der  SvTitax  an 
dieselbe  Stelle  geführt.  Und  zwar  sclion  die  Syntax  des 
einfachen  Satzes.  Auch  die  Graninuitik  mit  allen  ihren 
syntaktische u  liegehi  weis  mit  den  beiden  Worten  „Rauni" 
und  ^Eiche*  nichts  anzulangen.  Einzig  und  alleiu  unsere 
vom  Interesse  geleitete  Aufmerksamkeit  kann  die  Grund- 
frage entscheiden:  welcher  der  beiden  Begriäe  für  den 
andern  bestimmend  sein  soll,  welcher  von  ihnen  zum  Sub- 
jekt und  welcher  zum  Prädikat  gemaclit  werden  soll.  Genau 
wie  in  der  Logik  wird  es  von  unsrer  Aufmerksamkeit  (gram- 
niHtikaiisch  gesprochen :  von  der  vorausgegangenen  Frage) 
abliiiugen,  ob  der  Satz  lauten  wird  ..dieser  Baum  ist  eine  Subjekt 
Eiche"  oder  „die  Eiche  ist  ein  Baum\  Und  jetzt  darf  ich  ^"J*"' 
wohl  endlich  dasjenige  aussprechen,  was  am  weitesten  aus 
unseren  gebildeten  Sprachgewohnheiten  herausfallt  und  was 
doch  unserm  wirklichen  Denken  entspricht.  Ich  glaube 
nlmlidi,  dass  derjenige  Satsteil,  der  seit  der  Begründung 
emer  Graminatik  imitier  fttr  doi  vichtigston  geliaiten  und 
an  enter  Stelle  genaant  worden  ist,  wie  er  denn  auch 
ftberall  in  der  Wortfolge  die  erste  SteUe  einnimmt,  dass  das 
Subjekt  der  llberflttssigste  Sateteil  ist,  ja  recht  eigentlich 
eine  langweilige  und  pedantische  Gewohnheit  unserer  Sprache, 
dasjenige  formelhaft  besonders  zusammenzufassen,  was  dem 
Sprechenden  nnd  dem  HCrenden  gemeinsam  ist,  was  über^ 
haupt  erst  Veranlassung  zu  ihrer  Unterhaltung  bietet  Stehen 
zwei  Menschen  Tor  einem  Eichbaum  und  ist  ihnen  oder 
einem  von  ihnen  dies  Ereignis  interessant  genug,  um  es  zu 
beschwatzen,  so  ist  ein  grammatikalisch  gebildeter  Satz  mit 


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206 


YU.  SjnUx. 


einem  ordentlichen  Subjekt  gar  nicht  notwendig.  Die  An- 
stbauun;^^.  die  sie  zum  Sprechen  verleitet,  die  Gegenwart, 
die  sie  uiugibt,  die  Augenblickswelt,  in  der  sie  leben,  ist 
das  Subjekt  des  Gedankens,  der  sich  sofort  äussern  wird. 
Ja,  ich  könnte  das  noch  subtiler  ausdrücken  und  sagen:  es 
ist  jedesmal  das  Ich  des  Sprechenden  das  einzige  Subjekt 
jedes  Satiei,  weU  in  jedem  dnselnen  Augenblicke  das  Ich 
ntir  aus  der  Anschauung  des  Augenblicks  besteht.  Hat  der 
Eichbaum  eben  jetzt  mein  Interesse,  meine  Aufinerksamkeit 
erregt,  so  besteht  ja  mein  Ich  zur  selben  Zeit  fast  aus  gar 
nichts  anderm  ab  taa  dem  Sinneseindruck  dieses  ISchbaums. 
ünd  nun  wird  in  den  meisten  F&Uen  der  Gedanke  so  zu 
Worte  kommen,  dass  entweder  gesagt  wird  .eine  Eiche* 
oder  «ein  Baum**  Das  Subjekt  war  das  zu  bestimmendef 
das  vor  uns  steht;  es  braucht  gar  nicht  ausgedruckt  zu 
werden.  Nur  das  Prädikat  muss  ausgesprochen  werden,  der 
bestimmende  Begriff,  das  Ftftdikable.  ünd  je  nachdem  der 
Sinneseindruck  zuerst  die  Vorstellung  Ton  Baum  oder  Eiche 
in  mir  wedcte,  wird  das  Pkiftdikai  entweder  erzahlend  lauten 
«eine  Xäche*,  oder  erUirend  «ein  Baum*, 
raupi«'  Schon  die  Bedeutungen  der  beiden  Worte  Subjekt  und 
Prädikat  sprechen  für  diese  Auffassung.  Das  Subjekt  ist 
das  dem  Urteil  zu  Grunde  liegende,  also  die  Wirklidikeit, 
die  Anschauung,  die  gar  nicht  in  Woite  gefasst  zu  werden 
braucht;  das  Prädikat  ist  das,  was  ausgesagt  wird,  was 
allein  gesagt  zu  werden  braucht.  Die  Grammatiker  in  ihrer 
unergründlichen  Pedantehe  nennen  es  dne  Ellipse,  wenn 
das  Subjekt  fortgelassen  und  allein  das  ausgesagt  wird,  was 
gesagt  zu  werden  braucht.  Danach  wäre  es  einzig  und 
allein  die  langweiligste,  erschöpfendste  Schwätzerei,  die  frei 
wäre  Ton  EUipsen.  Ich  kann  hier  nur  obenbin  darauf  hin- 
weisen, d^s  diese  Anschauung  von  der  Ueberäüssigkeit  des 
Subjekts  ein  plötzliches  Licht  wirft  auf  die  sogenannten 
unpersönlichen  Sätze,  Über  deren  Wesen  in  den  letzten 
Jahren  so  viel  geschrieben  worden  ist.  „Vj^  blitzt"  scheint 
mir  ein  viel  normalerer  Satz  zu  sein  als  die  Weitschweifig- 
keit n dieser  Baum  ist  eine  Eiche".  Die  natürliche  Antwort 


EDipie. 


207 


auf  einen  fragenden  Blick  lautet  „eine  Eiche*.  Sagt  man 
daför  ,es  ist  eine  Eiche",  so  ist  das  unpersönliche  Fürwort 
doch  nur  ein  symmetrisches  Zierstück.  Ebenso  ein  Zierat 
ist  in  denjenigen  Sprachen ,  die  diese  zufallige  Gewohnheit 
haben,  flns  .o'^"  in  dem  klassischen  Satze  ,es  blitzt" 

Dif  Gl  [uiimatiker  haben  ja  eben  die  Analogiebildungen 
des  Sprachgebrauchs  in  sogenannte  Regeln  gebracht  und 
haben  in  ihrer  Schulmeisterweisheit  diejenigen  Fälle ,  in 
welchen  die  Sprache  andere  Bildungen  bevorzugt,  die  Aus- 
nahmen von  ihren  Regeln  genannt.  Es  liegt  in  diesem  Be- 
griff ^Ausnahme*  eine  unerschöpfliche  Fülle  von  Thorheit 
und  Hochmuth. 

Eine  ähnliche  Ueberschätzung  der  Grammatik  hat  zu 
der  Aufstellung  des  Begriffs  Ellipse  geführt.  Schon  die 
landläufige  Definition  dieses  Wortes  hui  lür  unsern  kriti- 
schen Standpunkt  etwas  Lächerliches.  ,Üie  Ellipse  entsteht 
durch  die  Weglassung  von  Satzteilen,  die  durch  die  Voll- 
ständigkeit des  Satzes  zwar  bedingt  sind,  deren  Hinzu- 
fügung  aber  gegen  den  Sprachgebrauch  ist*  (Leitfaden 
▼OH  Welael).  Ich  mOchte  wuun,  wer  oder  was  diese  BtAZ' 
teile  bedingt,  wenn  der  Spraehgebraueh  sie  für  flberflOssig 
erklärt  hat.  Hinter  der  ecUiehten  Definition,  die  den  armen 
SchttUtindem  eingetrichtert  wd,  steckt  doch  nur  die  Narr- 
heit der  Orammatiker,  wie  wir  sie  bei  den  Bömem  auf 
ihrem  CKpfel  finden,  und  die  uns  nur  deshalb  bei  unsern 
eigenen  Lehrern  weniger  TerblOfft,  weil  wir  die  Grammatik 
unserer  eigenen  Zeit  gewissennassen  wie  die  Kiddermode 
der  eigenen  Zeit  gewohnt  smd.  Das  Schlimmste  an  der 
Definition  ist  aber  die  Behauptung,  dass  eine  Ellipse  durch 
Weglassnng  «entstehe*.  "WÜre  etwas  Wahres  daran,  so 
mfisste  die  Ellipse  die  »Wegiassung*  selber  sein.  Aber  selbst 
der  Begriff  »Weglassong*  erschleicht  schon  eine  ungehörige 
Forderung  der  Grammatik,  die  nämlich,  dass  eigentlich  nur 
ein  voUstSndiger  Satz  richtig  sei.  Es  ist  gar  nicht  aus- 
zudenlcen,  wie  langweilig  eine  yoUsl&idige  Sprache  nach 
dem  Herzen  der  Grammatiker  wäre.  Man  mache  sich  das 
einmal  Uar,   Fttr  den  Grammatiker  mflsste  es  schon  eine 


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208 


VU.  djatax. 


Ellipse  heissen,  wenn  ich  in  der  Kneipe  auf  mein  Glas 
klopfe  anstatt  zu  sagen:  ,Ein  Bier.*  Sage  ich  aber  aus- 
drücklich ,Ein  Bier",  so  iiunnt  das  der  Grammatiker  wirk- 
lich eine  Ellipse;  sein  Ordnungssinn  wäre  erst  befriediget, 
wenn  ich  hübsch  ausführlich  gerufen  hätte:  „Bringen  Sie 
mir  ein  Qlas  Bier."  Der  Grammatiker  vergisst  jedoch,  dass 
diese  gew&hlte  Ausdnicksweise  immer  noch  unvollständig 
wikre,  immer  noch  eine  logische  Ellipee,  dass  ich  durch  meinen 
fiiif  mit  dem  Kellner  oder  vielmelür  mit  idnem  Herrn  einen 
Vertrag  schlieBse  und  daas  mein  Gedenke  erst  dum  voU- 
etSndig  wer,  wenn  ich  ihn  amfUhrte:  «Holen  Sie  mir  in 
nicht  zu  langer  Zeit  in  einem  Olas  vom  Anasehank  eioen 
halben  Liter  des  hier  angezapften  Faasbiers,  stellen  Sie  es 
mir  SU  meinem  Gebrauch  bereit,  und  nehmoi  Sie  zugleich 
meine  Tersichemng  entgegen,  dass  ich  mich  verpflichte, 
nachher  und  heute  noch  den  auf  der  Karte  Terzeichneten 
Preis  Ihrem  Herrn  in  Ihre  Hand  zu  bezahlen.*  Auch  diese 
Bestellungsform,  deren  Ende  der  Kellner  wohl  nicht  ab- 
warten  wttrde,  wftre  aber  immer  noch  eine  Sllipee,  weil  zu 
der  Vollständigkeit  des  Gedankens  noch  einige  Umstände 
gehören  wQrden:  die  Herstellungsart  des  Biers,  seine  Tem- 
peratur, die  Schaumh9he  und  das  Versprechen  eines  Trink- 
geldes wäre  immer  noch  weggelassen. 

Die  Grammatiker  treiben  mit  dem  Begriff  Ellipse  heute 
keinen  solchen  Missbrauch  mehr,  wie  in  früheren  Jahr- 
hunderten; aber  sinnlos  ist  die  ganze  Aufstellung  dieses 
syntaktischen  Gebildes  immer  noch  genug.  Ja  die  De6nition 
passt  eigentlich  auf  keinen  einzigen  f  einer  wirklichen 
Wea"la  ung.  Denn  jedesmal,  wo  nach  unserem  Sprach- 
geflliü  wirklich  von  einer  Weglassung  die  Rede  sein  kann, 
wo  der  Satz  für  unser  Erapfiuden  unvollständig  geblieben 
ist  („ich  werde  euch  . .  da  liegt  nach  der  Klassifikation 
der  Grammatik  nicht  eine  Ellipse  Tor,  sondern  eine  Ver- 
schweignng,  eine  Aposiopesis. 

Man  sollte  nie  vergessen,  dass  die  Sj>rache  nicht  der 
Grammatik  wegen  da  ist.  Das  scheinen  aber  die  Gram- 
matiker zu  glauben,  trotzdem  nicht  einmal  die  bescheidene 


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Grammattache  £Ui|Me, 


209 


Umkehr iing  berechtigt  wäre.  Sie  haben  aber  säuberlich 
zwei  Arten  der  Ellipse  aufgestellt,  die  grammatische  Ellipse, 
bei  der  nur  ein  einzelner  Satzteil  weggelassen  wird,  und  die 
logische  Ellipse,  bei  der  gleich  ein  ganzer  Gedanke,  ein 
Satz  hinzuzudenken  wäre. 

Bei  der  grammatisdien  Ellipse  handelt  es  sich  immer 
dämm,  dass  der  Sprecbgebiaiich  mit  wama  einzelnen  Worte 
eine  YorsteUung  su  Terbinden  gelernt  hat,  zu  welcher  froher 
mehrere  Worte  n^Siig  waren.  UebertU  da  nun,  wo  der 
Sprachgebraueh  die  grossere  VoUstindigkeit  gar  nicht  mehr 
zttliesse,  wOrde  seLhst  der  eingefleischteste  Grammatiker 
kaum  von  einer  Ellipse  reden;  ist  doch  der  ausfllhrlichere 
Ausdruck  oft  nur  noch  den  Gelehrten  bdrannt.  „Strumpf 
bedeutete  z.  B.  ursprflnglich  nur  den  Strunk,  das  Ende  eihes 
BeinUeidee  und  konnte  gar  nicht  andws  ausgedrückt  werden 
als  durch  «Hosenstrumpf*.  Das  Wort  ist  Tdlüg  treiloren 
gegangen;  es  gab  aber  gewiss  ebe  Zeit,  wo  Strumpf  eine 
EUipee  f&r  Hoeenstnunpf  war.  Auf  dieser  kOrzeren  Rede- 
weise beruht  eme  Unzahl  unserer  Worte.  Wer  nun  ttberall 
da,  WD  besondere  TJmstinde  oder  Pedanterie  die  ausfllhr- 
lichere  Redeweise  neben  der  knappem  noch  gestatten,  von 
einer  notwendigen  Erginzung  redet,  der  hat  doch  wohl 
keine  Ahnung  Ton  der  Psychologie  der  Sprache.  Ich  kann 
sagen  «ich  lerne  franzOsisch*  oder  auch  «ich  lerne  die  fran- 
zösische Sprache" ;  der  kürzere  Ausdruck  ei*zeugt  aber  durch- 
aus dieselbe  YorsteUung,  durchaus  Ii  gleiche  Mitteilung, 
er  hat  eine  Ergänzung  nicht  nötig.  .Dei-  Ptirsich"  kann 
so  nach  den  begleitenden  Umständen  die  Frucht  oder  den 
Baum  bedeuten;  sage  ich  nun  .der  Pfirsich  blflht*,  so  wird 
das  Wort  eben  .in  der  Bedeutung  des  Baumes  gebraucht 
und  es  heisst  unser  Sprachgefühl  auf  den  Kopf  stellen,  auf 
den  Kopf  der  Grammatiker  nämlich,  wenn  der  Satz  für  un- 
ToUständig  erklärt  wird,  fOr  eine  Ellipse  anstatt , der  Pfirsich* 
bäum  blüht". 

Hätte  die  Ellipse  in  der  PsycholofTie  der  Sprache  über- 
lm\ipt  eine  Berechtigung,  so  müsste  man  sie  viel  weiter  aus- 
deinien;  man  könnte  dann,  wie  gesagt,  zeigen,  da&s  wir 
Manthner,  Beiträge  zu  einer  Kritik  der  äpraohe.  III.  H 


210 


VII.  Syntai. 


niemals  ToUst&ndig  reden.  Das  Beispiel  Ton  einer  annähernd 
ToBsttndigen  Bestellung  in  der  Kneipe  gibt  nur  einen 
seh  wachen  Begriff  Yon  dem  Blödsinn,  der  zu  einw  idealen 
ToUstftndigkeit  zusammengetragen  werden  mflsste.  Ja  sogar 
die  ^dungsformen  unserer  Worte  mflsslen  elKptisch  ge- 
nannt werden,  weil  sie  die  GasnsrerhSltnisse  des  Nomens 
mtd  die  ZeitrerhSltnisse  des  Verlnuns  nicht  ToUatindig  genug 
angeben. 

Die  TOn  den  Qrammalakeni  geforderte  Ihglazung  findet 
allerdings  beim  Sprechen  unaolhSrüch  statt;  nicht  aber 
Worte  treten  ergftnsend  hinzu,  sondern  unsere  Yontellnngen, 
die  entweder  durch  die  umgebende  WirUiehkeitswelt  oder 
durch  die  in  den  ausgesprochenen  Worten  liegenden  Er- 
inneruTigen  erweckt  werden.  Lese  ich  ohne  Zusammenhang 
das  heisst  ausserhalb  der  Sprache  das  Wort  ;Burgunder*, 
80  kann  es  —  ^ie  man  zu  sagen  pflegt  —  verschiedenes 
bedeuten;  in  Wahrheit  bedeutet  es  gar  nichts,  bevor  nicht 
dadurch  eine  bestimmte  Vorstellung  geweckt  wird.  Wenn 
ich  es  in  einem  Zusammenhang  lese,  dass  ich  mir  darunter 
einen  Burgunder  Ritter  denken  muss,  so  werde  ich  nicht 
etwa  sprachlich  den  Begriff  «Ritter*  hinzufügen,  sondern 
mir  nur  einen  gewafiueten  Menschen  vorstellen.  Wenn  idi 
aber  die  Worte  höre  , nicht  wahr,  Sie  nehmen  gern  Bur- 
gunder", so  werde  icli  doch  nicht  etwa  erst  das  Wort  «Wein" 
ergänzend  hinzufügen  müssen,  um  einzusehen,  dass  die  Haus- 
frau keinen  Burgunder  Ritter  gemeint  habe.  Die  begleiten- 
den Umstände  werden  dann  dio  Vorstellung  von  Wein 
ireb(r..  Eine  Wegln-i-^nnji .  eui*  li^llipse  liegt  nicht  vor. 
Wenn  mir  der  Wirt  ein  ülas  Weiu  bringt  und  dazu  sagt 
,vom  alten",  so  werde  ich  ihn  richtig  verstehen,  ohne  das 
Wort  Wein  hinzuzudenken;  wenn  mir  die  Frau  einen  Brief 
zeigt  und  dazu  spricht  ,vom  Alien",  so  werde  ich  sie  wieder 
richtig  verstehen,  i>hne  ein  Wort  hinzuzudenken.  Ja  dies- 
mal wäre  eine  Ergänzung  sprachlich  gar  nitht  möghch, 
weil  „der  alt«  Mann"  wieder  eine  ganz  andere  Vorstellung 
erwecken  würde  als  .der  Alte*.  Die  Sache  liegt  gar  nicht 
anders  als  wenn  ich  das  Wort  «Strauss*  gebrauche  oder 


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Gnouantifclie  KUipM. 


211 


kdre  und  ent  aus  dem  Ztuammenhang  erfahre,  ob  der  Vogel 
oder  ein  Blumenstrauss  gemeint  sei.  Dass  bei  dem  Worte 
«Strauss*  Terschiedene  Etymologien  zu  Grunde  liegen,  hat 
gar  nichts  zu  sagen.  Wer  Pfirsich  als  eine  Ellipse  für 
jPfirsichbaum  auffasst,  der  müsste  auch  Strauss  jedesmal 
für  eine  Ellipse  erklären,  bald  für  Vogel  Strauss,  bald  f&r 
Blumenstrauss. 

Wird  erst  etwas  wie  die  Ellipse  als  in  der  Sprache 
wirksam  angenommen,  so  könnte  mau  wohl  die  ganze  Ent- 
wickelung  der  Sprache  auf  Ellipsen  zurückführen.  Wir 
Hessen,  dass  die  Sprache  sich  durch  Metaphern  und  Ana- 
logien allein  bereichert.  Nun  ist  gm  rächt  anders  mög- 
lich, als  dass  der  Zeit,  in  welcher  em  Wort  seine  neue  Be- 
deutung schon  si^lb.ständig  crewonnen  hat,  eine  Zwischenzeit 
vorausgegangen  sei,  in  der  die  sprechenden  Menschen  noch 
das  Bcwusstsein  der  Metapher  oder  der  Analogie  hatten. 
Es  hat  eine  Zeit  gegeben,  in  welcher  man  zu  dem  Adjektiv 
, gelehrt"  das  Substantiv  „Mann"  hinzurügen  musste,  wo 
also  eine  Ellipse  vorgelegen  hätte,  wenn  jemand  z.  B.  ge- 
sagt hätte  ,N.  ist  ein  kluger  Mann,  ein  gelehrter"  oder 
—  wie  heute  noch  gebräuchlich  —  .,N.  ist  ein  gelehrter, 
kluger  Mann".  Als  dann  durch  eine  metaphorische  An- 
wendung das  Adjektiv  zur  Bedeutung  eines  Substantivs  kam, 
als  man  «ein  Gelehrter'  zu  sagen  anfing,  da  wurde  das 
neue  Wort  zu  einer  neuen  Standesbezeicbnung  und  die  so- 
genannte Ergänzung  wire  einfach  ein  Fehler.  Wir  sehen 
aus  dtesem  einiadiston  Falle,  daae  ron  einer  EDipee  im 
Sinne  der  Grammatiker  nidii  die  Rede  sein  kann.  Solange 
dn  Wort  nicht  selbsUndig  geworden  ist,  solange  Uhnl  man 
sein  E^ftnsungswort  nidit  fort;  ist  ea  aber  erst  selbatSndig 
geworden,  so  kann  man  doch  von  einer  Weglaasung  nicht 
mehr  reden.  Ebenso  steht  es  um  Analogiebildungen,  die 
sich  Obngens  alle  unter  irgend  eine  Art  der  Metapher 
bringen  liessen.  Wenn  nach  der  Einfdhrong  der  Eisenbahn 
der  einem  Wagen  fthnliche  Kasten  (anfugs  war  die  Aehn- 
lichkeit  noch  grosser  als  heute)  «Eisenbahnwagen"  genannt 
wurde,  so  lag  eben  noch  eine  ftr  das  Sprachgefllhl  nnent* 


212 


m  Sjntax. 


behrlicho  Beschreibung  ror.  Wir  können  an  diesem  Bei- 
spiel den  psychologischen  Gang  verfolgen.  In  einem  kleinen 
ProTinzstädtcben,  wo  die  Fahrt  auf  der  Eisenbahn  nicht  zu 
den  alltäglichen  Dingen  gehört,  wird  immer  noch  ausführ- 
lich und  ohne  Weglassurifj^  ^ Eisenbahn wapferi"  gesagt,  weil 
das  Wort  , Wagen*"  immer  noch  vor  allem  die  Vorstellung 
eines  von  Pferden  gezogeneu  Wagens  erweckt.  Wo  aber 
(las  Fahren  auf  der  Eisenbahn  alltäglich  geworden  ist,  da 
mag  zuerst  die  Bequemlichkeit  das  fünfsilbige  Wort  abge- 
kürzt haben,  bis  „Wagen"  („Waggon*  wird  seltener)  ebenso 
leicht  den  Kasten  der  Eisenbahn  wie  den  alten  von  Pferden 
gezogenen  Wagen  in  die  Vorstellung  brachte.  Von  einer 
Ellipse  kann  nicht  die  Rede  sein,  nicht  von  einer  Ergänzung 
durrli  oin  Wort.  Wenn  von  einer  Ergiinzung  gesprochen 
werden  konnte,  so  wäre  es  nur  von  einer  durch  die  begleiten- 
den Umstände ,  durch  die  umgebende  Wirklichkeitswelt. 
Wenn  Freunde  auf  einem  Bahnhof  stehen,  genau  in  der  Mitte 
zwischen  dem  Zuge  und  dem  Droschkenhalteplatz,  und  wenn 
nun  der  eine  von  ihnen  fragt  ^in  welchen  Wagen  steigst 
Du  ein",  so  wird  der  andere  ans  den  begleitenden  Um- 
ständen (ob  er  nämlich  abfährt  oder  ankommt)  ohne  den 
geringsten  Zweifel  und  ohne  die  geringste  Wortergänzung 
verstehen,  ob  ein  Eisenbahnwagen  oder  eine  Droschke  ge- 
meint sei. 

Nimmt  man  die  EUipee  als  eisen  sinnreicheD  Begriff, 
so  mttsste  eigenÜich  zu  jedem  einzelnen  Worte  seine  ganze 
Qesehichte  und  dazu  sein  Artikel  aus  dem  Eonversations- 
lezikon  aufgesagt  werden,  damit  der  Grammatiker  sich  nicht 
mehr  Uber  Wes^assungen  und  ITnToUstikndigkeiten  zu  be- 
klagen hfttte.  Bei  bildlichen  Ausdrucken,  deren  Bildlich- 
keit noch  empfunden  wird,  mttsste  jedesmal  ausdrücklich 
wie  bei  Homer  die  ganze  Veigleichung  durchgeführt  werden; 
es  läge  sonst  eine  Ellipse  vor. 

Die  Sprache  der  Kinder,  die  uns  (Iberhaupt  die  Ent- 
stehung der  Worte  aus  Metaphern  und  Analogien  so  an- 
schaulich lehrt,  wäre  toU  von  kunstreichen  Ellipsen,  wenn 
die  Grammatiker  recht  hatten.   Das  geht  sowohl  auf  die 


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Logische  Ellipse. 


213 


FiUe  eineB  angeblich  falschen  wie  eines  angeblieh  richtigen 
Spraiehgebrancbs.  Wenn  das  Kind  meiner  Nachbarin  meine 
Hflhner  Wanwans  nennt,  weil  es  bisher  kein  anderes  Tier 
als  dnen  Himd  gesehen  hatte,  so  Übt  es  einfach  sein  Recht 
auf  indifiduelle  Sprache.  Dachte  es  sich  unter  Wauwau 
etwas  Lebendiges,  sich  Bew^ndes  und  nennt  nun  mit 
diesem  Worte  auch  ein  Huhn,  so  liegt  es  einem  Kinder- 
gehim  doch  himmelfern,  etwa  Wauwau  als  ein  Adjektiv  zu 
empfinden  und  nun  ein  abstraktes  SubstantiT  wie  «Ding* 
oder  , Wesen"  und  dergleichen  zu  ergänzen.  Ebenso  wenig 
ist  es  eine  Ellipse,  wenn  das  Kind  sagt  , Onkel  Hut**.  Ohne 
jede  Worterg'änzung  ergeben  die  b^leitenden  Umstände,  ob 
der  Onkel  seinen  Hut  aufsetzen,  ihn  dem  Kinde  zum  Spielen 
geben  oder  ihn  in  die  Höhe  werfen  soll.  Die  grammatische 
Ellipse  ist  eine  Spielerei  der  Qrammatiker. 

Unter  der  logischen  Ellipse  versteht  mim  ungefähr  die  i^sisob« 
Weglassung  eines  ganzen  Satzes,  also  eines  ganzen  Ge- 
danken«  in  einem  zusammengesetzten  Satze.  Ich  finde  in 
einem  verbreiteten  Lehrbucb  das  folgende  Beispiel:  ^Wcnn 
er  sich  nur  nicht  irrt  (so  freue  ich  mich)!"  Dieses  ergänzte 
,so  freue  ich  mich"  ist  echt  schulmeisterlich.  In  Wirklich- 
keit ist  bei  dipsen  Kede Wendungen,  die  sich  alle  durch  starke 
Empfindungstöue  vermten,  die  mensrhliche  Heuchelei  immer 
in  Gefahr.  Der  Smn  ist  docii  t-igentiich:  ich  sage  voraus, 
dass  er  sich  irrt,  und  hoff^  .  du^s  ich  recht  behalte.  Das 
^.wenn"  allein  würde  diese  gemischte  EraptinduuLT  Tiicht  aus- 
drücken können;  sie  liegt  aber,  ohne  jede  logische  Er- 
gänzung, in  dem  „wenn  nur"  und  in  der  Situation. 

Denkt  man  bei  der  menschlichen  Rede  aber  gar  weniger 
an  Predigten,  Schüleraufsätze,  schlechte  Romane,  Berichte 
und  andere  Leistungen  der  schriftlichen  Sprache,  als  an  die 
Sprache  zwischen  den  Menschen,  an  das  einsilbige  oder 
doch  kurze  Frage-  und  Antwortspiel  zwischen  zwei  Ge- 
nossen, so  wird  der  Begriff  der  logischen  Lilipse  vollends 
unhaltbar.  Und  was  oben  gesagt  worden  ist,  dass  nämlich 
nicht  Woiie,  sondern  die  begleitenden  Umstände  die  nähere 
Erklärung  abgeben,  das  trifft  noch  im  hohem  Masse  fOr 


214 


die  FSlk  su,  die  man  für  logisdid  ElHpsen  za  erUSren  ge* 
nei|{t  itL  Man  aehte  etva  auf  das  Gespräch  unschen  zwei 
Fischern  in  einem  Boot,  zwischen  dem  Bauer  und  seinem 
Knecht  auf  dem  Acker.  Die  hegleitenden  Umstftnde  sind 
beiden  so  wohl  hekannt,  dass  ein  ToUstilndiger  einfaehw 
Satz  ihnen  ebenso  lächerlich  erscheinen  müsste,  wie  dem 
Kellner  meine  ausführliche  Bierbratellung.  Es  suchen  die 
Fischer  z.  B.  eine  passende  SteUe  zum  Auslegen  der  Herings- 
nelse.  A.  Petersen  hat  uns  da  nichts  darein  zu  reden 
(wenn  er  auch  Ortsvorsteher  ist).  B.  (aber)  er  hat  gestern 
den  meisten  Fisch  gehabt  (ist  also  auch  ein  kluger  Mann). 
A.  Etwas  weiter  (als  die  andern  ihre  Netze  legen).  B.  (wir 
wollen  ^en;  es  kann  ein  Wetter  geben,  denn)  dort  sieht 
es  (von  einer  aufsteigenden  Wolke)  schwarz  (aus)  u.  s.  w. 
u.  s.  w. 

Wir  wissen,  dass  nur  gar  zu  oft  das  Subjekt,  auch  das 
Subjekt  im  weitesten  Sinne,  nicht  ausgesprochen  zu  werden 
braucht,  dass  da.s  Priidiknt  aUein  genügt.  Das  unaufhör- 
liche Subjekt  des  nien. schlichen  Denkens  ist  das  Ich  und  das 
Prädikat  ist  die  Welt,  welche  das  Ich  wahrnimmt.  Jede 
Zusammenfassung  dieser  Wahrnehmung  durch  ein  Prädikat 
konnte  man  also  eine  Ellipse  nennen.  Vollständig  wäre 
eigentlich  nur  die  sprachlose  Sinneswahrnehraung.  Die 
Tiere  mögen  ohne  Ellipse  denkeu,  nach  dem  Herzen  der 
Grammatiker. 

* 


Logik  Will  ich  versuchen,  die  Ergebnisse  der  logischen  Be- 

B^tes  trachtung  mit  denen  der  syntaktischen  Betrachtung  zu  ver- 
einigen ,  so  kann  ich  freilich  Uber  eine  höchst  allgemeine 
Ausdrucksweise  nicht  herausgelangen.  All  unser  vielgc- 
rühmtes  Denkeu  oder  Sprechen  Ist  nichts  anderes  als  eine 
Besinnung  auf  unsere  Sinneseindrtlcke  und  deren  Erinnerungs- 
bilder. So  wenig  alle  Gesetze  der  Logik  darüber  hinaus* 
führen  können,  so  wenig  Urteile  und  l^hlttsse  Aber  die  Yor^ 
Stellungen  und  Erinnerungen  hinausgelangen ,  welche  in 
unsem  Begriffen  enthalten  sind,  so  wenig  ein  Urteil  mehr 


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Logik  und  Syntax. 


215 


leisten  kann  als  die  bequeme  Ordnung  der  Merkmale  eines 
Begriffs:  ebenso  wenig  kann  die  Syntax  oder  das  Satzgefüge 
unserer  Sprache  mehr  leisten,  als  die  Worte  zum  Behufs 
einer  bequemen  Ast.üciutiun  ordueii ,  in  denen  die  Erinne- 
rungen au  unsere  Siuneseindrücke  aufgespeichert  liegen.  Die 
syntaktischen  liegein  sind  Analogien  oder  Spracbgewohn- 
heiten,  die  uns  die  schlimmsten  Umwege  ersparen,  die  uns 
innerhalb  weiter  Grenzen  den  richtigen  Associationen  nähern. 
Immer  aber  ist  es  einzig  und  allein  unser  indiriduelles  Ge- 
dAohims,  was  uns  troti  aller  syntaktischen  Analogien  die 
richtigen  Associatioiien  Tolkiehen  liest,  immer  ist  es  nur 
unser  Ge^ßchtnis,  was  iu  jedem  einsäen  Falle  den  syn* 
iaktisehen  Formen  erst  ihre  bestimmte  Bedeutiing  Terleiht. 
ünbeetimmt  und  unklar  legt  sich  Logik  und  Syntax  um 
den  Kern  unseres  Denkens,  um  die  Eindrucke  der  Wirk- 
liehkeü  Die  WirUidikeit  ist  weder  logisch  noch  syn- 
taktisch. Das  Weib  hat  zwei  getrennte  Beine,  auch  wenn 
die  BScke  auf  dem  Boden  nachschleifen«  Und  wenn  Logik 
und  Syntax  auch  nicht  so  sinnlos  wftren  wie  Kleidertraditen, 
wenn  sie  unserer  Sprache  wesentlich  wftren,  so  würde  das 
nichts  anderes  heweism,  als  dass  unsere  Sprache  so  arm- 
selig ist  wie  Logik  und  Syntax.  Wir  sehen  die  Lichtpunkte 
am  Himmelsgewdlbe  auf  unserer  Netahaut  ab  sechseckige 
Sterne;  uns  ist  diese  Yorstellung  so  selbstTerstftndlich,  so 
natürlich,  dass  wir  uns  gar  nicht  darüber  wundern,  wie 
das  Wort  ,,Steni*  sugleich  einen  Punkt  (der  doch  rund  ge- 
dacht werden  muss,  wenn  er  überhaupt  eine  Form  haben 
soll)  und  ein  sechszackiges  Gebilde  bedeutet.  Erfahren  wir 
aber,  dass  diese  Wirkung  der  Sterne  auf  unsere  Netahaut 
Ton  der  unregelmässigen  Form  unserer  Augenlinse  herrührt, 
SO  werden  wir  doch  beileibe  nicht  glauben,  die  Steme  da 
«ben  seien  in  Wirklichkeit  sechseckig,  sondern  nur:  unsere 
Linse  sei  mangelhaft,  mangelhaft  im  Vergleich  mit  künst- 
lichen optischen  Instrumenten.  Die  Wirklichkeit  aber  wagt 
der  Mensch  mit  dieser  elenden  logischen,  syntaktischen 
Sprache  erkennen  zu  wollen. 

Wer  das  nun  erfasst  hat,  dass  nämlich  alle  syntakti- 


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21G 


Vil.  Syntax. 


sehen  Regeln  nicht  einmal  im  stände  sind,  das  ABC  des 
SatsgefOges,  das  Verhlltnis  von  Subjekt  und  Fkftdikat,  ein- 
deutig aussndrQcken,  der  wird  natOrlich  die  ünfUugkeii  der 
Syntax  fllr  alle  komplizierteren  Fille  leicht  erkennen.  Und 
im  Grunde  gibt  es  auf  dem  gesamten  Gebiete  der  Sprache 
eigentlich  kein  «nderes  YerhSltnis  als  das  von  Subjekt  und 
Prildikai  Ist  Subjekt  das  Selbstrentindhche,  PkSdikat  das 
Aussagenswortef  so  ist  jede  nlhere  Bestimmung,  jeder  Sats- 
teil,  jede  Erweiterung  des  Sinnes,  jeder  Nebenaats  immer 
wieder  das  Pr&dikat  zu  dem  Vorausgehenden,  das  in  dem 
Augenblicke  zum  Subjekt  geworden  ist,  wo  wir  es  wissen. 
Alle  Yerhiltnisse  im  Satzgefüge  lassen  sich  zurftckftihren 
auf  das  Yerhfiltnis  eines  zu  bestimmenden  Worts  zur  Be- 
Stimmung.  Ein  feines  Sprachgefllhl  wird  gewöhnlich  genau 
empfinden,  worauf  es  ankommt,  was  das  Aussagenswerte 
ist,  das  Pjrftdikat,  die  prftdikable  Bestimmung.  Aber  auch 
das  SprachgeftÜil,  wie  es  seinerseits  auf  die  Sprachgewohn- 
heiten  wirkt,  steht  unter  dem  Banne  der  Sprachgewohn- 
heiten. Ich  möchte  das  an  dem  hübschen  Beispiele  unsrer 
Namen  noch  kurz  nachweisen.  In  ^ Wilhelm  Müller"  ist 
unter  Umständen  Müller  das  bestimmende  Wort,  das  Prä- 
dikat Ton  Wilhelm.  Man  würde  fragen  «wdcher  Wilhelm?*, 
wenn  ohne  besondere  Hilfen  bloss  von  einem  Wilhchn  die 
Rede  ist.  Es  könnte  anstatt  Wilhelm  Müller  auch  heissen; 
der  blonde  Wilhelm,  der  bucklige  Wilhelm.  Das  Sprach- 
geftlhl  würde  aber  sofort  wechseln,  wenn  es  sich  darum 
PittdOiat  handeln  würde,  einen  aus  der  Familie  Müller  naher  zu  be- 
^  stimmen.  Dann  wird  Wilhelm  zum  Prädikat,  zur  Bestim- 
mung, ziini  Merkmal,  oder  wie  man  die  Sache  nennen  will. 
Dann  kann  man  auch  sagen:  dfr  blonde  Müller,  der  buck- 
lige Müller.  Als  Polizei  und  Sitte  noch  nicht  die  doppelten 
Xamen  verlangten,  die  den  doppelten  Namen  der  Natur- 
geschichte so  verzweifelt  ähnlich  sehen,  war  das  Sjn-ach- 
gefühl  noch  einfacher:  eine  historische  Untersuchung  würde 
denn  auch  ergeben,  dass  die  meisten  Familiennamen  wirk- 
lich Prädikate,  Adjektive  und  dergleichen  sind.  Nun  nehme 
man  aber  Fälle,  in  denen  der  Doppelname  noch  nicht  ofti- 


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Piftdikat  in  Nunen,  217 

2dell  geworden  ist,  wie  z.  B.  bei  den  Helden  des  Jlonitir, 
in  der  vertraulichen  Anrede  der  Russen  und  in  den  jüdi- 
schen Namen  aus  der  Zeit,  bevor  sie  sich  der  allgemeinen 
Landessittc  fügten. 

Bei  den  Griechen,  die  keine  eigentlichen  Familiennamen 
hatten,  wurde  der  Vatersname  nur  zur  Vermeidung  von  Ver- 
wedifldaiigen  ImizugefUgt,  abo  ab  du  riehtigee  Ao(jektiT 
oder  PrSdikai.  Der  Tiufiiame,  wenn  wir  das  Wort  ÜOr  die 
Chneeheik  gehranchen  dürfen,  bfldete  das  Subjekt  Und  es 
war  ganz  konsequent,  wenn  die  Sklaven,  weil  sie  keine  Sub- 
jekte waren,  weil  sie  demnach  keine  Persönlichkeit  hatten, 
gaas  ohne  Namen  blieben  und  rein  a^jektiTtsch  nach  ihrem 
Vaterlande  hiessen,  s.  B.  der  Syrer.  So  li^  die  Sache  in 
der  Umgangssprache  und  in  der  Prosa.  Wenn  nun  Homer 
gewöhnlich,  troiadem  eine  Verwechselung  in  den  seltensten 
raien  mOglich  ist,  den  Vatersnamen  hinzufbgt,  so  ist  das 
schon  Poesie  oder  Luxus,  Bei  Aias  ist  der  Zusati  .der 
Telamonier*  nicht  Poesie,  weil  es  auf  eine  Unterscheidung 
Tom  andern  Aiss  ankommt  Es  ist  ein  erUftrendes  Prftdikat 
Bei  AduUens  oder  Odjsseus  ist  der  Zusata  «der  Peleiade, 
der  Laerttade*  poetisch,  ein  üppig  erzählendes  Prftdikat,  ein 
schmttckendes  Epitheton.  Eine  leise  Schmeichelei  liegt  darin, 
nicht  anders,  als  wenn  heute  ein  schwungvoller  patriotischer 
Historiker  Ton  Wilhelm  dem  Hohenzoller  reden  würde,  trotz- 
dem eine  Verwechselung  nicht  mö|^i<di  wäre.  £s  wird  durch 
den  Familiennamen  eine  Stimmung  erregt,  die  freilich  bis 
Sur  blossen  Feierlichkeit  verblassen  tann. 

Ganz  ahnlich  liegt  es  mit  dem  Gebrauch  des  Vaters- 
namens in  Russland.  Offiziell  haben  die  Leute  ihren  Familien- 
namen. Im  persönlichen  Verkehr  jedoch  erfordert  die  Sitte 
unter  Freunden  und  guten  Bekannten,  dass  der  Angeredete 
mit  seinem  Tauf-  und  Vatersnamen  gerufen  wird.  In  einer 
russischen  Uebersetzung  müsste  darum  die  stehende  Anrode 
„Achilleus  Peleussohn"  einen  weit  herzlicheren  Eindruck 
machen  als  im  Deutschen  das  kältere  , Peleiade  Achilleus". 

Bei  den  Juden namen  liegt  der  Fall  nicht  so  einfach. 
Jetzt  klingt  Felix  Mendelssohn  für  unser  SprachgeiUhl  schon 


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218 


ebemo  wie  Wübelm  Midier.  Zur  Zeit  Ton  Moses  Mendda- 
eolin  war  der  Sprackgebraucli  innerlialb  der  Jitdengomemde 
noch  orienialisdi,  homeriaeh,  wenn  mati  will.  Es  gab  in 
Dessau  viele  kleine  Moses.  SoUte  der  künftige  Philoaophierer 
Ton  den  andern  Moses  miterscbieden  werden,  so  biess  er 
«Moses  Mendels  Sobn*.  Im  Mittelalter  hfttte  er  «Moses 
ben  Mendel*  geheissen.  Innerhalb  des  Berliner  Freondes- 
kreisee  war  das  aber  schon  wieder  nicht  nötig,  und  in  seit» 
gendssischen  Briefen  ist  Ton  ihm  einfach  ab  Ton  dem  Herrn 
Moses  die  Bede.  Wenn  also  in  der  Judengemeinde  von 
Dessau  «Moses  Mendelssohn*  gesagt  wurde,  so  war  der 
Vatersname  ein  erklärendes  Prftdikat;  wenn  Lessing  sich 
einmal  herbeiliess,  ausführlich  «Herr  Moses  Mendelssohn* 
zu  sdireiben,  so  war  der  Vatersname  wohl  fllr  sein  l^^rakdi' 
gefUiI  noch  kein  modemer  Familienname  (wie  in  Fdix 
Mendelssohn),  sondern  mehr  ein  erzShlendes  Priidikat,  ein 
sdmiückendes  Adjektiv,  vielleicht  mit  einem  ganz  fernen 
Anklang  an  schenhaften  Gebrauch  homerischer  Vaters* 
namen.  In  Briefen  an  seine  Braut  unterschrieb  sidi  Moses 
noch  n Moses  Dessau*. 

Ich  bin  ausführlicher  geworden,  weil  mir  diese  Kleinig- 
keit wichtig  scheint  fttr  die  Erkenntnis  des  wahren  Wesens 
der  Syntax«  Ihre  ganze  und  einzige  Aufgabe  besteht  nur 
darin,  dass  sie  uns  hilft,  in  der  Flucht  unserer  Gedanken- 
associationen  das  Prädikat  dem  Subjekt  zu  nihem,  die  Be< 
Stimmung  dem  zu  bestimmenden  Worte  anzuiligen.  Man 
wird  das  im  Satzgefüge  leichter  zugeben,  wenn  man  diese  ge- 
heime Spracharbeit  selbst  in  dem  elementarsten  Falle  wahr- 
genommen hat.  Es  kann  aber  kein  elementareres  Wort 
ausgedacht  werden,  als  der  Name  ist,  der  auf  der  Welt 
nichts  anderes  l)ezeichnet  als  ein^  bestimmte  Pei*son,  ein 
Individuum,  auf  das  man  mit  dt  iu  /tngetinger  wei«f^n  kann. 
Sobald  nun  die  Spraclie  aus  irLC»  i  il  welchem  üruude  be- 
quemer ist  als  (1.  I  Gebrauch  des  Zeigefinf^'ers,  sobald  wir 
das  Individuum  nennen  wollen,  in  seinem  Naineu  schon  geht 
die  Sprache  in  Subjekt  und  Prädikat  auseinander. 

In  irgend  einer  weit  zurUckh^enden  Sprechweise  muss 


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Das  Neue  irird  Prftdikat 


21d 


dieses  Geteininis  der  Syntax,  dass  sie  nämlich  immer  Da« 
wieder  nur  ein  Prädikat  an  ein  Subjekt  fügen  kann,  viel  ^* 
offenbarer  gewesen  sein.  Um  das  deutlich  zu  machen,  muss  Pt*dikAt. 
ich  aber  vorher  irgend  ein  Hlltägliehes  Beispiel  daftir  geben, 
wie  ich  mir  die  Ei  Aveiteruns»-  der  Begriffe  Subjekt  und 
Prädikat  denke.  Ich  lahnie  den  Satz:  ^Ich  fahre  morgen 
nach  deinem  Wunsche  in  einer  Familienangelegenheit  nach 
Wien."  Bei  den  beiden  ersten  Worten  fallt  mein  erweiterter 
Sprachgebrauch  mit  dem  gewohnten  zusammen,  nlch"  ist 
das  IJebeiflttssige,  der  feste  Ausgangspunkt.  Die  Neuigkeit, 
die  mir  aimagtiisvert  acheint,  das  Prftdikat  ist  »falireii*. 
Kim  wird  sofort  mein  Fahren  znm  Ausgangspunkt,  zu  dem 
was  icli  schon  weiss,  was  ich  dem  andern  schon  miigeteiU 
habe  und  was  dadurch  xum  SelbsfcTerstftDdlichen,  lam  Sub- 
jekt geworden  ist*  Etwas  neues  Anssagenswertes,  eine  neue 
Beetimmung  tritt  hinsn:  «morgen*.  Uan  rersenke  sich  ein 
wenig  in  meine  Anschauungsweiae  und  das  SprachgeAlhl 
macht  bald  keinen  Unterschied  mehr  swisdhen  dem  Yerbum 
.fahren*  und  dem  AdTerbium  »morgen*.  Die  Sprache  hätte 
sieh  ja  auch  so  entwickeln  kdunen,  daw  ich  gelftufig  sagim 
kdnnte,  was  ich  jetat  der  Muttersprache  nur  mit  ein  wenig 
Tortur  abswingen  kann:  «mein  morgendes  Fahren*  oder 
»mein  Fehren  ist  moigend*.  Nun  wird  »mein  morgendes 
Fahren*  snm  Wohlbekannten  für  Sprecher  und  Hörer,  zum 
Subjekt  In  einer  matiiematischen  Formel  durfte  ich  jedes- 
mal aJles  bisher  Ckaagte  durch  eine  Klammer  Terbinden,  etwa: 
{[(a  +  b)  -f  c]  4  d  \  f  e-  Es  tritt  nun  das  neue  Aussagens- 
werte «nach  deinem  Wunsche"  hinzu.  „Mein  morgendes 
Fahren  ist  dir  wQnschenswert*  Ich  brauche  wohl  nicht 
daran  2:u  erinnern,  dass  ich  es  mir  hier  bequem  gemacht 
habe,  dass  die  neuen  Bestimmungen  „nach*  und  «dir"  eine 
ebensolche  Analyse  erfordert  hätten,  dass  endlich  die  Wort- 
folge des  Sprachgebrauchs  nicht  immer  der  natürlichen  Folge 
der  Associationen  entspricht,  wie  z.  6.  das  «dir**  in  anderen 
Sprachen  dem  Wunsche  zu  folgen  hätte.  Nun  habe  ich  das 
erweiterte  Subjekt  «mein  morgendes,  dir  wünschenswertes 
Fahren'  und  es  tritt  das  neue  Prädikat  «in  einer  Familien- 


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220 


VII.  Syntax. 


Bügelegenheit*  hinzu;  und  endHch  fOgt  sich  aa  das  er^ 
weiteite  Subjekt  «mein  morgendss,  dir  wUnschsiiswerteB, 
fiuiuli«ihaltes  Fahren"  die  leiste  Bestimmung,  das  PrSdikat 
der  Richtung. 

So  üder  ähnlich  drUcken  noch  heute  flexionsarme 
Sprachen  die  Gedanken  aus.  Wie  auf  dem  Marsche  jeder 
Fuss  Boden,  den  ich  zurücklege  zum  ROckwärts  wird,  das 
sich,  bei  jedem  Schritt  vergrdssert,  an  meinem  Standpunkt 
TOm  Vorwärts  unterscheidet,  so  wird  im  Satzgefüge  alles 
Gesagte,  alles  Kückwärtsliegende  zum  Subjekt,  das  Nächste, 
das  Vorausliegende,  das  Auszusagende,  ist  in  jedem  Augen- 
blicke das  Prädikat.  Und  wieder  komme  ich  auf  mein 
sprachwidriges  Beispiel  zurück.  In  jener  alten  Sprechweise 
musste  es  <:^leichprttltig  sein  —  wie  es  auch  naturwissen- 
schaftlicli  gleichgültig  ist  —  ob  man  sagte  „ich  schmecke 
die  Frucht"  oder  ,die  Fnicht  schmeckt  mich  (mir)".  Die 
Unterscheidung  zwischen  transitiven  und  intransitiven  Verben, 
zwischen  Subjekt  und  Objekt,  zwischen  Activum  und  Pas- 
sivum,  zwischen  Accusativ  und  Adverbialbestimmungen,  end- 
lich aber  und  zuerst  die  Unterscheidung  zwischen  No?nen 
und  Verbum  konnte  noch  nicht  ertunden  worden  ^ein  zu 
einer  Zeit,  da  die  menschliche  Sprache  noch  in  ihren  Formen 
mit  der  wirklichen  Gehirnthätigkeit  zusammenfiel,  da  die 
Sprache  sich  noch  darauf  beschränkte,  Apperzeptionen  aus- 
zudrücken, Glied  für  Glied  dem  W  eitbilde  des  Ich  neue  Ein- 
drücke hinzuzufügen,  jedes  neue  Wort  als  ein  neues  Prädikat 
zu  empfinden. 

Es  scheint,  als  ob  la  dtu  .sprachen,  die  durch  Verlust 
der  Bildungsformen  so  üexionsarm  geworden  sind,  wie  z.  B. 
die  englische,  sich  langsam  der  Kreislauf  vollzieht  zu  dieser 
ursprünglichen  Syntax,  die  jede  neue  Bestimmung  als  ein 
neues  Pkftdikat  aulbart.  Sfttse  wie:  hm  are  somo  will 
thank  you  (Shakespeare)  sind  im  Englischen  alltäglich. 

Es  schdnt  mir  selhstrerständlich,  dass  diese  Anschauung, 
wenn  sie  richtig  ist  fttr  die  Glieder  eines  einfachen  Satses, 
ebenso  angewandt  werden  darf  auf  die  kompliziertesten  Satz- 
gefüge. Auch  die  Unterscheidung  der  nebeugcordneten  und 


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Dm  Neue  PrftdiluU. 


der  untergeordneten  Sätze  ist  dafür  unwesentlich.  Es  ist 
ja  auch  den  alten  Grammatikern  nicht  fremd,  ganze  Sätze 
als  Subjekte  oder  als  Prädikate  anzusehen.  So  wir*!  für 
mich  auch  im  reichsten  l'eriodcnbau,  solani^e  sich  nur  das 
Sprachgefühl  nicht  gegen  seine  Kompliziertheit  auflehnt, 
immer  alles  bereits  Gesagte  zum  Subjekt,  der  auszusagende 
Begriff,  der  neue  Satz  wird  zum  Prädikat.  Xehenordnung 
und  Unterordnung  gibt  es  ja  doch  nur  einzig  und  allein 
ir.  ilen  Sprachgewohnheiten  oder  in  unserer  Autmerksam- 
keit  auf  einen  Zug,  niemals  in  der  Wirklichkeit,  die  wir 
bezeichnen  wollen.  Und  selbst  in  den  Sjirachgewohnheiten 
ist  die  Unterordnung  ein  durchaus  relativer  Begritf,  wie  wir 
das  angeblich  so  grundlegende  Verhältnis  zwischen  Sub- 
jekt und  Prädikat  eben  als  etwas  Relatives  kennen  gelernt 
haben.  Es  gibt  Sprachin,  die  eine  grammatische  Unter- 
ordnung der  sogenannten  Nebensätze  nicht  kennen.  Es  ist 
nicht  unmöglich,  dass  auch  unsere  Sprachen,  die  jetzt  so 
stolz  sind  auf  ihr  neben-  und  untergeordnetes  Satzgefüge, 
einmal  wieder  zur  Ausgleichung  dieses  Unterschiedes  zurttck- 
kebren.  Bentlicb  zeigt  sich  die  Neigung  dazu  in  den  Neben- 
rittzen,  welche  heute  in  der  Erzihlung  Zeitiiestimmungen 
enthalten.  «Robinson  fand  eine  Kokoennss;  er  Öffnete  sie; 
er  aas  den  Kern.*  Weder  ein  Kind  noch  ein  Granunatiker 
wird  sich  an  dieser  Nebenordnung  stoesen.  Und  doch  bitte 
es  ebenso  gut  heissen  k(tamen:  «Robinson  fand  maß  Eokos- 
nnss;  nachdem  er  sie  geOSbet  hatte«  ass  er  den  Kern  auP 
oder  auch:  «Nachdem  Robinson  die  Kokosnuss,  welche  er 
gefunden,  geöffnet  hatte,  ass  er  u.  s.  w.*  oder  auch:  «Nach- 
dem Robiuon  die  gefundene  Eokosnuss  geOffiiet  u.  s.  w.* 
Selbst  in  der  Theorie  ist  mit  dem  Begriff  des  untergeordneten 
Satzes  nicht  viel  anzufangen  (vergl.  m.  197).  Wir  können 
nicht  mehr  sagen,  als  dass  er  eine  Bestimmung  zum  Haupt- 
satze enthalte.  Darin  liegt  seine  ganze  Abhängigkeit.  Aber 
abhBngig  sind  alle  S&tze  wie  alle  Worte  einer  Rede  von- 
einander. Und  fasst  man  die  Sprache  gar  erst  wieder  als 
etwas  zwischen  den  Menschen,  wie  z.  B.  in  einem  lebhaften 
Gespräch,  in  einer  kurzen  telephonischen  Verabredung,  so 


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222 


Bchliessen  ridi  lauter  isolierte  Sätse  aneinander,  die  das 
Sttsammeofassende  Satzgefüge  in  einer  langen  Periode  von 
abhängigen  Sfttzan  Tereinigeii  wflrde.  —  «Gut.  —  Morgen? 
—  Ja.  -r-  Wann?  —  Nach  dem  Theater.  —  Wo?  —  An 
der  gewohnten  Ecke.  —  Gewvs?  —  Wenn  ich  allein  bin** 
Der  Inhalt  dieser  Verabredung  wird  nicht  reicher  an  Wert» 
wenn  der  Frager  ihn  dann  noch  einmal  xur  Sicherh«i 
wiederholt  und  so  ausspiicht:  »Wir  sehen  uns  also,  wenn 
du  allein  bist,  morgen  abend,  sobald  das  Theater  TorQber 
ist,  an  der  Ecke,  an  welcher  wir  uns  immer  trelfen.* 
.hfirioh*.  FOr  die  ZoftUigkeit  dieser  sprachlichen  Gewohnheiten 
findet  sich  in  memer  Heimat  ein  sonderbares  Beispiel.  An- 
statt des  schön  geformten  Satxfp  «ich  hdre,  du  habest  dich 
▼eriobt*  sagt  man  da  regehnassig  ,du  hast  dich,  höre  ich, 
▼erlobt".  So  wie  ich  das  hier  niederschreibe,  könnte  man 
glauben,  es  sei  ein&ch  —  wie  fast  regalmSasig  in  der  Um* 
gaagsprache  —  die  indirekte  Hede  aus  Bequemlichkeit 
durch  die  direkte  ersetzt  worden.  Nach  dem  SprachgefDhl 
der  Deutsch-Böhmen  liegt  die  Sache  aber  anders.  Der 
grammatisdie  Nebensati  ,du  hast  dich  Terlobt*  wird  un- 
bedingt als  Hauptsatz  empfunden;  der  Haupt.'^Eitz  «ich  höre* 
oder  ,höre  ich*  wird  nicht  einmal  als  ein  Nebensatz  oder 
als  Parenthese  empfunden,  sondern  Tielmehr  als  ein  Ad- 
verbium. Er  wird  ganz  ohne  Frage  „hör ich"  ausgesprochen 
und  nach  Analogie  eines  ähnlichen  tschechischen  Wortes 
(pry)  etwa  so  empfunden  wie  das  weitläufigere  ,  einem  on- 
dit  zu  Folge".  Wie  so  häufig  in  der  Eutwickelung  der 
Sprache  erzeugt  dabei  die  Verarmung  in  der  einen  Richtung 
eine  Bereicherung  in  anderer  Richtung.  Es  wird  da  (ebenso 
in  andern  Mundarten)  ein  Adverbium  des  Hörensagens  ge- 
schaffen. Ueberhaupt  ist  es  für  den  Sinn  vollkommen 
gleichgültig,  ob  ein  Teil  des  Satzgefflgcs  die  grammatische 
Form  des  Hauptsatzes  angenommen  hat  oder  nicht.  Auf  die 
Associationen  unseres  Gedächtnisses  kommt  es  an,  auf  unsere 
Erinnerungen  an  die  Wirklichkeitswelt,  nicht  auf  die  Sprach- 
kategorien. 

Hermann  Paul  gibt,  ohne  die  volle  Tragweite  die^s 


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Parenth«M. 


223 


Uebergangs  vom  Hauptsatz  in  den  Nebensats  und  umge-  Fwrtt' 
kehrt  zu  erkennen,  weitere  Beispiele  (Pr.  d.  Sprachg.  8.  100 
bis  124)  aus  andern  Sprachen.  Er  erwalint  dabei  aaeli  die 
sogenannte  Parenlliese,  die  Einsdudbung  eines  formellen 
Hauptsatzes  in  ein  grammatiaeh  fremdes  SatigefQge.  Oerade 
die  Parenthese,  von  dar  diese  Spzachkritik  i.  B.  einen  sehr 
häufigen  Gehrauch  maeht,  schemt  mir  bedentsam  f&r  die 
Rolle,  velehe  das  Qed&chtnis  hei  der  AufSusong  kompli- 
sierterer  Gedankengänge  spielen  mnss.  Alle  Parenthesen 
drucken  doch  izgend  eine  Bestimmung  aus,  welche  sich 
grammatisch  in  der  Form  eines  Nebensataes  dee  Chrundes, 
der  Zeit,  des  Ortes  u.  s.  w.  einfUgen  üesse.  Sin  guter  Stilist 
wird  aber  die  isolierte  Parenthese  der  Einleitung  durch 
»weil,  als,  wo  u.  s.  w.*  TOisiehen,  wenn  ihm  dieser  gram- 
matische Eiertam  nun  Ekel  geworden  ist  Er  erinneii 
dann  etwa  den  H5rer,  scheinbar  sosammenhanglos,  an 
erneu  bekannten  ünstand,  und  der  aufmerksame  Hdrer  wird 
der  ParenÜiese  schneller  naehftthlen,  ob  sie  einen  Qnmd, 
eine  Zeitbestimmung,  einen  Ort  u.  s.  w.  Bliebe,  ab  wenn 
er  durch  die  entsprechende  Koiqiinkticni  mit  der  Nase  auf 
die  beferefifonde  Kategone  gei^tossen  worden  wäre.  Die 
fertigen  ^ntaktischen  Kategorien,  die  ewig  mit  der  Nase 
auf  die  fertigen  logischen  Kategorien  stoesw,  haben  den- 
selben Fehler  wie  die  fertigen  Flexionsformen ;  sie  stumpfen 
ab,  sie  sind  durch  das  Bestreben  der  Vollständigkeit  lang- 
weilig, sie  machen  scheinbar  die  eigene  Gedankenarbeit 
leichter,  in  Wirklichkeit  nur  träger,  und  so,  glaube  ich, 
schaden  Bie  dem  Mitdenken  mehr,  als  sie  ihm  nütsen* 

Ich  furchte,  die  Regelung  der  Syntax  ia  unsem  viel  snituf 
gerühmten  Kultursprachen  entspricht  nicht  im  mindesten  "P"«^®»- 
dem  Zweck  der  Sprache,  mit  imsern  Erinnerungen  an  die 
Wirklichkeit  übereinzustimmen,  sie  entspricht  viehnehr  einer 
gewissen  Ordnungsliebe,  die  mitunter  ihren  praktischen 
Nutzen  haben  kann,  viel  häufiger  jedoch  nur  einem  spieleri- 
schen Bedürfnisse  der  Zierlichkeit  dient.  Ich  sehe  in  dit  ser 
syntaktischen  Gliederung  dasselbe  Bild,  wie  es  eine  irucht- 
bare  Landschaft  in  unsren  hoch  kultivierten  Gegenden  bietet 


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224 


VH.  Syntax. 


flo  ein  Stftck  Land  hübsch  parzeUiwt  und  sind  die  Vier- 
ecke mit  GemUsen,  Getreide  und  Handelspflanzen  bunt- 
scheckig bestelli,  ist  gar  wie  in  einem  Hansgarten,  fttr  wei- 
tere Abwechselung  durch  blühende  Gewichse  gesorgt,  so 
hat  der  Interessent  seine  Freude  an  dem  Anblick.  Sin 
interesseloser  Kopf,  ein  Dichter  s.  B.,  mag  sich  dann  Ober 
diese  Ordnungsliebe  entsetsen;  wie  denn  der  Pussfcadichter 
Lenau  einmal  diese  wohlgeordneten  Eulturfluren  in  Schwaben 
ganz  abscheulich  fand.  Wfll  die  Sprache  nichts  anderes 
als  die  WirUichkeit  xeichnen  oder  beseichnen,  so  hat  sie 
sn  einer  so  zierlichen  Ordnung  gar  keine  rechte  Veran- 
lassung; denn  die  Wirklichkeit  ist  regellos  wie  die  Ursprünge 
liehe  Katur,  wie  die  Wüste«  die  Steppe  oder  der  Urwald. 
Alle  unsere  Kultursprachen  aber  sind  sohon  durch  ihre  ana- 
logtschen  ^ezionsformen,  nodi  mehr  aber  durch  ihre  sjn- 
tsktischen  Gliederungen  Arabesken  geworden.  Sie  stilisiereu 
die  Erscheinungen  der  Wirklichkeit  wie  etwa  eine  spiele- 
rische Kunst  in  ihren  Arabesken  die  Formen  der  Nator 
stüinrtf  wie  insbesondere  die  Architektur  Pilanzenformen 
benutzt  War  rechts  ein  Blättchen,  so  wird  auch  links  ein 
Bl&ttcfaen  angebracht;  bog  sich  der  Zweig  zuerst  nach  rechts, 
so  muss  er  sich  dann  nach  links  biegen.  Das  Ohr  sucht 
in  der  Sprache  Beruhigung,  wie  das  Auge  in  der  zierenden 
Kunst.  Als  ob  in  der  Natur  überall  Gleichgewicht  herrschen 
müsste  oder  könnte.  Dieses  ziervolle  Streben  nach  Ueber- 
einstimmung  der  Teile  geht  bis  auf  die  Elemente  des  Satzes 
zurück.  Wir  verachten  die  einfachen  Sprachen,  welche 
Uebereinstinimunf?  zwischen  Subjekt  und  Prädikat  nach  Zahl 
und  Geschlecht  und  dert^leichen  nicht  in  ihren  Formen  ver- 
merken. Aber  in  alltiijxlichen  Anwendungen  stehen  wir 
da  vor  iSchwierigkeiten.  Heisst  es:  «3mai  7  ist  21"  oder 
,sind  21"?  Der  Qrammatiker  stutzt  bei  der  Frage,  der 
Logiker  ist  hilflos. 

So  führt  uns  auch  diese  Betrachtung  wieder  dü/ii,  den 
vielgerühmten  Bau  der  menschlichen  Sprache  nur  vom  Stand- 
punkt des  Künstlds  aus  bewundem  zu  können;  nicht  zu- 
taliig  spricht  man  von  einem  Stil  im  Satzgefüge,  wie  man 


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WiikUchkmt  and  Worte. 


226 


von  einem  Stil  in  den  Künsten  spricht.  Und  so  wenig  der 
einzelne  im  stände  ist,  sich  selbständig  und  einsam  von  dem 
Kunstgefüiil  seiner  Zeit  uuii  seines  Volkes  ganz  loszulösen, 
so  wenijK  können  wir  in  der  Wertschätzung  der  Sprachen, 
weil  sie  eine  rein  ästlit tische  ist,  uns  von  dem  Stilgefühl 
unserer  eigenen  Muttersprache  völlig  befreien.  Wir  sind  in 
allen  diesen  Dingen  Sklaven  der  Zeit  und  ihrer  Mode,  und 
je  naiver  wir  sind,  desto  unfreier  verwechseln  wir  die  Mode 
mit  der  Schönheit,  unsere  Sprachgewohnheiten  mit  der  logi- 
flehen  Walurheit. 


Ym.  Situation  und  Spracbe. 

Es  ist  einer  der  wiohtigsten  Punkte  in  der  Sprach»  wizUkfc- 
kritik,  dass  wir  den  Zusanunenhing  oder  viehnehr  die  Zu-  '^^^ 
eammenbangloeigkeit  zwischen  der  WirkUchkeilswelt  nnd 
den  Spracblanten  ezkennen.  Nie  nnd  nimmer  hat  ursprQng- 
lieh  im  SpracUaute  etwas  gelegen«  was  zu  einem  Ding  in 
der  Wirklichkeitswelt  direkte  oder  indirekte  Beuehnng  hatte. 
Alle  Bemflhungen,  die  Sprache  aus  einer  Nachahmung  der 
WirUidikttt  zu  «rUftren,  mUasen  daran  scheitem.  Wir 
haben  erkannt,  dass  auch  die  scheinbar  handgreiflichsten 
Klangnacbahmni^en  nur  metaphoiiscbe  Anwendungen  des 
Klanges  sind  und  wir  haben  Tcrmutet,  dass  selbst  dkse 
metaphoriscliai  Khngnacbabmnngen  erst  nachtrlgbeh,  durch 
eine  Art  von  Volksetymologie,  in  den  Klang  hineingetragen 
worden  sind  (II.  534).  Dieser  Auffassung  von  der  Onomatopöie 
widerspricht  es  also  nicht,  wenn  wir  jede  Bezeichnung  für 
Dinge  oder  Erscheinungen  der  Aussenwelt  für  die  Zeit  der 
Sprachentstehung  leugnen,  wenn  wir  den  Sprachlauten  in 
einer  Urzeit  nur  hinweisende  Kraft  zugestehen,  wie  wir  ja 
Übrigens  auch  der  entwickelten  Sprache  nur  eine  hinweisende, 
deiktische  Bedeutung  beimessen.  Wegener  (Untersuchungen 
S.  88)  nennt  das  gern  den  Imperativ  des  Stechenden,  das 
heisst  die  Aufforderung  an  den  Eörenden,  seine  Aufmerksam- 
keit einem  bestimmten  Punkte  der  gegenwärtigen  Situation 
M»athuer.  Beitrl^e  su  einer  Kritik  der  Sprache.  III.  15 


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226 


yni.  Situation  und  Sprache. 


suzuwendeD.  Er  weist  darauf  hin  (unwülkürlidi  nennen  wir 
eine  Belehrung  gern  eine  «Hinweisung*),  dass  im  firan« 
xOsischen  BemonstratiTpronomen  diese  Aufforderung  noch 
zu  entdecken  sei.  Ge  (liTre  u.  s.  w.)  ist  entetanden  aus  ecce 
oder  ecce  id.  Sehr  hUhsch  ist  die  Bemerkung,  dass  das  s, 
mit  dem  in  den  indoeuropäischen  Sprachen  so  unendlich 
häufig  der  XominafciT  singularis,  also  die  weitaus  grOsste 
Zahl  der  Dinge  in  der  WirUichkeiiswelt,  bezeichnet  wird, 
ein  altes  DemonstratiTum  sei,  unser  ,da*.  Dieses  .da"  mag 
in  einer  Urzeit  der  al^meinste  Begriff,  das  ewige  psycho- 
logische P^«dikat  jeder  Sprache  gewesen  sein.  Wir  können 
mit  aller  Phantasie  nicht  mehr  die  Wege  des  Laut-  und 
des  Bedeutungswandds  rdconstruieren,  auf  welchem  dann 
so  ein  «da*  zu  hundertfittiigen  psychologischen  Subjdcten 
wurde,  welclie  dann  dem  «da*  oder  „s"  vorangestellt  wurden. 
Verwandte  Vorgänge  aber  lassen  sich  an  der  Sprachbildung 
der  Kinder  noch  beobachten. 

SttuBfeton  Wenn  kleine  Kinder  sprechen  lernen,  so  kommt  es 
ebenso  oft  vor,  dass  die  Kinder  die  Sprachlaute  von  Amme 

■pntih«.  oder  Mutter  na(-h|ilappem,  wie  dass  die  Amme  oder  Mutter 
das  Lallen  des  Kindes  zur  Verständigijno;  artikulierend  nach- 
ahmt. Dass  das  Kind  doch  schliesslich  die  Sprache  der 
Erwachsenen  lernt,  rührt  nur  daher,  dass  es  sich  in  einer 
erschreckenden  Minorität  gegenüber  seinem  Volke  befindei 
und  eben  einer  fertigen  Sprache  gegenübersteht.  In  beiden 
Fällen  —  ob  nun  das  Kind  oder  die  erwachsene  Person 
den  Sprachlaut  zuerst  hervorbringt  —  besteht  das  Sprechen- 
IprnrMi  jedoch  darin,  dass  der  Sprachlaut  oder  vielmphr  das 
Bewegungsgefülil  dieses  Sprachlauts  sich  mit  einer  Seelon- 
situation  des  Kindes  associiert.  Der  Sprachlaut  weist  auf 
die  Situation  des  Hungers,  der  Nässe,  des  Lichtes  u.  s.  w. 
hin  und  priirrt  sich  nach  einigen  Wiederholungen  so  fest 
ein,  dass  er  au  diese  Situation  erinnert.  Wir  wissen.  da.ss 
das  Wort  -Milch"  oder  der  ents])rechende  kindliche  S))rach- 
laut  wirklich  nur  an  die  alli»'ejueine  Situation  erinnert  und 
darum  in  der  Sprache  der  Erwachsenen  bald  mit  Ilunpcr, 
bald  mit  Befriedigung,  mit  Brust  oder  Flasche,  mit  Bitte 


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SituatioB  vaA  Kmdenpndie» 


227 


oder  Fröhlichkeit  Ubersetrt  werden  mflssle.  Daraus  ist  es 
audi  SU  b^reifm,  weshalb  M uttw  und  Sind  einander  ver- 
stehen, trotzdem  das  Kind  anfangs  niemals  Satse  spricht, 
sondern  nur  einzelne  Sprachlaute.  Diese  erinnern  an  die 
gesamte  Situation  (unklar  freilich)  und  mehr  leistet  im 
(i  runde  auch  die  entwickelte  Sprache  nicht.  Ein  grösserer 
Unterschied  zwischen  der  Sprache  des  kleinen  Kindes  und 
der  der  Erwachsenen  besteht  aber  darin,  dass  das  ausser^ 
ordentliche  Gedächtnis  der  Erwachsenen  jede  vergangene 
Situation  wachrufen  kann,  während  der  Sprachlaut  des  kleinen 
Kindt  s  immer  nur  auf  die  gegenwärtige  Situation  hinweist. 
Diese  hinweisende,  deiktische  Sprache  ist  nur  insofern  eben- 
falls eine  That  des  Gedächtnisses,  als  das  Bewegungsgefühl 
des  bestinmiten  Sprachlautes  sich  sehr  früh  mit  der  be- 
stimmten Situation  assocüert  hat.  Das  kleine  Kind  ver- 
bindet z.  B.  mit  seinem  Sprachlaute  , Milch" ,  oder  dem 
entsprec  henden ,  höchstens  die  Vorstellung  der  unmittelbar 
folgenden  Zukunft  (weinerliclier,  bittender  Ton)  oder  der 
unmittelbar  vorausgegangenen  Vergangenheit  (fröhlicher, 
dankender  Toni. 

Diese  Be/iehunn^  auf  die  nächsten  Lust-  und  Unhist- 
gefühle  i«t  charakteristisch  fUr  die  Sprache  des  kleinen 
Kindes;  die  gegenwärtif^e  Situation  wird  ja  nur  dann  wahr- 
genommen und  nur  insoweit  walagi  noiiinun  als  sie  inter- 
essiert. Dieses  Interesse  ist  beim  kleinen  Kinde  ein  rein 
animalisches.  Es  hat  nicht  die  geringste  Veranlassunj^,  mit 
seinem  Denken  oder  Sprechen  über  diese  Situation  und  über 
die  Gegenwart,  nächst  den  Momenten  vorher  und  nachher, 
hinauszugeluMi.  Das  Interesse  des  erwachsenen  Menschen 
oder  gar  das  des  „uneigennützigen"  Gelehrten  oder  Philo- 
sophen ist  freilich  ungleich  ausgedehnter  und  indirekter  als 
dieses  animalische  Interesse  des  Kindes.  Aber  auch  der 
Vater,  und  wenn  er  ein  Phüosoph  wäre,  nimmt  schliesslich 
nur  wahr,  was  durch  ein  noch  so  indirektes  Interesse  seine 
Aufmerksamkeit  erregt,  und  hat  in  seinem  Qehirn  nur  die 
Erinnerungen  an  solche  Situationen,  die  einmal  seine  Auf- 
merksamkeit erregt  haben.  So  weist  auch  jedes  Wort  und 


228 


VIIL  SitualioB  nnd  Spradie. 


jeder  Wortteil  der  entwickelten  Sprache  schliesslich  immer 
auf  Situationen  bin,  die  irgend  einmal  <re<:f^nw'ärtige  waren. 

Die  Verständigung  zwischen  der  Mutter  oder  Amme 
einerseits  und  dem  Kinde  anderseits  entsteht  aus  der  Ge- 
meinsamkeit des  Situationsbildes.  Es  ist  ja  wahr,  dass  der 
Enge  des  Horizontes  die  kleine  Zahl  der  Sprachlaute  ent- 
spiicht;  trotzdem  darf  man  nicht  glauben,  dass  die  wenigen 
Sprachlaute  des  Kindes  zur  Verständigung  irgendwie  hin- 
reichen könnten,  wenn  nicht  eben  die  gej^enwärtige  Situation 
die  eitfentlii  In  Sprache  ausmachte.  Jeder  einzelne  dieser 
wenifTen  Sprachlaute  hat  ja  eine  gewisse  Gruppe  von  Em- 
pfinduii^^eii  zum  Ziel,  aber  doch  nur  /titn  Ziel,  auf  welches 
er  hinweist.  Innerhalb  der  Gruppe  ist  der  Sprachlaut  doch 
nur  unser  „da*  und  die  bekannte  Situation  sagt  das  Uebrige. 
Das  Kind  macht  sich  auch  gar  nichts  daraus ,  die  paar 
Sprachlaute  miteinander  zu  vertaus(hen.  Die  Mutter  oder 
Amme  versteht  es  doch  aus  der  Situation  heraus.  Und  der 
Ton  ist  fast  noch  wichtiger  als  der  , artikulierte Sprachlaut. 
Der  Ton,  der  weinerliche  »Ut  fröhliche  Ausdruck  sogar 
schon,  bestimmt  in  der  Situiiti  ni  illes,  was  die  entwickelte 
Sprache  später  so  künstlich  als  Beschreil)ung  der  Situation 
festzuhalten  sucht:  den  Gegenstand  der  Aufmerksamkeit,  die 
Handlung,  die  Beziehung  auf  das  Kind,  die  Zeit  der  Hand- 
lung, die  Richtung  u.  s.  w.,  kurz  die  ganze  Vielfältigkeit 
dessen,  was  wir  die  Grammatik  der  entwickelten  Sprache 
nennen. 

Noch  ein  anderes  und  Uberaus  tief  reiehendes  Ver- 
hftltDis  swiadien  dem  Worte  und  der  Situation  ist  sdion  in 
der  Eindersprache  Torhanden,  ein  Umstand,  der  die  Inkon- 
sequenz des  Spracblntikws,  die  Iiiebe  zu  seiner  Mutter- 
sprache, vielleicht  doch  wiedo'  «rUSri  Wir  alle  haben  an 
dem  Gebrauche  unserer  Muttersprache  eine  tiefe  Freude.  Bs 
wftre  wohlfeil  sie  atu  dem  Behagen  aÜMn  zu  erklären,  das 
uns  die  bequeme  und  sichere  Art  zu  schwätzen  gewährt 
Diese  Sehwatsißreude  hat  Tiel  mit  Bitelkeit  zu  thun  und 
findet  sich  noch  häufiger  beim  Plappern  in  einer  fremden 
Sprache.   Das  tiefe  Gefllhl  für  die  Muttersprache  hat  weit 


Situation  und  Apperzeption. 


229 


mehr  AehnKehkcit  mit  der  leidenschifflklira  Ibnpfindung 
ftkr  die  Geliebte;  atsch  die  Liebe  ist  beim  recht  gesuoden 
Menschen  (man  denke  an  die  Definition  Spinons)  innig  ver- 
bunden mit  der  Brinnemng  an  Wollust.  Wer  recht  Hebt, 
der  erwartet  von  der  Umarmung  eines  and«rn  Weibes  als 
des  einen  gar  keine  Lust,  weil  ihm  die  Erinnerung  dieses 
Oefldils  der  Lust  allein  mit  der  Vorstellung  der  Qeliebten, 
ja  sogar  mit  der  Vorstellung  von  ihrem  Namen  sich  asso- 
cüert.  Dieses  Gefthl  der  Lust  empfindet  man  auch  im 
Gebrauche  seiner  Muttersprache.  Alle  hohen  Theten  der 
Vaterlandsliebe  hangen  mit  diesem  Gefühl  der  Lust  su- 
sammen.  Und  doch  ist  sich  der  erwachsene  Mensch  keiner 
solchen  Lust  beim  Gebrauche  der  Worte  bewusst 

Aber  Lust,  die  Wollust  der  BeMedigung  seiner  höchsten 
animalisdien  Interessen,  hat  der  Mensch  sls  Kind  beim 
Spredienlemen  erfahren.  Die  Mutterliebe,  diese  Fortsetzung 
der  Geschlechtsliebe,  hat  im  kleinen  Kinde  die  Association 
zwischen  den  Sprachlauten  und  der  Befriedigung  hergestellt. 
Die  ersten  Sprachlaute  dienten  der  Befriedigung  der  ver- 
zweifelten Lebensinteressen  dee  Kindes  und  wir  können  nur 
alinon,  welche  Lust  das  Kind  dabei  empfindet,  wenn  es  z.  B. 
mit  dem  ersten  Sprachlaute  «ma*  zugleich  seinen  Hunger  und 
die  Mutterbrust  und  wer  weiss  wns  noch  sich  vorstellt.  Wer 
mir  diese  Darstellung  nicht  glauben  will,  der  beobachte  ein- 
mal, wie  das  Kind  nach  erfolgter  Sättigung  den  Sprachlaut 
ma  glückselig  und  fast  liebkosend  wiederholt. 

Die  Erfahrung  der  Kinderstube  lehrt  also,  dass  die  App«r- 
Kinder,  auch  wenn  sie  von  der  Sprache  der  Erwachsenen 
schon  mancherlei  gelernt  haben,  nie  etwas  anderes  als  die  Sikwtioii. 
Welt  ihrer  Stube  mit  den  Worten  verbinden.  Es  ist  das 
auch  nicht  anders  niüiTlirli.  weil  doch  Sprache  nur  aus  Er- 
innerun^'s7ri(  hen  besteht.  Hätte  ein  Kind  auch  den  ganzeu 
Sprachschatz  seines  Volkes  auswendig  gelernt,  e"<  könnte 
mit  ihm  dennoch  nicht  über  den  Horizont  seiner  Kinder- 
stube hinaus  denken.  Das  ist  ja  der  Grundfehler  aller 
Schule.  Ii  SS  sie  die  Sprache  ohne  das  dazugehörige  Welt- 
bild bietet. 


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230 


VIII.  SiinaMon  und  Spnohft. 


In  den  Zeiten  der  SpiMhentetehung  muss  die  Saelie 
klarer  gelegen  kaben.  Nicht  einmal  alles,  waa  dem  Hori- 
zonte des  Einaelnen  angehörte,  konnte  er  auBdrUcken*  Da 
Sprache  als  etwas  zwischen  den  Menschen  entstand,  konnten 
die  ältesten  Sprachlaute  nur  ausdrücken,  was  in  der  be- 
treffenden Gruppe  gemeinsamer  Horizont  war.  Und  ander- 
seits macht  uns  der  gemeinsame  Horizont  verständlich,  dass 
ein  einziger  Sprachlaut  je  nach  der  Situation  Verschiedenes 
bezeichnen  konnte.  Die  Sprache  war  und  ist  ihrem  Wesen 
nach  deiktisrh ,  hinweisend.  Der  ausgestreckte  Zeigefinger 
deutete  und  bedeutete  je  nach  der  Situation  tausenderlei 
IHnge. 

Die  Wichtigkeit  der  Situation,  das  heisst  des  äugen* 
hlicklich  im  Gehirn  des  Sprechenden  oder  Hörenden  vor- 
handenen Weltbildes ,  wird  uns  aus  unserer  Kritik  des 
Apperzeptionsbegritls  deutlich  werden.  Tch  werde  da  mit 
dem  Vorbehalte,  dass  nwm  von  Apperzejition  lieber  ^ar 
nicht  mehr  sprechen  suUte,  zu  lehren  suchen,  dass  man 
die  Apperzeption  höchstens  definieren  könne  als:  die  Au- 
wendun«?  des  ])ersönlichen  Wortschatzes  auf  ein  sich  der 
Wahni.  liniutii;  nnfdränt^'eudes  Ding.  Jetzt  wollen  wir  ein- 
mal sehen,  welche  liedeutnng  die  Situation,  um  dieses  Wort 
beizubehalten .  in  unserer  hoch  entwickelten  Sprache  habe. 
Wir  werden  schon  hier  erkennen,  dass  auch  die  verwickelt- 
sten  logischen  Gedankeureihen  immer  nur  das  im  Gehirn 
vorhandene  Weltbild  zui-tickrufen,  dass  etwa  noch  die  Auf- 
merksamkeit auf  einen  besonderen  Tunkt  dieses  Weltbildes 
gelenkt  wird  und  da.ss  im  besten  Falle  noch  ein  neues  sich 
aufdrängendes  Dmg  hinzukommt.  Ich  folge  dabei  vielfach 
den  Untersuchungen  Wegeners,  die  meine  Auffassung  von 
der  Apperzeption  und  den»  psychologischen  Subjekt  sehr  er- 
freulich ergänzen. 

Wir  müssen  dabei  vollständig  absehen  von  den  Kate- 
gorien der  Ghrammatik.  Wenn  am  zweiten  September  1870 
ein  Berliner  Schulmädchen  in  ihre  Klasse  stürzte  mit  dem 
Rufe  »Napoleon  gefangen",  so  deckte  sich  zufällig  das 
psychologische  Subjekt  mit  dem  grammatischen.   Das  Be- 


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Siiaation  und  Appeneptioa. 


281 


kannte,  das  Gleichgültige,  dau,  was  man  sich  an  den  Sohlen 
abgelaufen  hatte,  Napoleon,  war  zufällig  das  Subjekt  der 
Neuigkeit.  Im  Kopfe  des  Berliners  yerband  sich  mit  dem 
Worte  Napoleon  die  Vorstellung  des  unfähigen,  ehrgeizigen 
oder  verzweifelten  Franzosenkaisers,  die  Kriegserklärung, 
zahlreiche  Schlachten,  Gefahr,  Ilass,  Verachtung,  die  Kai- 
serin Ellgenie  u.  s,  w.  Das  Wichtige,  die  Neuigkeit,  das 
neue  Moment  wat  ,er  ist  gefangen''.  Das  war  zufällig  auch 
das  grammatische  Prädikat. 

Es  kann  sprachlich  ganz  anders  kommen.  Wenn  ein 
Kassenbote  einen  Wechsel  präsentiert,  so  ist  sein  stummes 
Vorzeigen  des  Papiers  die  Neuigkeit,  das  Prädikat.  Das 
ganze  SckuIdTeiliittmSf  wie  es  dem  Schuldner  im  QM» 
gegenwärtig  ist,  ist  das  psychologische  Subjekt  Wäre  ea 
ein  Sehnldschein  gewesen  und  hfttte  der  Gläubiger  britflich 
gemahnt,  so  lAtte  das  Ganze  die  Form  eines  komplizierten 
Satzes  angenommen.  Es  wire  ans  Höflichkeit  das  pejcho- 
logische  Subjekt  ausiUhrlich  dargelegt  worden.  «Sie  haben 
zu  der  und  jener  Zeit  aus  diesem  oder  jenem  Grunde  Gktld 
gebraucht;  ich  habe  es  Ihnen  geliehen.  Sie  haben  an  dem 
und  dem  Tage  einen  Schuldschein  unterschrieben  und  sich 
zur  Backzahlung  am  heutigen  Tage  Terpflichtet:  zahlen  Sie.* 
Das  peychoiogische  Prädikat  liegt  in  dem  allein  wichtigen 
und  gewissermassen  neuen  Moment  «zahlen  Sie*.  Ware  das 
PriMikat  allein  ausgesprochen  worden,  der  Schuldner  hätte 
sich  das  psychologische  Subjekt  schon  hinzugedacht. 

Wegener  (Üntereuchungen  über  die  Grundfragen  des 
Sprachlebens  S.  21  f.)  unterscheidet  sehr  gut  zwischen  Ter- 
sdiledenen  Voraussetsmigett  der  Situation.  Immer  ist  es 
die  Situation,  welche  das  psychologische  Prildikat  erst  er- 
klart. Es  gibt  eine  Situation  der  Anschauung,  wie  wenn 
z.  B.  in  einer  Gesellschaft  Herr  Müller  —  das  neue  Ding  — 
vorgestellt  werden  soll  und  der  Vorstellende  ü  it  *  iner  ein- 
fachen Handbewegung  sagt:  ,Herr  Müller."  Ein  Pedant 
nur  würde  das  psychologische  Subjekt  mit  aussprechen  und 
sagen:  «Wir  sind  hier  im  Hause  des  Herrn  Schuiaie  lauter 
alte  Bekannte  beisammen  bis  auf  diesen  einen  Herrn,  dessen 


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232 


VIII.  Situation  und  äpradie. 


Namen  ick  duram  «udiOcUicli  nennen  wilL  Dieser  Herr 
helssfc  Möller.*  Eine  solcbe  Form  der  Yorsfcellung  wäre 
aber  nicht  nur  pedeatlaGli,  sondern  neck  dem  Sprachgebraiioh 
sogar  unbOfUch.  Eine  Handbewegung  tritt  fltr  das  psycbo« 
logische  Subjekt  ein.  ünd  so  wirksam  ist  die  Anscbnuung, 
daes  kein  Anwesender  auf  den  Gedanken  kommt,  der  Vor- 
stellende meine  mit  Herr  Mtüler  seine  dabei  Torgezeigte 
Hand.  Es  gibt  weiter  eine  Situation  der  Erinnerung.  Wenn 
wir  SU  zweien  äsa  Konzertsaal  Terlassen  und  ick  »korrlick* 
sage,  so  meint  mein  Befreiter  nickt,  ick  kätte  das  Wetter 
oder  die  Beleucktung  oder  sonst  etwas  gemeint.  Er  beziekt 
das  Mdikat  mit  Sidierkett  auf  das  eben  gekörte  Musik* 
Stack.  Ick  braucke  nickt  erst  auseinanderzusetzen,  dass 
diese  einfachen  Fülle  auck  auf  wissensckafilicke  Unter« 
kaltungen  Anwendung  finden.  Es  gibt  femer  eine  Situation 
des  Interesses,  welche  Wegener  nickt  ganz  glficldick  die 
Situation  des  Bewusstseins  nennt  Jedes  Individuum,  jede 
kleine  und  grosse  Mensckengruppe,  jedes  Volk  kat  ein  be- 
stimmtes Weltbild,  das  sick  von  dem  Weltbild  anderer  In- 
dividuen, anderer  Gruppen,  anderer  Völker  untersckeidet. 
Diese  Weltbilder  sind  Situationen  des  Interesses  und  er- 
klären entweder  ausdrücklich  oder  stills<diweigend  das  psycho- 
logische Prädikat.  Man  denke  einmal  daran,  welchen  Sinn 
das  Wort  .Hundertmarkschein"  im  Munde  eines  Arbeiters 
und  eines  Bankiers,  eines  Studenten  und  eines  Finanzministers, 
eines  Zeichners  und  eines  Falschmünzers,  eines  Deutschen 
und  eines  Franzosen  habe.  Wird  z.  B.  mit  dem  Worte 
Hundertmarkschein  der  Preis  eines  bestimmten  Quantums 
Korn  bezeichnet,  so  kann  unter  Umständen  das  Korn  oder 
das  Geld  das  psychologische  Prädikat  sein,  und  das  ps3'cho- 
logische  Subjekt  wird  unter  Umständen  sich  nur  in  einem 
dicken  Bande  vollständig  ausdrücken  lassen. 

Wegener  nennt  das  j)sycliologische  Subjekt  gern  die 
Exposition.  Was  er  darunter  vorstrbt,  wird  am  deutlichsten 
durch  Anwendung  dieses  Begrilis  auf  eiue  fortlaufende  Er- 
zählung, einerlei  ob  die  Reihe  von  Sätzen  zu  einem  Roman 
oder  zu  einer  historischen  Darstellung  verknüpft  wird.  Wie 


288 


in  einem  Theaterstück  die  Exposition  uns  mit  den  handeln- 
den Personen  bfkannt  nuicht,  die  wir  nachher  in  ein  inter- 
essantes Erlebnis  verstrickt  sehen,  ?o  ist  in  jedem  einzelnen 
Satze  einer  Erzählung  etwas  P.t'kanntp'-  nnd  etwas  Neues. 
Das  Neue  wird  durch  den  Vorgang  der  sogenannten  Apper- 
zeption mit  dem  Bekannten  verbunden.    Das  Bekannte,  das 
wir  das  p'^yrholoü'ischf^  Subjekt  genannt  haben,   ist  vom 
Standpunkte  des  Inhalts  die  Exposition  zum  Prädikat.  So 
sieht  es  im  Kopfe  des  Sprechenden  au«.    Und  auch  im 
Kopfe  des  Hörenden  wird  jede  hervorgerufene  Vorsteiiungs- 
gruppe,  insofern  sie  Bekanntes  ins  Gedächtnis  zurückruft, 
zu  einer  Exposition  für  das  Neue,  für  das  psychologische 
Prädikat.    Im  nächsten  Satze  ist  dann  das  eben  erst  neu 
Hinzugelernte  wieder  psychologisches  Subjekt  ftlr  ein  neues 
Prädikat  geworden,  so  wie  die  aufregende  Peripetie  des 
vierten  Aktes  zu  einer  E.x(>osition  des  fünften  Aktes  werden 
kann.    Wir  sind  an  diese  Thätigkeit  unseres  Gehirns  zu 
sehr  gewöhnt,  um  uns  über  ihi  e  Erscheinung  in  der  Sprache 
noch  zu  verwundem.    Wir  wissen,  dass  die  Sprache  in 
abstracto,  das  heisst  der  besondere  Sprachschatz  eines  Volkes 
oder  eines  Individuums  das  Qedftchtiiis  dieses  Volkes  odei 
dieses  iBdiTiduums  ist.  Die  «mselne  Aemserang  in  concreto 
isl  dann  die  Anwendong  des  GedSchtnisies,  wo  möglich  die 
Bereicherung  des  Gediditnisses  um  eine  Neuigkeit,  um  ein 
FHidikiL  Was  dftbei  akÜT  ist,  das  ist  der  uns  wolilbekannle 
tmd  doeh  so  unerUKrUcfae  Zustand,  den  wir  als  Aufmerk- 
samkeit kennen  gelernt  haben.   Ein  Interene  steckt  da- 
hinter.  In  der  Erzählung ,  sei  de  nun  Oeschichte  oder 
Roman,  wird  das  Interesse  auf  eine  bestimmte  Thatsaohe 
gelenkt   Z«  B.  in  einer  Lebensbeeehreibung  Ton  OoeÜie 
halten  wir  gerade  bei  dem  Leipziger  Studenten.   Zu  der 
Exposition  im  Eltemhause  ist  das  Leben  und  Treiben  in 
Leipzig  ab  psyehologiscfaes  PMikat  hinzugekommen.  Wenn 
ein  neues  Kapitel  nun  mit  den  Worten  beginnt:  «Er  dich- 
tete damals  die  Lieder*  u.  s.  w.,  so  ist  .er*  das  gram- 
matische Subjekt  des  Satzes,  aber  viel  bedeutongsTdler  ist 
es  als  psychobgisches  Subjekt.   Was  im  Torhergehenden 


._^  kj  i^  -o  i.y  Google 


234 


Vni.  Situation  und  Sprache. 


Kapitel  das  Neue,  das  Prädikat  war,  das  wird  nun  als  })e- 
kannt  Torausgesetzt,  ist  zum  psychologischen  Subjekte  ge« 
worden  und  ist  in  seiner  ganzen  breiten  Masse  notwendig, 
um  das  nun  folgende  Neue  richtig  apperzipieren  zu  können. 
Wenn  dann  fGtailzig  Seiten  spSter  Goethes  Leben  und  Treiben 
in  Strassburg  dargestellt  worden  ist,  so  wird  dieses  Neue 
wieder  sur  beksunten  Yoraussetsung  fttr  ein  folgendes  Ka- 
pitel, das  beginnt:  ,Er  schrieb  den  GOts."  Das  psycho- 
logische Subjekt  wftchst  so  von  Seite  zu  Seite  au  iahalt 
,Er*  ist  jetzt  der  Strassburger  Student  geworden  mit  Beinen 
Beziehungen  zu  Herder,  mit  seiner  Bewunderung  fCtit  den 
Dom,  mit  seiner  Liebe  zu  Friederike.  Hinter  dieser  Fülle 
Ton  Lihalt  steckt  natOrlich  —  Ton  der  Aufmerksamkeit 
weniger  beleuchtet  —  der  Leipziger  Student,  der  Knabe 
Wolfgang  u.  s.  w.  Die  Sachlage  in  unserem  Gehirn  ist, 
wenn  man  die  Enge  des  Bewusstseins  dabei  in  Betracht 
meht,  eine  sehr  merkwttrdige.  Im  Bewusstsein,  im  Blick- 
punkt der  Aufmerksamkeit  steht  immer  nur  das  augenblick- 
lich Interessante,  das  neue  Pkr&dikat.  Das  letzte  Prftdikat, 
das  eben  erst  zum  psychobgischen  Subjekte  geworden  ist, 
ist  aber  noch  unmittelbar  zur  Kmd,  der  Yerkehr  mit  Herder 
z.  B.;  es  hat  die  Stimmung  erzeugt,  in  welcher  wir  die 
Neuigkeit,  dass  er  den  Götz  sclireibe,  anders  aufiiehmen  als 
sonst  Etwas  weiter  bei  der  Hand,  aber  immer  noch  alle 
Zeit  zur  Verfügung  sind  die  weiter  zurückliegenden  psycho- 
logischen Subjek^radikate:  der  Leipziger  Student,  Goethe 
im  Vaterhause  u.  s.  w.  Was  wir  sonst  im  Gedächtnisse 
haben,  z.  B.  die  Geschichte  des  dreissigjiiliric^tii  Krie<^os 
oder  die  Erfindung  der  Photographie,  ist  nicht  bei  der  Ihmd, 
ist  weder  paycliologisches  Subjekt  ikx  Ii  psychologisches  Prä- 
dikat. Der  gleiche  Vorgang  i.st  bei  der  Lektüre  jedes  elenden 
Romans  zu  beobachten.  Die  beiden  ersten  Bände  sind  das 
psychologische  Subjekt,  wenn  der  dritte  Band  mit  den 
Worten  beginnt:  ,Adülar  erwachte. *"  Immer  ist  es  das  be- 
reits Bekannte,  was  wir  die  Situation  nennen  können. 
Seelen-  leh  möchte  den  Ausdruck  Situation  in  einem  weitereu 

itmumn.  g^^j^g  gebrauchen  als  es  bei  Wegeuer  geschieht,  weil 


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Seelenaitoation. 


235 


, Situation"  einen  Mangel  der  Ausdrücke:  psycholo^yisches 
Subjekt  und  Prädikat  nicht  besitzt.  Diese  Bezeiclmim^^en 
haben  sich  nämlich  wohl  von  der  Grauiiuutik  emanzipiert, 
sie  setzL-ü  aber  im  Sprachverkehr  zwischen  zwei  Menschen 
(z.  B.  zwischen  dem  Autor  und  dem  Leser)  eine  Einheit  des 
Bewusstseins  voriius,  die  nicht  vorhanden  ist.  Schon  das,  was 
wir  eben  bei  der  Erzählung  bemerkt  haben,  dass  nämlich 
unaufhörlich  das  psychologische  Prttdikat  des  Toiausgehen- 
dm  Salles  mm  payehologischeii  Subjekte  des  folgenden 
Satzes  wird,  ist  für  den  Spredienden  und  für  den  Brenden 
nicht  gleich.  Nicht  einmal  fttr  alle  Hdrer  oder  Leser  stimmt 
es  genau,  weil  jeder  einzelne  HSrer  oder  Leser  eine  bessere 
oder  schleehtere  Vorbereitung  mitbringt;  was  fttr  den  einen 
bekannt  und  Subjekt  ist,  ist  fttr  den  andern  neu.  Der 
Spredier  gar  oder  Autor  stellt  sidi  ja  nur  so,  als  ob  er 
ordentiich  vom  Bekannten  zum  Unbekannten  weiter  ginge; 
er  Tersetst  sich  in  die  Seele  des  HOrers  oder  Lesen,  um 
fttr  ihn  das  fortdauernde  Spiel  der  Verwandlung  des  Prä- 
dikats in  ein  Subjekt  zu  Tollziehen.  Für  ihn  ist  das  achtzig- 
jährige Leben  Goethes  die  Exposition  oder  das  psychologi- 
sche Subjekt  fttr  den  Tod  des  Faust  oder  den  Tod  Goethes 
oder  für  die  Wirkung  Goethes  auf  die  Folgezeit.  So  kdnnen 
wir  mit  dem  Begrifib  des  psychologischen  Subjekts  und 
Prädikats  fttr  die  letzten  Feinheiten  des  Denkens  nicht  viel 
anfangen  und  halten  uns  besser  an  die  Situation  der  Seele, 
welche  zwar  unklar  aber  dafttr  ohne  falschen  Nebenbegriff 
so  gut  auf  den  Ausruf  ,es  regnet*  als  auf  die  Abfassung 
oder  Aufnahme  eines  historischen  Werkes  Anwendung  fin- 
den kann. 

Diese  Situation  der  Seele  umfasst  das,  was  man  etwas  Welt- 
grossartig  die  Weltanschauung  des  Einzelnen  nennen  mag,  ^^'^^ 
wohlgemerkt  die  Weltanschauung  wie  sie  im  Momente 
gerade  beim  Sprecher  oder  Hörer  Torhanden  ist.  Wir 
haben  unsere  Weltanschauung  nicht  immer  beisammen.  In 
dieser  Weltanschauung  steckt  viel  mehr  als  das  blosse 
Wissen,  obgleich  auch  die  Summe  der  Erkenntnis  mit  un- 
zähhgen  Fäden  an  die  Zufälligkeit  unzähliger  Augenblicke 


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236 


VlIL  Situation  und  Sprache. 


g^knQpft  isL  Di«  W«ItuMH!]uMiung  ist  weiter  von  dem 
Habitus  des  eimBelnen  Menseheii  bestimmt,  ron  seiner  physio- 
logischen Komplexioii,  deren  Yielgestaltii^eit  man  vergeb- 
lich systemstisch  in  die  Temperamente  eingeteilt  hat.  Die 
Weltanschauung  des  Einxehien  ist  weiter  beeinflusst  Ton 
den  herrschenden  Ideen  emer  Zeit,  also  Ton  ihren  Vor- 
urteilen. Eine  rote  Nelke  im  Knopfloch  eines  Yolksredners 
spricht  heute  ihre  Sprache;  sie  wird  Teratihidlich  durch  die 
Situation,  durch  die  Idee  oder  das  Vorurteil  der  gegen- 
wärtig herrschenden  WeUansebaunug.  Die  rote  Nelke  war 
Yor  hundert  Jahren  stumm.  Wenn  ein  Stamm  Ton  Henschen- 
fressem  sich  su  einem  Festmahl  niedersetst,  um  einen  er- 
schlagenen Feind  su  Terzehren,  so  sind  die  dabei  ausge- 
führten frommen  GesSnge  nur  für  den  verständlich,  der  die 
SStuaÜon  kennte  die  Weltanschauung  hat,  welche  die  Seele 
des  Fressenden  um  die  mutige  Seele  des  Erschlagenen  zu 
bereichern  meint.  So  hat  jedes  Volk  und  jede  Zeit  ihre  be- 
sondere Knltursituation ;  es  ist  der  Hauptgrund  weshalb  die 
Dichtungen  ferner  Völker  und  ferner  Zeiten  uns  unverständ- 
lich geworden  sind.  £s  sind  oft  Pointen,  zu  denen  wir  die 
Anekdoten  nicht  kennen. 

Der  grdsste  Teil  alles  Sprechens  besteht  bei  Sprechen- 
den und  Hörenden  in  einem  Ueberblick  oder  in  einem  Rück- 
blick auf  die  Situation.  Je  gegenwärtiger  oder  je  gemein- 
schaftlicher die  Situation  ist,  desto  weniger  Worte  sind 
notwendig.  In  der  Erzählung  kann  ein  ,er"  oder  der  Name 
des  Helden  ganze  Bände  ersetzen.  Die  Bohne  gestattet 
eine  knappere  Sprache,  weil  sie  die  Situation  der  An- 
schauung bietet.  Der  Roman  muss  ausfuhrlicher  sein  als 
ein  Geschichtswerk,  weil  der  Leser  vorher  absolut  nichts 
an  Situation  in  sich  vorfindet. 

Ein  raijches  und  keckes  Wahrnehmen  ist  nur  möglich, 
wo  die  Seelensituatiou  zwisrlien  den  Menschen  naho/u  ge- 
meinsam ist.  Einen  Leitartikel,  der  Avohlbekannte  i^iirasen 
zusammenstellt,  einen  gewöhnlichen  Koinau,  der  wofilbe- 
kannte  Menschenschicksale  erzählt,  überfiiegen  wir  mit  den 
Blicken:  bringt  uns  ein  Buch  Neues,  so  müssen  wir  jede 


287 


Silbe,  unter  Umständen  jeden  Buchstaben  beachten.  So  auch 
im  Gespräch.  In  ält<>rpr  Zeit  oder  bei  minder  kultivierten 
Volkerschafben  war  und  ist  die  gemeinsame  Seelensituation 
so  weit  vorhanden,  dass  nnrb  der  Sprechende  seine  Sätze 
gewissermassen  nur  übertiiegt.  Man  achte  einmal  darauf, 
wie  aurh  bei  uns  innerhalb  einer  behaglichen,  das  heisst 
auf  genitinsamen  Empfindungen  ruhenden  Familie  das  Ge- 
spräch lt  i(  lit  und  nuihrlos  geführt  wird.  Die  Hauptsilben 
\v.  t  ilen  kaum  .starker  betont  als  im  (>t  s[)räch  zwischen 
Freiiiden  Nebensilben,  und  Nebensilben  werden  ganz  fallen 
gela«isen.  Ein  so  intimes  Familiengespräch  ist  im  höchsten 
Grade  , elliptisch'.  Die  neuesten  Dramatiker  machen  von 
dieser  Beobachtung  reichlichen  Gebrauch.  Je  ungleicher  die 
Seelensituation  zwischen  den  Menschen  ist,  desto  pedanti- 
scher müssen  alle  Forde  rangen  der  Grammatik  erfüllt  werden, 
desto  wuchtiger  wird  schliesslich  die  Betonung  der  Haupt- 
silben. Niciit  uui  iii  i'ariamenten ,  vor  Gericht,  wo  unzu- 
sammengehörige Menschen  sich  besprechen  müssen,  kommt 
es  zu  der  toten  Schriftsprache;  sondern  schon  der  soge- 
nannte Verkehr  der  einander  nicht  Teratehenden  modernen 
Oesellschafl;  macht  den  Oebraneh  der  Schriftsprache  not- 
wend^.  Auch  dieser  Umstand  wirkt  dahin,  daas  die  neuem 
SchriHispraeheii  langsamer  ia  ihren  Lauten  Terfallen  als  es 
frQh«r  in  der  natfirlichen  Sprechweise  der  Fall  war. 

Die  Schwierigkeit,  die  Sitnation  für  den  Sprechenden 
und  den  Haralden  gemeinschaftlidi  lu  machen,  nächst 
mit  der  seitlichen  oder  rftnmÜchen  Entfernung  des  Oegen- 
standes,  sie  w&chst  ferner  mit  d«r  Komplisiertheit  des  Gegen- 
standes. Es  kann  die  Erklftrung  anstatt  eines  einsigen 
Wortes  ein  ganies  Buch  erfordern.  Wendet  sich  aber  der 
Sprecher  gar  wie  ein  Autor  an  eine  unbestimmte  Menge  von 
Hdrenden,  so  bleibt  ihm  nichts  flbrig,  als  die  Situation  toU- 
stindig  mitxnteflen,  seine  Weltanschauung  ToHatibidig  auf 
die  Volksmasse  au  Sbotragen.  Der  Autor  (Dmker  oder 
Dichter)  kann  ein  Genie  sein  und  braucht  doch  die  Niig- 
keit  zu  dieser  Iföteflung  nicht  zu  besitzen.  Es  ist  du  Ober- 
aus seltener  Fall,  wenn  dn  genialer  Dichter  zu^eich  die 


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288 


VIII.  Süuation  und  Sprache. 


Weltanschauung  seiner  Zeitgenossen  spielend  beherrsclit, 
seine  eigene  um  eine  Fülle  neuer  Frudikate  vermehrt  hat 
und  ^ein  Volk  mit  diesen  neuen  PriUlikateu  zu  beschenken 
vermag. 

Wir  werden  gleich  erfuhren,  welche  Bedeutung  die 
Gemeinsamkeit  der  Situation  lür  die  Sprache  habe.  Zu- 
nächst sei  nur  an  einem  Beispiele  gezeigt,  wie  der  Spruuh- 
gebrauch  vorgebt,  um  zwischen  Sprecher  und  Hörer  die 
Ungleichheit  der  gegenwärtigen  Vorstellungsmasse  zu  über- 
winden, also  für  den  Augenblick  eine  Gemeinsamkeit  der 
Situation  herzustellen.  Wegener  (S.  32  und  folgende)  hat 
das  fDr  die  Apposition  oder  den  Relativsatz  ttbensengend 
dargelegt.  Ich  möchte  seinen  Gedanken  dahin  erwätern, 
dass  die  weitaus  grössie  Menge  alles  Sprechens  auf  diese 
Thätigkeit  hinausläuft;  ja  man  kann  sagen:  die  Langweilig- 
keit der  meisten  Bttcher  und  Henschen  kommt  daher,  dass 
der  weitaus  grössere  Teil  der  Rede  auf  Herstellung  einer 
gemeinsamen  Situation,  auf  ROckerinnerung  oder  Mitteilung 
der  Exposition  verwandt  wird  und  die  Neuigkeit,  das  Intern 
essante  nur  mit  einem  Worte  oder  einem  kurzen  Satze 
hinzugefl^  wird.  Die  Sache  scheint  mir  am  besten  illu- 
striert zu  werden  durch  den  Bekanntlich-Stil  vieler  histori* 
scher  Werke;  der  Verfasser  gibt  die  Exposition  in  breiter 
Vollständigkeit  und  verrat  seine  imponierende  Gelehrsam- 
keit nicht  ohne  Koketterie  dadurch,  dass  er  die  ihm  wohl- 
bekannten Thatsachen,  und  wenn  sie  noch  so  entlegen  wären, 
durch  ein  »bekanntlich"  oder  eine  ähnliche  Wendung  als 
eine  ihm  und  dem  Leser  gemeinsame  Situation  der  Seele  hin- 
stellt. Da  sind  nun  zwei  Fälle  möglich;  entweder  der  Leser 
besitzt  die  Kenntnisse  wirklich,  dann  wird  ihm  der  Situations- 
plan langweilig  durch  seine  UeberflQssigkeit,  oder  dem  Leser 
ist  das  alles  neu,  alle  die  angedeuteten  psydiologischen  Sub- 
jekte sind  ihm  Prädikate,  er  kann  all  das  Neue  nicht  zu- 
gleich fassen  und  die  Exposition  wird  ihm  langweilig  durch 
ihre  Schwieiigkeit.  In  Wahrheit  kann  dem  lebhaften  Men- 
schen nichts  so  langweilig  werden  wie  die  Sprache,  wenn 
nämlich  ein  anderer  Expositionen  spricht. 


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GemeiBime  Siiuaiuni. 


239 


Um  nun  aber  die  Sprathfonii  verständlich  zu  raachcD, 
1)1  wekher  die  Gemeinsamkeit  der  Seelensituation  hei>,'est€llt 
wird,  denke  mau  au  das  vorige  Beis|)iel:  -Adcdar  erwachte*, 
womit  der  dritte  Band  eines  Romans  beginnen  sollte.  Hat 
der  Verfasser  kein  rechtes  Vertrauen  in  die  Kraft  seiner 
Darstellung  oder  in  das  Gedächtnis  des  Lesers,  so  wird  er 
wohl  die  Gemeinsamkeit  der  Seelensituation  unterstützen, 
etwa  so:  ,Adolar  erwachte  —  der  genei^j+e  Leser  erinnert 
sich,  dass  Adolar  in  dem  Augeublitkc ,  als  er  die  Strick- 
leiter zum  Turme  seiner  Geliebten  emporklettern  wollte, 
von  seinem  elenden  Nebenbuhler  durch  ein  Schlafmittel  be- 
töttbt  wurde  —  u.  s.  w."  Solche  Hinweisungen  auf  Be- 
kanntes und  vielleielit  Vergessenes,  die  unter  Umständen  im 
BekannÜicli-Stil  auch  Mitteiliingen  von  notwendig«!  Sqiosi- 
tionselementen  sein  kdnnen,  finden  deli  in  jedem  schleckien 
Roman,  finden  sich  aber  auch  in  jeder  historiscken  Dar- 
fliellung.  Wegener  hat  sehr  fein  erkannt,  dass  in  dem  Satse 
«Themistokles,  ein  Grieche  ans  Athen,  ein  Zeitgenosse  des 
Aiistides,  schlug  bei  Salamis  die  Perser*  die  Exposition 
(«ein  Grieche  ans  Athen,  ein  Zeitgenosse  des  Aristides') 
gegen  alle  Logik  dem  Prildikate  folge.  Ich  mache  in  Paren- 
these darauf  aufmerksam,  dass  ThemistoUes  eigentlich  nur 
Tor  der  Aussprache  des  Wortes  das  psychologische  Pkftdikat 
ist,  dass  det  Triger  dieses  Namens  nach  den  erklftrenden 
Hitteilungen  zum  psychologischen  Subjekte  wird  und  dass 
am  Ende  das  psychologische  Prädikat  je  nach  der  Absicht 
des  Sprechers  und  nach  der  Sachkenntnis  des  HOrers  in 
•schlug*  (dem  grammatischen  PMidikate)  oder  auch  in 
«Perser*  oder  in  der  Grtibexeichnnng  stecken  konnte.  Die 
expositionalen  Elemente,  dass  Themistokles  der  und  der 
war  und  zu  der  und  der  Zeit  lebte,  drückt  mm  die  Sprache 
durch  ^ne  Apposition  od«r  durch  einen  Relativsatz  aus. 
Wegener  erklärt  das  am  einer  Art  von  Korrektur.  Der 
Redende  erfahre  durch  die  Zwischenrufe  oder  durch  die 
Mienen  des  Zuhörenden,  wie  gross  oder  klein  die  Sach- 
kenntnis des  Hörers  sei,  wie  weit  die  Situation  bei  ihnen 
beiden  gemeinsam  sei,  und  lUge  nun  —  gewissermassen  auf 


240 


VIII.  Situation  und  Sprache. 


eine  Frage  des  andern  —  mehr  oder  weniger  aasfUhiiiclie 
Daten  über  den  pp  Thenustokles  liiiisu.  Didae  Hinzu- 
ftlgungen,  die  in  unserem  Satie  ma  acht  Worten  beatebeB, 
kdnnen  aus  ^rOnden  der  Belehrung  zu  einem  Buche  an- 
wachsen. POr  den  Satahau,  auf  den  es  ihm  dabei  mehr 
ankommt  ab  mir,  kommt  Wegener  su  dem  Schlüsse:  .Es 
ist  daher  psychologisch  nur  natürlich,  dass  der  naive  Mensch 
die  Ezpoettionselemente  erst  nach  dem  PHUUkate  ausspricht 
Die  einmal  geschafibne  und  festgewordene  Sprachform  be- 
Uttt  auch  der  kOnstlerisch  gestaltende  Dichter  und  Schrift- 
steUer  bei.  Apposition  und  Relativsats  sind  also  nachträg- 
liche Korrekturen  unserer  mangelhaflen  Darstellung.* 

Man  kann  die  Apposition  ebenso  wie  die  noch  form- 
loeere  Parenthese  als  Eindringlinge  in  den  syntakttschan 
Bau  anffossen.  Allemal  wird  doch  nur,  indem  der  BrEähkir 
aus  der  Rolle  fSUlt,  entweder  an  etwas  Bekanntee  erinnert 
oder  etwas  Neues  ans  Höflichkeit  «bekanntlich*  genannt 
In  der  Apposition  oder  der  Parenthese  kOnnen  aber  alle 
möglichen  Arten  der  Gedankenrerbindung  Terborgen  sein: 
die  Zeit-  oder  Ortsbestimmung,  die  Bedingung,  die  Folge, 
der  Gegensatz,  kurz  alle  Bedeutungsformen  der  Verbindungen 
von  Haupt-  und  Neben  sätam.  Die  einzelnen  Sprachen  haben 
sich,  wie  bei  der  Apposition,  an  ein^  bestimmte  Anordnung, 
an  eine  bestimmte  Syntax  gewöhnt.  Wir  sind  auf  die  Syntax 
unserer  Muttersprache  so  sehr  eingeübt,  dass  wir  uns  ein- 
bilden, dieser  Ordnung  der  Sätze  das  Verständnis  zu  tmt- 
danken.  Im  Grunde  aber  ist  die  Syntax  nur  eine  bequeme 
Gewohnheit;  es  ist  für  die  Regelmäasigkeit  der  Syntax  so 
wenig  ein  lo^scher  Grund  vorhanden  wie  dafUr,  dass  wir 
unsere  Schrift  von  links  nach  rechts  lesen,  während  andere 
Völker  von  rechts  nach  links  oder  von  oben  nach  unten 
schreiben  und  lesen.  Auch  ein  Gemälde  übersehen  wir 
sehr  schnell,  ohne  dass  wir  einen  Führer  für  den  Weg 
unseres  Auges  besiissen;  der  fijute  Maler  hat  dafür  ge- 
sorgt, dass  die  Hauptgestalt  (sein  psychologisches  Prädikat) 
zuerst  durch  Licht  oder  Farbe  unsere  Aufmerksamkeit  an- 
ziehe; Uber  die  Situation  oder  Exposition  des  Bildes  orien- 


L'avereiAbarkeib  der  äeelea»ituationen. 


241 


tifiren  wir  uns  nach  unserem  Oatdfinken.  Nun  ist  aUer- 
clings  die  Bede  —  »bekanntlich*  —  eine  in  der  Zeit  flflelitige 
Bneheiniuig  und  hat  eine  Art  tob  konventioneUer  Behend* 
hing  n0tig.  Bock  die  konTentionellen  Fonnen  der  Syntu 
sind  nar  Ueine  Hilfen  des  GedKchtnisses;  alle  Regeln  der 
Wortfolge,  aUe  Koiganktionen  der  Zett«  der  Bedingung,  der 
Kausalität  n.  s.  w.  heschleunigen  nur  die  Orientiemng;  su- 
letst  muss  der  Zuhörer  die  entscheidenden  Worte  zu  dem 
Stnalionsbilde  ans  seiner  Erfahrung  susanunenf&gen.  Was 
nicht  Torher  in  seinem  Oedachtaisse  war,  kann  durch  keine 
Woftlbige  und  durch  keine  Koigunktion  erMugt  werden. 
Hat  er  nicht  den  Begriff  der  Eausalitit  erfosst,  so  nfitssfc 
ihm  keine  kausale  Konjunktion.  Die  Sitoation  im  Kopfe 
des  Redenden  wie  des  Zuhörers  besteht  aus  Srhmerungs* 
bildern,  die  sich  ohne  Koiyunktionen  associieren. 

So  .sind  wir  wieder  einmal  zu  dem  Grundgedanken  unv«rein- 
dieser  Kritik  aurttdigellüirt,  wieder  auf  einem  neuen  W^e.  ^»viwit 
Wir  haben  gesehen,  wie  aUes  Reden  im  Gespi^che  und  alle  seeieu 
Sprechkunst  des  SchriflsteUers  darauf  ausgeht,  eine  Gemein- 
samkeit  der  Seelensituation  swischen  den  Unterrednem, 
zwischen  Autor  und  Leser  herzustellen.  Diese  Gemeinsam- 
keit  lässt  sich  immer  nur  für  den  augenblicklicheu  Zweck, 
für  die  verständliche  Mitteilung  des  augenblicklich  sich  auf- 
drängenden Prädikats  erreichen.    Eine  wirkliche  Gemein- 
samkeit des  Weltbildes  zwischen  zwei  Menschen  ist  niemals 
vorhanden.    Niemals  können  zwei  Menschen  einander  voU- 
konmien   verstehen.     Denn   alle   s\ ntaktt°rhpn   Mittel  der 
Sprache  betreffen  nur  die  allgemeinsten  l'e/.ifUuugen.  Es 
hiesse  in  «5chwindelerreg'ende  Abgründe  hmemhehen,  wollten 
wir  auch  nur  fragen,  ob  die  Menschen  sich  bei  den  Kate- 
gorien der  Zeit  oder  der  Ursache  das  gleiche  vorstoUen; 
doch  wenn  die;5e  Frage  nnrh  bejaht  würde,  su  würde  durch 
die  Gieichlieit  der  syntukii-schen  Empfindungen  doch  noch 
lange  nicht  eine  Gemeinsamkeit  der  Situation  ermöglicht 
Die  Santax  liietet  doch  nur  etwas  wie  ein  Netzwerk  auf 
dem  Zeichenpapier;  iia.s  Bild  muss  jeder  einzelne  von  seiner 
pertönlichen  Erfahrung  hineinzeichuen  lassen.    Und  wir 
Xaatboer,  B«itr&ce  n  einmr  KriUk  dtv  Sf^TMlM.  IS.  16 


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242 


VIII.  Situation  und  Sprache. 


inssen,  dass  der  Wortschsti,  in  welcfaem  noh  die  indivi- 
diieUe  Effahrung  ein  Lager  au^liftuft  bat,  niemals  bei 
zwei  Menschen  auf  die  gleichen  SinneseindrUcke  surflckgeht 
In  dem  emmal  gegebenen  Beispiele  vom  Löwen  geht  die 
Verschiedenheit  der  Seelensituatacn  viel  weittt*  als  oben  an- 
gedeutet werden  konnte.  Der  Sats  »Der  LSwe  ist  edel* 
wird  erst  Air  die  Seelensituation  des  SchOlers  Terstandlich, 
dessen  Phantasie  durch  Tierfabeln  und  fabulierende  Tier^ 
gesehichten  angeregt  worden  ist  Nehmen  wir  nnn  an,  ein 
Knabe  sei  gerade  durch  solche  Fabeln  in  eine  Lebensrichtung 
gedrftngt  worden,  die  ihn  spiter  auf  die  Abenteuer  der 
Ldwenj&gerei  führte.  Angenommen,  der  im  Dienste  eines 
Menageriebesitzers  arbeitende  LdwenjSger  habe  sich  jugend- 
liclic  Phantasie  bewahrt  und  lasse  sich  jedesmal  Ton  der 
edlen  Erscheinung  eines  Löwen  ästhetisch  bew^n.  Auch 
dann  noch  würde  er  laut  lachen  mflssen,  wenn  ihm  auf  der 
Löwenjagd  dem  prachtvollen  Tiere  gegenüber  plötslich  der 
Satz  nder  Löwe  ist  edel"  in  dem  Sinne  einfiele,  wie  er  ihn 
als  Schüler  gehört  hat.  Ich  hatte  unter  den  Beispiden 
für  die  verschiedene  Bedeutung  des  Wortes  Löwe  auch  einen 
Mann  Namens  Löwe  aufgeführt.  Es  könnte  scheinen,  als 
wäre  das  ein  ungehöriges  Beispiel.  Aber  vielleicht  ist  ein 
Vorfahr  dieses  Mannes  um  irgend  einer  Eigenschaft  willen 
metaphorisch  L"nvr'  genannt  worden,  vielleicht  gab  es  eine 
Zeit,  in  weicher  zwischen  Löwe  als  Männername  und  Löwe 
als  Vorstellung  eines  reissenden  Tieres  mehr  Gemeinsamkeit 
w^ar,  als  heute  zwischen  dem  Situationsluld*'  Löwe  im  Koj)io 
des  phantftstischPM  Knaben  und  später  im  Ki>j>tV  desseiben 
zum  Löwenjuger  lif rangewachsenen  Menschenkindes. 
Metapher  lü  auderem  Zusammenhange  i.st  das  Metaphorische  in 
-«"^  der  Entwickelung  der  Sprache  khirer.  Hier  sehen  wir  auf 
einmaL  dass  der  Be<i'  utungswandel  der  Worte,  wi-l«  iier  auf 
metaphorischen  Erobei  uugen  beruht,  im  ZusamiJiLfihange 
steht  mit  der  Situation  der  Seele  dessen,  der  die  Mt-tapher 
zuerst  anwendet.  Aus  dem  Weltbilde  des  einzelnen  ergibt 
sich  die  Möglichkeit,  Aebnlichkeitcn  zu  sehen  und  die  Ver- 
gleicbung  kurz  und  schlagend  durch  eine  Metapher  auszu- 


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Metapher  und  Situation. 


248 


drücken.  Der  Hörer  kann  die  Metapher  des  Redenden  nur 
▼erstehen,  wenn  eine  gleiche  Seelensituation,  ein  gleiches 
Welllnld  ihn  befUiigl;,  die  angeregte  Yergleichung  ebenfalls 
vorsimebmfln.  Es  gibt  aber  keine  zwm  gleiehen  Seelensitaa- 
tionen  und  so  wird  die  Metapher  im  Kopfe  des  einen  sich 
mit  der  im  Kopfe  des  anderen  nie  ToUstindig  decken.  Auck 
die  Metapher  sudit  ein  Neues,  ein  FrSdikat  an  ein  psycho- 
logisches Subjekt  wa  knüpfen;  weder  das  eine  noch  das 
andere  ist  bei  zwei  Menschm  gemeinsam  und  so  kann  die 
neue  Yerbindung  von  Subjekt  und  Pridikat,  die  neue  Me- 
tapher oder  neue  Wortbedeutung,  eist  recht  nicht  gemein- 
sam sein.  Wenn  die  Sprache  als  Verstftndignngsmittel  zwi- 
schen den  Menschen  trotadem  fimktioniert,  so  geht  es  mit 
ihr  wie  mit  manchen  Maschinen  der  neuesten  Elektrotechnik. 
Ein  Skeptiker,  der  an  der  Berechnung  der  Maschine  mit- 
gearbeitet hat,  schttttelt  den  Kopf,  weist  auf  ünsutrigUch- 
kdten  hin  und  sagt:  »Es  stimmt  nidit,  da  verstehe  ich  ein 
notwendiges  Zwisdienglied  nicht;  die  Maschine  kann  gar 
nicht  taugen."  Sie  taugt  aber  doch.  Mit  dieser  Thatsache 
geben  sich  die  Aktionire  und  Benutzer  zufrieden. 

Ich  habe  zuerst  ahnungslos  und  dann  absichtlich  die 
Ausdrücke psychologi  che Subjekt,  psychologisches  Prädikat, 
Exposition  und  Situation  durch«nander  geworfen.  Erst  im 
Verlaufe  der  Untersuchung  wurde  mir  klar,  dass  diese  vier 
Bezeichnungen  nur  vom  jeweiligen  Standpunkt  aus  ihren 
Sinn  nehmen,  dass  sie  eigentlich  ein  und  dasselbe  besagen, 
den  gleichen  psychologischen  Voi^ng,  den  wir  im  Kopfe  des 
Sprechenden  Association,  im  Kopfe  des  Hörenden  Apper- 
zeption zu  nennen  pflegen  und  der  sich  als  ein  und  der- 
selbe Vorgang  enthüllt,  wenn  wir  es  nur  wagen  ihn  bis  in 
Torsprachliche  Zeit  zurückzuverfolgen. 

Dass  das  psycholru^ischo  l^rädikat  sich  unaufhörlich  bei 
einer  Darlegung  oder  Erzähl iii;_r  iu  ein  psycbologisclies  Sub- 
jekt zurückverwandelt,  insotem  das  ausgesprochene  Unbe- 
kannte im  nächsten  Satze  srlir,ii  /um  niitverstandenen  Be- 
kannten wird,  liaben  wir  beieits  gcs»  hen.  Diese  Thatsache, 
die  noch  eine  logische  Scheidung  zwischen  beiden  Aus- 


244 


VIII.  Situaüon  und  Sprache. 


diUcken  niliaaii  beschrlnkt  sich  aber  «uf  den  Sprechenden 
und  weh  da  nicht  rein.  Alle  seine  Neuigkeiten,  die  eieh 
in  der  Entwickelung  der  Rede  cu  bekannten  Voranesetrongen 
wandehi,  Verden  ja  nur  mit  Bfidnicht  auf  den  Seelen* 
sustand  des  HOrenden  Torgebracht;  deeeen  Tenrunderte 
Frage  oder  IGene  werden  stiUechweigend  in  Betracht  ge- 
sogen oder  doch  angenommen,  und  die  forUanfende  Bede 
wird  SU  einem  Qespiich,  in  welchem  unaufhörlich  das 
piychologische  SubJ^  sugleidi  pejchdogitches  Prldikat 
wird.  Im  wirklichen  6eB|iriche  wird  dieses  YerhBltnis  noch 
deutiicher,  sowohl  im  gelehrten  Disput  als  in  der  Tulgftrsten 
Unterhaltung.  Wenn  ich  mit  einem  Begleiter  das  Haus 
verlasse  und  sage:  »Es  regnet,"  so  ist  das  für  mich,  der 
ich  den  Regen  schon  vor  einigen  Sekunden  bemerkt  habOf 
ein  psychologisches  Subjekt,  das  ich  mit  der  Absicht  aus- 
spreche, dass  der  Begleiter  es  als  psychologisches  Prädikat 
auffasse;  dieser  macht  es  aber  in  demselben  Augenblicke 
schon  wieder  zu  seinem  psychologischen  Subjekt  und  fügt 
worUos  ein  PriUlikat  hinzu,  indem  er  den  E^raschirm  er- 
greift 

Die  ganze  Arbeit  unserer  Sprachkritik  hat  uns  also 
darüber  aufgeklärt,  dass  die  yielbewunderte  Syntax  unserer 
Sprache  nichts  ist  als  eine  bequeme  Hilfe,  die  Seelensituation 

des  Redenden  dem  Hörenden  zu  suggerieren,  dass  dieselbe 
Suggestion  mit  etwas  mehr  (jehirnarbeit  auch  ohne  jede 
Syntax  erfolgt,  dass  die  alte  Einteilung  des  Sprachschatzes 
in  die  Kategorien  des  Nomens,  des  Verbums,  des  Adjektivs 
u.  s.  w.  ebenfalls  nur  zurückzuführen  sei  auf  eine  rein 
geistige,  das  heisst  falsche,  in  der  Wirklichkeit  nicht  vor- 
handene Uuterscheidung  der  Sinneseindrtlcke  nach  ilirer  Be- 
deutung fUr  den  Menschen,  dass  also  alle  Künste  des  Sprach- 
baues nie  und  nimmer  etwas  Andtus  (»iftm  können  als 
eine  ^schwache  Ilückeriuuerung  au  tjinne.seiudrücke ,  welche 
der  s])rechende  oder  hörende  Menscli  erfahren  hat.  Die 
Anwendung  dieser  Eiki  nntnisse  auf  die  Entstehung  der 
Sprache  oder  vielmehr  auf  die  Unterhaltung  in  vorsprach- 
licher Zeit,  belehrt  uns  nun  darüber,  dass  der  Mensch 


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Sitaation  b«i  ßpneher  imd  HSnr. 


245 


mit  seiner  gegenwaiiig  so  ,liocli  entwickelten"  Sprache,  mit 
seinem  lücht  mehr  zu  übersehenf^len  bpiacLschatze  dennoch 
för  die  Erkenntnis  der  Wirkliciikeitswelt  nicht  weiter  ge- 
kommen ist  als  der  Mensch  einer  Urzeit  mit  seiner  hin- 
weisenden Gebärde.  An  Stelle  der  hinweisenden  Gebärde, 
welche  für  die  gegenwärtige  Situation  immer  genügte  und 
heute  noch  genügt,  musste  der  hinweisende  Wortlaut  treten, 
sobald  die  Situation,  das  heisst  die  Summe  der  gegenwär- 
tigen Sinneseindrücke  in  der  Erinnerung  weiter  wirken  sollte. 
Die  Falle  dieser  Erinnerungen  ist  für  die  Völker  und  die 
«Imeheii  Hellsehen  ins  Ungemessene  gewachsen,  der  Sprach- 
seliats  mit  seinen  lUuAhligen  synUktisehen  und  gnunmati- 
tehen  Eombinationai  gestattet  ms  bequem  Aber  Müliarden 
▼oa  SiimeseindrackeB  sa  hemoben  wie  ein  Spieler  des 
Sdmehbrett  regiert,  aber  Uber  die  Erinnenuig  hinaus  kann 
alle  Spraebgewftlt  aioht  führen,  und  jede  Beredehenmg  un- 
serer Welterkenntnis  oder  unsoes  Spiadischatses  ist  beute 
wie  in  einer  üxseit  immer  nur  die  Beobaebtnng  eines  fdr 
uns  neuen  Sinneseindrueks,  die  durch  ein  neues  Pridikai 
erregte  Äufmeiksamkeit,  das  bosst  die  Orientierung  in  einer 
Situation.  Fflr  die  letste  Erkenntais  ist  der  Kultunnenseb 
unserer  Tage  niebt  weiter  gekommen;  wenn  er  die  Katboden* 
strahlen  entdeckt  bat  oder  von  ihnen  erflhrt,  so  ruft  er 
sein  «dal*  und  stillt  ftlr  ein  Wefleben  sonen  geistigai 
Hunger,  so  wie  einst  der  bungemde  ürmenseb  am  Meeres- 
strande mit  einer  binweiBenden  GM>Srde  auf  die  easbara 
Muschel  geieigt  bat» 

Auf  mancherlei  Wegen  und  Stegen  sind  wir  schon  zu 
dem  einzigen  Gipfel  unserer  Untersuchung  empor  gelangt, 
SU  der  Einsicht,  dass  die  menschliche  Sprache  unge- 
eignet sei,  in  ihren  diskursiven  Schlüssen  zu  neuen  Er- 
kenntoissen  su  führen,  dass  die  menschliche  Sprache  nicht 
einmal  weiter  zur  Mitteilung  reiche  als  die  Erfahrung  des 
Hörenden  gehe.  Wir  können  den  Gedanken  jetzt  so  aus- 
sprechen: nicht  die  Worte  der  Sprache  vermitteln  uns  das 


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246 


VIII.  Situation  und  Sprache. 


Verständnis  der  Welt,  sondern  unsere  indiv  iduelle  Orientie- 
rung in  der  Welt  vermittelt  uns  das  Verständnis  der  Worte 
und  Sätze.  Zu  solcher  Resignation  hat  uns  die  Untersuchung 
logischer  und  grammatischer  Begriffe  geführt.  Die  Unter- 
suchung psychologischer  Begriffe  lehrt  zunächst  dasselbe, 
um  uns  dami  mit  der  Wahrheit  zu  entlassen,  dass  uns  die 
logischen,  die  grammaftkch«!  und  scUieadidi  aiMsh  die 
psychologischen  Begriffe  toh  der  Sprache  suggeriert  worden 
smd.  Diese  letzte  Einsicht  könnte  man  die  Metaphysik  der 
Sjnrachkritik  nennen. 

Wir  haben  gelernt,  dass  die  Mitteilung  in  dar  Tor- 
sprachlichen  Zeit  nichts  anderes  sein  konnte,  als  eine  hin- 
▼eisende  Gehilrde  oder  ein  hinweisender  Laut  innerhalb 
einer  gegenwärtigen  Situation.  Die  Situation  war  das  selbst- 
Terstindliche  psychologische  Subjekt,  die  Aufmerksamkeit 
auf  einen  Punkt  der  Situation  oder  auf  eine  neue  Wahr- 
nehmung innerhalb  der  Situation  oder  die  Einweisung  auf 
diesen  Gegenstand  der  Aufinerksamkeit  war  das  psycho- 
logische Frftdikal  Wir  haben  gelernt,  dass  alle  Worte  auf 
metaphorischem  Wege  aus  solchen  allgemeinen  hinweisenden 
Fktdikaten  ^tstanden  sein  mtlssan,  dass  Dingwörter  und 
.  Zeitwörter,  dass  die  Kategorien  der  Sprache  bis  hinab  su  den 
umfassendsten  Konjunktionen,  dass  sogar  die  Tonfarbungen 
der  Frage,  des  Befehk,  der  Bitte  u.  s.  w.  metaphorisch 
sich  ausbreiteten,  dass  noch  in  der  hochentwickelten* 
Sprache  die  Situation  es  ist  —  wenn  auch  längst  nicht  mehr 
allein  die  gegenwärtige  Situation  —  welche  den  Sinn  des 
einzelnen  Wortes  erklärt.  Die  Worte  sind  vieldeutig;  ein- 
deutig werden  sie  durch  die  Einheit  der  Seelensituation  im 
Sprechenden  und  Udronden,  soweit  da  eine  Einheit  herzu- 
stellen ist.  Der  sogenannte  Sprachgebrauch,  der  uns  die 
einzelnen  vermeintlich  eindeutigen  Worte  zu  einem  ein- 
deutigen Sinn  so  zuverlässig  zusammenzufassen  scheint,  ist 
nur  das  Netzwerk,  ist  nur  der  Kanevas,  in  welchen  unsere 
Erinnerung  ihre  Bilder  hineinstickt.  Wir  glauben  z.  B.  bei 
«viel-  dem  französischen  peut-f-tre,  bei  dem  deutschen  ^vielleicht* 
den  Begriff  der  blossen  Möglichkeit  (besonders  zum  Unter- 


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247 


schiede  von  der  Wahrsciieiülichkeii )  deutlich  ausgesprochen 
zu  hören.  Tn  den  Worten  lipo-t  du  -,er  Begriff  nicht.  „Viel- 
leicht* hiess  im  Mittelhoi  InlcuLsciien  ausdrücklich  so  viel 
wie  »sehr  leicht"  also  wahrscheinlich.  Auch  das  französi- 
sche Wort  bedeutete  firtlher  mehr  die  Nuance  des  Zweifels. 
Wann  haben  jemals  diese  Worte  den  Sinn  der  logischen 
Möglichkeit  erhalten?  Niemals  und  sie  haben  ihn  heute 
noch  nicht.  Sie  haben  auch  in  der  heutigen  Sprache  nur 
dieselbe  Funktion,  die  ebenso  gut  ein  hm  oder  eine  Geste 
oder  ein  zweifelnder  Blick  haben  könnte.  Sie  erinnern  nur 
daran,  dass  wir  den  Satz,  in  welchem  sie  vorkommen,  nicht 
xureraioktiich  hören  oder  sprechen  wollen.  Liegt  der  Be- 
griff d«r  bloflsen  Möglichkeit  nicht  in  meiner  YorsteUung, 
80  werden  die  Worte  ihn  auch  nicht  hinemhringen.  Wird 
jemand  eines  Diebetahb  beeohnldigt  und  sagt  er  darauf: 
»Vielleicht  bin  ich  der  Diebl*  so  spricht  das  Wort  ironisch 
die  denkbar  tttrkste  Negation  ans. 

Wire  die  Spracke  wirklick  ein  so  kunstreicher  Baa, 
wie  die  Logiker  und  Grammatiker  uns  seit  sweitausend 
Jahren  einreden  wdlen,  so  bliebe  sie  swar  nach  unserer 
Lehre  ungeeignet  für  die  Erkenntnis  der  Wdt,  aber  sie 
wSre  doch  ein  herrliches  Mittel  fllr  die  Ordnung  und  Ueber- 
tragung  unserer  Ikkenntnisse.  In  Wakrheit  aber  zeigt  uns 
jede  Bpraehlidie  Darstellnng  oder  EnAhlnng  dieselbe  Un- 
fthigkeit  der  Stäche,  in  .  Worten  auseinandersulegen,  was 
in  der  Wirklichkeitswelt  beisammen  ist,  in  aufeinander- 
folgenden Worten  die  EipoBition  lu  geben,  die  der  Redende 
in  einem  einsigen  Augenblicke  nicht  nur  ttbersieht,  soweit 
er  sieht,  sondern  auch  auf  einen  einzigen  Punkt  hin  be- 
leuchtet. Das  ist  ja  die  letzte  ktlnstlerische  Bedeutung  des 
Dramas,  die  sich  uns  nun  plötzlich  enthttllt,  dass  im  Drama 
die  Exposition  Handlung  ist  und  darum  in  der  Zeit  vor  sich 
gehen  kann;  schlechte  IKditer  erkennt  man  gerade  daran, 
dass  sie,  wie  die  arme  Sprache  der  Darstellung  und  £r- 
sAfalung,  eine  Exposition  ohne  Handlung  geben. 

Ist  eine  längere  Darstellung  oder  Erzählung  hübsch 
unbedeutend  oder  sonst  der  Seelenlage  des  Hörers  ent- 


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248 


VUi.  Situation  und  Sprache. 


Hjatwron- sprechend ,  so  wird  der  Hörer  mit  gutem  Gedächtnis  alles 
FroMvoB  zusammenhalten  und  am  Ende  ungefähr  die  Situation  bei- 
sammen haben,  die  in  der  Seele  des  Sprechers  oder  Autors 
war  und  die  er  mitteilen  wollte.  Ist  der  Hörer  sohlechter 
vorbereitet,  bietet  die  D«nte]lung  oder  Enililang  -viel  Neues, 
wird  im  Verbiife  nicht  jedes  psychologische  Prftdikat  som 
Sabjekte,  so  ist  anoh  mit  den  ktiÄen  Worten  dex  Darstellimg 
oder  Enihlung  «wischen  Sfureeher  und  Hörer  die  Einheit 
der  Seelensitiuition  nicht  hergestellt:  der  Zweck  der  Mii-  . 
teilung  ist  Torföhlt  Ss  liegt  des  tief  im  Wesen  der  Sprache, 
dieweil  sie  nur  erinneni  kann.  Anf  das  Gedächtnis  des 
HOrers  kommt  es  sn.  Der  HSrer  wird  in  soloheB  Flllen 
die  DarstoUnng  oder  Enihlnng  sweimal,  dreimal  und  Öfter 
hören  mOssen,  vm  endlich  den  Ptosess  in  seinem  Gehirn 
aussufthren,  der  ihm  das  FMikat  swn  Subjekt,  das  Nene 
zum  Bekannten  Tcrwaadelt.  Was  Schopenhauer  in  der  Yor^ 
rede  sur  ersten  Auflage  seines  Hauptwerkes  f&r  sieh  in  An- 
spruch nimmt,  das  geht  nicht  aus  der  EigentOmlichkeü 
seiner  Philosophie  hervor,  sondern  aus  dem  Wesen  der 
Sprache.  Unter  dieeem  Gestchlspunkte  lese  man  einmal 
was  Schopenhauer  schreibt  Sein  Buch  sei  ein  einsigw  Ge- 
danke. »Bennoch  konnte  iek^  aller  BemOhungen  ungeachtet, 
keinen  kürzern  Weg  ihn  mitauteilen  finden,  als  dieses  ganze 
Buch  .  .  .  Ein  Buch  muss  eine  erste  und  eine  letzte  Zeile 
haben  und  wird  insofern  einem  Organismus  allemal  sdir 
unähnlich  bleiben,  so  sehr  diesem  ähnlich  auch  immer  sein 
Inhalt  sein  mag  ...  Es  ergibt  sich  von  selbst,  dasf;  unter 
solchen  Umständen  zum  Eindringen  in  den  dai^elegten  Ge- 
danken kein  anderer  Rat  ist,  als  das  Buch  zweimal  zu  lesen, 
und  zwar  das  erste  Mal  mit  vieler  Geduld,  welche  allein  zu 
schöpfen  ist  aus  dem  freiwillig  geschenkten  Glauben,  dass 
der  Anfang  das  Ende  beinahe  so  sehr  voraussetze,  als  das 
Ende  den  Anfang,  und  ebenso  jeder  frühere  Teil  den  spätem 
beinahe  so  sehr,  als  dieser  jenen/  In  der  Anir-t  uin  das 
Schicksal  seines  Werkes  hat  Schopenhauer  erkannt,  dass 
geordnete  Mitteilunj^  unmöglich  sei ;  er  hat  aber  den  Mangel 
an  üeberbUck  ^  eine  Folge  gehalten  der  übermenschlichen 


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Ql«tefoii>Froteroii. 


249 


Grösse  seines  Gedankens,  er  wusste  nicht,  dass  die  kleinste 
Zeitungsnotiz  über  einen  Brand  ohne  die  Hilfe  des  Gedächt- 
nisses  demselben  Schicksale  verlallen  wäre,  Sopar  der  frei- 
willig geschenkte  Glaube,  der  uns  in  Schopenhiiuers  Vorrede 
f^t  wie  eine  unliillige  Forderung  an  den  Leser  erscheint, 
spielt  in  der  Sprache  täglich  und  überall  eiue  ausserordeot* 
lieh  grosse  Kolle.  Wegener  hat  sehr  fein  darauf  hinge- 
wiesen, dass  die  Syntax  bestrebt  ist,  den  Hauptgedanken 
vorauszuschicken,  auch  wenn  sein  Inhalt  in  der  Ztit  erst 
auf  den  Nebengedanken  folgt.  Die  natürliche  Erzähiungs- 
weise  wäre  das  Proteron-Hysteron ;  die  Sprache  greifb  un- 
aufhüiiicli  zu  einem  Hysteron-Proteron  und  kann  diese  Dar- 
stellungsart nicht  uberwinden.  Nichts  ist  peinigender  in 
der  Biographie  eines  uns  nicht  vorher  schon  interessierenden 
Mannes,  als  das  ordentliche  und  unaufhörliche  Proteron- 
Bysteron.  Steht  firwUcih  anf  d«m  Titelblatte  Goatfacs  Leben 
odar  daa  Leben  Jean,  ao  iat  das  Sddittawort  der  gaaaen 
DanteUung,  das  letrte  paycbologiscbe  Mdikai,  die  Seelen- 
situation dea  Enihlera,  adion  im  Leaer  Torbereitet.  Er  hat 
daa  Buch  gewissermaasfln  sdien  zum  erstenmal  geleaen,  er 
Best  es  gewisaermasaen  snm  zweitenmal  und  interessiert  sich 
amnit  gleich  fUr  die  aonat  unerfalgliche  Jugendgescfaiolifte 
Goethest  fibrdie  Genealogie  Jeeu,  weil  er  aie  als  die  Exposition 
emea  ihm  wohlbekannten  Scbluasea  aoffasst.  Biographien 
▼on  Menschen,  die  wir  nidit  so  Heb  haben,  sollten  mit  dem 
Hanpliiridikat,  mit  der  entscheidenden  Leiafcong  des  ICannea 
beginnen,  und  die  YorgeacUchte  gdegentUch  einflechten,  ao 
wie  daa  Ibsen  mit  der  Exposition  einer  Handlung  m  thun 
wieder  gelehrt  hai  Was  von  Bücheni  gilt,  gilt  anch  von 
kompli&erfcen  Sttsen,  ja  Ton  jeder  Verbindung  von  Haupt* 
und  Nebensals.  Die  Nebensätse  sind  aua  Hauptsätzen  ent- 
aftanden,  welche  zu  dem  wirklichen  Hauptsatie  im  Verhältnis 
einer  E^Msition  standen.  Die  Zeitfolgen  unserer  Verboi 
scheinen  uns  eine  unerläsdiehe  und  zugleich  zuverlässige 
üilfe  zu  bieten,  trots  des  sprachlichen  Hysteron-Proteron 
die  Zeitfo^^e  übersehen  zu  können.  Einzig  und  allein  unsere 
Erfahrung,  unsere  Torau^gehende  Kenntnis  Ton  der  Zeitfolge 


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250 


VlII.  Situation  und  Sprache. 


der  Ereignisse  lässt  uns  den  sprachlichen  Mischmasch  von 
Hysteron-Proteron  und  Proteron-Hysterou  entwirrön  uüd 
die  Dinge  in  die  uns  natürliche  Reihe  bringen. 

Diese  kleine  Hilfe  kann  naturgemäss  nur  auf  die  ein- 
selneii  Perioden  eines  längeren  Buches  anwendbar  sein. 
Bloh«!  wir  im  Bann  unserer  Sprache,  so  Uingi  es  paradox, 
was  ich  jelai  sagen  wiU,  und  doch  ist  es  eine  ein&ehe 
Wahrheit.  Die  Zeitfolge  kann  in  unserar  Sprache  nur  durch 
fltaif  bis  sieben  Terachiedene  Tempiisformen  ausgedrQcilct 
werden.  Diese  Zahl  reicht  f&r  einen  komplixierten  Sati 
eben  aus.  Wollten  wir  in  einer  histoiisdien  DarsteUnng 
die  ZeitTerhftltnisse  fortlaufend  sprachlich  ausdrucken,  so 
würden  wir  da  fast  jeder  Satz  die  seitliche  Exposition 
für  den  folgenden  ist  —  ein  System  von  Hunderten,  ja  Ton 
vielen  Tausenden  Zeitformen  nOttg  haben.  Unser  Gedichtnis 
hilft  sich  so,  dass  immer  wieder  das  Vergangene  zum  (Hgcu- 
wbrtigen  wird,  genau  so,  wie  jedes  Mal  das  psjehologiBclie 
Pridikat  sich  zum  Subjekte,  die  Exposition  sich  zur  gegen- 
wärtigen Situation  wandelt  Abgesehen  TOn  Eselsbrileken, 
welche  durch  die  sogenannten  Umstandswörter  der  Zeit  ge- 
bildet werden,  stehen  deshalb  die  einselnen  Perioden  eines 
Kapitels,  die  einselnen  Kapitel  eines  Buches,  die  einsselnen 
Bücher  eines  grossen  Werkes  verbindungslos  und  ohne  An- 
deutung des  Zeit  Verhältnisses  nebeneinander  wie  die  Worte 
yeni,  vidi ,  rici.  Unsere  allgemeine  Sachkenntnis  Ifiast  uns 
die  richtige  Zeitfolge  erraten. 
Erraten  Das  Erraten  des  Wortsinnes  durch  den  Inhalt  des 
sjams.  Satses  —  und  da  der  Sats  aus  Worten  besteht  — 

das  Erraten  des  Wortsinnes  aus  der  Erinnerung,  Widche 
durch  die  anderen  Worte  im  Hörer  oder  Leser  geweckt 
wird,  dieses  Erraten  ist  nur  bei  der  Zeitfolge  besonders 
interessant,  weil  diese  nach  dem  landläufigen  Glauben  schon 
durch  die  Grammatik  sauber  geordnet  zu  sein  scheint.  Was 
aber  fllr  die  Zeitfolge  gilt,  das  irilt  in  noch  höhei  t'ra  Masse 
für  den  jeweihgen  InhnU  der  Dintrwiirter  und  der  Zeitwörter, 
für  den  jeweiligen  hinn  der  \'erbindung  von  Subjekt  und 
Prädikat,  für  den  Sinn  der  übrigen  syntaktischen  Satzglieder, 


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Emtett  dm  Sinnes. 


251 


für  die  Biidunp^formen  der  Dmgwöi'ter  und  der  Zeitwörter, 
das  ^ilt  schliesslich  sogar  für  den  Sprechton.  In  vielen 
Fällen  hat  freilich  der  sogenannte  Sprachgebrauch  z.  B.  ein 
bestimmtes  Dincrwort  an  ein  bestimmtes  Zeitwort  gebunden; 
der  Reichtum  unserer  Sprache  entsteht  aber  gerade  dadurch, 
dass  diese  festen  Wortverbindungen  verhältnissmässig  selten 
sind,  dass  grammatische  und  .syntaktische  Formen  in  un- 
endlichen Variationen  nach  dem  Prinzip  der  Analogie  inner- 
halb eines  unbestimmten  Sprachgebrauchs  verwandt  werden. 
Jade  ftnalogische  Anwendimg  einer  syntaktischen  oder  gram* 
matiBolMii  Teno,  ni  eme  kleine  Metapher,  deren  Sfam  jedes- 
mal ernten  werden  muse.  Besondere  Beispiele  für  Ding- 
wörter sind  ttberflflssig.  Für  die  Zeitwörter  denke  man  an 
die  unttberselibare  Zahl  von  Bedeatungen  des  Wortes  ahaben*. 
Z.  B.  im  Sinne  Ton  sich  neren,  sick  fiihlen,  kalten,  tragen 
(sich  kaben,  in  der  Tasche  kaben,  auf  dem  Gewissen  kaben), 
sodann  im  Sinne  von  beritaen  u.  s.  w.  Unter  den  gram- 
matisoben  Bildungsformen  sind  die  Casus  ebenso  Tieldeutig 
wie  die  Zeitformen  und  müssen  jedesmal  aus  unserer  Welt^ 
kenntnis  keraus  erdeutet  werden.  Beim  QenitiT  ist  das  all- 
bekannt.  Doek  auck  der  TermeintUek  so  klare  AkkusatiT 
gibt  e%entlick  nur  «ne  ganz  leere  Berieknng,  deren  Sinn 
erraten  werden  muss.  Das  ist  nickt  nur  bei  dem  AkkusatiT 
▼ersckiedener  Wörter  der  Fall,  sondern  auck  bei  dem  Ak- 
kusatiT eines  eindeutigen  Wortes.  Wie  Terschieden  ist  der 
AkkusatiTsinn  nicht  in:  die  Stadt  bewoknen,  die  Stadt  ver- 
lassen, die  Stadt  bebauen,  die  Stadt  erobern,  die  Stadt  be- 
suchen, die  Stadt  beschreiben  u.  s.  w.  üebrigens  ist  die 
Eindeutigkeit  des  Woitee  Stadt  hier  ebenfalls  nickt  bucb- 
stäblich  zu  nduaen;  das  Wort  Stadt  erregt  ganz  andere 
Vorstellungen,  je  nachdem  die  Stadt  gegrttndet  oder  er^ 
obert  wird  (vergl.  III.  S.  15  f.). 

Das  Erraten  des  Sinnes  ist  in  der  Sprache  von  sehr 
grosser  praktischer  Bedeutung.  Bekanntlich  braucht  man 
bloss  alles  zu  sagen,  um  mit  Sicherheit  langweilig  zu  werden. 
Ein  sogenannter  guter  Stil,  das  heisst  der  natürliche  Ge- 
brauch der  Sprache,  hat  zum  sickern  Merkmal,  dass  nur 


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252 


Yin.  Sitoalioii  and  Spraeh«. 


diejenip:eii  Worte  gesprochen  werden,  die  zum  bequemen 
Erraten  des  Sinnes  notwendig  sind.  Das  Uebrige  wird  fort- 
gelassen. So  wird  jede  Darstellung  oder  Erzählung  von 
selbst  »elliptisch*.  Die  unaufhörliche  Ellipse  der  Sprache 
geht  viel  weiter.  In  einer  Erzählung  müsste  an  jeder  Stelle 
alles  Vorhergehende  rekapituliert  werden.  Die  unaufhdr- 
Uche  Ellipse  besteht  eben  darin,  daas  der  Sprecher  sich 
fortwShrend  mat  das  Gediehtms  des  Hörers  verlSssk.  Bas 
Qedichfaiis,  welches  dem  ^redwr  die  Darstellimg  oder  Br- 
zihlung  möglich  macht  und  ihm  erspart  (was  freflieh  blöd- 
sinnig nnd  immOglich  vtre)  in  jedem  Augenblicke  alles  m 
sagen,  ist  dasselbe  Gedächtnis,  welches  den  Sinn  der  Worte 
errät. 

Kaosau-  DisBC  ThatM^hc,  dass  nimlich  dnich  die  Worte  immer 
zveck^  nur  Erfahrungen  des  Hörers  wachgerufen  werden,  dass  der 
Sinn  nach  den  Erfahningen  des  HSrers  richtig  oder  falsch 
geraten  wird,  dass  das  individuelle  Bild  von  dw  Widdich* 
keitswelt  allein  im  Kojpfe  ist,  dass  die  gehabten  Worte  das 
Bfld  nur  bald  so,  bald  so  beleuchten  oder  belichten,  diese 
Thatsache  fthrfc  uns  nun  sa  einer  Einsicht,  die  Aber  das 
SprachTcrstindnis  hinaus  snm  Yeratftndnis  dar  Welt  ftihrt 
oder  doch  «i  dem,  was  wir  für  unsere  beste  Welteikenntnis 
zu  halten  pflegen.  Der  BegrüF  der  Eausslit&i  ergibt  sich 
uns  jetzt  als  eine  Folge  unserer  an  Worte  geknüpften  Ge- 
dächtnisthätigkeit  (Wegener,  Untersuchungen  120  f.). 

Wenn  ein  Hund  zusieht  wie  sein  Herr  gräbt,  wie  die 
Frau  strickt,  so  sieht  er  ebenso  wie  wir  die  Bewegungen 
des  Grabens  und  Strickens.  Der  Hund  hat  aber  kein  Inter- 
esse, keine  Aufmerksamkeit  für  den  Zweck  dieser  Be* 
wegongMi.  Die  Bewegungen  des  Mannes  oder  der  Frau 
summieren  sich  darum  in  seiner  Vorstellung  nicht  zu  dem 
Begriff  des  Grabens,  des  Strickens.  Er  sieht  den  Zweck  im 
Verbum  (vergl.  auch  III.  S.  59)  nicht.  Wenn  der  Hund  auch 
eine  ausgebildete  Sprache  besässe ,  so  würde  er  doch  nur 
das  Geschehen  ausdrOcken  kennen ,  er  würde  nur  eine  un- 
belebte Natur  (abgesehen  vom  Hundeleben)  erblicken,  wo 
der  Mensch  bei  seinem  yielseitigen  Interesse  und  bei  seiner 


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Kausalitftt  and  Zweck. 


253 


gespannten  Aufmerksamkeit  zwischen  dem  zwecklosen  Ge- 
schehen und  dem  zweckmässigen  Thun  unterscheidet.  E.s 
bleibe  dahingestellt,  ob  eine  bis  ins  kleinste  und  letzte 
gehende  Hundeanschauung  von  der  Welt,  ob  der  Cynismus 
nicht  Torurteilsloser ,  philosophischer,  spinozistischer  wäre, 
ab  die  mensdiliche  Weltanschauung,  welche  den  Zweck- 
begriff und  westorhin  den  KatwalitttBbegriff  in  die  Welt 
bineingetm^en  bei. 

Die  moiBcfaliehe  Qewobnbeit,  Bewegungen  lebe&dw 
Wem  flir  iweckmtang  sa  baiton,  bestimmte,  wenn  aadi  nocb 
80  undentUeb  geeebene  Bewegungen  ak  graben,  ab  stricken 
sa  beseifibn«!,  fQlurt  undhiigemale  sa  Tftnscbmigen.  Von 
den  ScbaiiBpielem  auf  der  Bflbne,  welcbe  solcbe  Bewegungen 
nur  scbeinbar  anefDbren,  ebne  wiikHeb  su  graben,  sa  stricken, 
SU  eesen  u.  s.  w.,  lassen  wir  uns  gern  tiuscben.  Aber  aucb 
in  der  Wirklicbkeitswelt  ist  die  TäoBchnng  alltS^cb.  Sie 
bembt  auf  demselben  8nmde  wie  die  bekannten  Sinnes* 
tftuscbungea.  Wir  sieben  aus  maogelbaften  Daten  labcbe 
Schlosse.  Bei  der  Auslegung  TOn  menschlichen  Bewegungen 
werden  wir  su  den  Selbsttftusebungen  aber  durcb  die  Sprache 
selbst  Terleitet.  Die  Strickbewegungen  der  Finger,  wenn 
sie  dnmal  zofidlig  gemacht  würden,  wären  äusserst  schwer 
SU  beecbruben,  wie  denn  alles  in  der  Welt  äusserst  kom- 
plisiert  und  unbescbreiblicb  wäre,  wenn  wir  es  nicht  gruppen- 
weise durch  Worte  aosdrQcken  könnten,  welcbe  die  Ghruppen 
um  einen  Zweck  wie  um  einen  Mittelpunkt  susanimenfassen. 
Unsere  Sprache  drückt  alle  Thätigkeiten  durcb  solche  Worte 
aus,  mit  denen  wir  den  Zweck  des  Thuns  zu  erraten  glauben. 
Die  Erfahrung,  welche  ja  eben  an  der  Krttcke  der  Sprache 
foartschleicht ,  lässt  uns  einen  Zweck  Ton  jedem  Thun  er^ 
warten.  Dieses  Hineuitn^^en  unserer  Erwartung  in  die 
Welt  beruht  auf  unserem  Glauben  an  eine  Regelmässigkeit 
des  Geschehens,  auf  einem  Glauben,  der  ja  um  so  sicherer 
geworden  ist,  je  weiter  unser  bisschen  Weltorkenntnis  fort- 
geschritten ist.  Was  wir  an  dieser  Kegelmüssigkeit  des 
Geschehens  aber  die  Kausalität  nennen,  das  Verhältnis  von 
Ursache  und  Wirkung,  das  hattet  doch  bloss  an  der  Art, 


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254 


YIII.  Sitaation  und  Sprache. 


wie  wir  ▼ermeintlich  zweckmbsiges  Geschehen  in  unseren 
Worten  gruppenweise  sasanunenfasseo,  weil  wir  es  sonst  in 
seiner  nngeheuem  Kompliziertheii  niemak  beschreiben,  nie- 
mals mikroskopisch  genug  beobachten  kOnnen.  Schon  die 
Fingerbewegungen  beim  Stricken  sind  sn  kompliziert,  als 
dftss  wir  sie  ohne  das  Zweckwort  »stricken*  aufEiassen 
könnten;  wenn  das  Wasser  durch  die  Hitse  siedet,  so  sind 
die  makroskopischen  Vorginge  ebenso  kompliziert,  4ie  mikro- 
skoptschen  ganz  unfassbar.  Wir  begreifen  die  Somme  dieser 
Vorginge  bequem  mit  dem  Worte  «sieden*  und  legen  ausser- 
dem den  Begriff  der  ürsadie  in  die  Hitze.  Ss  ist  eine 
Metapher  des  menschlichen  ZweckmSssigkeitsbegrifb,  wem 
wir  nach  dem  Mustor  «die  Frau  strickt*  nun  sagen  «die 
Hitze  bringt  das  Wasser  zum  Sieden*.  Wir  erraten  den 
Sinn  der  Worte  —  riditig  oder  falsch  —  nach  unserer  Er- 
fahrung, wir  erraten  den  Sinn  der  Thfttigkeiien  —  richtig 
oder  falsch  —  nach  unserem  ZweckinUssigkeitsbegriff,  nach 
einem  Interesse»  wir  erraten  den  Sinn  des  Naturgescheheos 
metaphorisch  durch  den  Begriff  der  Ursache,  den  wir  inter^ 
essiert  in  das  Geschehen  hineinlegen. 

PMPimm  Auf  die  psychologische  Unwahrheit  unsers  Subjekt- 
begriffs  bin  ich  zuerst  geführt  worden  durch  eine  Empfin- 
dung, die  vielleicht  in  ihrer  ganzen  Stärke  nur  schwer  mit- 
zuteilen sein  wird.  Ich  las  einmal  in  einer  ganz  gewöhn- 
lichen, weit  verbreiteten  Schulgraraniatik ,  was  alle  Schul- 
knaben, Logiker  und  Grammatiker  zu  wissen  glRiiben:  das.s 
nämlich  das  Subjekt  meistens  den  thätigen  Gej^rn^taTid  nenne, 
aber  auch  wohl  den  leidenden  Gef:^enstand  nennen  könne. 
Es  fallt  das  ungefähr  mit  der  Unterscheidung  zwischen  der 
aktiven  und  passiven  Form  des  Verbums  zusammen.  Als 
Beispiel  fand  ich  den  Satz:  .Der  Hfcrf^n  befruchtet  die 
Erde,"  ,diy  Erde  wird  durch  den  Hegen  befruchtet."  "Von 
der  Sinnlosigkeit,  die  befniclitete  Erde  sei  der  leidende  Teil 
ifin^  ich  aus,  bis  mich  plötzlich  ganz  allgemein  die  blosse 
Existenz  eines  Passivums  in  unserer  kultivierten  Sprache 


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Pafiaivuin  barbarisch. 


255 


verwunderte,  ja  entsetzte.  Ich  ftiklte  auf  einmal  etwas  Bar- 
barisches in  dieser  viel  gerühmten  Form  des  Zeitworts. 
W«niiii,  80  fragte  ich  mich,  wird  diese  Beziehung  nicht  an 
dengemgen  Worte  ausgedrflckti  zu  der  sie  gehört?  Warum 
ist  es  dts  Yerhum  und  niehi  das  SnbstaotiT,  welches  Acti«* 
vnm  und  Passivam  beseichnet?  Ich  erinnerte  mich,  dass  es 
an  der  NordkOste  von  Java  Sprachen  gibt,  welche  ungefUir 
solche  YerhlltDisse  im  Substantty  auadrQcken.  Die  Beob- 
achter haben  das  so  auq^edrttokt,  dass  in  dem  Satie:  «Ich 
suche  das  Brot  im  Hause*  audi  Haus  zum  Subjekt  werden 
kann.  Wonach  der  Sats  (ohne  PasdTum)  etwa  so  sich  ge- 
staltMi  wDrde,  wie  wir  ihn  mit  Hilfe  des  PassiTums  ans» 
drucken  können  »das  Haus  wird  Yon  mir  nach  einem  Brot 
durchsucht*.  Unser  Terwöhntes  SprachgeflQhl  Iftsst  uns  nun 
derartige  Sinrachformen,  ftr  welche  wir  keine  Analogie  zu 
besitzen  glauben,  leidit  als  etwas  Barbarisches  empfinden, 
als  etwas,  was  sieh  fllr  wilde  Völker  besser  schicke  als  für 
uns.  Hein  Sprachgefühl  sehlug  nun  plötalich  aus  der  Art, 
es  wurde  entartet  oder  ptxwiasi  ich  hörte  unser  paasiTes 
Terbum  vom  Standpunkt  eines  HensdiMi,  der  Uber  ein  pas* 
siTes  Substantiv  verfügt,  und  so  entsetzte  ich  mich  Uber 
unser  schönes  Passivurn.  Es  versteht  sich  TOn  selbst:  nach 
einiger  Ueb^legung  kam  die  Ueberzeugung ,  dass  es  nicht 
gerade  human  ist,  das  Wort  barbarisch  überhaupt  anzu- 
wenden, dass  Barbar  doch  eigentlich  bei  den  inhumanen 
Griechen  nichts  anderes  bedeutete  als  fremd  oder  unbekannt, 
dass  fremde  Vorstellungen  eben  in  dem  Augenblicke  auf- 
hören mflssen  barbarisch  zu  heissen,  wo  sie  uns  bekannt 
werden,  dass  wir  also  niemals  etwas  Barbarisches  kennen 
können.  So  wurde  ich  wieder  milde  gegen  die  eigene 
Sprache;  ist  das  passive  Substantiv  nichts  Barbarisches,  so 
braucht  es  auch  das  passive  Verbum  nicht  zu  sein. 

Ein  solches  Verwundern  oder  Entsetzen  über  nlltiirrliche 
Begriffe  ist  bei  dem  ersten  Menschen,  der  diese  Eniplindung 
an  sich  selh'^t  beobachtet,  immer  ein  Aus-der-Art-schlagen; 
und  es  ist  ganz  in  der  Ordnung,  wenn  die  Art,  das  heisst 
die  Msgorität  seiner  Zeitgenossen,  ihn  dafür  für  verrückt 


256 


Yni.  SitaatioD  und  fl^pftelM. 


oder  flir  TorbrecKmadi  erUiit.  Der  erste«  der  eich  Ober 
HezeiiTerbreiiiLiuigeD  eubetste,  der  erste,  der  sieb  ttber  die 
absolute  Mbnarcbie  verwuiiderte,  der  erste,  der  sick  in  un- 
sem  Tagen  Ober  die  Macbt  des  Oeldes  oder  der  sieb  Tor 
Bweitattsend  Jabren  über  das  Institut  der  Sklaverei  niebt 
bembigen  konnte,  war  in  diesem  Sinne  ein  Entarteter. 
Indem  ich  also  diese  meine  Sprachempfindnng  preisgebe, 
glaube  icb  allerdings,  dass  mein  Yerwundem,  wenn  audi 
hier  von  unendlich  geringerer  Wichtigkeit,  einigenoassen 
fruchtbar  sein  könnte. 
Vaycho-  Wir  wissen  bereits,  dass  ein  Satz  oder  die  Aussprache 
^Srii^dtt!  Gedankens  nur  ganz  überflUssigerweise  mit  den  Kate- 
gorien der  Logik  und  Grammatik  belästigt  wird.  Die  Regeki 
der  Logik  und  Chrammatik  haben  mit  dem  Organismus  des 
Denkens  noch  viel  weniger  zu  thun,  als  der  Bast,  durch 
welchen  eine  Pflanze  an  ihren  Stock  angebunden  wird,  mit 
dem  Organismus  der  Pflanze.  Wir  wissen,  dass  ein  soge- 
genannter Gedanke  oder  ein  Satz  nichts  weiter  ist  als  die 
Richtung  unserer  Aufmerksamkeit  auf  irgend  einen  Sinnes- 
eindruck ,  sei  es  ein  neuer  Sinneseindruck  oder  die  Vor- 
stellung oder  Erinnerung  uns  -wohlhpkannter  Eindrücke. 
Dieser  psychologische  Vorgang  ergibt,  dass  —  um  es  zu 
wiederholt-n  —  das  Prädikat  eines  Satzes,  das  Ausgesagte, 
das  Prädizierte  auch  allein  das  Aassagenswerte,  das  Sprerhens- 
werte  ist,  dass  das  Subjekt  das  Selbstverständliche  ist,  das 
in  den  Urzeiteu  der  Sprache  gewiss  noch  gar  nickt  gesagt 
wurde.  Das  Subjekt,  das  jetzt  für  das  Hauptwort,  für  die 
Hauptsache  gilt,  muss  eine  jüngere  Erfindung  gewesen  sein, 
es  ist  ein  Parvenü. 

Man  hat  die  Mitteilung  einer  Gedankeureihe  an  einen 
andern  Menseben  ebenso  geistreich  wie  falsch  mit  dem  Ab- 
wickeln einer  Papierrolle  im  Telegra|)henumte  verglichen; 
es  soll  da  die  weisse  Pa})ierrolle  immer  kürzer  werden,  wäh- 
rend das  beschriebene  Band  auf  der  andern  Scheibe  iiiuuer 
länger  wird.  Der  Vergleich  hinkt  auf  allen  vier  Füssen. 
Höchstens  für  den  erapfaugeuden  Apparat,  für  den  Hörer 
oder  Leser  eines  Satzes,  vollzieht  sich  die  Aufnahme,  wenn 


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Pdychologisclie«  Subjekt. 


257 


er  mhr  dumin  ist  oder  etwas  ToUkommen  Neues  erfahrt, 
halb^vegä  so  langsam  und  linear,  wie  ein  Baad  sidi  aiifrollt, 
wie  eine  Wuise  kriecht^  In  der  psychologischen  WiiUieh- 
keit  wird  der  Blickpiinkt  des  Gedichtmsses  vom  Sprecher 
schnell  und  geschickt  nach  allen  Bichtungen  auf  diejenigen 
Beobachtungen  und  Merkmale  gelenkt,  die  gegen  w'ai-tig,  das 
heisst  dem  realen  Zusammenhang  entsprechend«  filr  ihn  von 
Interesse  sind;  und  mit  maschinenmissiger  Sicherheit  wird 
der  Blickpunkt  des  H9ren  (soweit  die  Unterschiede  in  ihren 
IndiTidualsprachen  nicht  stISren)  auf  dieselben  Beobachtungen 
und  Merkmale  gelenkt,  nach  dem  Interesse  des  Sprechers. 
Jedesmal  ist  die  Fidle  der  VorsteUungen,  wddie  dem 
Spreeher  oder  HOrer  jeweilig  aus  seinem  Sprachschatse  oder 
aus  seiner  gesamten  Welteikenntnis  in  jedem  Augenblicke 
gegenwilrtig  sind,  das  Subjekt  su  den  rasch  wechselnden 
Prädikaten.  Auch  dieses  Subjekt  ist  von  Wort  m  Wort  in 
jedem  Satze  TerftnderHch»  ist  anders  im  Kopfe  des  Spredien 
und  im  Kopfe  des  HOren.  Dieses  unausgesprochene,  nebel- 
hafte, Ton  der  ganien  Oedankengeschichte  jedes  IndiTidnums 
abhingjge  Subjekt  konnte  woU  das  psychologische  Subjekt 
genannt  werden;  «s  ist  allerdings  von  den  Sprachforschern 
nur  aus  Verlegenheit  erfunden  worden,  weil  nämlich  bei 
manclien  Wortstellungen  und  Satakonstruktionen  die  Gram- 
matik dem  psychologischen  Vorgang  allzu  schroff  wider- 
sprach. 

Das  Bild  vom  Blickpunkt  des  Gedächtnisses  yerlockt  Bliek- 
beinahe  dazu,  es  zu  Tode  zu  hetzen.  Suchen  wir  zu  einem  '^"'^ 
sogenannten  Subjekt,  also  zu  dem  Gegenstande  oder  Sub-  a«daoiit- 
stantiv,  das  uns  gerade  beschäftigt  und  das  wii*  darum  gar 
nicht  aussm^rechen  brauchen,  eine  Beobachtung,  ein  Merk- 
mal, kurz  ein  PriUUkat,  so  wollen  wir  dieses  Merkmal,  diese 
Beobachtung  an  die  Stelle  des  deutlichsten  Sehens  setzen, 
wir  wollen  es  stärker  als  alles  andere  beleuchten.  Wer 
weiss  ob  der  Vorgang  nicht  verwandt  ist  mit  einem  wirk- 
lichen Beleuchten.   Es  ist  als  ob  wir  mit  einer  Handlüterne 
im  Dunkel  etwas  suchten.    Wir  rücken  die  abzusuchende 

Stelle  in  den  beschränkten  Lichtkreis  der  kleinen  Laterne. 
M»atbiier,  B«itrftge  £tt  einer  Kritik  der  Sprache.  UI.  17 


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258 


Vm.  8ita«td(m  und  Sfnwfae. 


Wir  fingen  die  DunkeUiflit  ab,  indem  wir  Punkt  für  Punkt 
lielettditen.  Es  ist  immer  das  DnnUe,  wonadi  wir  Ingen. 
Im  lebhaften  WecluelgesprScb,  wenn  fon  swei  Menschen 
jeder  immer  nur  ein  Wort  spricht  (Wohin?  —  Port.  — 
Jetat?  —  Gleich.  —  Warum?  —  u.  s.  w.)  werden  ttber* 
haupt  nur  Prädikate  gesprochen,  die  Subjekte  sind  seHwt- 
▼ersündüch,  sowohl  die  grammatischen  als  die  psycho- 
logischen. 

Gegen  diese  psychologische  Notwendigkeit  kann  weder 
die  Ghrammatik  nocli  auch  der  wirkliche  Sprachgebruuch 
aufkommen.  Im  Deutschen  ist,  wie  eine  aufmerksame  Be- 
obachtung leicht  lehrt,  das  grammatische  Subjekt  durchaus 
nicht  so  sehr  Herr  der  Situation  als  das  in  der  Schule  ge- 
lehrt wird.  Unsere  freie  Wortstellung  verhilft  dem  psycho- 
logischen Subjekt  zu  seinem  Rechte.  Aber  auch  eine  so 
fest  geschnürte  Sprache  wie  die  franaösische  muss  ihre  feste 
Wortstellung  durchbrechen  lassen,  will  sie  der  Mitteilung 
nicht  Gewalt  anthun.  In  der  französischen  Schulsprache 
und  Rhetorik  ist  das  grammatische  Subjekt  allerdings  fast 
allmachtig.  Im  alltäglichen  Gespräch  jedoch  ist  das  psycho- 
logische Subjekt  nicht  zu  umgehen.  .Votre  fT^rc,  j'ai  de 
ses  nonvelles."  Ich  kann  nicht  umhin  auch  bei  dieser  Satz- 
konstruktion die  Empfindung  des  Barbarischen  zu  haben 
(natürlich  um  mich  nachher  des  Wortes  Barbarei  wieder  zu 
schämen).  Es  klingt  mir,  ich  kann  gar  nicht  sagen  wie 
aussereuropäisch,  dass  das  psychologische  Subjekt,  das  wo- 
nach gefragt  worden  ist,  zuerst  wie  eine  Aufschrift  dasteht 
und  dass  sich  dann  ein  rcgelmäs55iger  fraT]/.<isischer  Satz,  in 
welchem  das  grammatische  Subjekt  fi m  t  jrientlich  voran- 
stellt, mit  einem  Fürwort  darauf  bezieht.  Wilde  Völker- 
schaften sprechen,  wenn  ich  deu  Missiouarberichten  trauen 
darf,  so,  dass  eine  oder  mehrere  Aufschrilten  vorausgehen. 
Und  merkwürdig,  die  Chiueyen ,  durch  ihre  feste  Wort- 
stellung gezwungen,  müssten  unsern  Satz  genau  .so  kon- 
struieren wie  die  Franzosen. 

Füi  dieses  psychologische  Subjekt  ist  es  vollkommen 
gieichgülLig,  welchem  der  sogeuaunten  Redeteile  es  von  der 


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Blielgpiinkfc  d«i  QedAehtaiiiaeB.  259 

Grammatik  zugewiesen  wird.  Wenn  ich  der  Dame  Blu- 
men zu  schenken  beabsichtige  und  den  Blickpunkt  meines 
Gedächtnisses  darauf  richten  will,  an  welchem  Tage  ihr 
Geburtstag  sei,  so  wird  der  Tag  zum  psychologischeu  Sub- 
jekt und  es  ist  auch  nicht  der  kleinste  Unterschied  zwischen 
dem  Satze  «am  soundsovielten  ist  ihr  Geburtstag"  oder  »den 
soandsorielten  ist  ihr  Geburtstag"  oder  «der  soundsovielte 
ist  ihr  Geburtstag",  trotzdem  das  letzte  Mal  ein  grammati- 
sches SLibjekt  dazustehen  scheint,  das  jedoch  für  mein 
iSprachgt^iüiil  nicht  anders  als  das  Adverbium  der  Zeit  ver- 
standen  wird. 

Es  kann  uur  eine  Vermutung  .sein,  ist  aber  eine  recht 
wahrscheinliche  Vermutung,  dass  vor  der  Einführung  der 
Uezionsformen  unsere  kultivierten  Sprachen  sich  mehr  als 
nachher  an  die  Wortstellung  halten  mussten,  um  gleich  richtig 
erraten  seu  lassen,  welchen  Teil  des  Satses  jedes  Wort  ab- 
gebe. I^uuL  irlre  die  strengere  WortsteUmig  im  FransÖsi- 
schen  und  Englischen  entweder  ein  Atavismus  oder  ein 
Symptom  daflir,  dass  diese  Spradien  wie  das  Chinesisclie 
die  strenge  Wortstellung  wieder  n6tig  haben,  weil  sie  die 
deuüiclie  Flexion  Terloren.  Audi  die  für  unser  GefQlil  un- 
ertiftc^ebe  Freiheit  der  lateinischen  Wortstellung,  die  z.  B. 
bei  Ovid  leicht  sum  Bdsselsprungrätsel  wird,  liesse  sich 
sum  Teil  aus  der  ausserordentlichen  Uebersichtlichkeit  der 
FLexionssilben  erldftren.  Wieder  der  Wortstellung  mag  eine 
fest  geregelte,  vielleieht  sehr  musikalische  Betonungsordnung 
Toransgegangen  sein,  wie  sie  ja  auch  im  heutigen  Chinesisch 
noch  oder  wieder  eine  grosse  BoUe  spielt»  Der  Drang,  uch 
durch  starke  Betonung  Terstindlich  zu  machen,  ist  tief  in 
uns  eingewurzelt.  Es  sind  nicht  nur  ungebildete  Mensdien, 
welche  sidi  einem  Auslander,  der  kein  Wort  ihrer  Stäche 
▼mteht,  Terstibidlicher  zu  machen  glauben,  warn  sie  heftig 
schreien.  Aber  auch  die  Betonung  gehört  erst  dann  zur 
Sprache,  wenn  sie  konventionell  geworden  ist 

Der  Blickpunkt  des  Gedächtnisses  ist  nur  durch  Kon- 
vention abhiogig  von  Grammatik  und  Syntax.  Die  Syntax 
hat  aber  noch  viel  wenige  eine  Beziehung  zur  Wirklich* 


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260 


YIU.  Situfttioii  und  Sprache. 


keitswelt  als  die  Graimiiatik  oder  als  die  Worte.  Die  höhere 
Syntax  vorhält  sich  zum  Nutzen  der  Sprache  wie  der  Parade- 
marsch zur  Strategie.  Doch  auch  die  einfachste  Syntax  ist 
nicht  notwendig.  Die  Syntax  jeder  Sprache  ist  barbarisch 
für  jede  andere. 

Und  wer  Über  die  Feierlichkeit  der  Syntax  recht  rnis- 
bündig  lachen  will,  der  be.sinne  sich  auf  den  gasseubübi- 
schen  Sport,  der  kürzlich  auffjebracht  ■vvftid^'n  ist:  den  schein- 
baren Unsinn,  die  Verse  eines  bekannten  Liedes  von  hinten 
nach  vorn  zu  lesen.  Es  gibt  einfache  Lieder  (z.  B.  Uhlands 
^ Frühlingsglaube ") ,  bei  denen  der  kleine  Spass  über- 
raschend gut  gelincft.  Es  wäre  das  niclit  möglich,  wenn 
die  Wortkunst  des  Di  lu^rs  nicht  unabhängig  wäre  von  der 
Syntax,  wenn  sie  nicht  allen  Jüngern  .syntaktischen  und 
grammatischen  üüfen  gern  aus  dem  Wege  ginge.  Es  wäre 
aber  auch  nicht  möglich,  näre  die  Syntax  nicht  bedeutungslos 
für  die  Associationen  der  Worte  oder  Begritte  beim  Sprecher, 
nicht  bedeutungslos  für  die  Verknüpfung  der  Woiie  oder 
Begriffe  beim  Hörer. 

* 

Haben  wir  schon  früher  (Bd.  I.  S.  78)  in  der  Gram- 
matik der  Einzelsprachen  die  mensehliche  Notdurft  erkannt, 
die  rieh  nach  Ideinen  menschlichen  Interesse  ein  maogel- 
haftee  Register  für  einen  mangelhaften  Weltkatelog  ordnete, 
80  wissen  wir  jetzt  nach  einer  genauem  Betrachtung  der 
grammatbchen  Kategorien,  dass  weder  die  Redeteile  noch 
die  Form  der  Redeteile,  noch  die  Znsammensetaung  su 
Sitsen  zu  der  Wirklichkeitswelt  passen.  Ist  schon  die 
Sprache  Oberhaupt  mit  Ihren  Worten  oder  Begriffen  kein 
SchlOasel  der  Erkenntnis,  kein  passender  Schlfissel  fttr  die 
Welt,  so  ist  die  Grammatik  der  Sprache  noch  weniger 
mit  einem  Schlüssel  zu  vergleichen.  Sie  w%re  denn  wie 
ein  wächserner  Schlüssel,  weich  und  unbrauchbar,  anstatt 
einer  wächsernen  ICatrize  ron  einem  Schlosse.  Und  auch 
dieser  Vergleich  noch  wftre  fislsch,  wenn,  wir  an  die 
Grammatik  erkenninistheoretische  Forderungen  stellen.  Die 


Philotophiache  Grammatik. 


261 


Daten  unserer  Zufallssinnc ,  die  wir  nach  der  urältesten 
Hypothese  für  eine  objektive  Wirklichkeitswelt  halten  müs- 
sen, sind  höchstens  adjektivischer  N^ur,  die  angenommenen 
Ursachen  di66er  adjektivischen  Daten  nennen  wir  Dinge, 
die  Zweckmittd|ninkte  ttuJidier  Zmiandsgruppen  nennen 
wir  Thfttigkeiten.  Noch  nnentwirrbarer  fliessen  die  Bedeu- 
tung«! der  Deklinstions-  und  Konjugationsfcnrmen,  flieeeen 
die  Bedeutungen  der  Besiehungsredeteile  durcheinander. 
Ui^  auch  der  l^ste  Halt,  die  K^gorie  dar  Qnantitilt  oder 
das  Zahlwortf  entglitt  uns,  da  eich  die  ZaUen  heransstellten 
als  Erfindungen  ohne  Begrifiswert,  da  nur  die  ITmlil  2, 
der  Korrelatbegriff  der  Gleichheit,  der  Begril^prache 
verblieb. 

Und  so  Ware  es  an  der  Zeit,  den  Traum  von  einer  puio- 
philosophischen  Grammatik  zu  Ende  zu  träumen.  Es  gibt*^^^ 
keine  allgemeine  Ch-ammatik,  geschweige  denn  eine  philo-  »Mk. 
sophische  Grammatik.  Ich  habe  mir  irgendwo  einen  Xarren 
erfiinden,  der  sich  mit  einem  Stadtplane  von  Königsberg  in 
Paris  zurechtfinden  wollte.  In  den  Geisteswissenschaften 
gibt  es  80  etwas.  Warum  sollte  man  nicht  einen  allge- 
meinen, einen  philosophischen  Stftdteplan  entwerfen?  Jede 
Sirasse  mündet  in  eine  andere.  Abgesehen  von  den  Auf- 
nahmen, lieber  den  Fluss  führt  am  Ende  der  Strasse  eine 
Brücke.  Abgesehen  von  den  Ausnahmen.  Der  arme  Teufel, 
der  sich  nach  einem  solchen  philosophischen  Städteplan 
richten  wollte,  wäre  so  weise  wie  der  Schüler  einer  |dulo- 
v(i|>lnschen  Grammatik.  Wir  sind  heute  nicht  mehr  so  « auf- 
geklärt", wie  J.  B.  Meiner  (seine  allgemeine  Sprachlehre 
erschien  in  demselben  Jahre  wie  Kants  Vemunftkritik), 
welcher  in  allen  Sprachen  nur  Kopien  eines  und  eben  des- 
selben Originals  sah,  unseres  Denkens  nämlich.  Aber  auch 
die  neuesten  Versuche  einer  philosophischen  Grammatik  ge- 
stehen unfreiwillig  die  Unmöglichkeit  des  Unternehmens  ein, 
A.  Stöhr  gibt  in  seiner  .Algebra  der  (Tranimatik"  (vergl. 
besonders  S.  15)  niemals  eine  vollständige  Uebersicht  aller 
möglichen  Be/.iehungen,  sondern  bestenfalls  nur  reiche  und 
Ubersichtliche  Beispiele.  Es  gibt  keine  Philosophie,  es  gibt 


262 


YUI.  Siiaation  und  Sprache. 


nur  rhilosophien.  Es  gibt  kerne  Grammatik,  es  gibt  nur 
Grammatiken.  Es  gibt  keine  Logik,  es  gibt  nur  Logiken. 
Und  die  lebendige  Wirklichkeit  sprengt  die  Fesseln  der 
Philosophien,  der  Grammatiken  und  der  Logiken,  wie  das 
lebendig  kristallisierende  Wasser  im  Felsenspalt  den  uraften, 
toten  Feben  sersprengt. 


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i 


Sprache  und  Logik. 


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1.  Begriff  and  Wort. 


Die  Loj^ik  stellt,  wie  die  Grammatik,  allgcmrine  Hegeln 
auf.  Di«'  Grammatik  der  eigenen  Sprache  lehrt  nicht,  wie 
man  ^[irechen  soll  odnr  wird,  sondern  nur,  wie  man  spricht 
oder  gesprochen  hat,  wolür  sich  eben  nur  der  Grammatiker 
interessiert.  Die  Grammatik  einer  fremden  Sprache  erHihrt 
man  ebenfalls  am  besten  durch  die  Uebung;  immerhin  kann 
die  Grammatik  einer  fremden  Sprache  nützlich  sein,  wenn 
sie  von  der  Grammatik  der  eigenen  abweicht. 

Die  Logik  lehrt  nun  ebenso.'  nicht  wie  man  denken 
soll  oder  wird,  sondern  nur  wie  man  denkt  oder  gedacht 
hat,  wa.s  doch  nui  den  Logiker  interessiert.  Nützlich  kann 
uns  nur  eine  Logik  der  Fremden  werden.  Wir  selbst  sind 
bei  unserer  eigenen  Denkthätigkeit  um  so  weiter  von  der 
Anwendung  der  Logik  entfernt,  je  sachlicher  wir  uns  an 
die  Denkaufgabe  halten.  Und  ich  möchte  behaupten,  dass 
die  berähmten  Denkfehler,  die  Sophismen  und  Faralogismen, 
nienalB  Ton  NiehÜogikem  gemacht  worden  wlren.  Denn 
das  natOrliche  Gehirn  denkt  gar  nicht  ungegenstftndlich, 
wendet  gar  keine  Regeln  an,  sondern  urteilt  und  schliesst 
vielleicht  sogar  genau  so  instinktiT  wie  das  Tier.  Erst  der 
redende  Mensch  dachte  .logisch*.  Es  ist  fast  lustig,  dass 
Logik  Tom  Xo^o?  stammt,  der  doch  nicht  im  Anfang  war. 

Das  YerhSltnis  zwischen  Begriff  und  Wort  kOnnte  auf-  0«s1mb 
schlussreich  werden  fUr  das  Yerhftltais  zwischen  Denken  und  gp^^^, 
Spredien.  Wir  erUAren  Denken  und  Sprechen  immer  ao& 
neue  für  identisch  und  müssen  doch  auf  Schritt  und  Tritt 
angeben,  dass  der  Spracl^ebrauch  immer  wieder  einen 


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266 


1.  fi«griff  aad  Wort. 


Unterschied  mache  zwischen  Denken  und  Sprechen,  dass 
also  die  Identität  nur  auf  Gnind  einer  besonderu  Detiiiiliun 
beider  Begriffe  zu  Recht  bestehe.  Reden  wir  doch,  ohne 
dem  Sprachgebrauch  Gewalt  anzuthun,  sowolil  von  einem 
gedankenlf>8en  Sprechen  als  von  einem  nicht  nur  wortlosen 
Denken  (was  ein  inneres  Sprechen  sein  kann),  sondern  ge- 
radezu von  einem  vorsprachlichen  Denken  (B.  I.  108  f.). 

Zunächst  möchte  ich  in  spriuliliiher  Beziehung  be- 
merken ,  dass  der  Begriff  Denken  wirklich  nicht  völlig  der 
KorrelatbegnJl'  von  Sprechen  ist.  Eigentlich  müssten  wir 
ein  besonderes  Verbum  für  die  Anwendung  der  Vernunft 
besitzen,  das  etwa  dem  franz&dschen  raisonner  entspräche. 
Die  einstige  Ueberaelsiuig  diesoi  Wortes,  «vemlliifldn*  nlm- 
lieh,  hat  wegen  ihrer  uD|^sdiickifcen  Büdimg  emen  iadebi- 
den  Beigeschmack  bekommen.  Unser  Begriff  Denken  wQrde 
dann  ftür  die  Bedeutung  übrig  bleiben,  welche  such  raisonner 
im  Sinne  Ton  Schliessen  besitzt,  und  wir  kOmten  unsen 
Ausdruck  «schliessen*  als  den  sprachlichen  Konrelatbegriff 
für  Denken  gebrauchen.  Ich  will  mit  diesen  Bemerkungen 
keine  neuen  VoischlSge  machen;  ich  will  nur  auf  die 
Schwierigkeiten  der  Tenmnologie  aufmerksam  machen.  Nach 
dem  gegenwärtig  üblichen  Spndigebrauche  Tcnrirren  sich 
nämlich  die  Korrelatbegriffe  mit  ihrer  Komplikation.  Wir 
gehen  einerseits  Tom  B^riff  zum  Urteil,  zum  Schlüsse  und 
zum  Denken  Aber,  anderseits  vom  Worte  zum  Satze,  zum 
Schlüsse  und  zur  Sprache.  Auf  den  beiden  untern  Stufen 
ist  die  Besiehut^  der  beiden  Korrelatbegriffe  noch  einiger- 
massen  deutlich,  auf  der  dritten  Stufe  fehlt  die  sprachliche 
Unterscheidung,  auf  der  vierten  Stufe  herrscht  vollkommene 
Wirrnis.  Durum  muss  es  nützlich  sein,  auf  einige  Be- 
nehmten  zwischen  Begriff  und  Wort  hinzuweisen. 
BisrUto  Ich  schicke  voraus,  was  an  anderer  Stelle  weiter  aus- 
jJJ*^  geführt  wird,  dass  diese  Stufen:  Begriff,  Urteil  und  Schluss 
der  herkömmlichen  Logik  nachbenannt  sind  und  mit  der 
psychologischen  Entstehung  dessen,  was  wir  so  nennen,  gar 
nichts  zu  thun  haben,  dass  dem  Begriffe  fast  immer  ein 
Urteil,  dem  Urteile  fast  immer  ein  Schluss  vorausgeht  und 


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B0griffe  and  BiliUr. 


267 


dass  aus  diesem  Verhältnisse  übrigens  die  Wertlosigkeit  der 
Loj/ik  deutlich  wird.  leb  schicke  voraus,  dass  unsere  so- 
prn  iimten  V(  rsl«  Uuiigeri ,  welche  wir  durch  Begrifie  oder 
Worte  auszudrücken  glauben,  erst  durch  unsere  Bemühung, 
Begriffen  oder  Worten  ein  Objekt  unterzuschieben,  in  unser 
Bewusstsein  hinein  kommen.  Fast  alle  diese  Vorstellungen 
sind  bei  normaler  Geistesthätigkeit  freilich  Erinnerungen, 
aber  nicht  irgendwie  wahrnehmbare,  wenn  auch  noch  so 
abgeblasste  Krmaerungsbilder,  sondern  einzig  und  allein 
Thätigkeiten  unseres  Gedächtnisses  (vergl.  auch  Band  I. 
S.  412).  Ware  dem  nicht  so,  wäre  die  Erinnerung  nur 
ein  Erinnerungsbild,  welches  durch  Wort  oder  Begritl"  her- 
vorgerufen wird ,  so  hätte  die  Sprache  gar  keine  solche 
Bedeutung  für  den  Menschen,  so  könnte  das  Tier  ohne 
Sprache  ebenso  gut  denken  wie  der  Mensch.  Denn  es  läge 
gar  kein  Hindernis  vor,  dass  z.  B.  die  Geruchsempfindungen 
dem  Hunde  ebenso  Vorstellungen  brächten  wie  die  Worte 
dem  IKwushioa  und  daas  dar  Hund  ao  allm&hlich  daau  kftme, 
neb  mit  Hilfe  seines  Geraelies  sur  Wissenscliafl;  zu  erbeben 
wie  der  Henscb  mit  Hilfe  der  Lautspracbe.  Dagegen  jedocb 
strftubt  sieb  unsere  Uebeneugung  vom  inneren  Leben  oder 
Ton  der  Psjdiologie  des  Hundes.  Wir  kdnnen  es  uns  nidit 
anders  vorstellen,  als  dass  beim  Hunde  die  gegenwärtigen 
QerDcbe  bloss  Ideenaasociationen  knflpfen  und  dass  bei  der 
flflobtigett  und  mangelbaften  —  leb  mOebte  sagen  —  Arti- 
kulation d«r  Gerudisempfindungen  aucb  die  Ideenaasociationen 
der  Artikulation,  der  weiteren  Braucbbaikeit  entbebren. 
Hört  der  Henscb  ein  ibm  woblbekanntes  Wort,  so  steigt 
nur  in  Ausnabmsföllen  ein  Bild  Tor  ibm  auf,  was  dann  fast 
patbologiscb  als  Sinnestftuscbung  aufgefasst  werden  kann; 
in  normalen  Yerblltnissen  wird  nur  eine  Kette  oder  ein 
Gewebe,  ein  Nets  oder  noch  ricbtiger  eine  kleine  Welt,  ein 
IGkrokosmos  von  IdeenassodatUmen  angw^t,  fast  obne  Be* 
toUgong  der  Sinnesorgane,  fast  gans  obne  Bewusstsem,  und 
SU  diesem  Mikrokosmos  (der  nicbt  eindlimensional  wie  eine 
Kette,  der  nicht  zweidimensional  wie  ein  Gewebe  oder  dn 
Nets,  sondern  dreidimensional  wie  eine  Welt  ist)  gebOren 


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268 


I.  Begriff  und  Wort. 


auch  unzählige  Ergebnisse  von  Schlüssen  und  Urteilen,  die 
also  dt?m  Gebrauche  des  Be^ififes  vorausgehen,  wie  sie  einst 
der  Entstehung  des  Begriffes  vorausgegüiigen  sind. 

Was  wir  für  Vorstellui^eu  halten,  wenn  wir  beim  Aus- 
sprechen oder  Hören  eines  Wortes  mitunter  das  Bedürfnis 
nach  einem  Hslt  in  der  WirUichkeitswelt  f&Uen,  das  ist 
fast  immer  xmr  eine  EzemplifikatioD,  die  absldiiliche  innere 
Aiiftnerksamkeit  auf  irgend  ein  Beispiel.  So  wenn  wir  uns 
vergewissern  wollen,  ob  wir  uns  bei  den  sogenannten  kon- 
kreten Worten  wie  Tier,  Säugetier,  Raubtier,  Hund,  Pudel 
wirldieh  etwas  d«iken  kftnnen.  Es  ist  psychologisch  inter- 
essant zu  beobachten,  wie  wir  in  solchen  FSUen  immer  su 
dem  nichsüiegeiiden  Beispiele  greifen.  Seitdem  die  Ge- 
lehrten Bflcher^  und  Schreibtischmenschen  geworden  sind, 
wird  man  z.  B.  fast  jedesmal,  wenn  ein  Psychologe  den  Be- 
griff Ding  mit  einer  Vorstellung  belegen  will.  Tisch,  Feder 
und  dergleichoi  erwShnt  finden.  Das  BeispielmSssige  der 
Vorstellung  ergibt  sich  noch  schärfer  bei  abstrakten  Be- 
griffen wie  Mut,  bei  Besiehungsbegriffen  wie  aber  und 
selbst  bei  Verben  wie  k&mpfen.  Ich  halte  es  nicht  fllr 
unmöglich,  dass  ein  flachtig  vorgestelltes  Beispiel  fttr  aber, 
f&r  Mut  und  fürkftmpfen  die  gleichen  Elemente  aufweist: 
zwei,  die  einander  gegenüberstehoi. 

Es  liegen  also  den  Begriffen  oder  Worten  wohl  Sinnes- 
empfindungen und  Widimehmungen  zu  Orunde,  nicht  aber 
Vorstellungen  oder  Eriiinei-ungsbilder.  Die  Verwirrung  in 
der  psychologischen  Terminologie  ist  da  freilich  eine  voll- 
ständige. Man  bat  Vorstellungen  und  Wahrnehmungen  zu 
nahe  aneinander  gebracht  und  war  darum  immer  geneigt, 
das  Denken  oder  Sprechen  auf  Vorstellungen  aufzubauen* 
Anderseits  sind  doch  wieder  nur  die  Sinnesempfindungen 
die  unmittelbaren  Elemente  der  Begriffe;  denn  beim  Ueber- 
gange  von  Sinnesempfindungen  zu  menschlichen  ^^'ahr- 
nehmungen  dürften  doch  in  der  Entwickelung  der  Organis- 
men unzählige  sprachäbnliche  Urteilsdifferentiale  mitgewirkt 
haben.  Wir  halten  uns  vorläufig  daran,  dass  nicht  die  Vor- 
stellung es  ist,  welche  dem  Worte  oder  Begriffe  zu  üi-unde 


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Begriff  und  ürteiL 


m 


lie^ren  mu>s,  dass  vielmehr  das  Wort  oder  der  Begriff  es 
ist,  was  eine  Vorstellung  hervorrufLu  kann. 

Die  gleiche  Verwirrung  herrscht  zwischen  Begriti  und  «.iKriS 
Urteil.  Zwischen  den  Korrelatbefipriffen  Wort  und  Satz  kann 
diese  Verwirrang  nicht  so  herrschen,  weil  Wort  und  Satz 
äussere  Srach«ni]iigeii  sind,  die  jedes  Kind  auseinander 
halten  lernt.  Das  ist  ja  Idar,  dass  der  Sali  «der  Füdel  ist 
ein  Hund*  oder  ,der  Hund  ist  ein  Tier*  mehr  ist,  ab  etwa 
das  Wort  Pudel  oder  Hund.  Für  die  Fejchologie  jedoch 
ist  es  gar  sehr  fraglich,  ob  das  Urteil  »der  Ptadel  ist  ein 
Hand*  irgendwie  mehr  ist  als  der  Begriff  der  Pudel,  ob 
eine  ge^visse  Menge  Alkohol  dadurch  vennehrt  wird,  dass 
ich  Wasser  zugiesse.  Es  kann  sogar  Torkommen,  dass  der 
Alkohol,  als  Ursache  einer  Wirkung  auf  mich,  durch  Wasser 
weniger  wird.  Ohne  Bild:  es  kann  ▼orkonimen,  dass  die 
VerwSsserung  eines  Begriffs  durch  allzu  breit  getretene  Ur^ 
teile  den  Begriff  abschwftcht.  Mir  scheint  es  in  dem  wirk* 
liehen  Qeistesleben  des  Menschen,  das  man  nicht  den 
Schulbeispielen  der  Schulpsychologie  gleichsetsen  darf,  nur 
eine  Frage  der  Aufmerksamkeit,  ob  wir  den  Begriff  oder 
das  Urteil  als  das  Primare  empfinden  sollen.  In  Kants 
analytischen  Urteilen  (die  wertlos  sind  und  Tielleicht  trota- 
dem  die  dnzigen  Urteile,  die  es  gibt)  wird  das  VerhSltnb 
klar:  die  Urteile  gehen  aus  dem  Begriff  ▼on  sdbst  herror, 
weil  die  Begriffe  nur  Oktmomisch  zusammengefasste  Urteile 
sind.    , Begriffe  sind  potentielle  Urteile*  (Riehl). 

An  dieser  Stelle  glauben  wir  nun  eine  deutliche  Dif- 
ferenz zwischen  Begriff  und  Wort  wahrzunehmen  und  mtlssen 
8ofoi-t  vermuten,  dass  auf  einer  höhem  Stufe  auch  Denken 
und  Sprechen  oder  Yemunftgebraucli  und  Sprachgebrauch 
verschieden  sein  werde.  Ich  will  darauf  zurückkommen  und 
bitte  gleich  hier  zu  beachten,  dass  sich  der  Ausdruck  Sprach- 
gebrauch ganz  von  selbst  als  eine  entsprechende  Bezeich* 
nung  für  die  konkrete  Thätigkeit  der  Sprachorgane  er- 
geben hat. 

Worin  besteht  nun  der  wesentliche  Unterschied  zwi- 
schen Begriff  und  Wort?   Wie  mir  scheinen  will,  nur  in 


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270 


I.  Begriff  und  Wort. 


Wort  der  Richtung  der  Aufinerksamkeit.  Ich  richte  bei  dieser 
Wort-  P^y^^^ologischen  Untersuchimg  meine  Aufmerksamkeit  das 
kkng  eine  Mal  auf  das  Qerftuseh,  welches  meine  Sprachorgane  bei 
Herrorbringung  des  Lautkompkxes  Hund  su  stände  bringen« 
ich  richte  meine  Anfmerfcsemkeit  das  andore  Mal  auf  die 
Welt  Y<m  Associationen,  wdche  dieser  Lautkomplex  in  mir 
anregt.  Die  wichtigste  Fehlerquelle  aller  psychologischen 
Beobachtungen  fängt  an  mitauarbeiten,  die  Verftnderung 
nSmlich,  welche  Empfindung,  Wahrnehmung  oder  audi 
Selbstbeobachtung  eben  durch  die  Aufkerksamkett  erlUirt. 
Was  dabei  herauskommt,  das  ist  schliesslich  immer  etwsa 
wie  die  Psychologie  eines  Psychologen,  nicht  die  Psycho- 
logie des  natürlichen  Geisteslebens.  Denn  wo  in  aller  Welt 
gibt  es  im  menschlichen  Denken  ein  Zentrum  fllr  die  Welt 
▼on  Associationai,  wenn  nicht  im  Worte?  Und  wo  in  aller 
Welt  gebraucht  der  natürliche,  der  Torphilosophische  Mensch 
ein  Wort  als  blosses  Geräusch,  ein  Wort  ohne  die  Asso- 
ciationen, die  es  zum  Begrilt  machen?  Diese  Verknüpfung 
ist  eine  so  zwingende,  dass  nicht  einmal  der  Blangwert  des 
blossen  Wortes  richtig  wahrgenommen  wird,  wenn  keine 
Associationen  sich  mit  dem  Klange  Terknüpfen.  Es  ist  be- 
kannt wie  schwer  es  Missionaren  wird,  den  Klang  der  Worte 
sogenannter  wilder  Völker  zu  fixieren;  das  liegt  nicht  nur 
daran,  dass  CS  an  einem  gemeinsamen  Alphabete  für  alle 
Sprachen  mangelt,  es  lie^t  auch  daran,  dass  das  völlig 
fremdartige  Wort  sich  dem  Hörer  Torerst  nicht  mit  anderen 
Klangen  der  ^deicht n  Sprache  associiert  Wir  brauchen 
nicht  bis  nach  der  SUdsee  zu  reisen  um  das  zu  beobachten. 
Der  Franzose  hört  zunächst  keinen  Unterschied  zwischen 
Hund  und  und;  der  Süddeutsche  hört  zunächst  keinen  Unter- 
schied zwischen  aiitniche  und  Autriche.  Es  ist  eine  Psyclio- 
lope  in  zweiter  Potenz ,  eine  Psychologe  der  psyrhologi- 
schen  Aufmerksamkeit,  welche  zwischen  Begrifi  und  Wort 
unterfschcidet  und  welche  auf  diesen  Unterschied  ein  System 
Ton  Urteilen  und  Schlüssen  mif bauen  kann,  welches  dann 
einerseits  dem  Bauernverstande,  anderseits  vom  Staudjjuukte 
einer  kritischen  Erkenntnistheorie  wie  eitel  Wortmacherei 


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Wort  nur  Klang  ohne  seine  AssociaUunen. 


271 


«sehemL  Man  hat  beida  Biditiiiigeii  der  Anfineriowinkeit  oIum 
in  solehe  Systeme  geliraeht,  man  hat  die  Aaaodationen  dee 
Begrifb  in  Regeln  des  Yemunfigebranchs  oder  in  der  Logik  «iattoMii. 
geordnet,  man  hat  die  WorlUftnge  in  Regeln  des  Sprach- 
gebrauchs oder  in  der  Grammatik  geordnet,  nm  am  Ende 
▼erzweifefaid  einzusehen,  dass  hogik  sich  ebenso  sehr  auf 
Grammatik  sttttst,  wie  Grammatik  auf  Logik.  Li  Wahr- 
heit hSngt  unser  Geisteslebeii  immer  nur  von  den  Asso- 
ciationen ab,  die  Ton  dem  Worte  oder  dem  Ässodations- 
sentrum  ausslraUen,  und  dieses  Blickfdd  des  Wortes  wieder 
hingt  ab  Ton  der  jeweiligen  Situation  unseres  Bewusstseins. 
0ie  jeweilige  Situation  unseres  Bewusstseins  tifigt  in  jedem 
Augenblicke  den  Keg  davon  Aber  Logik  und  Grammatik. 
Je  nach  der  Situation  des  Bewusstseins  kann  im  Geistes- 
leben des  natQrlichen  Menschen  der  blosse  Begriff  jede  Art 
▼on  ürteü  Tertreten,  aber  dann  auch  das  entsprechende 
Wort  jede  Art  TOn  Satz.  Kur  im  geisttötenden  Schulunter- 
richt werden  so  leere  Schulsätze  gebildet  wie  „der  Hund 
ist  ein  Tier",  wobei  dann  die  Psychologie  des  Psychologen 
zwischen  Begriff  und  Wort  unterscheiden  kann.  In  der 
Wirklichkeit  des  Bewusstseins  hängt  es  immer  davon  ab, 
wo  der  Blickpunkt  im  Blickfelde  gesucht  wird,  das  heisst 
wonach  gefragt  wird.  Ein  Jäger  sieht  in  weiter  Entfernung 
sich  etwas  bewegen  und  weiss  noch  nicht,  ob  es  ein  Wolf 
oder  ein  Hund  ist;  das  Tier  kommt  näher  und  der  Jäger 
denkt  «ein  Hund''.  Da  haben  wir  ein  ganzes  Benennungs- 
urteil und  ich  möchte  den  kennen,  der  mir  sagm  könnte, 
ob  dieses  Benennungsurteü  in  einem  Begriffe  oder  in  einem 
Worte  Terdichtet  ist.  Ein  Kind  traut  sich  nicht  in  ein  Ge- 
höft hinein,  weil  es  das  Bellen  eines  Hundes  wahrgenommen 
hat.  Das  Kind  sagt  ,ein  Hund"  und  eine  Welt  von  Asso- 
cintionen  liet^'t  darin.  Zunächst  das  Subsumtioiisurteil  ,der 
Hund  ist  em  llaubtier",  was  in  der  kindlichen  Zoologie 
etwa  so  viel  heisst  wie  »der  Hund  boisst*.  Sodann  liegt 
dann  das  Erwartungsurteil,  welches  entweder  nach  des 
Kindes  pij;(„iier  Erfahrung  oder  v.nvh  der  Erfahrung  des 
Menschengeschlechts  etwa  lautet  «der  Hund  wird  beissen**, 


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272 


I.  Begriff  und  Wort 


was  wieder  nur  eme  ttbertriebene  Avairuclisfonn  eines  UOg- 
lichkeitsiirteile  ist  Und  wieder  möchte  ich  den  kennen,  der 
mir  sagen  könnte,  ob  alle  diese  Associationen  sich  an  den 
Begriff  oder  an  das  Wort  Hand  knttpfen.  Noch  ein  anderes 
Etnd  hat  bisher  nur  Hunde  aus  Ponellan  oder  GKimmi  wahr- 
genommen und  erhält  nun  einen  lebendigen  Hund  sum  Oe- 
schenk.  Es  bemerkt,  dass  dieser  lebendige  Hund  Wirkungen 
herrorbringt,  die  an  dem  nachgemachten  Hunde  nicht  su 
beobachten  waren.  Der  Hund  frisst,  der  Hund  Uuft,  der 
Hund  bellt,  der  Hund  beisst,  der  Hund  atmet.  Bs  vollzieht 
sieh  in  dem  Kultuikinde,  und  wenn  es  das  Kind  eines  deut- 
schen Professors  wäre,  die  anthropomorphische  VoxsteUung, 
weldie  die  Grundhypothese  aller  Erkenntnis  ist  und  welche 
in  Urzeiten  auch  den  wehenden  Wind  und  das  flieesende 
Wasser  zu  Wirkungen  einer  persflnlii^en  Ursache  machte. 
£s  vollzieht  sich  die  Vorstellung  »der  Hund  lebt",  oder 
vielmehr  zunächst  i\o  Vorstellung  .dieser  Hund  lebt".  Hund 
oder  Wauwau  ist  ein  Eigenname,  beror  er  ein  Begriff  wird. 
Im  Eigennamen  ist  Klang  und  Bedeutung  noch  schwieriger 
zu  trennen.  Doch  auch  später,  wenn  das  erwachsene  Kind 
(wie  ich  es  einmal  gehört  habe)  Wauwau  sagt  und  sich 
irgend  ein  lebendes  Wesen  denkt,  möchte  ich  wissen,  was 
fUr  den  Begriff  übrig  bleibt,  Wenn  man  in  der  Seele  dieses 
Kindes  ,  Wauwau"  als  A.ssoclationszentrum  und  die  Asso- 
ciationen selbst  fortninimt.  Ueberall  im  wirklichen  Bewusst* 
seinslcben  ist  Beg^riff  nur  eine  kurze  Bezeichnung  für  die 
psycholog^isclu'  Thntsache.  dass  Lautkomplexe,  wenn  sie  einer 
Sprache  angehören,  Associationen  erzeuj^cn. 

Die  Suuinie  dieser  Thatsachen  nennen  wir  (liirehein- 
ander  Denken  oder  Vernunft  oder  Ve]-«fand  und  die  Wissen- 
schaft bemüht  sich  die  verschiedenen  Ausdrücke,  weil  sie 
einmal  da  sind,  mit  mehr  oder  weniger  Glück  prägnant  zu 
gebrauchen.  Die  vSunime  dieser  Thatsachen  i55t  aber  doch 
nur  die  Sumiin  If^r  Thittiirkeiten  unseres  Denkorgans,  welche 
sich  in  kemer  U  eise  tn  ni^Mi  lassen  von  den  ThUtigkciteTi, 
welche  wir  wieder  mi"  t mem  andern  Ausdrucke  Sprache 
nennen.    Für  den  natürlichen  Menschen  ist  der  Gebrauch 


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Denkgantse. 


278 


seiner  Vernunft  uud  der  Gebrauch  seiner  Muttersprache  das- 
selbe; und  der  Witz  der  Sprache  hat  es  recht  gut  gefügt, 
dass  wir  die  zu  einer  sogenannten  Regel  gewordene  Ge- 
wohuheit.  welche  aus  dem  Gebrauche  einer  Sprache  zwischen 
den  Menschen  entstanden  ist,  in  scheinbar  anderer  Bedeutung 
Sprachgebrauch  nennen.  Es  ist  aber  gar  keine  andere  Be- 
deutung. Würden  wir  menschliches  Thun  ebenso  iiatui- 
notwendig  sehen  wie  die  übrige  Welt,  so  könnten  wir  mit 
demselben  Rechte  sagen,  es  ist  ein  Formengebrauch  der 
Natur,  dass  der  Hund  einen  Schwanz  kat 


Wenn  man  bedenkt,  dass  die  drei  obersten  Grundsätze  Satz  vom 
der  Logik,  der  Grundsatz  vom  Widerspruch,  von  der  Iden-  ^J^J^. 
tität  uud  vom  ausgeschlossenen  Dritten,  eigentlich  nur  ver- 
schiedene Formulierungen  des  ersten  Grundsatzes  sind,  dass 

feriier  dieser  erste  Grundsatz  vom  Widerspruch  {was  ist, 
das  kann  nicht  zu  gleicher  Zeit  nicht  sein,  kann  nicht  ver- 
neint werden)  womöglich  noch  weniger  besagt,  als  eine 
Tautologie ,  dass  endlich  aus  dieser  absoluten  Null  des 
Denkens  alle  die  schönen  Denkgesetze  hervorgegangen  sein 
sollen ,  so  möchte  man  beinahe  a  priori ,  also  rein  looisch 
zu  dem  Ergebnis  kommen,  dass  die  T^ogik  lür  das  Denken 
nicht  mehr  bedeute,  als  die  Linien  der  Meridiane  und  Breite- 
gradf^  für  das  Leben  auf  der  Erde,  ein  schattenhaftes  Netz- 
werk, vun  dem  die  Fauna  und  Flora  nichts  wissen,  trotz- 
dem hie  danach  eingeteilt  werden.  Nur  der  Schüler  sieht 
dieses  Netzwerk  gröblich  auf  seinem  dlobus. 

Wir  wollen  also  festhalten,  dass  Logik  auf  dem  Satz 
vom  Widerspruch  ruht.  Widerspruch  aber  nur  in  Worten 
(vergl.  IL  50)  existiert. 

Der  Logiker  kann  zur  Begründung  seiner  Wissenschaft  Deuk- 
schliesslich  nichts  anderes  thun  als  auf  die  Notwendigkeit  s**'^«- 
hinweisen,  mit  der  wir  unsere  Schlüsse  ziehen. 

Dieses  subjektive  Qef&hl  der  Evidenz  würde  aber  ganz 
falsch  gedeutet,  wollte  man  daraus  für  die  logischen  Regeln 
MaothB«r,  Beitrtge  <a  einer  KriUk  der  Sprache.  III.  18 


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274 


I.  Bei^riÜ  und  Wort 


und  unser  Denken  objektive  Verknüpfung  von  Omod  und 
Folge  ableiten*  Auch  der  Stein  muss  fallen  respektive 
schwer  sein.  Könnte  er  recbnen  wie  wir,  er  könnte  seine 
«Fallgesetie*  entdecken.  Wir  denkenden  Menschen  begehen 
oft  den  Fehler  su  meinen  oder  wenigstens  sn  sagen,  der 
Stein  falle  nach  diesen  Gesetzen,  das  heisst  doch  wohl  der 
Fall  sei  die  Folge  der  Gesetae.  Aber  die  Oesetae  sind  doch 
nur  daa  Spatere,  die  Formel  Ab  Gehirn  denken  wir  daa 
Striktere,  die  Formel,  als  Körper  -  thnn  wir  das  Frühere.  Wir 
fallen  und  sind  schwer. 

So  wenig  aber  als  die  Fallgesetse  jemals  Einflnss  ge- 
nommen haben  auf  daa  Fall  eines  Körpers,  so  wenig  be- 
kümmern  unsere  Denkgesetae  das  Denken.  Nur  wenn  es 
einen  Gott  ^be  und  wir  könnten  uns  ihn  so  schulmeister- 
lich denken,  dass  er  erst  die  FaUgesetse  nicht  entdeckt, 
sondern  erfunden  und  danach  das  Sonnen-  und  Stemen- 
systera  gebaut  hätte,  nur  dann  wäre  das  Fallgesetz  oder 
die  Gravitation  der  Grund  des  Falls  oder  der  Planetenbahnen. 
Und  so  wären  die  logiscLen  Gesetze  der  Grund  unseres 
Denkens,  wenn  wir  sie  erfunden  hätten  anstatt  sie  zu  ent- 
decken. So  schuhneistwlich  ist  aber  nicht  einmal  der  Mensch 
gewesen. 

Gtrude  aus  den  geschulten  Köpfen  ist  der  Glaube  an 
den  Wert  der  Logik  am  schwersten  herauszubringen.  Ein 
verhältnismässig  vorurteilsfreier  Mann  wie  Friedrich  Paulsen 
kann  gelegentlich  da,  wo  er  die  Unhaltbarkeit  des  Atomis- 
mus aus  der  Tiefe  des  Gemüts  heraus  darlegen  will,  den 
ketzerischen  Satz  niederschreiben:  „Die  Zeit  dürfte  über- 
haupt Torüber  sein,  wo  man  glaubte,  mit  logischen  De- 
monstrationen die  Notwendigkeit  dieses  oder  jenes  Welt- 
begriffs ausmachen  zu  können"  (Philosophie  214).  Wo  es 
sich  aber  nicht  um  einen  Wolfborrfiti"  hnTulolt,  sondern 
um  eine  Kleinigkeit  wie  den  Begntf  der  Seelensubstanz,  da 
stallt  Paulsen  eine  Behauptung  auf,  die  eigentlich  ver- 
diente in  eine  tote  Sprache  übersetzt  zu  werden  ( Philosoi)hie 
375):  „Man  kann  zwei  Arten  von  Denknotwendigkeit  unter- 
scheiden; die  echte  oder  logische  und  die  falsche  oder 


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Denl^eMtse. 


275 


psychologische."  Die  unechte  oder  psycholocrische  Not- 
wendigkeit entsprinsfe  au«?  der  Gewöhnung.  Weiiii  Panlsen 
uns  nur  saET^^n  wfilltt  ,  ^vln  ;uis  dii'  echte  oder  logisi  hf^  Sotr 
weiidi^^ieit  entspringt'^  .Was  wir  oft  oder  immer  sehen, 
hören,  denkon .  erscheint  uns  zulet/.t  als  notwendij^.  sein 
Gegenteil  als  unmugiicli."  Ganz  richtig;  nur  dass  diese  vor- 
treffliche Erklärung  der  Denknotwendigkeit  auf  alles  logi- 
sche Schliessen  j>asst,  welches  für  uns  ja  nie  etwas  Anderes 
ist  als  das  rückwärtsgehende  Aufdröseln  eines  durch  In- 
duktion gewonnenen  Begrißs.  nichts  uls  Anwendung  einer 
angewöhnten  Klassifikation.  Alles  Schliessen ,  alle  soge- 
nannte Denknotwendigkeit  ist  psychologische  Thiitigkeit;  die 
rein  logischen  Akte  wären  eben  psychisch  ohne  Psyche. 

£s  ist  eine  bekannte  Beobachtung  und  ich  habe  sie  zu 
Zeiten  nervöser  Ueberreizung  oft  und  stark  an  mir  selbst 
wahrgenommen,  dass  in  der  gleichen  Angelegenheit  vor 
l^flch  «»n  Paariger,  naeh  Tisch  ein  hefriedigender  Ausgang 
iDr  wabracheunlich  oder  sicher  gehalten  wird.  Nun  besteht 
die  DenkÜiStig^eit  einer  solchen  Annahme  ans  Vorstellen 
und  Schliessen.  Wir  stellen  uns  bei  gut  genährtem  KOiper 
die  günstigeren  Thatsachen  vor,  das  heisst  wir  erinnern  uns 
leichter  das  heisst  bequemer  und  lieber  an  die  günstigen 
Schlrowglieder  als  an  die  ungOnstigen.  Wer  das  Ar  mate- 
rialistiflch  hidte,  der  übersihe,  wie  ich  gerade  alle  Logik 
unter  die  Psychologie  bringe.  Wenn  anders  Kritik  der 
Sprache  die  einzig  mögliche  Erkenntnistheorie  ist  und  dann 
auch  die  einsig  mögliche  P^ehologie. 

* 

Man  bietet  gewöhnUch  Schulbeispiele,  wenn  man  die 
aUe  lichre  vom  Begriff,  vom  Urteil  und  vom  Schlüsse  schul- 
gerecht vortragen  wilL  Ich  will  von  einem  Satse  ausgehen, 
den  ich  ehimal  von  einem  Wiener  Komiker  hörte. 

«ehester  cheese,  dös  muss  a  Kas  sein,  weil^s  unter 
KSse  steht  so  sagte  der  Hanswurst  und  alle  Zuhörer 
lachten  und  ich  musste  noch  Jahre  später  lachen,  so  oft 
ich  auf  einer  Karte  Ghester  cheese  fand. 


276 


1.  Begriff  and  Wort. 


Es  steckt  in  dem  Satze  eine  Fülle  von  gutem  Humor. 
Man  muss  lächeln,  weil  der  Hanswurst,  der  eine  so  feine 
Speisenkarte  liest,  ihre  Ausdrücke  nicht  versteht.  Man  würde 
also  schon  lächeln,  wenn  er  einfach  sagen  würde:  «Chester 
Tschehse?   Was  ist  das?* 

Man  muss  laut  latheu,  weil  der  Hanswurst  ganz  richtig 
hochdeutsch  „Käse*  vorliest,  aber  dann  ganz  gemütlich  bei 
seinem  mundai-tlichen  „Kas"  bleibt.  Diese  Verbindung  von 
falschem  Englisch,  von  natürlichem  und  geschraubtem  Deutsch 
wirkt  stark  komisch. 

Die  ganze  Wucht  des  Spasses  scheint  mir  aber  doch 
daher  zu  kommen,  dass  der  Hanswurst  eine  Selbstrerstind- 
lichkeit  mit  dem  ganzen  Aufwand  logischer  Worte  darlegt. 

Der  Hanswurst  will  nach  Tisch  einen  E&se  essen.  Er 
würde  zu  Hause  »an  Kas*  Terlangen  und  die  Frau  wttrde, 
je  nachdem,  ihm  einen  Quargl  oder  so  etwas  bringen.  Im 
feinen  Restaurant  Bndet  er  auf  der  Karte  anstatt  eines 
«Qaargls*  zehn  Arten  Eise.  Damit  eifUirt  sein  schlichter 
Wunsch  eine  Hemmung,  der  Hanswurst  kommt  zum  Be- 
wussfaMin,  das  heisst  zum  Wort  oder  zum  Denkm  und  sucht 
sich  diflcursir,  eben  in  seinem  Satze,  klar  zu  machen,  dass 
das  ihm  bisher  so  unbekannte  Wort  «Chester  cbeese*  auch 
so  etwas  Gutes  wie  ein  »Kas*  sein  mtlsse.  Er  denkt  und 
spricht  Ttälig  logisch  und  das  eben  ist  so  unwiderstehlich 
komisch. 

Mm  ordne  nur  ein  wenig  die  Begriffe  und  man  wird 
sofort  sehen,  dass  der  Hanswurst  einen  musterhaften  Schluss 
nach  der  Figur  Barbara  gezogen  hat. 

Major:  Jeder  vEäse"  ist  (nach  allen  meinen  bisherigen 

Erfahrungen  schliesslich  doch  auch)  «a  Kas*". 
Minor:   (dieses  merkwürdige,   unaussprechliche  Tier) 
ehester  cheese  ist  (gewiss,  da  doch  auf  Speisenkarten 
Verlass  ist  und  der  Kellner  ein  emster  Mensch  zu 
sein  scheint)  ein  Käse. 
Conclusio:  Also  ist  Chester  cheese  (.Tschehse)  ein  Kas. 
Wobei  ich  bemerke,  dass  der  Schluss  sogar  mit  apodikti- 
scher Qewissheit  auftritt;  „es  muss  a  Eas  sein;"  femer 


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Begriff  und  Ding. 


277 


dass  mein  Hanswurst  mit  seiner  Psychologie  den  Minor 
nicht  so  ausdrückt,  wie  ich  ihn  eben  formuliert  hahe,  son- 
dern —  als  ob  er  mir  zu  Hilfe  kommen  wollte  — :  Chester 
cheese  heissf  Kllse.  gehört  unter  den  Gattungsbegriff  Käse, 
»weil's  unter  Käse  sfrht." 

Was  kann  uns  nun  die  Wissenschuft  des  Denkens,  die 
Logik,  von  dem  Stückchen  Chester  erzählen,  welches  dem 
Hanswurst  vorgesetzt  wird?  Oder  auch  von  dem  gedachten 
Stückchen,  welches  er  bestellt  hat?  Nichts.  H(  iiie  Stücke 
gehören  in  die  Psycholugie,  wo  dann  dus  Bestelite  wohl  ein 
.Bri^^-iÜ*,  das  Gebrachte  wohl  cme  , Anschauung"  heissen 
wird.  Und  ich  wül  nicht  vergessen,  daran  zu  mahnen,  dass 
selbst  Psjthologie  eigentlich  n\ir  d&a  ist,  was  die  Physio- 
logie noch  nicht  weiss  und  wofür  wir  uns  darum  mit  blossen 
Worten  begnUgen  mtJssen.  Psychologie  ist  die  Metaphysik 
der  Physiologie,  die  „Metapiiy Biologie möchte  ich  sagen. 

Das  wirkhehe  Stückchen  Käse,  das  jedermann  ein  ,Ding* 
nennen  würde,  ist  also  eine  Anschauung;  ich  brauche  nicht 
zu  erklären,  dass  wir  eben  vom  Wesen  dieses  Dings,  von 
dem,  was  in  ihm  oder  hinter  ihm  steckt,  von  seinem  »Ding- 
an-sich*  nichts  wissen,  nichts  andres,  als  was  uns  durch 
unsre  Sinne  darüber  in  ihrer  Sprache  mitgeteilt  worden  ist; 
wir  wissen  von  keinem  Ding  etwas  andres,  als  was  wir  als 
Schwere,  Winne,  Ausselm,  Schall,  Geruch  und  Oeschmack 
etwa  fiher  es  eMam  hahen.  Wir  wiesen  schon:  Suhatan- 
tire  sind  die  Ursachen  adjektivischer  Sinnesdaten.  Für 
das  tigliche  Lehen  genügt  es  anch  rollkomnien,  wenn  wir 
den  Anlass  dieser  Sinnesonpfindungen,  solange  er  im  Be- 
reiche der  Sinne  ist,  ein  »Ding*  nennen  und  den  Anlass 
dadurch  von  der  Nachwirkung  dw  Empfindungen  seihst 
unterscheiden,  die  wir  eue  j^rinneruikg  nennen.  Das  hindert 
jedoch  nicht,  dass  auch  das  Ding,  der  wirkUche  ESse,  im 
Grunde  ehen  nur  unsere  Anschauung  oder  Vorstellung  ist 
—  es  wSre  gani  willkflrlich,  zwischen  diesen  heiden  Worten 
SU  entscheiden  —  das  heisst  eine  psychische  Handlung. 
Diese  psychische  Handlung  kann  entweder  ein  sogenanntes 
Einzelding  hetarefPen  und  zu  einer  EinzelTorsfceUung  führen, 


278 


I.  Begriff  and  Wort. 


oder  Begriffe  bilden,  dns  heisst  Erinnot  inu^ru  an  ähnliche 
Einzelvorstellungen  durch  ein  Wortzeiclien  zusammenfassen. 
Das  Wortzeichen  für  ein  Einzelding  pflegt  mau  auch  nicht 
gern  „Begriff*  zu  nennen,  weil  das  ftlr  die  Logik  unbequem 
wäre.  Ich  sehe  aber  nicht,  wie  man  dieses  hier  aufgetragene 
Stückchen  Käse,  wenn  man  sich  nicht  damit  begnügen  will, 
mit  dem  Finger  daraut  zu  zeigen,  anders  als  durch  Begriff 
bezeichnen  soUte;  freüich,  weil  es  ein  bestimmtes  Emzei- 
ding  ist.  gerade  durch  mehr  als  einen  Begriff. 

Gleich  an  der  Schwelle  der  Untersucliung  wiril  nun 
klar,  dass  die  Sprache  mit  ihren  Worten  nicht  einmal  die 
Einzelvorstelluug  genau  bezeichnen  kann,  wo  sie  nicht  etwa 
durch  Eigennamen  den  Gewaltstreich  macht,  alle  unsere  Er- 
innerungen an  ein  Einzeldiug  zusammenzufassen,  so  schein- 
htff  sehr  genau  zu  sein,  aber  eigentlich  jedes  begriffliche 
Denken  aufzuheben.  Wenn  jedes  Einzelding  auf  der  Welt 
(jedes  Tiermdividttum,  jedes  Pfianzenhidinduimi,  jedes  Saod- 
kom,  jedes  Blatfc  Papier  und  jeder  Tintentropfen)  seinen 
Eigennamen  hStte,  so  gibe  es  keine  Sprache  mehr.  Bas 
vom  KeUner  gebrachte  Stückchen  Chester,  das  je  nach  dem 
zufälligen  Handgriff  der  «kalten  Mamsell*  in  GrOsse,  Format 
u.  s.  w.  80  oder  so  ausfallen  konnte,  weist  der  ungezogen 
deutende  Finger  Tid  bestimmter,  als  es  ein  langer  Satz  zu 
beschreiben  Termag. 
Einzel-  üebrigens  ist  sogar  der  Begriff  «Einzelding*  selbst 
schwer  zu  bestimmen.  Ist  der  FOtus  im  Mutterleil)  ein 
Einzelding  oder  nicht?  Ist  die  Rose  am  Stock  ein  Einzel- 
ding? Rudolf  Yirchow,  der  das  Individuum  definiert  als 
«eine  einheitliche  Gemeinschaft,  b  der  alle  Teile  zu  einem 
gleichartigen  Zwecke  zusammen wixken  oder  nach  einem 
bestimmten  Plane  thätig  sind*,  wird  wohl  jedesmal  den 
Weltbaumeister,  den  lieben  Gh>tt  (ohne  den  von  objek- 
iiven.  Zwecken  nicht  die  Rede  sein  kann)  zur  Entscheidung 
bemühen  mttssen,  und  auch  dann  noch  schwerlich  zu  einer 
Entscheidung  darüber  kommen,  ob  «Fruchtabtreibung*  als 
Unrecht  gegen  die  Frucht  oder  gegen  die  Mutter  auf/.ufassen 
und  zu  bestrafen  sei.  Auch  Sigwart  kommt  bei  der  Frage 


EiniwWiiig. 


279 


nach,  dem  IndiTidualbecrriiF  über  die  i  rage  nach  Form  oder 
Zweck  nicht  heraus.  Ein  Käselaib  wäre  dnreb  soith  1  i)rm 
ein  Individuum,  ein  Tier  durch  die  Zwerkln  z:ehuiif»'eu  zwi- 
schen den  Teilen  und  dem  Ganzen.  Schon.  Wird  aber  das 
abgeschnittene  Stück  Chester  nicht  auf  dem  Teller  des 
Kellners  zum  Einzelding?  Gar  sehr!  Und  wenn ,  wie  bei 
vielen  niedeni  Tieren,  das  durchschnittene  Individuum  in 
zwei  Exemplarou  weiterlebt,  wie  dann? 

Man  hätte  sich  die  klugen  Köpfe  nicht  so  sehr  über 
diese  an  der  Schwelle  stehende  Frage  zerbrochen,  wenn  man 
gefühlt  hätte,  wie  thöricht  die  Sprache  auch  hier  ist  und 
wie  wir  die  Narren  der  Sprache  sind,  weil  wir  jeden  Wider- 
sinn ihrer  Hilflosigkeit  lur  Tielsnüi  nclunen.  Mir  scheint 
die  Lösung  so  zu  liegen:  Wir  wissen  alle  immer  ^unz  genau 
(im  alltäglichen  Leben),  welcher  Anschauung  (  welchem  Ding) 
wir  das  Prädikat  , Einzelding"  oder  „Individuum*  beilegen 
sollen.  Greifen  wir  aber  nun  den  Begriff  „Einzelding"  oder 
«Individuum*  heraus ,  maehen  wir  ihn  zum  Subjekt  und 
fragen  wir  naeh  seiner  Definition  oder  nur  nadi  seinem 
Pr&dikat,  so  stellt  es  sich  heraus  —  wie  immer  —  dass 
wir  redenden  Menschoi  prftdizieren,  aussagen,  ohne  uns 
etwas  Klares  dabei  zu  denken,  das  heisst  ohne  etwas  Klares 
zu  sagen.  W&hlen  wir  nun  statt  »Einzelding*  oder  »Indi« 
viduum*  den  Begriff  „Eiinheit*,  so  wird  uns  die  mytiien- 
hildende  Silbe  ,-heit*  sofort  Termuten  lassen,  dass  wir  es 
mit  einem  Wortfetisch,  mit  einem  unvorstellbaren  Abstrsk- 
tum,  mit  einem  Itrwisch  zu  thun  haben.  Sagen  wir  aber 
«Einheit*,  so  «rfahren  wir  auch,  warum  der  Begriff  so  un* 
klar  ist.  Weil  »Einheit*  ein  Maas  ist,  also  der  subjektivste, 
momentanste,  wechselndste  aller  Begriflb.  Von  der  Baum- 
einheit hing  es  ab,  ob  wir  uns  unser  Sonnensystem  auf  das 
Mass  eines  Moleküls  bringen,  ob  wir  uns  die  Mfleke  zum 
Elefanten  machen  wollen,  von  der  Zeiteinheit  hingt  es  ab, 
ob  das  Leben  tasm  Eintagsfliege  lang  oder  die  Periode  bis 
zum  dereinstigen  Zusammenfallen  von  Erde  und  Sonne  kurz 
genannt  wird.  Das  Stflckchen  Chester  ist  eine  Einheit  flir 
Wirt,  Kellner  und  Qast,  das  BrCckchen  Rinde,  das  herunter* 


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280 


I.  Begriff  und  Wort. 


lallt,  ist  eine  Kinheit  für  die  Milbe  darin  und  für  das  Huhn, 
das  es  eben  aufpickt;  der  Käselaib,  von  dem  sie  es  abge- 
schnitten Iiat,  ist  neben  andern  Käsen  eine  Einheit  für  die 
„kalte  Mamsell" ;  das  Öchirt',  das  diesen  Käse  mit  underu 
herüberbrachte,  ist  eine  Einheit  für  seine  Interessenten;  die 
Käsefabrik  in  Cheshire  ist  ein  Einzelding  neben  andern 
Käsefabriken  von  Cheshire;  der  Fabrilcaufe  ist  an  IndiTidnuiii 
für  Beine  Interessoifceii,  gewiss,  aber  nieht  für  den  einzdnen 
SchwindsuehtsbudUus  in  aeinw  Lunge;  die  GnlsdiaftGhe- 
Bbire  ist  ein  Indiyiduiim  f&r  den  kranken  Fabrikanten  und 
seine  ICtbflrger;  England  ist  ein  IndiTidnom  —  solange  es 
als  Einheit  existiert;  die  Erde  ist  ein  IndiTidunm,  solange 
sie  nicht  in  die  Sonne  lurfldq^estQnt  ist,  die  Sonne,  so- 
lange sie  nicht  wieder  aufgegangen  ist  in  ihrer  Zentrsl- 
sonne  —  wie  die  Milbe  im  Bröckchen  des  ESsestitckchens 
ein  Einzelding  ist  —  solange  irgend  jemand  ein  Literesse 
daran  hat,  sie  sprachlich  als  Eins  au  fassen  (III.  148  f.)« 


Au  Die  landl&ufige  Psychologie  unterscheidet  so  sehr  zwi* 

•d^a&g  gßjjgn  Anschauung  und  Wort,  sie  sieht  zwischen  beiden  eine 
Woft.  so  breite  Leere,  dass  sie  noch  das  Gespenst  „Bogriff*  swi» 
sehen  beide  schieben  kann.  Und  so  haben  wir  uns  gewdhnt, 
die  Anschauung  , Palme*  vom  Wortschall  «Palme'  zu 
trenne  und  an  glauben,  es  sei  nicht  dasselbe.  Es  ist  aber 
nur  eine  Nuance  zwischen  Anschauung  und  Wort,  und  selbst 
diese  Nuance  erscheint  erst,  ja  entsteht  erst  beim  deutlichem 
Hinblicken. 

Man  sollte  Anschauungen  nur  diefeniii^en  Wahrnehmun- 
gen nennen,  die  noch  nicht  Begriff  sind,  weil  sie  zum 
erstenmal  da  sind.  Wer  zum  erstenmal  eine  Palme  sähe 
(das  ist  für  Kulturmenschen  fast  eint-  Fiktion ,  weil  wir 
schon  als  Kinder  Abbildungen  und  exotische  Exemplare  ge- 
sehen und  benannt  haben),  der  hätte  eine  Anschauung,  vor 
dem  Begiiff  oder  Wort,  avnnt  la  lettre.  Ebenso  wer  als 
Erwachsener  etwa  Trum  erstenmal  (ohne  je  davon  reden 
gehört  zu  habend  den  Donner  hörte.   Ebenso  ein  ^eger, 


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AnBchauun^  imd  Wort. 


281 


der  —  unvorbereitet  —  bei  uns  zum  erstenmal  Eis  fühlte. 
Das  sind  reine  Anschauungen,  die  von  uns  aber  sofort  in 
nnserm  geistigen  Emheits-  und  Hamuniisierungstriebe  kkssi* 
flsiert  wurden.  Der  Keger  wOrde  vielleicht  als  «gelhtrenes 
Fener*  kkssifisieren.  Gewöhnlich  hat  aber  die  Menschheit 
ISogst  klassifiMcri  und  auf  jedes  «Was  ist  das*  der  rer^ 
wunderten  ersten  Anschauung  antwortete  die  Sprache  oder 
eine  Sprache:  Der  und  das«  So  lernen  wir  spredien,  auch 
nach  der  Kindheit. 

Ist  aber  die  Anschauung  erat  durch  ein  Wort  dem  6e- 
dichtnis  eingeheftet  (hat  z.  B.  das  Kind  sprechen  gelernt), 
so  haben  wir  keine  Anschauung,  keine  Verwunderung  mehr. 
An  einem  Pferd  auf  der  Strasse  gehoi  wir  meiBt  Torüber, 
ohne  auch  nur  das  Wort  gegenwärtig  sn  haben,  geschweige 
die  Anschauung.  Ein  selteno^s  INi^,  etwa  eine  Palme 
oder  ein  Löwe,  wird  uns  schon  das  Wort  auf  die  Lippen 
und  Anschauungen  vor  die  Seele  bringen. 

Erst  wenn  das  Ding  unsere  Aufmerksamkeit  reizt,  wenn 
der  Maler  den  Ldwen  oder  die  Palmen  malen  will,  wenn 
Kunst  oder  Interesse  die  Blicke  spannt,  dann  entsteht 
etwas  wie  Anschauung  auch  apres  la  lettre  (I.  113). 

Die  uralte  Annahme,  dass  wir  unsere  Begriffe  oder  Abs- 
Worte  von  den  Dingen  „abstrahieren",  ist  grundfalsch.  Wenn 
der  Begriff  »Baum"  so  gebildet  würde,  dass  ich  z.  B. 
von  allen  Bäumen,  die  ich  je  gesehen  habe,  dasjenige  ab- 
ziehe, abstrahiere,  fortlasse,  was  jedem  Baum  individuell 
ist,  so  würde  als  platonische  Idee,  als  Begriff  ^Baiim*  etwas 
völlig  Leeres  übrij^  bleiben,  der  Schatten  eines  Hohlgefasses. 
Der  Weg  ist  gerade  der  umgekehrte.  Zuerst  mag  der  Be- 
griff „Baum"  oft  eine  Art  Eigenname  sein.  Der  grosse 
Nussbaiim  2.  B. ,  der  allein  und  einsam  liinter  dem  Hause 
des  Onkels  stand,  war  mir  Baum.  Dann  kam  es,  dass  ich 
hurte,  da.ss  auch  Tannen,  Kirschen,  Föhren  u.  s.  w.  Bäume 
genannt  wurden. 

Abstraktion  ist  also  jeder  Begriti,  das  heisst  jedes  Wort 
nur  insofeiii,  als  ich  von  den  wahrgenommenen  Eigenschaften 
die  widersprechenden  übersehen  muss ,  um  nur  irgend  etwas 


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282 


I.  Begriff  und  Wort. 


festiialten  zu  können.  Wie  billige  fertige  Kleider  ans  einem 
Eonfektionsgesdifilt,  so  passen  die  Worte  oder  Begriffe  auf 
die  Dinge  ihres  Umfanges.  A  peu  pr^  Oder  wie  die 
Uniform  emem  Regiment  Soldaten.  Von  weitem  sieht  es  ja 
naeh  etwas  aus;  aber  jeder  einselne  Kerl  ist  wUecht  ein- 
gekleidet. Auch  die  fertigen  Worte  passen  niemals. 
AsA-b.  Darum  gilt  auch  der  IdentititBsais  «A  gleich  A'  nur 
für  die  Idealwelt  der  mathematisoken  Wirklichkeit,  die  wir 
nicht  kennen  und  nicht  aussprechen  können;  in  der  Welt 
der  Sprache,  das  heisst  in  der  Welt  der  Seele  ist  A  nie- 
mals ganz  genau  A.  Wenn  wir  sprechen  und  das  Wort 
„Baum"  gebrauchen  oder  das  Wort  , Mensch so  ist  das 
Wort  immer  da  sofort  unzuyerlässig,  wo  wir  etwas  aus  A 
gleich  A  schliessen  wollen.  Wenn  wir  wissen  wollen,  ob 
eine  totgeborene  Menschen inir Iii  ohne  Kopf  ^ein  Mensch* 
sei,  das  heisst  heissen  «dUife"  oder  nicht,  so  fängt  der  Be- 
griff sofort  zu  pendeln  an  und  nicht  von  der  Bedeutung 
hängt  unsere  Entscheidung  ab,  sondern  von  der 
Entscheidunf^  die  Bedeutung.  Nicht  der  Schhm 
folgt  au.s  der  Definition ,  nein  die  Definition  folgt  innerlich 
dem  Schluss,  den  wir  ziehen  wollen.  So  kann  im  Denken 
recht  gut  der  Satz  möglich  werden 

A  =  A  -  b, 

wobei  b  eine  diskrete  Grösst^  ist.  Wenn  ein  Zwischenglied 
zwLschen  Mensch  un»i  Arte  aufgefunden  würde,  der  Anthropo- 
pithecus,  so  könnte  ev  recht  gut  ein  Mensch  genannt  werden, 
ein  Mensch  ohne  Sprache,  A  —  b. 

Alle  diese  unilten  Streitigkeiten  über  das .  was  etwas 
ist,  werden  natürlich  sinnlos,  wenn  man  richtig  fragt,  wie 
etwas  heisse.  Und  die  tiefsten  philosojihischen  Fragen 
würden  herabsinken  zu  Fragen  des  Sprachgebrauches. 

Dabei  darf  nie  vergessen  werden,  dass  Seele,  Bewusst- 
sein  nichts  ist  als  unser  bescheidenes  Gedächtnis,  dass  also 
die  merkwürdigste  Eigenschaft  unserer  Worte,  ihie  grosse 
Bequeralichkeit,  leieht  sn  erklaren  ist.  In  der  Seele  ist 
nicht  nur  oft  A  =  A  —  b,  sondern  es  ist  alltäglich,  dass  wir 


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Abttraktion. 


283 


in  der  , Seele"  A  =  —  A  setzen  können.  Denn  Jas  ist 
es  doch,  wenn  ich  weiss  oder  sage,  dass  diese  Scherben 
gleich  seien  dem  Torhin  in  der  Hand  gehaltenen  Topf. 
Die  Schnoben  sind  aus  dem  Topfe  (»geworden*.  Die  Blume 
«wird*  ans  dem  Samen,  das  LeVen  aus  dem  Tode,  der  Tod 
aus  dem  Leben.  Die  Copula  «wird*,  die  A  und  —  A  bindet, 
wire  ebenso  wie  die  Copula  «ist*  besser  dareb  ^beisst*  zu 
enetsen. 

« 

Von  weloher  Seite  immer  man  die  Bildung  von  Be- 
griffen beobacbtet,  immer  wieder  erweisen  sieb  Begriffe  ak 
reine  Bequemliohkeiten  der  Sprache,  ab  künstliche  Zeichen, 
die  TorUlufig  nur  in  ihrtti  unteraten  Arten,  und  da  nur  soso, 
der  Natur  etwa  entsprechen. 

Jedes  Wort  wird  indubtiT  gebildet  Selbst  die  kleine 
Zahl  der  Planeten  unserer  Sonne  stand  nicht  immer  feet; 
es  gab  das  Wort  Planet  und  man  wusste  nicht,  ob  es  flir 
Hlnf  oder  zehn  Indiriduen  galt.  Die  Qattung^sbezeichnnng 
«meine  Kinder''  steht  nicht  fest.  Wie  erst  bei  Worten  Ton 
grossem  Umfang! 

Da  ist  es  nun  einfach,  unwahr,  dass  wir  von  allen 
Fischen  z.  B.  die  gemeinsamen  Eigenschaften  abstrahieren 
und  dann  im  Begriff  ^Fisch"  vereimgen.  Dazu  mussten 
wir  den  Begriff  , Fisch"  schon  vorher  haben.  Es  wieder- 
holt ."^ich  da  der  Grundirrtum  aller  formalen  Logik,  dass  sie 
die  Entstehung  des  Begriffs  im  Kopfe  des  Schülers  mit  der 
Entstehung  im  Menschengeschlechte  verwechselt.  Ebenso  gut 
könnte  man  bei  der  Entstehung  de.s  Spitzbog^ens  unsere  ganze 
g^enwartige  Entwickelung  der  Baukunst  voraussetzen. 

Im  Menschengeschlecht  hat  sich  der  Begritt"  Fisch  nicht 
einmal  so  gebildet,  dass  es  viele  Tiere  im  Wasser  leben 
sah,  nun  ihv»»  'jf«^m pinsamen  Kennzeichen  untersuchte  und 
nach  diesen  Keunzeichen  zum  Begriffe  „Fisch"  kam.  Nicht 
einmal  ilas  Kennzeichen,  dass  diese  Tiere  durch  Kiemen 
atmen,  ist  so  alt,  wie  die  Begriffsbildung  , Fisch".  , Fisch* 
war  ganz  pöbelhatt,  was  im  Wasser  lebte  und  so  ungefähr 


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284 


I.  fiegriff  und  Wort. 


aussah  wie  ein  Hecht  oder  Karpfen  oder  was  sonst  der 
Gtattimg  das  Bild  gab. 

Kun  kamen  nach  und  nach  die  aufmerkaaman  Augen 
und  untersuchten  und  wünschten  eine  natnrgemSsse  Klassi- 
fikation KU  sdiaffen,  die  alle  Fiache  umachloss.  Ist  diese 
BegrüFsbildung  heute  ToUsogen?  Durchaus  nicht. 

Han  hat  kfinsÜidi  d«i  B^riff  Säugetier  geschaSbn 
und  die  Walfische  unter  sie  gereiht.  Wer  aber  kann  sagen, 
oh  das  »Säugen*  ein  wesentlicheres  Kennzeichen  sei,  als 
das  .im  Wasser  leben*  P 

tfan  hat  die  Gruppe  der  «Bundm&uler*  geschaffen  und 
die  Neunaugen  durch  sie  der  Abteilung  der  Fische  ent- 
sogen. 

Immer  war  der  Vorgang  so:  Han  sah,  dass  Hechte, 
Barsche,  Aale  u.  s.  w.  im  Wasser  leben  und  auch  in  ihren 
äussern  und  innem  Formen  Aehnlichkeiten  haben.  Da 
glaubte  man,  sie  wären  einander  durchaus  ähnlieli  und  be- 
nannte sie  mit  einem  gemeinsamen  Namen:  Fisch.  Nun 
zog  man  lustig  ganz  wichtige  Schlüsso.  Der  Walfisch  ist 
ein  Fisdi,  also  wird  er  wohl  durch  Kiemen  atmen.  Die 
Neunauge  ist  ein  Fisch,  also  wird  sie  wc^  . . . 

So  oft  nun  ein  solcher  Schluss,  der  um  nichts  schlechter 
war  als  irgend  ein  anderer  unserer  Sprache,  sich  nach  einer 
neuen  Beobachtung  als  falsch  erwies,  wurde  instinktiv  die 
Sprache  daflir  angeklagt;  man  erkannte  den  Fehler  der 
Sprache,  ohne  freilich  zn  ahnen,  dass  es  eben  zugleich  ein 
Fehler  des  Denkens  war.  Der  Begriff  Fisch  wurde  ad  hoc 
neu  definiert  und  das  lustige  Schliessen  konnte  wieder  von 
vom  anfangen. 


fie^ffs-  Es  hängt  aufs  enL>te  mit  der  Uebersciiiitzmi'^  der  Logik, 
zusammen  und  ist  gewiss  eine  ihrer  letzten  Ursachen,  dass 
man  den  Regrifi'  bald  aui'  seine  psychologische  Entstehung 
hin,  bald  auf  seine  logische  Analyse  hin  betrachtet  hat  und 
nachher  gewaltsam  das  Psychologische  in  das  Logische  ein- 
ordnen wüUte,  dass  man  glaubte  den  Begriff  oder  das  Wort 


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Begtüiniiiifaiig  md  •inhalt. 


285 


wie  ein  mathematisches  Zeichen  gebrauchen  zu  können.  Die 
Untrllglichkeit  der  Mathematik  beruht  darauf,  dass  ihre 
Zeichen  eindeutig  sind  und  sonst  überhaupt  keinen  Sinn 
haben;  der  Trug  der  Sprache  beruht  darauf,  dass  die  Worte 
iin  Verkehr  immer  noch  ä  j)eu  prfes  gebraucht  werden  können, 
wenn  sie  auch  jedem  Einzelnienscheu  ein  bisschen  was  an- 
dres bedeuten. 

Der  Begriff  oder  das  Wort  ist  nämlich  psychologisch 
aui  dem  Begnffsumfang  entstanden;  das  Wort  ist  fUr  jeden 
VolkflgenoBBen  ein  ÄBsodationsasentnmi  nur  ftr  dm  Umfang, 
den  er  kennt.  Dabei  kann  es  reckt  gut  zugegeben  werden, 
dass  grosse  Gruppen  eines  Volkes,  je  nack  Laadscfaaft, 
Woblstand,  Bildungsgrad,  BeschSftigUQg  n.  s.  w..  Aber  den 
Begriflfoinkalt  einig  an  sein  glauben  oder  es  auch  wirkHck 
sind,  so  weit  die  Worte  die  gleichen  sind,  die  den  Begfi&- 
inhalt  bilden.  Aber  jedes  dieser  Worte  geht  p^chologisdi 
wieder  auf  seinen  Umfang  zurück,  der  fllr  jedes  IndiTidunm 
ein  anderer  ist.  So  ist  zuletzt  auch  die  Uebereinstjmmung 
Uber  den  Begrif^nhalt  nur  ein  Schein;  Ober  den  Begrifb^ 
umfang  sind  aber  sicherlich  nicht  zwei  Menschen  einig,  mag 
der  B^priff  nun  so  konkret  sein  wie  ein  Kalb  oder  so 
abstrakt  wie  gut  und  bdse.  Dass  die  Menschen  sich  trotz 
der  durchgehenden  Ungleichheit  ihrer  Begriffsumfange  und 
der  nur  scheinbaren  Gleichheit  ihrer  Begri&inhalte  durch 
Sprache  dennoch  so  weit  Terstftndigen  können,  als  etwa  die 
groben  Zwecke  ihres  Zusammenlebens  yerlangen,  ist  viel- 
leicht der  schlagendste  Beweis  daftlr,  dass  es  in  der  Wirk- 
lichkeitswelt irgendwo  und  irgendwie  eine  geheimnisTolle 
Harmonie  gibt,  die  weder  in  den  Sinneswahmehmungen  noch 
in  den  Erinnerungen  und  »Abstraktionen*  der  Menschen  ganz 
verloren  gehen  konnte. 

Die  Einsicht,  dass  der  sogenannte  Be^ff  nichts  weiter 
ist  als  der  Associationsbereich  des  Wortes,  dass  das  im 
Lexikon  so  fest  umrissene  Wort  in  der  psychologischen 
Wirklichkeit  für  jeden  Menschen  einen  anderen  Associations- 
bereich besitzt,  müsste  genügen  ,  imi  die  Wertlosigkeit  der 
formalen  Logik  —  und  eine  andere  gibt  es  nicht  — ■  zu  be- 


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286 


I.  Begriff  und  Wort 


weisen.  Die  Logik  iini  uur  dann  einen  Wert,  wenn  ihre 
Zeichen  oder  Begriflfe  eindeutig  sind.  Das  ist  aber  bei  der 
Entstehung  der  Begriffe  oder  Worte  gar  nicht  ausgemacht 
worden,  wenn  ich  so  sagen  darf,  während  es  bei  der  Er- 
findung der  Mathematik  wohl  ausgemacht  worden  ist.  Die 
formale  Logik  ist  nur  dann  wertvoll,  wenn  die  Begriffs" 
inhatte  ihren  Begrifißsumfihigen  absolut  genau  entsprechen, 
des  heisst  wenn  es  allen  Menschen  gemeinsame  abstrakte 
Begriffe  gibt.  In  die  formale  Logik  kann  ein  Begriff  eigent» 
lieh  erst  eingehen,  wenn  er  vorher  abstrakt  geworden  ist 
Abstrakt  ist  aber  immer  nur  der  kOnstlich  gebildete  Be- 
griffsinhalt; der  Begrififoumfaog  oder  der  Assoeiatioosbereich 
des  Begriffs  ist  immer  konkret.  Und  mit  diesem  einrig 
Wirklichen  am  Begriff  kann  die  Logik  als  mit  etwas  Kon- 
kretem nichts  anfangen.  Man  könnte  die  Sache  auch  so 
ansdrflcken:  alle  logische  Deduktion  irilre  richtig,  wenn  auch 
nicht  gerade  fördernd,  falls  die  Begriffe  durch  eine  voll- 
stftndige  Liduktion  entstanden  würen;  aber  eine  ToUstaxidige 
InduktiiHi  gibt  es  nicht, 
ud  Die  Einsicht  in  diese  psychologische  Thatsache  konnte 
durch  Jahrtausende  zurückgehalten  werden,  weil  auf  der 
einen  Seite  das  Volk  stand  mit  seinen  konkreten  B^friffien, 
mit  seinen  Begriffsumfängen  und  gar  kein  Interesse  nahm 
m  den  abstrakten  Begriffsinhalten  der  Wissenschaft,  weil 
anf  '\vT  anderen  Seite  die  Wissenscliaft  stand  mit  ihren 
abbtrakten  Definitionen  und  Begriffsinbalten  und  von  der 
konkreten  Yülk«:sprnche  wenig  Notiz  nahm.  Als  im  abend- 
ländischen Mittelalter  gar  noch  eine  tote  fremde  Sprache  das 
Ausdrucksmittel  der  Wissenschaft  wurde,  da  konnte  das 
Entfrcmdungsrfosphnft  zwischen  Begritisunifang  und  Bepritt's- 
inhalt  ganz  ohne  Störung  bet'ieben  werden.  Innerhalb  jeder 
einzelnen  Wissenschaft,  namentlich  innerball}  der  Geistes- 
wissenschaften, konnte  die  Logik  siegreich  scheinen,  weil 
man  vorher  Sorge  getragen  hatte,  jedes  Wort  zu  i  niem 
technischen  Ausdrucke  zu  machen,  jeden  Begritl"  auf  seinen 
Inhalt  hin  zu  definieren  und  sicli  ko  ein  abstiakt^'s,  für  die 
logische  Thätigkeit  brauchbares  Worigebiiude  zu  schaffen. 


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Begriff*. 


287 


Als  dami  uncrffHhr  zur  gleichen  Zeit  die  Naturwissenschaften 
und  die  Volks-.]>i  aciien  ihre  Rechte  forderten,  da  niusste  es 
sich  herausstellen,  dass  die  wirklichen  Begriü'e  der  Menschen, 
als  auf  ihren  Begriffsunifiingen  beruhend,  die  schönen  De- 
finitionen nicht  zuliessen,  und  so  wird  nacii  jahrbimderte- 
langeni  Kampfe  die  alte  Logik  dortbin  gehen  müssen,  wohin 
das  vermeintliche  scholastische  Wissen  und  die  tote  Sprache 
des  scholastischen  Wissens  gegangen  sind. 

So  schwer  es  bei  dieser  Säuberung  halten  wird,  die  .Begrir. 
Lelmworto  riditig  zu  bebandekif  die  aus  der  tote  Sprache 
in  die  unaere  Qbergegangen  sind,  ebenao  schwer  wird  es 
setn,  die  eigenen  Worte  Mucumersen,  die  lur  Vermeidung 
▼on  Lebnwortoa  als  UebeisetKungen  teehaisdie  Bedeutung 
bekommen  haben.  So  ist  das  Wort  Begriff  eine  in  ihrer 
Axt  gans  hUbsche  IFebersetswig  des  lateinischen  Wortes 
conoeptns.  Es  ist  als  tenninns  technicus  noch  kaum  awei* 
hnndert  Jahre  alt  nnd  einer  der  vielen  FftUe,  in  denen  swar 
die  Laute  der  Muttersprache  beibdialten  wurden  und  statt 
eines  Lehnwortes  ein  Lehnbegriff  genügte;  Ar  unsere  Auf- 
fassung der  Sprachentwickelung  macht  das  kernen  grossen 
Unterschied,  Wir  mtkssen  hdehstens  sorgsamer  darauf  achten, 
dass  in  der  Entwickelung  des  Begrifb  «Begriff*  seit  zwei- 
tausend Jahren  bei  der  üebmetznl^9^  aus  dem  Griediischen 
ins  Lateinische  und  dann  ins  Deutsche  kleine  Nuancierungen 
mit  verbunden  waren.  Namentlicli  aber  der  grosse  Um- 
schwung der  neuem  Zeit  ist  an  dem  Begriffswerte  des  Wortes 
Begriff  deutlich  su  machen;  was  die  Wertschätzung  aller 
Begriffe  änderte,  inu<;stc  auch  den  „Begriff"  ändern. 

Bei  Flaton,  wo  für  Begriff  und  Wort  nur  eine  Bezeich- 
nung da  ist,  jedoch  so,  dass  das  Wort  zum  mystischen  Be- 
griff erhoben  und  nicht  der  Begriff  zu  der  Wirklichkeit  des 
Wortes  deifr9f]iert  wird,  ist  natürlich  nur  der  Begriff  oder 
das  Wort  (X070C!  Gegenstand  des  Wissens:  und  das  geht 
weiter  bis  bei  den  Neuplatonikern  schon  (wie  bei  Hegel) 
etwas  wie  eine  Eigenbewegung  der  Begriffe  gelehrt  wird. 
Der  Beginn  der  neuen  Zeit  wird  gewöhnlich  mit  Descartes 
angenommen,  der  von  den  Begriffen  Klarheit  und  Deutlich- 


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288 


I.  ü^grifl  und  Wort. 


keit  verlangte;  nur  dass  er  nicht  ahnte,  wie  Klarheit  und 
Deutlichkeit  allen  philosophischen  Begriffen  mangelt  und 
mangeln  ntuss.  In  Wahrheit  bricht  die  Neuzeit  in  aller 
ISrkeotitmstheorie  erst  mit  Iiocke  an.  In  dem  unschätebaren 
dritten  Budie  seines  Yerauchs  hat  er  erkannt,  daas  es  nnr 
die  Aehnlichkeit  der  Dinge  ist,  was  in  den  Dingen  den 
Begri£Een  entspricht;  und  mit  einer  genialen  Vorwegnähme 
der  erkenntnistheoretisehen  Bedeutung  des  Darwinismus  fügt 
er  hinzu,  «dass  die  Natur  bei  der  Hervorbriugung  der  Dinge 
manche  einander  Shnlieh  macht,  namentiich  bei  den  Arten 
der  Tiere  und  aller  durch  Samen  fortgepflanzten  Dinge.* 
Insofern  also  Worte  oder  Begriffe  die  Arten,  Gattungen 
u.  8.  w.  bezeichnen,  mUsste  die  Sprachkritik  weiter  auf  Onto- 
logie  surtlekgehen.  Die  Aehnlichkeit  jedoch,  sei  es  nun 
natdrliche  oder  von  mensddichen  Zwecken  eingegebene  Aehn- 
lichkeit, ist,  wie  wir  weiter  denken  mOssen,  nichts  Wirk- 
liches, sondern  menschliche  Thätigkeit,  ist  die  Thätigkeit  der 
Vergleichun^.  Begriffe  entstehen  nicht,  \vie  Kant  gelehrt 
hat,  durch  Vergleichung  oder  Abarten  der  Vergleichung  wie 
Reflektion  und  Abstraktion,  sondern  sie  sind  die  Akte  der 
Vergleichung  selbst.  Im  Gegensätze  zu  Hegel,  weicher  in 
den  Begriffen  th&tige  Wirklichkeiten  sah,  was  oft  genug 
zu rückg-e wiesen  worden  ist,  sehen  wir  in  den  Begriffen  blosse 
Thätigkeiten  also  Unwirklichkeiton,  was  vortrefflich  dazu 
stimmt,  dass  wir  in  der  Sprache  nichts  Wirkliches  erblicken. 
Und  wir  haben  gesehen  (I.  393  f.),  wie  gefährlich  die 
Thätigkeit  dc«^  Vcrgknthens  für  Sprache  und  Log'ik  werden 
musste.    Die  Sprache  Kver*"  gleicht,  was  nur  ähnlich  ist. 

m 

Art-  Wir  haben  also  gesehen,  dass  das  Einzelding  oder 

begriffl  Individuum  eigentlicli  mit  der  Sprache  noch  gar  nichts  zu 
thun  habe.  Das  Stückchen  Chester  auf  dem  Teller  kann 
der  Mensch  mit  dem  Finger  besser  deuten,  es  deutlicher 
inacli»Mu  als  mit  den  Worten  seiner  Sprache,  und  könnte 
er  >vie  Zola  eine  Käsesyniphonie  schreiben.  Ich  sehe  auch 
nicht  ein,  inwiefern  das  Tier  ein  Einzelding  weniger  gut 


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Artbegrifi: 


289 


wahrnehmen  soll  als  der  Arm^ch;  ob  «U^r  Mensch  das  Einzel- 
ding,  dieses  Stückchen  ehester  auf  seinem  Teller,  mit  dem 
Messerchen  oder  mit  Worten  fasst,  ob  der  Hund  es  weniafer 
wohlerzogen  unmittelbar  mit  den  Zähnen  packt,  ist  ein*  ilei. 
£inzeldinge  und  Eigennamen  sind  etwas  vor  der  Sprache. 

Was  der  Kellner  seinem  Gast  gebracht  hat,  das  ist  ein 
Einzelding,  auch  wenn  er  dabei  z.  B.  zufilllig  pcsapt  hat: 
„Em  ehester."  Dasselbe  Wort  war  aber  »mh  Artbegnll.  als 
der  Kellner  durch  das  Schiebefenster  in  die  Ivilche  hinein- 
rief: , Einmal  ehester!*  So  kann  in  der  entwickelten  Sprache 
jeder  Eigenname  zum  Artbegriff  werden;  ich  kann  sagen: 
«Die  Goethe  sind  selten,  die  Meyer  sind  häufig."  Aber 
äiase  Bameikqagt  ebenso  wie  der  Hinweis,  wie  am  dem 
Eigennamen  der  Gmfecliaft  Gheeliire  ein  Artbegriff  Ton  Eltee 
wurde,  würde  mich  hier  Ton  meiner  Angabe  ablenken. 

Ich  will  hier  leigen,  dass  die  Begriffe  oder  Worte  —  wie 
sie  ans  anderen  Qrttnden  den  Einaeldingen  gegenüber  im 
Nachteil  sind  im  YerhftUinis  sor  Anschaunng  —  auch  für 
Gruppen  fthnlidier  Dinge,  für  Arten,  also  fOr  das,  was  sie 
eigentlich  beaeichnen  wollen,  nur  unbestimmte  Erinnerungen 
geben.  Und  ich  will  neboibei  seigen,  dass  Begriffe  oder 
Worte  noch  ganz  und  gar  in  den  Bereieh  der  Psychologie, 
das  heisst  filr  mich  der  Metaphysiologie,  fsllen  und  fUr  die 
sogenannte  Logik  nur  Gegenstlnde  einer  geistrmchen  Spie- 
lerei sind. 

Gerade  mit  dem  Begriff  ,Chester*  wttrde  sich  die  schul- 

mlarige  B^iffslehre  ordentlich  abquftl^  mflssen,  besonders 

in  unserem  Falle.  Der  Gast,  der  das  unverstandene  Fi  emd- 

wort  auf  der  Speisenkarte  gefunden  und  ans  der  Ueber- 

schrift  der  Rubrik  die  unklare  Vermutung  geschöpfl^  hat, 

es  werde  wohl  eine  Unterart  von  Käse  bezeichnen,  dimer 

logisch  denkende  Gast  hat  den  Begriff  nicht  —  wie  die 

Schule  lehrt  —  von  Einzelvorstellungen  abstrahiert,  sondern 

hat  zuerst  das  Wort  gelernt,  dann  erst  durch  das  Stückchen 

Käse  eine  neue  Vorstellung  dazu  gebildet:   elno  gewisse 

Farbe  und  Struktur,  ein  gewisser  Geschmack  und  Geruch 

heisst  ihni  von  da  ab  „Chester'',  wenn  er  den  neuen  Begriff 
Maathaer,  Beiträge  zu  einer  Kritik  der  Spraehe.  ID.  19 


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290 


L  Begriff  and  Wort. 


fleisöiu:  einübt;  aber  auch  dann  bleiben  die  Vorstellungen 
unklar  und  wenn  er  sich  nicht  zum  Fadiniann  ausbildet^ 
hier  zum  Feinschmecker  also,  wird  er  den  Chester  von  ver- 
wandten Küstn  nicht  unterscheiden  können.  In  ähnlicher 
Weise  hat  bei  Bigiun  .seiner  Liiul'bahn  auch  der  Kellner 
den  Bef^ritf  Chester  erworben.  Und  in  ähnlicher  Weise 
haben  wir  alle  die  Hauptmasse  unserer  Begrifle  oder  unseres 
Sprachschatzes  von  Eltern  und  Lehrern  zuerst  gelernt  und 
was  erst  nachber  mehr  oder  weniger  anschaulich  gemacht- 
Ith  lasse  es  dahingestellt,  ob  das  Kind  nicht  alle  seine 
Worte,  auch  die  Beaaidmungen  der  sUtftglichsten  and  an* 
schaulichsten  Dinge  (wie  s.  B.  Müch,  Hund,  Baum)  in  Ihn- 
Udler  Weise  lernen  muss.  JedenfaUs  ist  es  ja  —  wie  ge- 
sagt  —  falsch,  wenn  das  Festsetsen  von  BegrüFen  in  unserem 
Qehim  allgemein  auf  eine  Abstraktion  zurUckgefllhrt  wird. 

Denn  selbst  der  höhere  Artbegriff  ,Ettse*  ist  in  unserem 
Gast  nicht  so  entstanden,  dass  er  suerst  Schweiler,  Lim- 
burger,  Hollander  u.  s.  w.  als  ünterbegriffe  kennen  gelernt 
und  dann  eines  Tages  die  philosophische  Erleuchtung  ge» 
habt  hat,  diese  seine  »BegrifEe*  hätten  neben  gewissen 
Untwschieden  «idi  gemeinsame  Meifcmale  und  diese  mttssten 
durch  ein  neues  Wort,  den  höheren  Artbegriff,  besonders 
gemerkt  werden.  Umgekehrt.  Mein  Oast  hat  vielleicht  als 
Kind  die  Worte  ,01mQtzer  Quargl"  und  „Käse"  als  S3'no- 
nyme  gebraucht,  hat  dann  erfahren,  dass  Ober  dem  Berg 
auch  Leute  wohnen,  die  ähnliches  Zeug  essen,  das  sie  Käse 
nennen,  und  so  ist  er  in  seiner  philosopliischen  Begn&- 
bildung  fortgeschritten;  und  so  ist  die  Menschheit  in  ihrer 
Erkenntnis  fortgeschritten.  Es  ist  einer  der  folgenschwersten 
Fehler  der  Schullogik,  dass  sie  unsere  Begriffe  oder  Worte 
durch  Abstraktion  entstanden  sein  lilsst.  Das  passt  freilich 
ganz  mit  auf  die  liebsten  Begrifle  der  Schulloi^ik,  wie:  Sub- 
stanz, bein.  Denken,  Wollen  u.  s.  w.  Aber  ich  habe  den 
Verdricht,  dass  säiutliehe  durch  Abstraktion  entstandenen 
Begritfe  künstlich,  mythologisch,  unbrauchbar  sind.  Und 
ich  werde  in  dieser  subjektiven  Ueberzeugung  nur  bestärkt 
durch  die  lachende  Thatsache,  dass  solche  abstrahierte. 


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Artibegnft 


291 


küiistlithe  Bei^riHe  häufig  hübsch  klar  und  distiiikt  sind, 
sauberes  Spielzeug  für  den  Loy-iker.  dass  die  natürlichen 
(zuerst  gelenitcn  und  dann  duich  Anwendung  eingeübten) 
Begriffe  oder  Worte  immer  unbestimmt,  schwebend  sindf 
eine  Verzweiflung  l'Ur  den  Forscher. 

Die  grosse  Arbeit  der  BegriflPsbildung  ist  mit  logischen 
Spielereien  nicht  zu  fassen.  »Schon  Aristoteles  (Analvt.  post. 
n.  19)  hat  doch  wenigstens  nicht  ganz  übersehen,  dass  das 
Ge^htnis  diese  Arbeit  verrichtet.  Die  landläufige  Logik 
kennt  das  Qe^iditnis  gar  nicht.  Wir  aber  sollten  endlich 
wissen,  dass  alle  Cleheimnlsse  des  Deokena  gelSst  wiren, 
wenn  wir  das  Oeheunnis  unseres  Gedächtnisses  und  dasa  das 
iinsem'  Aufmerksamkeit  erfahren  lAttcn. 

Wir  sehen  oft,  dass  die  Sprache  bei  all  ihrer  Plumpheit 
es  doch  Terraten  kann,  wenn  man  ihr  Zwang  anthun  wilL 
So  ISsst  sie  sich*s  auch  nicht  ohne  Widerstand  gefallen,  dass 
man  sie  sagen  lässt,  die  aUgememe  Yorstellang  oder  der 
Begriff  entstehen  durch  Abstraktion,  durch  Abziehung.  Wir 
brauchen  das  Fremdwort  Abstraktion  (das  wieder  eine 
schlechte  üebersetxung  aus  dem  Griechischen  ist)  nur  ins 
Deutsche  su  überaetsen,  um  sa  wissen,  dass  es  eine  Metapher 
für  eine  unklare  geistige  Handlung  ist.  So  schlecht  ist  das 
Wort  gewählt,  dass  man  darOber  streitet,  was  an  den  Vor- 
steUungen  eigentlich  das  Objekt  des  Abstrahierens  sei.  Vor 
Kaat  sagte  man ,  man  alwtrahiere  die  gemeinsamen  Merk- 
male der  Vorstellungei'  zu  einer  höheren  Vorstellung,  dem 
abstrahierten  Begriff,  den  man  dann  wieder  ganz  sprach- 
widrig vom  abstrakten  Begriff  unterscheiden  musste.  Kant 
fühlte  die  Unwahrheit  und  lehrte  dafür  sagen,  man  abs- 
trahiere von  den  ungleichartigen  Vorstellungselementen. 
Damit  scheint  er  mir  zugegeben  zu  haben  (und  sein  Sprach- 
gebrauch ist  angenommen  worden»,  dass  die  Schullogik  in 
der  Begi-ifl'sbildung  nur  das  \(  gative  beachtet,  den  Verlust 
an  Anschauung,  das  Verschwiirnnen  und  Verschwebeo,  dass 
sie  mit  dem  Gewinn  nichts  anzufangen  weiss. 

Dafür,  dass  die  Begritfe  um  so  leerer  werden,  je  mehr 
fiinzelvorsteüUDgen  sie  zusammenfassen,  dafür  spricht  der 


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292 


L  Begriff  und  Wort. 


ümfaog  bekannte  Satz  der  Logik,  dass  der  Inhalt  eines  Begriffs  um 
so  kleiner  werde,  je  grösser  »ein  Umfang  sei.  Ick  muss 
dieeei  A  B  0  der  Logik  als  bekannt  Torausaelieii.  Bs  ist 
ja  auch  klar,  dass  Tkr,  Geld  inhaltsleerer  ist  ab  s.  B. 
Säugetier,  Papiergeld.  Nun  ist  es  «bor  merkwOrdig ,  dass 
dieser  bekannte  logisehe  Sati  im  streng  logisehen  Sinn  gar 
nicht  einrasl  wahr  ist»  Es  sind  hunderttausend  neue  In- 
sektenarten  entdeckt  worden  (der  Umfang  des  B^giifiis  ,In* 
sekt*  ist  TergztaMrt  worden),  ohne  dass  sein  I^dialt  sich 
▼erideinert  h&tte,  ohne  dass  man  seine  Definition  hStte  ein- 
sehrinken  mflssen.  Und  der  Inhalt  oder  die  Merkmals- 
summe  des  Begriffs  Flauet  ut  seit  Kopemikus  grosser  ge- 
worden, wShrend  sugleich  die  Ansahl  der  Planeten  sunahm. 
So  weit  die  Begel  im  logisehen  Sinne  richtig  ist,  ist  sie  ein 
sineLerischw,  geaerter  Ausdruck  für  die  wohlfdle  Beob- 
achtung, dass  man  für  dieselbe  Menge  Geld  weniger  Säcke 
brauche,  wenn  man  grössere  Sftcke  nehme.  Praktisch  aber 
ist  die  Regel  richtig,  oder  sagen  wir  psychologisch.  Die 
Unklarheit,  welche  jedem  Wortzeichen  anhaftet  im  Ver- 
hältnis zur  Anschauung,  steigert  sich  mit  der  Zahl  der  An- 
schauungen und  der  Stufenreihe  der  Anschauungsgruppen, 
die  das  Wort  bezeichnen  sollen.  An  dem  einen  Ende  ruht 
die  Einzelvorstelluug ,  die  vor  der  Sprache  ist,  an  dem 
anderen  Ende  gähnt  der  Abgrund  der  allgemeinsten  Be- 
griffe oder  Kategorien,  die  jenseits  der  Sprache  liegen 
und  nur  missV)riiuchlich  von  künstlichen  Worten  mytho- 
logisch vorgeätellt  werden;  zwischen  diesen  beiden  Enden 
schwebt  die  menschliche  Sprache  über  der  Wirklirhkeits- 
welt  wie  ein  Nebelduft,  verschönernd  und  Hii  (ii. n/i n  auf- 
lösend. Doch  selbst  diese  aussersten  Gegensätze  niociite  ich 
nur  relativ  autgetasst  wissen.  Selbst  das  Tier ,  das  sich 
meist  mit  Einzelvorf?tellungen  begnügt  und  so  vor  der 
Menschensprache  stelion  geblieben  ist,  hat  sein  Gedächtnis 
und  damit  eine  Art  Sprache;  und  selbst  der  Metaphysiker, 
der  jenseits  der  Sprache  darüber  nachsinnt,  ob  der  aller- 
höchste Begriff,  ob  die  Spitze  der  Begriffs^»}  raniide  mit  ,das 
Sein''  oder  mit  aEtwa.s''  auszudrücken  sei,  selbst  er  ist  noch 


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nicht  gmz  und  gar  losgeldst  um.  der  Wirklichkeit,  Ton  der 

Anschauung. 

£s  wäre  mir  ein  Leichtes,  die  Logiker  mit  ihren  eigenen 
Waffen  zu  schlagen  und  aus  ihren  eigenen  Begriffen  heraus 
zu  beweisen,  auf  Verlangen  sogar  mathematisch  zu  beweisen, 
dass  ihre  obersten  Bcgrifte  leere  Nullen  sein  müssen.  Wenn 
man  sich  nilmlich  dadurch  zu  immer  höheren  Begriffen  er- 
hebt, dass  man  nacheinander  die  Eiii/.elvorstellungen  unbe- 
achtet lässt,  da^s  mRTi  Tiacheiuan  l(  r  von  ihnen  absieht,  so 
muss  am  Ende  der  Augenblick  kommen,  wo  man  auch  von 
der  letzten  Vorstelhmg  absieht,  um  zum  höchsten  Begriff, 
dem  des  ^jSeienden"  zu  gelangen.  So  kann  man  mit  dem 
beliebten  Abstraktionsspiel  von  der  Wirklichkeit,  dem  Stück- 
chen ehester  auf  dem  Teller,  weiter  kuiumeu:  zu  einem 
Käselaib,  zu  Käse  überhaupt,  Milchwii-tschaftsprodukt,  ani- 
malischer Nahrungsstotf,  Nahrung,  organisierter  Stoff,  „Et- 
was". Mathematisch  liesse  .sich  das  so  ausdrücken,  dass  der 
Inhalt  eines  Begriffs  sich  zu  seinem  Umfang  verhält  wie  der 
Zähler  zum  Nenner ;  wird  nun  der  Nenner  unendlich  gross, 
soQ  also  der  Begriff  alles  auf  der  Welt  umfassen,  dann 
muss  der  Wert  jedes  Zfthlers  im  VerbUtnis  snin  ünendlichen 
l^eieh  Null  werden;  dar  Lihalt  toq  Begriffen  wie  «Etwas*, 
«Substanz*,  «Seixi*  u.  s.  w.  ist  also  gleicb  NulL 

Wir  lassen  uns  fiber  diese  Thatsacbe  darom  so  leicht  «WaMo*. 
tftusohen,  weil  wir  aueh  für  dieses  Nichts  Terscbieden  klin- 
gende Worte  haben,  welche  historisch  mit  irgend  welchen 
Uenschen-  und  Weltanschauui^en  zusammenlagen,  so  dass 
wir  irgend  eine  luftige  Brücke  zur  WitklicbkeitBwelt  immer 
noch  wahrzunehmen  glauben.  Besonders  deuUich  ist  das 
im  Deutschen  aufzuzeigen,  weil  das  gebrftuchliche  Wort 
nicht  mehr  deutiich  seine  Verwandtschaft  mit  dem  scholasti- 
schen Begriff  Essentia  zu  erkennen  gibt.  Das  greuliche 
EssentiA*)  ist  eine  schlechte  üebefsetsung  des  griechischen 


*)  EaeatlakoinmtilkcdiBgiadionbd  toivvmilBUIiölMnRS 
vor,  «ird  aber  aodk  TOn  AagatHamu  ab  migebitnoUidi  entaehvldigt 
(De  THnitete  VIII). 


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294 


1.  Begriff  und  Wort. 


o6ota;  in  romanischen  Sprachen  ist  es  auch  so  herunter- 
gekommen, dass  es  bald  nicht  viel  mehr  als  eine  Essenz, 
den  Extrakt  wobMeoliakder  oder  wohlschmeckender  Dinge 
beieichnete  und  bis  zur  ersten  Silbe  von  Eesbouquel  Ter^ 
hnnzt  worden  ist.  Der  deutsche  Mystiker  Eckart  hat  wahr- 
seheinlieh  das  Verdieoat,  das  Wort  mit  der  damals  Üblichen 
Form  in  «Wesenheit*  übertragen  zu  haben.  Das  Zeitwort 
a  Wesen*  bedeutet  beute  nicht  mehr  «Sein*  und  so  haben 
wir  für  den  obersten  Begriff  ein  ganz  pr&chtiges  Wort, 
deutsch,  alt,  unabhängig  von  anderen  Sprachen  und  so 
wohlklingend,  dass  es  ganz  konkret  anmutet.  Darum  lassen 
sich  Ober  das  «Wesen*  der  Dinge  auch  noch  geschmaek- 
ToUere  Sitze  zusammenreden  ab  über  ihre  Essentaa  oder 
ihre  Entitat  Und  weil  man  die  schlichte  Wahrheit  nun 
einmal  nicht  fassen  kann,  dass  der  Begriff  nichts  ist  als 
das  Wort  und  das  W<»rt  nichts  als  ein  Erinnerungszeichen 
ftr  Gruppen  ähnlicher  Vorstellungen,  so  faselt  man  seit 
zweitausend  Jahren  von  einer  Beziehung  zwischen  den  Be- 
griffen und  dem  Wesen  der  Dinge.  Danach  soll  der  Be- 
griff etwas  sein,  worin  das  Wesen  der  betreffenden  Ob- 
jekte vorgestellt  wird  (üeberweg,  Logik  5.  Aufl.  147);  und 
wesentlich  sollen  diejenigen  Merkmale  der  Objekte  sein, 
von  denen  ihr  Bestehen,  ihr  Wert  oder  ihre  Bedeutung 
abhängt. 

Nun  wissen  wir,  dass  unser  Denken  niemals  im  stände 
ist,  in  das  Wesen  auch  nur  einef?  Sanflkorns  einzudringen. 
Wir  besitzen  keine  Begritfe,  die  zuletzt  über  die  subjektiven 
Sinueseindrücke  hinausgehen;  nuissten  Begriffe  also  wesent- 
liche Merkmale  bieten,  das  Bestehen  der  Objekte  erklären, 
so  hätten  wir  überhaupt  keinen  Begriff".  In  das  Wesen  der 
Dinge  hat  ein  einziger  Metaphysiker  einzudringen  ver- 
sucht, Schopenhauer,  der  in  ihnen  den  WjUen  zu  entdecken 
glaubte;  wir  werden,  sobald  wir  seine  Sprache  kritisieren, 
erfahren,  welche  ungeheuerliche  Tautologie  er  sagte,  als  er 
das  Wesen  mit  dem  Willen  und  den  Wülen  mit  dem  Wesen 
erklärte. 

Ist  aber  das  Wesen  der  Objekte  in  ihrem  Werte  ent- 


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Wesen. 


295 


lialten,  dann  ist  dieses  Wesen  etwas  Relatives,  wie  jeder 
Wert,  dann  ist  es  yon  unserem  menscUichen  Litereaae  ab- 
hftnf^g,  dann  ist  es  dasadbe,  was  die  Bedeutung  der  Ob- 
jekte ansmachti  die  Bedeutung  fbr  uns  Menschen,  dann  will 
^e  Schullogik  auch  nichts  anderes  behaupten  als  ich:  dass 
nSmlich  die  Worte  oder  Begriffe  Zeichen  smd  für  diejenigen 
Jäinneseiadrllcke,  die  uns  an  den  Dingen  interessiensn,  die 
wir  uns  darum  merken.  Dieses  Interesse  kann  ein  sehr 
nahes  und  gemeines  sein,  wie  das  des  Bauen  an  seinem 
Feld,  und  seine  Worte  oder  Begriffe  werden  sich  danach 
bilden;  dieses  Interesse  kann  ein  fernes  und  edles  sein,  wie 
das  des  Forschers,  z.  B.  Liim^,  der  die  Pflansen  klassifi- 
zieren will:  immer  haben  die  Begrüfo  nur  relative  Bedeutung, 
immer  sind  sie  nur  eine  Abkfliisnng  der  oberflächlicheii 
Smneseindrflcke,  die  wir  uns  gemerkt  haben.  Platt  und 
kindisch  hat  einst  Flaton  in  den  Begriffen  die  Ursachen  der 
wirklichen  Dinge  zu  finden  geglaubt,  hat  diese  zeugenden 
Ursachen  die  Ideen  genannt  und  dafür  grossen  Z  1  anf  ge- 
habt. Aristoteles  war  klug  und  prosaisch  genug,  das  Mytho- 
logische in  diesen  derben  und  zengimgKfrohen  Platonischen 
Ideen  zu  durchschauen  (Metaph.  Ii.  2),  aber  als  er  ein 
Abstraktes  Wort  (oooia)  «liifür  setzte  und  so  fQr  die  Essen- 
tien  und  Wesenheiton  den  Anhieb  that,  nahm  er  den  Platoni- 
schen Gottheiten  nur  ihre  Schönheit,  nicht  ihre  Dumm- 
heit. Aristoteles  hat  sich  redlich  abgemüht,  sich  und 
seinen  Schülern  den  Begriff  ^ Wesen"  klar  zu  machen;  er 
martert  seine  schöne  Muttersprache  bei  dieser  Arbeit  mit- 
unter (z.  B.  TO  Ti  fjV  eivott)  ebenso  wie  Uegel  unser  liebes 
Deutsch;  und  wenn  die  Sprache  überhaupt  unter  der  Folter 
mehr  aussagen  könnte,  als  wir  in  sie  hineingelegt  haben, 
diese  beiden  Ueukeräkuechte  hätten  ihr  etwas  Neues  ab- 
gezwungen. 

So  kann  ich  wohl  sagen,  dass  die  Erklärung  der  Be- 
griffe durch  das  Wesen  der  Dinge  eine  der  schlimmsten 
Tautologien  in  sich  schliesst.  Der  Begriff  bezeichnet  Diiifj^e, 
die  ihrem  Wesen  uai  h  zusammengehören;  und  dass  Dinge 
^usainmengehöreu  erkenueu  wir  daran,  dass  sie  durch  den- 


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296 


1.  Begriff  und  Wort 


selben  Begrifi'  oder  dasselhe  Wort  zusammengefasst  werden. 
Wir  kOnneii  es  in  der  Gesdiidite  der  Zoologie  verfolgen, 
wie  das  WesenfUehe  der  KkMsen  bald  so,  bald  so  verstandeii 
wird;  aach  heute  noch  hOrt  man  die  sinnlosen  F)ragen,  ob 
diese  oder  jene  niedersfeen  Organismen  za  den  Tieren  oder 
zu  den  Pflanzen  , gehören",  das  heisst  doch  wohl:  ihrem 
Wesen  nach  gehören.  In  WirkEchkeit  ist  es  dne  Wort^ 
frage;  es  hftngt  (ich  will  nicht  sagen  Tom  Belieben)  Ton 
der  Begrifbbildmig  des  Klassifilutors  ab,  ob  er  nachher  so 
oder  so  entscheiden  muss,  oder  gar  ein  drittes  Reich  hin- 
stellt, das  heisst  ein  drittes  Reich  begrifflich  oder  sprach* 
lieh  abgrenxt. 

Wenn  man  nun  bedenkt,  dass  unsere  Begrifie  nur 
relatire,  subjektiTe,  ungefihre  Erinnerungsseichen  flir  relatir 
beachtenswerte  SinnesemdrQcke  sind  (schlecht  gehende  Uhren 
für  unsere  subjektive  Zeiteinteilung),  wenn  wir  ferner  be- 
denken, dass  die  Einteilangsworte  des  Weltkatalogs  (z.  B. 
Reich,  Kreis,  Klasse,  Ordnung,  Familie,  Gattung,  Art,  Ab- 
art, Varietät)  eben  auch  nur  solche  Begriffe  sind,  die  wir 
so  lange  gebrauchen,  als  sie  uns  das  Wesentliche  au  be- 
zeichnen scheinen,  so  werden  wir  zugeben  müssen,  dass  auch 
der  Streit  um  den  Artbegriff,  um  den  Darwinismus,  eben 
nur  ein  Begriffsstreit,  das  heisst  ein  Wortstreit  ist.  Dass 
es  neben  dem  künstlichen  System,  diesem  Notbehelf,  ein 
natürliches  System  geben  müsse,  hat  schon  Linn^  gewusst; 
und  sein  künstliches  System  der  Botanik  ist  doch  wenigstens 
schon  auf  die  Zeugun^swerkzetigc  gegründet.  Dass  die 
„guten"  Arten  von  der  Zengungstahigkeit  also  von  If  i  Ab- 
stammung abhängen ,  !iat  man  ebenl'allä  lange  vor  Darwin 
gewusst.  Wenn  also  der  Darwinismus  ebenso  vollständig 
und  gewiss  wäre,  wie  er  lückenhaft  und  vielfach  un'^icher 
ist,  so  würde  mich  er  d* nufh  h  keine  Be^n  itl-pyramide  bieten, 
nicht  die  ,wesentlh  ln  u  Merkniale"*  durch  fcbtumschriebene 
Begrifte  ausdrücken  können.  Das  einzige  Ergebnis  der 
schönen  und  kühnen  Hypothese  Darwins  ist  die  Bestätigung 
unserer  Lehre,  dass  Begriffe  (welche  in  der  Naturgeschichte 
Arten  beissen)  oder  Worte  nebelhaft,  schwebend,  undefinier- 


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Begrifiiddeale. 


297 


bar  sind.  Und  fassen  wir  selbst  Darwin  als  den  blossen 
Beobachter,  dessen  «Gesetze*  erst  noch  tod  einem  Denker 
eixiheitlich  erklärt  wwdmn  mUim  Qii<i  dadurch  langsam  dem 
Froiease  der  SelbstzenetKung  Terfallen,  fiuMn  wir  aelbrt 
Darwin  ab  d«i  Kepler,  der  anf  seinen  Newton  wariet,  so 
kann  und  wird  der  nenen  Weisheit  letzter  Schlius  nur  ein 
neues  Wort  sein,  ein  neuer  Begp-iff,  der  wiedergibt,  was  er 
geborgt  bekonunen  hat,  bestenfidls  ein  bequemer  Automat, 
der  eine  Banknote  hergibt,  sobald  man  den  Betrag  in  Oold 
vorher  hineingeworfen  hat.  So  eine  Banknote  war  die 
«GraTttation',  so  eine  Note  wbd  Tielleicht  einst  »Entwicke- 
loBg*  heissen. 

« 

Man  unterscheidet  gern  den  metaphysischett,  den  logi-  BegriniH 
sehen  und  den  —  natllrliehen  Begriff.  Der  metaphysische 
Begriff  wttrde  etwa  der  platonischen  Idee  entsprechen,  der 
Torstellung,  dass  z.  B.  die  allgemeine  Form  »Pferd*  etwas 
in  der  Natur  der  Dinge  wirklich  Vorhandenes  sei,  eine  Form 
oisr  ein  Urbild,  und  dass  die  einzelnen  Individuen  so  oder 
so  nach  diesem  Begriff  gebildet  ^^  ih  den.  Dieser  metaphysi- 
sche Begriff  hat  gewiss  nur  den  Wert  alten  Eisens;  aber 
darQber  zu  lachen  werde  ich  mich  hüten,  solange  ich  nicht 
so  frei  bin,  auch  Ober  die  .Vererbung",  die  neueste  Fassung 
der  ewigen  Form,  ebenfalls  lachen  zu  können. 

Das  Ideal  spielt  seine  Holle  auch  bei  dem  Unterschiede 
zwischen  dem  logischen  und  dem  —  nattlrlichen  Begjiff. 
Der  loji^schc  Begriff  soll  nämlich  so  eine  Art  Idealbegriff 
sein ,  ein  Begriff,  der  alle  gegenwärtige  und  zukünftige 
Kenntni"^  rom  Objekt  zusaramenfasste,  so  dass  der  Besitzer 
diesft-  Begriff«  '^ndlich  in  das  Tnnero  Irr  Natur  dringen 
könnte.  Dagegen  sind  unser*  natürlichen  Begriffe  oder 
Worte  nur  armselige  Versuche,  emc  halbwegs  brauchbare 
Ordnung  in  die  Erinnerung  all  unserer  Sinneseindrücke  zu 
schaffen.  Jede  Verbesserung  unserer  Kenntnisse  nähert  also 
unwillkürlich  unsere  natürlichen  Begriffe  um  ein  Winziges 
dem  logischen  ideal.  Aber  zweierlei  Begriffe  gibt  es  nicht. 


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298 


1.  begriff  und  Wort. 


Zu  jeder  Zeit  setzt  sich  die  Sprache  des  Hensohen  ans  Be- 
griffen zuBammen,  welche  an  logischer  SchSrfe  genau  der 
Menge  seiner  Kenntnisse  entsprechen«  Wie  der  Begenbogen 
Tor  d^  Kinde  zurückweicht,  das  ihm  entgegenlaufen  will, 
so  das  logische  Ideal  vor  dem  jeweiligen  Begriff  unserer 
heutigen  Kenntnis.  Mehrfach  in  der  Geschichte  der  Philo- 
sophie (Leihniz)  hat  man  versucht,  sich  der  Allwissenheit 
des  Gottes  zu  nähern  und  durdi  ein  lof^sches  Begriffssystem 
alles  Wissen  begrifflich  zu  ordnen.  Diejenigen,  die  wie 
Hegel  am  liebsten  die  Anzahl  tler  clieiiiiscben  Elemente  und 
die  Kamen  der  römischen  Könige  aus  der  Tiefe  ihres  Ge- 
mütes deduktiv  abgeleitet  bitten,  Terfielen  dem  Fluche  des 
Hamlet,  nicht  fertig  werden  zu  können.  Wenn  sie  die 
Karte  der  Erde  fertig  hatten,  wurde  Amerika  entdeckt;  und 
wenn  sie  unter  dem  Hegriff  Planet  5  Sterne  verstanden,  die 
Sonne  und  den  Mond  dazu  nahmen,  um  glatt  die  Wochen- 
tage danach  zu  benennen,  so  kamen  neue  Fernrohre  und 
man  entdeckte  den  G.,  den  7.  und  den  8.  Planeten. 

Die  andern  Systematiker ,  die  Anti-Hamlet-Naturen, 
wollten  fertig  werden  \\m  jf  Hen  Preis.  Sie  schufen  z.  B. 
die  Linndsche  Pflanzencinteüuug  und  glaubten  Begriffe  zu 
bilden,  wenn  sie  Kennzeichen  angaben.  Ebenso  könnte  man 
das  System ,  wonach  man  gej^enwärtig  Verbrecher  wieder- 
erkennen will  (indem  mau  ihru  Daumenglieder,  ihren  Schädel 
nach  allen  Dimensionen,  ihre  Ohren  und  ihre  Zehen  niisst, 
und  sich  darauf  verlässt,  dass  keine  zwei  Individuen  unter 
allen  Kategorien  zugleich  identi.schu  Ziftern  aufweisen  wer- 
den), für  ein  System  neuer  Begriffe  ausgeben  und  so  neue 
Begriffe  und  Worte:  ZwölfmiUimeterdaumennagehnenscheu 
z.  B.  zu  bilden  glauben. 

Der  logische  Begriff  des  Gelehrten  verhielt  sich  zum 
natürlichen  Begriff  der  alltäglichen  Sprache  nicht  wie  das 
Absolute  zum  BelatiTen,  sondern  höchstens  wie  eine  ver- 
besserfee  Maschine  zu  einer  orsprünglicheroi.  Wenn  die 
Platonischen  Berichte  Uber  die  Lehrweise  und  die  Anstren- 
gungen des  Sokrates  richtig  sind,  so  war  Sokrates  immer 
nur  einzig  bemflht,  die  BegrifEunaschine  zu  verbessern,  das 


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Dtflnitioii  «nd  Aufimerkiamkeit. 


299 


iandlaufij^e  Wort  zu  untersuchen,  seine  hergebrachte  Be- 
deutung mit  den  Anschauungen  der  Zeit  zu  vergleichen  und 
zu  fragen,  ob  die  volkstümlichen  Deliuitioiieii  richtig  seien. 
Sokrates  tkat  also  bewusst,  was  seit  Hunderttausenden  von 
Jahren  die  sprechenden  Menschen  unbewusst  thun:  er  suchte 
seine  ererbte  Sprache  seinen  erworbenen  Kenntnissen  anzu- 
passen. Er  verbesserte  nicht  das  Wissen,  sondern  nur  das 
Werkzeug  seiner  Mitteilung,  die  Sprache  zwischen  den 
Menschen.  Er  fand,  dass  die  natürlichen  BegriÜe  dem 
logischen  Ideal  nicht  entsprechen;  er  sah  die  BegrilFe  der 
Alltagssprache  um  eme  Sprosse  tiefer «  ab  die  Sprosse  der 
Leiter,  auf  der  er  schon  mit  ednem  Wissen  stand.  Er  snckte 
die  Sprache  emponnihehen,  stieg  aber  sugleiGh  wieder  eine 
Sprosse  hdher  und  die  Differenz  blieb  die  alte.  Und  das 
wird  ewig  so  bleiben.  Und  ewig  wird  der  Kletterer  nun 
herunterblicken  und  oben  zu  sein  wihnen  und  nicht  sehen, 
dass  die  Leiter  unendlich  lang  ist  und  er  erst  ein  Ideines 
StQek  erstiegen  hat. 


II.  Die  Definition. 

Wss  ich  flbfflr  den  Begriff  der  Definition  Tonabringen  Definition 
habe,  das  hat  Goethe  kurz  und  bttndiff,  nach  seiner  Art  ftlr 

.  merksani- 

einen  besondem  Fall,  schon  gesagt,  wo  er  in  der  Geschichte  keit. 
der  Farbenlehre  Athanasius  Kircher  kritisiert:  „Unser  Ver- 
fasser möchte,  um  sich  sogleich  ein  recht  methodisches  An- 
sehen zu  geben,  eine  Definition  vorausschicken  und  wird 
nicht  gewahr,  dass  man  eigentlich  ein  Werk  schreiben  muss, 
um  zur  Definition  zu  kommen. Etwas  Aehnliches  scheint 
Sigwart  TOisusch weben  oder  -doch  dem  Verfasser  seines 
Registers,  wenn  da  die  Definition  ein  Abschluss  des  Wissens 
genannt  wird.  In  der  »Logik"  selbst  wird  die  Unfruchtbar- 
keit der  Definition  (IT.  S.  699)  zugegeben,  vorher  jedoch 
(S.  639)  wird  der  Definition  dennoch  trotz  aller  Warnungen 
vor  Dnbois  Heymonds  pathetisch  verkündeter  WolHormel 
eine  bedeutsame  Bolle  zugeschrieben.   Sigwart  hätte  wohl 


uiyiii^Cü  Ly  Google 


soo 


Ii.  0ie  Definition. 


nicht  der  Meister  der  logischen  Disziplineii  werden  btenen, 
wenn  er  nicht  an  die  logischen  Begriffe  oder  Worte  ttber 
seine  eigene  &itik  hinaus  geglaubt  hätte. 

An  dem  geistreichen  GeseUsdiaflsspiel  der  Logik  nehmen 
wir  erst  teil,  wenn  wir  unsere  Worte  oder  BegriflS»  definieren 
wollen.  Für  gewöhnlich  gebrauchen  wir  unsere  Worte  «wie 
Essen  und  Trinken  frei*,  ohne  das  BedOifnis  ihrer  Definition 
zu  fühlen.  Solange  die  Henschoi  einandw  halbwegs  Ter^ 
stehen,  solange  brauchen  sie  keine  Definition  der  Begriffe; 
erst  wenn  sie  einander  ganx  und  gar  nicht  mehr  Terstehen, 
wird  diese  betrübende  Thatsache  durch  eine  Definition  aus- 
drückHch  festgesteUi  Wir  haben  an  anderer  Stelle  ge* 
sehen,  dass  Bewusstsein  eine  Hemmung  ist,  eine  schmerz- 
hafbe  Störung  des  unbewussten  Gedächtnisses.  Das  Bewusst- 
sein verhält  sich  zum  unbewusst  thätigen  Gedächtnisgang 
emsthaft  wie  Brustschmerzen  zur  regelmässigen  Atmung, 
wie  Bauchgrimmen  zur  behaglichen  Verdauung.  So  kommt 
auch  der  Begriff  in  seiner  Definition  uns  zum  Bewusstsein; 
die  Definition  gehört  gewissermassen  zu  den  Sprachstörungen, 
sie  ist  eine  Hemmung  im  regelmässigen,  behaglichen  Ge* 
brauch  der  Worte.  Millionen  Menschen  essen  Kase  und 
sprechen  von  Käse,  Millionen  Menschen  behaupten  ihre 
Rechte  und  sprechen  von  ihren  Rechten,  ohne  einer  De- 
finition (1er  IVu^n-iffe  »Käse"  oder  , Hecht"  zu  bedürfen.  Erst 
wenn  ich  in  öüdfrankreich  einen  flüssigen  Kahm  als  Käse 
vorgesetzt  bekomme,  werde  ich  stutzig,  komme  7iini  Be- 
wusstsein meiner  mangelhaften  Bildung  und  frage  nach  der 
Wortdetiniiion ;  erst  wenn  ich  vom  Händler  em  gefälschtes 
Zew^  für  mein  echtes  Geld  bek(mimen  habe  und  ilm  zur 
Strafe  für  meinen  Aerger  oder  meinen  Schmerz  verklage, 
erst  dann  wird  nach  der  Sachdefinition  pfefracft. 

Wir  empfinden  den  ganzen  Wirrwarr  der  Logik  viel- 
leicht deutlicher,  wenn  wir  bemerken,  dass  jede  Definition 
—  obwohl  sie  uns  durchaus  nicht  von  der  Stelle  zu  bringen 
im  stände  ist  —  immer  schon  ein  Satz  ist.  ein  Urteil,  ja 
eigentlich  immer  schon  ein  Sthlu^.-. .  gewöhnlich  ein  un- 
mittelbarer Schluss,  oft  ein  ganz  komplizierter  Syllogismus. 


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Definition  and  Aufmerkaamkeit. 


301 


Natürlich  will  ich  dfimit  der  Definition  nicht  höhere  Ehre 
zuerkennen,  sondern  nur  anJeuteu,  wie  im  bewussten  Ge- 
brauch der  Worte  psychologisch  bereits  die  ganze  Denk- 
thätigkeit  enthalten  ist,  welche  die  Logik  iUa  ihre  schwierig- 
sten Aufgaben  m  Ansprach  nimmt 

Man  definiert  die  De:finilion  ab  die  geordnete  Angabe 
der  wesentlichen  Merkmale  eines  Begrifis.  Ich  brauche 
nicht  lu  wiederholen,  dass  der  B^priff  der  Ordnung  und 
Unordnung  nicht  aus  der  Wirklichkeitswelt  geholt  ist,  dass 
also  die  .Ordnung*  der  Merkmale  immer  auf  den  subjekfciTen 
Qeeichtspunkfc  des  Redenden  hinauslaufen  wird;  und  ich 
brauche  erst  recht  nicht  su  wiederholen,  dass  wir  vom 
.Wesen*  der  Objekte  keine  Vorstellung  haben,  ihre  wesent- 
lichen Merkmale  also  nicht  kennen.  Was  wir  mit  dem 
Worlschall  »Definition*  etwa  beseichnen,  das  ist  wirklich 
nichts  wdter,  ab  unaer  Besinnen  darauf,  wie  wir  zu  dem 
betreffenden  Wort  oder  Begriff  gekommm  sind.  Wobei  ich 
mich  leider  wieder  besinnen  muss,  dass  ich  eben  nur  den 
Fetisdi  «Definition"  mit  dem  befreundeteren  Fetisch  , Be- 
sinnung *  TCrtauscht  habe;  ich  hätte  auch  .Aufinerksamkeit* 
S^^n  können,  um  die  Bätseiworte  nicht  zu  vermehren. 

Halten  wir  aber  fest,  dass  in  den  Definitionen  schon 
geurteilt  imd  geschlossen  wird,  und  dass  jede  Definition  eine 
sichtbarliche  Tautologie  ist,  so  halten  wir  in  der  Hand,  was 
ich  gegen  den  gesamten  Betrieb  der  Schullogik  einzuwenden 
habe:  Mit  allem  Schliessen  wird  nie  etwas  Neues  erschlossen. 
Niemals  geht  in  unserem  Gehirn  etwas  Anderes  vor,  als 
dass  wir  entweder  eine  neue  Wahrnehmung  machen  oder 
von  unserem  Interesse  (im  weitesten  Sinne)  veranlasst  werden, 
auf  alte  Wahrnehmungen  und  ilire  Merkzeichen  die  Auf- 
merksamkeit zu  richten.  Alles  andere  ist  Tautologie,  alles 
andere  steckt  schon  in  den  Definitionen. 

Was  ist  ein  Dampfschiff?  ,Ein  Schiff,  das  durch  Dampf-  immer 
kraft  fortbewe<;t  wird.*    So  ist  unser  berühmtes  Denken  T«uto- 
beschaffen;  der  eine  macht  es  schlauer,  der  andere  dümmer, 
es  ist  aber  immer  dasselbe. 

Ich  sehe  ordentlich  wie  der  Logiker  sich  lachend  die 


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302 


II.  DU  Definition. 


Hände  reibt,  bei  dem  Scljulscbnitzer,  den  ich  soeben  gemacht 
zu  haben  scheine.  Er  braucht  sich  mit  einem  solchen  Igno- 
ranten, wie  ich  es  bin,  gar  nicht  erst  abzugeben.  Ich  wisse 
ja  g-ar  nicht,  dass  die  Tautologie  zu  den  Fehlern  der  De- 
finition gehöre;  mein  Satz  ^Dampfschifif  ist  ein  Schiff,  das 
durch  Dampf  kraft  fortbewegt  wird*  sei  ja  ein  Musterbeispiel 
itUr  eine  fehlerhafte  DefinHion. 

Nun,  ich  dagegen  behaupte,  dass  jede  Definition  mit 
diesem  Fehler  behaftet  ist;  oder  vielmehr:  dass  die  De* 
finitiou  gar  nichts  anderes  ist,  als  eine  tantologische  Ajiis- 
einanderlegung  ihres  Begriffs.  Icli  h&tte  ja  in  meinem  Bei* 
spiel  die  wdrtliehe  Tautologie  (idem  per  idem)  kieht  ver- 
hOllen  k()nnen.  Ich  konnte  sagen:  ,Ein  Dampfer  ist  ein 
Schiff  (oder:  Ein  DampfiKhiff  ist  ein  Wasserfahrzeug),  wel- 
ches durch  die  Kraft  des  Wassers  in  dessen  gespanntem 
gasförmigen  Aggregataustande  fortbewegt  wird/  So  konnte 
ich  im  ersten  Teil  rein  äusserlich  den  gleichen  Wortschall 
vermeiden,  im  s weiten  Teil  die  Wiederholung  des  Wortes 
«Dampf  durch  seine  Definition,  die  natOrlich  wieder  eine 
Tautologie  ist,  weil  sie  nur  der  versteht,  der  sie  sckon  be- 
sitzt. Aber  ich  muss  dem  Logiker  noch  etwas  ins  Gewissen 
schieben.  Hand  aufs  Herz,  wo  immer  es  beim  Logiker 
sitzen  mag:  ist  meine  er^^te  fehlerhafte  Definition  nicht 
eigentlich  das,  was  mir  ins  Bewusstsein  kommt,  wenn  ich 
mich  besinnen  will,  was  ich  unter  .Dampfschiff'  verstehe, 
wodurch  es  sich  von  anderen  Schiffen  unterscheide  und  — 
wenn  ich  z.  B.  eben  den  Prallschiffdampfer  erfinde  —  welche 
Unterarten  (Raddampfer,  Schraubendampfer)  es  bisher  unter 
sich  licgriffen  habe?  (Sacherklärung).  Ist  diese  meine  erste 
fehlerhafte  Definition  nicht  nnrh  das,  worauf  es  ankommt, 
wenn  ich  einem  wissbegierigeu  Knaben  kurz  definieren  soll, 
was  ein  Dampfschiff  sei?  (Namenserklärung). 

Die  alte  Regel,  eine  Definition  müsse  den  Gattungs- 
begriffnebst dem  Artuntersi  hied  enthalten  fz.  B.  das  Quadrat 
ist  ein  gleichseitiges  Rechteck),  diese  Kegel  ist  die  kürzeste 
Anweisung,  musterhafte  Tautologien  zu  sagen.  Denn  ein 
Begriff  ist  ja  eben  —  wie  man  uns  lehrt  —  die  Erinnerung 


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Iminer  Tratologie. 


SOd 


an  die  ,  weseiitlirhen"  Merkmale  einer  Gruppe  von  Objekten, 
die  wesentlichen  Merkmale  müssen  sich  immer  auf  die  ein- 
fache Formel  von  Gattung  und  Artuntt  i  rhied  hringen  lassen; 
so  ist  zwischen  dem,  woran  dio  Deünition  ausdrucklich  er- 
innert, und  dem,  woran  der  Bejjriff  erinnert,  ^ar  kein  an- 
derer ünterschieil,  als  die  Betonung,  die  Richtung  der  Auf- 
merksHiiikeit.  Und  dieser  psychologische  Vorgang  musst« 
der  Logik  entgehen,  weil  sie  schon  die  Begriffe  ftlr  klare 
Bilder  einer  felsenfesten  Wirklichkeit« weit  hielt  und  darum 
diu  Dt-tinitiunen  für  zu vci lässige,  objektive  Eikliinirigen  dieser 
Bilder.  Die  Sprache  aber  hat  keine  festen  Begriffe ,  hat 
keine  objektiven  Definitionen;  jede  Definition  ist  subjektiv, 
xaaA  Wils  m  ihr  von  dem  einen  Gesichtspunkt  ein  Fehler 
ist,  dw  kann  die  HauptsaclLe  sein  für  einen  anderen  Ge- 
sichtspankt  Je  naeh  dem  Interesse,  nach  der  Richtung 
des  Denkens  gibt  es  Tiele  Definitionen  deraelben  Begriffes. 
Der  Bauer,  der  Eanfknann,  der  Nati<maldkonom,  der  Che- 
miker, jeder  wird  den  Begriff  E9se  anders  definieren.  Der 
Kaufmann  und  der  Theologe,  der  Jurist  und  der  Keger- 
sklave,  Jeder  wird  den  Begriff  Recht  anders  definieren;  und 
keiner  braucht  unrecht  zu  haben.  Es  ist  damit  wie  mit 
einem  nackten  Modell  im  Akisaal;  ein  Dutzend  Schtüer  oder 
Meister  zeichnen  dieselbe  Person  ab,  ein  jeder,  wie  er  sie 
Ton  seiner  Stelle  sieht,  einer  Ton  vom,  einer  gar  von  hinten, 
und  keiner  braucht  falsch  zu  seichnen.  Auf  den  (Gesichts- 
punkt kommt  es  an.  Und  wir  werden  sehen,  dass  auch 
Begriffe,  je  nach  der  Aufgabe,  a  priori  und  a  posteriori  ge- 
zeichnet, definiert  werden  können,  und  dass  die  Zeichnung 
a  posteriori  gewöhnlich  die  ernstere  Aufgabe  ist. 

Diese  meine  Auffassung,  dass  nämlich  der  Begriff  der 
Psychologie  allein  angehöre,  Tor  jeder  Logik  da  sei,  etwas 
wie  Thätigkeit  sei  und  darum  etwas  Irrationales,  diese  Auf- 
fassung findet  sich  schon,  wenn  auch  ungenau,  bei  Lotze 
und  Sigwart.  Aber  bei  beiden  bildet  der  Begriff  als  psycho- 
logische Thatsache  doch  nur  eine  niedrige  Stufe,  welche  /u 
dem  höheren  Begrilf,  zu  dem  klaren,  idealen,  logischen  Be- 
griff emporfuhrt,  der  sich  dann  durch  eine  klare,  logische 


304 


IL  Die  Definition. 


BigtiSs-  Definition  als  wissenschaftUclies  Element  answeiMn  kaiiii. 
Beide  behandeln  die  Logik,  als  ob  sie  etwa  der  Mathematik 
gleichwertig  wäre,  wählend  doch  die  Ekmenta  der  Mathe- 
matik gar  nichts  anderes  sind,  als  sdUilbar,  menbar,  be- 
grenzbar, definierbar,  die  Elemente  des  Denkens  jedoch 
aihrem  Wesen  nach*  undefinierbar.  H.  Rickert  (0renien 
d.  naturwiss.  Begrü&büdung)  gibt  alle  Mftngel  der  Begriffe 
bei  den  Spesialwissenschaften  su,  scheint  aber  derWissen- 
Bchaftslehre  die  Formung  YoUkommener  Begriffe  yorsube- 
halten.  Aehnlich  schon  J.  Volkelt  (Eifahrung  und  Denken), 
der  Begriffe  höherer  Ordnung  und  »eine  logische  Gliede- 
rung ihrer  Merkmale*  kennt.  Es  ist  menschlich  au  ver- 
stehen, ja  es  ist  SU  loben,  wenn  die  Logiker  die  Sehn- 
sucht empfinden,  unsere  mangelhaften  Begriffe  einem  Ideal 
zu  nähern,  das  Chaos  unseres  Denkens  su  ordnen.  Eine 
solche  Sehnsucht  aber  für  Wissenschaft  zu  halten,  ist  eine 
arge  Selbsttäuschung;  die  Täuschung  wird  immer  in  die 
Versuchung  führen,  die  Ordnung,  weil  sie  in  der  Wirklich- 
keitswelt nicht  zu  finden  ist,  erzwingen  zu  wollen.  Man 
rechnet  die  Logik  nicht  gerade  zu  den  Zebngeboten,  aber 
ein  .Sollen"'  ist  in  ihren  anspniclisvollen  Deul^esetzen  TOr- 
sfceckt.  In  der  Logik  ist  das  Wort  frech  geworden  wie  in 
der  Aesthetik  und  in  der  Ethik;  die  Wirklichkeitswelt  kennt 
nur  das  Wollen  des  Künstlers,  seine  sinnfälligen  Schöpfungen, 
und  die  hergebrachte  Aesthetik  tritt  ihr  von  irgend  eir>eni 
heiligen  Berge,  dem  Paruass  z.  B.,  mit  einem  Sollen  ent- 
gegen; die  psychologische  Wirklichkeitsweit  kennt  nur  ein 
Wüllen  des  Menschen,  seine  Handlungen,  und  die  Ethik 
tritt  ihr,  immer  noch  vom  Siuai,  wieder  mit  dem  Sollen 
entgegen.  Ich  fttrchte  nun,  Aesthetik  und  Ethik  -^rlten 
immer  noch  für  emsthafte  Wissenschatten,  und  der  Vej-- 
gleich  mit  ihnen  möchte  darum  keinen  Zweifel  an  dem 
Wert  der  Logik  erregen;  ich  will  darum  lieber  auf  ihre 
Aehnlicbkeit  mit  der  älteren  Astronomie  hinweisen,  welche 
Astrologie  hiess  und  war,  aut  dem  Ptolomäischen  System 
fusste  und  /..  B,  leinte:  die  Planett^n  müssten  sich  (man 
achte  auf  die  Logik)  iu'Kreiüliuieu  bewegen,  weil  der  Kreis 


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Gesichtspunkt. 


305 


die  ToUkommenste  Linie  wäre.  Solche  SchemvissensdiafteE 
sind  sehwer  auBsurotten.  KopemikuB  stfinte  das  alte  System, 
aber  sein  jüngerer  Zeitgenosse  Melanchthon  war  ein  ttber- 
leugter  Artrolog;  ja  sogar  Kepler  noch,  der  grosse  Ent^ 
decker  der  elliptischen  Flanetenbewegnng,  gab  sich  dazu 
her,  für  Wallenstein  das  Horoskop  su  stellen.  Wir  haben 
also  nicht  die  Hoffiiung,  man  werde  so  bald  aufhören,  in 
den  Schulen  zu  Idiren,  wie  man  denken  solle. 

Ich  habe  oben  gesagt,  dass  es  Tom  Gesichtspunkt  ab-  'G««toiit«. 
hünge,  ob  in  einem  bestimmten  Gedankengang  eine  Definition 
feblerhAft  sei  oder  nicht;  selbstverstindlich  denke  ich  dabei 
nicht  an  sachiicho  Fehler,  an  thatdkhliclic  Albernheiten, 
sondern  an  Formfehler,  wie  sie  von  der  Schullogik  her- 
gebrachterweise aufgezählt  werden.  Von  der  Tautologie 
habe  ich  schon  gesprochen,  weil  sie  die  Deiiniiion  selbst 
ist  Aber  sogar  die  ewig  wiederholte  Regel,  dass  ein  Be- 
griff durcli  seinen  Gattungsbegriff  und  seinen  Artunter* 
schied  definiert  werde,  ist  ein  nebelhafter  Satz.  Denn  er 
gilt  nur,  wo  die  Begriffe  sich  auf  eme  anerkannte  Klassi* 
fikation  der  Wirklichkeit  stützen  können,  in  einigen  Gebieten 
der  Naturgeschichte  z,  B.  Sonst  kann  man  je  nach  dem 
Gesichtspunkte  Gattungsbegriff  und  Artunterschied  mitein- 
ander vertauschen.  Das  gilt  lur  alle  abstrakten  Begriffe, 
auch  für  die  der  Physik.  Schon  Leibniz  hat  darauf  hin- 
gewiesen; aber  trotzdem  er  den  Begriff  , Gesichtspunkt"  in 
die  Philo'«o])h!e  eingeführt  hat,  hat  er  seine  Tragweite  für 
unser  Denken  noch  nicht  erkannt.  Ob  ich  deliuiere  ,,der 
Schmeichler  lobt  lügnerisch*  oder  „der  Schmeichler  lügt 
lobend"  hängt  doch  offenbar  davon  ab ,  ob  ich  die  Auf- 
merksamkeit auf  das  Lügen"  oder  auf  das  „Loben"  lenke, 
ob  ich  den  Schmeichler  angreifen  oder  verteidigen  will. 
Beide  Definitionen  sind  richtig,  je  nach  meinem  Standpunkt; 
und  ob  sie  gut  gewählt  sind,  hängt  nicht  vou  der  Logik 
ab,  sondern  von  der  Rhetorik,  welche  doch  eher  eine  Samm- 
lung Ton  Diebskniffen  ist  als  eine  Wissenschaft. 

Es  liesse  sieh  Ineht  ausfilliren,  dass  der  Gedankengang 
dasu  fdhren  kann,  in  einer  Definition  die  Aufmerksamkeit 

M ftvtliBer,  Baitrig«  m  ttser  Kritik  d«r  Spraob».  m.  20 


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306 


IL  Di«  DtfiaitiMi. 


auf  den  Punkt  zu  lenken,  der  den  Schulfehler  der  zu  grossen 
Weite«  der  Enge  oder  der  Abundanz  ausmacht.  Eine  De* 
finition  ist  ja  nur  die  Bennntiiig  auf  den  Begrifl^iolialt; 
wenn  wir  nun  Veranlassung  haben,  unsere  Aufmerksamkeit 
auf  zwei  Merkmale  zugleich  zu  richten,  deren  eins  vom 
andern  abhangt  (z.  B.  Parallelen  sind  Linien,  die  gleiche 
Richtung  und  voneinander  gleichen  Abstand  haben),  so  ist 
es  ein  schnelles  aber  kein  fehlerhaftes  Denken.  Selbst  die 
berüchtigte  Zirkeldefinition  ist,  genau  betrachtet,  nur  eine 
verhüllte  Tautologie  und  als  solche  nicht  ein  Fehler  im 
Denken,  sondern  ein  Muster  des  Denkens  überhaupt,  «las 
eben  nichts  anderes  ist  als  Sprache  oder  Tautologie.  Man 
schlage  die  Dpfinitionen  der  wirklich  praktischen  Hand- 
bücher i\uf.  wo  mau  wolle,  überall  wird  es  von  Zirkd- 
delinitionen  und  Tautolorrjen  wimmeln.  Immer  wird  es 
heisse?i:  Ein  Dampfer  ist  ein  Schiff,  das  durch  Dampf  kraft 
bewegt  wird.  Nur  wo  der  Verfasser  nuch  der  Logik  schielt, 
wird  er  die  Tautolot,'io  künstlich  vermeiden  —  wie  ich  e<? 
oben  in  der  verbes^ci  ten  Detinition  des  Dainiifschiffs  that  — 
und  der  Leser  wird  tjiüige  Mühe  haben  zu  einer  Vorstellung 
zu  kümmcii:  zur  Tautologie. 

Man  hat  die  Definitionen  seit  jeher  (das  heisst  seit  etwa 
zweitausend  .Lihicü/  nach  verschiedenen  ^Gesichtspunkten" 
verschieden  eingeteilt;  und  die  Loj^iker  haben  auf  diese  Ein- 
teilungen viel  haarspalteudeii  Witz  verschwendet.  Uns  ist 
es  wichtig,  darauf  hinzuweisen,  dass  diese  Einteilungen  nicht 
die  Definitionen  rerschiedener  Begriffe  angehen  müssen,  son- 
dern Terschiedoie  Definitionen  desselben  Begrifik.  Freilich 
hat  schon  der  grosse  Duns,  der  Doctor  subtilis  (später  he^ 
deutete  der  Name  im  Englischen  [dunce]  und  Deutschen  einen 
Dummkopf),  die  Behauptung  aufgestellt,  unter  allen  mög- 
lichen Definitionen  mfisse  eine  die  richtige,  die  wesenhafle 
(o^iadv)«,  essentialis)  sein,  genau  so,  wie  Sigwart  behauptet, 
über  dem  populären  landUUifigen  Begriff  müsse  ein  höherer, 
logischer  Begrifl^  zu  finden  sein.  Ja  wohl,  wir  hatten  die 
einzig  richtige  Definition  unserer  Begriffe  von  den  Dingen, 
wenn  wir  nur  wOssten,  was  das  Wesen  der  Dinge  ist,  wenn 


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Ber«iohenmg  de«  WiMem. 


807 


wir  die  Welt  anders  TerstOnden,  als  durch  unsere  Spradie* 
Dum  aber  freilich,  wenn  wir  die  Welt  verstanden,  würden 
wir  eben  nicbt  sprechen  und  nicht  definieren,  sondern 
grenzenlos,  undefinierbar  schweigen  wie  die  Natur. 

Niemals  kann  das  Denken  allein  das  Denken  in  Worten  neieicha- 
weiterftlhren.  Eine  Erweiterung  der  Erkenntnis  ist  immer  ^vü»mw 
nur  raöplich  durch  Beobachtung  oder  Anschauung  und  durch 
die  direkten  neuen  Schlüsse  aus  der  Beobachtung  selbst, 
nicht  durch  Schlüsse  aus  dem  Namen  der  Beobachtung,  denn 
der  Name  der  Beobachtung  euthält  immer  nur  die  alten 
Schlüsse  und  mehr  lässi  sich  aus  ihm  nicht  herausziehen 
als  drin  steckt. 

Denn  die  Woi  te  bedeuten  oder  vertreten  oder  sind  doch 
immer  nur  die  Be<rriff'e,  insoweit  wir  sie  klar  fassen  mid 
definieren  könueii  (iu  dieser  Bemerkung  lie^  schon  wieder 
der  sprachliche  Unsinn  des  «insoweit";  als  ob  es  überhaupt 
möglich  wäre,  dass  Worte  mehr  enthielten,  als  unsere 
Kenntnis  von  den  Dingen ,  als  ob  Worte  geistige  Wesen 
für  sich  wären).  Lernen  wir  nun  irgend  eine  Erscheinung 
besser  verstehen,  so  heisst  das  doch  nicht:  wir  wissen  jetzt 
besser  als  firQher,  was  dies  oder  jenes  Wort  I>edeiito1^  ton«* 
äem  umgekehrt:  die  Bedeutung  des  Wortes  wächst  unbe- 
merkt mit  unserem  Wissen.  Als  der  Blutkreislauf  entdeckt 
war,  erfuhr  man  dadurch  nicht  etwa:  Aha,  Herz  bedeutet 
also  eigentlich  den  Muskel  u.  s.  w.,  sondern  das  Herz,  mit 
welchem  die  Leute  bis  dahin  den  Begriff  eines  merkwQrdigen 
Fieischklumpens  Torbanden,  der  selbständig  klopfte,  wenn 
man  erregt  war,  wurde  jetzt  als  eine  Art  Pumpe  aufgefasst. 

Wenn  nun  d^  Entdecker  einer  neu«i  Beobachtung 
oder  sein  Marodeur  in  Abhandlungen  und  sonstigen  Wort- 
arrangements logisehe  9ch]!U»e  neben,  so  boreidiem  sie 
vieUeicht  die  Bibliothek  ihrer  Wissenschaft,  aber  nicht  unser 
Wissen«  Denn  wie  sie  auch  die  Worte  formelhaft  setzen, 
um  einen  neuen  Gedanken  zu  beweisen,  sie  können  nicht 
darum  herum,  daas  der  Begriff  ihres  Gegenstandes,  das 
Wort,  durch  ihre  neue  Beobachtung  für  sie  seinen  Wert 
Tei^ndert  hat,  dass  sie  es  eigentlich  neu  definieren  mOssten. 


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808 


IL  IM«  Definition. 


Ein  Forscher  raaclit  z.  B.  die  Beobachtung,  An^^^  nicht 
nur  einii^p  heliotropische  Pflanzen,  sondera  gewisseiinassen 
alle  Pflan/.eii .  auf  bestimmte  Heize  hin  freie  Bewegungen 
(innerhalb  gewisser  Grenzeu)  machen  können.  Nun  lassen 
sieh  ganze  Bücher  zu  dem  Zwecke  schreiben,  um  /.u  be- 
weisen, drtss  das  Tier  sich  von  der  Pflanze  nicht  durch  seine 
Bewegungsfreiheit  unterscheide,  dass  die  alten  Definitionen 
der  beiden  Reiche  nicht  mehr  passen.  Das  alles  aber  wäre 
für  den  Entdecker  der  Wuhihcii  lua  em  leeres  Gerede,  ein 
Netzwerk  von  Tautologien.  Denn  im  Augenblicke,  als  er 
seine  Versuchspflanze  sich  auf  einen  Reiz  hin  bewegen  .sah, 
wurde  ihm  von  selbst  die  Pflanze  sofort  ein  veränderter 
Begri£f.    Durch  die  Anschauung  allein. 

Was  er  an  Rednerei  und  Wissenscliafilichkeit  hinzu- 
that,  war  nur  zum  Zwecke  der  Hiltoilung  und  anderer  Eitel- 
keiten nötig. 

Ein  Kind,  das  im  Aquarium  vor  dem  Behälter  der  See- 
nelke steht«  und  plötzlich  susammenschreckend  wahrnimmt, 
dass  die  rermeintliche  Pflanze  eiuen  Ann  ausstreckt,  das 
Kind  Terhessert  sein  Wissen  und  sdne  B^priffe  nicht  andws 
ab  der  Beohachter  der  Pflaoienreiae.  Und  wenn  das  Kind 
erschreckt  ausruft:  .Mama,  die  Blume  will  wasi*  —  so 
hat  es  dasselbe  getfaan,  was  der  Pirofessor,  als  er  seinen 
Vortrag  hielt. 

Kominal-  Weil  wir  aber  die  Welt  nicht  Terstehen,  darum  gibt 
"litoi**  es  keine  andere  Art  Definition  als  die  Worterklärung.  Die 
tfoMn.  alte  Einteilung  in  Nominal-  und  Realdefinitionen  hat  gar 
keinen  logischen  Sinn,  weil  wir  doch  die  Dinj^o  selbst  nicht 
erklären  können  und  kaum  erklären  wollen.  Ich  habe  aber 
schon  zu  Beginn  dieses  Abschnittes  angedeutet,  dass  es  wohl 
einen  Unterschied  zwischen  Wort-  und  Sacherklärui^  geben 
kdnnte,  wenn  wir  die  logischen  Spitzfindigkeiten  vergessen  und 
dagegen  festhalten  wollten,  dass  wir  es  nur  mit  psychologischen 
Vorgängen  zu  thun  haben.  Man  könnte  es  wohl  ganz  be- 
sonders eine  Nominaldefinition,  eine  Worterkliirung  nennen, 
wenn  ich  einem  noch  unwissenderen  Menschen,  als  ich  es 
bin,  ein  bisher  fremdes  oder  bisher  inhaltsleeres  Wort  Uber- 


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Nominal-  and  Realdefinitionen. 


309 


gebe  und  es  dazu  definiere,  das  heust  dasn  sage,  an  wekshe 
Vorstellungen  das  Wort  mieh  erinnert.  Man  könnte  das, 
wie  gesi^  eine  Nommaldefinition  im  engeren  Sinne  noinen. 
Man  könnte  im  Gegensatz  dam  es  eine  Realdefinition  nennen, 
wenn  ich  durch  eine  neue  Beohachtung  oder  eine  neue  Er- 
findung einen  Begriff  erweitere,  dadurch  seine  Definition 
Terladere  und  mich  selbst  auf  diese  Aenderung  oder  Be- 
reicherung meiner  Sprache  besinne.  Ein  grosser  üeberblick 
würde  dann  lehren  oder  su  sagen  gestatten,  dass  die  mensch- 
liche Sprache  von  bahnbrechenden  Geutern  durch  Real- 
definitionen fortgeführt  worden  ist,  dass  die  menschliche 
Sprache  durch  Realdefinitionen  gewachsen  ist,  dass  aber  der 
normale  Mensch  seine  Sprache  oder  seine  Weltanschauung 
von  der  Geburt  bis  zum  Tode  nicht  anders  lernt  als  durch 
Nominaldefinitionen.  Unser  gesamtes  D  nlcc  n  oder  Sprechen 
bewegt  sich  in  Noniinaldefinitionen  oder  Tautologien;  einer 
Realdefinition  kann  sich  nur  das  Genie  rennessen  —  oder 
der  Wahnsinn. 

Wer  mir  aufmerksam  gefolgt  ist  ,  wird  hier  erkennen, 
dass  dieser  anheimgegebene  Gegensatz  Ton  Nominal-  und 
Realdefinition  für  mich  zusammenfallt  mit  dem  Ge^^ensatz 
der  Erkenntnisse  a  priori  und  a  posteriori.  Der  Wert- 
schätzung nach  werden  dabei  freilich  die  Knnts'  lien  Begriffe 
auf  den  Kopf  gestellt:  es  war  aber  a  priori  zu  vermuten, 
(lass  die  Sätze  der  reinen  Vernunft,  die  Sätze  vor  aller  Er- 
fahrung nicht  viel  wert  sein  würden,  nicht  mehr  als  eine 
Erbschaft,  die  Gemeingut  ist,  als  ein  Hecht  auf  dos  Licht 
der  Sonne. 

Der  geniale  Mann .  der  zuerst  aus  Milch  Käse  machte  . 
und  das  neue  Ding  benannte,  wie  Adam  die  neuen  Ge- 
schöpfe benannte,  wie  sie  heissen  sollten,  er  durfte  sich 
einer  Realdefinition  rühmen,  einer  Bereicherung  der  Sprache, 
einer  Erkenntnis  a  posteriori:  und  der  kluge  Fabrikant, 
der  die  Spezialität  Upecies)  Chesterkäse  auf  den  Markt 
brachte,  war  im  kleinen  auch  so  ein  Bereicherer  des  Welt^ 
katalogs.  Als  aber  unser  Hanswurst  an  seinem  StQckchen 
ehester  seine  Weltanschauung  vormehrte*  erhielt  er  mit 


310 


II.  Di«  DefiaitioB. 


Hilfe  der  Karte  doch  nur  eine  Nominaldefinition,  eine  Er- 
kenntnis a  priori ;  und  nur  weil  er  ein  Hanswurst  oder  ein 
Narr  war,  glaubte  er  eine  Bealdefinition  zu  erlialten,  glaubte 
er  mehr  zu  wissen  als  vorher,  glaubte  er  m  wissen,  was 
das  da  auf  seinem  TeUer  wirklich  sei,  als  er  seinen  Sprach- 
schatz um  den  Wortschall  „Chester*  vermehrt  hatte. 

Es  wäre  rätselhaft,  wie  die  Definition  zu  ihrer  ange- 
sehenen Stellung  im  Reiche  der  Logik  gekommen  sei.  wenn 
wir  nicht  wüssten,  dass  der  Vater  der  Logik  noch  sehr 
kindlich  Sacherklärung  und  Worterklärung  durcheinander 
mengte.  Eine  vollständige  Sammlung  von  Definitionen  wäre 
für  Aristoteles  eine  Realencyklopä>lie  aller  Wissenschaften 
gewesen;  für  uns  nur  ein  tödlich  langweiliges  Wörterbuch, 
nebst  Angaben  des  nächst  höhern  Artbotfriffs  und  der  de- 
terminieronden  Eigenschaft.  Dabei  kann  sich  gewöhnlich 
nur  der  etwus  denken,  der  es  schon  weiss. 

So  i.st  die  Definition  immer  nur  entweder  eine  A\'ort- 
crklärung,  wie  der  Artikel  eines  Fremdworterbuchs  (näm- 
lich für  jeden  Schüler),  oder  sie  ist  eine  Auffordprung  an 
sich  selbst,  sich  an  die  Grenzen  des  Begriffs  zu  erinnern  und 
keine  Dummheiten  zu  reden.  Einen  Fortsekritt  im  cij^enen 
Denken  erzeugt  sie  so  wenig,  als  eine  Speisenkarte  dadurch 
den  Hunger  stillt,  dass  ihre  französischen  Namen  gegenüber 
deutsch  übersetzt  stehen. 

m 


Bin-  Bevor  ich  an  die  kritische  Betrachtung  der  einfachen 

**4<»r^  Sprachteile  gehe,  welche  man  etwas  theatralisch  die  Urteile 
Begriffe,  genannt  hat,  muss  ich  Ton  der  Definition  noch  einmal  zum 
Begriff  zurtlekkehren.  Ich  habe  rinrhin  Torausgenommen, 
dass  all  unser  Denken,  wie  es  Ton  der  Logik  in  ürtefl  und 
Schlüssen  wie  ein  Pfauenrad  auseinandergefaltet  wird,  schon 
in  den  Begriffen  oder  Worten  enthalten  ist,  oder  wenigstens 
in  ihrer  Definition,  das  heisst  in  der  Besinnung  auf  ihren 
Inhalt.  £is  dürfte  sich  daraus  ergeben,  dass  auch  unsere 
Denkfehler  auf  Definitionsfehler  zurückzufahren  seioi.  Und 
da  wir  es  hier  mit  groben  Albernheiten  gar  nicht  zu  thun 


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Einteilong  der  fiegrilE». 


811 


liabeu  wollen,  da  wir  bloss  die  verhüllten  Denk-  und  De- 
finitionsfehler  beachten  woIIpti,  da  wir  endlich  die  herge- 
brachten Sthulfehler  der  Deliiüiiün  als  der  Definition  , wesent- 
lich" erkannt  haben,  als  relativ  richtige  Zeichnungen  von 
verschiedeneu  Gesichtspunkten  aus:  so  werden  wohl  auch 
die  Fehler  unseres  Denkens  oder  Sprechens  —  von  den 
groben  Albernheiten  abgesehen  —  im  Wesen  des  Denkens 
oder  Sprechens  liegen.    Und  ich  scheue  mich  nicht  das 
grauenhafte  Ergebnis  meiner  kritischen  Betrachtung  der 
Logik  schon  hier  auszusprechen:  Wie  die  Begriffe  nebel- 
haft sind  und  nicht  in  zwei  yerschiedeneu  Gehirnen  an  die 
gleichen  Sinueseindrllcke  erinnem,  wie  darum  die  Menschen 
einander  niemalB  auf  die  Wirklichkeit  hin  YWBtehan  kOnneii, 
60  wechselt  in  einem  und  demselben  Gehirn  der  bewusste 
Begriff,  die  Definition,  die  Besinnung  auf  seinen  Inhalt,  je 
nach  Zeit  und  TJmständen,  und  so  wird  in  einem  und  dem^ 
selben  Kopfe  die  Bede  oder  der  Gedankengang  ungenau, 
witternd,  yerschwimmend  wie  ein  Nebelbild.  Wer  sich  gegen 
das  Entsetzen  gerüstet  hat,  um  daraufhin  selbst  unsere 
besten  Schriftsteller  zu  prOfen,  der  wird  bescheiden  denken 
lernen  Ton  den  Zielen  wissenschaftlichen  Fortschritts,  und 
nur  eine  Qbermachtige  Illusion  wird  ihn  Terhindem,  die 
Feder  wegzulegen, 

Oleich  zu  Anfang  von  «Werthers  Leiden*  erfüllt  Gkiethe- 
Werther,  er  habe  ein  kleines  ländliches  Genrebild  gezeichnet; 
-ich  setzte  mich  auf  einen  Pflug,  der  gegenüberstand,  und 
zeichnete  die  brüderliche  Stellung  mit  vielem  Ergötzen.* 
Wenige  Seiten  später  spricht  er  von  dem  Pfluge,  «den  ich 
neulich  gezeichnet  hatte*.  So  konnte  es  selbst  einem  Goethe 
zustossen,  und  in  einer  so  anschaulichen  Sache,  dass  er  von 
einem  neuen  Standpunkte  aus  den  Pflug  gesehen  und  ge- 
zeichnet zu  haben  glaubte,  den  er  vom  ersten  Gesichts- 
punkte, als  er  nämlich  auf  ihm  sass,  nicht  anschauen  und 
nicht  zeichnen  konnte.  Dieser  kleine  Schnitzer  des  <?rosscn 
Iroethe  —  ich  habe  ihn  schon  in  anderer  Verbindunj:;  er- 
wähnt —  scheint  mir  symbolisch  dafür,  wie  die  Begriffe 
nach  ,  Gesichtspunkten'*  in  unserem  Denken  sich  verschieben. 


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312 


IJ,  Die  Definition. 


wie  plötzlich  vor  die  Augeu  kommen  kami«  was  vorher 
hinten  war. 

Aber  mein  Hinweis  auf  die  Definitionsfehler  Lst  un- 
vollständig. Wenn  wir  uns  durch  irgend  einen  Ruck  unserer 
BegriffSs  bewiest  werden,  so  besinnen  wir  uns  nicht  inuner 
auf  ihren  Inhalt,  sondern  oft  auch  auf  üureii  Umfang.  Dieser 
psychologische  Vorgang,  den  die  Sehullogik  nicht  recht 
unterzubringen  weiss,  ist  eine  Art  Experiment^  eine  Ptrobe 
auf  die  Richtigkeit  der  Definition.  Man  nennt  diesen  Vor- 
gang die  Division  oder  die  Einteilung.  Hier  ist  es  fbr 
das  blödeste  Auge  klar,  dass  der  Einteilungsgrund  immer 
subJelEtiT  ist  und  je  nach  dem  Gesichtspunkt  wechselt.  Jedes 
Merkmal  des  Begriffs  kann  ein«i  lichtigm  Einteilungsgrund 
abgeben.  Ich  kann  die  Dampfschiffe  in  Rad-,  Sehrauben* 
und  Prallschiffe,  ich  kann  sie  in  See^  und  Flossdampfer, 
ich  kann  sie  in  Fracht-  und  Personondampfer,  dann  wieder 
nach  der  Art  der  Fracht  (Eohlendampfer  u.  s.  w.),  nach 
der  Art  der  Personen  (Auswandererschiffe  u.  s.  w.),  ich  kann 
sie  nach  ihrem  Tonnengehalt,  icb  kann  sie  richtig  nach 
jedem  Gesichtspunkt  einteilen.  Und  ich  kann  die  Einteilun^^ 
der  Unterarten  wie  1er  nach  Gesichtspunkten  fortsetzen.  Die 
Einteilung  nach  einem  festen  Schema,  so  dass  z.  B.  jedes- 
mal genau  zwei  (><Ier  genau  drei  Unterarten  angenommen 
werden  (Dichütomie,  Trichotomie),  ist  eine  heillose  Spielerei, 
die  die  Wirklichkeit  nach  dem  Prokrustesbett  unseres  arm- 
seligen Rauberrerstandes  strecken  oder  verkürsen  will.  Die 
Trichotomie  insbesondere  hat  bei  Hegel  zu  der  unsinnigsten 
Verachtung  der  Natur  geführt,  was  denn  auch  den  stupenden 
Schulmeister  der  dialektischen  Methode  zu  der  nnj^eheuer- 
lichen  Klage  veranlasst  hat,  ^'lie  Naturerscheimiiigen  bleiben 
zuweilen  hinter  dem  Begritte  /urürk*.  .Ta  wohl,  wenn  der 
Begriff  sich  vuu  der  Natur  verirrt  hat  un«i  sieh  dann  eigen- 
sinnig darauf  versteift,  er  wäre  ihr  voraus  und  sie  müsse 
zu  ihm  kommen. 

Was  nun  die  EiiiteilungsiLiüer  anlangt,  so  steht  es 
um  sie  nicht  anders  als  um  die  Definitioiisiehler.  Sie  Ver- 
stössen alle,  so  wie  sie  in  der  SchuUogik  aufgezählt  werden, 


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Einteilung  der  Begriffe. 


813 


gegen  die  Fordeniogt  die  ideale  Forderung,  dass  die  Unter- 
abteilungen ganz  genau  die  nächst  höhere  Sphäre  ausftlllen 
sollen  und  dass  sie  einander  nicht  kreuzen  dürfen.  Solche 
£inteilungen  sind  selbst  in  der  Naturgrs rhichte  nur  dann 
möglich,  wenn  mim  die  Bp<?riffe  vorher  (eben  nach  der 
künftigen  Einteilung  schielend)  zurecht  gezerrt  hat.  In  der 
komplizierten  Wirklichkcitswclt  oder  gar  in  der  Welt  der 
abstriikteii  Begriffe  gehören  die  Fehler  zur  Natur  der  Ein- 
teilung. Ich  kann  den  Begriff  Kü^f  ninteilen  in  Fettkäse 
und  Magerkäse  und  habe  dann  die  lüihmkäse,  die  Sauer- 
milchkäse und  die  Molkenkäse  übersehen.  Und  sollte  ich 
diese  (irenzbegriffe  säuberlich  mit  aufgezählt  haben,  so  gibt 
es  wieder  Hinlere  Uebergäiige,  die  ihr  Kecht  verlangen. 
Ebenso  wird  es  mir  mit  der  üntereinteilung  der  Fettkäse 
ergehen,  auch  der  Chester  wirti  unbestimmbare  Grenznuch- 
barn  haben,  und  im  kleinsten  wie  im  grössten  wird  die 
Wirklichkeit  durch  die  zu  weiten  Maschen  der  Sprache  hin- 
durchfallen, wird  der  Weltkatalog  ein  nebelhafter  Traum 
bleiben.  Und  wie  e.-^  ein  natürlicher  Einteilungsfehler  ist, 
die  Käse  in  Fettkäse  und  Magerkäse  zu  scheiden,  ebenso 
natürlich  sinnlos  teilen  wir  die  Menschen  in  gute  und  böse, 
unsere  Gedanken  in  wahre  und  falsche;  und  wir  vermissen 
die  EHnleilungsgrQnde  ToUMids,  wenn  wir  unier  die  »gute* 
Abteilung  die  Fettilcase  und  die  wahren  Gedanken  rechnen. 

Der  idealen  Forderung  einer  logischen  mateflimg  kann 
die  arme  Sprache  nicht  entsprechen.  Die  Oktave  umfasst, 
wenn  man  den  Wolf  heulen  Hesse  (wie  die  alten  Musiker 
sagten),  eine  unendliche  Rohe  Terschiedener  Töne,  Ton 
denen  wir  durch  Zeichen  nur  sieben  oder  zwdlf  unter- 
scheiden; ebenso  gehen  vom  Bot  des  Farbenspektrums  bis 
sum  Violett  unoadUdi  vide  Farbentöne  und  wir  unter- 
scheiden durch  Wortzeichen  genau  doch  nur  sechs  oder 
sieben.  So  ist  die  I«inteilung  Ton  der  Sprache  abhängig.' 
Man  wende  mir  nicht  ein,  dass  nach  d«r  geltenden  Physik 
gerade  die  besonders  benannten  Töne  und  Farben  einfwhen 
Verhältnissen  ihrer  Schwingungszahlen  entsprechen,  dass 
demnach  die  Wirklichkeitswelt  eine  Analogie  zur  Sprache 


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314 


III.  Dm  Urtdl. 


besitze.    Es  leugnet  ja  nur  ein  Narr,  dass  die  Dinge-an- 
sicli  ihren  Erscheinungen  irgendwie  analo*^  seien.  Abge- 
sehen aber  davon ,  dass  in  der  Musik  wenigstens  nur  die 
Verhältniszablen  natürlich,  die  Schwing'ünjj;s/.alil  des  Norraal- 
tons  aber  willkürlich  ist  (kein  Mensch  wird  heliaiipten,  dass 
der  von  der  IVauzösischen  Regierung  festgesetzte  Diapason 
oder  Kammerton ,  die  Zahl  von  870  Schwingungen  in  der 
Sekunde,  eine  natUriiclio  Zahl  sei),  —  so  würde  die  Physik 
ja  nur  lehren,  aus  welchem  Grunde  die  sieben  Töne  und 
Farben  leichter  zu  merken,  das  heisst  zu  benennen  sind  als 
die  unendlich  vielen  uuderu.    \  iellcicht  rühren  wir  sogar 
bei  dieser  Einteilung  von  Tönen  und  Farben  an  das  Ge- 
heimnis der  Sprachbildung  und  zugleich  an  das  Geheimnis 
der  Natmrentwickelung.   Vielleicht  sind  es  ähnliche  Ver> 
hSltnisse,  die  die  Typen  unserer  Pflanzen  und  Tiere  Tor 
der  unmdliehen  Reihe  möglicher  Pflanzen  und  Tiere  aus- 
zeichnen ,  vielleicht  nähern  wir  uns  heute  wirklidi  wieder 
der  Lehre  des  P}i;hagora8,  dass  nämlich  die  Wirklichkeits- 
welt auf  harmonischen  ZahlenTerhSltnissen  heruhe,  vielleicht 
sogar  ist  die  Bequemlichkeitt  die  wir  als  furchtbar  prosaische 
Auflösung  des  C^ächtnis-  oder  DenkriUsels  yermuten,  nur 
eine  den  Menschenverstand  beherrschende  Erscheinung  der 
Bequemlichkeit  der  Natur.  Aber  all  diese  licherlich  furcht- 
baren Möglichkeiten  bringen  die  Thatsache  nicht  aus  der 
Welt,  dass  Farbe  und  Ton  in  Wirklichkeit  unendlich  viele 
Nflancen  haben,  dass  unsere  Sprache  sie  aber  nur  in  arm- 
selige sieben  oder  zwölf  Farben  und  Töne  einzuteilen  vermag. 


m.  Dm  Urteil. 

Loben-  Die  ncuere  Logik  sieht  mit  Kecht  nicht  im  Begriff, 
'^Jll'' sondern  im  Urteil  das  ürphänomen  des  Denkens.  Denn 
wir  urteilen  scharf,  lange  bevor  wir  klare  BegriflFe  haben. 
Und  nebenher  wird  diese  Aenderung  auf  unsere  Tierpsycho- 
logie einwirken  müssen ,  Denn  wenn  es  auch  den  höheren 
Tieren  an  gut  detinierbaren  Begriften  fehlen  sollte,  so  wird 


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LelMiidigea  Urtailen. 


315 


jnan  doch  selbst  den  niedersten  Tieren  die  Fihigkeit  des 
Urteileos  kaum  absprechen  können. 

Nim  hat  Sigwart  (Logik  I.  23)  sehr  fein  zu  unter- 
scheiden geglaubt  zwischen  dem  sich  bildenden  Urteil,  das 
das  eigentliche  Denken  ist,  und  dem  fortbestehenden  Urteil, 
das  Sprache  ist.  nättc  er  recht,  so  wäre  hier  einzig  und 
allein  der  I*unkt  vm  linden ,  wo  Denken  und  Sprache  sich 
trennen.  In  Wirklichkeit  aber  scheint  mir  das,  was  Sig- 
wart das  lebendige  Urteil  nennt,  dem  sprachlichen  Urteile, 
dem  Denkakt  doch  voiauszupehen.  Das  lebendige  Urteilen 
ist  nichts  als  oin  tastende^  Ver<j^leichen,  ein  Versuchen,  ein 
probeweiscs  AneinauUerhalten  von  zwei  Vorstellungen,  von 
denen  ilas  eine  zum  Subjekt,  das  andere  zum  Prädikat 
werden  wird.  Aber  selbst  in  unserer  abgerichteten  und  ge- 
drillten Sprache  lUsst  sich  dieses  Verhältnis  bei  tausend 
Gelegenheiten  willkilrlich  umkehren.  Lassen  wir  die  Copula 
oder  die  entsprechende  Verhak nuuiiü;  fort,  reden  wii-  ¥de 
Wilde;  „Heiss  —  Wolke  —  Wasser  —  gut,"  so  verstehen 
wir  uns  und  machen  uns  Yerständlich  und  müssen  nur  unser 
Interesse  und  unsere  Wttnsche  durch  stärkere  Betonung  und 
durch  fragenden  Ton  ausdrtteken. 

Selbst  in  diesen  komplizierteren  Fällen  wird  der  Denk- 
akt in  dem  Augenblick  fertig,  da  er  zu  Worte  kommt.  Aber 
auch  der  aUereinfachste  Denkakt  ,das  da  ist  ein  Apfel* 
vollzieht  sich,  wenn  er  bewusst  wird,  sprachlich.  Dass  das 
Kind  und  der  einfache  Mensch  solche  Urteile  sprachlos  toU- 
ziehen  kann,  ebenso  wie  das  Hohnchen  sein  Urteil  »das 
da  ist  ein  geniessbares  Samenkorn*  oder  vielleicht  nur 
«das  da  ist  geniessbar*,  das  beweist  nicht,  dass  wir  ohne 
Sprache  denken,  sondern  nur,  dass  das  Denken  eine  spatere 
Luznsfunktion  ist  und  .  dass  zum  Vegetieren  das  Denken 
oder  Sprechen  nicht  notwendig  ist. 

Aber  Sigwart  und  seine  Schüler  haben  es  nicht  Ter- 
hindert,  dass  die  alte  Schullogik  sich  für  etwas  ausgibt, 
.was  gelernt  werden  müsse. 

Auf  der  Stufenleiter  der  Schullogik  steht  das  Urteil, 
sowohl  seiner  Aufgabe  als  seinem  Werte  nach,  zwischen 


316 


m.  Das  Urteil. 


dem  bescheideuen  Betritt"  und  der  stolzen  Scllluss^olf/el■unJ_^ 
Bevor  ich  weiter  zeige,  das.-,  diese  Stufen  eher  abwärts  als 
aufwärts  lühreu,  ja  dass  sie  recht  eigentlich  den  Stufen  im 
Rade  einer  Tretmühle  gleichen,  den  Stufen,  die  ein  Esel 
ewig  aufwärts  schreitet  ohne  sich  Tom  Flecke  xu  rühren  — 
bevor  ich  diese  Fernsicht  wie  von  jeder  Wendung  des  Weges 
80  &nch  hi«r  idge,  möchte  ich  gern  auf  das  Unpassoide 
der  logischen  Beaeichnung  hinweisen.  Mir  scheint  das  Wort 
«Urteil*  verwirrend,  um  so  verwirrende,  als  die  deutsche 
Volkssprache  sich  immer  noch  weigert,  bei  diesem  B^friiF 
deutlich  an  seinen  logischen  Sinn  zu  denken* 
Urtofl  Die  Logiker  freilich  hdfen  sich  wie  gewffhnlidi  da- 
'^''^^  durch,  dass  sie  zwischen  dem  Denken  und  der  Sprache 
unterscheiden,  dass  sie  also  zwischen  dem  Gedanken  und 
seinem  sprachlichen  Ausdruck  trennende  Formen,  am  liebsten 
grammatische  Formen,  einschieben.  Sie  sagen  also:  der 
Satz  sei  der  sprachliche  Ausdruck  für  das  logische  Urteil. 
Wir  aber,  fUr  die  das  Wort  nicht  der  sprachliche  Ausdruck 
flQr  den  Begriff  ist,  sondern  nur  eben  ein  Synonjm  fllr  Be- 
griff, wir  sehen  in  Satz  und  Urteil  daradbe.  Wenn  der 
Chemiker  fQr  Kochsalz  Chlornatrium  sagt,  so  ist  ihm  das 
gelehrte  Wort  doch  nur  ein  Zeichen  für  Kochsalz  und  er^ 
innert  ihn  bloss  an  seine  genaueren  Beobachtungen  des 
Dings,  das  den  Begriff  veranlasst  hat.  Wenn  der  Apotheker 
Aqua  destillata  sagt  oder  liest,  so  meint  er  Wasser  und 
gibt  oft  anstatt  logisch  und  ideal  reinen  Wassers  eine  fil- 
trierte Flüssigkeit,  die  nur  ihren  gröbsten  Erdenschmutz  im 
Filter  gelassen  hat  Und  B^enwasser  ist  ihm  gar  auch 
Aqua  destillata,  wie  der  gesdmiackloseste  Satz  immer  noch 
ein  Urteil  ist. 

Ich  habe  schon  öfter  bemerkt .  dass  selbst  Aristoteles 
im  Verhältnis  zu  s])äteren  Logikern  eine  ganz  lebendige, 
natürliche  Sprache  spricht.  Darum  gibt  es  bei  den  (inet  hen 
auch  noch  keinen  Unterschied  zwischen  dem  logischen  Ur- 
teil und  seinem  sprachlichen  Ausdruck,  dem  Satz  (^ro^aot?). 
Der  «rriechische  Ausdruck  heisst  etwa  so  riel  wie  .,etwas 
Ausgesprochenes".  Die  Römer  übersetzten  dieses  Wort  ver- 


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Urteil  ond  Satx. 


317 


sthiedenartij?,  aber  von  Varrü  und  Cicero  bis  iuif  Bo6thius 
immer  im  natürlichen  griechischen  Sinn.  Erst  diis  mittel- 
alterliche Latein  führte  für  den  lugischen  Bef^rifi'  des  Satzas 
das  Wort  judiciuin  ein,  das  bis  ditliiu  doch  üur  die  richtcr- 
licht-  Eütscheidun«^  bezeichnet  hatte.  So  Ist  die  Metapher 
vom  Richterurteil  auf  den  Satz  iu  die  modernen  Sprachen 
eingedrungen,  wenn  auch  nur  langsam.  Das  alte  deufcsclie 
Wort  .Urieir  schoint  «rat  Leibolz  in  logischer  Bedeutung 
angewandt  xu  IuInhi. 

Das  Yerhlitnis  dieser  Bedentungen  l&sBt  aicb  in  romam-  jodt- 
sehen  Sprachen  besser  verfolgen,  weil  sie  mit  dem  Mönchs- 
latein  fester  zasammenhängen.  So  wurde  im  FransOsischen 
aus  judicium  (im  juristischen  Sinne)  jugemeni,  was  dann 
daneben  auch  die  Beurteilungskraft  oder  den  Verstand  und 
end£ch  auch  das  Urteil  im  logischen  Sinn  oder  den  Sati 
bedeutet.  Die  unscheinbare  Bemerkung,  dass  jugement  im 
Fransösischen  auch  tan  Gutachten  bedeuten  könne,  wird  uns 
nach  dieser  kleinen  sprachgeschichtlichen  Abschweifung  auf 
unsem  Weg  zurttckfElhren. 

Jugement  bedeutet  .Gutachten*,  weil  es  auch  Urteils- 
kraft oder  Verstand  bedeutet.  Der  Venuch  des  18.  Jahr- 
hunderts, .Urteil"  in  diesem  Sinne  zu  gebrauchen  (z.  B. 
ein  Hann  von  viel  Urteil),  ist  nicht  recht  geglückt.  Wie 
kam  aber  die  Sprarhe  dazu,  diese  Metapher  Uberhaupt  zu 
bilden?  Wie  kam  die  Sprache  dazu,  das  Büd  von  der  Ent- 
scheidung Aber  eine  Schuldfrage  auf  den  psychologischen 
Vorgang  anzuwenden,  der  im  Aussprechen  eines  Satzes  be- 
steht? Ich  glaube,  das  kam  so: 

Die  Scholastiker  waren  bei  aller  Verkehrtheit  im  grossen 
ganzen  doch  im  einzelnen  scharfsinnig  genug  zu  bemerken, 
dass  die  Logik  sie  im  Kreis  herumführte.  Sie  .sahen  zwar 
nicht  ein,  dass  die  Logik  nur  eine  Spielerei  mit  psycho- 
logischen Vorgängen  ist;  aber  sie  mussten  in  jedem  ein- 
zelnen Falle  sehen ,  dass  die  Lo;^ik  untVuchthar  ist.  Bei 
einem  einzelnen  Urteile  odiT  Satze  oder  einer  Aussaj^e  kommt 
es  der  menschlichen  Erkenutnis  doch  einzig  und  allein  dar- 
auf an,  ob  der  Satz  wahr  sei  oder  nicht,  das  heisst  ob  der 


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318 


ili.  Da«  Urteil. 


auseinander  gelegte  Begriff  mit  wtrkliclien  SinneseindrOcken 
ttbereinstimme  oder  nicht.  Die  Wahrheit  aber  oder  Ueber- 
einstimmung  mit  der  WirkUchkeit  ist  der  Logik  Ton  Hause 
aus  eine  fremde  Angelegenheit.  Wir  werden  später  sehen, 
dass  sich  das  bei  der  Schlussfolgerung  nicht  ganz  so  Ter- 
halt,  dass  die  Logik  bei  der  Schlussfolgerung  zwar  auch 
nicht  fElr  die  Wahrhdt  der  einzelnen  S&tse,  wohl  aber  für 
die  föcht^keit  der  Registratur  eintritt,  wie  der  Leiter  eines 
Krankenhauses  nach  fachmännischer  und  behördlicher  An- 
schauung zwar  nicht  fUr  gute  Diagnosen  einstehen  muss, 
wohl  aber  für  die  Richtigkeit  der  Bettnummem  und  die 
Statistik  Uberhaupt,  kurz  die  Sauberkeit  des  Krankenjoumals. 

Die  Wahrheit  der  Urteile  oder  Aussagen  hat  also  mit 
der  Logik  gar  nichts  ZU  tfaun.  In  logischer  Beziehung  ist 
der  Satz  ^der  Kreis  ist  viereckig"  ebenso  gut  und  schöu 
wie  der  Satz  „der  Kreis  ist  rund".  Wenn  nun  die  Wahr- 
heit das  Einzige  ist,  was  uns  an  den  Sätzen  interessiert, 
wenn  ferner  die  Logik  zu  deren  Wahrheit  gar  keine  Be- 
ziehimf»"  hat,  so  hätte  die  Lot^ik  für  unsere  Anssaj^en  keinen 
Sinn,  und  weiterhin  keinen  Sinn  für  unser  Denken,  das  doch 
nur  eine  Kette  von  Sätzen  ist.  So  musste  der  rein  for- 
malen L(><?ik  Gewalt  angethan  werden;  sie  wurde  ohne  jede 
liOs^itiniation  zum  Richter  über  Wahrheit  und  Unwahrheit 
ernannt,  nicht  anders  al.s  wie  Sancho  Pausa  auf  -meinem  Esel 
zum  Statthalter  über  eine  Insul  gemacht  umden  ist.  Wir 
wissen,  dass  unser  Denken  nur  ein  Besinnen  auf  unsere 
Sinneseindrücke  ist,  das  Gedächtnis  in  Wortzeichen,  wir 
werden  also  nicht  davor  zurückscheuen,  den  hohen  Begriff 
der  Wahrheit  etwa  mit  dem  eines  gesunden  Gedächtnisses 
zu  erklären.  Wii  wissen  nicht,  was  Wahrheit  sonst  sein 
möchte.  Die  Sprache  jedoch,  besonders  die  scholastische 
Sprache,  personifizierte  ahnungslos  Wahrheit  und  Unwahr- 
heit in  zwei  streitenden  Weibern,  die  Sprache  löste  Ton  dem 
Fetisch  «Gehimthätigkeit*  (den  ich  leider  nur  mit  dem 
menschlicheren  Fetisch  «Qe^htnis*  vertauschen  kann)  dm 
aufgeputzten  Göteen  Verstand  los  und  setzte  ihn  zum  Bichter 
ein  Uber  die  beiden  streitenden  Weiher.  Und  wie  sich  die 


819 


Dummheit  der  menschlicheii  Sprache  mitunter  in  Worten 
▼errikt,  80  war  es  auch  hier.  Die  Entscheidmig  über  Wahr- 
heit und  Unwahrheit  wird  ein  Urteil  (Judicium,  jugem^t) 
genannt;  ebenso  aber  der  Richter,  der  das  Urteil  fällen  soll. 
Man  siebt:  der  Richter,  der  personifizierte  Verstand,  ist 
nichts  als  das  Wort,  das  den  Satz  bedeutet.  Das  Urteil 
(die  Urteilskraft)  beurteilt  das  Urteil  (die  Wahrheit  des 
Urteils).  Le  jugement  juge  le  jugement.  Es  ist  nicht  meine 
Schuld,  wenn  ein  so  grausamer  Unsinn  in  logischer  Sprache 
möglich  ist;  und  es  ist  mein  Vrirlienst,  wenn  ich  diesen 
Satz,  den  ich  mir  eben  erfunden  habe,  und  den  ein  Logiker 
oder  Grammatiker  ftir  tiefsinnig  halten  kdnnte,  uneigennützig 
für  grausamen  Unsinn  erkläre. 

r^oprikor  und  Grammatiker  sind  in  diesem  Falle  gleich 
zu  behandoln.  weil  die  loffiscbc  Richtigkeit  eines  Satzes  mit 
seiner  rrramniatischen  I{i(  htitrkoit  zusammonrällt.  Wenn  jo- 
TTiand  saj^t  ^alle  Bäume  haben  Bliiftor'*,  so  kann  die  Loj^ik 
nicht  widersprechen,  weil  die  Grammatik  nicht  widerspricht. 
Der  Satzbau  ist  in  Ordnung.  Was  der  Kichtifjkeit  dieses 
Satzes  widerspricht,  was  ihn  fflr  falsch  erklärt,  das  ist  unser 
Gedächtnis,  das  sich  auf  das  Dasein  von  Nadelbäumen  be- 
sinnt, oder  vielmehr  darauf,  dass  wir  gewisse  Formen 
dieses  Pflanzenorgans  in  unserer  SpT-ache  nicht  Blatt  zu 
nennen  pflegen.  In  einer  anderen  ^Sprache  mag  der  Satz 
,,alle  Bäume  haben  Blätter"  ein  wahrer  Satz  sein. 

Von  diesem  Punkte  scheint  mir  die  gan/.c  Verkennung 
und  UeV>ersehätzung  der  Logik  auszugehen.  Weil  man  sich 
nicht  entschliessen  konnte,  die  Logik  über  Bord  zu  werfen 
als  eine  unfruchtbare,  ja  perverse  Spielerei,  darum  musste 
man  ihr.  ein  Urteil  über  die  Wahrheit  des  Denkm  auf- 
halsen, darum  nannte  man  die  einfachsten  Sprach-  oder 
Denkbestandtdle,  die  S&tze,  mit  einer  unglücklichen  Metapher 
Urteile,  und  darum  wurde  und  wird  das  Urteil  definiert 
als  »das  Bewusstsein  über  die  objektiTe  Gültigkeit  einer 
subjektiven  Verbindung  von  Vorstellungen*.  Man  achte 
wohl  auf  den  sprachlichen  Ausdruck.  Die  Definition  passt 
einzig  und  allein  auf  das  Urteil  im  richterlichen  Sinne.  Das 


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320 


III.  Dm  Urteil 


iDig  ein  Bewusstsein  ron  b^od  dner  Wahrheit  seiD.  Hui 
deAoieit  einfach  ein  falsches  Bild  und  wendet  nachher  die 
Definition  auf  das  bildlich  Ausgedrückte  an.  Das  ist  genau 
so,  als  ob  ein  Arzt  eine  Augenoperation  an  einem  Menschen 
TOmehmen  wollte,  weil  der  Mensch  von  einem  schlechten 
Maler  schielend  gezeichnet  worden  ist.  Wir  haben  da  ein- 
fach eiTK-  unrrcwöhnlich  schlechte  Definition  Yor  uns.  Das 
Wort  «Urteil"  wird  eben  in  zwei  gänzlich  verschiedenen 
Bedeutungen  genommen;  einmal  bezeichnet  es  den  Satz, 
das  andere  Mal  die  Entscheidung  über  die  Richtigkeit  des 
Satzes,  einmal  den  Angeklagten,  das  andere  Mal  den  Richter- 
spruch oder  gar  den  Richter  selbst.  Die  Wahrheit  ist  die 
Gesundheit  des  (redät  htnisscs;  die  Wahrheit  ist  das  Heilig- 
tum, in  welchem  das  Frauenzimmer  Logik  zu  schweigen 
hat.  Die  Wahrheit  ist  die  letzte  Sehnsucht  der  Sprache, 
ihre  Metai)hy.sik;  das  Urteil  Ober  die  Wahrheit,  das  Urteil 
als  eine  Entscheidung  fällt  zusammen  mit  der  Gesamtheit 
unseres  geistigen  Lebens;  das  Urteil  im  lo;:,n'<?chen  Sinne, 
der  Satz,  ist  die  gemeinste  und  nie  irigste  Aeusserung  dieses 
Lebens,  ist  die  gloichgttltige  Verkuppelung  zweier  W^ort«. 
Das  Urteil  über  die  Wahrheit  ist  eine  unerreichbare  Sehn- 
sucht, ein  Phantom  wie  der  Gott  im  Himmel;  das  logische 
Urteil  oder  der  Satz  ist  handgreiflich  und  ruh  wie  der  l'luile, 
der  gewerbsmässig  ein  Paar  zusammenspricht.  Der  Satz 
„der  Käse  ist  reif*  ist  logisch  ebenso  gut  und  schön  wie 
der  Satz  .die  Logik  ist  ein  madiges  Nahrungsmittel* ;  über 
Wahrheit  oder  Unwahrheit  der  Etttae  hat  die  Logik  kein 
Urteil,  keine  Gewalt,  keine  Meinung. 

Gehört  aber  die  Entscheidung  Ober  die  Wahrheit  eines 
Sataes  nicht  vor  das  Forum  der  Logik,  so  hat  auch  ihre 
mittlere  Stellung  zwischen  Wirklichkeitswelt  nnd  Sprache 
keinen  Sinn  mehr.  Und  die  BemOhungen  der  neuem  Logiker, 
die  realen  Kategorien  über  die  logischen  hinweg  zu  den 
grammatischen  zu  führen,  rerlieren  jede  Bedeutung.  Wir 
müssen  wieder  einmal  festhalten,  wie  es  au  diesem  Wider* 
sinn  gekommen  ist*  Die  Menschheit  hatte  nichts  als  ihr  Oe- 
daehtnis  oder  die  Sprache,  um  sich  in  der  Wirklichkeitswelt 


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£iiiteUaiig  der  Urteile  spracblicb. 


821 


zurecht  zu  finden.  Aehnliche  Formen  der  Sprache,  aus 
denen  man  instinktiy  auf  ähnliche  Yerhältnisse  der  Wirk* 
Uchkeit  achloss,  gaben  Yeraalusung,  sprachliche  Thabaohen 
so  ordnen,  die  man  nachher  für  sprachliche  Regeln  oder 
für  Grammatik  ausgab.  Wurden  diese  Regeln  so  abstrakt 
gefasst,  wie  die  Buchstaben  der  Algebra  ftr  die  Ziffern  der 
Aiitiimetik  eintreten,  so  nannte  man  diese  gegenstandslose 
Bpraclilehre  Logik  und  bestand  darauf,  ihre  Kategorien, 
also  die  Wortarten  der  Sprache,  in  der  Wirklichkeit  wieder 
lu  finden,  womit  man  eben  das  W<dMtsri  widersimiig  zu 
iOsen  hofile,  nidit  anders,  als  wenn  jemand  einen  firanzösi* 
sehen  Rebus  mit  deutschen  Worten  auf  Uteen  wollte.  Qans 
und  gar  nicht  anders,  denn  die  Wirklichkeit  spricht  nicht 
wie  die  Hensehsn,  nicht  in  Worten,  sondern  rebus,  in  Dingen 
(n>  149).  Wollen  die  Logiker  nun  von  der  Wirklidikeit 
zur  Sprache  snrOckkehren,  so  mtlasen  sie  wieder  den  ganzen 
Umweg  Aber  die  Logik  und  Grammatik  machen. 

Die  ganze  länteiiung  der  Urteile  nach  ihren  prädika- 
tiven, objektivischen  und  attributiven  Verhältnissen  ist  ein 
unglflcklicher  Versuch,  die  Thatsachen  unserer  Kultur-  Urteile 
sprachen  der  Welt  der  Wirklichkeit  aufzuzwingen.  Hätte 
deren  Grammatik  mit  der  neuem  Naturwissenschaft  und 
Psychologie  gleichen  Scliritt  gehalten,  so  wüssten  wir  jetzt, 
dass  der  Unterschied  der  sttbstantiyischen ,  adjektiTischen 
und  yerbalen  Prädikate  in  der  Wirkliclikeit  nicht  besteht, 
weil  doch  nur  die  alte  Sprache  es  ist,  die  Sinneseiudrücke 
der  Bequemhchkeit  wegen  nach  den  Kategorien  der  logisch- 
grammatischen  Kedeteile  unterscheidet,  so  wüsste  jedes  Kind, 
dass  die  oHjektivischen  Verhältnisse  uns  nur  helfen,  uns  in 
Zeit  und  iiaum  der  Wirklichkeit,  in  ihrer  Kausalität,  zu- 
rechtzufinden, dass  die  attributiven  Verhält lusse  nur  sprach- 
lich in  die  Verbindung  Ton  Wahrnehmungen  Ordnung  zu 
bringen  suchen. 

Auf  den  Grun  lirrtum  jedoch^  der  logischen  Spielerei 
eine  Entscheidung  über  Wahrheit  und  Unwahrheit  der  Sätze, 
ein  Urteil  Ober  die  Urteile,  zuzutrauen,  beruht  die  Einteilung 
nach  Qualität  und  Modalität,  das  heilst  die  Einteilung  in 
Xftiila«r,  Btttrtst  m  «incr  Kritik  dw  SiwMI«.  JSt.  21 


Ein- 


sprscii- 
lieh. 


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322 


III.  Daa  Urteil. 


bejahmde  und  veraeinende  Sätze  einerseits,  in  mögliche,  in 

angenommene  und  in  bewiesene  Sätze  anderseits.  Dabei 
bemerkt  die  Logik  gar  nicht,  dass  Bejahung  und  Verneinung 
der  Sprache  mit  Wahrheit  und  Unwahrheit  der  Erkenntnis 
gar  nichts  zu  thua  bat,  dass  anderseits  der  Grad  der  Qe- 
wissbeit  eines  Satzes,  seine  Wahrscheinlichkeit,  bald  ein 
Schwanken,  bald  ein  streng  wissenschaftliches  Ergebnis  aus- 
drucken kann.  Der  Satz  «die  £rde  steht  nicht  stiir  ist 
sprachlich  und  lügisch  eine  Verneinung,  psychologisch  eine 
sehr  positive  ^Vahrheit.  Und  wieder:  bin  ich  ungewiss,  ob 
der  Würfel  beim  nächsten  Wurf  die  Zahl  6  zeij^en  werde,  so 
ist  mein  psycholoo-isclier  Zustand  der  der  Unsicherheit.  Dass 
aber  die  Wabrscheinlii  lilceit  in  diesem  Fallo  fjleich  sei  einem 
Sechstel,  das  isf  nut  sichere  logische  Wahrheit.  Während 
wir  g^lauben,  dass  unsere  Sinneseinrlnlcke  und  BegriflFe  wohl 
von  etwas  herrühren,  was  in  der  Wirklif^hkeitswelt  den 
SiuiJCisenKlrücken  und  Begriffen  aualog  ist,  kumiiien  wir  also 
hier  zu  der  felsenfesten  Ueberzeugimg ,  dass  in  der  Wirk- 
lichkeitswelt absolut  nichts  vorhanden  ist,  was  irgendwie 
entsprechen  könnte  den  substantivischen,  adjektivischen  und 
verbalen  Formen  unserer  Prädikate,  was  irgendwie  ent- 
sprechen könnte  der  Bejaliung  und  Verneinung,  der  Gewiss- 
heit und  Uiigewissheit  in  unseren  Sätzen.  So  wenig  es  den 
Hond  kümmert,  ob  ein  Hund  ihn  anbellt,  so  wenig  weiss 
die  Natur  von  der  menschlichen  Sprache.  «Die  helle  Sonne 
leuchtet."  So  red^  wir  Memclrai  und  «mige  von  uns 
haben  dabei  etwas  wie  eine  Vorstellung  Ton  der  ungeheueren 
Gasmasse,  welefae  Ober  100  Millionen  Kilometer  von  uns  ont* 
fernt  die  «Bewegung''  Terursacht,  die  wir  mit  unsem  Augen 
wahrnehmen  und  je  nach  Bequemlichkeit  «Sonne*,  «hell* 
oder  «leuchten*  nennen.  Das  SubstantiT  allein,  das  Ad- 
jektiv alldn,  das  Verbum  allein  kann  unter  Umstanden 
(z.  B.  als  Antwort  auf  eine  Frage  nach  dem  Wetter)  durch- 
aus und  ToUstftndig  den  gleichen  Ckdanken  geben  wie  der 
ganze  Sats  «die  helle  Sonne  leuchtet*,  der  auch  so  Uber^ 
flflssig,  so  luxuriös  klingt  wie  ein  Vers.  Und  dem  Satse 
«die  Sonne  leuditet  nicht*  entspricht  in  der  Wirldichkeit 


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Urteile  psjohologitch  l^atologien. 


823 


durchaus  kein«  Nation.  Und  durchforschte  man  das 
UniTersum  bis  sn  den  Enden  der  Müchsb-osse,  man  süesse 
auf  nichts  Kegatives.  Immer  sind  es  positiTe  Wolken  oder 
Nebel,  oder  die  Stellungen  der  Sonne  (hinter  dem  Mond 
oder  unter  unserem  Oesichtekrds),  immer  sind  es  positiTe 
Dinge,  die  uns  sagen  lassen,  dass  die  Sonne  nicht  leuchtet 
Und  wenn  wir  ungewiss  daiflber  smd,  ob  morgen  Sonnen- 
schein sein  wird,  oder  darQber,  ob  nach  Ifillionen  Jahren 
die  helle  Sonne  leuchten  wird  wie  heute,  so  ist  die  Un- 
gewissheit  einzig  und  allein  in  uns,  in  unserem  Wissen 
oder  unserer  Oettchtnismasse.  Li  der  Katur  ist,  ob  moi^n 
schönes  Wetter  sein  und  ob  die  helle  Sonne  nach  Millionen 
Jahren  leuchten  wird  wie  heute,  so  gewiss,  so  notwendig 
gewiss,  wie  fUr  uns  kaum  der  Si^  dass  sweimal  zwei  vier 
ist.  Kur  die  Sprache  oder  der  Verstand  kann  dumm  sein 
oder  unsicher ;  die  Natur  ist  sprachlos,  sie  kann  nicht  sweifeln, 
weil  sie  nichts  weiss. 

Man  hat  nun  von  Alters  her  diese  spielerische  Ein>  Urteile 
teüung  der  Urteile  nach  Qualität  und  Modalität  mit  einer 
andern,  scheinbar  nützlicheren  verbunden  (der  in  allgemeine 
und  partikulare  Urteile),  und  die  Kombination  beider  Ein- 
teilungen  liegt  dem  VirtuosensUlck  der  Logik  zu  Grunde, 
der  Lehre  von  den  Scblussfolgerungen.  Bevor  wir  diese 
vernünftigere  Einteilung  der  Urteile,  die  nach  ihrer  Quan- 
tität, auf  ihren  Wort  ]ir(lfen,  wollen  wir  uns  darauf  be- 
sinnen, was  uns  ein  batz  oder  ein  Urteil  ist,  wie  ein  Satz 
oder  ein  Urteil  psychuloginch  entsteht. 

Die  Schullogik,  welche  ein  Fortschreiten  vom  Begriff 
zum  Urteil,  zum  Schliiss,  zum  Beweis,  zur  Wissenschaft  und 
am  Ende  gar  zur  Welterkläruug  behauptet,  muss  natürlich 
lehren ,  der  Satz  oder  das  Urteil  «▼ehe  Ober  den  Begriff 
hinaus,  denn  er  oder  es  verbinde  zwei  Begriffe,  noch  dazu 
mit  dem  Bewusstsein  von  der  Richtigkeit  dieser  Verbindung. 
Wir  wissen  jetzt,  dass  die  Entscheidung  über  die  Richtig- 
keit die  Logik  nichts  angehe,  und  vermuten  .scaun,  dass  die 
Verbindung  der  Hegriffe  rein  sprachlich  sei,  unwirklich,  dasa 
die  Logik  sich  zwischen  dieses  gespannte  Verhältnis  ganz 


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324 


III.  Da«  Urteil. 


recliUos  und  fniclitloe  einmisclie.  Leider  entstelieii  S&fze 
tiher  nur  in  der  Schule  durch  ftueserüdie  Terbindung 
▼OD  Worten  oder  Begriffen*  Jn  Wahrheit,  psychologiflch, 
in  unsMem  Ckhim  entstehe  S&tae  so,  dass  sie  geringer 
sind  ak  die  Begriflfe.  Nicht  die  Begriffe  sind  es,  die  eich 
zu  ^tien  ausammenfllgen,  sondern  Sitae  sind  es,  in  denen 
wir  die  Begrüfo  an  fassen  suchen,  in  denen  wir  den  reiehen 
Inhalt  der  Begriffe  serldeinem.  In  bequemes  Kleingeld  um- 
setsen. 

Die  Definition  umfasst  noch  den  ganzen  Begriff.  In 

der  Definition  besinnen  wir  uns  noch  auf  den  ganzen  Inhalt. 
Richten  wir  aber  unsere  Aufmerksamkeit  nur  auf  ein  ein- 
ziges Merkmal  des  Begriffs,  nur  auf  einen  einzigen  Ton  den 
SinncBMudrücken,  die  wir  uns  durch  das  Wort  gemerkt 
haben,  wiederholen  wir  nur  eine  einzige  Teilerinnerung,  eine 
wichtige  oder  unwichtige,  so  haben  wir  etwas  gesagt,  so 
haben  wir  einen  Satz,  und  wenn  wir  gelehrt  thnn  wollen, 
so  haben  wir  ein  ürteO. 
Tautx)*  Man  achte  wohl  darauf,  dass  wir  die  Definition  als 
logien.  pI^p  reine  Tautologie  erkannt  haben,  eine  Tautologie,  die 
nur  den  Wert  hat,  unserer  Aufmerksamkeit  bequeme  Merk- 
zeichen zu  bieten.  So  ist  in  der  Algebra  jede  Gleichung 
eine  Tautologie,  die  es  unserem  Interesse  und  seiner  Auf- 
merksamkeit leicht  macht,  die  beiden  gleichgesetzten  For- 
meln 7A\  ver;i:leichen;  wobei  es  symbolisch  ist  für  unser 
Denken,  ila^-  die  Mathematiker  sich  gewöhnt  haben,  die 
Formehl  so  lange  zu  bearbeiten,  bis  auf  der  einen  Seite  des 
Gleichheitszeichens  die  0  steht,  die  selber  gleichmachende 
Gewalt  hat  wie  der  Tod.  Ist  nun  der  Satz  nur  ein  Bruch- 
teil dei  ])tfinition,  die  sicherlich  eine  Tautologie  oder  eine 
Nuli  als  Atquivalent  der  Beziehung  der  Gleichheit  ist, 
so  ist  der  Satz  oder  das  Urteil  weniger  als  eine  Tauto- 
logie, weniger  als  nichts.  Dieses  grausame  Ergebnis  ist  der 
wissenschaftliche  Ausdruck  dafQr,  dass  der  weitaus  grösste 
Teil  der  im  Verkehr  der  Menschen  geredeten  Sätze  ein  Ge- 
schnatter ist,  ein  leeres  Geschwätz,  in  welchem  wir  uns 
nidit  einmsl  auf  die  Bedeutung  der  Worte  besinnen.  Der 


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Tautologien. 


825 


Wert  all  dieser  noch  untertautologischen  Sätze  ist  logiack 
weniger  als  Null. 

Wie  Avenig  kommen  wir  in  der  Kenntnis  weiter,  wenn 
wir  (der  gemeinst«^  Fnll)  von  einem  Subjekt  spinrn  höheren 
Artbegriff  aussagen,  ihn  zu  seinein  Prädikat  machen  !  Der 
Schüler  bekommt  sogar  eine  gute  Zensur,  wenn  er  sagt: 
,Der  Hund  ist  ein  Säugetier."  Und  das  zweijährige  Kind 
erhält  einen  Kuss,  wenn  es  lallt:  «Das  da  (ohne  Copula  und 
Artikel)  Wauwau." 

iiunderttausende  von  Jahren  hat  die  Menschheit  Mil- 
liarden von  Hunden  gesehen  und  langsam,  langsam  den 
Begriü  ^Hund"  in  ein  Wort  gefasst,  tausende  Ton  Jahren 
hat  sie  gebraucht  um  die  Hunde  unter  den  Begriff  der 
säugenden  Tiere  (das  Säugen  schien  uns  wesentlich)  za 
fassen.  Wer  nun  den  Begriff  richtig  gebraucht,  wer  einen 
Pfennig  ans  dem  Kasten  zieht,  wohinein  die  Ahnen  Mil- 
lionen Pfennige  getüian  liabea,  vellfUiit  kein  grOasores  Ennafc- 
stück,  als  wer  einen  Apfel  mit  seinen  Fingern  festhftlt  und 
üu  80  zum  Munde  fUirt. 

Was  wir  da  lernen  ist  und  bläbt  immer  nur  die  Spraehe. 
Und  wenn  wir  die  Sprache  bis  su  ihrem  logischen  Ideal 
fortentwickelt  hStton,  wir  kftmen  mit  den  ewigen  Taulo- 
kgien  Ton  Definitionen  und  daraus  herrorgespoimenen  Ur- 
teilen nidit  weiter«  ea  wftre  eine  ewig  sich  drehende  Muhle 
ohne  Oetrmde,  wenn  nicht  Ton  Zeit  an  Zeit  das  Genie  eine 
neue  Beobachtong,  eine  neue  Entdeckung  zwischen  die 
mahlenden  Stdne  wflrfe. 

Sonst  sind  alle  Urteile  Tautologien  oder  noch  wert- 
losere £tee.  Entweder  ich  gehe  vom  Angeschanten  aus 
und  sage:  »Das  da  ist  Wasser/  oder  ich  gehe  vom  fertigen 
Begriffe  aus  und  sage:  , Wasser  ist  flüssig."  Das  erste  Mal 
ist  die  Denkthätigkeit  so  minimal,  dass  es  für  gewöhnlich 
nicht  onmal  bis  zum  sprachlichen  Ausdrucke  kommt;  nur 
wwn  ein  Zweifel  vorhergegangen  iak^  pflegt  so  etwas  be- 
sonders in  Worten  gedacht  oder  gesagt  zu  werden.  Das 
zweite  Mal  liegt  die  Tautologie  auf  der  Hand;  denn  wer 
V Wasser"  denkt,  denkt  die  Eigenschaft  , flüssig"  schon  mit. 


326 


III.  Das  Urteü. 


Und  so  sehr  hinkt  die  Sprache  der  Erkenntnis  nach,  dass 
»ie  noch  wie  in  Urzeiten  fUr  gefrorenes  und  fiir  gasfSmiiges 
Wasser  völlig  irrationale  Worte  hat,  «Eis*  und  , Dampf, 
wSlirend  unsere  Kenntnisse  Terkngen  wttrden,  dass  sich  in 
den  Worten  die  Identittt  der  Substanz  irgendwie  aussprftehe. 

Meine  Behauptung,  dass  ein  Satz  entweder  die  Er- 
kenntnis Tennehre  und  sich  dann  niemals  mit  ganz  ent- 
sprechenden Worten  ausdrucken  kuse,  oder  dass  —  also 
fast  immer  —  er  höchstens  eine  Tautolc^ie  sei,  ist  schwer 
demjenigen  klar  zu  machen,  der  sie  nicht  wie  ein  Axiom 
einsieht.  Der  Sprachkritiker  kann  so  wenig  wie  ein  an- 
derer Mensch  auf  seinen  eigenen  Rttcken  springen.  Und 
man  könnte  mir  entgegenhalten,  dass  ja  die  Sfttze  «Wasser 
ist  flQssig*,  »Wasser  ist  durchsichtig",  «Wasser  ist  nass* 
den  gleichen  Inhalt  haben  müssten,  wenn  sie  nur  schwatz- 
haftere Tautoh)gien  neben  dem  Begriff  Wasser  wären. 

Darauf  erwidere  ich,  dass  nur  die  Aufmerksamkeit 
wechselt,  nicht  die  Kenntnis.  Wie  auf  meiner  Netzhaut 
das  Bild  eines  Schmetterlings  erscheint  und  es  in  meinem 
Belieben,  das  heisst  in  raeinen  Zwecken  liegt,  ob  ich  ober- 
flächlich die  ganze  Erscheinung  betrachte  oder  ob  ich  die 
Augen,  die  Flügel,  die  Füsse,  die  Antennen  nuf  den  Fleck 
des  deutlichsten  Sehens  einstelle,  ob  ich  endlich  an  den 
Antennen  nur  die  einzelnen  Glieder  untersuchen  will,  oder 
ob  die  Antennen  gesiigt  oder  gekiunnit  sind:  so  kann  ich 
sowohl  den  Begiift'  als  das  Einzelol)iekt  ^Wasser*  entweder 
ohne  schade  Einstellun«^  des  Denkens  zusarnniendenken,  oder 
auch  augenblicklich  auf  die  Flil-^sigkeit,  Nässe  oder  Durch- 
siclitigkeit  hin  ansehen.  Genau  betrachtet  Liehören 
diese  Eigenschaften  doch  immer  schon  zum  BegnÜ  wie  zur 
Anschauung. 

Syntheti-  Statt  „Tautologien''  könnte  man  auch  sagen  ,analyti- 
UvtvO«.  ^^^^  Urteile",  „wenn  (Sigwart  I.  102)  ein  analytisches  Ur- 
teil ein  solches  ist,  in  welchem  das  Prädikat  stlion  im  Sub- 
jekt mit  vorgestellt  ist."  Dann  sind  aber  auch  zuletzt  alle 
Urteile  analytisch  und  Kants  Ausgangsfrage  zu  seiner  Kritik 
der  reinen  Vernunft  wird  sinnlos.    «Wie  sind  synthetische 


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SjmtlMtiaclia  Urteile. 


327 


I'rk'ile  a  priori  möglich r*  Bevor  sie  a  priori  möglich 
sein  kömien.  müssen  sviithetist  iie  Urt»Mle  überhaupt  sein. 
Schleiermacher  ist  im  Hechte,  \vtMr.  er  den  UniersLlüed 
zwischeu  analytischen  und  synthctischeu  Urteilen  einen  re- 
lativen nennt.  Er  ist  nur  zu  schüchtern.  Kelativ  ist  auch 
der  Unterschied  zwischen  gelehrten  und  unwissenden  Men- 
schen; eigentlich  gibt  es  al)er  keinen  absolut  unwissenden, 
er  ist  immer  gelehrt  im  A'ei  hältnis  zum  neugeborenen  Kinde. 
So  ist  jedes  Urteil  analytisch  i'Lii-  den,  dem  sein  Sinn  auf- 
gegangen ist. 

Immer  nur  die  neue  Beobachtung,  die  neue  Entdeckung, 
die  neue  Kenntnis  kuin  «sjniihetisch*  genannt  werden,  weil 
und  80  lange  sie  dem  sllen  Begriff  »binKugefügt*  wird.  Nur 
der  Ihitdecker  ToDziehi  die  Synthese.  Unmittelbar  darauf 
wird  das  Urteil  schon  wieder  analjtisdi;  der  das  Heureka 
ruft,  der  hat  allein  den  eirigen  Tautologien  oder  analyti- 
seben  Urteilen  eine  Neoiogiet  etwas  Syntbetisebes  binzu- 
gefügt.  Wer  es  ihm  nachredet,  spricht  schon  wieder  ein 
analytisches  Urteil.  Als  Robert  Mayer  das  mechanische 
Aequiralent  der  Warme  fand,  ftlgte  er  zum  erstenmale 
die  Begriffe  « Erhaltung*  und  «Energie*  zusammen,  dehnte 
«r  den  Begriff  der  Trttgbeit  zum  erstenmale  auf  alle  Kräfte 
aus.  Wer  es  ihm  beute  aachspricbt,  und  wäre  er  Helm- 
holta,  spricht  ein  analytisches  Urteil,  eine  Tautologie.  Nur 
dass  er  sich  nun  nach  dem  Stande  seiner  Kenntnis  mehr 
dabei  denkt,  als  wir  andern. 

Sigwnrt  hat  unredit,  wenn  er  nach  einem  sich  uns 
nähernden  Gedankengange  (I.  106)  meint,  solche  erklärende 
Urteile  seien  streng  analjrtiscb  für  den.  iler  der  Sprache 
mächtig  ist;  der  aber,  der  sie  erst  lernt,  vollzieht  syn- 
thetische Urteile,  nur  so,  dass  er  nicht  auf  Grund  seines 
eigenen  Wissens  urteile,  sondern  auf  Grund  eines  Glaubens 
an  die  Aussage  des  Andern. 

Hier  irrt  Sigwart  liart  an  der  Wahrheit  vorbei.  Natür- 
lich wäre  auch  nach  seiner  Meinung  alles  aiuxlytisch  für 
den,  der  der  Sprache  in  idealer  Weise  mächtig  wäre ,  das 
heisst  der  Zukuuftsprache,  die  alles  Wissen  enthielte.  Das 


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828 


IIL  Dm  Urtaü. 


Aa»iyti-  ist  ein  wichtiges  Zugeständnis.  Aber  der  Lernende,  der  mit 
TTrtcUe  Worten  ihre  Definitionen  erhält,  spricht  die  Satze 

so  hinge  papageienhaft  nacii,  bis  sie  ihm  verständUch,  das 
heibst  analytisch  werden. 

Nicht  der  Schüler,  nur  der  seltene  Meister  vollzieht 
Synthesen.  Sokrates  war  weise  genüge  das  Lernen  für  ein 
blosses  firionem  zu  erklären. 

In  der  bes^Hmenen  Spndie  der  Wissenschaft,  wo  der 
Sats  sich  gern  em  Urteil  nennt,  liegt  die  Sifibe  daram  oidit 
ganz  so  Terzweifelt  wie  bei  den  untertauftologisdien  SUsen 
des  AUtags.  Da  nebtet  sieb  wobl  die  Aufmerksamkeit  aaf 
ein  einiebes  Merkmal,  die  Obrige  Definition  wird  unklar 
mitreratanden  und  so  wird  der  Sats  oder  das  Urteil  docb 
wieder  zur  Tautologie,  zu  einer  Tautologie  unter  besonderer 
Beleuchtung;  das  belle  Liebt  iUlt  auf  einen  bestimmten 
Punkt,  der  um  so  deutlicber  wird,  je  mehr  der  übrige  Teil 
des  Bildes  im  Dunkel  Terschwindet. 

Wenn  unser  Haaswurst  sich  einen  Kftse  bat  geben 
lassen  und  nun  seine  Tischgesellschaft  das  Erdgnis  be- 
schwatzt, so  kann  leicht  der  Satz  ausgesprochen  worden 
«der  Käse  ist  durch"  wie  etwa  der  andere  Satz  ,  Sparsamkeit 
ist  eine  Tugend".  Beidemal  ist  offenbar  der  Wert  des  Ge- 
redes unter  Null.  Es  kann  aber  auch,  wie  gesagt,  die  Auf- 
merksamkeit auf  das  Prädikat  gelenkt  werden.  Der  mOssigo 
Professor  kann  gefragt  werden,  ob  Sparsamkeit  zu  den 
Tugenden  gehöre,  ob  sie  fUr  die  menschliche  Gesellschaft 
gut  und  bekömmhch  sei ;  ebenso  kann  ein  anderer  Professor 
vor  Gericht  daraufhin  befragt  werden,  ob  es  zum  Begriff^ 
Käse  gehöre  reif  („durch")  zu  sein,  ob  ein  anderer  als  ein 
reifer  Käse  dem  menschlichen  Organismus  gut  und  bekömm- 
lich sei,  ob  andere  als  rpjfe  Ware  den  Namen  Käse  ver- 
diene. Und  da  haben  wir  auch  schon  die  psychologische 
Deutung  des  sprachlichen  Vorgangs.  Wenn  die  Sjuache 
den  lloirriff  Tuge  nd  in  den  Definitionsinhalt  des  BegnÖs 
Sparsamkeit  aufgeuojnmen  hat,  so  ist  Sparsamkeit  eine 
Tugcii  l:  oder  noch  dümmer  ausgedrückt:  Wenn  wir  Spar- 
samkeit moimer  oder  gewöhnlich  eine  Tugend  nennen,  so- 


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EnUileiide  Urteile. 


82» 


wollen  wir  sie  auch  heute  eine  Tugend  nennen.  Und  wenn 
es  zum  Begriff  des  lütees  gehört,  reif  zu  sein,  wenn  der 
Sprachgebrauch  den  unreifen  Käse  einen  Quark  nennt,  den 
reifen  Quark  aber  erst  einen  Käse,  so  darf  der  Sachrer* 
ständige  vor  Gericht  das  kategorische  Urteil  aussprechen 
,Käse  ist  reif  oder  —  wie  er  dann  wohl  sagen  wird:  «Es 
gehört  (las  Reifsein  zum  Wesen  des  Käses.*  Was  sonst 
zum  vollständigen  Begritt'  des  Käses  oder  der  Sparsamkeit 
gehöre,  wird  bei  solchen  mangelhaften  Tautologien  über- 
sehen. Wir  wissen  aber  jetzt,  dass  in  allen  ^riehen  Sätzen,, 
den  erklärenden  Sätzen  oder  Urteilen,  das  Denken  über 
den  Begriff  nicht  hinausgeht,  sondern  hinter  ihm  zurück- 
bleibt. 

Die  Satzbildung  oder  das  Urteilen  braucht  aber  nicht  Er- 
immer  vom  Inhalt  des  Begriffes  auszugehen ;  der  Ausgangs-  ^^J^j 
punkt  kann  auch  der  Umfang  des  Begriffes  sein,  also  etwas, 
was  der  Wirklichkeitswelt  näher  liegt.    Wir  kommen  dann 
zu  erzählenden  Urteüen.  So  wenn  die  Tischgesellschaft 
erfährt,  dem  Hanswurst  drohe  zu  Hause  der  GerichtsToll- 
zieher  und  er  habe,  um  eine  Schuld  bezahlen  zu  können^ 
«18  Bfl<&gicht  anf  W«b  und  Kind,  heute  «nstatt  Schlei  in 
Dill  und  Ente  mit  OU?en  nur  einen  KSee  bestellt.  «Diese 
Sparsamkeit  war  gut«  war  Ittblicli,  war  eine  Tugend,"  heissi 
es  dann  wohl.   Oder  der  Hanswarst  selbst  war  neugierig 
darauf,  ob  sein  Stttckohen  Esse  recht  reif  sei,  oder  oV 
ehester  ein  reif»  Kftse,  kein  Quark  sein  werde;  dann  kann 
er  wohl  berichten:  «Chester  ist  ein  reifer  Else*  oder  »dieser 
Eise  war  reif. 

Wenn  wir  nun  schon  die  Hauptmasse  der  Sfttse,  die- 
der  «rUftrenden,  als  Tautologien  preisgeben  müssen,  sO' 
fragt  es  sidi  nun,  ob  nicht  wenigstens  die  enefthlenden  Ur^ 
teile  dem  Denken  etwas  hinzufügen,  ob  nicht  wenigstens^ 
die  enEfthlenden  Urteile  den  Esel  aus  der  Tretmühle  heraus- 
führen. Ich  muss  antworten:  durchaus  nicht.  Was  in  der 
Schatzkammer  unseres  Gedächtnisses  vorgeht,  wenn  wir  so 
ein  enählendes  Urteil  bilden,  das  ist  keine  Bereicherung^ 
es  ist  nur  eine  Untersuchung,  ob  die  betreffende  Note- 


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380 


III.  Dm  UrteU. 


noch  Kurswert  habe,  ob  das  betreffende  Wort  nicht  wertlos 
sei.  Wenn  wir  erfahren,  dass  die  Sparsamkeit  Hanswursts 
in  diesem  Fall  gut  und  löblich  war,  so  sind  wir  und  mit 
uns  die  Menschheit  nicht  in  unserer  Erkenntnis  bereichert, 
sondern  um  einen  Einzel&H  reidier  geworden,  in  welchem 
wir  den  Spraeligebrauch  „Sparsamkeit  ist  eine  Tugend* 
durch  Uebung  befestigen.  Und  wenn  Hanswurst  erAhrt, 
dass  ehester,  der  «unter  B^lse  steht",  reif  war,  kein  Quark 
war,  so  wird  auch  ihm  der  Sprachgebrauch  durch  Uebung 
befestigt,  dass  das  Wort  ,Käse*  eine  reife  Ware  bedeute. 

Wieder  muss  ich  mich  gegen  die  philosophische  Ter- 
minologie, wie  sie  besondos  seit  Kant  üblich  ist,  wenden 
und  darauf  hinweisen,  dass  erst  die  hier  versuchte  Kritik 
der  Sprache  im  stände  ist,  die  alten  Ungeheuer  a  priori 
und  a  posteriori  auf  ihre  bescheidene  wirkliche  Grösse 
zurQckauftthren.  Unsere  fast  ganz  wertlosen  Urteile,  die 
erUftrenden  Sätze,  könnte  man  Urteile  a  priori  nennen,  weil 
sie  auf  die  Worte  unserer  Sprache  zurQckgehen,  weil  sie 
sich  aus  früheren  Erfahrungen,  eben  aus  unserem  Sprach- 
schatz oder  dem  Gedächtnis,  ableiten  lassen.  Und  wenn 
die  historische  Entstehung  des  Begriffs  a  posteriori  nicht 
gar  so  überflüssig  wäre,  so  könnte  man  ihn  wohl  auf  die 
erzählenden  Urteile  anwenden,  weil  diese  den  von  ihnen  er- 
klarten, oder  besser,  beschriebenen  Begriffen  für  die  Zu- 
kunft irgend  einen  kleinen  Zusatz  zu  ihrer  Festigkeit  geben. 

Zu  den  erzählenden  Uiteilen,  zu  den  wertvolleren  I^r- 
teilen  a  posteriori,  würden  dann  auch  freilich  die  <^anz  wert- 
volle'i  S'Uzo  gehören ,  die  Mitteilungen  wirklich  neuer  Be- 
olip.rl  li '  m<jen ,  welche  eij^entlich  allein  zum  Fort-^rhritt  der 
mensciiliciien  Erkenntnis  ])eitragen.  Es  ist  dann  «^lelch- 
giiUig,  oh  durch  die  neue  Beohachtung  alte  zweifeUuitte 
Urteile  l Hypothesen j  gesichert  oder  ob  neue  Urteile  (Hypo- 
thesen) aufgestellt  werden.  Immer  ist  es  etwas  Neues,  was 
ein  Genie  dem  Sprachschatze  der  Menscbiieit  hinzufügt.  Ob 
Newton  seine  neue  Hypothese  aufstellt,  das  Urteil  vom  Ver- 
hilltnis  zwischen  Gravitation  und  Fjutfernung,  oder  ob  neuere 
Beobttchtuugen  seine  Hypothese  au  den  sogenaimteii  Stö- 


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AnthropomorpIiifimDf. 


331 


rungen  der  Flanetenbalmeii  bestätigen,  innnei  ist  imser 
Sprachschatz  um  ein  wirkliches  AperQu  bereichert  worden. 
Wenn  Mendeiejew  die  Hypothese  von  den  regelmässigen 
Reihen  der  Atomgewichte  aufstellt  und  bestimmte  tmbe- 
kannte  Elemente  mit  bestimmten  Eigenschaften  Toraussagtt 
oder  wenn  dann  fünf  Jahre  spfiter  80  ein  neues  Element 
wirklich  entdeckt  wird  und  anstatt  <ies  apriorischen  Namens 
Ekauliiminium  den  aposteriorischen  Namen  Oallium  erhält, 
so  haben  beide  Entdecker  mit  mehr  oder  weniger  Genie 
unsern  Sprachschatz  bereichert.  Ebenso  hat  die  Entdeckung 
Australiens  die  Sprache  der  Zoologie  bereichert,  sowohl 
durch  neue  Bestätigungen  alter  Urteile  über  die  Säugetiere 
und  die  Beuteltiere  iosbesoudere ,  als  durch  Beschreibung 
neuer  Arten. 

« 

Wilhelm  Jerusalem ,  der  den  grössten  Teil  aller  im  Anthropo- 
Begriffe  oder  im  Worte  nachweisbaren  Elemente  einer  un- 
bekannten  ürteilsfunktion  zugewiesen  bat.  um  die  Aussichten 
von  diesem  Gesichtspunkte  aus  zu  einem  Buche  zu  sammeln, 
kehrt  immer  zu  seinem  Ausgangspunkte  y.urück,  dass  jedes 
Urteil  sein  Subjekt  als  ein  Kraftzeutruni  auffasse,  von 
welchem  das  Prädikat  als  Wirkung  ausgehe.  Was  ui  dieser 
Auffassung  (Aveuorius)  Wahres  ist,  das  lasst  sich  Tiel 
besser  als  an  den  Urteilen  an  den  Begriffen  oder  Worten 
beobachten,  die  wir  uns  freilich  nicht  superklug  als  Kraft^ 
Zentren  Toistellen,  die  aber  ganz  sicher  anthropomorphisch 
gebildet  worden  sind.  Alles  ist  Personifikation.  Durch 
Metaphern  geht,  seitdem  es  sprechende  Menschen  auf  Erden 
gibi,  aller  Bedeutungswandel  und  so  wird  die  Metapher,  in- 
sonderheit die  Personifikation,  bereits  geholfen  haben,  als 
sich  der  erste  Schrei  zum  Sprachworte  umwandelte.  «Nur* 
die  noch  unaufgeklärten  tiefem  Beziehungen  zwischen  Oe- 
h6r-  und  Sprachorgan  einerseits  und  Empfindung  anderseits 
müssten  noch  aufgeklärt  werden,  um  ein  Phantasiebild  der 
ersten  Sprache  zu  entwerfen.  Freilich  darf  man  nicht  den 
Fehler  begehen,  die  scharfe  Trennung  zwischen  dem  eigenen 


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382 


m.  Dm  UrteU. 


lind  dem  fremden  Individuum,  z\viv(  hen  bewusstem  und  uu- 
bevvusstem  Willen,  zwischen  or^'iiiiisclier  und  unor^nischer 
Welt,  die  wir  hei  solchen  Untersuciiungen  im  Sinne  haben, 
schon  den  sfiraehschöpfenden  Menschen  einer  Urzeit  in  die 
arme  Seele  zu  legen.  Die  Apperzeptionsmassen  eines  mo- 
dernen Psychologen  sind  doch  am  Ende  reicher  und  in 
ihrem  Keicuium  tliach  die  Sprache  besser  geordnet  als  die 
Apperzeptioüsmassen  irgend  eines  Vorfahren,  der  das  Häu- 
schen der  Baumkrone  einer  sprachbegabten  Baumseele  zu** 
schrieb.  Um  den  Abatand  dautlich  au  sehen,  wollen  wir 
lieber  den  Vorgang  beim  Menschen  und  beim  Tiere  Ter- 
gleichen.  Ein  Hund  wurde  einmal  dadurdi  ängstlich  ge* 
macht,  dasa  ein  Sonnenacfairm,  der  neben  ihm  aufgespannt 
auf  der  Wiese  lehnte,  Tom  Winde  bewegt  wurde.  Der  Hund 
erschrak  offnibar  Uber  ein  belebtes  Ungeheuer,  fübet  etwas 
was  die  TielgerOhmte  Phantasie  der  Griechen  etwa  die 
Sonnenschirmdryade  genannt  bitte.  Dieselbe  Phantasie  der 
Griechen  machte  es  aber  nicht  anders  als  der  Hmid,  wenn 
sie  die  Winde  als  belebte  und  sehr  kräftige  Wesen  auf- 
fesste.  Es  ist  dabei  charakteristisch,  dass  dieee  persmufi» 
lierten  Erreger  des  Windes  oder  viebnehr  die  Erreger  der 
Windwirkungen,  nicht  ftir  jedes  gslinde  Windeswehen  be- 
mflht  wurden^  wo  ihre  Kamen  mehr  dekoraÜTes  Beiwerk 
war^,  dass  die  Windgötter  eigentiich  erst  in  Aktion  traten, 
wenn  die  Windwirkung  Furcht  erregte  oder  Schaden  stiftete. 

Nun  ist  es  uns  heutsutage  fast  ebenso  sdiwer,  TOn 
unseren  Apperzeptionsmassen  zu  abstrahieren  und  uns  das 
Weltbild  eines  Vorzeitmenschen  Torzustellen,  wie  es  uns 
schwer  ist,  die  Welt  aus  dem  Gehirn  eines  Hundes  heraus 
zu  verstehen.  Goethes  lichtspendender  Satz:  ^T)er  Mensch 
begreift  niemals,  wie  anthropomorphisch  er  ist,"  hat  für 
mich  diese  Bedeutung:  wir  wissen  und  sagen,  dass  alle 
unsere  Begrifte  anthropomorphisch  sind,  aber  wir  wissen 
trotzdem  nif  ht.  in  wie  hohem  Grade  sie  es  sind,  wir  wissen 
es  darum  nicht,  weil  es  ein  Abstractum  Mensch  nicht  gibt, 
weil  der  Mensch,  der  sich  die  Welt  nnrh  stMneni  Bilde  nach- 
geschaÜen  hat,  sich  zugleich  während  der  Entwickeiung  des 


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Qeqpenster. 


333 


Weltbildes  weiter  entwickelt  hat  und  er  so  tiutz  aller  ne- 
sprachbistorischen  Untersuchungen  niemals  erfahrt,  was  er  "P*"* 
in  seiner  Sprache  oder  in  seinem  Denken  an  Gespenstern 
aus  der  Urzeit  mit  sich  herumti  ägt.  Die  Toton  der  Sprache 
werden  nicht  begraben.  Die  Sprache  oder  dag  Denken 
trigt  die  Leichen  aller  Toraogegangeneo  Geschlechter  mit 
ach  herum. 

Am  ehesten  kOnnen  wir  nns  nock  in  die  Zeit,  da  das 
Hensdiengefaim  noch  nicht  der  Friedhof  seiner  eigenen  Ver- 
gangenheit war,  lurackrersetBen,  am  ehesten  kOnnen  wir 
nns  noch  in  die  Weltansdiauung  eines  Hundes  oder  eines 
Menschen  an  der  Schwelle  der  Spraehschdpftmg  hinein- 
denken, wenn  wir  uns  in  unsere  eigene  Kinderaeit  zurflck- 
Terseteen  und  diesen  Zustand  durch  Beobachtungen  an  Kin- 
dern objektiy  naehprflfen.  Da  werden  wir  daqenige,  was 
den  Baum  und  die  Sonne,  die  Tisehbnte  und  den  Poraellan- 
hund  belebt,  nach  Jerusalems  Ausdruck  su  einem  Xraft- 
xentmm  macht,  durchaus  nicht  mit  den  sehr  schwierigen 
Begriffen  der  modernen  Mechanik  oder  Fbyohologie  als 
Kraft  oder  als  Wüle  aufgefasst  sehen,  sondern  als  etwas, 
was  ich  am  besten  durch  das  Wort  Gespenst  (in  dem  Sinne, 
den  es  bei  Stirner  und  dann  bei  Ibsen  gewann)  wiedergeben 
BU  dürfen  glaube.  Das  Tier  und  das  Kind  sieht  überall  Ge- 
spenster, wie  der  Urmensch  und  wie  der  gläubige  Spiritist. 
Das  Tier  und  das  Kind  sieht  aber  diese  Gespenster  überall 
erst  dann,  wenn  es  erschreckt  worden  ist,  wenn  seine  Auf- 
merksamkeit auf  eine  wirklich  oder  scheinbar  bedrohliche 
Erscheinung  prelenkt  worden  ist.  Die  Furcht  nia^  nicht  nur 
die  Götter  f.(ebildet  haben  (nach  dem  altfn  Worte),  .sondern 
auch  die  ersten  Be^riife .  welche  darum  ihre  Verpottunj^, 
ihre  Personifikation  bis  heute  nicht  ganz  los  geworden  sind. 

Diese  Geisterseherei,  welche  das  Tier  und  dü-<  Kiud 
weiter  treibt,  knüplt  vorsprachlich  bereits  au  die  Objekte 
der  Wirklichkeitswelt  an.  Der  Hund  vergeistet  den  Sonnen- 
schirm ohne  ihn  nennen  zu  können,  das  Kind  vergei.stet  die 
Kohlt  nkiste  oder  das  nächtliche  Ticken  der  Uhr,  bevor  es 
die  bezügiicheu  Worte  mit  den  Apperzeptionsmassen  eines 


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884 


III.  Das  ürtfloL 


Erwachsenen  verbi^il  t.  Es  steht  nichts  im  Wege  diese 
Gesp^sterfurcht ,  diese  Vei  ^relstung  des  Objekts  ein  Urteil 
zu  nennen,  ein  falsches  Urteil.  Diese  Urteilsfimktion  ist 
eine  That  des  VeTBtandes,  die  mit  der  Sprache  nichts  la 
scliafTeu  hat.  AssocüareB  sich  dabei  die  Erinnerungoi  an 
gleichartige  Objekte  in  einem  Begriffe  oder  Worte,  so  geht 
die  Vergeistung  des  Objektes  natürlich  mit  in  den  BegnS 
oder  das  Wort  über.  Jahrtausendelang  arbeitet  nun  das 
Menschengeschlecht  daran,  die  Objekte  besser  zu  betrachten 
oder  zu  bourtcilra  und  so  die  Bedeutunp  des  Wortes,  wel- 
ches gleiclr/citiLT  einen  Lautwandel  durchmachen  mag  oder 
nicht,  mehr  und  mehr  von  Gespenstern  zu  reirigcu.  Die 
Elemente  des  Denkens  bleiben  aber  nach  wie  \>n-  am  Be- 
griffe nder  Wortn  haften.  Nicht  in  den  Urteilrri.  sondei  ii  in 
den  liegriHen  steckt  die  Antbrnpomor])hisK i  iuil:"  1'  r  Weit. 
Die  sogenannten  Urteile  sind  (um  Kants  Tennmoiogie  an- 
zuwenden) entweder  analytisch  und  dann  sind  sie  wertlose 
Tautologien,  in  denen  sich  höchstens  die  Richtung  der  Auf- 
merksamkeit ausspricht:  oder  sie  sind  synthetisch  und  dann 
sind  sie  keine  Urteile,  sondern  neue  Beobachtungen,  deren 
Assimilierung  an  die  bisherigen  Apperzeptionsmassen  wir 
als  Urteilsthätigkeit  empfinden. 
Apirer-  Mit  dem  Begrifte  Urteil  bezeichnen  wir  also  zwei  Be- 
Bcption.  wuggtseinszustände,  welche  von  Hause  aus  an  die  entgegen- 
gesetzten Enden  der  traditionellen  Logik  gehören  würden; 
den  Zustand  nimlich,  in  welchem  wir  ixgend  eine  Wahr« 
nehmung  madien,  indem  wir  sie  in  unsere  Apper^eptionS' 
masse  annehmen,  sie  einem  bereits  ▼orhandeneo  Worte 
angliedern,  und  den  zwdten  Zustand,  in  welchem  wir  unsere 
Aufmerksamkeit  auf  das  Wort  und  seine  Entstehung  richten 
und  ein  sogenanntes  Urteil  mit  Subjekt  und  Mdikat  aus 
dem  Worte  wieder  herauswickeln.  Der  zweite  Bewusstseins- 
zustand  ist  der  gewöhnliche  bei  unserem  Sprechen  und 
Denken;  der  erste  Bewussteeinszustand  ist  deijenige,  welcher 
die  Individualsprache  oder  die  Weltanschauung  des  Ein- 
zelnen wachsen  lasst  und  welchen  wir  uns  auch  bei  den 
Entstehung  der  Sprache  gegenwärtig  denken  mdssen.  Hau 


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ApperxeptioD. 


33^ 


kflnnte  auch  die  zweite  Art  von  Urteilen  Urteile  aus  Worten 
nennen,  den  ersten  Bewusstsetnestutand  das  Entstehen  der 
Worte  aus  Urteilen.  Bei  diesem  Entstehen  der  Worte  ans 
Urteilen  macht  es  nun  einen  wesentlichen  Unterschied,  ob 
die  Entwickelung  des  Wortes  aus  der  eigenen  Thfttigheit 
kommt  oder  nicht,  ob  die  Spracherweiterung  autodidaktisch 
gelernt  wird  oder  nicht*  Der  Autodidakt  bildet  sich  wenig» 
stens  begriffliche  Gespenster  nach  seinem  eigenen  Bilde; 
der  Schüler  nimmt  die  Gespenster  des  Lehrers  an,  was  den 
Gespenstern  aucli  voch  den  letzten  Rest  ihrer  subjektiven 
Realität  nimmt.  Mach  (Analyse  der  Empfindungen  S.  150) 
hat  sehr  fein  beobachtet,  wie  ein  Kind  gelegentlich  die 
Federn  des  Vogels  Haare  nennt,  die  Hömer  der  Kuh  Fühl- 
hörner, die  Bezeichnung  Bartwisch  sowohl  für  den  Bart- 
wisch selbst  als  fttr  den  Bart  des  Vaters  und  den  wolligen 
Samen  des  Löwenzahns  anwendet.  Ebenso  nennt  der  ge- 
raeine Mann  ein  Rechteck  p^cwöhnlicli  nur  ein  Viereck. 
Mach  fügt  hinzu:  „Die  meisten  Menschen  verfahren  mit  den 
Worten  ebenso,  nur  weniger  aufffillond,  weil  sie  einen  grös- 
seren Vorrat  zur  VerfHijiinir  haben."  Nicht  darum  allein 
ist  es  uns  weniger  autfalh ml .  sondern  vielleicht  auch  weil 
Menschen  von  der  gleichen  Biiduugsstute  den  gleichen 
Wortvorrat  zur  Verfügung  haben ,  weil  einer  an  die  Ge- 
spenster des  anderen  glaubt.  Da^i  Kind  sieht  zwischen  dem 
Bart  deü  Vaters  und  dem  reifen  Löwenzahn  eine  Aehnlich- 
keit;  die  höchst  gebildeten  Naturforscher  sehen  Aehnlicb- 
keit  zwischen  den  Kör])eni  und  deren  kleinsten  Teilen,  die 
sie  Atome  nennen,  und  vielleicht  ist  bei  solchem  Wortaber- 
glaubeu  das  Kind  sieb  der  Un Wirklichkeit  de«  Gespenstes 
besser  bewusst  als  der  >»'aturforschor. 

Die  erste  Gruppe  von  Ui'teilen  allein  fallt  unter  den 
alten  Begriff  der  Apperzeption. 

In  der  französischen  Spradbie  gehört  das  Wort  der  Um- 
gangssprache an.  Aperceroir  hetsst  da  im  Gegensätze  zu 
▼oir  geradem  das  oherflSchliche,  unToUstündige ,  flüchtige, 
wirre  S^en,  On  aper9ott  etwas,  um  es  nachher  an  be- 
trachten oder  wieder  an  übersehen. 


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336 


IIL  Du  Urteil 


Die  Apperzeption  der  Psychologen  soll  etwas  Aktives 
«ein,  was  den  apperzipierten  Gegenstand  an  sieh  reiset, 
während  doch  offenbar,  wenn  der  Franzose  aper^oit  quelque 
•chose,  der  Gegenstand  aktiv  in  das  Blickfeld  des  Beobachters 
tritt,  der  mehr  passiv  bleibt.  Also  wieder  ein  Wort,  dessen 
£ed>  iitung  schielend  ist. 

Noch  grösser  wird  die  Konfusion  durch  die  Definition, 
•welche  Steinthal  (Abr.  d.  Sprachw.  I.  171)  von  der  Apper- 
zeption gibt.  Er  erklärt  sehr  hübsch,  dass  bei  der  Apper- 
2eptiou  eines  Dings  (z.  B.  eines  Pferdes),  also  bei  der  An- 
wendung" eines  Begriffs  oder  Wort«  auf  ein  Individuum 
dieses  Begriffs,  eine  reiche  Geistesthiitigkeit  zu  verfolgen 
wäre,  dass  der  ganze  bisherige  Inhalt  des  Begriffs  in  Be- 
wegung gesetzt  wird  und  dass ,  was  wir  z.  B.  bisher  vom 
Pferde  wussten,  beim  Benennen  de-  neuen  Individuums 
relativ  das  Moment  a  priori  sei,  wahrend  der  neue  Smii*  n- 
reiz  (der  vom  neuen  Individuum  ausgeht)  das  relative  Moment 
a  posteriori  sei. 

Nachdem  Steinthal  diesen  fruchtbaren  Einfall  (der  Re- 
lativität des  a  priori)  rasch  verlassen  und  vergessen  hat, 
definiert  er  also  die  Apperzeption  als  die  ,  Bewegung  zweier 
Yorstellungsmasseu  gegeneinander  zur  Erzeuguug  einer  Er- 
kenntnis". 

Da  ist  Tor  allem  zu  bemerken,  dass  keine  der  beiden 
YorsteUnngsmasaen  den  Ansprach  eriieben  darf,  anch  nur 
relatiT  a  priori  zu  keissw,  wenn  die  Apperzeption  etwas 
zwischen  ihnen,  wenn  sie  eine  Bewegung  ist*  leh  bin  nicht 
ängstlick.  Ich  scheue  nickt  Tor  den  Konsequenzen  des  Ge- 
dankens zurück,  dass  Apperzeption  nur  eine  Bewegung 
zwiscken  Yorstettungen  oder  Begriffen,  dass  sie  also  etwas 
Aeknliches  sei  wie  Chantation.  Bs  ist  mir  sogar  ver- 
fOkrerisch,  zwischen  den  grossen  anerkannten  mechanischen 
Cbundsätzen  der  sogenannten  Ifaterie  nnd  dem  Haupt- 
Clement  des  Geisteslebens,  eben  der  Apperzeption,  ein  Ana* 
logon  zu  finden.  Nur  ein  Psychologe,  der  stets  Ton  d«r 
Seele  (trotz  einer  anftaf^chen  Mentalresenration)  wie  Ton 
einem  Etwas  spricht  und  der  der  altera  Yorstellungsmasse 


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Appeneption* 


337 


die  mystische  Kraft  dee  a  priori  Terleilit,  darf  nicht  auf 
deraeLben  Seite  das  Wesen  der  GeistesthBtigkeit  in  eine  un« 
peraSoliche,  idüoae  Bewegung  auflösen  wollen. 

Und  es  geht  auch  nicht.  Der  Tergkich  mit  der  Gra- 
vitation hinkt  auf  allen  vier  Füssen  der  BestiCt  die  Apper- 
zeption genannt  wird.  Die  Stoffe,  die  Spielzeug  der  Gra- 
Titation  sind,  sind.  Sie  existieren,  ewig  wie  ihre  Beiiehnngen 
aufeinander.    Sie  sind  fr^r  uns. 

Der  Sinneseindruck  aber,  der  durch  die  Lebensrerwicke« 
lungen  zufällig  im  Gehirn  eines  Einzelmenscben  an  seinem 
bisherigen  Vorrat  an  Eindrücken  hinzutritt,  der  —  wie  man 
es  nennt  —  apperzipiert  wird,  wird,  entsteht  erst  durch 
das  Leben.  Es  ist  also  wahr,  dass  ein  a  priori  da  ist,  ein 
Zentrum,  ein  Ich,  ein  «sogenanntes  Bewusstsein,  das  heisst 
ein  Individiml<jf dächtnis,  dns  nun  aus  einem  Eindruck  ver- 
stärkt wird.  Ks  ist  also  die  sogenannfo  Apperzeption  nicht 
etwas  zwischen  den  Vorstellungen,  sond' m  loch  wohl  eine 
Aktion  des  Zentrums.  Sie  ist  eher  Nalirungsautnahme  als 
Gravitation.    Und  das  hvj^i  in  d^m  Xamen:  Adperzeption. 

Da  nun  aber  anderseits  diese  beitr  iler  Sache  sub- 
jektiv, falsch,  seelisch,  eine  Selbsttäuschung  sein  muss, 
wie  jede  psychologische  Beobachtung,  da  also  die  soge- 
nannte Apperzeption  an  sich  gewiss  eine  Bewegung  ist  (nur 
nicht  die  von  V'oi-stcllungen)*),  so  bleibt  nichts  übrig,  als 
den  unhaltbaren  Aus  j  uck  Apperzeption  endlich  fallen  zu 
lassen  und  die  Entstt  hang  der  Begriffe  oder  Worte  also 
auch  die  der  vorausgehenden  Urteile,  der  „Vor "urteile  tiefer 
zu  gründen  als  auf  diesen  Ueberrest  einer  kindlichen  Geistes- 
lehre, auf  ein  tSnendes  Wort,  Über  dessen  Bedeutung  sich 
die  Gelehrten  nicht  einigen  kSnnen  wie  es  denn  Ober- 
haupt rftilich  wäre,  in  den  Wissenschaften  keine  Begriffe 


*)  Ich  meine  das  so :  solange  man  von  Yoratellungen  redft  und 
p8ychologi.«cVi#>  Fa^boii'^i^T-nckt.»  gebraucht,  solange  ist  es  auch  ein  Ich, 
dm  apperzipiert;  lässt  man  aber  die  Psychologie  und  das  Ich  bei- 
seite, redet  man  pbjuologiscii  von  Bewegung,  so  darf  man  nifht  an 
VoxstollmigMi  denken. 

XMtfen«r,  Bdtiif»  n  «in«  XUtlk  dar  SpndM.  m.  SS 


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Sd6 


m.  Dm  ürtaiL 


anzuwenden,  über  deren  Definition  nicht  aUe  Welt  imd  afle 

Sprachen  einig  sind. 

Ich  kannte  die  Apperzeption  definieren  ala:  die  An- 
wendung des  persönlichen  Wortschatzes  auf  ein  sich  der 
Wahrnehmunpf  aufdrängendes  Ding.  Dabei  wäre  die  aktive 
Seite  der  Wirklichkeitswelt  (durch  das  „Aufdrängen")  ge- 
wahrt und  zugleich  erklärt,  warum  der  Kenner  bei  der 
Apperzeption  so  ungleich  mehr  erblickt  als  der  Laie ;  denn 
es  i«t  kfiTip  Frage,  dass  der  Pferdekenner  an  einem  vorbei- 
galoppiereuden  Pferde  mehr  Besonderheiten  wahrnimmt,  als 
ein  Laie  nach  wochenlangem  Besitz;  ähnlich  der  Kosen- 
zUchter  au  einer  liose.  Vor  allem  !il)pr  hätto  meine 
Definition  das  Gute,  dass  sie  auf  die  Bedtuiung  des  Wort- 
schatzes hinweist,  der  doch  nichts  weiter  ist,  als  die  Sprach- 
form der  Vorsieiiungsmasse,  zu  welcher  der  neue  Eindruck 
durch  die  Apperzeption  hinzutritt.  Auch  der  Unterschied 
zwischen  Kennern  und  Laien  ist  eigentlich  nur  ein  Sprach- 
unterschied.  Die  genaue  Kenntni-^  des  Pferdes  ist  ohne 
eine  Menge  sportlicher  Begriffe  oder  Worte  nicht  möglich 
und  umgekehrt.  Wer  die  Ausdrücke  sinnlos  gebraucht,  um 
zu  flunkern,  zu  dessen  Sprache  gehören  sie  eben  noch 
nieht.  Man  erkennt  den  Sportsman,  wie  jeden  Gewerbamann, 
an  seiner  Sprache. 

Trotz  dieser  VoraQge  föllt  es  mir  nicht  ein,  meine  De^ 
finition  ▼orauschlagen.  Man  soll  eben  lieber  gar  nicht  de^ 
finieren,  wenn  der  Begriff  nicht  gemeinsam  ist.  Die  Apper- 
xeption  aber  ist,  wenn  meine  ErUimng  zutrifft,  nichts  weiter 
als  ein  hilfloser  Ausdruck  f&r  das  Nichtwinein:  wie  wftehst 
die  Sprache,  der  Sprachschats  eines  einseinen  Menschen? 
Und  da  wir  die  mikroskopischen  Vorginge  bei  der  Nah- 
rungsaufnahme einer  Pflanze  nicht  kennen,  so  kdnnttti  wir 
ebenso  gut  das  Ereignis,  dass  ein  MolekQl  oder  Atom  sich 
mit  einem  Pflanzenindividuum  Terbindet,  so  könnten  wir 
diese  Form  der  Gravitation,  diese  Bewegung  auch  eine 
Apperzeption  der  Pflanze  nennen. 

Und  so  ist  der  ganze  Fortschritt  der  Wissenschaften 
die  Summe  der  sogenannten  Apperzeptionen,  das  hdsst  das 


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a  priori. 


839 


nnsclidiibare  Waduen  des  SpnelucliatBeB.  Das  Kind  sagt 
eines  Tages:  «Aha,  so  ein  Ding  mit  einer  Platte  und  Tier 
Beinen  nennen  sie  einen  Tisch,  auch  wenn  die  Platte  rund 
ist,  trotsdem  icli  Vislier  nur  viereckige  Tische  gesdien  habe/ 
Ganz  richtig;  aber,  am  bei  Steinthak  Beispiel  su  bleiben, 
die  Wissenschaft  macht  es  auch  nicht  anders,  höchstens 
schlechter.  Sie  sagt:  «Ick  werde  untersuchen,  ob  ein  runder 
—  Dingsda  auch  ein  Tisch  ist,  ob  er  auch  ein  Tisch 
heissen  darf/  Darf?  Hier  liegt  wieder  einmal  der  wich-- 
ttge  Punkt,  die  üebcrschftteung  der  Spra  lie.  Die  Wissen- 
schaft wird  künftig  fragen  mQssen,  wie  die  Kinder  fragen: 
ob  das  runde  Ding  auch  ein  Tisch  noch  heisse  und  warum. 
Das  Dürfen  muss  aus  der  Sprache  der  Naturwissenschaft 
verschwinden  wie  das  Sollen  aus  der  Aesthetik  und  aus 
der  Logik.  Beide  Hilfsworte  sind  Zuchthauq'argon  der 
£thik. 

Die  Psychologie  unterschied  früher  zwischen  Perzeptioii 
und  Apperzeption,  wie  sie  noch  heute  zwischen  Bewusstaein 
und  Selhstbowusstsein  zu  unterscheiden  sucht.  Da  war  Per- 
zeption  etwas,  was  ungefähr  von  den  Sinnesorganen  allein 
geleistet  wurde,  während  zur  Apperzeption  die  , Seele**  nötig 
war.  Alle  n»Mieren  Bemühungen,  die  Perz»  pti m  als  irgend 
eine  unklarere  Ajii  erzeption  zu  erklären,  sind  selbst  nur 
Unklarheiten.  Perzeption  ist  ein  Wort,  das  seihst  abge- 
stcu  ben  ist  und  vorläuiig  im  Seitentrieb  Apperzeption  weiter 
wuchert. 

* 

Es  ist  schon  gesagt  worden,  dass  a  priori  und  a  posteriori  »  priori. 
(Uder  wie  man  sonst  den  Gegensatz  zwischen  Geistes  wissen 
und  Sinnenwissen  bezeichnen  will)  nur  Abstraktionen  sind, 
welche  in  ihrer  Ahgetrenntheit  wirklich  gar  nicht  vorkommen. 
Man  hat  aber  wohl  kaum  bemerkt,  dass  diese  beiden  Wege 
alltäglich  und  immer  beschritten  werden,  ja  dass  eigentlich 
jeder  Begriff,  jedes  Wort  nichte  ist,  ab  der  Tref^unkt  dieser 
beiden  Wege,  der  Kreusweg  zwischoi  dem  schmalen  Sinnes- 
ehidmck,  der  von  aussen  nach  dem  Gehirn  geht,  und  der 


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340 


m.  Du  Urteü. 


See!«,  das  heM  dem  Ivdten  OedielitBisM,  das  ihn  irgendwo 
aufiiimmt. 

Ohne  dieses  Innehalieii  am  Kreuzweg  wOrde  der  ein- 
fachste Begriff  nieht  durdi  ,Yor*  urteil  zu  stände  kommen 
kQnnen.  Da  tritt  ein  Sinneseindruck  in  die  Seele:  ein  Hund. 
Es  wQrde  hei  dem  unklaren  Bilde  hleiben,  das  a  posteriori 
wie  ein  Traum  an  dem  engen  Guckloch  des  sogenannten 
Bewusstseins  TorQbensieht,  wenn  dieses  sogenannte  Bewusst- 
sein  nicht  eben  das  Gedftchtnis  selber  wäre,  das  lebendige 
a  priori,  welches  darauf  lauert,  Ton  seinem  Ghickloch  aus 
den  Sinneseindruck  su  treffen,  einzuheimsen.  Oder  rielmehr, 
das  Gedächtnis  sitst  wie  ein  Ameisenlöwe  in  der  Grube  und 
lauert  auf  Beute.  Für  jede  Art  von  Eindruck  hat  es  ge- 
Wissermassen  Rinnen  nach  seiner  Grube,  seinem  a  piiori, 
gezogen,  welche  immer  flOr  eine  bestimmte  Gattung  be- 
stimmt sind.  Kommt  nun  so  ein  Eindruck  in  das  Gfebiet 
seiner  Rinne,  muss  er  eben  obne  Gnade  hinunterrutschen 
und  füllt  in  den  Begriff.  Der  Beginn  dieser  apriorischen 
Thätigkeit  ist  das  Oeheinuis ,  welches  alle  andern  psychi- 
schen Geheimnisse  in  sich  ^^chliesst.  Warum  hat  man  sich 
daran  gewöhnt,  auf  Aehnlichkeiten,  auf  Anali^en  «herein 
zu  fallen"?  E^^  wird  wohl  auf  Interesse,  insbesondere  auf 
das  Interes«!e  der  Bequemlichkeit  hinauslaufen. 

Auf  dem  Gebiete  der  liöchsten  Begriffe  arbeiten  a  priori 
und  a  posteriori  nicht  andf^rs  ineinander;  ja  die  Kreuzung 
ist  sogar,  weil  wir  es  mit  gelehrten  Begriffen  zu  thun  haben, 
leichter  zu  verfolgen.  So  ist  es  z.  B.  durchaus  nicht  rein 
a  posteriori,  wenn  eines  schönen  Tages,  nach  mehrtausend- 
jährigen Vorarbeiten,  die  Ellipse  als  Plaueteubahn  entdeckt 
wird.  Sie  wird  eben  nicht  ]>U)»s  entdeckt,  sondern  zuerst 
erfunden.  Wir  freilich,  die  wir  das  in  der  Schule  gelernt 
haben ,  halten  den  Fund  fflr  eine  Entdeckung,  also  für 
aposteriorisch.  Aber  selbst  Kolumbu-.  inusste  zuerst  a  priori, 
erfinderisch,  sich  den  Seeweg  nach  Westen  ausdenken, 
bevor  er  auf  diesem  Wege  Amerika  entdecken  konnte.  So 
sah  auch  Kepler  die  merkwürdigen  Gleichungen  der  Planeten- 
hahnen so  lange  mit  Erfinderaugen  an,  prüfte  so  lange  alle 


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Urteil  und  a  priori. 


341 


Möglichkeiten,  bis  er  a  priori  auf  die  Ellipse  fiel,  die  er 
dann  aposteriorisch  nachwies.  Nach  dieser  Thafc  wurde 
der  Begriff  Ellipse  um  den  Teilumfang  ^Planetenbahn" 
reicher,  der  Bcjrriff  Planet  um  den  Teilinhalt  Ellipse. 

Man  iiius:,u  .1  priori  „von  innen",  a  posteriori  ,vou 
aussen"  übersetzen.  Aber  viel  wird  damit  freilich  nicht  ge- 
schehen. 

Der  tiefste  Sitz  des  a  priori  muss  da  sein,  wo  wir 
unsere  Sinnesempfindungen  In  Wabmehmungw  Terwaa- 
deln,  die  wir  dann  nach  aussen  „projizieren*.  Ohne  diese 
aprioristisdie  Thätigkeit  könnten  wir  ebenso  wenig  sehen 
oder  hdren  wie  eine  Statue.  Da  nun  die  Tiere  sehen  und 
hSren,  müssen  sie  eben  dieses  »Organ  der  I^ulosophie'  aucb 
besitsen.  HStten  sie  also  auch  keine  Sprache,  so  Uttten  sie 
doch  das  Hdhere,  dos  a  priori« 

£s  ist  eine  feine  Bemerkung  StemthsJs  (Abr.  d.  Sprach-  Urten 
Wissenschaft  I,  14),  dass  jeder  Denkakt  die  Eombinierung  ^  p^^^i 
eines  apriorischen  und  eines  aposteriorischen  Moments  sei, 
dass  das  Subjekt  (des  Urteils)  das  aposteriorische,  das  Fifk' 
4ikat  das  apriorische  Moment  sei,  und  dass  darum  unser 
Denken  sich  in  der  Form  des  TJrteib  bewege.  Eine  feine 
Bemerkung  für  jemand,  der  in  der  Sprache  immer  noch 
das  Werkzeug  der  Erkenntnis  sah.  Sonst  hätte  er  nodi 
den  weitem,  vielleicht  letzten  Schritt  machen  müssen,  zu 
sagen:  das  Urteil  ist  die  sprachliche  Form  des  Denkens, 
das  erklärende  Urteil  ist  aber  nichts  als  die  Einreihung 
eines  neuen  Eindrucks  in  das  Magazin  des  OedächtnisBes,  es 
ist  also  nicht  seihst  die  Bereicherung  des  Denkens,  sondern 
nur  die  Quittung  Uber  den  Zuwachs,  es  ist  also  wertlos,  wie 
da*?  Denken  selbst.  Weil  wir  aber  nichts  andres  haben, 
als  die  Quittungen,  die  Urteile  in  Worten,  darum  halten 
wir  uns  an  sie.  Unser  Denken  oder  Sprechen  ist  nur  die 
Oberrccbnnnn'skammer ,  die  selbst  keinen  Pfennig  besitzt. 

Ich  b  il  I'  rhen  das  Wort  gebraucht,  -den  weitern,  viel- 
leicht letzten  Schritt" ;  es  war  ein  recht  dummes  Wort, 
kehrt  aber  bei  allen  selbstbewussten  Denkern  in  irgend 
einer  Form  nieder.    £s  ist  nur  natürlich,  dass  wir  immer 


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842 


m.  Dm  UiteiL 


vor  einem  Abjj^rund  zu  stehen  glauben,  wenn  wir  ins  Finstere 
treten.  So  ein  finsteres  Loch  ist  ininirr  die  Zukunft.  Eine 
Sprache  ohne  Zukunftsturui  des  Zeitworts  wäre  vielleicht 
für  philosuphische  Untersuchungen  recht  t^eeipiefc.  Sie  ^viirde 
verhindern,  aus  ignoramus  leichtsinnig  igiioiiibiimis  zu 
machen:  der  „vielleicht  letzte*  Schritt  war  so  eine  duuime 
Zukuuftsioriii. 

* 

BeaelireW  Sind  wir  nun  ganz  durchdrungen  von  dieser  wissen- 
schaftlichen  Resignation,  von  dieser  kleinen  kritischen  Wahr- 
heit, dass  nämlich  also  die  allermeisten,  die  erklärenden 
Sätze  fib«riittiipt  nicht  ttbcr  di«  Worte  hinftualUiren  kSnnen, 
dnss  die  allermeiaten  enälilenden  ^tze  nur  Bestätigungen 
des  allgemeineo  Spnehgebraudis  sind,  dass  endUeh  die 
grossen  Fortschritte  der  menschlichen  Erkenntnis  einzig 
imd  aUein  in  erzählenden  Sätzen  oder  in  Besehreibungen 
Ton  neuen  Beobachtungen  der  Wirhlichkat  bestehen,  dann 
werden  wir  wissen,  wie  nahe  der  Physiker  Eirchhoff  unserer 
Anschauung  kam,  als  er  es  in  einem  Tiel  umstrittenai  Satze 
flu*  die  Aufgabe  der  Mechanik  erklärte,  «die  in  der  Katur 
vor  sich  gehenden  Bewegungen  roUständig  und  auf  die  ein- 
fachste Weise  zu  beechreibeD*.  Der  menschlichen  Erkenntnis 
kommt  es  auf  die  Beschreibung  an,  womit  doch  bildlich 
die  ordentliche  Beredung  gemeint  ist,  das  Fes&altett  in 
Wortzeichen  des  Gedächtnisses.  Der  Entdecker  brauchte 
die  S})rache  gar  nicht,  für  sich  selbst  nicht;  die  andern 
Menschen  aber  hätten  nichts  vom  Genie,  wenn  er  seine 
Neuigkeit  nicht  mitteilen  wollte  und  könnte.  Mitteilen  aber 
lässt  sich  durch  feststehende  Begriffe  von  unniittelbarer 
Verständlichkeit  nur  das  Alte,  nur  das  in  den  Sprachschatz 
schon  Aufgenommene;  das  Neue  lässt  sich  nur  bildlich  um- 
schreiben, lässt  sich  nur  beschreiben. 

Wir  erfahren  also  in  diesem  Zusammenhange  wieder, 
daf?s  die  menschliche  Sprache,  wie  sie  durch  Metaphern 
oder  liildliche  Anwendungen  entstanden  und  gewachsen 
ist,  auch  heute  noch  gegenüber  ihren  höcksteo  Aufgaben 


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Ftotikilue  Urteile. 


843 


immer  aii£s  neue  zur  Metapher  wird.  So  wie  die  Summe 
UBierer  ererbten  Begiiffe  den  apriorischen  Sprachschatz  oder 
unsere  Weltanschauung  bildet  und  jede  neue  Beobachtung 
durch  Aufnahme  in  das  Gedächtnis  zu  einem  Begriffiswandel 
fuhrt,  so  schweben  natürlich  unzählige  alte  und  neue  Sätse 
«diwttlizhafit  um  die  Worte.  Wir  dürfen  nicht  aus  den 
Augen  Terlieren,  dass  all  diese  Bilder  der  Wirklichkeit  sich 
von  ihr  immer  weiter  entfernen.  Ich  werde  nicht  müde  es 
zu  wiederholen:  es  verbinden  sich  nicht  die  Begriffe  zu 
Urt-eilen,  sondern  die  Urteile  oder  Sätze  verbinden,  klären 
sich  Tin  Begriffen  oder  Worten.  Und  wenn  die  sterile  alte 
Jungler  Logik  darüber  auch  ohnmächtig  werden  sollte,  ich 
muss  jetzt  endlich  aussprechen,  was  ich  Sirrin iit  zu  haben 
glaube  und  was  mich  zu  meinem  kritischen  iiück blick  auf 
die  Logik  getüiirt  hat.  Es  .sind  nämlich  un.sere  BegriflFe 
oder  Worte  allerdings  aus  unsern  Sinneseindrticken  ent- 
standen ;  aber  unsere  Urteile  odt  r  Sätze  sind  nicht  aus  Be- 
j^rülcii  hervorgegangene  höhere  Gestaltungen,  sie  .sind  viel- 
mehr ein  Rückschritt  zu  den  SinneseindrUckeu. 
Der  Sinneseindruck  , weiss"  war  dabti,  uls  das  Wort  „Schnee* 
gebildet  wurde ;  sagt  dann  eine  der  bewunderten  entwickelten 
Sprachen  den  Satz  „der  Schnee  ist  weiss",  so  kehrt  sie  zum 
Sinneseindruck  zurück ,  entweder  um  ihn  zwecklos  zu  be- 
sehwalsen  oder  um,  nun  im  Beeitee  des  Dingworts,  die  Auf* 
merksMukeit  «af  den  Sinneaeindmck  zu  lenken*  Das  0e- 
sckw&te,  des  erklärende  Urteil,  geht  Tom  Wort  aus,  vom 
Inhalt  des  Begrifis,  die  Beobachtung,  das  endkUende  Urteil, 
geht  yom  Umfang  des  Begriffes  aus,  also  Ton  einer  Stelle, 
die  der  Wirklichkeit  nKher  liegt. 

Hier  sehen  wir  noch  deutlicher  als  froher  (HL  178  f.)f  Pwti- 
dass  die  Terschiedenen  logischen  Einteilungen  der  Urteile 
nur  sprachlicher  Art  sind  und  die  Erkenntnis  der  Wirk- 
lichkeit nicht  fördern  kOnnen.  Dsa  Urtttl  geht  vom  Be- 
grüTe  aus  psychologisdi  nach  rackwftrts.  Nur  die  Richtung 
der  Aufmerksamkeit  gibt  den  Einteihuigsgrund  nach 
Modslitftt  und  Relation,  nach  Quslitftt  und  Quantitfti.  Wie 
«s  in  der  Welt  der  Wirklichkeiten  keine  Bejahung  und 


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344 


IIL  Du  Urtoü. 


Verneinung,  keine  Möglichkeit  und  Gewissheit  gibt,  son- 
dern nur  eben  Wirkliches,  dessen  wir  bejahend  gewiss  sind, 
so  gibt  es  in  der  Natur  auch  keine  allgemeinen  und  keine 
partikularen  Sätze.  Die  Sache  litu;t  genau  so,  dass  wir 
ein  allgeiueaios  Urteil  bilden,  wenn  wir  von  einem  BegiifF 
nach  einem  seiner  Merkmale  schielen ,  wenn  wir  unsere 
Aufmerksamkeit  auf  einen  Teil  seines  Inhalts  lenken,  z.  B. 
,Älle  Hunde  sind  oder  heissen  Säugetiere" ;  Uass  wir  da- 
gegen partikulare  Urteile  bilden,  wenn  wir  vom  Hegriß' 
nach  einem  Teil  seines  Umfangs  schielen  z.  B.  ,  Einige 
Säugethiere  sind  oder  heissen  Hunde".  Ich  kann  nicht 
finden,  dass  unser  Denken  mit  solchen  Öatzbildungeu  er- 
hebhch  vorwärts  schreitet. 

Ich  brauche  Leaer  TOn  besserem  SpracbgefiÜil  nur  darauf 
auimerksam  in  machen,  Aus  die  flblkdie  Vcam  des  parti- 
kularen UrteUs  (einige  Asind  B)  der  naUIrlioben  Sprache 
Gewalt  anihut.  Der  Sprachgebrauch  wQrde  die  Form  Ter- 
langen  «die  Hunde  sind  eine  Art  (resp.  eine  Familie  n.  s.  w.) 
der  Säugetiere*.  Die  Logik  aber  braucht  ihre  unnatfflrliche 
Form,  um  innerhalb  der  oft  unnatürlichen  Naturklassifika- 
tionen ihre  Spielerden  treibeo  zu  können.  Han  sieht  es  am 
besten  an  der  seit  Linn^  ablichen  Klassifikation  des  Pflanzen- 
reichs, wie  willkflrlich  die  artbildenden  Merkmale  oder  Unter- 
schiede sind.  Für  unsere  Sprachkritik  ist  es  lehrreich,  dass 
die  Yeisttdie  eines  Pflanzensystems  sich  immer  wieder  mit  der 
Aufstellung  einer  geordneten  Nomenklatur  begnügen.  Han 
teilt  die  Pflanzen  nicht  mehr  nach  ihrem  Nutzen  für  Apo* 
theke  und  Haushalt  ein,  aber  immer  noch  nach  der  Anzahl 
u.  s.  w.  ihrer  Geschlechtsorgane.  Man  hält  immer  noch 
den  Satz  ^einige  Blumen  haben  fünf  Staubfäden*  für  ein 
nützliches  partikulares  Urteil,  ebenso  den  Satz  «einige 
Pflanzen  sind  Arzeneien".  Weil  aber  eine  Haupteinteilung 
der  Pflanzen  nach  der  Farbe  ihrer  Blüten  niemals  A-ersucht 
worden  ist,  hat  der  Satz  »einige  Blumen  sind  blau"  keine 
Beziehung  zu  einem  artbildenden  Merkmal  und  ist  doch 
logisch  ebenso  gut  wie  die  beiden  andern  Sätze.  Ja,  er 
muss  in  unsem  Augen  eher  noch  wertToUer  sein,  weil  er 


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UnpenOnlidift  SUie. 


34& 


nicht  aus  dem  Begriff  allein  hervorgeht,  sondern  eine  neue 
Beobnclitun^  hinzufügt.  Die  Beobachtung  der  Blunient'arbo 
ist  zuliillig  oder  vorläufig  gleichgültig.  Wir  wissen  mit  der 
Farbe  der  Blume  nichts  anzufangen,  s^en  wir,  das  heisst 
wir  habpn  meist  keine  Veranbissung  gehabt,  nach  der  Farbe 
der  BlunifO  rjeue  Arten  oder  Worte  zu  bilden.  Aui"  anderen 
Gebieten  war  es  anders.  Man  hat  z.  B.  die  Menschen  ur- 
sprünglich nach  ilirer  Farbe  in  Hassen  geteilt  und  erst  nach- 
träglich erfahren,  dasä  sich  anatomische  und  spruchliche 
Verschiedenheiten  vielfach  mit  den  Farben  decken. 

Worauf  ich  hinaus  will,  das  ist  die  Bemerkung,  dass 
das  partikulare  Urteil  —  je  nachdem  „einige"  eine  Art  aus- 
macheu  oder  nicht  —  zwei  gründlich  verschiedene  Sätze 
umfasst.  Wir  können  den  Satz  « einige  Säugetiere  sind 
Hunde'  nur  in  der  Form  brauchen  «der  Hund  ist  eine 
Säugetier-Art" ;  in  diese  Form  können  wir  den  Satz  »einige 
Blumen  sind  blau*  nidit  bringen,  weil  Blftae  für  ,die 
Blumen*  kein  artbildendes  Merkmal  ist.  Aber  nur  in  diesen 
werÜoaesten  Fällen  kennt  die  natOrUdie  Sprache  ein  parfci- 
kolares  Urteil,  nur  da  gebraucht  sie  das  Wort  »einige*.  Wir 
werden  bei  der  Lehre  von  der  Scblussfolgerung  ▼ieUeicbt 
sehen,  welchen  TJnfiig  die  Logik  mit  der  Aufsteüung  yon 
partikularen  Urteilen  getrieben  hat 

Doch  carOck  au  dem  YerhSltnisse  von  Urteil  und  Begriff. 
Diese  f&r  midi  nicht  humorlose  Entdeckung,  dass  das  Ur- 
teil oder  der  Satz  eigentlich  ein  Rückschritt  Tom  Begriff 
zum  Sinneseindruck  ist,  möchte  ich  noch  belegen  durch 
eine  Satzform,  welche  nnswn  Grammatikern  und  Logikern 
seit  vielen  Jahrai  unnötige  Kopfschmerzen  gemacht  hat» 
Ich  meine  den  unpersönlichen  Satz,  z.  B.  es  donnert,  es 
blitzt,  es  stinkt.  Unsere  Sprache  ist  so  sehr  an  die  Kate* 
gorieen  von  Nomen  und  Verbum,  von  Subjekt  und  Prädikat 
gewöhnt,  dass  sie  den  einfachsten  Sinneseindruck  gar  nicht 
mehr  anders,  als  durch  einen  vollständigen  Satz  beschreiben 
kann.  Die  alten  Sprachen  (soweit  wir  von  ihnen  wissen) 
begnügten  sich  noch  mit  der  symbolischen  Yerbalendung^ 
die  auf  ein  unbekanntes  und  unausgesprochenes  Subjekt 


846 


III.  Dm  0rteiL 


hinwies;  die  neuern  Sprachen  sind  noch  schablonenhafter 
geworden  und  müssen  das  sogenannte  unpersönliche  Für- 
wort ,68"  anwenden.  Olet,  es  stinkt.  Wir  dürfen  wohl 
glauben,  diiss  in  Urzeiten  dieser  einlache  Sinneseindruck 
noch  ohne  Verbalendung  ausgedrückt  wurde ,  so  wie  auch 
heute  noch  eine  Interjektion  (z.  B.  pfui  Teufel)  oder  eine 
Geste  unter  Umständen  genügt.  Immer  ist  es  eane  schablonen- 
hvft«  Nachahmang  miime  Sateformen,  wenn  so  der  ein- 
faebsle  SiniieBdiiidnielc  dureli  Stibj^  und  angepasstes  Prft^ 
dikat  besehrieben,  breitgetieton  wird.  Dasa  aber  so  ein 
unpersönlicher  Sata  einen  einfachen  Sinneseindrudc  in  meh* 
reren  Worten  beBcbreibt»  ist  nur  deutlidier  ah  der  ftlmliche 
Charakter  anderer  Sfttae.  Audi  der  Sata  «der  Schnee  ist 
weiss*  will  die  Aufmerksamkeit  nur  auf  die  Empfindung 
„weiss*  lenken;  und  wenn  das  Ding,  das  diese  Empfindung 
erregt,  entweder  selbstrerstftndlich  oder  unbekannt  ist,  dann 
wird  der  Sprecher  wohl  auch  kun  sagen  »es  ist  wdss* 
oder  ,da  ist  etwas  Weisses*. 

Auch  hier  möchte  ich  herrorheben,  dass  die  mensch- 
liche Sprache  als  Umgangssprache  der  wissoisdiafllichen 
Erkenntnis  mitunter  um  Jahrhunderte  nachhinkt.  Wer 
a.  B.  in  einem  Pferdebahnwagen  den  Erreger  oder  die  Art 
eines  Missgeruchs  noch  nicht  erkannt  hat,  der  darf  wohl 
den  unpersönlichen  Satz  bilden  „es  stinkt"*;  hat  er  aber 
einen  alten  Käse  ab  Ui-sache  seiner  Empfindung  erkannt, 
so  wird  er  gewiss  entweder  das  erzählende  Urteil  bilden 
«Hier  stinkt  ein  alter  Käse"  oder  gar  sich  zu  dem 
wissenschafÜichen,  erklärenden  Urteil  erheben:  »alter  Käse 
stinkt". 

Auf  diesen  Typus  lassen  sich  alle  unpersönlichen  Sätze 

zurOckfliliren.  Es  sind  elektrisch  geladene  Wolken,  die 
blitzen  und  'lonneru;  aber  die  Uingungssj)ra(  he  hat  sich 
immer  noch  nicht  <laran  gewöhnt,  elektrische  Wolken  eben.so 
wie  alten  Käse  zum  Subjekt  eines  Verbnms  zu  machen.  Die 
Umgangssprache  steht  unter  dem  Krin jui^ationszwang;  aher 
auch  die  Urteile  der  wis.senschat'tlichen  Sprache  würden  ihr 
logisches  Zurückbleiben  hinter  den  Begriften  deutlicher  Ter- 


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Koiwlaiis  de«  Urteils. 


347 


raten,  stünden  wir  nicht  unter  dem  allgemeinen  g^rammati- 
schen  Zwang,  der  denn  auch  den  Satz  höher  stellt  als  das 
Wort. 

* 

Die  Schullogik  verlangt  von  ein*  lu  «.rosundeu  Urteil  oder  KaotUns 
Satze,  dass  es  oder  er  «gewiss,  unveränderlicii  sei,  dass  mein 
S( :ll>stbewusstsein  mich  versichere,  ich,  der  Herr  Ich,  werde 
nifiuiils  Hilders  urteilen.  Ueber  den  Hinweis  auf  die  Iden- 
tität meines  Ich  kommt  die  Logik  nicht  hinaus  und  Sigvirart 
setzt  die  Identität  des  Ich  sogar  »vor  alle  Notwendigkeit*, 
wobei  sich  sein  Ich  wahrscheinlich  etwas  denkt. 

Es  gibt  aber  weder  eine  absolute  Identität  der  Objekte, 
noch  eine  des  Ich's.  Ich  war  vielleicht  vor  zwanzig  Jahren 
leichtsinnig  uiid  bin  jetzt  geizig.  Ich  war  vielleicht  .  .  . 
Doch  wozu  das  Bekannte  wiederholen.  Vor  zwanzig  Jahren 
war  mir  der  Satz:  «Ich  spreche  hier  von  Beriin  mOndUch 
mit  memem  Bmder.in  Wien*  da  war  mir  dieser  Satz 
em  immdglichea  Urteil.  Jetzt  ist  er  alltttgliehe  Wahrheit. 
£z  braucht  sich  aber  nicht  um  so  krasse  Fftlle  zu  handehi. 
Unaufhörlich  wechseln  die  Objekte  Oire  Eigenschaften,  un- 
anfhörlidi  wechseln  meine  Begriffe  ihren  Umfang  und  damit 
leise  fliessend  ihren  Inhalt.  Während  ich  den  Satz  aus- 
spreche oder  denke  oder  hOre:  .Metell  ist  schwer*,  fällt 
mir  ein,  dass  unter  „Uetall*  heute  weit  mehr  Elemente  Ter* 
standen  werden,  ab  zu  meiner  Schulzeit,  daes  «schwer*  ein 
relativer  Begriff  ut  und  dass  einzelne  HetsUe  leichter  sind 
als  Wasser,  und  wie  mir  das  einfällt,  zum  erstenmale  viel- 
leicht ins  BewuBstaein  fällt,  wird  eben  durch  das  Denken 
und  im  Denken  dieses  Satzes  die  Ffllle  meines  Bewnsst- 
seins  vergrössert,  mein  Ich  verändert,  und  der  den  Satz  zu 
Ende  spricht,  ist  ein  anderer,  als  der  ihn  angefangen. 

Wer  die  unveränderliche  Giltigkeit  der  Urteile  für  unser 
Denken  strikte  verlangt«  der  kann  freilich  nicht  behaupten, 
dies  er  denke.  Denn  er  muss  ja  zugeben,  dass  alle  Ge- 
wissheit, und  gerade  die  Dauer  jedes  Satzes  am  sprachlichen 
Ausdruck  halte.   Unsere  Worte  aber  sind  in  ihrem  Sinne 


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848 


m.  Das  UrteiL 


so  wenip  konstant,  dass  wir  deutsche  Schriften  aus  dem 
15.  JalirLundert  ohne  Unterricht  kaum  mehr  verstehen 
können.  Bekannt  ist,  dass  viele  Worte  sich  in  „verwandten" 
Sprachen,  mitunter  auch  in  einer  und  derselben  Sprache  in 
ihren  Gegensinn  verkehrt  haben  (kalt  —  caldo),  was  etwas 
Andres  ist  als  der  »Gegensiiui  der  Urworte".  Selbst  ein 
emzeln^r  Meniek  bum  das  FlieMeii  der  Wortibedentungen 
bei  Lebzeiten  beobachten.  Da  ist  so  wenig  Konstanz  wie  in 
den  Objekten  selbst  and  wir  können  froh  sein,  wenn  wir  aU 
schlechte  BdiOtzen  so  ungefähr  die  Sache  treffen,  wenn  wir 
ä'peu-prte  irgendwo  tappend  mit  den  Fingerspitzen  auf  das 
Gesuchte  stossen*  Ein  konstantes  Wort  für  einen  konstanten 
Begriff  gibt  es  so  wenig  wie  eine  mathematiscfae  Idnie. 

Ueber  das  Urteil,  wie  vorher  Aber  den  Begriff  und 
nachher  aber  den  Schluss,  wftre  anstatt  einiger  Bemerkungen 
ein  ganzes  Buch  notwendig  gewesen,  wenn  ich  den  er- 
kenntnistheoretischen Standpunkt  der  Sprachkritik  bitte  rer- 
gessen  wollen.  Mir  muss  es  genfigen,  an  einzelnen  Eigen- 
heiten der  Begriffsfunktion  dargethan  zu  haben,  dass  das 
Urteil  aus  der  logischen  Disziplin  auszuscheiden  hat,  wie 
das  für  den  Be^:ritf  schon  von  Schuppe  (Logik  S.  123)  ge- 
sagt worden  ist.  Das  lebendige  Urteilen  ist  fremd  in  der 
toten  Logik.  Eine  sprachlich  und  logisch  brauchbare  De- 
finition des  Begriffs  „Urteil*  ist  so  wenig  zu  finden,  ab  das 
lebendige  Denken  sich  vom  Sprechen  abgrenzen  lässt.  Wo- 
möglich noch  unfruchtbarer  waren  und  mussten  sein  alle 
Versuche,  Reg^riff  und  Urteil  logisch  sauber  voneinander  zu 
scheiden.  Der  Begriff  ist  früher  da  als  das  Urteil,  wenig- 
stens in  dem  Sinne ,  wie  im  Schulunterricht  und  beim 
Schwätzen  das  Wort  früher  ist  als  der  Satz.  Aber  wie  bei 
der  Sprachentstehung  sicherlich  der  Satz  seiner  Analy  st  in 
Worten  vorausging,  so  kann  kein  Begriff  entstand«  n  sein, 
wenn  er  nicht  als  Niederschlag  von  Urteilen  eut^itand.  Ich 
möchte  das  jetzt  so  ausdrücken:  das  Urteil  besteht  sprach- 
lich aus  Begriffen,  der  Begriff  entsteht  psychologisch  aus 


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Sollen  im  Urteil. 


349 


ürieüen.  NatOrlich  wechseln  in  diesem  Satee  Begriff  und 
Urteil  je  nach  dem  allgemein  psychologiadien  und  nach  dem 
beaondera  spraehliehen  Gesichtspunkte  sofort  ihre  Bedeutimg. 
Und  die  ünsegbarkeit  des  Gedankeiis  steigert  sich  noch, 
wenn  wir  uns  darauf  besinnen,  dass  es  eine  psychologische 
Wissenschaft  anderswie  als  in  Sprache  nicht  gibt,  dass  eben 
»psychologisch*  kaum  etwas  Anderes  ausdrQclcen  konnte 
als  eine  Beziehung  zum  lebendigen  thatsSchlichen  Denken, 
SU  der  psychischen  Thfttigkeit  des  Denkens.  FreQich  hat 
ein  seltsamer  Reformator  der  Logik  beklagt,  dass  die  Schul- 
logik sich  «nur  mit  dem  ihatsSchlichen  Denken*  befesse; 
ich  meme  aber,  das  nicht  thatsachliche  Denken  gehöre 
weder  sur  materiellen  noch  sur  psychischen  Welt 

Die  Undefinierbarkeit  des  Urteilsbegriflb  hat  nicht  erst  soiiea 
in  den  letzten  Jahrzehnten  dazu  gef&hrt,  aua  dem  Urteil 
einen  besonderen  Akt  des  Beurteflens  herauszudestillieren. 
der  als  Bejahung  oder  Anerkennung  wieder  aus  der  L<^k 
herausfallt,  weil  Wahrheit  ein  unlogischer  Begriff  ist.  Schon 
Occam  liast  d^  gesprochenen  Urteile  ein  Mentalurteil  vor- 
ausgehe!! ,  welches  nullius  idiomatis  est.  Dann  findet  sich 
schon  bei  Spinoza  die  Behauptung,  dass  ein  Urteil  mit  jeder 
Wahrnehmung  Terbunden  sei,  was  Helvetius  zu  der  Phrase 
vergröbert:  Juger  est  sentir.  Und  Hume  sieht  in  der  Energie 
der  Wahrnehmung,  und  wohl  darum  im  Glauben,  the  first 
act  of  the  judgraent. 

Sowie  wir  ahnr  don  Zweck  aller  Log'ik,  die  Beziehunq^ 
zur  Wahrheit,  an  den  Urteilsbej^riff  heran  iu  ingen,  wird  das 
Urteil  nnrh  ]iroblematischer.  Lot^ik  wird  zu  einer  ethischen 
Wi?;55enschaft,  die  ein  Sollen  vorschreibt.  Ein  Sollen  ^'ibt 
es  aber  nicht  in  der  Wirklichkeltswelt,  sondern  nur  im  Ur- 
teilen oder  im  Sprechen.  Die  sprachlosen  Kreaturen  sollen 
nichts.  In  der  Welt  des  Besitzes  steht  dem  Haben  ein  Soll 
gegenüber.  In  der  interesselosen  Welt  des  Seins  steht  dem 
Sein  kein  Sollen  gegenüber.  Nur  weil  wir  etwas  wie  ein 
Sollen  in  unsere  Urteile  hineinlegen,  darum  ist  das  Gef'Uhl 
der  Erwartung,  die  Zuversicht  auf  die  Wahrheit,  so  oft  mit 
der  Thätigkeit  des  Urteilens  yerbunden.    Und  weil  somit 


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350 


IV.  IM«  Denkgeietee. 


das  Urteil  sich  immer  mehr  von  der  Logik  entfernt,  je  ge* 
nauer  man  es  betrachtet,  darum  bat  Schopenhauer  doppelt 
recht  mit  seinem  Worte:  sSchlieseen  ist  leicht,  urteilen 
schwer."  Schwer  ist  aber  nur  das  Urteilen  vor  dem  Be- 
^riü';  das  Urteilen  aus  dem  Begriff  ist  so  leicht  wie  4» 
Schliessen. 


IT.  IMe  DenkgesetM. 

Orond.  Eine  Mutter  wurde  von  einem  vierjährigen  Mädchen 
gefragt,  warum  sie  weine,  ,Tch  habe  Grund,"  antwortete 
sie  und  glaubte  wahrscheinlich  etwas  zu  sagen.  Also  glaubt*» 
auch  das  Kind  etwas  zu  hören  und  wusste  von  der  Zeit  an, 
, Grund"  sei  etwas  Sehnierzhaftes,  etwas  wie  eine  Krankheit. 
Und  noch  jahrelang,  wenn  die  Mutter  ein  betrübtes  Gesicht 
machte,  fragte  das  gute  Kind:  ,TTa^t  du  wieder  Grund?" 

Die  Abstrakta  unserer  Sprache  sehen  litM.in  kindlichen 
Grunde  zum  Verwechseln  ähnlich.  Ich  habe  Kiieurnatismus, 
ich  habe  Reue,  ich  habe  Leibweh,  ich  habe  Kummer,  ich 
habe  Glauben  und  alle  ähnlichen  Wendungen  enthalten 
irgendwo  versteckt  die  liebe  Dummheit:  „Ich  habe  Grund". 

Der  Glaube  der  Logiker,  der  ein  wenig  auch  der  Glaube 
aller  sprachfrohen  Menschen  ist,  dass  nämlich  den  Schluss- 
folgerungen der  Logik,  das  hcisst  den  aus  Begrüfen  oder 
Worten  abgeleiteten  Sätzen  notwendige  Wahrheit  eingeräumt 
werden  müsse,  dass  die  Folge  sich  zu  ihrem  Grunde  (raison) 
ebenso  Terhalte  wie  in  der  WirUkhkeitswelt  die  Wirkung 
zu  ihrer  Ursache  (cause),  dieser  Glaube  zwingt  mich  zu  dem 
Versuche,  diesen  dunklen  Punkt  aufzuhellen,  beiror  ich  zur 
Kritik  der  logischen  Schlussfolgerungen  fortschreite. 

Die  Frage  geht  auf  das  Verhältnis  zwischen  Folge 
(cons^quence)  und  Wirkung  (effet).  Da  diese  beiden  Be- 
griffe zu  den  mythologischen  gehdren,  so  wfire  es  fttr  ans 
vielleicht  möglich  und  sicherlich  bequem,  sie  beide  über 
Bord  zu  weifen«  Da  Ursache  und  Wirkung  aber  die  Grund- 
begriffe unserer  Welterkenntnis  ausmachen,  Grund  und  Folge 


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AUwissenheit. 


351 


wiederum  die  Orandbegriffe  aller  wissenschftftEelien  Syste- 
matik, so  werden  wir  die  Mtthe  nicht  scheuen,  die  an* 
n&henide  Bedeutang  dieser  Metaphern  aufzusuchen  und  ihr 
Yerhältnis  zu  einander  zu  bestimmen.  Denn  auch  Uoase 
Figuren,  unwirkliche  IKnge,  kOnnen  ein  Verhältnis  zu  ein- 
ander haben. 

Ich  glaube  meinen  Oedanken  am  besten  Tersinnlichen 
zu  kdnnen,  wenn  ich  in  einer  ungeheuerlichen  Phantasie 
(die  aber  als  Vorstellnng  von  Gott  ganz  alltiglich  und  ge- 
mdn  ist)  ein  Wesen  annehme,  das  mit  Allwissenheit  aus- 
gestattet das  6r<jsste  und  Kleinate  der  Wirklichkeit  genau 
kennt  und  diese  unendliche  Kenntnis  auch  gegenwärtig  hat 
Ich  lasse  dabei  dahingesteUt,  ob  man  diese  Allwissenheit 
noch  Wissen  nennen  kdnnte,  ob  diese  Allwissenheit  nicht 
yielnielir,  da  sie  neben  dem  unendlich  Tiden  »Einzelnen die 
Allgemeinbegriffe  gar  nicht  brauchen  kOnnte,  eher  die  «Wirk- 
lichkeit* selber  wäre.  FUr  dieses  allwissende  Wesen  nun 
wftre,  wie  mir  scheint,  zwischen  Wirkung  und  Zeitfolge 
ganz  und  gar  kein  Unterschied.  Wäre  ich  z.  B.  dieses  all- 
wissende Wesen,  so  würde  fUr  mich  Wirkung  und  Zeit- 
folge in  dem  einen  Begriff  der  Notwendigkeit  zusammen- 
fliessen.  Hätte  ich  z.  B.  in  diesem  Augenblicke  alle  Luft-  und 
Windverhältnisse  der  ganzen  Erde,  dazu  alle  Wärme-  und 
Feuchtigkeitsverhiiltnisse  und  alle  Höhenunterschiede,  so  hätte 
ich  auch  alle  meteorologischen  Erscheinungen  des  nächsten 
Augenblicks  als  Notwendigkeit  gegenwärtig  und  wüsste  uicht 
zu  sagen,  ob  der  zweite  Augenblick  aus  dem  ersten  als 
Zeitfolge  oder  als  Wirkung  hervorgehe.  Hätte  ich  in  diesem 
Augenblick  das  Weltganze  vollkommen  gegenwärtig,  das 
heisst  noch  vielmehr  ins  Einzelne  gegenwärtig  als  der  Natur- 
forscher etwa  ein  tierisches  Gewebe  unter  der  tausendfachen 
Vergrösserung  seines  Mikroskopes  sieht,  dürfte  ich  in  diesem 
Augenblicke  das  Weltganze  noch  unendlich  genauer  Über- 
schauen, das  .Jagen  und  Wirbeln  der  Sonne,  der  Planeten 
und  der  Meteorsteine,  das  Glühen  und  Brodeln  im  Innern 
der  Erde,  das  Schrumpfen  und  Stossen  der  Erdrinde,  das 
Haschen  und  Fliehen  ihrer  chemischen  Elemente,  das  Drangen 


352 


IT.  Die  DMtkgeictse. 


und  Wetehen  ihrer  Atome,  das  Peitschen  und  Blitzen  und 
Donnern  ihrer  elektrischen  Bewegungen,  das  Werden  und 
Sterben  des  Lebendigen  und  dazu  die  ererbten  und  gewohn- 
ten Gleise  aller  Gehirne:  wahrhaftig,  mir  wäre  der  Welt- 
zustand des  nächsten  Augenblicks  nicht  weniger  gewiss  und 
nicht  anders  gewiss,  als  mir  die  nächste  Sekunde  in  der 
Zeitfolge  gewiss  ist. 

Aus  solchen  Phantasien  heraus  mögen  so  grosse  Denker 
irie  Hume  und  Kant  zu  ihren  grossen  Irrtümern  gekommen 
sein;  Hume  glaubte  alle  Wirkung  auf  Zeitfolge  zurUckftlhren 
zu  können,  Kant  doch  wohl  alle  Zeitfolge  auf  Wirkung;  uns 
bestärkt  die  vorgebrachte  Phantasie  in  der  Resignation,  weder 
das  Wesen  der  Wirkung,  noch  das  der  Zeitfolge  zu  kennen 
und  nur  zu  ahnen .  dass  sie  zwei  menschliche  Worte  für 
dieselbe  übemienfü  Iii irln-  Thatsache  sind.  Vielleicht  ist  der 
Weltzustand  de-,  Augenblicks  der  Raum,  und  die  Aenderung, 
die  der  Weltzustand  des  nächsten  Augenblicks  keisst.  nur 
die  Bewegung  des  Raums  in  der  vierten  Dimension,  der 
Zeit.  Und  vielleicht  ist  diese  tiefsinnige  Betraclitung  nur 
eine  Reihe  klingender  Worte,  und  es  wäre  wertvoller,  ein 
Weizeukorn  zu  düngen,  als  solche  Betrachtungen  anzusteUen. 

Eines  aber  kiMii  die  Skepsis  nicht  überschreien,  die 
Entdeckung  nuiulicl],  dass  in  dieser  undurchbrechlichen  Kette 
der  Notwendigkeit,  mag  sie  nun  Wirkung  oder  Zeitfolge 
heissen,  weder  die  menschliche  Sprache,  noch  die  Erschei- 
nung einer  logischen  Folge  irgend  welchen  Platz  habe. 
Bfan  musB  es  sich  so  Idar  wie  möglich  madien,  dass  jene 
phantastische  Allwissenheit  aOe  Dinge  zugleich  wflsste,  also 
unmöglich  daneben  noch  Begriffe  oder  Worte  Ton  ihnen 
habMi  könnte,  dass  jene  Allwissenheit  ebenso  alle  Aende- 
rungen  und  Bewegungen  zugleich  wQsste,  also  unmöglich 
daneben  noch  ihre  hübschoi  Klassifikationen  besitzen  könnte, 
die  sogenannten  Naturgesetze.  Die  Allwissenheit  hätte  also 
weder  Sprache  noch  Wissenschaft;  natOrlich,  sie  wäre  ja 
die  stille  Natur  selbst.  Die  Allwissenheit  besisse  Not- 
wendigkeit; Oeeetzmäss^keit  wflsste  sie  nicht,  weil  Ge- 
setzmässigkeit im  All  nicht  ist. 


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Satz  vom  lirunde. 


353 


Wenn  nun  ein  allwissende  Wesen  nrisclien  den  Polen 
der  Welt  keine  andere  Notwendigkeit  finde,  als  die  der 
Wirkung  «oder  der  Zeitfolge,  so  mttssen  wir  uns  verlegen 
weiter  fragen,  was  es  mit  der  logischen  Scblnssfolge  auf 
sieh  habe,  der  die  Leute  ebenfalls  den  Charakter  der  Not- 
wendigkeit beilegen. 

Man  nennt  dep  Begriff  der  Notwendigkeit  gern  noch  sats 
heute  seholastbch  den  Satz  yom  Grunde  oder  nodi  schul-  ^^^^ 
meisterlicher:  den  Sata  vom  aureichenden  Gründe.  Ueber 
die  Formulierung  dieses  Satxes  ist  man  nicht  einig  ge» 
worden,  obwohl  Aber  seinen  Sinn  (soweit  er  das  Veihiltnis 
von  Ursache  und  Wirkung  betrifit)  kaum  ein  ernstlicher 
Zweifel  besteht.  In  seiner  weitesten  Faming  („Nichts  ist 
ohne  einen  Grund,  warum  es  sei*)  erinnert  midi  der  Satz 
vom  zureichenden  Grunde  lebhaft  fin  die  unfreiwillige  Komik 
Ton  Kants  oberstem  Moralprimüp.  Wie  da  die  feierliche 
Tautologie  ^Erwähle  dir  aum  obersten  Grundsatz,  was 
oberster  Grundsatz  zu  sein  verdient*  —  in  verblüffende 
Form  gebracht  ist,  so  antwortet  der  Satz  vom  zureichenden 
Grunde  auf  die  Frage:  „Wurum  fragen  wir  immer  warum?* 
mit  der  billigen  Weisheit:  „Weil  wir  immer  warum  fragen 
müssen".  Hier  wie  dort  ist  die  Notwendigkeit  in  rinpm 
„Sollon"  versteckt.  Beachten  wir  freilich,  dass  der  alige- 
memste  Ausdruck  filr  wirkliches  Geschehen  etwa  der  Begriff 
, Veränderung''  ist,  so  wird  der  Satz  «Keine  Veränderung 
geschiebt  ohne  Grund"  auf  die  Selbstverständlichkeit  hin- 
auslaufen, als  die  wir  das  sogenannte  Gesetz  der  Träg- 
heit erkennen  müssen.  Und  verlangen  wir  gar  für  jede 
Aenderung  einen  gleichwertigen,  einen  zureichenden  Grund, 
so  stehen  wir  vor  einer  neuen  Fassung  derjenigen  Formu- 
lierung der  Tiagheit,  die  seit  50  Jahren  die  Erhaltun^'^  der 
Energie  genannt  wird.  Der  Satz  vom  zureichenden  Grunde 
des  Geschehens  ist  also  die  sprachliche  Auseiuanderbreitung 
des  Begri£b  Ursache. 

Dabei  ist  es  durchaus  nicht  gleichgiltig,  dass  wir 
uns  diasoD  Begriff  vwatellen  und  die  Selbstverslftndliohkeit 
auch  aussprechen.   Er  ist  Ja  eigentlich  eine  Negation  des 

lI«Btbii«r.  Bflltcigex«  dmer  IbitUidw  SprMlia.  UI.  88 


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854 


IV.  Die  DenkgeieUe. 


alten  Damdnen-  und  CHItter^  und  Wunderglaubeiis;  so  koge 
die  Henachen  penönliGhe  tTnaehen  hinter  aUem  Gesehehen 
Buchten,  so  lange  konnte  der  Natnrlanf  —  weil  willktlr- 
Uchen  Einflössen  ausgesetst  —  nicht  notwendig,  nicht  be- 
rechenbar sein.  Der  Satz  Tom  inreidienden  Grunde  des 
Geschehens  lehrt  also,  im  Gegensatse  zu  allem  Fetischismus, 
dass  es  in  der  Natur  natOrEch  zugehe. 

Man  hat  sich  aber  seit  jeher  nicht  damit  begnflgen 
wollen,  den  Satz  Tom  zureichenden  Grunde  auf  das  Ge- 
schehen sllsin,  auf  Ursache  und  Wirkung  allein  anzuwenden. 
Sdu>n  im  IGttelalter  unterschied  man  allerlei  Arten  TOn 
ürsachen  oder  Gründen ;  und  nicht  einmal  die  sinnwidrigste 
dieser  Arten,  die  Zweckursachen  (causes  finales)  sind  ganz 
aus  dem  Sprachgebrauch  der  Philosophen  Terschwunden. 
Anderseits  ist  es  noch  nicht  gar  so  lange  her,  dass  zwei 
60  ungleiche  Begriffe  wie  Ursache  (Is  cause  d'un  effet)  und 
Grund  oder  Erkenntnisgrund  (1&  raison  d'un  jugement)  nicht 
mehr  miteinander  verwechselt  werden.  Diese  Verwechselung 
von  Wirkungsursache  (z.  B.  das  Quecksilber  steigt,  weil 
die  Luft  warm  ist)  und  dem  sogenannten  Erkenninisgrunde 
(z.  B.  ich  weiss  die  Luft  warm,  weil  das  Quecksilber  steigt) 
würde  heute  kfitiem  Schuljungen  mehr  vei-ziehen  werden; 
a^>er  nicht  nur  Ari'^toteles  warf  die  beiden  Begriffe  durch- 
einander, sondern  auch  noch  bei  Spinoza  ist  der  Sprach- 
gebrauch und  das  Denken  nicht  klar,  und  erst  Leibniz  er- 
findet das  Wort  raison  süffisante  für  Thatsachen  sowohl  als 
fUr  Urteile.  Wir  wt  rdun  holientlich  bald  erfahren,  warum 
die  guten  Köpfe  von  Aristoteles  bis  Spinoza  die  reale  Ur- 
sache mit  dem  Erkenntnisgnmd  verwechseln  konnten.  Vor- 
her müssen  wir  uns  kurz  umsehen,  ob  die  immer  noch 
beliebte  Einteilung  der  Gründe  (oder  der  ürsachen)  in  ver- 
schiedene Arten  einen  rechten  Sinn  gebe;  es  ist  uns  dabei 
gleich  bedenklich,  da.ss  die  Sprache  (wie  häutig  in  solchen 
Fällen)  die  verschiedenen  Begriffe,  weil  sie  sie  nicht  deut- 
lich auseinander  zu  halten  vermag,  miteinander  verbindet, 
als  ob  sie  einander  eri^Lnzten.  Spinoza  sogar  sagt  cauM 
siTe  ratio,  und  m  den  neueren  Sprachen  ist  die  Zusammen* 


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Sohopenlutver. 


855 


Stellung  cause  et  raison,  Grund  und  Ursache,  häufij?  ge- 
worden ,  als  ol)   diese  Begriffe  sirh  miteinander  vertrügen. 

Die  Pjiiiteiluii^^  df>  zurfitlieiuleii  Grundes  in  seine  ver-  8cbop«a- 
meiütiichen  Arten  ist  von  keinem  Denker  gründlicher  besoi^  taM«. 
worden  als  von  Schopenhauer  in  seiner  Doktordissertation 
,Ueber  die  vierfache  Wurzel  des  Safetes  vom  zureichenden 
Grunde*.  Der  Spott  seiner  Mutter,  das  Buch  sei  seinem 
Titel  nach  wohl  fUr  A[iotheker  bestimmt,  war  gewiss  albern, 
aber  doch  nicht  ganz  unverdient.  Denn  die  vier  Wurzeln 
sind  doch  nur  ein  bildlicher  Ausdruck  für  eine  vierfache 
Grundlage  oder  einen  vierfachen  Grund  des  Satzes  vom 
Gniiuie,  wo  es  denn  freilick  sonnenklar  geworden  wäre, 
dan  SebopeduHMT  selbst  in  diessr  grundlegendou  Sebrift 
mit  dem  Begriffe  Grand  zn  spielen  mobt  nufbOit. 

Lasse  ieb  alle  Mystik  beseite,  so  lebrt  Schopenhauer 
in  seiner  Abbandlung,  dass  der  Sats  vom  Grande  oder  der 
Begriff  der  Notwendigkeit  sieb  auf  vier  Klassen  Ton  Ob- 
jekten bedeben  kOnne:  auf  die  wirklieben  Dinge  als  Sats 
▼om  Grunde  des  OeschebenSi  anf  nnsere  Urtefle  als  Erkenni- 
nisgrund,  auf  matbematiscbe  Verl^tnisse  als  Seinsgrund 
und  auf  menscUicbes  WoUen  oder  Handelu  als  Grund  des 
Handelns. 

Es  ist  unbegreiflicb,  wie  gerade  Schopenbauer  selbst 
niebt  batte  einseben  mUssen,  dass  seine  vierte  Klasse  von 
Objekten  der  Notwendigkeit  nur  eine  Unterart  der  realen 
Notwendigkeit  ist,  also  Obeiflflssig  und  sogar  ein  arger  legi* 
scher  Fehler,  weil  da  Gattung  und  Unterart  durch  zwei  ver- 
meintlich koordinierte  BegrifTe  bezeichnet  werden.  Niemand 
bat  kühner  und  schärfer  als  Schopenhauer  den  Gedanken 
ausgeführt,  dass  Motive  auf  Tiere  und  Menseben  genau  mit 
der  gleichen  Notwendigkeit  wirken,  wie  Reize  auf  Pflanzen 
und  mechanische  Ursachen  auf  wirkliche  Dinge.  Und  es 
ist  gerade  vom  Standpunkte  Schopenhauers  volle  Konfusion, 
wenn  er  einerseits  Ursache  und  Wirkung  in  der  Natur 
durch  den  innerlich  beobachteten  Willen  zu  erklären  sucht, 
wenn  er  jede  T^rsachf  den  Willon  der  Wirkung  nennt,  und 
wenn  er  dann  anderseits  den  innerlich  beobachteten  Willen 


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S56 


IV.  Die  DenkgeseUe. 


als  eine  besondere  Art  von  iJleii  andern  ürsaohen  trennt, 
wenn  er  die  Notwendigkeit  des  mmscUielien  Handdlns 
nicht  auf  die  aUgemdne  Kotwendigkeit  surOckfllhren  wilL 
Wir  mOssen  einaeben,  daes  Schopenhauers  «WiUe*  nur 
durch  einen  argen  Missbrauch  der  Sprache  za  solchem 
Doppelspiel  benutaet  werden  konnte.  Hier  kam  es  mir  nur 
auf  den  kursoi  Nachweis  an,  dass  seine  vierte  WutmI  des 
Satses  Tom  zureichenden  Grunde,  das  Gesetz  der  MotiTation, 
zum  mindesten  keine  Beachtung  yerdient. 

Weniger  scharf  nachweisbar,  aber  ebenso  schwer  yer- 
zeihHch  ist  der  Mtssbrauch  der  Sprache,  mit  dem  Schopen- 
hauer ab  dritte  Art  des  Satzes  vom  zureichenden  Grunde 
den  Seinsgrund  aufgestellt  hat,  worunter  er  mit  einem  Wort 
die  mathematischen  Geset.ze  yersteht.  Ich  mache  einen 
Augenblick  Halt,  um  nebenbei  auf  die  Greulichkeit  des 
Wortes  »Seinsgrund*  aufmerksam  zu  machen.  Man  folge 
mir  in  den  Nebel,  aus  dem  dieses  Ungeheuer  heraustönt. 
„Grund"  ist  doch  nur  ein  verdunkeltes,  verschwommenes 
Wort  für  Ursache,  worunter  wieder  eine  ewig  fUr  Menschen 
unverständliche  Voraussetzung  unerklärlichen  Geschehens 
ungefähr  verstanden  wird.  Zu  diesem  Worte  «Grund*"  tritt 
nun  der  Begriff  des  Seins  hinzu ,  den  wir  schon  als  das 
Bild  vom  Schatten  eines  Esel-^ .  flen  wir  als  eine  Null 
kennen.  Aber  auch  unter  einer  besseren  Etiquette  als 
, Seinsgrund*  wäre  es  ein  Missbrauch  der  Sprache,  die 
Verhältnisse  der  Zeit  und  des  Raums,  wie  wir  sie  als 
arithmetische  und  geometrische  Gesetze  formulieren,  analog 
neben  die  Verhältnisse  von  Ursache  und  Wirkung  zu 
stellen.  So  wie  Geometrie  z.  B.  in  der  Schule  gelehrt 
wird,  ist  freilich  immer  eins  wenigstens  der  Erkenntnis- 
grund vom  andern,  folgt  z.  B.  im  gleichschenkligen  Drei- 
eck die  Gleichheit  der  Seiten  aus  der  Gleichheit  der  Winkel 
oder  umgekehrt;  folgt  z.  B.  im  Krdse  die  Linge 
der  Peripherie  und  auch  der  Flichemnhalt  aus  dem  Halb- 
messer oder  umgekehrt  Nun  hat  aber  gerade  Schopen- 
hauer nachgewiesen,  dass  die  Schulbeweise  nicht  das 
Wesen  dieser  Baum-  und  Zahlenyerhiltnisse .  ausmachen. 


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Sdiopeiihaiier. 


967 


dass  also  die  Gesetee  der  Mathematik  nicht  unter  die 
logische  Notwendigkeit  fiillen.  So  weit  hat  er  recht  und 
eine  geniale  Anregung  gegeben.  Es  war  aber  grundfalsch, 
für  die  mathenianschen  Geseke  eine  besondere  Art  der  Not- 
wendigkeit zu  erfinden.  Man  höre  nur  mit  aufmerksamen 
Ohren  auf  die  Worte  und  man  wird  sofort  erkennen ,  dass 
die  Beziehungen  z.  B.  zwischen  Winkeln  und  Seiten  der 
Dreiecke,  zwischen  Kreisen  und  ihrem  Radius  in  aller  Welt 
nichts  mit  den  Begriffen  von  Ursache  und  Wirkung  zu  thun 
haben.  Nur  ungewöhnliche  Stiim|iflieH  könnte  den  Halb- 
messer für  die  Uraaehe  des  Kreises  Halten;  und  die  Winkel 
sind  ebensowenig  UrsackeD  oder  Gründe  der  Seiten  wie 
umgekehrt.  Sdion  dies,  dus  die  BegriiFe  mathematiBeher 
Sitte  sehr  hSufig  (in  guter  Formulierang  vielleicht  immer) 
in  einer  Weehsdbenehung  stehen,  fafttte  ceigen  mflssoi,  dass 
diese  VerhXltnisse  nichts  mit  Orand  und  Folge  su  thun 
haben,  denn  sonst  mtlsste  nachher  die  Folge  zum  Grunde 
ihres  Grundes,  die  Wirkung  zur  Ursache  ihrer  Ursache 
werden,  was  doch  offenbarer  Unsinn  ist.  Wir  aber  wissen, 
dass  die  Yerhftltntsse  von  Baum  und  Zeit  nur  angeschaut 
oder  beschrieben  werden  kOnnen;  als  notwendig  kann  sie 
die  menschliche  Sprache  nicht  fossen,  kaum  als  Bedingungen 
der  WiiUichkeit;  es  geht  also  nicht  an,  für  sie  eine  neue 
Art  der  Notwendigkeit  zu  erfinden. 

Nach  Ausscheidung  Ii«  er  beiden  Klassen  blsil^  also 
auch  in  dem  tiefsinnigen  Werke  Schopenhauers  nur  noch 
eine  Zweizahl  von  Notwendigkeiten  Qbrig:  Erstens  die  Not- 
wendigkeit des  Geschehens  oder  die  notwendige  Wirkung 
aus  einer  Ursache,  zweitens  die  Notwendigkeit  des  Denkens 
oder  die  notwendige  Folgerung  aus  einem  Erkenntnis- 
grunde. Gibt  es  diese  zweite  Notwendigkeit  wirklich,  ist 
die  Folgerung  etwas  Neues,  das  aus  dem  Grunde  zwingend 
hervorgeht,  wie  die  Wirkung  aus  ihrer  Ursache,  entstehen 
aus  Gedanken  in  ähnlicher  Weise  neue  Gedanken,  so  wie 
in  der  Wirklichkeitswelt  aus  mechanischen  Beweijun^^en 
neue  Gestalten,  insbesondere  aus  roifen  Pflanzen  und  l'ieren 
neue  Fflansea  und  Tiere  entstehen;  —  dann  habe  ich  un- 


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358 


IV.  Die  Denkgesets«. 


recht,  dann  gibt  es  auch  Deiikgesetze,  dann  ist  die  Logik 
eine  Wissenschaft ,  ja  dann  wäre  die  Sprache  wirklich  nur 
die  Dienerin  eines  sieghaften  Geistes,  eines  selbständigen 
fortschreitenden  Denkern.  Ich  kIHmto  swar  auch  dann  noch 
memoi  Gzundgeduik«!  in  die  dunkl«  Tiife  rettoa  und  sagen: 
Auch  die  Kausalittt  der  Wirldichkeitswelt,  euch  die  not* 
wendigen  Wirknogeii  aus  Ursachen  erzeugen  vieUeicht  nie- 
nials  Neues,  denn  sie  erzeugen  niemals  Stoif  oder  Energie, 
sondern  immer  nur  neue  Formen  des  Stoffs  oder  der  Energie. 
Aber  idi  glaube  diese  Flucht  ins  UnaosspreeUiche  nicht 
nötig  zu  haben,  um  beweisen  zu  können,  dass  der  Begriff 
der  Notwendigkeit  auf  den  Erkenntni^Kmnd  nur  f&lschlich 
angewandt  wird,  dass  das  Verhiltnis  Ton  Folge  und  Grund 
mit  dem  YerlüUtnis  tou  Wirkung  und  Ursache  gar  keine 
Aehnlichkeit  hat,  die  beiden  Yerhftltnisse  also  nur  sprach» 
widrig,  das  heisst  unlogisch,  unter  einen  gemeinsamen  Be- 
griff, unter  den  Sats  vom  Grunde  susammei^pefasst  werden 
können. 

In  der  Wirklichkeitswelt  herrscht  mit  lachender  Grau- 
samkeit die  Kausalität  oder  Notwendigkeit;  wir  wollen 
damit  ausdrücken,  dass  eine  endlose  Kette  von  der  gegen- 
wirtigen  Wirklichkeit  zurUckgdit  zu  der  Welt  des  Ter- 
gangenen  Augenblicks,  dann  zum  zweitletzten  und  so  zurUck 
in  eine  unausdenkbare  Ewigkeit,  dass  (anders  ausgedrückt) 
die  Gegenwart  die  Wirkun^f  von  Ursachen  ist,  diese  wieder 
verursacht  sind,  und  so  endlos  zurück,  dass  (noch  anders 
ausgedrückt)  wir  bei  jeder  Erscheinung  oder  Bewesfung 
oder  Veränderung  in  der  Natur  Warum  fragen,  dann  wieder 
nach  dem  Warum  des  Warum,  und  dass  wir  ein  Ende  dieser 
Frage  nicht  ausdenken  köunen.  Wenn  wir  also  Grund  und 
Ursache  gleichbedeutend  nehmen,  so  hat  allerdings  alles 
auf  der  Welt  einen  Grund. 
KfW  Sprechen  wir  aber  von  dem  Grunde  unserer  Erkennt- 

'**"ru^i'*  Erkenntnisgründen,  so  ist  der  Vorgang  ein  ganz 

ist  der  anderer.  Nur  Uildlich  oder  ügüriick  Ii  ugtu  wir  dann  nach 
Begriff  einem  Warum ,  denn  dann  handelt  es  sich  uns  einzig  uiid 

Oll  IT  f'.n-.  _  _ 

Wuri,.    allein  darum ,  ub  unser  Denken  oder  unsere  Sprache  noch 


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Erkenntningrand  ist  dar  Begriff  oder  daa  Wort.  359 


mit  der  Erscheinungswelt  Übereinstimmt  oder  nicht.  Unsere 
Sizmeseindrllcke  sind  es,  die  die  Uebereinstinimung  mit  den 
Dingen  selbst  geben ;  und  wir  aeimeii  imswe  yonlidliuige& 
lichtig,  so  lange  unsere  Sinne  gesund  sind.  Das  GedSchtnis 
unserer  Sinneseindrflcke  ist  die  Sammlung  unserer  Begriffe; 
and  wir  nennen  unsere  Begriff»  in  bildlicher  Sprache  richtig, 
wenn  unser  Qediohlnis  treu  war  und  so  gesund,  dsas  es 
immer  nur  wirklich  ähnliche  YorsteUungen  begrifflich  xu- 
sammenÜMste.  Unsere  Erkenntnis  nun  aber  besteht  aus  Ur- 
teilen, SU  denen  wir  unsre  Begriffe  auseinanderlegen;  und 
wenn  wir  an  unsere  Urteile  den  Anspruch  erheben,  dass 
sie  wahr  seien,  das  heisst  mit  der  Wirklichkeitswelt  ttb^ 
einstimmen,  so  ist  ee  ein  recht  unglückliches  Bild  der  Sprache 
(wenn  sie  audi  dieses  Bild  seit  zweitausend  Jahren  ahnungs* 
los  gebraucht),  diesen  Anspruch  oder  Wunsch  eine  Not- 
wendigk^t  zu  nennen.  Es  ist  doch  sonnenklar,  dass  die 
Richtigkeit  der  Begriffe  nidits  mit  der  Notwendigkeit  su 
thun  hfttte,  selbst  wenn  diese  Richtigkeit  mehr  als  eine  un- 
gefähre wäre.  Die  Zeichnung  eines  Gegenstandes  Imnn 
richtig  sein ;  eine  notwendige  Beziehung  swtschen  Gegen- 
stand und  Zeichnung  besteht  nicht. 

Der  Sprachgebrauch  ist  nun  ängstlich  genug,  den  Be- 
griff der  Richtigkeit  lieber  auf  Begriffe  anzuwenden  als 
auf  Urteile;  Urteile,  welche  mit  der  Wirklichkeit  ungefähr 
tibereinstimmen ,  nennen  wir  rjern  wahre  Urteile,  wohl 
deshalb,  weil  wir  wohl  die  Begriße,  aber  nicht  die  Urteile, 
wohl  die  erläuternden  Zeichnuntren,  nicht  aber  das  wissen- 
schaftliche System  mit  den  Dingen  selbst  vergleichen  können. 
Unter  Richtigkeit  versteheu  wir  die  unmittelbare,  unter 
Wahikeit  die  mitt4?lbare,  also  dunklere  I  t  i)ereinstimmung 
mit  der  Erscheinungswelt,  die  wir  die  Wirijlichkeit  nennen. 

Der  uralte  Irrtum  der  Sprache  oder  des  Denkens  be- 
steht nun  darin,  der  mittelbaren  Wahrheit,  der  Ableitung  von 
Urteilen  aus  Begriffen  oder  anderen  Urteilen  deshalb  den 
Charakter  der  Notwendigkeit  beizulegen,  weil  un>  an  der 
üehereinstimiiiung  mit  der  Wirklichkeit  allein  gelegen  ist, 
weil  wir  die  Notwendigkeit  der  Natur  nicht  aus  dem  Auge 


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360 


IV.  Die  Deiütgesetse. 


lassen.  Die  Folge  der  Jahreszeiten  ist  notwendig,  unsere 
Erkenntnis  dieser  Folge  ist  uns  nur  nOtzUch. 

Httte  das  Abldtem  eioes  Urteils  aus  emem  andern  je- 
mals zu  einer  neuen  Erkenntnis  gefukrt,  so  wSre  an  ein 
Verklltnis  von  Ursache  und  Wirkung  zu  denken;  wir  aber 
wissen,  dass  alles  Urteilen  nnd  ScUiessen  nur  ein  besonnenet 
Btteksduitt  von  den  BegrüFen  auf  ihre  SinneseindrQcke  ist, 
dass  alles  Urteilen  und  Schliessen  nur  ein  beschaulidies 
Sjuelen  und  Tautologieren  ist,  dass  man  Urteile  aus  andern 
Urteilen  nicht  im  Ernste  »ableitet*,  wir  gelangen  also  zu 
dei'  sichern  Ueberzeugui^,  dass  das  abgeleitete  Urteil  zu 
seinem  Begriff  oder  seinen  Prämissen  eher  noch  im  Yer^ 
haitnis  der  Ursache  als  in  dem  der  Wirkung  steht,  dass 
man  das  abgeleitete  Urteil  nicht  einmal  eine  zeitliche  Folge, 
geschweige  denn  eine  Fo^fenwirkung  des  Begriff  oder  der 
Prämissen  nennen  kann.  Und  so  ftigen  wir  hinzu,  dass 
der  Satz  oder  der  Begriff,  aus  dem  andere  SStze  abgeleitet 
werden,  nur  nUschlich  der  Ursache  ivhnlich  gefunden,  nur 
f&lschlich  ein  Qrund,  der  Qnind  einer  Erkenntnis,  genannt 
werden  kann.  Wir  leugnen  damit  jede  Möglichkeit,  durch 
Schlussfolgerungen  im  Denken  fortzuschreiten,  wir  sprechen 
der  Logik  damit  jeglichen  Wert  ah. 
Walvhait.  Wahrheit  unserer  Erkenntnis  ist  die  Uebereinstiro- 

mung  unserer  Urteile  mit  der  Wirklichkeitswelt;  da  unsere 
Urteile  rückschreitend  bis  auf  unsere  Sinneseindrücke  zurück- 
führen, so  ist  die  Wahrheit  unserer  Erkenntnis  schliesslich 
auch  die  Uebereiustimraung  unserer  Vorstellungen  und  Sinnes- 
eindrücke mit  der  „Wirklichkeit".  Nun  kennen  wir  aber 
nichts  weiter  Ober  die  Sinneseindrücke  hinaus;  über  sie 
hinaus  wird  die  Wirklirhkeit  zum  Bintr-an-sich ,  tlem  Un- 
erkennbaren, mit  dem  wii  nichts  vergleithcn.  nichts  in 
Uebereinstimmung  set/i  ii  können.  Dies  führt  uns  wieder 
zu  einer  traurigen  Ei  [sieht,  zu  der  Rechtfertigung  aller 
Skepsis,  zu  der  , Wahrheit"  nämlich:  dass  selbst  der  hohe 
Bcgriflf  der  Wahrheit  menschliches  Gerede  ist,  dass  sogar 
der  schlichte  Ausdruck  ,mein  Sinneseindruck  ist  richtig" 
auf  die  bettelarme  Tautologie  kmau^läuft:  gMein  Sinnes- 


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Wahrheife. 


861 


eindruck  ist  mein  Sinneseindruck".  Aus  dieser  verzweifelten 
Verlegenheit  h»^rmis  bat  wohl  Hegel,  dessen  eiserne  Stirn 
niemals  das  Geständnis  des  Nichtwissens  duldete,  die  Wahr- 
heit tiefsinnig-sinnlos  als  ^Uebereinstimmung  mit  sich  selbst' 
erklärt.  Er  sagt  (VI,  51):  ,  Gewöhnlich  nennen  wir  Wahr- 
heit Uebereinstiramung  eines  Qegenstendes  mit  unserer  Vor- 
stellung ...  im  j)hiloso{)hischen  Sinn  dagegen  heisst  Wahr- 
heit überhaupt,  abstrakt  ausgedrückt,  Uebereinstimmung 
eines  Inhalts  mit  sich  selbst*  Wie  so  häufig  bei  Hegel 
ist  aus  solchen  Worten  nur  der  Galgenhumor  des  Denkens 
Uber  seine  eigene  Armut  heramBtihflren. 

Wir  werden  sofort  nadb  diesem  allgememen  Satee  im  xr. 
einseinen  erfahren,  dass  Sehlussfolgerungen  nur  sprach- 
liehe  AbSndemngen  anderer  ürtefle  sind,  wie  wir  ja  schon  ein 
wissen,  dass  Urteile  die  Begriffe  nnr  umgeben,  wie  der  '^^^ 
Ranch  das  Feuer  timgibt.  Das  Allgemeine  aber  wird  viel- 
leicht schlagend  deutlich  werden  durch  das  alltSglichste 
Beispiel.  Ich  habe  es  als  das  nSchste  schon  benfltst.  Wir 
nennen  die  Sonnenwftrme  die  Ursache  dayon,  dass  das 
Quecksilber  im  Thermometer  steigt;  wir  nennen  es  unsem 
Erkenntnisgrond  für  unser  Urteil  über  den  Orad  der  Sonnen* 
Wirme,  wenn  das  Quecksilber  im  Thermometer  ste^^t.  Ln 
ersten  Falle  ist  dasselbe  Steigen  des  Quecksilbers  die  Wir- 
kung oder  Folge  der  WSrme,  im  zweiten  Falle  nennt  man 
es  ihren  Erkenntnisgmnd.  Nun  achte  man  wohl  auf  das 
Folgende.  Die  Sonnenwärme  wirkt  auf  das  Quecksilber 
genau  so,  wie  sie  auf  meinen  Körper  wirkt,  genau  so  ur- 
sächlich, wenn  auch  die  Sinne  verschieden  sind;  die  Summa 
der  körperlichen  Veränderungen,  welche  die  Sonnenwärme  in 
meinem  Leibe  hervorbringt,  nenne  ich  mein  Wäimegeftthl, 
und  es  ist  für  die  Erkenntnis  der  Wirklichkeit  gleich,  ob- 
ich  die  Ausdehnung  der  Quecksilbersäule  an  der  Thermo- 
nieterskala  mit  dem  Gesichts'^inn  genauer  messbar,  oder  ob 
ich  die  Gesamtwirkung  der  Warme  auf  meinen  Leib  durch 
das  sogenannte  Gemein t»'en\hl  etwas  undeutlicher  wahrnehme. 
Beide  Mal  haben  meine  Nerven  eine  Wirkung  verspürt. 
Die  Wirkung  der  Sonnenwärme  auf  meinen  Leib  ist  mein. 


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362 


IV.  Die  Denkgeietze, 


Wärmegefükl ;  die  Souuenwärme  ist  in  Wirklichkeit  die 
Ursache  meines  Wärmegeftlhls ,  meines  Warmseins.  Diese 
Vorstellung  drücke  ich  nun  durch  das  sprachliche  Urteil 
«OS  «nur  ist  warm*;  es  ist  ganz  glnehgOliig,  ob  andtte 
Spraehett  ungefähr  sagen:  «es  ist  mum*,  «ich  Inn  wann* 
«der  «ich  habe  warm*.  Nun  wäre  ich  ohne  Frage  be- 
rechtigt, ebenso  wie  ick  den  Thermonteteistuid  filr  den  Er^ 
Jcenntnisgrund  des  Lnftwftrmegrades  erklSre,  auch  mein 
Wkmegef&bl  für  den  Srkenntm^grand  der  Sonnenwinne 
Ausmgeben.  Ss  w&re  ganz  logiscb  m  sagen:  .danuis,  dass 
mir  wann  ist,  scfaUesM  ick,  dass  es  wann  ist*  Dieser 
Oedankengang  wtre  nidit  um  ein  Jota  anders,  als  der 
Scbluss  von  der  QuecksilberkAke  auf  die  Lufttemperatur, 
Und  ein  Gesunder  kOnnte  einem  fiierenden  Fiebeikranken 
gegenüber  ganz  vemOnftag  und  nfltsUdi  den  Scbluss  von 
:seinein  Wbmegefllkl  auf  die  SoimenwSnne  ziekeo,  dann 
also,  wenn  nach  der  Sonnenwftnne  gefragt  würde,  wenn  die 
Aufmerksamkeit  auf  die  Sonnenwirme  gelenkt  würde. 

Wir  haben  es  also  bei  dem  sogenannten  Erkenntnis- 
gründe,  der  Quecksilberhöhe,  und  bei  der  Erkenntnis  (dass 
.es  warm  sei)  beide  Mal  mit  einer  Wirkung  und  zwar  mit 
^er  Wirkung  aus  der  gleichen  Ursache  zu  tkun.  Bei  der 
Thatsache  des  Wärmegeftthls  hängt  es  ganz  allein  von  den 
jms  interessierenden  Umständen  oder  unserer  Aufmerksamkeit 
4ib,  ob  wir  die  Empfindung  logisch  so  oder  so  ausdrücken, 
wir  sagen:  mir  ist  warm,  mir  ist  warm,  mir  ist  warm. 
Das  eine  Mal  ricbtoii  wir  unsere  Aufmerksamkeit  auf  unsere 
Person,  das  zweite  Mal  auf  die  in  fVnc^f  gestellte  Thatsache, 
üas  dritte  Mal  auf  die  Art  der  Eraptindung.  Mit  einiger 
Wort^palterei  und  scheinbarer  Gcistreichigkeit  kann  ich 
freilich  meine  VV  äniieeiii phndung  den  Erkenntnisgrund  der 
Wärme  nennen.  Aber  da  «roiateu  wir  ja  eben  sofort  zu 
-der  Weisheit,  dass  wir  von  <ier  Wärme  absolut  nichts  er- 
icennen  als  eben  die  Enipüudung,  dass  unsere  Empfindung 
.ganz  und  gar  unsere  Erkenntnis  von  der  Wärme  ausmacht; 
wenn  wir  also  unsere  Wärraeempfindung  den  Erkenntnis- 
grund  der  Wärme  nennen,  su  nennen  wir  unsere  Erkenntnis 


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JBrkwintniiyqitd  ein  fftltcher  Begriff. 


808 


ihren  eifi^enen  Erkeautnisgrund.  Die  Albernheit  eines  solchen 
Sprachgebrauchs  springt  hoffentlich  in  die  Augen. 

Ich  weiss  wohl,  dass  die  neuere  Physik  nicht  ij;anz  ohne 
Erfolg  nach  dem  Warum  der  Wärme  gefragt  iiat,  also 
nach  einer  nachweisbaren  entfernten  Ursache  unseres  Wärrae- 
geftaUs;  hierin  ist  unser  Wissen  bereichert  worden,  aber 
nidit  durch  logiache  SdiltlaM,  aondem  durdi  Aper9us,  durch 
gut  und  neu  beobachteto  SinnMemdrfloke. 

Bin  physikaliBclier  Apparat,  den  SrnneMindniek  der 
Wbme  gut  und  neu  sn  beobachten«  iet  euch  unser  Thermo- 
meter.  Se  gestattet  eine  genauere  Ausdnutoweise;  anstatt 
die  Hand  zur  Probe  in  das  Wasser  zu  stecken  und  zu 
sagen  »es  ist  sehr  wann*,  branehen  wir  bloss  aofiu- 
bhoken,  das  Experiment  an  nns^m  Gesichtssinn  anstatt 
am  Qemeingefllhl  der  Haut  aussuflihren,  und  können  fast 
gelehrt  urteilen  »das  Wasser  hat  25  Grad*.  Aber  wieder 
besteht  unsere  ganae  Erkenntnis  in  dem  Ablesen  dieser 
Ziffisr;  und  wieder  hiesse  es  blödsinnig  die  Erkenntnis  übr 
ihren  eigenen  Grund  ausgeben,  wollte  man  (und  das  thui 
bis  zu  dieser  Stunde  alle  Welt)  den  Thermometerstand  einen 
Erkenntnisgrund  des  Wärmegrades  nennen.  Auch  dann 
noch  wäre  der  Ausdruck  Erkenntnisgrund  sinnlos,  wenn 
man  etwa  den  Thermomcterstand  ftlr  den  Erkenntnisgnmd 
und  erst  den  Satz  «es  ist  also  sehr  warm'*  für  die  Schluss- 
folge gelten  lassen  wollte.  Ich  darf  nicht  aufhuren,  das 
Sprachelend  unerbittlich  bis  in  seine  letzten  Schlupfwinkel 
zu  verfolgen.  «Sehr  warm"  kann  doch  nur  ein  Tollhäusler 
eine  W^irkung,  nur  ein  Zierbengel  eine  Folge  von  «25  Grad" 
nennen. 

So  i^laube  ich  an  einem  populären  Beispiel  unwiderleg- 
lich gezeiL't  zu  haben,  dass  der  Begriff  Erkenntnisgrund 
einen  wirklichen  Sinn  nicht  hat,  dass  selbst  die  bildliche 
Anwendung  des  Worts  ungereimt  ist.  Damit  scheint  mir 
auch  der  entsjtrecuende  Begriff  der  Schlussfolfre  od»M-  der 
logischen  Notwendigkeit  beseitigt,  und  damit  die  Gesetzlich- 
keit des  menschlichen  Denkens  oder  der  Wert  der  mensch- 
lichen Sprache.   Was  bis  zu  dieser  Stunde  £rkenntnisgrund 


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364 


IV.  Die  Deokgeaetze. 


genannt  wird,  ist  nichts  weiter  als  ein  Hinlenken  der  Auf- 
merksamkeit auf  sprachliche  Formen  von  ürteflen.  Was 
nDsera  Eikeimhiis  jedesmal  sbegrQndeft*,  daa  ist  immer  nur 
die  Eriimenixig  an  Siimeeempfinduiigeti  moid  di«  durch  imsere 
Intoressen  gelenkte  Aufinerksamkeit.  Es  mag  gewdhnlteh 
bequem  sein,  nur  Ins  «a  den  Erinneningazeichen  surOck- 
zugehen  und  diese  im  Vertrauen  auf  ihre  Treue  die  Ur- 
Sachen  unserer  Sfttze  zu  nennen,  wofür  wir  dann  mit 
schlechtem  Gewissen  das  wackelnde  Wort  «Grund*  ein- 
geführt  haben ;  die  wirklichen  Crsachen  unserer  Stttee  sind 
nicht  GrOnde,  nicht  schallende  Worte,  sondern  die  Sinnea- 
empfindungen,  oder  das  Unerkennbare,  das  die  Sinnes- 
empfindungen erzeugt 

Auch  unser  Hanswurst  ist  ein  scharfer  Logiker;  auch 
ihm  sind  die  Empfindungen  seiner  Augen,  seines  Tastsinns, 
Seines  Geschmacks  und  seines  Geruchs  ErkenntnisgrBnde 
der  Existenz  seines  Käsestücks;  der  Hanswurst  mftsste  da» 
neben  auch  Metaphysiker  sein  um  einzusehen,  dass  er  ron 
dem  Wesen  seines  Chester,  von  seinem  Käsestück  als  Ding- 
an-sich  durchaus  nichts  anderes  kennt,  als  eben  die  Em- 
pfindungen seiner  Sinne,  dass  er  die  Summe  seiner  Erkennt- 
nisse ihren  Erkenntnisgrund  genannt  hat.  Und  sagt  er  mit 
seinem  dummen  Lachen,  das  Stinken  des  Käses  sei  doch 
wenigstens  der  Erkenntnisgrund  für  das  Alter  des  Ki^es, 
so  erinnere  ich  an  die  25  Grad  ,  die  der  Erkenntnis^rund 
für  grosse  Wärme  sein  sollten.  Nein,  so  disparat  dir  Aii- 
jektive  ,alt"  und  , stinkend"  auch  im  toten  Wörterbuch 
sein  mö^en ,  in  der  lebendigen  Verbindunt^  mit  der  Vor- 
stellung ^Käse"  sind  sie  zwei  Synonyme,  von  denen  das 
zweite  die  Wirkung'  auf  unsere  Sinne  nur  etwas  deutlicher 
bezeichnet  als  das  erste. 

DtHk-  Ist  mir  im  vorigen  Abschnitt  der  Nachweis  gelungen, 

*******  dass  der  Satz  vom  zureichenden  Grunde,  das  heisst  der  Be- 
Tanto- 

logien.  griff  der  Notwendigkeit  nur  in  der  Wirklichkeitswelt  gilt 
oder  doch  von  uns  iii  sie  hiueingelegt  werden  muss,  dass 


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DenkgeaeUe  Tautologien. 


365 


es  aber  in  unserm  Denken  ein  Folgen  aus  Griludcii,  eiue 
logische  Notwendigkeit,  gar  nicht  gibt,  so  ist  es  fast  Uber- 
flOssig,  im  eiaxeliien  QMhiuvmn,  dtts  die  yiel  genannten 
Denkgeseice  nur  ebenso  Tiele.Taiitologieii  sind,  die  untem 
Gesetie  des  SehlieBsens  ebenso  wie  die  obeisten  Denkgesetie. 
Win  man  aber  bei  der  ZersiVrung  eines  alten  Baues  etwas 
TOehtiges  lernen,  so  wird  es  sich  immer  empfehlen,  ihn 
Stein  fllr  Stein  absutngen. 

Heber  Fassung  und  Anordnung  der  obersten  Denk- 
gesetze henrselit  in  der  Schnllogik  eine  heillose  Verwirrung. 
Nach  dem  Herirommen  zfthlt  man  ihrer  vier  auf,  darunter 
aber  auch  gana  unlogisch  den  Sats  vom  Grunde  sdbsi,  der 
doch  die  andern  als  generaloberstes  Denkgesets  «mfasBen 
muss.  Mit  dem  Sats  vom  Grunde  aber  sind  wir  holBEiBnt^ 
lieh  eben  fertig  geworden ;  wir  wollen  seine  Unterarten,  die 
übrig  gebliebenen  drei  verbultniamftssig  obersten  Denkgesetze, 
vorurteilslos  aber  in  der  .Erwartung*  betrachten,  dass  sie 
sich  in  wohlklingende  Tautologien  auflösen  werden. 

Vorher  aber  noch  eine  Bemerkung:  der  Satr.  vom 
Grunde  soll,  nach  der  üblichen  Lehre,  die  Notwendigkmt 
aussagen,  mit  der  ein  Urteil  am  irgend  welchen  andern 
Denkelementen  folge.  Wir  wissen  nun,  dass  diese  Not- 
wendigkeit nur  ein  anderer  Ausdruck  sei  für  die  ärmliche 
Thatsache,  dass  ein  bestimmter  Bej^riff  eben  nur  die  Er- 
innerung an  bestimmte  SinneseindrUcke  bezeichne,  also  un- 
niüfflich,  das  heisst  nach  Sprachgehrauch  unmöglich,  andre 
Erinnerungen  bezeichnen  könne.  Die  obersten  Denkgesetze 
nun  sind  wo  möglich  noch  armseliger.  An  sie  ist  nicht 
einmal  der  sprachliche  Zwang  geknüpft,  sondern  sie  ziehen 
nur  die  äussitsEi  liienze,  bis  zu  der  ein  Satz  überhaupt 
möglich,  das  heisst  denkbar  ist.  Da  aber  „denkbar"  hier 
nur  so  riel  ist  wie  ^aussprechbar*,  , sagbar",  so  könnten 
wir  die  obei-steu  Deukgesetze  recht  gut  auch  die  obersten 
Sprachgesetze  nennen,  solche  Gesetze  nämlich,  welche  sich 
auf  ihrer  luttigen  Höhe  zur  Sprache  verhalten  wie  das 
.Sein*  zu  der  Wirklichkeit,  wie  Nichts  zu  Etwas.  Man 
hat  iieiiich  zwischen  Denkbarkeit  und  Sagbarkeit,  also  zwi- 


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366 


rV.  Die  Denkgeseize. 


sehen  Logik  und  Grammatik,  immer  einen  Untenehied 
finden  wollen;  aber  vas  Air  den  Grammatiker  richtig  ist» 
ist  auch  flir  den  Logiker  richtig,  solange  man  niehi  nach 
der  Wahrheit  fragt,  das  ist:  nach  der  Uehereinstimmmig 
mit  den  Sinnesempfindimgen. 

Die  drei  obersten  Denkgesetae  aber  heissen  hente  uodi 
genau  so  wie  im  Iftittelalter:  1.  Der  Bats  der  Identität« 
2.  der  Sati  des  Widerspruchs,  8.  der  Sats  des  ausgeschlos* 
senen  Dritten.  Wir  woUen  jeden  einaeln  beim  Worte 
nehmen,  um  zum  Schlüsse  zu  erkennen,  dass  zwischen  ihnen 
nur  ein  Unterschied  der  Sprachform  besteht. 
8tiB  1.  Der  Satz  der  Identität  kann  auf  verscliiedene 
anmutige  Arten  ausgesprochen  werden  z.  B.:  , Was  Etwas 
ist,  das  ist  es''  oder  , Alles  ist,  was  es  ist*  oder  mit  dem 
Schein  mathematischer  Klarkeit  «A  ist  A*.  Hier  ist  die 
Gedankenblössef  die  NuUitat  des  Ergebnisses  so  nackt  und 
offen,  dass  es  beinahe  geziert  wäre,  den  Satz  der  Identität 
erst  noch  ausdrücklich  eine  Tautologie  zu  nennen.  Auch 
mag  man  die  Formel  ,A  ist  A"  drehen  und  wenden,  so 
viel  man  will,  man  wird  ihr  keine  neue  Seite  abgewinnen; 
man  mag  sie  inquim  ren,  sie  wird  ruif  keine  peinliche  Frage 
auch  nur  ein  Sterbenswörtchen  zur  Autwort  geben. 

Ich  möchte  hier  einschieben,  dass  nicht  immer  ein 
identischer  Satz  ist,  was  in  der  toten  Sprache  der  Schrift, 
was  schwarz  auf  weiss  auf^si.  ht  wi  ■  .A  ist  A".  Man  glaube 
nicht,  dass  ich  damit  meinen  Aasgüiigs^juiikt,  dass  nämlich 
Sprache  und  Denken  ein  und  dasselbe  sei,  verlasse.  Die 
Aufmerksamkeit  des  Sprechers  oder  Hörers,  wie  sie  durch 
die  Situation  des  Gespräches  oder  Gedankengangs  erregt 
worden  ist,  diese  Aufmerksamkeit  und  die  ihr  entsprechende 
Betüiiuug  der  Worte  gehört  ja  mit  zur  Sprache.  Wenn  also 
jemand  sagt  ,Käse  ist  Käse"  oder  „Schnaps  ist  Schnaps* 
oder  ,ein  Wort  ist  ein  Wort",  so  ist  das  durchaus  nicht 
dn  besonderer  Fall  Ton  der  allgemeinen  Formel  ,A  ist  A*. 
Wer  so  spricht,  will  in  abgekürzter  Bedeweise  etwa  sagen: 
«Jeder  Kftse,  auch  ein  Terdorbener,  jeder  Schnaps,  auch 
der  schlechteste,  jedes  Wort,  aodi  das  leichtsinnig  gegebene, 


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1.  Der  Sats  der  Identität. 


867 


ist  ein  Käse,  ein  Schnaps,  ein  Wort;  die  Güte,  die  Feiu* 
heit,  die  Besonnenheit  gehört  nicht  (nach  dem  augenblick» 
liehen  Interesse,  dem  augenblicklichen  Gesichtspunkt  de» 
Redenden)  zum  Wesen  des  BegriA  Eise,  Schnaps,  Wortf 
es  gibt  keinen  sdilediten  Schnaps;  es  gibt  keinWofi,  das 
nicht  hJbide.*  Solchen  scheinhar  identischen  SUsen  wird 
der  Angeredete  denn  auch  Tou  seinem  Standpunkt  wider* 
spredien  dflifen.  «Nicht  jeder  Ktee  ist,  was  ich  KSse  nenne; 
nicht  jedes  leichtsinnige  Wort  darf  man  beim  Worte  nehmen. 
Der  weitwe  Horinmt  hat  ja  gar  nicht  denselben  Stand- 
punkt wie  der  engere.*  Wieder  sieht  man,  wie  die  Begriffe 
in  Terschtedenen  KOpfen  nidit  identisch  sind.  Für  den  Ter* 
hungernden  Bettler  ist  Brot  Brot,  audi  das  scblechteste 
Brot  fSnt  für  ihn  unter  den  Begriff  Brot;  der  Terw6hnte 
Bürgersmann  Tersteht  unter  Brot  ein  taddloses  Brot.  Je 
geistiger  die  Begriffe  sind,  desto  seltener  wird  die  Identität. 
Für  den  Bauer  und  den  gemeinen  Kunsthändler  ist  Haler 
Maler,  istBÜd  Bild;  nicht  ftlr  den  Kenner,  welchem  Kfinstler» 
Schaft  zum  Begriff  des  Malers,  des  Bildes  gehört.  Wir 
haben  schon  erfahren,  dass  mitunter  A  ss  A  —  b  (S.  282), 
was  mathematisch  falsch,  sprachlich  aber  nur  zu  wahr  ist. 

Diese  Einschaltung  schien  mir  notwendig  um  deutlich 
seigen  zu  können,  dass  schon  die  gewöhnlichste  Anwendung 
Tom  Satze  der  Identität  aus  der  Logik  herausfällt,  rein 
sprachlich  ist  und  ihre  Aufmerksamkeit  schon  auf  die  Dinge 
selbst  richtet.  Ohne  Bewusstsein  von  diesem  Umstand  und 
nur  darum  ohne  schlechtes  Gewissen  nennen  die  Logiker 
diese  Anwendung  den  Grundsatz  der  Einstimmigkeit,  was 
genau  betracluet  nur  Uebereinstimmung  mit  der  Wirklich- 
keit heissen  darf  Um  diese  Anwendung  mit  auszudrücken, 
wird  der  Satz  der  Identität  mit  besonderer  Lieblichkeit  auch 
so  formuliert:  orane  subjectum  est  praedicatum  sui,  jedes 
(grammatische)  Subjekt  ist  sein  eigenes  l'i ädikat,  jeder  Be- 
griff darf  von  ihm  selbst  ausgesagt  werden.  Und  jedes 
Merkmal  eines  Begriffs  dari  von  ihm  ausgesagt  werden.  Da 
aber  die  Begriffe  oder  Worte  nichts  weiter  sind  als  Er- 
innerungszeichen Ton  Merkmalen,  die  Sätze  aber,  das  heisst 


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IV.  Die  Denkgeaetze. 


unser  gesamtes  Denken  nichts  als  eine  Besinnung  auf  den 
Inhalt  oder  die  Merkmale  der  B^griife,  so  ist  der  Sats  der 
Identitiit  in  dieser  hraudibareren  Form  erat  recht  eine  Tauto- 
logie und  wegen  seiner  unschuldigen  Miene  dazu  noch 
komisch  oder  spitsbttbisch.  Wie  ein  nichtsnutaiger  Schul- 
Jui^e  die  Antwort  auf  des  Lehrers  Frage  aus  dem  Buche 
abliest,  das  er  unter  der  Bank  versteckt  hälti  genau  ebenso 
leiert  der  logische  Grundsatz  der  Sinstimmigkeit  das  Ter^ 
steckte  Prädikat  herunter,  nur  dass  der  Logiker  den  Vor- 
gang einen  Grundsatz  nennt  und  ihm  durch  den  Begriff  des 
„ dürfen*  besondere  Feierlichkeit  erteilt.  Der  Schi4)unge 
darf  ablesen,  nämlich  wenn  der  Herr  Schulrat  zugegen  ist, 
wenn  der  Kritiker  aufpasst,  damit  der  Kritiker  nicht  erfahre, 
dass  der  Schuljunge  nichts  gelernt  hat,  dass  die  Logik  nichts 
lehren  kann. 

Es  ist  abo  streng  festzuhalten,  dass  jeder  Satz  « A  ist  A" 
entweder  einen  sinnvollen  Zusammenhang  mit  der  Wirk- 
lichkeit hat  und  dann  kein  logisches  Gebilde  mehr  ist,  oder 
dass  er  nur  die  sogenannte  Uebereinstimraung  mit  sich  selbst 
ausdrückt,  und  dann  den  Lufthauch  nicht  wert  ist,  den  man 
au  ihn  verschwendet. 

Besonders  verdient  hervorgeholien  zu  werden,  dass  man 
noch  keiruni  WahrT^innigen  gefunden  hat,  der  an  dem  Satz 
der  Identitiit  zweilclte.  Sein  Verstand  konnte  so  krank  sein, 
dass  er  einen  kSuppeuteller  für  eine  Krone  hielt  oder  eine 
Kartoffel  für  einen  Pfirsich-,  der  allfTenipinf  Satz  aber  A  ist  A, 
ich  bin  ich,  Kartoffel  ist  Karlollrl  witd  von  allen  Wahn- 
sinnigen anerkannt,  solange  sie  nicht  durch  Blöilsmii  am 
Verbinden  der  Begriffe  überhaupt  verhindert  werden.  Man 
mag  daraus  ersehen ,  wie  viel  Verstund  zum  Auffassen  des 
ersten  der  obersten  Deukgesetze  gehöre, 
«au  2.  Der  Satz  des  Widerspruchs  lautet  gewöhnlich 

Wider-  ^*  kontradiktorisch  entgegengesetzte  Urteile  (z.  B. 

Sohlilse  ist  toi  —  Schuhe  ist  nicht  tot)  können  unmöglich 
beide  wahr  sein;  aus  der  Wahrheit  des  einen  folgt  mit  ber 
kannter  logischer  Notwendigkeit  die  Falschheit  des  andern. 

Hier  ist  nun  schon  der  Name  des  Satzes  ein  heiterer 


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2.  Der  Säte  des  WidenpruclM. 


869 


Beweis  für  die  Hüflosigkeit  seiner  Erfinder.  Der  G^ruDd* 
satz  de«  Wirlerspruchs  will  doch  offenbar  besagen,  dass 
zwischen  Ulieilen,  die  heide  gelten  sollen,  kein  Wider- 
spruch, kein  kontradiktorischer  Gegensatz  bestehen  dürfe. 
Es  ist  also  um  seine  Bezeichnung  ähnhch  bestellt,  wie  wenn 
die  ehrlichen  Leute ,  die  Logiker  der  Moral ,  das  Prinzip 
ihres  Handelns  einen  ^.Grundsatz  des  Stehlens'"  nennen 
wollten.  Und  die  Logiker  des  Denkens  haben  auch  gewiss 
ihren  Grundsatz  des  logischen  Stehlens,  den  Satz  des  Wider- 
spruchs, nur  deshalb  so  verkehrt  aufgestellt,  weil  sein  ge- 
rader und  natürlicher  Name  ..Grundsatz  der  Ueberein^'tini- 
mung"  hätte  lauten  müssen,  also  mit  dem  Satz  der  Identität 
identisch  gewesen  wäre.  In  Wahrheit  verlangt  der  Satz 
der  Identität,  dass  Ein  Satz  tautologisch  sein  müsse,  damit 
man  ihn  denken  oder  aussprechen  könne;  nach  dem  Satz 
des  \\  ult  i  spruchs  aber  müssen  zwei  Sätze  tautologisch  sein, 
damit  man  sie  zusammen  (vielleicht  auch  nur  bald  nach- 
einander) denken  oder  aussprechen  könne. 

Aber  sowohl  die  Erklärung  des  Satzes  vom  Widerspruch 
als  sein  Beweis  richten  ihre  Aufinerksamkeit  auf  die  Wahr- 
heit der  Urtoile;  und  wir  wissen  boeila,  dass  die  Wahrheit 
der  Satse  nur  eine  sprachliche  Auseinanderbreitung  ist  von 
richtigen  Begriffen,  und  dass  die  Bicktigkeit  der  Begriffe 
ihre  üebereinstimmung  nut  der  Wirklichkeit  ist,  also  das 
was  SU  ihnen  gehdrt,  wie  die  Existenz  zur  Welt  So  führt 
der  Satz  des  Widerspruchs,  weil  er  recht  eigentlich  nach 
der  Wahriieit  fragt,  sofort  iMtch  enei^pscher  ab  der  der 
Identitftt  aus  dem  logischen  Gedankenkreise  heraus,  so  wie 
er  das  Gebiet  alberner  Tautologien  yerlassen  will.  Weil  er 
nun  noch  emsiger  nach  der  Wahrhdt  fragt,  hat  man  ihn 
auch  so  formuliert,  dass  er  Terbiete  auf  eine  und  dieselbe 
Frage  zi^eich  mit  ja  und  mit  nein  zu  antworten. 

Nun  lehrt  uns  aber  die  tftgliche  Erfahrung,  dass  nicht 
nur  im  gedankenlosen  Tagesgeschwätz  Ja  und  Nein  gleich- 
wertige Antworten  auf  dieselben  Fragen  sind,  sondern  dass 
auch  in  den  tiefsten  wissenschaftlichen  Untersuchungen  die 
Fachm&nner  selbst  einander  widersprechen.    Alle  aog&* 

Mantli««r.  B«itrige  sn  einer  Kritik  der  SprMhe.  III.  24 


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370 


lY.  Die  Denkgeeeiie. 


nannten  Zeitfragen  haben  die  EigeutttmUchkeit,  dass  sie  mit' 
ja  und  mit  nein  beantwortet  werden  können.  Sind  die 
Bazillen  die  Erreger  der  betreffenden  Krankheit?  Ja  und 
nein.  Weiss  die  Sozialdemokratie,  was  sie  wiU?  Ja  und 
nein.  Lässt  die  Physiologie  eine  besondere  Lobenskraft 
gelten?  Ja  und  nein.  Ich  sehe  von  den  Füllen  ab,  wo  ver- 
schiedene Forscher  die  Frage  verschieden  beantworten.  leb 
hubp  solche  Fälle  im  Auge,  wo  nur  vorlauter  Farteigeist 
mit  ja  oder  nein  antwortet,  während  der  vorsichtige  Denker 
sein  Schwanken  ganz  jnrut  so  ausdrücken  kann,  dass  er  ja 
und  nein  zugleich  antwortet,  also  zwischen  zwei  einander 
kontradiktorisch  entge^^enu'estetzten  Urteilen  beide  für  wahr 
erklärt,  also  dem  Satz  vom  Widerspruch  entgegen  handelt, 
gerade  wenn  er  schärfer  denkt  als  andere. 

Und  zu  alledem  halte  man,  was  wir  erfahren  haben: 
dass  es  Widerspruch  (II.  50)  Uberall  einzig  und  allein  nur 
in  der  Sprache  geben  kann. 
Moral  Wir  sehen  am  Satze  des  Widerspruch«  wieder,  worin 
und  Rdz  zugleidi  und  der  Fdiler  der  Logik  besteht.  Der 
Vergleich  mit  der  Ethik,  den  ich  da  und  dort  fluchtig 
heranzog,  betrifft  das  Wesen  dieser  gesetzgeberischen  Bis- 
aiplinen.  Sovie  die  Ethik  aus  dem  Vorhandensein  der 
Worte  „gut"  und  »bSse*  das  Recht  schöpft,  fast  unbe- 
kOmmert  um  die  wirklichen  Thaten  und  Gesinnungen  der 
Menschen  ein  Idealsjstem  von  Gesetsoi  des  Handelns  auf- 
zustellen, und  dadurch  als  eine  Logik  der  Geschichte  er- 
scheint, der  die  wirkliche  Geschichte  nicht  entspricht;  so 
ist  auch  die  Logik  fast  unbekümmert  um  die  wirklichen 
psychologischen  VoigSnge  in  unserem  Gehirn  und  will  eine 
Art  Moralkodex  dessen  sein,  was  man  denken  darf  und 
nicht  denken  darf.  Wie  die  Moral  und  die  auf  ihr  basieren- 
den Staatsutopien  (bis  zu  dem  neuesten,  dem  sozialistischen 
Staatsroinan)  sich  an  Idealmenschen  wendet,  an  Engel,  die 
auf  dem  Rund  der  Erde  nicht  wohnen  —  so  setzt  auch  die 
Logik  etwas  wie  Idealgehime  voraus  und  eine  Idealsprache 
daiu,  einen  von  allwissender  Vernunft  aufgestellten  und 
Jedem  allezeit  gegenwärtigen  Weltkaialog.  Und  noch  niher 


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MoTftl  und  Logik* 


berüliren  sich  Moral  und  Loj^ik:  durrh  <li«>  Bedeutung  des 
Interesses,  welches  doch  die  menschlichen  Handlunpt'n  ehonso 
leitet  wie  das  menschliche  Denken,  das  ja  eben  aucli  nur 
ein  leises  menschliches  Handeln  ist.  Nur  dass  die  starken 
Handlunj^jen ,  bei  denen  alle  Extremitäten  bewegt  werden, 
nicht  immer  einen  Schall  erzeugen:  bei  den  schwadien  Be- 
wegungen der  Sijracliorgane  aber  gerade  die  Schallerzcugung 
ilie  Hauptsache  ist.  Diese  Bedeutung,  welche  das  Interesse 
für  ilas  Denken  hat,  lehrt  uns  nun,  dass  nicht  «  ii  !:  :*!  der 
allwissende  Idealverstand  Fehler  gegen  den  Satz  vf>uj  Wider- 
spruch zu  vermeiden  im  stände  wäre;  es  müsstc  noch  eiue 
Idealmoral,  eine  engelhafte  Selbstlosigkeit  hinzukommen, 
damit  schon  bei  der  Begri&büdung  ein  Einfluss  des  indivi- 
duellen LiteresBes  ausgescliIosBen  wftre  und  eo  das  gemein- 
same Wort  auch  in  allen  EngelBkdpfen  («Köpfen  ohne 
Leib*,  um  Schopenhauers  hllbsches  Bild  zu  gebrauchen)  den 
gleichen  Sinn  und  Inhalt  hätte.  Nur  f&r  solche  Engels- 
köpfe ohne  Leib  fräre  die  Logik  mit  ihren  X>enkgesetBen 
eine  Wissenschaft;  nur  dass  selbst  diese  aUwissenden  Köpfe 
ohne  Leib  wohl  doch  die  Engelsgeduld  verlören  und  sich 
Arme  nnd  Hftnde  wünschen  würden,  um  diese  flberflüssige 
Wissenschaft  den  Erfindern  um  die  Ohren  zu  schlagen. 

Wir  aber  wiederholen  bescheidener  nur  die  Bemerkung, 
dass  es  gerade  die  brennendsten  Fragen  immer  sind,  die 
die  Welterkenntais  der  besten  Köpfe  nicht  zu  entscheiden 
wagt,  die  sie  yielmebr  mit  Ja  und  Nein  zugleich  beantwortet, 
dem  obersten  Denkf^esetze  vom  Widerspruch  zum  Trotz. 
Auf  die  Frage,  ob  Käse  ein  Nahrungsmittel  sei,  antworten 
wir  Europäer  (die  Chinesen  würden  nicht  zustimmen)  mit 
einem  bestimmten  Ja.  Auf  die  Frage  aber,  ob  Welt- 
geschichte eine  Wissenschaft  sei,  werden  die  schärfsten 
Denker  zugleich  mit  Ja  und  mit  Nein  antworten.  So  ge- 
langen wir  auch  von  dieser  Beobachtung  zu  einer  Bestäti- 
gung des  Unwertes  der  Sprache.  Denn  es  ist  offenbar,  dass 
wir  unsere  Beobachtung  allgemein  so  ausdrücken  können: 
eine  genaue  Scheidung  der  Begrifte  oder  Worte,  eine  strenge 
Befolgung  des  Idealsatzes  vom  Widerspruch,  ist  nur  mög- 


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372 


IV.  IHe  Benkgeaetse* 


lieh  iuuerkalb  der  apiiorischeu ,  wertlosen,  tautologischen 
Urteile,  der  ererbten,  versteineiton,  das  heisst  wenig  ver- 
äudciliclien  Spraclie  und  ihren  iSoniinaidefinitioncn ,  also 
dann,  weaii  wir  unwissenden  Knaben  unser  kh?ints  Nicht- 
wissen lehren,  wenn  wir  in  der  Tretmühle  des  Denkens 
sttUstekend  gehen ;  in  der  flüssigen  Sprache  der  Kealdetiui- 
tionen,  innerhalb  der  aposteriorischen ,  sprachbereichemden 
Urteile  und  Begriffe  dagegen,  im  Oebirn  des  Forschers,  da 
stossen  sidi  unabweisbar  die  Widersprflehe  tmd  nur  gegen 
die  Logik  schreitet  sein  Denken  rorwärts. 

Es  hat  immer  unabhängige  K9pfe  gegeben,  weldie  das 
Trügliche  im  Satze  vom  Widerspruch  einsahen,  wobei  sie 
natürlich  Uber  die  Hdhe  der  Begriffsentwickelung  ihrer  Zeit 
nicht  hinausgelangen  konnten«  Wenn  Epikuros,  um  an 
diesem  oberst«i  Denlqpesete  zu  rUtteln,  das  Bdspiel  yon  der 
Fledermaus  gebraucht  (Ist  die  Fledermaus  ein  Vogel?  Ja 
und  nein),  so  mag  es  uns  kindisch  erscheinen,  weil  der 
Begriff  «Vogel"  seit  jener  Zeit  eine  festere  Definition  be- 
kommen hat.  Es  hätte  aber  f1}r  unsere  Umgangssprache 
wenigstens  nichts  Auffallendes,  die  Frage,  ob  ein  Walfisch 
ein  Fisch  sei,  mit  ja  und  nein  zu  beantworten.  Denn  das 
Urteil  „der  Walfisch  ist  ein  Säugetier"  gehört  schon  in  das 
Gebiet  der  Schulsprache. 
jtkuaA  Diese  Abhdngigkeit  der  obersten  Denkgesetze  Ton  der 
Sprache  ist  beim  Satze  vom  ^Viderspruch  nicht  geringer  als 
beim  Satze  der  Ideiiütiit«  Liegen  nämlich  zwei  kontra- 
diktorische Urteile  vor  uns  (z.  B.  die  Monarchie  ist  gut  — 
die  Monarchie  ist  nicht  gut),  so  ist  der  Satz  vom  Wider- 
spruch vorerst  nur  formell  auf  sie  anwendbar.  Nur  unter 
der  Voraussetzung^,  dass  ihr  Sinn  kontradiktorisch  sei, 
schliesst  die  Bejahung  des  einen  die  Verneinung  des  andern 
ein,  was  im  schlichten  Deutsch  heisst:  nur  wenn  die  Sätze 
einander  wi<lersprechen,  widersprechen  sie  einander.  Dazu 
kommt,  dass  —  den  Widerspruch  der  Bedeutungen  voraus- 
gesetzt -  ■  die  Unvereinbarkeit  ih'r  Sätze  noch  nicht  lehrt, 
■wt  Icher  von  beiden  wahr  sei.  St»wohl  um  die  Wahrheit  zu 
erforschen  als  auch  uur  um  die  Bedeutung  zu  verstehen, 


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Ja  und  nein. 


373 


muss  aui  die  Uebereiustininning  mit  df^r  Wirklichkeit,  also 
auf  die  Entstehung  der  Begritle,  zurückgeganp^en  werden. 
In  unserem  Falle  wird  es  sich  fragten,  ob  der  Urteilende 
mit   »Monarchie*  jede  solche  Staatsform   bezeichne  oder 
eine  ihm  besonders  zusagende  Art  der  Monarcliir.  ob  er  das 
Interesse,  welches  immer  im  Begriff  „gut"  verborgen  ist, 
au  seine  eigene  Person  knüpfe,   oder  an  eine  bestininite 
Menschenklas5!e  oder  an  das  gesamte  Volk  oder  gar  an  seine 
Wertschätzung  ugend  einer  Abstraktion;  er  wird  sogar 
fragen  müssen,  ob  das  Wörtchen  .nicht*  den  Begriff  ,guf 
nur  formell  negiere  (was  allein  einen  e^ten  kontradiktori- 
sehen  Gegensatz  schaffen  wUrde),  oder  ob  es  einen  neuen 
positiven  Begriff  der  Schftdliehkeit  bilden  helfe.  Denken  und 
Sprechen  ist  da  gewiss  eins.  Solange  die  sprachliche  Form 
unseres  Urteils  nicht  völlig  klar  gelegt  ist,  so  lange  gilt 
der  Sats  vom  Widerspruch  nicht  und  die  Gute  der  Monarchie 
kann  mit  Recht  bejaht  und  verneint  werden.  In  dem  Augen- 
blicke aber,  wo  die  Begriffe  in  ihren  Merkmalen  ausgebreitet 
vor  unserem  Ged&chtnis  liegen,  wird  sofort  das  eine  Urteil 
tautologisch  und  gilt  uns  damit  für  wahr;  das  andere  nennen 
wir  unwahr,  weil  es  nicht  tautologisch  ist.   Der  Satz  vom 
Widerspruch  ist  also  für  das  gewöhnliche  Denken  nicht  vor- 
handen, fVat  das  schlurfe  Denken  eine  überflOssige  Arabeske. 
Das  muss  auch  schon  Kant  gemeint  haben  als  er  in  seiner 
Sprache  den  Satz  vom  Widerspruch  nur  fltr  die  anal\-tischen 
Urteile  gelten  Hess;  denn  seine  analytischen  Urteile  sind 
dieselben,  die  wir  die  apriorischen,  tautologischen,  wertlosen 
Sätze  nennen,  das  Geschwätz.    Auch  Hegel  durchschaute 
die  Armut  des  Satzes  vom  Wi<lerspruch ,  und  die  ganze 
Praxis  seiner  dialektischen  Methode  lebt  davon .  dass  man 
widersprechende  Urteile  auf  einer  niedem  Stufe  des  Denkens 
zugleich  bejahen  und  verneinen  könne,  was  sich  dann  auf 
einer  höheren  Stufe  des  Denkens  vereinigen  liesse.  Hegel 
aber  glaubte,  dass  diese  Bewegung  der  Begriffe  der  \Virk- 
lichkeitswelt  entspreche,  während  diese  Bewegung  für  uns 
nur   ein    verzweifeltos;  Vorwnrtszappeln   der   Spraclie  i'^t. 
Darum  ist  die  Hegelei  auch  nicht  bei  ihrem  Meister  stehen 


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a74 


IV'.  Die  Deukgesetze. 


geblieben,  dumm  teilten  sieb  die  Hegelianer  bald  in  Theo- 
logen und  in  Radikale,  je  nacbdem  ibre  Worteridäningen 
sieb  nacb  der  recbten  oder  nach  der  linken  Seite  bin- 
bewegten. 

Sigwart  berOhrt  in  diesem  Punkte  die  Wabrbeit,  wenn 
er  den  Sinn  dea  alten  Satzes  dabin  erklärt:  jede  Rede  mfisse 
einen  festen  Sinn  haben,  der  Eindeutigkeit  der  Begriffe 
müsse  die  Eindeutigkeit  der  Urteilsakte  entsprechen  und  der 
Satz  der  Identität  sei  nur  eine  andere  Form  des  Satzes  Tom 
Widersprach.  Wir  erheben  uns  Ober  diest  Selbst  verstand» 
lichkeit,  wenn  uns  unsere  bisher  paradoxe  Wahrheit  zu  einer 
Selbstrerständlichkeit  wird:  dass  nämlich,  wie  es  in  der 
Natur  oder  Wirklichkeit  um  und  um  keine  Negation  gibt, 
dass  es  so  auch  keine  kontradiktorischen  Gegensätze  gibt 
ausser  in  der  kOnsUichen  Sprache  der  Logiker,  dass  es  (auch 
nicht  in  der  Natur,  aber  in  der  natürlichen  Sprache)  nur 
unlogische,  ungefähre,  ineinander  fiberfliessende  Gegensätze 
gibt,  von  der  Log-ik  die  konträren  geheissen.  Unsere  bisher 
paradoxe  Wahrheit  lehrt  weiter,  dass  das  Wörtchen  .nicht" 
(der  Angelpunkt  des  äatzes  vom  Widerspruch)  in  aller 
Welt  der  Diiige  nicht  seinesgleichen  habe,  dass  es  in  der 
Sprache  immer  nur  ein  ungeschickter  Ausdruck  sei  filr  einen 
ungefähren,  fliessenden,  konträren  Gegensatz  und  dass  eine 
ldealsj)rache,  die  für  alles  Wirkliche  und  nur  für  das 
\N  ukliche  Wortzeichen  hätte,  dieses  , nicht"  gar  nicht  be- 
sitzen müsste  und  daun  freilich  das  oberste  Denkgesetz 
vom  Widerspruch  sprachUch  gai'  nicht  einmal  ausdrücken 
könnte. 

Und  wieder  weise  ich  darauf  hin,  dass  der  Satz  vom 
Widerepruch  wohl  vielen  sinnenden  Köpfen  zweifelhaft  ge- 
wesen ist,  dass  aber  noch  kein  Wahnsinniger  an  der  Wahr- 
heit dieses  obersten  Denkgesetzes  gezweifelt  bat.  Er  kann 
in  seinem  Wahn  eine  SuppenscbOssel  eine  Krone  halten, 
aber  er  wird  dem  Logiker  beistimmen,  wenn  dieser  ihn 
belehrt:  die  l^tze  ^ich  bin  König"  und  .ich  bin  nicht 
König"  können  nicht  zugleich  und  in  dem  gleichen  Sinne 
wahr  sein. 


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3.  Der  Satz  vom  auägeschloäfieueu  DiiUeu. 


375 


8.  Der  Satz  yom  ausgeseblossenen  Dritten,  wm 
Dieses  Dritte  Ton  den  obersten  DenJ^esetBen  will  besagen,  g^^^f,^^! 
dass  Ton  zwei  einander  kontradiktoriscb  entgegengesettten  8«n«B 
Urteilen  eines  wahr  sein  mttsse.   Er  ist  abo  eine  üm-  '^^* 
kebnmg  des  Satzes  vom  Widerspruck  Wir  batten  gelernt, 
dass  die  Wabrbeit  des  einen  Urteils  die  Fakcbbeit  des 
andern  beweise;  jetzt  erfabren  wir  dazui  dass  aus  d«r  Falsdi- 
beit  des  einen  Satzes  die  Wabrbeit  des  andern  folge. 

Der  von  uns  eben  gewonnene  Standpunkt,  die  üeber- 
zeugung  von  der  Nichtigkeit  des  Negationsb^pdffis,  wird 
uns  dieses  oberste  Denkgesetz  rasch  abfertigen  lassen.  Yorber 
aber  wird  es  gut  sein,  an  einem  Beispiel  zu  zeigten,  wie 
wenig  sich  wirkliches  Denken  oder  Spreeben  um  dieses 
logische  Grundgesetz  kümmere. 

Der  Naturforscher  entdeckt  unter  dem  Mikroskop  einen 
Organismus,  der  Ihm  buld  unter  die  Definition  des  Tieres, 
bald  unter  die  der  Ptluir/p  zu  fallen  selieint.  Nach  dem 
Satze  vom  \V'idersprurh  diufte  der  Forscher  nicht  zugleich 
sagen  dürfen:  «lipse  Amöbe  z.  B.  ist  ein  Tier,  ist  eine 
Pflanze,  Er  sag^ce  es  aber.  Und  nach  dem  Grundsatz  yom 
ausgeschlossenen  Dritten  müsste  er  sagen:  diese  Amöbe  ge- 
hört ohne  Gnade  entweder  zum  Tierreich  oder  zum  Pflanzen- 
reith. Das  sagt  er  aber  nicht,  wenn  er  nur  Haeckel  ist, 
sondern  kommt  mehr  oder  weniger  klar  zu  der  Ueljerzeugung, 
dass  Tier  und  Pflanze  nur  fliessende,  konträre  Gegensätze 
sind,  dass  es  ein  Drittes  zwischen  ihnen  gibt,  wenn  die 
Sprache  das  auch  bisher  noch  nicht  gewnsst  hat.  Er  wird 
also  infolge  dieser  Erkenntnis  oder  Beobachtung  für  dieses 
Dritte  einen  neuen  Begriff,  ein  neues  Wort  erfinden  und 
über,  unter  oder  zwischen  dem  Tier-  und  Pflanzenreicb  ein 
neues  Beicb  an&tellen,  das  der  Protisten.  Damit  werden 
sieb  die  obersten  Denkgesetse  wieder  eine  Weile  berubigen, 
bis  zur  nScbsten  spraehscbfipferisoben  Beobachtung. 

Der  Logiker  bat  nnrecht,  der  mir  bier  einwirft,  Tier 
und  Pflanze  seien  aucb  für  ibn  nur  kontrftre  Gegens&tze 
gewesen.  Das  ist  nicbt  wabr.  Von  Aristoteles  bis  Haeekel 
umfasste  der  ob^  Begriff  Organismus  nur  die  Tiere  und 


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876 


IV.  Die  DenkgtMkae. 


die  Kicht-Tiere.  Solange  man  Uberhftupt  seine  Aufinerk- 
samkeit  auf  die  Organismen  der  Erde  richtete,  solange  fiel 
der  kontradiktorisehe  Gegensats  Tier  und  Nicht-Tier  mit 
dem  konträren  G^ensatz  Ti«r  und  Pflanze  zusammen.  Oder 
besser:  wir  können  an  diesem  Beispiel  vei-folgen,  wie  sich 
die  natürliche  Sprache  gegen  negative  Begriffe  wehrt  und 
wie  die  reine  Negation,  das  ist  der  kontradiktorische  Gegen- 
satz nichts  ist  als  eine  konstruktive  Hilfslinie  der  Logik. 
Wir  können  die  artikulierten  Laute  „Nicht-Tior"  gewiss 
aussprechen  oder  dieses  Wortbild  aufschreiben,  aber  dieses 
logische  Gegenteil  von  Tier  ist  kein  Begriff,  ist  kein  Zeichen 
für  irgend  etwas.  Es  ist  die  Unendlichkeit,  also  etwas  Un- 
vorsteUbaros ,  nachdem  man  den  Begriff  Tier  davon  abg^e- 
zogcn  hat.  Soll  ich  mir  nnter  der  Negation  von  Tier  etAvas 
denken  können,  so  muss  ich  die  Kontra>liktion  fallen  lassen, 
so  muss  ich  den  künstlieben  Begriff  der  Unendlichkeit  ver- 
gessen und  den  Gegensatz  unter  eiriPTu  weniger  abf^trakt'^n 
Gattungsbegriff  suchen;  so  wird  der  Wjdi  rspriich  zum  Gegen- 
teil, das  Nicht- Tier  zur  Pflan/e.  Wei-  mir  das  noch  be- 
streitet, der  wird  mir  vielleicht  beistimmen,  -wenn  ich  un- 
klarere Begriffe  wühle.  Gott  und  Nicht-Gott  bilden  eine 
Kontradiktion ,  einen  logischen  Widerspruch.  Soll  ich  mir 
aber  unter  Nicht-Gott  irgend  etwas  denken  können,  so  muss 
ich  für  Nicht-Gott  ein  wirkliche--  Wort  setzen,  ^u  muss  ich 
Gott  und  Nicht-Gott  unter  den  noch  höheren  Begriff  des 
»Seienden"  bringen,  wo  sich  dann  der  Nichi-Gotfc  oder  die 
Welt  als  kontrirer  Gegensatz  von  Gott,  als  sein  Gegenteil 
herausstellen  wird.  Es  ist  das  freilkh  nur  Clesehw&ts,  aber 
die  Logik  muss  es  anerkennen.  Ganz  ebenso  steht  es  um 
den  Gegensats  toa  Ich  und  Nicht-Ich  in  der  Fichteschen 
Philosophie.  Für  unsere  wirkliche  Erkenntnis  gibt  es  nur 
fliessende,  kontrire  Gegenteile,  auf  welche  weder  der  Satz 
Tom  Widerspruch  noch  der  vom  ausgeschlossenen  Dritten 
anwendbar  ist;  zum  Zwecke  ihrer  Begii&spielereien  allein 
konstruierte  die  Logik  sich  einen  kontradiktorischen  Gegen- 
sats,  für  welchen  unsere  Sprache  kein  Wort  hat,  unser 
Denken  keine  Vorstellung,  kein  Beispiel. 


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'd'  Der  Satz  vom  nusgeeohloHsenea  Britten. 


377 


Der  Saix  vom  ausgescUosseiieii  Dritten  Ubui  sicli  gram^ 
matikalisch  auch  so  aiisdracken,  dass  naeh  ihm  jedes  Sub- 
jekt mit  jedem  PriLdikat  rerbunden  irwden  kOmie,  n&nlich 
bald  bejahend,  bald  Terneinend.  PrOft  man  z.  B.  die  Zu- 
sammengehörigkeit der  Begriffe  Mitteklter  und  0elb,  so 
wird  das  dritte  Ton  den  obersten  Denkgesetzen  uns  sagen 
lassen:  das  Mittelalter  ist  nicht  gelb,  besser  das  Mittelalter 
ist  nichi-gelb.  Unser  Satz  führt  also  zu  der  Weisheit,  dass 
disparate  Begriffe  nieht  zusammengehören.  Erst  msaa  Ton 
einem  nüchternen  Menschen  einmal  gefragt  worden  wäre, 
ob  das  Mittelalter  gelb  sei,  ob  die  Elektricität  vierfüssig 
sei,  erst  dann  Id&tte  unser  Satz  einen  Wert.  Der  Satz  ist 
also  wertlos  wnä  würde  wertlos  bleiben,  auch  wenn  er  wahr 
wäre.  Wahr  aber  kann  der  S:itz  vom  ausgeschlossenen  Dritten 
für  uns  so  wenig  sein  wie  der  Satz  Tom  Widerspruch,  weil 
er  doch  auf  dem  Gebrauch  eines  unrichtigen  Begriffs  be- 
ruht,  dem  vom  kontradiktorischen  Gegensatz.  Für  uns  wären 
widersprechende  Urteile  doch  nur  Auseinanderlegungen  von 
\vidersprcchendGii  Bf  n^iffon,  %vidersprechcnf1o  Befjriffo  nur  Er- 
innerungen an  widersprechendo  Vorstellungen.  Vnd  kontra- 
diktorisch widersprechende  Vorstellungen  gibt  es  nicht  in 
der  Wirklichkeitswelt.  Weiss  und  schwarz  sind  Gegenteile, 
aber  sie  widersprechet!  einander  nicht,  sie  flie^sen  in  grau 
zusammen.  Ein  Widerspruch  bestünde  zwischen  den  \'or- 
stellungen  weiss  und  nicht-weiss.  Doch  die  Yorstelluiig 
nicht- weiss  kennen  wir  nicht,  man  wollte  denn  mit  nicht- 
weiss in  unsäglich  gezierter  Weise  etwa  so  viel  sagen  wie 
mit  Gran.  Eine  Vorstellung  nicht-weiss,  die  logischerweise 
zugleii;h  alle  anderen  Farben,  alle  nicht-weissen  Gegenstünde 
der  Welt  und  dazu  alle  Ab.straktiuuen  bezeichnen  müsste, 
eine  solche  Vorstellung  suchen  wir  vergebens  in  unserem  Ge- 
dächtnis, in  unserer  Sprache.  Wir  kommen  also  vrieder  zu 
einem  traurigen  Schluss.  Soll  der  Satz  vom  ausgeschlossenen 
Dritten  besagen,  alles  mtlsse  schwarz  sein,  wenn  es  nicht 
weiss  sei,  so  ist  der  Satz  schreiend  falsch.  Soll  aber  der  Satz 
besagen,  alles  mttsse  nicht-weiss  sem,  wenn  es  nicht  weiss 
sei,  so  geht  seine  Albernheit  Ober  das  erlaubte  Mass  hinaus. 


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378 


IT.  Dia  Denkgesetse. 


Ich  will  aucli  diasmal  nicht  vergessen  hinzuzufügen, 
dass  man  den  Wahnsinnigen  leicht  dazu  bringen  kann,  audi 
die  Wahrheit  des  dritten  obersten  Denkgesetz^  zuzugeben. 
Er  wird  einsehen,  dass  eine  Suppenschüssel  entweder  eine 
Krone  ist  oder  keine  Krone  ist,  und  wird  im  übrigen  bei 
seinem  Wahn  bleiben. 

Man  hat  oft  versucht  die  Dreieinigkeit  dieser  obersten 
Denkgesetze  auf  eine  wirkliche  Einheit  zurückzuführen,  und 
besonders  Schopenhauer  wird  dafür  gelobt,  dass  er  (Welt 
a.  W.  u.  V.  II,  3)  sie  alle  drei  aus  dem  Dritten  hervor- 
gehen hess.  Wirklich  scheint  der  Satz  ist  entweder  B 
oder  ist  nicht  B"  die  Formehi  zu  vereinfachen.  Wir  aber 
wissen,  dass  alle  Urteile  nur  Tautologien  sind.  Wii-  können 
sie  also  alle  auf  die  Formel  ,A  ist  A"  zurückführen  und 
erkennen  in  dieser  Formel  sofort,  wie  bettelhaft  arm  die 
drei  obersten  Denkgesetze  sind. 

Der  Satz  der  Identität  will  die  Tautologie  ^A  ist  A'* 
durch  die  höhere  Weisheit  ,A  ist  immer  A"  begründen; 
er  iat  also  eine  Tautologie  in  zweiter  Potenz,  eine  Kinderei« 

Der  Satz  Tom  Widmprueh  Uingt  nach  etwas,  wenn 
man  ihn  besagen  lässt,  A  mttsse  entweder  B  sein,  oder  es 
sei  nicht  B.  Da  aber  alle  ürtefle  Tautologien  sind,  also 
schliesslich  ist  A*  lauten,  so  besagt  der  Satz  Tom  Wider- 
spruch, dass  A  immer  entweder  A  sei  oder  nicht  A.  Und 
denselben  tiefiunnigen  ünsmn  besagt  der  Satz  Yom  aus- 
geschlossenen Dritten* 

Laasen  wir  aber  die  bgischen  Kunststttcdce  und  anderen 
Spass  beiseite,  betrachten  wir  unser  Denken  oder  Sprechen 
auch  auf  dieser  Stufe  psychologisch,  so  werden  wir  freilich 
anstatt  oberster  Denkgesetze  nur  die  Ahnung  vorfinden, 
dass  das  Gefühl  der  Gewissheit,  das  wir  yon  Tielen  Dingen 
auf  der  Welt  haben,  dass  dieses  unser  Gefühl  subjektiver 
Ueberzeugung,  subjektiver  Sicherheit  einen  objektiven  Grund 
habe.  Diese  Ahnung,  diese  Sehnsucht  nach  objektiver  Ge* 
wissheit  ist  selbst  nicht  Kenntnis,  sondern  Glaube.  Das 
alleroberstc  Denkgesetz,  der  Satz  vom  zureichenden  Grunde, 
ist  ein  Glaubenssatz  und  darum  nicht  fassbarer  fUr  Vor- 


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UnmiUelbare  Bchiüase. 


379 


Stellung  und  Sprache  als  irgend  ein  anderer  Glaubenssatz. 
Die  eben  iti>iurten  drei  obersten  Denkgesetze  aber  sind 
wie  Fäden  eine»  Spiungewebes,  tauglich  zum  Eint'angcii  von 
Fliegen,  nichtssagend  oder  falsch,  wie  die  drei  alten  Be- 
weise für  das  Dasein  Gottes. 


y.  Die  Schlossfolgerung, 

ScUftsse  nennen  wir  eine  besondere  Art  von  Urteilen  ümiuei- 
oder  Sätzen.  Eigentlich  sollte  es  selbetTMet&ndlich  sein,  gcu^se. 
dass  wir  uns  nur  um  solche  Sätze  kflmmem,  von  deren 
Wahrheit  wir  Qberzeugt  nnd,  die  auf  richtige  Begriffe 
zurückgehen  und  dadurch  mit  unsem  Vorstellungen  Ton  der 
Wirklichkeit  übereinstimmen.  Einen  TJnterschied  in  diesen 
Sätzen  macht  nur:  die  psychologische  Herkunft  derüeber- 
Zeugung  Ton  ihrer  Wahrheit».  FOr  solche  Sätze,  deren 
Grundlage  noch  in  unserer  Vorstellung  gegenwärtig  ist,  die 
auf  unmittelbarer  Beobachtung  beruhen,  haben  wir  keinen 
besonderen  Namen;  die  unmittelbaren  Urteile  heissen  ein- 
fach Urteile.  Ist  uns  aber  die  Grundlage,  die  ursprüngliche 
Beobachtung  nicht  mehr  gegenwärtig,  muss  unsere  Erinne- 
rung mehr  oder  weniger  Haltepunkte  macheut  um  sich  auf 
die  Vorstellungen  zurUd^zubesinnen,  ist  also  unsere  subjek- 
tire  Ue.berzeugung  von  der  Wahrheit  eines  Satzes  nicht 
unmittelbar,  so  gelangen  wii*  zu  vermittelten  Sätzen  und 
diese  nennt  die  Logik  Schlüsse.  Alle  Schlüsse  sind  also 
mittelbare  Urteile,  und  da  scheint  es  mir  doch  eine  arge 
Konfusion,  dass  man  diese  mittt  Ibaren  Urteile  Avieder  in 
unmittelbar-rermittelte  und  in  mittelbar-vermittelte  einteilen 
will.  Der  gan/.«^  Unfer>obied  scbeint  mir  in  der  Zahl  der 
Stationen  zu  bestehen.  Die  geograjdiische  Lage  von  Berlin 
und  Potsdam  bleiljt  dieselbe,  ob  ich  den  Weg  im  Schnell- 
zug ohne  Aufenthalt  zurücklege  oder  oh  der  langsame  Lukiil- 
zug  einigemal  anhält.  Wer  langsam  denkt,  wer  ein  lang- 
sames (xedächtni«!  hat,  wird  dassell)e  Urteil,  das  ein  anderer 
uumiLLelbar  iuilt,  nur  mit  Hilfe  vuu  Puntpstationen  erreichen. 


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380 


V.  Die  Schlussfolgcrung. 


Wir  verstellen  also  unter  immittelbaren  Schlössen  diejenigen 
ürteüe,  die  psychologiscli  so  entstellen,  dass  das  GedÜchtnis 
entweder  gar  nicht  oder  doch  nicht  an  allen  Stationen  hält. 
Die  mittelbaren  Schlosse,  die  Syllogismen,  diese  Höhepunkte 
der  Logik,  erinnern  darum  auch  an  die  langweiligen  Bum- 
melzüge, die  nur  ftlr  Kinder  einen  Beiz  haben,  den  Beiz 
der  Verzögerung. 

Unter  den  unmittelbaren  Schlüssen  führt  die  Schullogik 
zuerst  diejenigen  auf,  die  unmittelbar  aus  Begriffen  herror- 
gehen  und  die  analytische  Schlüsse  heissen.  Ich  habe  Ober 
sie  nur  kurz  zu  sagen,  dass  sie  mit  meinen  wertlosen,  aprio- 
rischen, tautologischen  Urteilen  durchaus  zusammenfallen* 
Es  wird  da  immer  ron  einem  Begriff  etwas  ausgesagt,  was 
im  Begriff  mitrerstanden  worden  ist   Wenn  ein  Tisch- 
genosse zu  später  Stunde  die  Worte  lallen  würde  «Kise  ist 
ein  Kahrnngsmittel*,  so  wOrde  man  das  thtfrichtes  Ge- 
schwätz nennen  und  annehmen,  der  Freund  sei  seiner  Sinne 
nicht  mehr  mächtig;  dieselben  Worte  wären  aber  fllr  den 
Logiker  ein  musterhafter  analytischer  Schluss.  Nach  allem 
Yorherges^ten  braucht  hier  nur  daran  erinnert  zu  werden, 
dass  zwischen  analytischen  Schlüssen  und  analytischen  Ur- 
teilen gar  kein  Unterschied  aufzufinden  ist,  dass  ferner  alle 
analytischen  Urteile  zurückgehen  auf  ehemalige  synthetische 
Urteile,  das  heisst  auf  BeobachtuiijLren,  welche  seinerzeit  das 
Gedächtnis  oder  die  Sprache  bereidiert  haben.  Auch  Kant 
hätte  zugeben  müssen,  dass  seiru-  .Erläuterungsurteile"  in 
statu  nascendi,  beim  ersten  Erfassen,  «Erweiterungsurteilc" 
gewesen  waren.    Die  Summe  aller  solchen  einstigen  Beob* 
achtungen  ist  eben  Gedächtnis  oder  Sprache;  wer  auf  diesen 
Schatz  eine  Anweisunr^  nn<:stollt,  wer  ans  der  Sprache  heraus 
ein  analytisches  Urteil  fallt,  der  leistet  so  wenig  Denkarbeit, 
als  es  Bergmannsarbeit  ist,  ein  ererbtes  Goldstück  aus  dem 
Kasten  zu  holen. 

Ich  glaube  bestimmt,  dass  Locke  diesen  Mangel  an 
Gedankenarbeit  im  Auge  hatte,  als  er  für  analytische  Ur- 
teile einmal^  die  seltsame  Bezeichnung  «frirole  Sätze' 
wählte. 


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Folgening: 


381 


Die  übrigen  unmittelbaren  Schlüsse  werden  also  dar- 
nacb  so  b^umtf  dass  sie  nicht  ganze  Ketten  von  Urteilen 
bilden,  dass  sie  nicht  bei  jeder  Kreuzung  auf  dem  Wege 
anhalten,  sondern  als  beschleunigte  GednchtniszUgo  nur  Eine 
Station  kennen.  Ich  möchte  gern  weniger  bilderreich  reden; 
ich  mache  aber  darauf  aufmerksam,  duss  aucli  die  Er- 
klärung, der  unmittelbare  ScLluss  ^ei  eine  Ableitung  aus 
einem  einzelnen  Urteile,  nur  ein  Bild  ist,  noch  dazu  ein 
verblasstes,  unvorstellbares,  während  mein  Bild  von  den 
Stationen  vielleicht  im  Gehirn  eine  Analogie  besitzt.  Nur 
dass  alte  Bilder,  die  verblasst  und  unvorstellbar,  gespenster- 
haft geworden  sind,  eben  darum  schou  tUr  fertige  Gedanken 
gelten. 

Diese  unmittelbaren  Folgerungen  aus  einzelnen  Urteilen 
—  die  doch  für  uns  immer  noch  Tautologien,  wenn  auch 
verstecktere  Tautologien  sind  und  bleil)en  —  ^verden  von 
der  Schullogik  in  sieben  Gruppen  mit  sieben  liübx  hen  Namen 
eingeteilt.  Ich  will  au  dem  einfachsten  Beispiel  aus  der 
ersten  Gruppe  zeigen,  wie  sieh  die  liOgik  auch  mit  diesen 
Spielereien  selbst  belüuft  und  wie  auch  diese  unmittelbaren 
Folgerungen  zu  ]<einen  neuen  Urteilen  lüiii  en  können,  son- 
dern nur  die  alten  Begriffe,  wie  bei  jeder  Urteilsbildung, 
auseinanderlegen,  so  zwar,  dass  die  Aufmerksamkeit  auf  ein 
bestimmtes  Merkmal  den  Satz  bestimmt. 

Diese  erste  Gruppe  wird  unter  der  Bezeichnung  Kon-  Folgo- 
version  oder  Umkehrung  zusammengefasst.  Naih  ihrer 
Regel  soll  der  Logiker  in  der  Lage  sein,  jeden  allgemeinen 
Satz  mechanisch  in  den  entsprechenden  Partikularsatz  um- 
zukehren. Es  soll  z.  B.  aus  dem  Satz  „alle  Hunde  sind 
Tiere*  wa  folgern  sein:  «einige  Tiere  sind  Hunde".  Aus 
der  Wdsheit  Jeder  Ghesf^r  ist  einSüfie"  folge  die  Weis- 
heit «mancher  Ense  ist  ein  Cheeter*.  Selbstverständlich 
▼ende  leh  mich  nieht  gegen  diese  Thatsachen  oder  gegen 
ihre  sprachliche  Mitteilung,  sondern  nur  gegen  die  logische 
Anmassung,  die  den  zweiten  Satz  ans  dem  ersten  folgen  lüsst. 

Was  geht  denn  im  Gehirn  oder  im  Gedächtnis  bei  dieser 
unmittelbaren  Folgerung  eigentlich  Tor? 


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382 


V.  Die  Sohloasfolgenisg. 


In  Urzeiten  der  Sprache  ist  der  Begritf  oder  das  Wort 
.Tier"  geltildet  worden,  um  die  Menj^e  der  freibeweclichcn 
Orgauismeu  nuf  einmal  nngefulir  zu  bezeichnen.  Es  lu  int, 
dass  noch  zur  Zeit  der  Bibelniedersckrift  der  Begritt  „  l  ier" 
die  Vögel  und  Fische  nicht  niitumfasste.  Es  ist  gewiss,  dass 
heute  gerade  die  Fachh'ute  nicht  einig  darüber  sind,  ob  der 
Begriff  Tier  die  mikioskopischen  Protisten  mit  umfasse. 
Einerlei.  Für  den  Naturforscher  einerseits  wie  für  jedes 
Kind  anderseits  ist  das  Wort  .Tier"*  die  schwebende  Er- 
innerung an  etwas  Zapjdiges,  an  lebende  Wesen,  die  sich 
durch  gewisse  Merkmale  von  Pflanzen  und  von  Steiueu  unter- 
scheiden und  die  wieder  unter  sich  sehr  viele  verschiedene 
Namen  führen.  Das  Wort  Tier  hätte  gar  keinen  SiKii.  ^v;lre 
ein  leerer  Seli.iU,  wenn  es  nicht  mich  dvn  kinülicli>uu  K()})f 
au  Fische,  Vögel,  Riiider.  Katzen,  1 1  in  de  u.  s.  w.  erinnerte. 
Das  Wort  Tier  wäre  ein  leerer  Schall  t.hne  die  Erinnerung 
daran,  dass  einige  Tiere  Fische  sind,  andere  Vögel,  Rinder, 
Katzen,  Hunde  u.  s.  w.  Ein  Fachmann  wird  das  ganze 
System  des  Tierreichs  im  Kopfe  haben,  also  die  Erinnerung 
an  den  ganzen  Umfang  des  BegriffSs.  Ebenso  wird  jedes 
Kind,  sobald  seine  Aufiuei^samkeit  di^n  gelenkt  wird, 
«Tier*  die  Arten  mitdenken,  die  ihm  geläufig  sind. 

In  noch  tiefer  zurückliegenden  Urzeiten  der  Sprache 
ist  der  Begriff  und  das  Wort  Hund  gebildet  worden,  um 
gewisse  einander  ähnliche  Tiere  bequem  zusammen  bezeich- 
nen zu  können.  Auch  dieser  Bogriff  ist  schweb^d;  der 
Laie  wird  Ton  manchem  Vieh  im  zoologischen  Garten  ohne 
Belehrung  nicht  wissen,  ob  er  es  einen  Hund  nennen  solle 
oder  nicht;  und  der  Fachmann  dehnt  die  Familie  der  RAub- 
tiere,  die  er  Hunde  nennt,  wieder  weiter  aus,  z.  B.  auf  die 
Wölfe.  Einerlei.  Ein  jeder  denkt  sich  etwas  bei  Hund, 
und  dass  ein  Hund  ein  Tier  sei,  ist  ein  so  spottwohlfeiles 
Merkmal,  dass  man  f&r  gewöhnlich  gar  nicht  daran  denkt, 
seine  Aufmerksamkeit  gar  nicht  darauf  richtet 

Mir  kommt  es  nun  darauf  an,  durch  meine  Darstellung 
nicht  logisch  zu  beweisen,  sondern  fast  handgreiflich  zu 
zeigen,  dass  in  diesem  einfachen  Falle  —  ebenso  wie 


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Folgerung. 


883 


immer  —  rein  psychologische  Thfttigkeit,  Uoese  Erinnerung 
ist,  was  man  logische  Konsequenz  zu  nemen  liebt.  Kon- 
sequenz oder  Folgerung  ist  ja  auch  genau  betrachtet  nur 

ein  bildlicher  Ausdruck  von  der  Zeitfolge;  und  wie  die 
Menschheit  sich  gewöhnt  hat,  die  regelmässige  Zeitfolge 
Ton  zwei  Aenderungen  Ursache  und  Wirkung  zu  nennen^ 
so  möchte  sie  auch  gern  die  regelmässige  Zeitfolge  von 
Begriffen  in  Grund  und  Folgerung  zerlegen.  Nur  dnss 
Ursache  und  Wirkung  wenigstens  Korrelatbegriöe  siud, 
Schluss  und  Folge  aber  eigentlich  Synnnvme.  Nur  dass  die 
Regelmässigkeit  von  Ursache  und  Wirkung:  /war  nicht  in 
ihrem  Wesen  erkannt,  aber  doch  zur  llersteiluDg  von  Neuem 
nutzbar  gema('ht  werden  kann,  die  angenommene  Regel- 
mässigkeit von  Grund  und  Folgerung  aber  ein  nutzloses 
Spiel  bleibt,  identisch  mit  dem,  was  die  PsycholoLnr  (i  - 
dankenassociation  nennt.  Wir  denken  uns  die  Beg  itlt  in 
un-t  i.  iu  Gehirn  aktiv  und  gebrauchen  dann  das  ]iiM,  ein 
Sat/-  iolge  aus  dorn  nndern:  dann  wieder  denken  wir  uns 
die  Begrifl'e  pHS';i\  und  irgend  eine  Seele  iu  uns  aktiv  und 
gebrauchen  das  Bild:  ich  folgere  einen  Satz  aus  dem  an- 
dern. Als  ob  ein  Bauer  sagte:  Ich  zeitige  mein  Korn. 
In  Wirklichkeit  ist  es  das  vom  Interesse  geleitete  Spiel 
der  Erinnerung,  welches  —  entgegen  der  strengen  Zeit- 
folge von  Ursache  und  Wirkung  —  ebenso  gut  vorwilits 
wie  rückwärts  gehen  kann.  Die  Erinnerung  oder  Ge- 
dunkenassociation  rtlhrt  vom  BegritVc  «iluiKl**  so  leicht 
und  arbeitslos  auf  den  Satz  -der  Ilund  ist  ein  Tier*,  wie 
das  Auge  den  1  iucliLUUüUüi  einer  Wiese  und  ihre  grilne 
Farbe  zugleich  wahrnimmt;  die  Arbeit  dabei  ist  so  gering, 
dass  ein  Kind  von  anderthalb  Jahren,  wenn  es  erst  das  Er- 
innerungszeichen Wau-wau  hat,  sie  schon  leistet  und  z.  B. 
(nach  meiner  eigenen  Beobachtung)  beim  ersten  Anblick 
einer  Henne  wmi'Wau  sagt,  womit  es  etwa  ausdrücken  will: 
Da  ist  auch  etwas  Zappliges. 

Wieder  kt  es  nur  Srinncoimg,  Besinnung  auf  den 
Umfang  des  Begriffs,  wenn  ich  bei  «Tier*  zu  dem  Satze 
komme,  „einige  Tiere  sind  Hunde*.  Ja,  der  Beii^ff  »Tier* 


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384 


Y,  Die  SciüuMfolgerung. 


ist  fast  so  unvorstellbar  wie  nur  der  Bei^^rift'  ^ Etwas",  wenu 
ich  dabei  nicht  an  irgend  welche  Tierarten  denke.  Selbst 
im  wissenschaftlichen  abstrakten  Gebrauch  solcher  Worte 
▼erlasse  ich  mich  stillschweigend  darauf,  dass  ich  sie  jeden 
Augenblick  realisieren,  mit  Beispielen  belegen,  auf  Vor- 
stellungen zurückführen  kann.  Es  hängt  vom  augenblick- 
lich«! Interesse,  Ton  meiner  Aufmerksamkeit  ab,  ob  ich  zu 
dem  Begriff  Tier  jetit  das  Beispiel  Hund  oder  Fisch  denke. 
Alle  dieM  hundert  paHakularen  Urteile  kum  dk  Erimierung 
aus  dem  Sammelbegriff  Tier  wieder  herausziehen «  je  nach 
meiner  Aufmerksamkeit.  Es  ist  gar  nicht  notwmdig,  dass 
der  allgemeine  Satz  »jeder  Hund  ist  ein  Tier'  Torangegangen 
ist,  um  zu  dem  Partikularsatz  »manches  Tier  ist  ein  Hund* 
zu  gelangen.  Nur  unsere  Aufmerksamkeit  wurde  durch 
den  allgemeinen  Satz  «jeder  Hund  ist  ein  Tier*  auf  die 
Hunde  gelenkt;  das  aber  hatte  das  Wort  Hund  allein  ebenso 
gut  besorgt. 

TniMit  Alle  diese  logischen  Konstruktionen,  diese  Baugeittote 
jmfang  Lufbchljtesem,  w&ren  nicht  mOglich  gewesen,  wenn  die 
Logik  nicht  die  Worte  oder  Begriffe  zu  ihren  Zwecken  in 
Inhalt  und  Umfang  auseinandergespalten  hätte.  Die  natür- 
lichen Erinnerungszeichen  kennen  diesen  künstlichen  Unter- 
schied gar  nicht.  Die  Worte  unserer  Sprache  erinnern  zu- 
gleich an  die  Einzeldinge  und  an  die  allgemeinen  Merkmale. 
Es  ist  nur  Bequemlichkeit  oder  Uebung,  wenn  bald  der 
Umfang,  bald  der  Inhalt  nicht  Uber  die  Sdhwelle  des  Be- 
wusstseins  tritt,  was  doch  nur  wieder  ein  hübscher  bildlicher 
Ausdruck  ist.  Genau  so,  wie  unser  Qehim  mit  seinem 
ganzen  bewussten  Denken  augenblicklich  tot  wäre,  wenn 
die  unbewussten  Thätigkeiten  der  Atmung  oder  des  Blut- 
kreislaufs aufhörten,  so  wäre  unsere  ganze  Sprache  augen- 
blicklich leblos,  eine  sinnlose  Lufterschütterung,  wenn  hinter 
dem  Inhalt  der  Worte  nicht  ihr  Umfang,  die  Einzelvorstel- 
lungen, bereit  wären.  Darum  sind  auch  die  philosophischen 
Abstraktionen  so  leer,  die  den  Zusammenhang  mit  der 
Sinnenwelt  verloren  liaV)en.  Ich  gebrauche  nicht  gern  Sym- 
bole aus  der  griechischen  Mythologie.  Aber  ein  prächtiges 


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Kretibüder  der  Logik. 


885 


Symbol  fUr  echtes  Denken  ist  der  Riese  Antäos,  der  un- 
überwindliche Kraft  immer  wieder  fmch  aus  der  Berührung 
mit  der  Mutter  Erde  schöpfte;  hatte  er  erst  den  Zusammen- 
hang mit  der  Erdeuwelt  verloren,  hing  er  ei^t  in  der  Luft, 
dann  brauchte  man  kein  Herkules  zu  sein,  um  ihn  zu  er- 
würgen. Die  Herkulesarbeit  bestand  in  der  Kraft,  ihn  frei 
in  die  Luft  zu  hängen. 

Dieses  Gleiten  oder  Springen  (je  nach  der  Geschwindig- 
keit! des  Ge'rächtnisses  von  Einzelerinnerungen  zu  ihren 
Zeichen  und  umgekehii  macht  unser  gesamtes  Denken  aus; 
die  Logik  hat  die  Notwendigkeit  des  GedUchtnisses .  sich 
unbedingt  innerhalb  seiner  erworl)enen  Vorstellungen  zu 
drehen,  hat  diesen  Zwang  zu  unabwendbarer  Tautologie  die 
Gesetze  des  Denkens,  insbesondere  Gesetze  des  Schlii  -srns 
genannt,  wie  ja  auch  die  Figuren  der  Tänze  besondere 
Namen  haben.  Weil  man  von  Gesetzen  sprach,  sollten  sie 
auch  )>M\vipsen  werden;  und  hier  scheint  mir  die  Stelle,  um 
die  i  olUu  ii.  aufzuzeigen,  die  darin  liegt,  sogenaimte  Denk- 
gesetze durch  geometrische  Figuren  (  jetzt  gewöhnlich  durch 
ineinnn  1  lujtschachtelte  Kreise)  beweisen  zu  wollen.  Ich 
beraei  ke  gleicli ,  dass  diese  Unsitte  noch  keine  öUO  Jahre 
alt  ist;  wahrscheinlich  rührt  sie  von  dem  witzigen  Possen- 
dichter Chri.stian  Weise  her,  der  als  tüchtiger  Schulmann 
seinen  Knaben  die  Logik  durch  Geometrie  einbläuen  wollte, 
wie  Rhetorik  durch  seine  Possen. 

Bezüglich  der  Beweise  für  seine  Schlussregeln  befand  Kreis- 
sith Aristoteles  noch  im  Stande  der  Unschuld;  bald  sah  er  ^^l^*^^ 

iicr 

das  Selhstverstiindliche .  vielleicht  also  auch  die  Unbeweis-  Logik 
barkeit  seiner  Schlüsse  ein  und  suchte  nach  gar  keinem 
Beweise,  bald  mühte  er  sich,  die  verwickelte  Selbstverständ- 
lichkeit auf  die  einfache  zurückzuführen.  Im  Laufe  der  Jahr- 
hunderte aber  sahen  die  Logiker  immer  deutlicher,  dass  die 
Folgerung  in  ihrem  Grunde  immer  schon  enthalten  sei. 
Es  ist  ja  klar,  dass  der  Begriff  mit  seiner  Definition  iden- 
tisch ist,  und  ebenso  identisch  mit  der  Summe  der  Einzel- 
Torstellungen,  an  die  er  als  ihr  Zeichen  erinnert.  Im  Begrifif 

«Hund*  steckt  sowohl  jede  Einzelrorstellung  «Hund*,  die 
N*iithn«r,  BeltTige  ta  elaw  Krittk  der  SpvMh«.  ID.  25 


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386 


Y.  Die  SchliMsfolgeniiig. 


wir  gehabt  haben,  als  jedes  seiner  DeHnitionsrnerkmale,  wie 
Tier,  vierfiissig  u.  s.  w.  Logisch  ausgedrückt:  jeder  Begriff 
enthält  sowohl  seinen  Umfaug,  als  seinen  Inhalt.  , Ent- 
halten**, ^ilarinstecken*  sind  nun  bildliche  Ausdrücke,  für 
die  Wahrheit,  dass  unser  gesamtes  Denken  oder  Sprechen 
mit  unseni  Begritleu  oder  Worten  schon  gegeben  sei,  dass 
wir  mit  allem  Schliessen  nicht  über  die  Eiimierung  ßn  unsere 
Sinneseindrücke  und  Vorstellungen  herauskommen.  Zu  dieser 
Wahrheit  aber  gelangten  die  Logiker  nicht.  Wie  die  mensch- 
liche Sprache  Überhaupt  dazu  neigt  oder  vielmehr  darin  be- 
steht, Bilder  durch  alltäglichen  Gebraucli  ihres  Sinns  zu 
berauben  und  sie  dann,  wenn  die  Metapher  ihr  Salz  ver- 
loren  hat  und  dumm  geworden  ist,  lür  Gedanken  zu  halten, 


80  verloren  die  Logiker  nach  einher  2eit  das  Bewussteein 
davon ,  dass  ihre  l^eislinien  nur  bildliche  Eselsbrttcken  ibr 
denkfaule  SchtQer  waren.  Sie  xeichneten  2.  B.  einen  grossen 
Kreis,  der  dem  Begri£f  .Tier*  entsprecihai  sollte;  hinein 
seicbneten  sie  einen  kleineren  Kreis,  der  den  Begriff  «Hund* 
umschrieb  (Fig.  I).  Es  ist  nichts  zu  sagen,  wenn  so  das 
sprachlidie  Bild  für  Dummköpfe  anscbaulidier  gemacht 
wurde.  Man  konnte  dann  z.  B.  daneben  den  Kreis  «Kaise* 
Betzen,  der  ebenfalls  im  B^riff  »Tier*  enthalten  war,  aber 
mit  dem  Begriff  «Hund*  ausser  dem  Tierbegriff  niehts  Gk- 
meinsames  hatte.  So  konnte  und  kann  man  noch  viele 
Begri&verhSltnisse  bildlich  anschaulich  machen.  Aber  was 
in  aller  Welt  hat  das  Gedächtnis,  welches  in  einem  Wort 


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KrdibOder  4er  Logik. 


387 


EinzelermneruDgen  festhält,  ausserbildlich,  wirklich  mit 
Kreisfiguren  zu  schaffen?  Was  hofft  man  mit  einer  Metapher 
zu  beweisen?  Wenn  ich  metaphorisch  sage,  der  Müssiggaag 
sei  der  Vater  aller  Laster,  und  ebenso  metaphorisch  hinzu- 
füge, alle  Laster  seien  Kinder  der  Erbsünde,  kann  ich  dann 
ernsthaft  und  unbildlich  damit  beweisen,  dass  der  MOssig- 
gang  ein  realer  Mann,  die  ErbsUnde  ein  reales  Weib  sei, 
und  dass  der  Müssigf^ang  bei  der  Erbsünde  geschlafen  habe? 
Nichts  lässt  sich  aus  einem  Bilde  für  die  Wirklichkeit  be- 
wp'i'^^n.  weniger  als  nichts  aus  einem  sclilechten  Bilde.  Und 
die  KKmsr  sind  schlechte  Hildor  der  Begritt'e ,  well  sie  nur 
die  eine  JSeite  der  Begritfsveraultnisse  darstellen.  Wir  wissen, 
dass  in  unserem  Gehirn  nichts  eingeschachtelt  ist,  dass  viel- 
mehr unser  Gedächtnis  ganz  ungeometrisch  von  der  Einzel- 
erinnerung 80  gut  zum  allgemeinen  Merkmal  L^leiten  oder 
springen  kann  wie  umgekehrt.  Wir  mögen  diese  Thatsache 
in  unserer  allezeit  bildlichen  Sprache  gut  und  gern  so  dar- 
stellen, dass  der  Begrift'  Tier  den  Begriff  Hund  .enthalte''; 
dann  «enthält"  aber  der  Begriff  Hund  auch  den  Begriff'  Tier, 
in  seiner  Definition  nämlich  und  wir  müssen  das  ebenfalls 
in  Kreisfiguren  darstellen  kömieu.  Diese  bildliche  Dar- 
stellung (Fig.  11)  wäre  ebenso  richtig  wie  die  an  lere,  weun 
unsere  Aufmerksamkeit  auf  den  Begriffsinhalt  allein  gerichtet 
wäre.  Ich  gestehe  zu,  dass  die  Ausführung  des  Bildes  nicht 
so  bequem  wäre  wie  die  andere,  dass  sie  nicht  üblich  ist; 
aber  der  häufige  Gebrauch  eines  Bildes,  die  Konvention, 
fügt  es  noch  nicht  in  die  Kette  der  Wirklichkeit  ein,  macht 
es  uüch  nicht  l)eweiskräftig. 

Man  hat,  um  den  Gebrauch  der  Kreisbildcr  in  der 
Logik  zu  entschuldigen ,  auf  die  Geometrie  hingewiesen, 
höchst  thörichterweise.  Denn  in  der  Geometrie  sind  die 
beigegebenen  Zeichnungen,  die  Bilder,  die  Figuren  eben  ja 
nicht  Metaphern,  sondern  —  weil  es  sich  um  Figuren 
handelt  —  IHnzelfälle,  Beispiele  der  Begriffe,  genau  so,  wie 
wir  ftlr  unsere  Begriffe  verlangen,  dass  sie  sich  in  Einzet-* 
Torstellungen,  in  Beispielen  realisieren  lassen,  genau  so  wie 
ein  lebendiger  Pudel  ein  Beispiel        «Hund*  ist.  Die 


388 


V.  Die  Schlttaafolgerosg. 


Krt'isfiguren  in  der  Loy^ik  aber  sind  gerade  im  Gegenteil 
dazu  reine  Metaj)Liern,  Schülerbehelfe,  Spielzeug,  Bilder  vou 
Sprachbildcrii,  Schattou  eines  Lufthauchs.  Niemais  können 
sie  etwas  beweisen. 

Einzelne  Nachdem  ich  allgemein  dargethaii  habe,  dass  die 
"^r*^*  unmittelbar- vermittelten  Sätze,  die  S(  hlüsse  aus  Einzel- 
SoUtiM.  urteilen,  das  isit  die  sogenannten  uiuiuttelbaren  Selililssc 
dun  haus  nicht  F(dgerungen.  nicht  ein  Erschliessen  von  Un- 
bekanntem aus  Bekanntem  sind ,  wird  es  wohl  übei'flüssig 
seiu,  die  logische  Einteilung  der  unmittelbaren  Schlüsse  in 
sieben  Unterarten  einzeln  und  besonders  zu  kritisieren.  Nur 
an  wenigen  Beispielen  möchte  ich  immer  wieder  zeigen, 
dass  alle  Schlüsse  versteckte  Tautologien  sind  und  dass  das 
sogenvmte  Schliessen  niemals  etwas  Anderes  ist,  als  eine 
Aenderung  des  Blickpunkts  der  Erinnerung,  ein  Weelisel 
der  Anfmerksamkeifc,  daas  das  Denken  ohne  Gnade  an  der 
Sprache  und  ihren  Begriffen  haftet. 

Bei  der  Lehre  von  der  Umkehrimg  der  Urteile  lehren 
die  Logiker  z.  B.,  dass  sieh  aus  partikular  yemeinenden  Ur- 
teilen („einige  Hunde  sind  nicht  weiss")  gar  nichts  er- 
schliessen lasse.  Das  wird  mit  Hilfe  von  Kreisfiguren  sehr 
hübsch  bewiesen,  ist  aber  nicht  wahr.  Fflr  gewöhnlich  frei- 
lich handelt  es  sich  um  klare  Subjekte  und  um  unwesent^ 
liehe  P^dikate  derselben.  Wir  wissen  alle  ungeföhr,  was 
wir  ims  unter  ,»Hund*  vorstellen,  wir  wissen  femer,  daas 
„weiss*  ein  Zufallsprädikat  ist  Dann  richten  wir  auf  die 
Farbe  der  Hunde  unsere  Aufmerksamkeit  nicht,  wir  ver- 
suchen gar  nicht  vom  Prädikate  auszugehen  und  darum 
folgern  wir  nichts  aus  der  Umkehrung.  Die  Sache  wird 
aber  sofort  anders,  wenn  wir  einander  Uber  die  Bedeutung 
der  Begriffe  belehren  wollen.  Aus  dem  Satze  »einige 
Wasserbewohner  sind  nicht  Fische*  ergibt  sich  sodann  der 
Satz  «die  Begriffe  Fisch  und  Wasserbewohner  sind  nicht 
identisch",  was  unter  Umständen  ebenso  wertvoll  sein  kann 
wie  andere  logische  Schlüsse.  Ueber  diese  billige  Weisheit, 


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Einsebe  munittelbar«  Schlaue. 


389 


die  nichts  nU  eine  Worterklärung  ist,  mag  lächeln,  wer  auf 
meinem  Staiuliuiukt  steht:  «ler  Logiker  aber  müsste  diesen 
meinen  Schiuss  in  sfin* m  System  unterzubringen  suchen. 

Die  LoEfikt'f  reiten  minier  noch  ihr  altes  dictum  de 
omni  et  nnlio,  «len  Satz  nämlich,  (hiss  z.  B.  nus  _alle  Hunde 
sind  TitTf"  üu  folgern  sei  .einige  Hunde  sind  Tiere"  ;  und 
ebenso  aus  „einige  Tiere  biiul  nicht  Hunde"  die  Unwahrheit 
des  Satzes  »alle  Tiere  sind  Hunde".  Nun  kann  es  ja  vor- 
kommen, dass  in  sophistischen  Streitigkeiten  die  Aufmerk- 
samkeit auf  solche  Kindereien  gelenkt  wird;  aber  in  seiner 
Allgemeinheit  ist  das  berülimte  Dictum  doch  ärmlich,  weil  es 
doch  nur  feierlich  das  ABC  der  Begriffsbildung  wiedergibt. 

Die  Logiker  kennen  immer  noch  eine  Aequipullenz, 
das  heisst  die  sachhche  Uebereinstimraung  zweier  Urteile, 
die  sprachlich  verschieden  sind;  die  Logiker  schlies  tu  also 
aus  dem  Satze  -jeder  Hund  ist  ein  Tier"  die  Neuigkeit  ,es 
gibt  keinen  Hund,  der  nicht  ein  Tier  wäre".  Hier  hat  schon 
Kant  bemerkt,  dass  ein  Fortschreiten  im  Denken  nicht  statt- 
finde, dass  man  also  die  Aequipollenz  keinen  Schiuss  nennen 
dürfe. 

Endlich  kennen  die  Logiker  muh  ein  üngetOm  von 
Schiuss f  die  modale  Konsequenz.  Es  ist  undankbar, 
diesen  Sati  suent  in  eine  Ternflnffcige  Form  su  bringen,  um 
naeblier  seine  UnTemunfb  zu  beweisen.  Han  sagte  frUher: 
,ab  operiere  ad  esse,  ab  esse  ad  posse  valet  consequratia; 
a  posse  ad  esse,  ab  esse  ad  oportere  non  yalet  consequentia.* 
Wenn  etwas  notwendig  ist,  so  wird  es  auch  wirldich,  that- 
sächlich  sein,  wenn  es  wirklich  ist,  wird  es  auch  möglich 
sein;  und  wenn  etwas  nicht  möglich  ist,  wird  es  auch  nicht 
wirklich  sein,  wenn  nicht  wirklich,  auch  nicht  notwendig.. 
Ich  mache  darauf  aufoierksam,  dass  die  Begriffe  Notwendig- 
keit, Thats&chlichkeit  und  Möglichkeit  nur  Grade  unserer 
UeberzeuguQg,  unserer  subjektiven  Gewissheit  aussprechen, 
dass  sie  also  in  die  SchuUogik,  wenn  sie  logisch  wftre,  gar 
nicht  hineingehorten.  In  dem  logischen  Gebäude  unseres 
Denkens  dürfte  nur  für  die  Notwendigkeit  ein  Plata  sein, 
nicht  aber  für  die  Möglichkeit,  also  auch  nicht  für  not- 


390 


y.  Die  Schlussfolgerung. 


wendige  Schlüsse  «ob  der  Möglichkeit.  IHe  Logik  ab«*  hat 
recht,  wo  sie  unlogisch  ist;  unser  Denken  ist  nur  notwendig, 
soweit  es  tautologisch  ist,  unsere  Üeberzeugung  aber  von 
dem  Eintreffen  eines  neuen  Ereignisses  hat  immer  nur 
Wahrscheinlichkeit  für  sich;  den  höchsten  Grad  der  Wahr- 
scheinlichkeit nennen  wir  —  auf  die  Hypothese  der  Kau- 
saliföt  gestutzt  —  Notwendigkeit,  die  geringeren  Qrade 
nennen  wir  MtSglichkeit.  Schluss  aber  Ton  dem  höheren 
Grad  auf  den  niedem,  Ton  dem  Mangel  des  niedem  Grades 
auf  die  Unwahrheit  des  höhem,  dieser  Schluss  ist  so  arm- 
selig wie  die  andern  unmittelbaren  Schlösse.  Man  hat 
thörichterweise  eine  neue  Art  geschaffen,  weil  es  sich  um 
den  TORBwicktett  Begriff  der  Möglichkeit  handelte.  Aus  der 
Notwendigkeit  geht  aber  die  Möglichkeit  nicht  anders  herror, 
tüs  aus  dem  Satase  «jeder  Hund  ist  ein  Tier*  der  Sats 
»mancher  Hund  ist  ein  Tier".  In  der  Notwendigkeit  steckt 
die  Möglichkeit  wie  in  der  grossen  od«*  gar  in  der  unend- 
lichen Zähl  die  kleinere;  und  wirklich  drückt  man  ja  den 
Grad  der  Wahrscheinlichkeit  durch  Zahlen  ans.  Wobei 
nicht  m  Übersehen,  dass  Wahrscheinlichkeitsrechnung  nur 
für  die  Rechnung  etwas  lehrt,  fttr  den  Einzelfall  jedoch  im 
ganz  klaren  Kopfe  nicht  einmal  die  Erwartung  erregt,  son- 
dern nur  den  Wunsch.  Man  wird  auf  den  Exponenten  der 
Mü<:fliclikeit  nur  aufmerksam. 

Nun  aber  haben  die  Logiker  zwiscben  die  Notwendig- 
keit und  die  Möglichkeit  noch  einen  Mittelbegriif  gesteckt, 
die  Wirklichkeit  oder  Thatsüchlichkeit,  was  in  der  lateini- 
schen Form  ganz  Terzweifelt  schulgemäss  mit  dem  leersten 
aller  Begriffe,  mit  «Sein''  wiedergegeben  wird.  Wir  wollen 
also  den  Satz  meinetwegen  so  ausdrücken:  es  folgt  aus  der 
Gültigkeit  des  apodiktischen  Urteils  die  des  assertorischen, 
aus  der  Gültigkeit  des  assertorischen  Urteils  die  des  proble- 
matischen. Das  apodiktische  Urteil  behauptet  seine  Not* 
wendigkeit,  das  problematische  Urteil  behauptet  nur  seine 
Möglichkeit;  das  ist  klar.  Was  aber  behauptet  das  asser- 
torischo  Urtrilr'  Es  behauptet  eben,  es  spricht  eine  Be- 
hauptung aus  i  es  ist  also  ein  leeres  Gerede,  es  ist  erschütterte 


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SjllogyBmeiL 


891 


Luft,  so  lange  es  nicht  auf  den  Grad  seiner  Wahrscheinlieh- 
keit  geprüft  worden  ist,  so  lange  es  nicht  als  notwendig  oder 
als  möglich  empfunden  worden  ist. 

Es  wäre  eine  feine  Aufgabe  für  die  Historiker  der 
Philosophie,  zu  zeigen,  wie  der  Schhiss  aus  der  modalen 
Konsequenz  in  die  Logik  überimupt  hineingekommen  ist. 
Man  müsste  wieder  auf  Aristoteles  zurtkkgehen,  der  sich 
nach  seiner  verhältnismässigen  Unschuld  in  der  Notwendig- 
keit wohl  eine  Art  Lxottheit  dachte,  die  über  der  Wirk- 
lichkeit steht  und  die  in  ihrem  freien  Willen  überlegt,  ob 
sie  ja  oder  nein  sagen  wolle,  ob  sie  sich  zur  Wirklichkeit, 
zur  I'xisLluz  herablassen  wolle.  Es  wird  schon  so  sein; 
und  Ulis  diesem  Herablassen ,  diesem  Tiefersteigen  der  er- 
habenen Notwendigkeit  zur  gemeineu  Wirklichkeit  ergab 
sich  dann  —  wenn  einem  der  Verstand  auch  dabei  stille 
steht  —  die  Unterordnung  der  Existenz,  des  Weltganzen 
unter  die  Notwendigkeit,  die  doch  nur  ein  menschlicher  Be- 
griff ist,  —  ergab  »eh  die  Aufstellung  des  assertorischen 
üitdk,  der  gaffenden  Behauptung,  iwiaehtti  ^e  Xotwendig- 
keit  und  die  HOglicUceit.  Ünd  das  haben  die  Logiker  (bis 
auf  Schuppe)  nachgesprochen.  Wir  aber  wissen,  dass  Kot- 
wendigkeit  und  HdgUchkeit  nur  Abstraktioinen  sind  für  die 
WahrscheinHehkeit  unserer  Behauptungen,  unserer  « asser- 
torischen Urteile*  (um  das  dumme  Wort  zu  wiederholen), 
dass  unsere  Behauptungen  aber  nur  die  zusammenfassenden 
Erinnerungen  sind  an  unsere  SinneseindrQcke,  unser  Ge- 
dftchtms  der  Wirklichkeit 

Wir  sind  nun  so  weit  gelangt,  dass  wir  auch  ohne  SyUogift- 
nShere  Untersuchung  schon  wissen  mfissen,  es  werde  der 
Syllogismus  oder  der  logische  Schluss  ebenso  wenig  jemals 
unsere  Erkenntnis  weiter  fllhren  als  das  Urteil  es  veimochte. 
Die  alte  YonteUung,  dass  die  Begrüfe  durch  ihre  Yer^ 
gleichung  au  der  höheren  Weisheit  der  Urteile  ausammen- 
treten,  ist  fitr  uns  nicht  mehr  vorhanden.  Wir  haben  er^ 
fahren,  dass  nicht  das  Urteil  durch  die  Begriffe  deutlich 


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392 


V.  Die  Sclilutixifolgeraiig. 


gemacht  weMe,  sondern  der  Begriff  durch  das  Urteil.  Steckt 
aber  im  Urteil  nicht  mdur  Erkenntnisstoff  als  im  Begriffe 
selbst,  sa  kann  der  Sdiluss  aus  Urteilen  nicht  mehr  heraus 
folgern,  als  aus  Begriffen.  Es  wird  also  wohl  auch  die 
Schlussfolgerung  nichts  anderes  sein  als  eine  noch  brei- 
tere Auseinanderlegang  der  Begriffe  od^  Worte,  wobei  keine 
neue  Erkenntnis  entstehen  kann. 

Seit  Stuart  Mill  kann  diese  Unfruchtbarkeit  der  Schlösse 
als  bewiesen  angenommen  werden,  aber  die  Schullogik 
klammert  sich  immer  noch  an  die  alten  Lehren  und  sucht 
sie  durch  neue  Konstruktionett  au  retten.  Man  gibt  seit 
Trendelenburg  die  formale  Logik  preis,  das  heisst  diejenige 
Logik,  die  zugestandenermassen  die  Brücke  zwischen  sich 
und  der  WirUichkeit  abgebrochen  hat,  und  versucht  die 
sogenannten  Gesetze  der  Logik  wieder  mit  den  Gesetzen 
der  Wirklichkeitswelt  in  Verbindung  zu  bringen.  Es  wieder- 
holt sich  also  hier  auf  der  Höbe  der  logischen  Arbeits- 
leistung, was  wir  schon  in  den  Niederungen  beobachtet 
liulnn.  Die  grosse  und  unumgängliche  Hypothese  des 
Waltens  von  Ursache  und  Wirkung  in  der  Natur  wird  mit 
dem  mangelhatten  sprachlichen  Bilde  von  einem  Grunde  und 
dner  Folge  gleichgesetzt,  es  wird  der  Folge  aus  dem  Grunde 
die  gleiche  Notwendigkeit  zugesprochen  wie  der  Wirkung 
aus  der  Ursache  und  die  N&tzUchkeit  der  Syllogismen  scheint 
erwiesen. 

Nun  gibt  die  neuere  Schullogik  bereits  unumwunden 

zu,  dass  in  den  meisten  Schlussfol;;erun^en  unseres  Denkens 
kein  Vorwärtsschreiten  sondern  vielmehr  bloss  eine  Art  Rück- 
wärtiischauen  gegeben  sei.  Das  beliebteste  Beispiel  für  dieses 
Zugeständnis  pflegt  aus  den  Sätzen  über  unser  Planetensystem 
genoninien  zu  werden. 

Wir  raaclien  also  l"ol(j;enile  Schlussfolgerung': 

AUe  Planeten  sind  an  dea  Polen  abgeplattet, 

Der  Mars  ist  ein  Planet, 


also:  der  Mars  ist  an  den  Polen  abgtjdattet. 
Das  ist  ein  tadelloser  Syllogismus.   Aber  es  ist  dabei 


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Wertlosigkeit  de«  Sciüieweii». 


393 


souneuklar,  dass  wir  zu  dur  Ikdiauptiiug,  ^ullc  Planeten 
seien  abgeplattet",  wenn  sie  mehr  als  eine  Vermutung  sein 
soll,  erst  durch  die  besondere  Beobachtung  gelangt  sein 
können,  dass  auch  der  Mars  an  den  Polen  abgeplattet  sei. 
In  allen  solchen  FäUen  ist  es  jedem  Kinde  begreiflich  zu 
machen,  dass  die  Schlussfolgerung  in  unserem  Denken  fiilher 
Toxiiaaden  gewesen  sdn  müsse,  als  der  Obersats,  aus  dem 
wir  sie  nachher  herausziehen.  £8  ist  zweifellos,  wie  wir 
ja  schon  bei  froheren  Gelegenheiten  sahen,  dass  die  Folge 
froher  da  war  als  der  Grund,  dass  das  Bild  Ton  der  Zeit- 
folge hergenommen  also  ein  verkehrtes  Bild  sei,  dass  end- 
lich die  Gleichsetomg  Ton  Kausalit&t  (Ursache  und  Wirkung) 
und  Schliessen  (Grund  und  Folge)  eine  Sinnlosigkeit  be- 
hauptet. Wir  können  nur  wiederholen:  durch  das  sogenannte 
Schliessen  wird  nichts  neues  erschlossen. 

Noch  deutlicher  wo  mOfflich  wird  die  WerÜosiffkeit  ^'«r^- 
eines  solchen  formalen  Schliessens,  wenn  wir  bemerken,  dass 
es  uns  doch  eigentlich  bei  allen  solchen  Denkoperationen  Bchues- 
um  Wahrheit  zu  thun  sei,  das  heisst  um  die  Ueberein- 
Stimmung  unseres  Denkens  oder  unserer  Sprache  mit  der 
Wirklichkeitswelt.  Dann  fallt  uns  ein,  dass  nicht  nur  die 
Wahrheit  des  Satzes  «alle  Planeten  seien  abgeplattet*^  un- 
möglich sei  Tor  den  Einzelwahrheiten  .jeder  Planet  ist  ab- 
geplattet", sondern  dass  s<^r  das  Wort  oder  der  Begriff 
Phinet  erst  durch  solche  £inzelbeobachiungen  gewachsen 
sei  und  dass  f&r  unsere  gegenwärtige  Welterkenntnis  oder 
unseren  gegenwi&rtigen  Sprachschatz  die  Abplattung  bereits 
zum  Begriff  Planet  gehöre.  Wir  erkennen  daraus,  dass  der 
Schlusssatz  „der  Mars  ist  abgeplattet"  nicht  nur  bereits  in 
der  Prämisse  „jeder  Planet  ist  abgeplattet"  enthalten  sei, 
sondern  auch  schon  in  dem  Worte  Planet  allein  und  in 
dem  Worte  Mars  allein.  Wer  sich  bei  Planet  oder  bei 
Mars  die  Abplattung  nicht  mit  vorstellt  (sobald  seine  Auf- 
merksamkeit darauf  gerichtet  ist),  der  hat  das  Wort  Planet 
oder  Mai*s  noch  gar  nicht  in  seinem  Sprachschatz.  Mein 
•  Kerl  im  Wirt^baiis  braucht  keine  astronomische  Bildung  zu 
besitzen  und  für  ihn  wird  der  eben  vorgenommene  Syllo- 


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894 


V.  Die  Schlussfolgenuig. 


gismus  gewiss  eiae  Neuifi^ü  enthalten,  eine  Veimehrung 
seiner  Erkenntnis.  Aber  diese  Termehrung  verduikt  er  ja 
nicht  don  Syllogismus  sondern  der  Mitteilung  einer  ihm 
fremden  Beobachtung.  Die  Erkenntnisrermehrong  besteht 
in  der  Mitteilung,  dass  der  Mars  an  den  Polen  abgeplattet 
sei.  Weiss  der  Kerl  von  der  Volksschule  her,  dass  die  Erde 
ein  Planet  und  an  den  Polen  abgeplattet  ist;  eifUirt  or  nun, 
dass  Neptun,  Uranus  u.  s.  w*  ebenfalls  Planeten  und  ab- 
geplattet seien,  so  wird  er  allerdings  su  dem  susanunen- 
fassenden  Begriffe  kommen  (was  man  eine  Induktion  nennt): 
Komisch,  alle  Planeten  sind  ja  abgeplattet!  Er  wird  sich, 
wenn  es  ihn  Überhaupt  interessiert,  den  Begriff  Planet  su- 
gleich  mit  dem  Merkmal  der  Abplattung  merken.  Wollte 
sein  gelehrter  Freund  nun  aber  plOtstich  den  Weg  zurQck- 
machen  und  etwa  sagen:  «Siehst  du,  mein  lieber  Hanswurst, 
der  Mars  ist  also  abgeplattet,  alle  andern  Planeten  sind  es 
anch,  und  daraus,  dass  alle  Planeten  abgeplattet  sind,  kannst 
du  schliessen,  dass  auch  der  Mars  abgeplattet  ist!*  —  dann 
wird  mein  Kerl  im  Wirtshaus  mit  der  Faust  anf  den  Tisch 
schlagen  und  rufen:  «Selbst  Hanswurst!  Davon  sind  wir 
ja  ausgegangen,  das  weiss  ich  ja  schon." 

Sollte  mein  Kerl  im  Wirtshaus  aber  ungewöhnlich 
dumm  sein,  dann  konnte  der  gelehrte  Freund  ihm  allerdings 
Torreden,  er  müsse  den  Satz  „alle  Planeten  sind  abgeplattet" 
auf  Treu  und  Glauben  liinnehmen  und  aus  dieser  Prämisse 
ergebe  sich  mit  logischer  Notwendigkeit  die  Abplattung  des 
Mars.  Dann  hat  aber  der  Kerl  nur  nicht  wahrgenommen,  dass 
sein  Freund  eben  —  das  Bild  kann  nicht  oft  genug  wieder- 
holt werden  —  ein  Taschenspieler  war,  der  ihm  aus  der  Tasche 
sieht,  was  der  S(helin  selbst  vorher  hinein  gesteckt  hatte. 

Der  Unterschied  an  Wissen  oder  Sprachurofang  ist 
entscheidend  dafür,  wer  Lehrer  und  wer  Schüler  ist,  wer 
eine  Beobachtung  mitteilt  und  wer  sie  mitgeteilt  erhält. 
Ffir  das  Wesen  des  Schlusses  macht  Wissen  oder  Sprach- 
umfang keinen  Unterschied.  Hat  doch  der  Kerl  im  Wirts- 
haus seinen  Syllogismus  eben  80  tadellos  und  eben  so  bans-  * 
wurstmüssig  gemacht. 


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WerÜOBigkeit  de»  Schlieaaeiu. 


395 


Jeder  Käse  ist  ein  Kas, 
ehester  steht  unter  Käse, 


aUo:  muss  Chester  ein  Khs  sein. 
In  dem  Plouetenbeispiel  ist  das  Vorausgehen  des  Schluss- 
satzes, also  seine  völlifje  Wertlosi<?keit,  darum  so  einleuch- 
tend, weil  der  Uiütaiig  des  BefjritJis  Planet  so  klein  ist. 
Zwar  wurden  zu  den  sieben  i'iiii.üifu,  die  man  schon  frülier 
kannte  und  beobachtete,  im  Laufe  des  19.  Jahrhunderts  über 
200  neue  kleine  Planeten  hinzu  entdeckt,  aber  die  Zahl  ist 
immer  noch  sehr  gering  im  Verhältnis  zu  den  Einzeldingen, 
die  unter  die  meisten  andern  Begrifie  fallen.  Unzählbar  sind 
die  Vorstellungen,  die  unter  Baum,  Tanne,  Tier,  Schwalbe, 
Wohlstand,  Diebstahl  u.  s.  w.  Terstanden  werden.  Es  isi 
ftlr  jedermaim,  der  ein  wesug  an  abstraktes  Denken  gewöhnt 
ist,  schon  lange  selbstTOrstilndlich,  dass  auch  diese  letzten 
Begriffe  nur  durch  sogenannte  Induktion  entstanden  sind,  dass 
also  alle  ScUussfolgerungen  aus  Merkmalen  ihrer  Begriffe 
der  Begrifisbildung  vorausgegangen  sind.  Katttrlich  kommen 
bei  solehen  Schlussfolgerungen,  die  in  dem  Worte  scb<m  ent^* 
halten  waren,  gewöhnlich  nur  alberne  Tautologien  heraus. 
Dass  jede  Schwalbe  ein  Tier  sei«  weil  jede  Schwalbe  ein 
Vogel  und  jeder  Vogel  ein  Tier,  das  ist  gewiss  ebenso 
sicher  eine  Albernheit  wie  es  ein  guter  Syllogismus  ist. 
Man  bemüht  die  Logik  allerdings  gewöhnlich  nur  in  solchen 
Fallen,  wo  der  Besserwisser  dem  Unwissenden  etwas  neues 
mitteilen  will,  wie  wenn  er  die  Mitteilung,  dass  der  Wal- 
fisch lebendige  Junge  zur  Welt  bringe,  in  die  Form  der 
Schlussfolgerung  kleiden  wollte:  alle  Säugetiere  bringen 
lebendige  Junge  sur  Welt,  der  Walfisch  ist  ein  Sftugetier, 
also  bringt  er  lebendige  Junge  zur  Welt.  Ich  brauche 
nicht  erst  zu  wiederholen,  dass  auch  diesmal  die  neue  Be* 
obachtung  oder  Mitteilung  eben  nur  in  den  lebend^en 
Jungen  besteht  und  dass  das  Uebrige  nur  Sprachbereiche- 
rung ist 

Nun  sucht  aber  die  neuere  Logik  einen  Unterschied 
zu  machen  zwischen  derartigen  Schlussfolgerungen,  die  allei^ 


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390 


V,  Die  Jicbiuselolgerung. 


Bmi-  (lings  in  ihrem  Obersatz  echon  entlialteii  seira,  und  zwisclieii 
sdcbeu,  in  denen  unsere  Welterkenntnis  dennoch  durch 
reines  Schliessen  vermehrt  werde.  Auf  diesen  neuen  Ver- 
such, wegen  der  bekannten  Unfähigkeit  der  formalen  Logik 
noch  eine  Art  von  Reallogik  zu  schaffen,  muss  ernsthaft 
geantwortet  werden,  damit  klar  werde,  wie  falsch  die  Psycho- 
logie solcher  Logik  ist. 

Ich  finde  diese  Behauptung  der  Reallogik  am  greif- 
barsten ausgedrückt  in  Ueberwegs  »System  der  Logik" 
(5.  Auflage  S.  315);  er  sagt  da:  »Die  Möglichkeit  des 
Syllogismus  als  einer  Form  der  Erkenntnis  beruht  auf  der 
Voraussetzung,  dass  eine  reale  Gesetzmässigkeit  bestehe  und 
erkennbar  sei,  gemäss  dem  Satze  des  zureichenden  Grundes. 
Da  die  vollendete  Erkenntnis  auf  der  Goincidenz  des  Er- 
kenntnisgrundes mit  dem  Bealgrunde  beruht,  so  ist  auch 
deijenige  Syllogismus  der  vollkommenste,  worin  der  ver- 
mittelnde Bestandteil  (der  Mittelbegriff,  das  Mittelglied),  wel- 
cher der  Erkenntnisgruttd  der  Wahrheit  des  Schlusssatzes  ist, 
zunächst  den  Realgrund  der  Wahrheit  desselben  bezeichnet* 
Diese  Ansicht,  welche  schon  bei  Aristoteles  durch  die 
Bemerkung  «der  Mittelbegriff  sei  die  Ursache"  angesprochen 
wird,  ist  sehr  verständig.  Wollte  man,  wie  es  schon  die 
alten  Skeptiker  thaten,  die  Wertlosigkeit  des  Syllctgismus 
einzig  und  allein  aus  der  formalen  Logik  beweisen,  so  hätte 
man  nicht  viel  bewiesen.  Die  bisher  betrachteten  wertlosen 
analytisi  bell  Schlüsse  (  welche  für  uns  ebenso  loei  os  Wort- 
machen sind  wie  die  apriorischen,  analytischen  Urteile)  ent- 
sprechen freilich  ganz  genau  den  Regeln  der  spitzfindigen 
mittehilterlichen  Logik,  welche  auch  unsere  Schullogik  ist. 
Und  im  Hinblick  auf  diese  Art  von  Schlüssen  ist  die  Be- 
deutungslosigkeit des  ganzen  Verlahrens  —  wie  gesagt  — 
schon  ziemlich  allgemein  zugestanden  worden.  Ja  die  Ver- 
urteilung solcher  Syllogismen  geht  bis  auf  Descartes  zurttck 
und  wurde  von  Kant  ganz  scharf  ausgesprochen,  dem  sie 
nicht  mehr  ein  Mittel  war  die  Erkenntnis  zu  erweitem, 
sondern  nur  ein  Weg,  uns  durch  Analyse  klarer  zu  machen, 
was  wir  schon  erkannt  haben.    Und  ganz  in  unserem 


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Reallogik. 


397 


Sinne  sagt  dann  später  Schleierraacher:  die  Schlussfolge- 
mng  sei  kein  Foiischritt  im  Denken,  sondern  bloss  die  Be- 
sinnung darüber,  wie  wir  zu  den  vermeintlich  neuen  Ur- 
teilen, dem  Schlusssatze,  gekommen  sind  oder  gekommen 
sein  können. 

Kant  und  seine  Nachfolger  jedoch  bewegen  sich  immer 
nur  im  Kreise  der  Lof^ik  scll)st  heriua,  linden  darum  ausser- 
halb derselben  keinen  Standpunkt  zum  Ueberblick  der  ge- 
samten Logik  und  können  darum  keine  Stellung  fassen  zu 
dem  oben  erwähnten  Rettungsversuch,  zu  der  Lf^hre  des 
Aristoteles  und  seiner  neuesten  Schüler,  dass  nämlich  der 
Mittelbegriff  des  Schlu*^ses  zur  Ursache  der  Coiichjsio  werde, 
dass  die  Lo|2:ik  unmittelbare  Erkenntnis  der  ^Virkli^hkeits- 
welt  sei.  Näher  kam  der  Wahrheit  .schon  Dcscarte.s,  als  er 
die  ganze  Logik  eigentlich  preisgab  und  sich  mit  dem 
psychologischen  Vorgang  unserer  subjektiven  Öewissheifc 
begnügte. 

Denn  darauf  kommt  es  an,  dass  wir  erkenneu:  Not- 
wendigkeit herrscht  nur  in  der  Wirkli*  hkeitswelt :  all  unser 
Denken  ist  nur  ein  Erinnern  an  unsere  Sinneseindrücke 
von  ihr  und  ein  Glaube  an  ihre  Notwendigkeit;  alles 
Denken  ist  psychologisch,  logisch  ist  nur  das  S(  hema 
unseres  Denkens.  Die  Notwendigkeit  der  wertlosen,  analyti- 
schen Schlüsse  ist  nur  die  Notwendigkeit  der  Identität,  ist  nur 
ein  ainlor^  r  Ausdruck  für  die  Hen-schaft  der  Tautologie  im 
Denken  oder  Sprechen.  Die  Notwendigkeit  aber,  die  wir 
der  engeren  Gruppe  von  Syllogismen  beilegen,  derjenigen 
in  der  der  Mittelbegriff  die  eigentliche  Ursache  sein  soll, 
diese  Notwendigkeit  ist  als  logisches  Ergebnis  eine  Selbst* 
tiloscihung.  Notwendigkeit  ist  dem  Sprachkritiker  nicht 
Geselsmftssigkeit.  Allerdings  müssen  wir,  um  das  klar  ein- 
zusehen, daran  erinnern,  dass  für  uns  der  Begriff  der  Ur- 
sache ein  mythologischer  B^(riff  geworden  ist  und  ebenso 
der  Begriff  der  Naturgesetze.  Denn  nicht  weniger  als  die 
Erkenntnis  der  Naturgesetze  will  die  neue  Resdlogik  be- 
haupten. 

Ich  wiederhole,  dass  es  in  aller  Logik  und  in  aller 


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398 


V.  Die  Sehlnaifolgeniag. 


Welt  für  das  Wesen  unseres  Denkens  keinen  Unterschied 
machen  kann,  ob  f]cr  denkende  Kopf  über  ein  grosses  oder 
kleines  Wissen,  über  ein'^n  »grossen  oder  kleinen  Sprach- 
schatz verfWj:^.  Wir  haben  gesehen  und  es  wird  uns  allgemein 
zuc^estandea ,  dass  die  Abplattung  des  Mars  nicht  aus  dem  all- 
gemeinen Satze  hervorgehe  ,alle  Planeten  sind  abgeplattet*, 
sondern  dass  vielmehr  die  Beobachtung  des  Planeten  Mars 
dem  allgemeinen  Satze  habe  vorausgehen  müssen.  Wüssten 
wir  von  den  Planeten  und  ihrer  Beweg-ung  nichts  anderes, 
so  stünde  nichts  im  Wege ,  die  Abplattung  ein  Gesetz  der 
Planeten  zu  nennen,  ein  Naturgesetz.  Dieser  Ausdruck  ist 
nicht  üblich,  weil  der  Sprachgebrauch  das  Wort  , Natur- 
gesetz" lieber  ftlr  allgemeinere  Formeln  verwendet. 

Nun  hat  s(  hon  vor  langer  Zeit  Kepler  die  Beweguüg 
der  Pluneteu  verglichen  und  dafür  diejenigen  Pormeln  auf- 
gestellt, welche  noch  beute  von  der  Astronomie  als  richtig 
anerkannt  werden.  Jene  Formeln  werden  noch  heute  in 
der  ganzen  Welt  die  drei  Keplerschen  Gesetze  genannt.  Es 
dnd  Gesetze,  also  nach  gemeinem  Sprachgebrauch  die  Ur- 
sachen der  Einzelerscheinungen.  Wir  werden  uns  gleich 
davon  flberzeugen,  dass  vir  nicht  im  Enmlie  daaran  denken, 
diese  Gesetze  wirklich  fQr  die  Ursache,  ftir  den  Bealgrand 
der  einzelnen  PUmetenhevegungen  zn  halten.  Die  drei  Kepler- 
schen Gesetze  sind  schwerer  zu  verstehen  und  unserem 
Hanswurst  schwerer  begreiflich  zu  machen  als  der  Satz  .alle 
Planeten  sind  abgeplattet*^.  Aber  auch  die  Keplerschen 
Gesetze  sind  ebenso  nur  Zusammenfassungen  von  Beobach- 
tungen, yiel  feinerer  Beobachtungen  freilich.  Auch  ein  Kepler- 
sches  Gesetz  ist,  wenn  es  an  die  Spitze  eines  Syllogismus 
tritt,  nur  die  bequeme  Eh^isee,  vor  deren  Formulierung 
der  Schlusssatz  beobachtet  werden  musste.  Und  die  Kepler- 
schen Gesetze  gehören  in  den  Köpfen,  denen  sie  überhaupt 
geläufig  sind,  auch  schon  zu  den  Merkmalen  dee  Begriffes 
.Planet",  so  dass  fUr  jeden  Astronomen  Im  Begriffe  «Planet* 
schon  drinsteckt,  was  die  Logik  mit  Hilfe  der  Keplerschen 
Gesetze  aus  ihm  herausziehen  möchte. 


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Phjchologie  des  Sdüieaieiu. 


399 


Wäre  Aristoteles,  als  er  mit  grossem  Scharfsinn  die  Pcyeho- 
Genusregeln  äer  [^ogik  aufstellte,  ein  besserer  Psychologe  ge-  ^g^^ 
Wesen,  er  hätte  mit  seinen  Gruppen  ohne  Zweifel  die  Gram- 
matik bereichert.  Hätte  er  den  Vorgang  des  Denkens  besser 
beobachtet,  so  hätte  er  gefunden,  dass  wir  niemals  nach  einer 
logischen  Figur  denken,  niemals  formelhaft,  sondern  immer 
sachlich.  Und  eben  darum  kommen  wir  nicht  weiter  mit 
unserm  l'unken,  weil  sich  das  Schliessen  vom  Urteilen  nur 
grammatikaliaicli  unterscheidet.  Es  ist  nicht  wahr,  dass  wir 
nach  irgend  einer  der  logischen  Figuren  schliessen:  „Wenn 
die  Sonne  aufgegangen  ist,  wird  es  hell  —  es  ist  hell  — 
also  ist  die  Sonne  aurgegaugen."  Abgesehen  von  den 
Fehlern  dieses  Schlusses  (auch  bei  einer  Feuersbrunst  wird 
es  hell),  ist  unser  Denken  viel  einfacher.  Der  ganze  Schluss 
vollzieht  sich  als  die  Timtulogie:  Sonne  ist  hell.  Wenn  wir 
aufwachen,  so  ist  der  Einfall  „es  ist  helT  (i-m  andern  ,die 
Sonne  ist  auf"  fast  gleich.  Nicht  ein  Sehiuss  ist  die  Sache, 
sondern  eine  Tautologie. 

Lud  Wenn  man  eiuweiieu  wollte,  da.ss  doch  dann  das 
Denken  etwas  ganz  anderes  sei  als  die  Sprache,  weil  die 
Sprache  offenbar  schliesst,  das  Denken  aber  nicht,  so  aut- 
Worte  iehi  Es  braucht  die  Sprache  gar  nicht  zu  kümmern, 
dass  wir  diese  Art  von  Bewegungen  in  ihr  Schlüsse  nennen. 
Sie  folgt  dem  Denken  schon.  Und  für  gewöhnlich  begnügt 
sie  sieh  mit  SubjeU  und  Prädikat.  Erat  wenn  de  sich  der 
Tautologie  bewusst  werden  will,  wenn  sie  das  OefÜhl  des 
Nichtweiterkommens  sich  deutiich  machen  will,  dann  ler» 
dehnt  sie  das  Subjekt  zu  einem  Vordersatz,  zerdehnt  das 
Prädikat  zu  einem  Nachsatz,  murmelt  bei  der  Gopula  ein 
superkluges  Aha!  und  steht  vor  der  Thatsache,  dass  sie 
einen  Wurm  dort  herausgezogen  hat,  wo  er  drin  war. 

Die  Ordnung  der  Prämissen,  wie  sie  rom  Logiker  auf 
die  Tafel  geschrieboi  werden,  ist  eine  willkürliche.  Im  Kopfe 
ist  die  Regel  des  Obersatzes  und  die  «Voraussetzang*  des 
Untrawktzes  zugleich  vorhanden;  sonst  wttrden  dem  Kopfe 
beide  Sätze  nidit  zum  Beweise  eines  dritten  einfallen.  Wie 
die  höhere  Art  und  die  niedere  Spezies  im  Begriffe  steckt 


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400 


y.  Die  Schlnstfolgenuig. 


und  dem  wirklichen  K'onner  drs  Worts  cfefren wiirtig  ist,  so 
der  ganze  Syllogismus  mit  jedem  seiner  bätze.  Und  darum 
ist  der  Syllogismus  für  den  Satz,  was  die  Definition  für  das 
Wort  ist:  eine  Eselsbrücke  fUr  Duminköpfe  oder  ein  Spiel 
für  gelehrte  Kinder. 

Vielleicht  ist  die  Syllot^islik  des  Aristoteles  aus  einer 
ähnlichen  Marotti'  liervori^ogani^en,  wie  die  Ethik  dfs  Spi- 
noza. Vielleicht  wollte  er  die  Gedanken  ordine  <ii  oMietrico 
demonstrieren.  Man  verbuche  aber  eirnnal.  in  der  (Teometrie 
mit  lo^rischen  Schlüssen  weiter  zu  kommen,  anstatt  mit 
realen  Konstruktionen,  man  versuche  einmal  aufzusagen: 
alle  Ket^elschiiitte  sind  Kurven,  die  Ellipse  ist  ein  Kegel- 
schnitt, also  ist  die  Ellipse  eine  Kurve  (Sigw.  1.  408)  und 
das  Gelächter  der  Mathematiker  wird  vielleicht  lehren,  dasa 
auch  iü  der  übrigen  Welt  nicht  die  Logik  weiter  führe, 
sondern  Beobachtung. 

Und  wenn  man  sich  klar  machen  will,  welch  ein  Miss- 
braucli  in  der  Ijotrik  mit  dem  Worte  Gesetz  gemacht  wird,  so 
denke  man  an  den  Schluss:  Em  Mörder  müsste  gesetzhch 
hingerichtet  werden. 

Gesetze  Auf  vollständige  Darlegung  brauche  ich  mich  nach 
K«pl«ra.  ßjij.^  Vorausgegangenen  nicht  einzulassen.  Es  handelt  sich 
einfach  darum,  ob  die  drei  Keplerschen  Gesetze  der  Real- 
grund dafür  seien,  dass  die  Planeten  in  diesem  Augenblicke 
just  diese  und  keine  anderen  Orte  im  GKmmelsranm  An- 
nehmen. Man  mttsste  wirklich  die  Keplerschen  Gesetze  wie 
alle  andern  Naturgesetze  für  Polizeirerordnungen  eines  ausser* 
weltlichen  Gottes  halten,  um  emstlich  zu  behaupten:  der 
Satz  «die  Bahnen  der  Planeten  seien  Ellipsen,  in  deren 
einem  Brennpunkt  die  Sonne  stehe*  sei  die  Ursache  für 
die  elliptische  Bahn  unserer  Erde;  oder  der  Satz  »die  Qua- 
drate der  Umlaufszeiten  verhalten  sich  wie  die  Kuben  der 
mittleren  Entfernungen  von  der  Sonne*  sei  die  Ursache 
unserer  Jahreslange;  oder  der  Satz  «der  Radius  vector  der 
Planeten  überstreiche  in  gleichen  Zeiten  gleiche  Flacben- 


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Gravitation. 


401 


räume"  sei  die  Ursache  dafür,  dass  die  Erde  in  diesem 
Augenblicke  diesen  und  keinen  anderen  Ort  habe.  Nur 
wenn  die  Keplerschen  Gesetze  diircli  Strafen  pfeschützte 
Polizeiveronlnunf^eu  waren,  könnte  mau  sie  ürsaclien  nennen. 
Und  selbst  ilaun  wäre  ja  ihre  Befolgung  unmüj^lich ,  wenn 
die  Planeten  nicht  Mathematik  studiert  hätten.  Oder  sollten 
die  Strafen  wegen  Polizeiühertrctunr^  auch  ohne  Mathematik 
au  iliuen  vollstreckt  werden  nach  dem  Grundsatze:  Un- 
kenntnis schützt  nicht  vor  dem  Gesetze?  Aber  ich  stosse 
vielleicht  offene  Thilren  ein?  Man  gibt  mir  vielleicht  zu 
—  nicht  der  Kerl  im  Wirtshaus,  aber  wohl  jeder  wiasen- 
schafblich  gebildete  Mensch  — ,  doss  die  Bezeichnung  Qe- 
setie  fOr  die  Keplerschen  Formeln  mcht  gat  gefriÜttt  sei, 
eben  darum  weil  sie  nicht  die  letzten  Ursachen  der  Be- 
wegungen seien,  dass  also  nicbt  die  Bewegungen  Wirkungen 
der  Oesetze  seien,  sondern  Tielmehr  die  Beobachtungen  der 
Bewegungen  die  ErkenntnisgrQnde  der  Oesetee.  Der  Begriff 
«Kas*^  ist  nicht  die  Ursache,  nicht  der  Realgnmd  des  StQck- 
cben  Chesters  auf  dem  Wirtshaustisch. 

Man  gibt  mir  das  alles  zu,  beUlIt  sich  aber  vor,  mich  <invi- 
mit  dem  Gravitationsgesetz  eines  Bessern  zu  bekbren.  Die 
Keplerschen  Formeln  seien  mit  Unrecht  Oesetze  genannt 
worden,  weil  sie  nicht  die  letzte  Ursache  der  Flaneten- 
bewegungen  w&ren.  Darum  lasse  sich  auch  aus  den  Kepler- 
schen Formdn  nichts  erschliessen,  was  nicht  schon  in  ihnen 
enthalten  gewesen  sei.  Aber  Newton  habe  diese  letzte  Ur- 
sache entdeckt,  sein  Orantationsgesetz  sei  ein  echtes  Oesetz 
und  wenn  es  als  Mittelbegriff  ui  einen  Syllogismus  hinein- 
gesteckt werde,  so  ergebe  sich  mit  logischer  Notwendigkeit 
ein  neuer  Schlusssatz,  der  in  den  PHbnissen  noch  nicht  ent- 
halten gewesen  seL  Und  als  Trumpf  wird  dann  wohl  die 
Entdeckung  des  Planeten  Neptun  ausgespielt.  Die  bgische 
Qewissheit  aus  dem  Gravitationsgesetze  sei  eine  so  absolute 
gewesen,  dass  man  aus  Störungen  im  Laufe  des  Uranus 
mit  logischer  Gewissheit  die  Existenz  des  Neptun  voraus- 
gesagt habe.  Die  Beobachtung  des  Neptun  sei  erst  nachher 
erfolgt.  Hier  hätten  wir  also  einen  klassischen  Fall,  in 
Maatliner,  BeUrig«  zn  einer  Kritik  der  Sprach».  III.  26 


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402 


V.  Die  Sclilu£i»folgeruDg. 


welchem  die  Kenotnis  des  Scfaliussatxes  der  AiafskeUung  der 
Prftmiseen  nicht  Tor«usging.  Ich  kann  nienuils  ohne  Heiter- 
keit bemerken,  wk  dieser  eine  unerhörte  Fall  immer  wieder 
herangezogen  wird,  sobald  man  beweisen  will,  daas  der 
Syllogismus  jedesmal  neue  Wahrheiten  lehre.  Und  weil 
dieser  Fall  so  einzig  dasteht,  will  ich  ihn  auf  seinen  logi- 
schen Weit  untersuchen,  so  schwer  es  auch  sein  mag,  über 
derlei  fachwissenschafiliche  Thatsachen  ganz  allgemein  und 
allgemein  verständlich  sich  klar  zu  werden. 

Vor  allem  also  die  Bemerkung,  daas  das  Orantations- 
gesetz  oder  das  Gesetz  der  Schwerkraft  flir  uns  nur  so  lange 
die  letzte  Ursache,  also  ein  wshres  Gesetz  der  Planeten- 
bewegungen ist,  als  es  nicht  von  einem  neuen,  noch  höheren 
Gesetz  abgesetzt»  solange  die  letzte  Ursache  nicht  von  einer 
«aUerletzten*  Ursache  abgelOst  wird.  Man  stelle  sich  einmal 
vor  —  was  doch  vielleicht  in  absehbarer  Zeit  Wirklichkeit 
sein  wird  —  dass  ein  naturwissenschaftliches  Genie  die  Ge- 
seüse  des  Lichts,  äcv  Wärme,  der  Elektricitat  zusammen  mit 
dem  Gesetze  der  Schwerkraft  auf  eine  einzige  Formel  ge- 
bracht habe,  genau  so  wie  Newton  selbst  doch  nur  die 
Keplerschen  Gesetze  und  die  Gesetze  des  Falles  auf  eine 
Formel  gebracht  hat.  Wie  nun  durch  die  ungeheure  Ver- 
einfachung Newtons  die  Keplerschen  Gesetze  zu  blossen  Zu- 
sammenfassungen oder  Begriffen  einer  Erscheinungsgruppe 
herabsanken,  wie  nach  Newton  die  Keplerschen  Gesetze 
nicht  nit  l  r  die  Ursachen  der  Pianetenbcwe^nj^  genannt 
werden  konuten,  sondern  eben  nur  ihre  abgeleiteten  Formeln 
waren,  so  wird  nach  der  Zeit  des  von  uns  angenommenen 
neuen  Genies  auch  das  Gesetz  der  Gravitation  nur  eine  Formel 
st  ill  neben  anderen,  eine  zusammenfassende  Formel  för  alle 
mechanischen  Bewegungen,  der  Inhalt  eine«?  grossen  neuen, 
von  einer  ungeheuren  Gruppe  der  Erscheinungen  abgeleiteten 
Begriffs,  die  Formel  für  alle  diese  Erscheinungen,  aber  nicht 
ihre  Ursache.  Da  uns  dieses  künftige  T'»  herhcltwerden  des 
Gravitationsgesetzes  ganz  gewiss  ist,  so  haben  wir  dieses 
natürlich  auch  schon  im  Geiste  enfHimnt.  Wir  sehen  in  der 
Graritation  keinen  mythologischen  i^egriü  mehr,  keine  Gott- 


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EnCdeekong  det  N«ptiu. 


408 


heit  mehr,  weiche  die  fallenden  Aepfel  wie  die  kreisenden 
Sterne  von  aussen  aluBiBe,  wir  sehen  also  selbst  im  Gesetze 
der  Gravitation  keine  wirkende  Ursache  mehr  und  dieeer 
einzige  Beweis  für  den  Fortechritt  im  Denken  durch  logische 
Schlüsse  wird  hinfällig. 

Betrachten  wir  aber  die  Entdeckung  des  Neptun  mit  Ent- 
HUfe  logischer  Schlösse  aus  dem  Gravifcationsgesetz  noch 
ein  bigschen  j?enauer.  Von  allen  Rechnungen  abgesehen  ver-  N«ptaii. 
lief  doch  die  Sache  foigenderniassen.  Die  Newtonsche  Hypo- 
these von  der  Identität  der  irdischen  Schwrj  kraft  und  der 
himmlisclien  Anziehung  wurde  allgemein  für  riciitig  ange- 
nommen und  tätlich  neu  bestätigt.  Sie  gestattete  nützliche 
Anwendungen  für  den  Kalender  und  anderes,  so  wie  die 
altbekannten  Gesetze  der  irdischen  Schwerkraft  nützliche 
Anwendungen  z.  B.  für  die  Artillerie  gestatteten.  Diese 
nützlichen  Anwendungen  haben  mit  der  Logik  nichts  zu 
thun.    Logisch  und  wissenschaftlich  aber  schloss  man: 

alle  Planeten  gehorchen  den  Ue^et/:eu  ihrer  Schwer- 
kraft 

der  Urauu«  lai  ein  Flauet 


also  mus6  der  Uranus  den  Gesetzen  seiner  Schwer- 
kraft gehorchen. 
Die  Astronomie  hörte  nicht  auf,  solche  SchlUssr  und 
auf  sie  geBtützte  Berechnungen  mit  allen  Planeten  vf»rzu- 
nehmen.  Die  Hypothese  des  Gravitationsgesetzes  wiii  ur- 
spiüiiglii  Ii  doch  nur  ein  Apertju,  welches  Newton  von  einem 
einzigen  Falle,  der  Beschleunigung  des  Mondes  nach  der 
Erde  zu,  gemacht  hatte.  Selbstverständlich  eines  der 
genialsten  Apercus  der  Weltgeschichte.  Dieses  Apercu  oder 
diese  Hypothese  wurde  durch  die  Beobachtungen  an  den 
Planfiten  immer  wahrscheinlicher.  Es  war,  theoretisch  ge- 
i^rochen,  der  ganz  gewöhnliche  Weg  der  Urteilsbildung 
durch  Induktion.  Das  Urteil,  welches  heute  noch  QraTi- 
tgtionsgesetz  genannt  wird  und  welches  in  kOnftigMr  Zeit 
einmal  su  einer  Formel  neben  anderen  werden  wird,  tat  ein. 
wertfolles,  aposteriorisches  Urteil,  es  erUftrt  uns  hOduii 


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404 


T.  Die  ScUiinfolgttaiig. 


wahrscheinlich  einen  richtigen  Begrifi',  den  der  Anziehung 
der  Körper,  und  soll  in  seiner  Bedeutung  wahrhaftig  nicht 
unterschätzt  werden.  Wie  aber  kommt  es  dazu,  dass  uns 
ein  Begriff  etwas  Neues  erschlossen  haben  kann?  Dass  man 
mit  Hüte  der  Gravitationsprämisseu  zu  den  bisher  bekannten 
Planeten  einen  neuen,  eben  den  Neptun,  hinzu  erschliesseu, 
logisch  erschliessen  konnte?  Wie  ist  das  möglich?  Wir 
behaupten  ja,  es  küuue  nie  und  nimmer  etwas  erschlossen 
werden  durch  Schliessen?  £s  ist  möglich,  weil  es  nicht 
wahr  ist. 

Nicht  wahr  ist  es  uämlich,  dass  wir  7ai  der  Kenntnis 
des  Neuen,  der  Existenz  des  Neptun,  auf  logischem  Wege 
gelangt  sind.  Der  eben  vollzf^gene  Schluss  hat  uns  nur  «ge- 
lehrt, dass  der  Planet  Uranus  dem  G i a vitationsgesetz  unter- 
liege —  notabene  nur  für  den  Fall,  dass  das  Gra%'itations- 
geset'/  wirklich  für  alle  Planeten  gelte,  also  auch  für  den 
Uranus  schon  nachgewiesen  sei.  Solange  wir  so  logisch 
weiter  denken,  kommen  wii-  aus  den  Tautologien  nie  heraus. 
Die  Hypothese  oder  die  Induiction  des  Gravuatitmsgesetzes 
wird  nur  durch  Jede  neue  übereiiistiuimende  Beobachtung 
wahrscheinlicher.  Sie  war  schon  in  hohem  Grade  wahr- 
scheinlich, sie  war  also  für  die  Praxis  eine  wissenschaft- 
liche Gewissheit,  als  die  neue  Beobachtung  hinzukam,  dass 
die  Bahn  des  Uranus  den  Bedingungen  nicht  entspreche. 
Mit  der  blossen  Logik  hätte  daraus  geschlossen  werden 
mOssen,  dass  das  Gravitationsgeseta  also  eine  falsche  Hypo- 
these sei.  Dieser  Schluss  wäre  freilich  ebenso  thöriohk  ge- 
wesen, wie  es  thOricht  gewesen  wäre,  etwa  nach  der  Ent- 
deckung Amerikas  zu  sagen:  es  gibt  keine  Brde,  weil  unsere 
bisherigen  Vorstellungen  von  der  Erde  bereichert,  geändert 
worden  sind. 

Die  Astronomen  waren  nicht  so  thöricht.  Als  sie  mit 
Hilfe  ihrer  künstlichen  Werkzeuge  die  Störungen  in  der 
Planetenbahn  des  Uranus  wahrnahmen,  sahen  sie  eben  nur 
etwas  Neues,  was  das  bisherige  Planetensystem,  was  der 
bisherige  Begriff  «Planet*  noch  nicht  enthielt  Was  war 
geschdien?  Sie  hatten  einen  neuen  Planeten  wahrgenommen. 


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Entdeckung  des  Neptun. 


405 


Noch  nicht  auf  dem  graden  Wege,  wie  «in  alter  Schäfer 
die  Sterne  sieht,  sondern  indirekt  durch  seine  Wirkung  auf 
den  Uranus,  die  man  mit  Hilfe  der  kttastHehen  Augen  ge- 
messen hatte.  Nicht  die  Logik  hatte  den  Neptun  eracUossen, 
sondern  unsere  alten  suTerlässigen  Sinne  hatten  ihn  wahr* 
genommen,  wenn  auch  indirekt.  Das  mag  der  alte  Sch&fer 
anstaunen,  der  von  Femrohren  und  Yon  astronomischen  Be- 
rechnungen nichts  weiss;  unserer  Denkgewohnheit  aber  sollte 
solches  indirekte  Wahrnehmen  geläufig  sein. 

Wttm  man  jede  indirekte  Wahrnehmung  einen  logi- 
schen Schlnss  nennen  wollte,  so  müsste  man  unser  aUtig- 
liches  Sehen  ebenfalb  eine  logische  ThSligkeit  nennen;  und 
damit  komme  ich  zam  Kernpunkt  der  Frage,  ob  es  ausser 
der  preisgegebenen  formalen  Logik  doch  eine  besondere 
wertvolle  Reallogik  gebe?  Auf  das  alltigliche  Sehen  will 
ich  sofort  zurflckkommen. 

Indirekt  sehen  wir  die  Sterne  durch  das  Femrohr  immer. 
Denn  wir  nehmen  nicht  ihre  unmittelbare  Wirkung  auf 
unsere  Netshaut  wehr,  sondern  regelm&ssig  erst  die  Yer- 
änderungen  dieser  Wirkung,  die  durch  Linsen  oder  Spiegd 
erfolgt  sind.  Erst  durch  Berechnungen,  die  den  Astronomen 
allerdings  zur  Gewohnheit  geworden  sind  wie  uns  das  all- 
tägliche  Sehen,  wird  nach  Richtung  und  Stirke  die  natür- 
liche Wirkung  auf  unsere  Netzhaut  gewonnen.  Oibt  es  aber 
einen  Menschen,  der  das  Sehen  durchs  Femrohr  (oder  durch 
das  Mikroskop,  das  Opernglas,  die  Brille)  eine  logische 
Operation  nennen  möchte? 

üeberhaupt  gibt  es  gar  nichts  Banaleres  als  die  Wahr-  Wahr- 
nehmung durch  eine  besondere  Wirkung.    In  der  Schule  "^^SI" 
wird  freilich  gelehrt,  dass  z.  B.  eine  Rose  zugleich  durch  schul- 
den Gesichtssinn  nach  Form  und  Farbe,  durch  den  Geruchs- 
sinn,  unter  Umständen  auch  durch  den  Tasteinn,  Geschmacks- 
sinn, mdgUcherweise  sogar  aucli  durch  den  Gehörssinn  zu- 
gleich wahrgenommen  werde.    Diese  Gesamtbeobachtung 
liefert  uns  dann  freilich  den  gesamten  Inhalt  des  B^priffii 
Rose  und  die  aiuszeichnenden  Merkmale  eines  bestimmten 
Rosenindividuums  dazu.   Aber  wir  nehmen  doch  eine  Rose 


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40Ü 


V.  Die  Schlaufolgerung. 


Bttch  durch  eine  emselne  SiDneewahmebmaDg  schon  wahr. 
Wer  den  Schnupfen  hat  und  die  Boee  nicht  liechen  kann, 
sagt  dennoch,  er  sehe  eine  Roee.  Und  der  Blinde  nimmt 
die  Roee  durch  den  Geruch  allein  ebenso  aieher  wahr.  Wird 
nun  iigend  ein  Menech  die  Behauptung  des  Blinden  oder 
die  des  Tenchnupftea  Mannes  «das  da  sei  eine  Rose*  eine 
logische  Operation  nennen?  Sicherlich  nicht. 

Man  wird  mir  einwenden  i  diese  Fille  betrafen  swar 
immer  Teilwahmehmungen,  durch  die  man  an  die  ganse 
Wahrnehmung  erinnert  werde,  aber  es  seien  doch  immer 
direkte  Mitteilungen  einzelner  Sinne.  Ich  sehe  keinen  grossen 
TTntwsdiied,  aber  ich  kann  auch  mit  indirekten  Wahr- 
nehmungen, mit  der  Wahrnehmung  indirekter  Wirkungen 
dienen.  Wenn  ich  des  Morgens  ans  Fenster  trete  und  die 
Blfttber  der  Bäume  sich  bewegen,  die  Zweige  hin  und  her 
schwanken  sehe  oder  wenn  ich  nur  das  Rauschen  der  Bäume 
verndbme,  so  denke  ich  sofort:  es  ist  windig.  Wenn  ich 
die  ganze  Strasse  nass  erblicke  oder  wenn  ich  das  eigen- 
tümliche Trommeln  auf  die  Fensterscheiben  höre,  so  denke 
ich:  es  regnet.  Ist  dieser  Gedanke,  dass  es  windig  sei  oder 
dass  es  regnet,  der  Schlusssatz  einer  logischen  Denkopera- 
tion? Hier  scheine  ich  mich  gefangen  zn  haben,  denn  der 
Logiker  wird  allerdings  ausrufen:  jawolil,  «In  ItaVen  Sit'  logi- 
sche Schlüsse  gemacht.  Auf  die  Schnelligkeit  des  Schliessens 
kommt  es  nicht  an. 

Auf  die  Schnelligkeit  wohl  nicht,  doch  aber  darauf, 
ob  —  wenn  aiicli  noch  so  blitzschnell,  noch  so  unbewosst  — 
der  Weg  von  der  Wahrnehmung  zu  dem  Gedanken,  dass 
es  windir^  sei  oder  r^oe,  durch  einen  SjUogismus  hindurch- 
gegangen ist. 

Dass  wir  h»*i  solchen  <5chlichten  Gedanken  keine  be- 
M'us8f-e  Schhissfoigerun^  v«dlzielien,  das  wird  wohl  von  allen 
Seiten  zugestanden.  Der  Weg  der  Schlussfolgerung  ist 
sogar  so  schwer,  dass  ihn  selbst  ein  Professor  der  Logik 
nicht  imm«^i-  nnffinden  könnte.  Und  nur  die  Karikahir  eines 
solchen  Prutes^ors  könnte  also  überlegen:  .»Ich  nehme  naki*, 
dass  der  Krdboden  nass  ist;  die  Nässe  muss  eine  Ursache 


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Wahni«1uiiefa  olme  SddiesKii. 


407 


haben,  denn  keine  Yerinderung  geschieht  ohne  Ursache; 
wenn  es  regnet  ist  es  nass;  wenn  gesprengt  wird  ist  es 
auch  nass,  aber  nOT  auf  dem  Ötrassendaram ;  wenn  es  regnet 
ist  es  fiberall  nass,  wo  kein  Dach  ist;  ich  nehme  wahr, 
dass  es  überall  nass  ist,  wo  kein  Dach  ist;  also  regnet  es." 
Ich  ^ebe  zu,  dass  alle  unsere  Beobachtungen  und  ihre  Zu- 
rückführung  auf  die  Ursachen  in  solche  Kettenschlfisse  hin* 
eingezwängt  werden  können.  Ich  kann  es  nicht  leugnen, 
denn  ich  kann  die  Existenz  einer  logischen  Wissenschaft 
nicht  leugnen.  Wohl  aber  leugne  ich,  dass  unserem  Ge- 
danken regnet*  jemals  ein  solches  Schema  voraus- 
gegangen ist.  Ginge  eine  solche  logi^rlif:'  Deukoperation 
jetzt  schnell  und  unbewusst  in  unserem  (it  hirn  vor,  so  müsste 
sie  früher  emmal,  bevor  sie  eingeübt  war,  langsam  und  be- 
wusst  vor  sich  gegangen  sein. 

Was  eingeübt  wurde  und  uns  so  zur  Gewohnheit  ge- 
worden ist,  dass  wir  es  gleichzeitig  und  heiiiahe  wie  eine 
Tautologie  denken  oder  sagen:  „es  ist  nass,  es  regnet"  oder 
»es  rauscht  in  d»'n  Bäumen,  es  ist  windig**  —  das  ist  nicht 
eine  logische  Deukoperation,  sondern  Erinnerung  oder 
Sprache.  Das  Kind  nimmt  Regen  wahr.  Von  der  Iiichtung 
der  Aufmerksamkeit  hängt  es  ab,  oli  es  den  Regen  wahr- 
nimmt durch  die  Augen  als  eine  Veränderung  des  Strassen- 
bildes  oder  durch '  die  Augen  als  Streifen  fallender  Tropfen, 
oder  ob  es  immer  denselben  Regen  wahruimnit  durch  dus 
Tastgefühl  als  Klatschen  auf  deu  eigenen  Körjier,  oder  durch 
die  Wärmeempfindung  als  Abkühlung  verbuiulen  mit  ge- 
wissen eigeutüniluhen  Nebenuraständen ,  oder  ob  e*  luimer 
denselben  Hegen  wahrnimmt  durch  das  Gehör  als  das  wohl- 
bekannte Trommeln  auf  die  Fensterscheiben  oder  ob  jemand, 
der  zugleich  taub  und  blind  wäre  und  unter  einem  schützen- 
den Dache  stfinde,  immer  denselben  Regen  wahrnähme  durch 
seinen  Geruchssinn  als  Wasserdampf.  Nichts,  gar  nichts 
anderes  ist  in  unserem  Gehirn  rorhänden  als  die  Erinne- 
rung an  solche  Sinnesdadrflcke  und  ttichts  Tollzieht  sich 
als  ein  Wandern  der  Aufmerksamkeit  Ton  einer  Erinnerung 
snir  andern.   Was  eingeübt  wird,  das  ist  einzig  und  allein 


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408 


V.  Die  ScblnwfolgeroMg. 


die  Schnelligkeit,  mit  der  wir  im  Dienste  unseres  Interesses 
die  eine  Emptindungseriunerung  durch  die  andere  wachrufen. 
Das  Schema  „wenn  es  regnet  ist  es  nass"  ist  eine  tote 
Formel.  Die  Chinesen  besitzen  kein  ,wenn"  und  sie  wissen 
doch  alle,  d.u^.s  es  regnet,  wenn  es  nass  ist. 
Logik  Wer  aber  diese  Vorgänge  in  unserem  Gehirn  immer 

MBstiüs-  ^iöch  logische  Denkoperationen  nennen  wollte,  der  müsste 
tkflooie.  jede  Sinneswahrnehmung,  jede  ohne  Ausnahme,  eine  logische 
Denkoperation  neuuen.  Die  neuere  Psychologie  hat  gar 
keinen  Zweifel  darüber  gelassen,  dass  unsere  Sinneswahr- 
nehmungen unmittelbar  gar  keine  Nachrichten  von  der 
Anssenwelt  geben.  Beim  Sehen  und  HOren  vollziehen  sich 
üMchaiusehe  oder  chemische  Veränderungen  an  den  End- 
punkten des  Sehnervs  oder  des  Hdmervs,  mechanische  "Wir- 
kungen, die  an  sich  jedesfüHs  hOchst  verschieden  smd  von 
dem,  was  wir  nachher  ab  besondere  Farben  oder  TOne  wahr- 
nehmen. Die  neuere  Psychologie  ist  sich  anch  darum  ganz 
klar  darüber,  dass  auch  das  einfachste  Wahrnehmen  einer 
Farbe  oder  eines  Tons  nicht  anf  der  Netzhaut  oder  im  Ge- 
hörgang ToUendet  wird,  sondern  erst  in  der  Zentrale  des 
Gehirns.  Man  hat  das  so  ausgedruckt,  dass  auch  unsere 
Sinneswahmehmungen  intellektuell  seien.  Es  ist  das  grosse 
R&tsel  der  Psychologie,  dass  die  Aussenwelt  auf  diese  Weise 
in  uns  zu  Sinneswahmehmungen  werde,  und  es  ist  die  grosse 
Frage  aller  Philosophie,  was  denn  eigentlich  diese  Aussen- 
welt in  Beziehung  auf  unsere  Sinneswahmehmungen  sei. 
Das  Wort  «Ding-an-sich"  ist  nur  eme  neue  Formulierung 
der  Frage,  nicht  eine  Antwort  Und  die  Annahme,  dass 
z.  B.  Schwingungen  nicht  nur  auf  den  Sehnerv  wirken,  son- 
dem  sich  auch  irgendwo  in  Farbenempfindungen  umsetzen, 
ist  nur  eine  Verdoppelung  des  Rfttsels,  nicht  seine  LOsung. 
Niemand  wird  sich  vermessen,  dieses  Ratsei  und  diese  Frage 
Idsen  zu  wollen.  Eins  aber  scheint  mir  gewiss,  dass  es 
Oberaus  lächerlich  wäre,  diesen  Geheimnissen  mit  den  For- 
meln der  logischen  Schlussfolgerung  näher  treten  zu  wollen. 
Ein  solches  Wahrnehmen  der  Aussenwelt  durch  sein  Zentral- 
nervensystem, also  ein  intellektuelles  Wahrnehmen,  besitzt 


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Logik  mid  Erkamtniiflieoiie. 


409 


schon  das  niederste  Tier,   Ich  glaube  nicht,  dass  ein  Logiker 
der  InfuBorie  logische  Denkoperationen  zuschreiben  wird, 
weil  es  geeignete  Nahrung  wahrnehmen   nnd  seine  Be- 
wegungen danach  (  inrK  Ilten  kann.    Eiu  Kopt  von  so  scho- 
lastisch*  in  St  liarfsinn  wie  Schopenhauer  hat  denn  auch  schon, 
nach  dt- III  Stande  der  damaligen  Physiologie,  sehr  entschieden 
die  Intrllrkiualität  aller  Sinneswahrnehmungen  ausgesproehen, 
aber  sicli  wohl  gehütet,  diese  Intellekt aalität  mit  dem  mensch- 
lichen Denken  gleichzusetzen.    Er  hat  (was  sprachlich  ganz 
brauchbar  kt)  zwei  Gottheiten  im  menschlichen  (iehirn  an- 
genommen, den  Verstand  und  die  Vernunft.    Die  Vernunft 
besorgt  hei  ihm  das  eigentliche  Denken,  das  logische  Denken 
in  ßegrift'en,  also  das  Sprechen;  der  Verstand  besorgt  —  ohne 
Worte  und  Begrilfe,  also  ohne  Sprechen  oder  Denken  —  die 
Auffassung  der  Aussenwelt  nach  Massgabe  der  Mitteilungen 
unserer  Sinne.    Ich  habe  gar  nichts  dagegen,  dass  einem 
mythologischen  Begriffe    „Verstand"    dieses  ganze  grosse 
Ressort  zugewiesen  werde,  solange  mau  sich  nur  darüber 
klar  ist,  dass  dieses  besondere  Seelenvermögen  eben  nur 
eine  bequeme  Absiaraktion  ist  und  nichts  Wirkliches.  Unter 
allen  Umständen  aber  halb  dieser  Verstand  oder  was  immer 
dabei  tli&tig  ist,  mit  der  Logik  nieht  das  Mindeste  zu  schaffen. 
Wir  aber  werden  jetzt  eixuefaen,  dass  swisehen  dem  alltäg- 
lichen Wahrnehmen  der  Aussenwelt  durch  die  mechanischen 
Veränderungen  in  den  Nerrenenden  unserer  Sinnesorgane 
einerseits  und  zwischen  der  Wahrnehmung  des  Neptun  durch 
seine  Wirkungen  auf  die  Bahn  des  Uranus  kein  grandsAt^ 
lieber  Unterschied  besteht. 

Ich  hoffe,  dass  wir  durch  diese  schwierige  Darlegung 
etwas  gewonnen  haben.  Wir  hatten  froher  gesehen,  dass 
die  sogenannten  Schlussfolgerungen  der  formalen  Logik 
durchaus  werüos  sind,  dass  sie  su  kernen  neuen  Ergebnissen 
führen,  sondern  nur  Bekanntes  in  Erinnerung  bringen.  Wir 
haben  jetzt,  wie  ich  hoffe,  dasu  erfahren,  dass  es  auch  neben 
der  formalen  Logik  eine  Beallogik  nicht  gibt,  weil  der 
Realgrund  der  Wahrheit  niemals  in  unser  Erkennen  ein- 
geht. Was  wir  in  unserer  Sprache  oder  in  unserem  Denken 


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410 


V.  Die  Sdilusafolgerung. 


eine  Verknüpfung  von  Ursache  und  Wirkung'  nennen,  ist 
ebenfalls  immer  nur  eine  Erinnerung  an  RegelmHSsigkeiten, 
deren  innerster  Zusammenhang  uns  ewig  unbekannt  bleiben 
wird.  Wüsflten  wir  die  Wahrheit,  wüssten  wir  die  letzten 
Ursachen  der  Wirklichkeitewelt,  dann  besässen  wir  mit  der 
Erkenntnis  der  Ursachketten  in  unsei*em  Erinnern  oder 
Denken  auch  eioe  TerknÜpfung.  Dann  aber  würden  wir 
wahrhaftig  oneer  Wissen  meht  logisch  nennen;  denn  dann 
fielt  Denken  und  WiiUicbkeit  sniflinmea  nnd  Logik 
würde  BXth  neue  fibeiflilssig.  In  unserem  Stande  der  Un- 
wissenheit jedoch  kennen  wir  die  loteten  Uisaehen  nicht, 
kennen  wir  kein  wahres  Natorgesets,  nnd  die  Schlflssef  welche 
wir  aus  den  TerhUtnismässig  kleinlichen  Formeln  ziehen,  die 
wir  in  unserer  Armut  schon  Natunresetse  nennen,  drehen 
sich  ewig  im  Kreise  herum  und  beweisen  immer  nur  das, 
was  von  Anfang  tat  die  Grundlage  des  Beweises  war. 


Ol»  Unsere  Untersuchung  hat  den  Höhepunkt  Kngst  Ober- 
''^  so^Q  ^  schritten  nnd  könnte  in  rasch  beschleunigtem  Tempo  bergab 
Figimii.  laufen.  Eine  Betrachtung  der  psjchologisehen  Bogiifls- 
bildung  hat  uns  schon  gelehrt,  dass  Urteile  nicht  aus  Be- 
griffen herrorgehen,  sondern  tot  den  Begriffen  Torhanden 
sind,  dass  also  in  den  Begriffen  oder  Worten  schon  alles 
angeblich  Spätere  enthalten  sei:  Urteile  und  Schlösse.  Es 
lag  in  dieser  Auffassung  Tom  Begriffe  schon  ausgesprochen, 
dass  Mk  aus  der  Hiufui^  von  Urteilen  nichts  erseUietsen 
lassen  werde,  was  wir  in  den  Begriffen  nicht  schon  wOssten. 
Das  logische  Denken  aeigte  sich  uns  als  ein  Rackweg  bei 
Tage,  auf  welchem  Hinsel  und  Gretel  nur  die  weissen 
Steinchen  sehen,  die  sie  bei  Nacht  auf  dem  Hinwege  aus- 
gestreut haben.  Wenn  sich  mit  keiner  Schlussfolgerung 
etwas  Neues  erschliessen  iSsst,  so  ist  es  tiberflüssig,  diese 
Thatsache  bei  jeder  einzelnen  Schluasfigur  besonders  zu  be- 
weisen. 

Aber  die  syllogistischen  Figuren  stehen  seit  den  zwei 
Jahrtausenden,  die  seit  Aristoteles  yerflossen  sind,  in  so 


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Ento  Figur. 


411 


hoKera  Ansehen,  und  meine  bisherige  Uarlegimg  war  leider 
selbst  so  lojyisch,  dass  es  vielleicht  doch  tfut  sein  wird,  die 
BtMsjuele  zu  voruu'hren,  die  Ueberzeugung  beim  Leser  zu 
beier^Ligeu.  Wie  in  jedem  alten  Hause,  so  gibt  es  auch  in 
Her  Logik  uralten  Hausrat,  der  lästig  im  Wege  steht,  weim 
mau  ihn  nicht  eines  Tages  einem  historischen  Mujseum  über- 
lässt  oder  ihn  verbrennt. 

Ich  werde  mich  in  diesem  Zusammenhang  nicht  bei 
der  historischen  Frage  aut  halten,  wer  eigentlich  unsere  vier 
Klassen  zuerst  aufgestellt  habe.  Gewiss  ist  nur,  dass  Aristo- 
teles drei  Klassen  kannte  oder  erfand,  und  zwar,  dass  er 
unklar  unter  der  ersten  Klasse  zusammenfasste,  was  jetzt 
noch  pedantischer  teils  der  ersten,  teils  der  vierten  Klasse 
zugewiesen  wird.  Nach  Angabe  der  arabischen  Philosophen, 
die  freilich  für  den  Acrztestand  sehr  viel  Übrig  hatten,  war 
Galenos,  der  berühmte  Sjstematiker  der  alten  Medizin, 
500  Jahre  nach  Aristoteles  der  Erfinder  der  Tierten  Figur, 
des  vierten  Spielzeugs  ftlr  philosophierende  Kinder. 

Bevor  wir  aber  en  die  harte  Anfjgabe  geben,  die 
Theorie  der  vier  Schlussfiguren  auseinander  su  legen, 
wollen  wir  dnmal  an  einem  uralten  Sehtdbeispid  ftr  die 
vier  Figuren  aufzeigen,  wie  leer  diese  ganze  Spielerei  fttr 
modernes  Denken,  flir  unsere  moderne  Sprache  geworden 
ist  Das  alte  Schulbeispiel  setzt  mich  nicht  dem  Verdachte 
au»,  besonders  schwache  Seiten  der  Logik  ausgewihlt  su 
haben.  Das  Schulbeispiel  spielt  mit  den  Begriffen:  Tugend 
und  Laster,  lobenswert  und  ntttilieh.  Der  SchQler  von  Logi- 
kern wird  sofort  die  vier  syllogtstischen  Figuren  wieder- 
erkennen; und  wer  das  nicht  vermagi  darf  sich  damit  be- 
gnOgen,  vier  veracbiedene  Qedankengtnge  der  Schule  bemerkt 
zu  haben. 

1.  Jede  Tugend  ist  lobenawert;  die  Beredsam*  Brat« 
keit  ist  eine  Tugend;  also  ist  die  Beredsamkeit 
lobenswert. 

Wir  bemerken  mnSchst,  dass  der  Obeisatz  ein  recht 
schwaches  tsutologisdies  Urteil  ist  Ob  wir  sagen,  irgend 
etwas  sei  eine  Tugend,  oder  es  sei  lobenswert,  das  ist 


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y.  Die  SchloMfolgeruog. 


doch  eigentlich  ein  und  dasselbe.  In  unserem  wirklichen 
Benken  gibt  es  eben  zwei  Worte  für  diesen  einen  sehr  un- 
klaren Begriff;  und  die  Urteile  «jede  Tugend  ist  lobens* 
wert*  und  «alles  Lobenswerte  ist  Tugend*  sind  beide  gleich 
gut  und  gleich  mchtssagend.  Was  bedeutet  aber  die  zweite 
Prämisse:  «die  Beredsamkeit  ist  eine  Tugend?*  Offenbar 
geht  doch  im  Oehim  des  Redenden  der  Sats  Toraus,  dessen 
Schulbeispiel  den  Schlnsssats  bildet:  »die  Beredsamkeit  ist 
lobenswert*.  Wer  dieses  Schlussurteil  nicht  vorher  gefWt 
hat,  wer  die  Beredsamkeit  für  unnütz  oder  gar  für  schäd- 
lich hftlt,  dem  wird  nicht  einfsUeni  die  Beredsamkeit  eine 
Tugend  zu  nomen.  ISin  Bismarck  wire  in  ein  grimmiges 
Gelächter  ausgebrochen,  wenn  man  ihn  gefragt  hätte,  ob  er 
die  Beredsamkeit  der  Abgeordneten  für  lobenswert,  für  eine 
Tugend  halte.  Aber  auch  er  wird  nicht  logisch  verfahren;  er 
wird  der  Beredsamkeit  das  Prädikat  lobenswert  nicht  darum 
absprechen,  wol  sie  kdne  Tugend  sd;  sondern  umgekehrt 
wird  er  das  Prädikat  Tugend  ablehnen,  weil  er  nichts  Lobens- 
wertes an  ihr  findet.  Der  Schlusssatz  geht  den  PHlmissen 
voraus.  Der  Schlusssatz  ist  das  älteste  an  dem  ganzen 
Gedankengang;  es  kann  also  in  ihm  nichts  Neues  erschlossen 
worden  seb. 

Ist  also  der  Wert  der  ersten  Figur  in  diesem  Schul- 
beispiel gleich  Null,  so  fragt  es  sich  noch,  ob  doch  wenig- 
ste die  Besinnung  auf  die  Möglichkeit  des  Urteils  «die 
Beredsamkeit  ist  lobenswert"  im  Gehirn  so  syllogistisch  vor 
sich  gehe.  Und  das  leugne  ich  entschieden.  Eine  einfache 
Selbstlieobachtung  belehrt  uns  eines  Bessern. 

Man  werfe  in  verständiger  Gesellschaft  die  Frage  auf, 
ob  Beredsamkeit  lobenswert  sei.  Die  meisten  werden  den 
notwendigen  Schulschhiss  aus  dem  erhabmen  Tugendbegriff 
gar  nicht  für  Notwendigkeit  halten,  sondern  aus  ihrer 
Lebenserfahrung  heraus  und  je  nach  ihrer  Lebhaftigkeit 
etwa  antworten :  bewahre,  die  Beredsamkeit  ist  etwas  recht 
Schlimmes!  oder:  die  Beredsamkeit  kann  ihre  Vorzüge  haben, 
relativ,  sie  kann  ihrem  Besitzer  zu  Einfiuss  verhelfen,  zu 
einer  Aufsichtsratstelle,  zu  der  Präsidentschaft  eines  Bezirks- 


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Bnte  Figur. 


413 


Vereins  oder  zu  einem  Ministerposten.  Was  ist:  lobens- 
wert? Ein  relativer  Begriff.  —  Aber  auch  von  denjenigen, 
welche  die  Löblichkeit  der  Beredsamkeit  zugeben,  wird  kein 
einzijrer  auf  dem  Wege  des  Syllogismus  zu  diesem  Urteil 
tjelaugen.  Kein  einziger  wird  den  Mitfcelbegriff  , Tugend* 
aufrusucbrti  eine  Veranlassung  haben.  Ganz  ohne  Logik 
wird  (Hese  Partei  den  Beo^ff  „lobenswert"  festhalten, 
das  iieisst  die  Erinnerung  au  die  Merkmale  dieses  Begriös, 
eigentlich  aber  nur  die  Erinnerung  an  die  Stimmung 
dieses  Begriffs.  Lobenswert,  das  ist  was  Schönes,  was  mir 
gefällt,  wozu  ich  ja  zu  sagen  pflege.  Ol;  Beredsamkeit 
lobenswert  sei?  Nicht  im  Traum,  nicht  im  verstecktesten 
Winkel  des  Unbewussten  wird  der  Gefragte  sich  selbst  die 
Zwischenfragc  vorlegen,  ob  Beredsamkeit  eine  Tugend  sei. 
Unmittelbar  wird  er  nach  seiner  eigenen  Lebenserfah- 
rung, also  nur  nach  seiner  Erinnerung  (das  heisst  also  nur 
nach  seinem  Sprachgebrauch),  die  Beredsamkeit  mit  dem 
BegriÜ'  des  Lobenswerten,  dessen  was  ihm  gefällt ,  ver- 
gleichen und  wird  unmittelbar  antworten:  jawohl,  warum 
denn  nicht. 

Zwei  Fälle  sind  möglich.  Entweder  er  hat  schon  vorher 
einmal  verglichen,  oder  er  hat  die  Vergleichung  anderer 
mit  dem  Worte  zugleich  aufgenommen,  er  verbindet  mit  dem 
Begriff  der  Beredsamkeft  ohnelim  schon  etwas  Lobenswertes, 
und  dann  wird  sein  Satz  «die  Beredsamkeit  ist  lobenswert* 
nur  ein  aprionsches  Urteil  seb,  das  nicbt  nur  in  der  kflnst- 
liclien  Prttmisse  »die  Beredsamkeit  ist  eine  Tugend*  schon 
driosteckte,  sondern  bereits  im  Begriff  «Beredflatnkett". 
Oder  aber  er  bArt  oder  beachte  die  Frage  nacb  ihr«'  L9b- 
Hcbkeit  zum  erstenmal,  and  dann  wird  er  je  nach  seinem 
Ohaiakter  von  jetzt  ab  mit  dem  Begriff  Beredsamkeit  eine 
freundliche  Stimmang  verbinden  oder  nicht.  Das  ist  der 
wirkliche  Vorgang  im  Qehim,  soweit  er  sich  unverschult 
in  Worten  ausdrficken  ISsst. 

Wir  haben  also  erfahren,  dass  der  Schlusssats,  der  mit 
absoluter  logischer  Gewissheit  aus  dem  Schulbeispiel  der 
ersten  Figur  henrorgeht,  erstens  falsch  oder  ungewiss  ist 


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4U 


V.  IHe  8ebliu0£o]geniiig. 


uiifl  zweitens  —  sofeiu  er  überhaupt  getiat^ht  wird  —  smea 
i'räiiiisHen  vurausgeht. 
Zweite         2.  Kein  Laster  ist  lobeusweri;  die  Beredsam" 
keit  ist  lobenswert;  also  ist  die  Beredsamkeit 
kein  Laster. 

Was  ifit  Laster  ? 

Es  ist  eiij  ziemlich  starker  Ausdruck  und  darum  eine 
Tcmperameutsfrage ,  ob  man  die  Beredsamkeit  ein  Laster 
nennen  wolle,  wenn  man  sie  nicht  mag.  VVad  die  Auf- 
merksamkeit nicht  auf  diesen  Funkt  gerichtet,  so  wird  nicht 
leicht  ein  Mensch  so  grob  werden.  Stellt  mau  aber  einen 
BisniArck  oder  sonst  einen  durchaus  thätigen  Menschen  vor 
die  AltematiTef  ob  die  Beredsamkeit  ein  Laster  sei  oder 
nicht,  so  wird  er  sich  wohl  am  £nde  aue  Aerger  fUr  ja 
entaeheideiu  hth  wiU  zugeben,  dasa  man  auch  urteilen 
könne,  die  BeredBamkeit  sei  kein  Laster.  Kor  um  die 
Notwendigkeit  dee  Sataea  iafe  es  doeh  woU  ecliwadi 
bestellt 

Denn  wieder  wird,  wer  den  SeUusssata  als  seine  Mei» 
nung  Tertritt,  daiu  nicht  auf  logischem  Wege  gekommen 
sein.  Diesmal  ist  »lobenswert*  der  Hittelbegriff.  Wieder 
lehrt  die  einfache  Selbstbeobachtong,  dass  kein  Mensch 
diesen  Hittelbegriff  zur  Entscheidung  der  Frage  nötig  habe. 
Dieses  ganze  Beispiel  der  zweiten  Figur  ist  schon  darum 
ein  richtiges  Schulbeispiel,  weil  im  wiridichen  Geistesleben 
der  Menschheit  vielleicht  noch  niemals  jemand  weder  auf 
den  Obersata  noch  auf  die  Frage  nach  dem  Schlusssate 
Terfallen  ist  «Kein  Laster  ist  lobenswert*,  das  ist  so  eine 
rechte  HilMinie,  die  ausser  in  der  Logik  nicht  Torkommt, 
so  wenig  wie  in  dem  Denken  ausser  der  Schule  der  Satz 
»keine  Ungrade  ist  grade".  Im  Untersatz  dagegen  iSge 
der  SchluBssatz  ganz  sicher  sdion  drin,  wenn  er  nur  nicht 
zu  dumm  wäre,  als  dass  man  so  kicht  an  ihn  dAchte.  Wer 
den  Untersatz  «die  Beredsamkeit  ist  lobenswert*  etwa  denken 
sollte,  der  denkt  ihn  nur  deshalb,  weil  er  so  ungelUir  der 
Meinung  ist,  Beredsamkeit  sei  was  Gutes,  nichts  Schlechtes, 
was  doch  noch  viel  mehr  sagt,  als  der  blosse  Schlusssatz 


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Zveito  Figur. 


41b 


„die  Beredsamkeit  sei  kein  Laster*.  Dieser  lil'isssatz  ist 
ein  Minimum,  bis  zu  welchem  das  menschliche  Denken  kaum 
ohne  beßondereu  Aiilauss  hinabsinkt.  Wird  es  aber  auf  dieses 
Miüiiiiuiü  durch  eine  duiuaie  Frage  gestossen.  so  richtet  das 
menschliche  Gehirn  seine  Aufmerksamkeit  eben  wieder  auf 
seine  Erinnerung  oder  Erfahrung,  und  wenn  es  gewohnt 
ist  oder  Veranlassung  hat,  der  Beredsamkeit  freundlicii  zu 
gedenken,  so  wird  es  den  iicliiusssatz  ,die  Beredsamkeit  is?t 
kein  Laster"  zum  mindesten  aussprechen  und  die  Präraisse 
«die  Beredsamkeit  ist  (sogar)  lobenswert"  eben  nur  darum, 
weil  der  Schlusssatz  gar  zu  wenig  s.igte. 

Wir  haben  also  wieder  erfahren,  dass  der  Schlusssatz, 
der  mit  logischer  Qewiseheit  aus  dem  Schulbeispiel  der 
zweiten  Figur  liervorgeht,  entens  falech,  benelumgs weise 
eine  Kinderei  ist  und  xwmbnB  —  wenn  er  tiberiuuipt  durch 
eine  Schfikrfrage  hervorgerufen  wird  —  eeinen  Primiseen 
▼orausgehL 

Ich  mochte  aber  jetat  noch  etwas  hinsufügen,  was  Ar 
beide  Figuren  wichtig  ist 

Wae  ist  Beredsamkeit?  Was  ist  Tugend?  Was  ist 
Laater?  Die  Logiker  sind  geborene  Sophisten  und  werden 
mich  sofort  bei  diesen  Fragen  lu  fissen  suchen.  Die  Not- 
wendigkeit, die  Beweiakrail  aller  logischen  Schlösse  setae 
höchst  klare  und  deutliche  Begriffe  Toraus.  Das  FUessende 
und  Unbestimmte  meiner  Gdiim7oig9nge  komme  eben  nur 
daher,  dass  ich  von  Beredsamkeit,  Tagend  und  Laster  keine 
feste  Definitionen  bei  mir  trage,  dass  ich  ein  Skeptiker  oder 
Qott  weiss  was  seL  Sie  —  die  Logiker  besftsaen  musfeer- 
gOltige  Definitionen  der  Begriffe  und  darum  gehe  aus  ihren 
Schlussfolgeningen  alles  mit  Notwendigkeit  herror,  wie  am 
SchnUrehen. 

Darauf  habe  ich  zu  erwidern,  dass  ich  im  allgemeinen 
alle  Begriffe  fDr  mehr  oder  weniger  fliessend  halte  und  Jen 
Schulmeistern  einfach  nicht  glaube,  die  sich  des  Besitses 
von  todsichem  Definitionen  rtthmen.  Aber  es  hälfe  ihnen 
nichts,  auch  wenn  sie  sie  besässen*  Denn  Definitionen  sind 
jeder  Frage  gegenüber  nur  leere  Rahmen.  In  dem  Augen" 


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416 


V.  Die  Schluaafolgarung. 


blick  der  Boyinuung  auf  die  Bedeutung  eines  Begriffs  wird 
das  ebrli<  he  Denken  über  die  Definition  hinaus  auf  die  Be- 
griffsbild ui  ig  /urUckgeben,  die  payckologisch  identisch  ist 
mit  der  Detinidonsbildunsr.  Das  ehrliche  Denken  wird 
sicii  auf  seine  Lebenserfakruiig  besinnen,  auf  seine  Eriune- 
run<^',  und  so  wird  eben  das  geschehen,  was  ich  bei  beiden 
obigen  Figuren  behauptet  habe:  das  meuscliliche  Gehirn 
wird  den  Schlusssatz,  soweit  er  als  eine  Frage  vorliegt, 
nicht  mittelbar  aus  allgemeinen  Prämissen  heraus,  sondern 
unmittelbar  aus  seiner  Srmnerang  oder  Erfahrung  heraus 
beantworten. 

Und  genauer  bemerkoi  wir  den  lilciheriichen  Keben- 
tunstaad,  daas  der  SebloasBatB,  der  angeVlich  dnrtb  logische 
Arbeit,  also  spftt^  in  der  Zeitfolge,  ans  der  Scblussfolge- 
Tung,  das  beisst  aus  der  Verknüpfung  der  Prämissen  beiror* 
geben  soll,  beinahe  eingestandenermassen  in  der  Form  der 
Frage  allem  Torausgebt  Denn  so  gottverlassen  sind  doch 
selbst  die  Logiker  nicht,  dass  sie  die  logische  Denkopera* 
tion  wie  das  Experimentieren  eines  Sudelkocbs  betrachten, 
der  allerlei  zufftllige  Dinge  in  einen  Topf  zusammenwirft, 
ohne  eine  Ahnung  davon ,  was  dabei  herauskommen  wird. 
Dritte  3.  Jede  Tugend  ist  lobenswert;  jede  Tugend 
ist  ntttslieh;  also  ist  einiges  NOtzliche  lobens- 
wert. 

Was  in  den  beiden  bisherigen  FSUen  ausgeftlbrt  worden 
ist,  das  braucht  hier  nur  angedeutet  su  werden.  Wir  wissen 
schon,  dass  das  Urteil  «jede  Tugend  ist  lobenswert*  zitternd 
und  formlos  ist  wie  Gidlerte,  eine  schwächliche  Tautologie, 
nicht  flüssig  und  nicht  fest.  Noch  schlimmer  steht  es  um 
den  Satz  Jede  Tagend  ist  ntltzlich'.  Fttr  wen  nützlich? 
Fttr  mich,  Är  meine  Familie,  ffekr  mein  Volk,  für  die  lebende 
Menschheit,  für  die  Entwickelnng  der  Menschheit?  Die 
Sache  ist  fraglich.  Man  rechnet  doch  Gerechtigkeit  gewiss 
zu  den  Tugenden?  Und  doch  soll  die  höchste  Gerechtig- 
keit sehr  schädlich  sein.  Summum  jus,  summa  injuria. 
Bobespierre  war  ein  tugendhafter  Mann.  Angenommen 
aber  auch  wir  wären  uns  klar  Uber  die  Begriffe  nützlich 


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Dritte  Figiir. 


417 


und  Tugend,  und  hielten  dann  Ins  Urteil  aufrecht,  jede 
Tugend  sei  nützlich:  wie  d&na)^  Ist  die  Tugend  nützlich, 
insofern  sie  Tugend  ist,  oder  ist  ihre  Nützlichkeit  ein  /u- 
f&lliges  Nebenniei  kmal  an  ihr,  etwas,  was  mit  ihrem  Wesen 
nichts  zu  thun  hat'-'  Was  zu  ihrer  Definition  nicht  taugt? 
Dieselbe  Frage  iiiü^  te  man  sich  bei  dem  Schlusssatze  stellen. 
Besteht  ein  innerer  Zusammenhang^  zwischen  der  Ntltzlich- 
keit  und  der  Löblichkeit?  Be^ileht  ein  solcher  Zusammen- 
hang, so  hat  der  Satz  einen  ganz  anderen  Sinn,  als  wenn 
ein  solcher  Zusammenhang  nicht  bestünde.  Auch  hier  kommt 

viel  auf  die  Richtung  der  Aufmerksamkeit  an.  Der  Satz 
„mancher  Philosoph  ist  kahlkopfig'"  sein mt  keinen  wissens- 
werten Inhalt  zu  haben.  Richtete  man  aber  seine  Auf- 
merksamkeit auf  die  Ursache  der  Kahlköpfigkeit,  dann  wäre 
der  Satz  am  Ende  wissenswert. 

W  ir  haben  also  in  dem  Schulbeispiel  der  dritten  Figur 
erstens  eine  gallertartige  und  zweitens  eine  recht  zweifel- 
hafte IVämisse  und  wir  haben  einen  Schlusssatz,  der  erst 
durch  die  Erfahrung  des  Urteilenden  seinen  Sinn  erhält. 

Selbstverständlich  fällt  wieder  keinem  Menschen  ein, 
wenn  er  nach  der  Wahrheit  des  Schlusssatzes  gefragt  würde, 
erst  den  Mittelbegriff  , Tugend"  heranzuholen.  Auf  die 
Frage,  ob  manches  Nützliche  lobenswert  sei,  wird  das 
wirkliche  Denken  höchstens  auf  Wirklichkeitserinnerungen 
zmUckgehen,  wird  z.  B.  die  Nahnmgsauinahme,  die  Ver- 
dauung, die  Kindeirerzeugung ,  den  alltäglichen  Geschäfts- 
betrieb n.  8.  w.  ab  nOfadiche  ThStigkeiien  an  sich  TorQber- 
siehen  lassen,  welche  die  landläufige  Moral  nicht  mit  dem 
FriUikat  lobenswert  beehrt  Unabhängiges  Denken  wird 
vielleicht  stutzen  und  darfiber  nachsinnen,  ob  der  mensch- 
liche Sprachschata  nicht  wieder  einmal  zu  bereidieni  wäre, 
ob  man  dergleichen  Thltigkeiten  nicht  ebenfalls  lobens- 
wert nennen  könnte,  ob  lobenswert  und  nfltslich  nicht  im 
letzten  Grunde  identische  Begriffe  waren.  Im  Banne  des 
gewohnten  Sprachschatzes  aber  wird  der  Urteilende  (der 
dämm  auch  ein  moralischer  Kensdi  heisst)  wdtere  Brin- 
nerungen  an  Nützliches  wachrufen.   Er  wird  z.  B.  die  nflts- 

Xftniliiier,  B«ititt«  m  «ia«r  Kritik  <«r  8pn«k*.  m.  27 


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418 


V.  Die  SchlusKfolgerung. 


liehe  Thiitigkeit  der  Kindererziehung  uud  des  Vaterlands- 
dienstes ganz  wohnheitsmässig  unter  den  Begriff  des 
Lobenswerten  fallen  lassen,  und  wird  so  beruhigt  sagen: 
jawohl,  einiges  Nützliche  ist  schon  lobenswert.  Unmittelbar 
wird  er  dieses  Urteil  fallen;  und  erst  später  kann  er  auf 
den  zusammenfassenden  Gedanken  kommen :  Da  habe  idi  ja 
gefunden,  dass  Tugenden  nützlich  sind;  das  ist  mir  vorher 
gar  nicht  eingefallen.  Ob  am  Ende  alle  Tugenden  nütz- 
lich nndP  Bann  könnte  man  sogar  tagendhaft  werd». 
Fragt  sieh  nnr,  für  wen  sie  nftttlich  sind«  ünd  was  heisst 
Uberhaupt  nütiiUeh?  «Hol*  der  Teufel  das  Denken,*  wird  er 
dann  wohl  enden,  «ich  werde  weiter  handeln  wie  ich  kann 
und  muss,  und  mag  der  Pfaff  an  meinem  Sarge  sieh  den 
Kopf  darüber  serbrecheUf  ob  es  tugendhaft  gewesen  ist  oder 
nicht.*  Damm  ist  ja  Falstaffs  Monolog  Über  die  Ehre  so 
wundervoll,  weil  Shakespeare  da  den  Nomiualisten  Falstaff 
so  logisch  reden  lässt  Wie  kSsflich  lässt  Goethe  denselben 
FalstalF  (im  Fragment)  fortfahren:  «Der  Mensch  besteht  aus 
zwei  Teilen,  einem  Temflnftigen  Leib  und  einer  unyemOnf- 
tigen  Seele,  sage  ich.*  Wie  denn  derselbe  Goethe  weiss: 
,Alle  Beweise,  die  wir  Torbxingen,  sind  doch  nur  Yaiia- 
tionen  unserer  Meinungen.* 

Wir  haben  also  wieder  als  logisch  notwendiges  Er* 
gebnis  im  Schulbeispiel  der  dritten  Figur  einen  Sats,  mit 
dem  wir  nichts  anzufangen  wissen,  der  aber  immerhin  froher 
da  war  als  seine  Prämissen, 
ztitfbi««       Um  doch  ein  wenig  fortzuschreiten,  will  ich  nun  hier, 
logiamns  ^  dritten  Figur,  eine  allgemeine  Bemerkung  ein- 

fügen Aber  die  Zeitfolge  in  der  Denkoperation  des  Syl- 
logismus. Wir  sehen  jetzt  schon  gewiss  im  einzelnen  be- 
stätigt (weil  doch  die  vierte  Figur  durch  Jahrhunderte 
unbekannt  war,  ohne  den  Menschen  zu  fehlen),  dass  das  an- 
gebliche Ergebnis  der  Schlussfolgerungen  jedesmal  der  ent- 
scheidenden Pkftmisse  in  der  Zeit  Torausgeht.  Wir  wussten 
das  längst.  Denn  auch  der  Schlusssatz  war  ja  schon  in 
dem  Begriff  seines  Subjekts  enthalten  und  der  Mittelbegriff 
wire  bestenfalls,  falls  man  ihn  zur  Besinnung  gebraucht 


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Zdtfo^  im  Sjllogüiniu. 


419 


hätte,  nur  die  Erinnerong  an  eine  zurückgelegte  Station  in 
der  Begriffsbildung  gewesen.  Oder  umgekehrt.  Nun  aber 
wollen  wir  der  wirklichen  Zeitfolge  in  s(»lclien  Denkopera- 
tionen  etwas  allgemeiner  nachforschen,  nämlich  psychologisch. 

So  wie  das  Schema  eines  Syllogismus  auf  das  Papier 
geschrieben  oder  gedruckt  wird,  gebt  es  in  regelmässigem 
JELhytbmus  von  1  zu  2  und  dann  zu  3  Uber.  Es  besteht 
im  Gedankengang  des  Logikers  ohne  jede  Frage  eine  zeit- 
liehe  Aufeinanderfolge,  in  welcher  der  Untonsatz  auf  den 
Obersatz  folgt  und  der  Schlusssatz  —  nach  einer  kleinen 
Kunstpause  —  auf  den  Untersatz.  Kann  aber  irgend  ein 
Kopf  von  modemer  naturwissenschaftlicher  Bildung  auf  den 
ganz  perversen  Einfall  kommen,  dass  im  wirklichen  Denken 
unseres  Gehinis  eine  solche  Zeitfolge  stattfinde?  Vor  allem 
wird  für  die  Zeitfolge  des  Untersatzes  nach  dem  Obersatz 
mir  (las  Blödsinnige  dieses  Oedaukens  ohne  weiteres  zu- 
gestanden werden.  Oßenbar  war  es  bis  zur  Stunde  ein 
bildlicher  Ausdruck,  wenn  dieses  Verhältnis  eine  Zeitfolge 
genannt  wurde.  Die  beiden  Prämissen  ^alle  Fische  leben 
im  Wasser"  und  ,die  Wale  sind  keine  Fische*  sind  doch 
ohne  Zweifel  als  Erinnerungen ,  als  Begriffsdefinitionen 
gleichzeitig  im  Gehirn  enthalten  und  es  hängt  einzig  und 
allein  von  der  Erregung  der  Aufmerksamkeit  ab.  ob  der 
eine  oder  der  andere  Satz  früher  ins  Bewusstsein  fällt.  Ein 
viel  besseres  Bild  des  Verhältnisses  wäre  also  das  räum- 
liche Bild  des  ^Nebeneinander.  Die  Seel»  in  höchst  eigener 
Person  muss  doch  irgend  wann  einmal  die  beiden  Prämissen 
nebeneinander  betrachten  und  vti  i::lrirlu  n  können,  um  über- 
haupt zu  ihrem  Schlusssatze  zu  kimimeji.  Darüber  aber 
lüuehte  wohl,  so  werden  die  eingefleischten  Logiker  sagen, 
einige  Zeit  vergehen,  bis  aus  der  Vergleichung  der  Schluss- 
satz hervorgehe,  und  darum  sage  mau  mit  Recht,  er  folge 
den  Prämissen  oder  er  folge  aus  den  Prämissen,  welch 
letzterer  Ausdruck  dann  sofort  seine  Bildlichkeit  verrät. 
Wie  man  sieht,  denke  ich  mir  unter  meinem  eingefleischten 
Logiker  schon  einen  bessern  Kopf,  dem  das  Metaphorische 
in  den  Begriffen  Schluss  und  Folge  klar  gewurden  ist. 


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420 


y.  Die  SeUoMfolgetiuig. 


Nun  will  ich  davon  absehen,  dass  ich  theoretisch  und 
durch  Beispiele  bewiesen  zu  haben  erlaube,  dass  der  Schluss- 
satz seinen  Prämissen  immer  vorausgeht.  Angenommen 
aber,  ich  hätte  noch  gar  nichts  bewiesen,  so  will  ich  jetzt 
nur  daran  erinnern,  dass  wir  vor  kurzem  erst  gesehen  haben, 
wie  die  ganze  Denkoperation  des  Schliessens  erst  dann  vor- 
getionnnen  werde,  wenn  deutlich  oder  undeutlich  nach  der 
Richtigkeit  oder  Wahrheit  des  Schhisssatzes  gefragt  worden 
war.  Zwischen  der  Frorr»»  und  ihrer  Bejahung  ist  gewiss 
ein  Unterschied,  ich  sage,  der  Mensch  beantworte  die 
Frage  unniittelbar  aus  seiner  Erinnerung  oder  aus  seinem 
Sprachschatze  heraus;  der  Logiker  sagt,  der  Mensch  be- 
antwoiie  die  Frage  nach  einem  schulgerechten  Syllogismus. 
Auch  der  Logiker  aber  wird  in  guter  Behandlung  zugeben 
mU.ssen,  dass  die  Frage  früher  da  sei  als  der  ganze  Syl- 
logismus. Die  Aufstellung  der  Frage  bedeutet  aber  nichts 
anderes,  als  die  Kichtuug  der  Aufmerksamkeit  auf  den  In- 
halt des  Schlu>ssatzes.  Diese  Hichtung  der  Aufmerksam- 
keit geht  also  bestimmt  in  der  Zeitfolge  der  Denkoperation 
voraus,  und  da  sie  das  Wesentliche  der  Denkoperation  ent- 
halt, so  scheint  mir  auch  von  diesem  Gesichtspunkt  aus  der 
Syllogismus  eine  traurige,  nachhinkende  Rolle  zu  spielen. 
Auch  die  Kugel  aus  der  Büchse  tiifft  die  Scheibe  in  der 
Zeitfolge  erst  nach  der  Thatigkeit  des  Zielens ;  aber  der 
Schütze  richtet«  seine  Aufmerksamkeit  auf  da.s  Zentrum  der 
Scheibe,  bevor  er  zielte,  wenn  auch  noch  so  kurz  vorher. 

Hierzu  bemerke  ich  ohue  weitere  Ausführung,  dass  die 
kindliche  Vorstellung  einer  Zeitfolge  der  Prämissen  bei  der 
Einteilung  des  Syllogismus  in  die  vier  Figuren  ganz  ernst- 
haft und  sogar  scharfsinnig  zu  Grunde  gelegt  worden  ist. 
Mau  schliesse  daraus  logisch  auf  den  Wert  dieser  Ein- 
teilung. 

Ktwia-  An  dieser  Stelle  wird  es  nfifadicli  und  darum  vidleicilit 
^^l^'  auch  lobenswert  sein  einiges  Ntttdiche  ist  lobenswert*), 
JMgSk.  auf  das  räumliche  Bild  znradczukommen,  mit  welchem  die 

Logiker  alle  VerbSltnisse  der  Begriffe  su  beweisen  vorgeben. 

Wir  haben  schon  im  allgemeinen  gesehen,  dass  die  soge- 


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Krosbildung  der  Logik. 


421 


nannte  Sphärenvergleichiing  nur  ein  falsches  Bild  von  den 
wirklichen  Gehirnvorgängen  gibt,  dass  sich  aus  der  Ein- 
zeichnmig  von  Kreisen  durchaus  nichts  beweisen  lasse.  In 
unserem  Falle,  der  in  der  Logik  der  erste  Schlussniodus 
(Darapti)  der  dritten  Figur  heisst,  würde  der  Beweis  aus 
der  Sphärenvergleichung  etwa  so  heissen :  der  Begriff  Tugend 
gehört  zugleich  der  Sphäre  des  Lobenswerten  und  der  Sphäre 
des  Nützlichen  an ,  die  beiden  Sphären  müssen  also  etwas 
Gemeinsames  haben,  es  inuss  also  einiges  Nützliche  lobens- 
wert sein  oder  umgekehrt.  Ich  lasse  beiseite,  dass  —  wie 
wir  gesehen  haben  —  der  Mittelbegriff  der  Tugend  gar 
nicht  gedacht  wird,  dass  also  bei  einer  eventuellen  Sphären- 
vergleichung  das  Gemeinsame  der  beiden  Sphären  gar  nicht 
zum  Bewusstsein  kommt.  Ich  will  jedoch  nur  an  das  Falsche 
des  Bildes  erinnern.  Denkt  man  bei  den  beiden  Begriffen 
des  Lobenswerten  und  des  Nützlichen  an  den  Inhalt,  das 
heisst  an  die  wenigen  BegrülinaBiMrlanale,  so  ISsst  sich  ttber- 
banpt  an  eine  geschlossene  geometrische  Figur  nicht  denken. 
Man  konnte  dann  hdehstras  das  Bild  von  Linien  gebraucben, 
die  einen  Punkt  gemeinsam  haben,  was  dann  (wohlgemerkt) 
immer  nur  ein  Bild  wSre.  Denkt  man  nun  an  einen  Um- 
fang der  beidoi  Begriffe,  das  heisst  an  den  Haufen  Ton 
Dingen  oder  Th&tigkeiten,  die  wir  einerseitB  durch  den  Be- 
griff lobenswert,  anderseits  durch  den  Begriff  nützlich  xu- 
sammenxttfassen  pflegen,  so  ist  dann  für  jeden  einzehien 
Begriff  eine  geschlossene  geometrische  Figur  nicht  gans  so 
sinnlos,  ob^^ich  mir  das  Büd  Ton  einer  Kugel  besser  ge- 
'  fiele.  Wie  in  aller  Weit  aber  soll  die  sogenannte  Seele 
.  dazu  kommen,  innerhalb  ihres  Gehirns  die  beiden  Kugehi 
oder  Kreise  mit  einander  zu  Tergleichen,  wenn  diese  Kugeln 
oder  Kreise  nur  Bilder  des  wirkfichen  Sachverhalts  sind. 
Bilder  sind  Ja  nur  Erinnerungszeichen  fllr  das,  was  der 
Bildner  vorher  gesehen  hat.  Findet  er  zwischen  zwei  Bil- 
dern Aehnlichkeiten,  die  er  vorher  nicht  gesehen  hat,  so 
wird  er  den  Bildern  Airs  erste  misstrauen  und  erst  nach 
Yergleichung  der  wirUichen  Originale  auszuspredien  wagen, 
ob  ^ese  Aehnlichkeit  ein  Zufall  sei  oder  nicht   Ohne  Be- 


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422 


V.  Die  Schlusafulgerung. 


achtung  der  Originale  gibt  es  keine  Gewinheit,  ohne  Zuiück- 
erinnerung  an  die  allem  Denken  sn  Chnuide  liegenden 
SumeseindrOeke  k«nn  es  kmn  ürtell,  kein  Schliessen,  kein 
Denken  geben.  Die  Dinge  und  Tkitigkeiten,  die  wir  Tom 
Standpunkt  anserae  Interesses  alle  nOtelicfa  nennen,  liegen 
doch  im  Gehirn  nicht  als  Kugel  oder  Kreis  wie  in  der  Vor» 
Stellung  eines  Mathematikers  beisammen;  ebensowenig  liegen 
die  Thätigkeiten  oder  Handlungen,  die  wir  von  einem  gaas 
andern  Standpunkt  aus,  Tom  Standpunkte  der  Horal,  lobens- 
wert nennen,  in  unserem  Oehim  zu  Kugeln  oder  Kreisen 
geordnet  da.  Da  ist  irgendwo  die  Erinnerung  an  ein  Ding 
oder  an  eine  Thätigkeit,  die  wir  uns  gewöhnt  haben,  sehr 
schndl  und  sehr  leicht  mit  dem  abstrakten  B^oprüF  nützlich 
zusammen  auszusprechen;  da  sind  Erinnerungen  an  Hand- 
lungen an  irgend  ein  Gehimteilchen  geknfipft,  die  wir  uns 
gewöhnt  haben,  leicht  und  schnell  mit  dem  abstrakten  Be- 
griff lobenswert  zusammen  zu  denken  oder  auszusprechen. 
Wird  nun  unsere  Aufmerksamkeit  zum  erstenmale  oder 
wiederholt  darauf  gerichtet,  ob  es  unserem  Gehirn  und  seinen 
Assoziationen  leicht  oder  schwer  fWt,  die  Begriffe  lobens- 
wert und  nfltzlich  zusammen  zu  denken  oder  auszusprechen, 
so  werden  wohl  im  Gehirn  zahllose  Yersuchsmeldungen  hin 
und  her  ziehen,  das  Gedächtnis  (ich  mnss  es  in  diesem 
Augenblick  wieder  und  zu  meinem  Schmerze  mythologisch 
gebrauchen)  wird  unter  sdnen  Erinnerungen  diej«ugen 
heraussuchen,  die  sich  schnell  und  leicht  sowohl  mit  dem 
Abstraktum  nützlich,  als  mit  dem  Abstraktum  lobenswert 
7.U  vereinigen  i  ficgen,  und  wird  dann,  ohne  Kreis  und  oluie 
Kugel  und  ohne  den  eingeschriebenen  kleineren  Kreis  „Tu- 
gend", je  nach  Erfahrung,  Stimmung,  Unabhängigkeit  und 
Aufmerksamkeit  dazu  kommen,  das  Urteil  auszuspredien 
«einiges  Nützliche  ist  lobenswert*  oder  am  Ende  gar  das 
neue  lachende  Urteil  ,wir  nennen  das  Nützliche  immer 
lobenswert" . 

Nun  aber  haben  wir  früher,  als  zuerst  von  der  Sphären - 
Torgleichung  die  Rede  war,  erfahren,  dass  Aristoteles  selbst 
Ton  diesen  Eselsbrücken  noch  nichts  wusste.  Er  hat  die 


Bedokdon. 


428 


Sphärenvergleiclmiig  in  vernünftigerer  Form  als  ünter- 
ordnun'jf  der  Begriffe  nur  bei  der  ersten  Figur  nntf^wandt, 
hat  darum  auch  nur  diese  erste  Figur  für  voll  genonunen 
und  die  anderen  Figuren  nur  insofern  als  wissenschattiich 
bewiesen  angesehen,  als  sie  sich  durch  allerlei  logische 
Hilfsoj)erationen  auf  die  erste  Figur  zurückführen  liessen. 
Wir  haben  eigentlich  schon  dieses  ^nure  Ht  \\ nsverfahren 
dadurch  erledigt,  dass  wir  die  UDmitteibaren  Schlüsse  aus 
Urteilen  —  aus  welchen  natürlich  alle  Hilfsoperationen  der 
aristotelischen  Beweise  bestehen  —  in  ihrer  Ohnmacht  und 
Wertlosigkeit  aufzeigten.  Wer  mir  bis  hierher  gefolgt 
ist,  muss  auch  von  diesem  Umwege  aus  dahin  gelangen, 
wenigstens  die  zweite,  dritte  und  vierte  Figur  als  unbewiesen 
zu  betrachten.  In  unserem  bchalbeispiel  aber  ist  es  ganz 
ergötzlich  zu  sehen,  wohin  die  indirekte  Beweisflihrung  ge- 
laufen w'iire.  Die  Scholastiker  haben  in  die  barbarischen 
Namen  der  Schlussmodi  auch  schon  den  Gang  dieser  Be- 
weLsreduktion  hinübergeheimnist.  Das  p  in  Darapti  deutet 
—  wenn  ich  nicht  irre  —  darauf  hin.  dass  man  den  Unter- 
satz zu  einem  partikularen  Urteil  umkehren  könne  (ganz 
nebenbei  bemerke  ich,  dass  die  Geheimnisse  dieser  bar- 
bwisehen  Namen  deshalb  ganz  unnütz  und  ganz  tadelns- 
wert sind,  weil  der  denkende  Kopf  doch  immer  erst  vorher 
wissen  mllsste,  welche  Besonderheiten  seinen  Schluss  z.  B. 
unter  Dsmpti  einreihen,  damit  er  diese  selben  Besonder- 
heiten dann  ans  Darapti  heraus  chiffiriere).  Aristoteles  also, 
der  weiseste  Mann  in  der  Oesohiehte  derPhikisophie,  wttrde 
unser  Sehulbeispiel  der  dritten  Figur  auf  ein  Schulbeispiel 
aus  der  ersten  Figur  znrQckgeftlhrt  haben.  Um  su  dem 
Schlusssatse  zn  kommen,  dass  ei  mg  es  Nfitsliehe  lobenswert 
sei,  mUsste  er  Torher  die  Prämisse  «jede  Tugend  ist  ntttadich* 
zn  dem  schönen,  aber  wohl  noch  niemals,  seitdem  die  Welt 
steht,  in  einem  Menschengehim  von  selbst  entstandenen  TJr« 
teil  umformen  «einiges  Nützliche  ist  Tugend";  solche  Ur- 
teile bilden  wir  Oberhaupt  nicht.  So  albern  ist  unsere 
Sprache  denn  doch  nicht.  Wir  sagen  nicht:  »einiges  Blaue 
ist  Himmel,  einiges  Weisse  ist  Reisbrei*.  Aber  Aristoteles 


V.  Die  Sehlimfolgeniiig. 


musste    es   sagen,    um   beweiskraftig  und  triumphierend 
scblio^scn  zu  köniien:   „einiges  Nützliche  ist  Tugend,  alle 
Tugeud  ist  lobenswert,  also  Lst  einiges  Nützliche  lobenswert*. 
Vierte  4.  Jede  Tugend  ist  lobenswert;  alles  Lobens- 

werte  ist  nützlich;  also  ist  einiges  Nützliche  eine 
Tugend. 

Der  Leser  wird  es  mit  mir  satt  haben,  diesen  alten 
Hausrat  der  Logik  noch  länger  im  einzelnen  zu  untersuchen. 
Diese  vierte  Figur  ist  ohnehin  der  spät  geborene  Bastard 
aus  der  Enkelschaft  des  Aristoteles.    Wir  wollen  nur  be- 
merken, was  aus  dem  V'oi  Lei  gesagte n  kurz  zu  wiederholen 
wäre.    Der  Obersatz  ,jede  Tugend  ist  lobenswert"  ist  uns 
als  gallertartige  Tautologie  bekannt.    Der  Schlusssatz,  dass 
einiges  Nützliche  eine  Tugend  sei,  ist  eben  als  eine  durch- 
aus  künstliche  Sprachrerrenkung  erkannt  worden.  Aber 
selbst  diese  Sprachverrenkung  wird  dem  denkenden  Menschen 
früher  einfallen,  als  die  zweite  Präraisse,  aus  der  sie  hervor- 
gehen soll.    ,Dass  jedes  Lobenswerte  nützlich  sei*",  das  ist 
je  nach  dem  Staudpunkt  der  betreiBfendeu  Moral  oder  Re- 
ligion ein  gar  zweifelhafter  Satz,  sofern  er  nicht  von  un- 
moralischen und  irreligiösen  Denkern  für  einen  tautologischen 
Satz  erklärt  wird.    Die  Reduzierung  auf  die  erste  Figur 
würde  eine  Reihe  von  Spraehrerr^ikinigeii  nötig  machen. 
Es  steht  so  schlimm  um  die  Tierte  Figur,  dass  man  von 
ihr  nicht  eiimnal  das  mft  Bestimmtheit  sagen  kann,  dass 
ihr  Schlnsssats  den  Pr&missm  immer  voraus  gehe.  Man 
denkt  überhaupt  nicht  in  der  vierten  Figur.  Bas  wirkliche 
Denken  gewiss  nicht,  und  auch  dem  Logiker  bereitet  sie 
Schmerz. 

Die  Art  jedoch,  mit  der  unser  Kerl  im  Wirtshaus  sdme 
bescheidene  Welt  in  Begriffe  bringt,  wttrde  sich  unter  der 
Herrschaft  der  vier  syllogistiscfaen  Figpiren  etwa  folgender- 
massen  ausnehmen. 

1.  Jeder  Eise  ist  ein  Kas;  Ohester  steht  unter  Ease; 
also  muss  Chestor  ein  Eas  sein. 

2.  Eein  Eise  ist  wohlriechend;  die  Rose  ist  woU- 
rieehmd;  also  ist  die  Rose  kein  Eise. 


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Ente  ligar. 


425 


Teder  Ohester  ist  gelb;  jeder  Ghester  ist  ein  Eng- 
länder; also  sind  einige  Engländer  gelb. 

4.  Jedes  Wohlschmeckende  lobt  sich  selbst;  jedes  Selbst- 
lob  stinkt;  also  ist  elnigM  Stinkende  wohlschmeckend. 

« 

In  verhältnismässig  jungem  Alter,  beinahe  20  Jahre  Ente 
vor  der  Kritik  der  reinen  Vernunft,  hat  Kant  sich  in  einer 
kleinen,  überaus  radikalen  Schrift  mit  der  Schullogik  seiner 
Zeit  ausciiianrler  zu  setzen  gesucht.  Er  hat  später  in  seinen 
Vorlesungen  über  Logik  selbst  arg  verwässert,  Avas  er  in 
diesen  zwei  Druckbogen  niedergelegt  hatte ,  die  den  Titel 
führen:  ,Die  falsche  Spitzfindigkeit  der  virr  >yllogistischen 
Figuren  erwiesen".  Der  Titel  stimmt  nicht  ganz  genau  zu 
dem  Inhalt  des  öchntlchens.  Eigentlich  bewei-^t  Kant  nur, 
dass  die  zweite,  dritte  und  vierte  Figur  spitzhnnig  und  über- 
flüssig der  ersten  Figur  hinzugefügt  seien.  Im  letzten  Para- 
graphen erst  lässt  er  die  Vermutung  durchscheinen,  dass 
es  auch  mit  dem  W  erte  der  ersten  Figur  nicht  viel  auf 
sieb  habe. 

Wenn  so  Aristoteles,  der  Begründer  unserer  Schullogik, 
und  Kant,  der  Zertrümmerer  aller  Schulmetaphysik,  darin 
übereinstimmen,  dass  alle  Schlussfiguren  ihre  Bedeutung 
von  der  ersten  Figur  hernehmen,  werde  ich  wohl  in  Folgen- 
dem mich  umsomehr  begnügen  dürfen,  an  die  erste  Figur 
anzuknüpfen,  was  ich  über  diese  Denkoperationen  etwa  noch 
zu  sagen  habe.  So  will  ich  denn  an  dieser  Stelle  Kant  ;il3 
eine  Autontiii  citieren.  Ich  hoffe  zu  zeigen,  wie  nahe  Kant 
an  meinen  Grundgedanken  heiiintritt  und  wie  er  ihn  nur 
d;iii:ni  nicht  mit  Händen  greift,  weil  er  die  Kniik  der  Ver- 
nunlt  üitiit  als  eine  Kritik  der  Sprache  fassen  konnte.  Wobei 
ich  nicht  vergessen  will  zu  erwähnen,  dass  kein  Fachmann, 
sondern  nach  Hamann  erst  wieder  der  Grübler  Hebbel  auf 
diese  Schwäche  Kants  hingewiesen  hat.  Er  sagt  (in  einer 
Besprechung  des  Schleicherschen  Buch^  über  die  deutsche 
Sprache):  , Es  ist  bezeichnend,  dass  ein  solcher  Universal- 


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426 


7.  Die  Schliuafolgefimg. 


köpf  wie  Kant.  »Ipt  kf»itien  Stein  auf  dem  andern  liess  und 
jede  Anschauuiii(,  die  er  im  menschlichen  Gehirn  antraf, 
zum  Begriffe  zu  verdünnen ,  jeden  Begriff  zur  Anschauung 
zu  verdicken  suchte,  bei  dem  Medium,  dessen  er  sich  be- 
diente, keinen  Antrenblick  verweilfe  und  die  Sprache  auch 
nicht  der  flüchtigsten  Prüfung  unterzog." 
Eant.  Kant  geht  von  der  guten  scholastischen  Beobachtung 

aus,  dass  ein  Vemunftschluss  die  Vergleichnntr  eines  Merk- 
mals mit  seiner  Sache  vermittels  eines  Zwischeumerkmals 
sei.  Die  allgemeinste  Regel  aller  Veraunftschlüsse  ist  ihm 
der  Satz:  ein  Merkmal  vom  Merkmal  ist  ein  Merkmal  der 
Sache  seilet.  Ist  es  z.  B.  ein  Merkmal  des  Begriffs  „Kör- 
per", schvfer  zu  sein,  uud  nennt  mau  die  Luft  einen  Körper, 
so  muss  die  Luft  Schwere  besitzen.  Ganz  scholaütisch  blei))t 
Kant  darin,  dass  er  die  Unbeweisbarkeit  dieses  obersten 
logischen  thuridsatzes  logisch  zu  beweisen  sucht.  Wir  be- 
merken sofort,  dass  dieser  ganze  Gedanke  gar  nicht  der 
Logik  angehört,  -^undern  nur  »'ine  psychologischt-  Thatsache 
feststellt.  Die  niiinlich,  dass  wir  uns  bei  jedem  Wort  oder 
Begritt'  je  nach  der  Richtung  der  Aufmerksamkeit  an  seine 
Teilvorstellungen  erinnern. 

Nun  untt;rscheidet  Kant  zwischen  reinen  und  ver- 
mischten Vemunfbschlüssen.  Reine  Vemunftschlüsse  sind 
ihm  diejenigen  Syllogismen,  die  (wie  eben  reinlich  nur  bei 
der  ersten  Figur)  aus  drei  Urteilen  bestehen;  vermischte 
YemunftschlOsse  sind  ihm  diejenigen,  bei  denen  die  eine 
oder  andere  FribmiBse  ai^rflcklidb  oder  heimli<^  erst  nocii 
Terandert,  zu  einem  Tierten  Urteil  umgedrdit  werden  muss, 
damit  der  Bchlussaafas  aus  allein  herroigehe.  Darin  besteht 
eigentlieh  Kants  Beweis,  das  heisst  also  in  der  Unter- 
scheidung zweier  Arten  und  in  der  Verurtdlimg  der  einen. 
Wenn  ein  Yemunftschluss  iinmittelhar  nach  der  obersten 
Regel  (eventaeU  nach  ihrer  Anpassung  an  die  vemeinenden 
Schlosse)  geführt  wird,  so  ist  es  jederseit  nach  der  ersten 
Figur.  Er  beweist  an  recht  sehr  scholastiachen  Beispielen, 
dass  die  zweite  und  dritte  Figur  nur  durch  ZurUckftlhrttng 
auf  die  erste  eine  logische  Beweiskraft  habe. 


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Ktnt. 


427 


Kein  Qeist  ist  teilbar, 
alle  Materie  ist  teilbar, 


also:  keine  Materie  ist  ein  Geist. 

Kant  lehrt  —  in  Yollkotnmener  üebereinstiramuüg  mit 
Aristoteles  — ,  dass  der  Obersatz  »kein  Geist  ist  teilbar* 
zuerst  umgekehrt  werden  müsse  in  den  Satz  „nichts  Teil- 
bares ist  ein  Geist*,  um  aodann  den  Schlusssats  nach  der 
ersten  Figur  zu  ergeben. 

Erst  bei  der  vierten  Figur  wird  Kant  übermütig;  er 
spricht  in  dem  Ton  grimmigen  Witzes,  der  ihm  leider  in 
späterer  Zeit  immer  mehr  verloren  gegangen  ist.  Der  Syl- 
logismus in  dei"  vierten  Figur  sei  so  uiiiMitOrlich,  dass  die 
aus  ihm  abgeleitete  Regel  sehr  dunkel  und  unverständlich 
sein  würde.  Es  sei  schade  um  die  Mühe,  die  sich  ein 
kluger  Geist  geben  würde,  an  einer  unnützen  Sache  bessern 
zu  wollen.  »Man  kann  nur  was  Nützliches  thun,  wenn  man 
sie  vornichtigt.''  Aber  er  versriirt  es  sich  doch  nicht,  eine 
geistieiche  Verspottung  der  vierten  sjUogistischen  Figur  zum 
Besten  zu  geben. 

Kein  Dummer  ist  gelehrt, 
einige  Gelehi-te  sind  fromm. 

Aus  diesen  beiden  Prämif?sen  ergebe  sich  unmittelbar 
gar  nichts;  man  muss  beide  erst  zurecht  rücken,  man  muss 
sagen: 

kein  Gelehrter  ist  dumm, 

einige  Fromme  sind  gelehrt, 
um  nach  der  ersten  Figur  zu  dem  köstlichen  Schlusssatz 
zu  kommen: 

einitre  Fromme  sind  nicht  dumm. 
Kaut  luhnt  den  Einwand  ab ,  dass  die  drei  andern 
Figuren  höchstens  unnütz,  nicht  aber  lalsch  seien.  Dabei 
muss  er  freilich  gegen  seine  bessere  Ahnung  von  dem  hohen 
Werte  der  ersten  Figur  und  der  Logik  überhaupt  ausgehen. 
Die  Logik  bringe  alles  auf  die  einfachste  Erkenntnisart; 
die  komplizierten  Regeln  mUssten  „bei  diesen  Seitensprüngen 
sich  selbst  ein  Bein  unterschlagen'*.  Die  sogenannten  Modi 


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428 


V.  Die  Sofalosafolgwaqg. 


((!ie  emzehien  Schlussweisen .  die  in  den  bf-kaimten  bar- 
barischen Gedächtnisversen  gelernt  werden)  ,v,  (  r  1<  n  küntti*^- 
hin  eine  schätzbare  SeUonlieit  von  der  DenkutiL'"?art  de« 
menschlichen  Verstund •  -  i  iitlmlten,  wenn  dereinst  der  eiir- 
wUrdij^e  Rost  des  Altertums  einer  besser  unterwiesenen 
Niicbkomnienschatt  die  emsigen  und  vergeblichen  Be- 
mühungen ihrer  Vorfahren  an  diesen  Ueberbleibsela  wird 
bewundem  und  bedauern  lehren*. 

Hier  vergisst  Kant  schon  die  Verteidigung  der  ersten 
Figur,  die  er  vielleicht  —  wie  öfter  in  seinem  Leben  — 
nur  aus  Vorsicht  f^escbont  hat.  Er  vergleicht  alle  Schluss- 
weisen mit  dem  Schachbrettspiel;  wer  sich  über  das  Her- 
vorgehen des  Schlusssatzes  wundere,  der  scheint  ihui  nu  ht 
klüger,  als  einer,  der  mit  einem  Anagiiuiirn  spielt.  Kaut 
wagt  nicht  zu  glauben,  ..dass  die  Arbeit  von  einigen  Stunden 
vermögend  sein  werde,  den  Koloss  umzustürzen,  der  sein 
Haupt  in  die  Wolken  des  Altircums  verbirgt  und  dessen 
Füsse  von  Thon  sind\  Der  ganze  logische  Koloss  sei  be- 
sonders in  einem  gelehrten  Wortwechsel  brauchbar,  der  aber 
doch  mehr  zur  „Athletik  der  Gelehrten"  gehöre. 

Wie  gering  aber  Kant  von  der  Logik  Uberhaupt  dacbte, 
kommt  doch  erst  im  Schlussparagraphen  heraus,  wo  er  fast 
ohne  Zusammenhang  seine  letzten  Gedanken  hinwirft.  lek 
glaube  eino  Stelle  ganz  und  gar  ftlr  mich  m  Anspruch 
nehmen  zu  dttrfen.  «Ich  sage  demnach  enÜkih:  daaa  dn 
deutlicher  BegrifF  nur  durch  ein  ürtdl,  ein  Tolbtändiger 
aber  nicht  anders,  als  durch  einen  Yenranftachluas  möglidi 
sei.  Es  wird  nSmlich  zu  einem  deutlichen  Begriff  erfordert, 
dass  idi  etwas  als  ein  Merkmal  eines  Dings  klar  erkenne; 
dieses  aber  ist  ein  Urteil.  Um  einen  deutlichen  Begriff 
▼om  Körper  zu  haben,  stelle  ich  mir  die  Undurchdringlich- 
keit als  ein  Merkmal  desselben  klar  Tor.  Diese  Vorstellung 
ist  aber  nichts  anderes,  als  der  Gedanke:  ein  Kdrper  irt 
undurchdringlich."  Er  tadelt  es  daher,  dass  in  der  gewShn* 
liehen  Logik  die  Lehre  vom  Begriff  früher  als  die  Lehre 
▼om  Urteil  und  vom  Syllogismus  abgehandelt  werde.  Zwei- 
tens aber  bemerirt  Kant — was  er  leider  in  seinen  spatem  und 


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Schopenhauer« 


429 


ab<p'üiidigeii  Schriften  vollifi^  wieder  vergessen  hat  — , 
dass  es  ein  und  diesell)e  Grundkraft  der  Seele  sein  müsse, 
die  den  dentlirhen  und  den  ToUständiiXfU  Begriff,  also  in 
unserer  S]>iacb.e  das  Urteil  und  den  Scliluss  vollzieht,  dass 
also  Verstand  und  Vernunft  ein  und  dasselbe  Vermögen  zu 
Urteilen  seien.  Dieses  weit  über  seine  Zeit  hinausgreifende 
Apercu  wendet  Kant  sofort  sehr  unjjlOcklich  auf  den  Unter- 
schied von  Menschen  und  Tieren  an,  während  es  gerade 
geeignet  gewesen  würe,  die  Armut  dieses  Unterschiedes 
aulzudecken.  Aber  gross  und  einfach  nenut  Kant  gerade 
in  diesem  Augenblicke  seine  Lehre  stolz  bescheiden  seine 
«jetzige  Meinung". 

Dieses  Ergebnis  von  wenigen  Stunden  Kants  hat  seh  n  t  -  schopen- 
sinnigen  Menschen  schon  viel  Kopfzerbrechen  gemacht. 
Schopenhauer  (Welt  als  Wille  und  Vorstellung  11.  1.  B. 
10.  Kapitel)  bemüht  sich  sehr  geistreich,  sowohl  die  Scholastik 
als  Aristoteles  zu  Ehren  zu  bringen.  Er  opfert  die  vierte 
Figur,  um  die  zweite  und  dritte  retten  zu  können.  Seltsam 
ist  es,  dass  er  nach  der  Hauptsache,  ob  nänüich  aus  der 
Schlussfolgerung  etwas  Neues  hervorgehe,  nur  , beiläufig* 
fragt.  Ur  beliftQptet  es,  wenn  auch  nur  gewissermassen.  Z.  B. 
Alle  Diainftiiien  sind  Steine, 
aQe  Dianumten  nnd  Terbrennlieli, 


also:  sind  einige  Sterne  Terbrennlich. 

Dieses  Ergebnis  imponiert  ihm.  Scbopenbauer  bemerkt 
nidit,  dass  an  der  neuen  Beobaehtung  der  Chemie  (dass 
ninüich  Diamanten  reiner  Kohlenstoff  und  darum  Terbrenn- 
lich seien)  vom  ersten  Augenblicke  an  gerade  der  Umstand 
das  foteressanteste  gewesen  ist,  dass  die  Kohle  in  der  Form 
erscheinen  kann,  die  man  sonst  Stein  genannt  hat,  dass  also 
die  neue  Beobachtung  der  Chemie  eine  Bereicherung  und 
Verschftrfung  der  Sprache  war,  dass  aber  in  dem  sdiftrferen 
und  reicheren  Begriff  «Diamant*  dann  die  beiden  PHkmissen 
mitsamt  dem  Schlusssatse  schon  enthalten  waren. 

Wie  scholastiseh  Sdiopenhaner  von  der  Logik  denkt, 
das  Terrftt  er  weiter  in  seiner  bilderreichen  Sprache.  Er 


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430 


V.  Die  Sohiuaifolgeruiig. 


kann  es  sich  gar  nicht  anders  vorstellen,  als  dass  die  i'ra- 
missen  sich  im  Gehirn  ganz  brav  und  schulgerecht  ver- 
halten, wie  iiu  Lihrbuch  des  Logikers;  alle  Urteile,  die  wir 
aufgespeichert  haben,  werden  nach  ihm  so  lange  gleichsam 
durcheinander  geschüttelt,  bis  endlich  der  luihte  Obersatz 
auf  den  rechten  Untersatz  triift,  „wo  diese  alsbald  sich  ge- 
hörig stelkn".  Noch  krasser  heinahe  wird  der  Gegensatz 
dieser  Anschauung  zu  meiner  Lehre,  wenn  Schopenhauer 
fortfuhrt:  ,das8  der  Syllogismus  im  Gedankengange 
selbst  besteht,  die  Worte  und  Sätze  aber,  durch  welche 
man  ihn  ausdrückt,  bloss  die  nachgebliebene  Spur  deaselben 
bezeichne;  sie  verhalten  sich  zu  ihm,  wie  die  Elangfiguren 
aus  Sand  zu  den  Tönen,  deren  Vibration  sie  darstellen*. 
Schopenhauer  bedeutet  aber  darum  als  Logiker  einen  be- 
daueriiehen  RHeksdnitt  gegen  jenes  kantisebe  Sebriftcben, 
weil  er  den  Beweis  durch  9phSrenvergleichung  bewundert 
und  das  Zurückgehen  auf  die  Begriffe  selbst  gar  nicht  ge- 
fasst  zu  haben  scheint.  Er  hat  sehr  viel  Hochachtung  vor 
den  Urteilen,  welche  bei  ihm  als  eine  Art  yon  TrapezkOnsÜem 
erscheinen,  die  sich  geschickt  aneinander  hSngen  und  bei 
deren  Schlussgruppe  yon  den  Zusdiauem  applaudiert  wer- 
den muss. 

Die  ünsidierheit  Kants,  der  sich  eigentlich  gegen  die 
gesamte  Logik  empört,  im  Einzelnen  aber  nur  die  zweite 
bis  vierte  Schlussfigur  als  unnQtz,  spitzfindig,  falsch  hin- 
stellt, diese  Unsicherheit  hat  seine  Gegner  die  Bedeutung 
der  kleinen  Schrift  Ubersehen  lassen.  Und  so  glaubte  Ueber- 
weg  (Logik,  5.  Auflage,  S.  343)  leichtes  Spiel  zu  haben. 
Er  wirft  Ktoit  einfach  Tor,  dass  die  ZurQckfÜhrung  der  ge- 
tadelten Schlussfiguren  auf  die  einfache  erste  Figur  den 
andern  nichts  von  ihrer  Beweiskraft  nehme,  «ebensowenig, 
wie  ein  mathematischer  Satz  dadurch,  dass  sein  Beweis 
sich  auf  die  früher  bewiesenoi  Satze  gründen  muss,  not- 
wendig zu  einem  unselbständigen  Oorollar  derselben  herab- 
nnkt*.  Wieder  wird  hier  die  scheinbare  Analogie  zwischen 
Logik  und  Hathematik  zu  Hilfe  gerufen.  Wieder  wird 
vergessen,  dass  die  Zahlen  und  Formen  der  Mathematik 


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Schopenhauer. 


431 


ftJr  diese  Wissenschaft  genau  die  gleiche  reale  Unterlage 
bilden,  wie  für  die  Naturwissenschaften  die  wirklichen 
Dinge  und  Vorgänge  der  Natur.  Der  Pythagoreische  Lehr- 
satz verhält  sich  zu  den  Quadrat  t  u  über  den  Seiten  des 
Rechtecks  nicht  wie  eine  logische  Kegel  zu  ihrer  An- 
wendung, sondern  wie  der  Begriff  Schwerkraft  zu  den  Er- 
scheinungen der  Schwerkraft.  Der  Pythagoreische  Lehrsate 
ist  eine  in  Worten  ausgedrückte  Zusammenfassung  einer 
Thatsache,  wie  der  Begriff  Schwerkraft  ein  zusammen- 
fassendes Wort  ist.  Aus  der  Wahrheit  und  Notwendigkeit 
maihematischer  Sätze  kann  also  für  die  Logik  ebensowenig 
bewiem  werden,  wie  ans  der  Riclifei(^ceit  und  psycho- 
logischen Notwendigkdt  der  Begriffe  Metall,  Hund,  Planet 
imd  dergleichen.  Ob  unsere  Gedanken  Aber  Planeten,  Me- 
talle, Hunde  und  die  Besehung  der  Dreieckseiten  ans  Be- 
obachtungen direkt  entstehen  oder  ans  logiscfaen  Regeln, 
darum  handelt  es  sich,  nicht  darum,  ob  die  logischen  Re- 
geln &u8serlich  den  mathematischen  Beobachtungen  nach- 
geahmt werden. 

Der  Vergleich  Schopenhauers,  der  des  sprachlichen 
Ausdrucks  der  Denkopwationen  mit  dm  Ghladnisdien  Klang- 
figuren aus  Sand,  ist  geistreich  wie  gewöhnlich;  hfttte 
Schopenhauer  aber  bemerkt,  dass  das  Bild  mehr  war  als 
ein  Vergleich,  so  bitte  er  seine  scholastische  Logik  nicht 
aufrecht  erhalten.  Und  hätte  Eant  die  Elangfiguren  der 
Sprache  durchschaut,  so  hätte  er  auf  seinem  schon 
damals  su  der  ESrkomtnis  kommen  müssen :  unser  gesamtes 
Benken  sei  unlogisch,  sei  nur  Sprache  oder  Erinnerung  an 
Sinneseindrflcke,  alle  Denkoperationen  seien  nur  eine  auf- 
merksame Besinnui^  innerhalb  unserttr  Erinnerungen.  Das 
ist  ja  eben  die  Lehre  der  neueren  Naturwissenschaft,  dass 
es  in  der  WirUichkeitswelt  nur  Bewegungen  gebe,  und  dass 
es  für  die  Wirklidikeitswelt  ganz  gldchgttltig  sei,  ob  unsere 
Augen  die  Bewegungen  als  Sandfigur,  ob  unsere  Ohren  sie 
als  Klang  wahrnehmen.  Hit  einiger  Phantasie  kann  ich 
mir  eine  Sprache  ausdenken,  welche  durch  den  erregten 
Klang  die  Sandfigur  beseichnet.   Dann  besässen  wir  flSr 


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482 


V.  Die  ächiasafolgerung. 


«Uten  Ueinen  Bdsirk  mathttutisdier  F^nnm  fOBB  natür- 
liebe  Sprache.  Käme  dann  hinterher  ein  Naturforscher  und 
wtirde  sich  hSchlich  darüber  wundem,  dass  die  Vibrationen 
des  Klanges  im  Ohre  dieselben  seien,  wie  die  Vibrationen 
der  Metallplatten,  auf  denen  die  hervorgerufenen  Sand- 
figuren entstanden  sind,  so  wäre  er  ebenso  unweise,  wie 
Schopenbaner  war,  da  er  den  Gedankengang  Ton  seinem 
sprachlichen  Ausdruck  unterschied. 

IM«  mag'  Zu  den  feinsten  Denkfibungen  der  Logiker  gehört  ihre 
Bobhu»-  mAibematische  Berechnung  der  Anzahl  aller  ma^^icben 
w«iB«A.  Sehlussweisen.  Sie  haben  ihre  vier  Schlussfiguren  auf- 
gestellt. In  jeder  Figur  gibt  es  zwei  Prämissen,  Ton  denen 
jede  wieder  Qe  nachdem  sie  allgemein  oder  partikular,  be- 
jahend oder  TCmeinend  ist)  eine  Tierfsdhe  Verftnderung  lu* 
lasst^  Beide  Prftmissen  lassen  also  nach  den  mathematischen 
R^ieln  der  Kombination  zusammen  16  Veränderungen  su. 
Danach  mUsste  es  im  ganzen  bei  allen  vier  Figuren  4mal 
16  oder  64  Schlussweisen  geben.  Nachträglich  wird  dann 
wieder  bewiesen,  dass  Ton  diesen  64  ausgerechneten  Schluss- 
weisen beinahe  die  ffiilfte  nicht  existiert 

Dieses  Vorgehen  der  Logiker  en^flUt  uns  seine  ganze 
Wertlosigkeit,  wenn  wir  uns  vorstellen,  dn  NatorÜiHrsdier 
hätte  in  ähnlicher  Weise  die  Arten  der  Thiere  klassifiziert 
Er  hätte  zuerst  durch  alle  möglichen  Permutationen  und 
Kombinationen  der  tiemchen  Gliedmassen  unzählige  Arten 
(z.  B.  vierfUssige  Enten,  mit  Flossen  versehene  Katzen, 
schlangenartige  Bienen,  Schmetterlingslöwen  u.  s.  w.)  auf- 
gestellt, und  käme  nachher  mit  dem  Zugeständnis,  dass  nur 
ein  Teil  dieser  Kombinationen  in  der  Welt  der  Wirklich- 
keit vorhanden  sei.  Und  ich  bin  nicht  ganz  sicher,  ob  die 
deutschen  „Vollender"  des  Darwinismus  nicht  ein  ähnliches 
logisches  Verfahren  thatsächlich  eingeschlagen  haben,  um 
aus  einer  starken  Hypothese  ein  schwaches  System  zu 
machen. 

Wir  würden  uns  mit  diesen  Spielereien  gar  nicht  auf- 


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G6icbe  de«  BehlieMeiw. 


488 


halten,  wenn  d'v^  Logiker  nicht  auf  diesem  Wege  zu  einigen 
berühmten  Entdeckungen  gekommen  wären,  die  sie  die  ail- 
gemeiuen  Gesetze  des  Schliessens  nennen.  Mit  diesen  müssen 
wir  uns  kurz  befassen. 

Vnrher  aber  möchte  ich  ein  für  allem fil  l  *emerken,  dass 
die  LTi  ammatikalische  Form  der  Prämissen  mich  aufmemem 
Standpunkte  nicht  das  mindeste  angeht. 

£s  ist  ja  richtig,  dass  die  Becfriffsvergleichung  nach 
unserem  Sprachgebrauch  am  bequemsten  vor  sich  geht, 
wenn  sie  sich  in  substantivische  Sätze  kleiden  lässt.  „Alle 
Metalle  sind  Körper;  Eisen  ist  ein  Metall;  also  ist  Eisen 
ein  Körper."  Das  ist  dumm  und  bequem  wie  eine  Rechen- 
maschine fUr  Kinder.  Sobald  das  Prädikat  einer  oder  beider 
Prämissen  ein  Adjektiv  oder  ein  Verhura  wird  (z.  B.  alle 
Metalle  sind  schwer,  oder  alle  Metalle  wirken  so  und  so), 
leidet  der  Beweis  des  Schliessens  durch  Sphärenvergleichung 
an  bedenklichen  Unklarheiten.  Trendelenburg  hat  auf  diese 
sprachlichen  Unterschiede  (die  dann  viel  gelehrter  Sub- 
sumtion und  Tnhärenz  heissen)  grossen  Scharfsinn  verwandt. 
Da  W  H  über  Sprachen  kennen,  die  von  einem  Unterscliiede 
zwischen  Nomen,  Verbuni  und  Adjektiv  nicht  viel  wissen, 
und  da  die  Chinesen  z.  B.  trotzdem  nicht  unlogischer  denken 
als  wir,  so  können  wir  diese  Lokalangelegenheit  der  so- 
genaualeu  ludo-europäischen  Menschheit  auf  sich  beruhen 
lassen. 

Was  nun  die  allgemeinen  Gesetze  des  Schliessens  an- 
langt, so  lautet  das  erste:  es  lasse  sich  aus  bloss  ver- 
neinenden Prämissen  kein  gültiger  Schluss  ziehen.  Man  hat 
diesen  Satz  mit  Hilfe  der  Sphärenvergleichung,  also  darch 
ein  fUschM  Bild,  xu  beweisen  gesucht;  und  wieder  hftben 
besonders  spifaefindige  Scbolsstiker  die  Allgemeingültigkeit 
des  Sstses  bestritten.  Für  uns  liegt  die  Seche  so,  dass  wir 
die  Regel  nicbt  bnuiehen,  weil  noch  niemals,  sdtdem  es 
Menschengehime  gibt,  irgend  eines  auf  den  Torsweifelten 
Einfall  gekommen  ist,  blosse  Negationen  miteinander  ver- 
gleichen SU  wollen.  ^Eein  Komet  ist  ein  £tee  und  ein 
Hund  ist  kein  Komet*,  das  associiert  sich  nicht  in  unserem 

lla«tba«r,  B«itrls«  sn  «Intr  Kritik  dtr  Spnohe.  m.  28 


434 


Y.  Die  SchloMfolganiiig. 


Gehirn.  Wir  wissen,  dass  sowohl  die  Urteile,  die  wir  Prä- 
missen nennen,  als  dasjenige  Urteil,  das  wir  Schlusssatz 
nennen,  schon  im  Begriff  selbst  vorhanden  war.  Wo  die 
Negation  des  Schlusses  überhaupt  einen  Sinn  hat,  also  im 
Bef^riff  schon  enthalten  ist ,  da  ist  der  negative  Ausdruck 
ein  Zufall  der  Spraelit,  der  mit  der  Wirklichkeit  nichts  zu 
schaffen  hat.  Es  gibt  in  der  Wirklichkeitswelt  keine  Ne- 
gation; die  Logik  nur,  weil  sie  missverstandeue  Grammatik 
ist,  muss  sich  damit  abquälen. 

Womöglich  noch  überflüssiger  ist  für  unseren  Stand- 
punkt das  zweite  Gesetz  des  Schliessens,  dass  nämlich  aus 
swei  partikiilaren  Prämissen  kein  gültiger  Schluss  folge. 
,SSmg«  Hmide  sind  sekwan,  dnige  Hunde  smd  weisB.* 
Es  schebt  mir  im  Wesen  der  psychologischen  Begrii5&^ 
bEdung  zu  liegen,  dass  bei  der  Urteilsrergleichung  min- 
destens das  eine  derselben  ein  sogenanntes  allgemeinea 
Urteil  sein  mOsse.  Ich  muss  mich  wiederholen.  Der  Sehlnas- 
satz  mitsamt  den  Prämissen  ist  im  Begriff  schon  enthalten. 
Ein  Begriff  oder  ein  Wort  entsteht  aber  noch  gar  nicht, 
solange  nicht  alle  Dinge  einer  Art  durch  das  betreffimde 
Merkmal  zusammengefasst  werden.  Die  Allgemeinheit  des 
TTrteik  gehört  zum  «Wesen*  des  Begriffs,  So  gehdrt  zum 
Wesen  des  Begriffs  Hund  die  Art  seines  Gebisses  wesent* 
lieh;  alle  Hunde  haben  dieses  Gebiss  und  kein  anderes*  Die 
Farbe  aber  gehört  nicht  zu  dem  Begriff  Hund;  und  darum 
liegt  in  der  Aufmerksamkeit  auf  die  Farbe  (»eiuige  Hunde 
sind  weiss*)  auch  nicht  die  Bildung  eines  neuen  Begiiflb. 
So  wie  aber  die  Laune  der  Sprache  oder  das  Interease  einer 
Menschengruppe  die  Farbe  eines  Tiers  zum  Merkmal  einer 
besonderen  Art,  eines  Begrilb  oder  eines  Wortes  macht, 
verwandelt  sich  das  partikulare  Urteil  in  ein  allgemeines 
(z.  B.  xalle  Schimmel  sind  weiss,  alle  Rappen  sind  schwarz*) 
und  der  Begriff  kann  sofort  in  Prämissen  und  Schlussfolge» 
rung  auseinander  gelegt  werden. 

Das  wirkliche  Denken  geht  noch  weittt'.  AUe  soge- 
nannten InduktionssdilOsse  sind  ja  Schlüsse  aus  partikularen 
Urteilen.   Die  Bemerkung  gehdrt  nicht  hierher,  aber  sie 


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GeietM  des  Schlieneiu. 


485 


wirft  ihr  Licht  vielleicht  auf  das  ganze  verkehrte  Treiben 
der  Logik.  Wenn  die  Prämissen  mitsamt  der  Schluss- 
folgerung schon  ira  Begriff  mit  eingeschlo';sen  sind  (und 
das  wis5?en  wir),  und  wenn  der  Tndnktionsscbluss  aus  par- 
tikularen Urteilen  der  BegriÖsbildung  vorausgeht,  so  stellen 
sich  die  tbatsächlichen  GehirnvorgängF  dem  Schlussgesetze, 
,es  folge  nichts  aus  partikularen  Urteilen"  mit  der  bessern 
Wainlieir  gegenüber:  all  unser  Denken  folgt  aus  parti- 
kulaifi!  Urteilen. 

Das  dritte  Gesetz  der  Schlussweisen  ist  eine  Ver- 
mischung der  beiden  ersten  Gesetze  und  man  wird  es  mir 
nach  dem  Vorancregangenen  glauben,  dass  ein  Nachweis 
seiner  Ueberftüssigkeit  sich  nicht  verlohnt. 

Mit  Hilfe  dieser  drei  Gesetze  haben  die  Logiker  kunst- 
reich die  Zahl  von  64  ausgerechneten  Schlussweisen  auf  32 
reduziert,  um  nachher  auch  diese  Zahl  als  falsch  nachzu- 
weisen. Wir  wollen  uns  mit  diesen  kindischen  Freuden  der 
Logik  nicht  länger  befassen.  Wir  wissen  jetzt  noch  gründ- 
licher als  früher,  dass  die  syllogistischen  Formen  ein  ganz 
falsches  Büd  von  den  wirklichen  öehirnvorgängen  geben 
und  dass  dieser  gaiue  Stolz  der  logischen  Disziplin  den 
einen  Fehler  hat:  nicht  psychologisch  zu  sein.  Und  nur 
darum,  weil  die  besten  Köpfe  des  Altertums  und  der  Neu- 
zeit sämtliche  syllogistische  Figuren  yertrauensvoll  auf  die 
erste  Figur  zurttckgeflihrt  haben,  und  weil  die  ▼mt  Scblusts- 
weisen  (Bfodi)  der  enton  Figur  für  den  Sdmlenrershuid  den 
besteehenden  Reiz  einer  bequemen  Eeelsbriicke  bie^,  wollen 
wir  noch  ein  übriges  tbun  und  die  vier  Scblnssweisen  der 
ersten  Figur  noeli  dnen  Augenblick  betrachten. 

Ich  will  aber  dodi  lieber  ganz  SelbstTerstiadliclies  auf 
die  Qefalir  der  Breite  noch  einmal  sagen,  als  den  Vertei- 
digern der  Logik  eine  Lflcke  lassen.  Ich  will  also  hier 
noch  einmal  den  Eänwand  ablehnen,  als  h&tton,  wenn  schon 
die  einaeben  Schlussweisen  wertlos  sind,  Tielleicht  die  eben 
angemkrten  obersten  Schlnssgesetse  irgend  eben  Nutzen 
ftlr  das  menschliche  Denken.  Sie  sind  wohl  zu  unterscheiden 
Ton  den  viel  Tomehmeren,  frOher  behandelten  obevsten 


436  V.  Di«  Sciauasfolgeruiig. 

Dcuk^esetzen.  Diese  haben  wir  in  allen  ihreu  Verkleidungen 
als  urmsclige  Tautologien  heraus  erkannt.  Was  könnten 
auch  Gesetze  des  Denkens,  das  heisst  Abstraktionen  von 
Sprache,  anderes  sein? 

Die  eben  behandelten  obersten  Gesetze  des  Erschlies- 
sens  sind  also  noch  weniger,  denn  wenn  sich  der  bildliche 
Ausdruck  Gesetz  noch  halbwegs  auf  das  Denken  anwenden 
lässt  oder  die  Sprache,  muss  er  jeden  Sinn  verlieren  in  seiner 
Anwendung  auf  etwas  Nichtvorhandenes ,  auf  das  vorgeb- 
liche ErschUesseii.  Der  Mensch  kommt  gar  nicht  in  die 
Lage,  sich  heim  wirklichen  Gehimgebrauch  zu  fragen,  ob 
aus  rein  negativen  oder  rein  partikularen  Urteilen  irgend 
^  Salz  mit  logische  Kotwendigkeü  hemugehe.  Diese 
obersten  SeUussgesetKe  haben  auf  der  Welt  keinen  anderen 
Zweck  als  den,  ganz  sehwache  SchulmeisteffcOpfe  darflber 
SU  beruhigent  dass  nicht  sSrntliche  durch  Kombination  aus- 
gerechnete Schlnssweisen  mit  logischen  Schulbeispielen  be- 
legt werden  kOnnen«  Noch  einmal:  wir  denken  nicht  in 
Urteilen,  sondern  in  Begriffen;  Begriffe  (wohl  freilidi  Worte) 
sind  ihrem  Wesen  nadi  weder  n^fatiT  nodi  partikular. 

Selbst  dann  aber,  wenn  es  von  Kufaeen  wire,  sich 
beim  Denken  die  BegriffiB  in  Urteile  auseinander  su  legen, 
wie  man  beim  Essen  die  Stocke  aerschn^det,  selbst  dann 
wären  die  obersten  Gesetze  des  Schlieesens  das  bisschen  Ge- 
hirn nicht  wert,  das  auf  sie  Terwandt  worden  ist. 

Es  lisst  sich  nftmlich  einem  Urteil  ohne  weiteres  gar 
nicht  anhören,  ob  es  negativ,  ob  es  partikular  sei  oder  nicht. 
Lftngst  8<dion  mussten  die  Logiker  zugeben,  dass  Urtdle 
Uber  einzelne  Personen  Allgemdnurteile  seien.  Homer,  Bis- 
marck bedeuten  der  Zahl  nach  nodi  weniger  als  «eiuige 
Menschen*  und  bilden  doch  Subjekte  von  sllgemeinen  Ur^ 
teilen.  Die  Sprache  hat  dafür  ihren  Ausdm^  gefunden, 
indem  sie  sie  Eigennamen  nennt.  Ob  aber  Individuen  E^en- 
namen  tragen  oder  nicht,  htngt  von  unserem  Interesse  ab. 
Wir  geben  einzelnen  Haustieren  Eigennamen,  selten  aber 
einzelnen  Tieren  aus  einer  Herde.  Fast  niemals  geben  wir 
einem  Fflanzenindividuum  em&i  Eigennamen.   Aber  auch 


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Geietase  dm  Sehlieauns. 


437 


das  kommt  mitunter  ror,  wie  z.  B.  die  Lutiiereiehe,  die 
«eiuMme  PiRppel*  und  d«r|^ieheii.  Oenav  so  steht  es  mit 
Gnippenbezeichnimgeii.  Wir  tremien  die  Yölkerraasen  nacli 
ihren  Farben,  bisher  aber  noch  nicht  x.  B.  die  Deutschen 
nach  ihrer  Haarfarbe.  Noch  ist  es  ein  partikuUures  Urteil, 
wenn  ich  sage  ,  einige  Deutsche  sind  blond*.  Man  kann 
sich  aber  ein  Weitergehen  einer  Bewegung  TorsteUen,  in 
welcher  die  blonden  Deutschen  einen  besonderen  Namen 
erhielten,  z.  B.  Oermnnen,  mid  dann  hätten  wir  das  all- 
gemeine Urteil  ^die  Germanen  sind  blond".  Ohne  Gnade 
muss  man  bei  der  Untersuchung,  ob  ein  Urteil  partikular 
sei  oder  nicht,  auf  das  Wort  surOckgehen,  auf  die  psycho* 
logische  BegriiFsbildung. 

Ebenso  steht  es  mit  der  Negation,  die  sich  dann  ge- 
wöhnlich auf  das  Prädikat  bezieht  Immer  müssen  wir  auf 
den  Begriff  zurückgehen,  wa  zu  erfahren,  ob  der  negatire 
sprachliche  Ausdruck  eine  wirkliche  Negation  enthalte  oder 
nicht.  , Homer  war  blind."  —  , Homer  konnte  nicht  sehen." 
Diese  Sätze  müssten  logisch  ganz  verschieden  behandelt 
werden,  je  nach  ihrem  sprachlichen  Ausdruck,  was  doch 
dem  wirklichen  Denken  nicht  einfallt. 

Ich  will  den  Leser  nicht  mit  dem  Beweise  langweilen, 
der  uns  lehren  soll,  warum  in  der  ersten  Schlussfigur  an- 
statt der  ausgerechneten  sechzehn  Einzelweisen  oder  Moden 
und  sogar  anstatt  der  nach  den  allgemeinen  Schhissregehi 
übrig  gebliebenen  acht  Einzehveisen  doch  nur  vier  Übrig 
bleiben,  die  unt^r  ihren  barhari'^rhen  Namen  im  Gebrauch 
sind.  Es  genüge  die  Erinnerung,  dass  diese  vier  Moden 
(Modi)  in  den  Ged'achtnisversen  Barbara,  Celarcnt,  Darii, 
Ferio  heissen  und  dass  in  diesen  an  sich  vollkommen  sinn- 
losen Buchstabenzusammenstellungen  für  den  Kenner  und 
Liebhaber  all  ihre  Weisheit  auKjTedi  üi  kt  i^t.  Die  Anfanpfs- 
bncbstaben  geben  (nach  d?  i  lu  iliniiolge  der  Konsonanten 
des  Alphfibpts)  ihre  Ii*  ili,  fi'nlLn  iiü  Svstem.  In  den  Vo- 
kalen aber  steckt  die  tu  tstf  W  eisheit  der  Logik,  da  immer 
drei  Vokale  da  sind ,  die  die  Qualität  und  Quantität  der 
Prämissen  und  des  Schlusssatzes  unzweifelhaft  angeben. 


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488 


y.  Die  Sdilnarfölgenuig. 


Ein  Kurzwurenhändler,  der  auf  ein  Schubfach  mit  Knöpfen 
den  Buchstaben  K,  auf  ein  Schubfach  mit  Nadeln  den  Buch- 
staben N  geklebt  hat  und  dann  hinter  df»ni  Buchstaben  K 
mit  freudigem  Stolze  wirklich  KiiTtpfo  findrt  uii  i  nicht  Nadeln, 
■\v;ire  ebenso  weise.  Und  hat  er  gar  unter  dem  Buchstaben  K 
erneu  heimlichen  Vermerk  liber  die  Preise  soiTier  Knöpfe 
angebracht,  so  ist  die  Aehuüchkeit  ganz  vollkommen. 

Barbara.  l.  Barbara. 

„.Icder  Kiis  -  ist  ein  Kas, 
jeder  ehester  ist  em  Käse, 

also  muss  Chester  ein  Kas  sein': 
das  ist  ein  Musterbeispiel  des  ersten  bchlussmudus,  der 
selbst  wieder  alle  andern  Schlussniodeu  an  Wert,  au  Ver- 
wendbarkeit, uu  Häufigkeit  so  sehr  übei-treflfen  soll,  dass 
der  einfache  Mensch  eigentlich  überhaupt,  wie  unser  Hans- 
wurst, nur  in  Barbara  dejikt.  Die  drei  anderen  Moden  der 
ersten  Figur  haben  unter  ihren  Prämissen  entweder  ein 
negatives  oder  ein  partikulares  Urteil,  oder  gar  beide.  Die 
andern  drei  Moden  der  ersten  Figur  haben  es  also  nach 
meiner  Darstellung  gar  nicht  luit  vorstellbaren  Begriffen  zu 
thun;  sie  haben  aber  auch  nach  der  Auffassung  der  Logiker 
durch  die  Hereiuziehung  der  Negation  und  des  Teils  nicht 
mehr  die  überwältigende  Kraft  und  Schönheit  des  ersten 
Schlussuiodus.  Der  erste  Schlussmodus  ist  in  seinem  einleuch- 
tenden Dreitakt  lieblich  wie  ein  Wiener  Waker,  und  jeder 
Schuljunge  glaubt  ihn  tanzen  zu  können,  wenn  er  ihn  ein- 
mal gehört  hat.  «Jeder  Hund  ist  ein  Säugetier;  jeder 
F^del  ist  ein  Hund;  ako  ist  jeder  Pudel  ein  Slag«tier*; 
das  ist  pudelnsrrisch  einfach.  So  einfach  hat  sidi  der 
Junge  die  Logik  gar  nicht  gedadit.  Es  ist  fiwt  dumm. 
Ahw  es  kann  einfach  hkihen  und  dabei  doch  interessant 
werden.  «Jeder  Mensch  kann  irren;  der  Herr  Lehrer  ist 
ein  Mensch;  der  Herr  Lehrer  kann  also  irren.*  Und  dann 
begibt  man  sich  mit  Barbara  auf  das  Gebiet  der  Meia^ 
physik.  «Jedes  Geistige  ist  ein&di;  die  Seele  ist  ein  Gei- 
stiges; ako  ist  die  Seele  ein&ch.* 


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439 


Yfir  wissen,  dass  in  allen  dief^en  Beispielen  der  Schiuss- 
satz  —  wenn  wir  ihn  überhaupt  denken  —  schon  TW  den 
Prämissen  in  unserem  Gehirn  war.  Wir  wissen  noch  ge- 
nauer, dass  der  Schlusssatz  mitsamt  den  Prämissen,  dass 
also  das  Prädikat  des  Schlusssatzes  mitsamt  dem  Mittel- 
begriff schon  im  Subjekt  des  Sclilusssatzes  enthalten  war, 
für  den  wenigstens,  der  dieses  Wort  in  seinem  Sprachschatz 
wirklich  besitzt.  , Pudel"  ist  für  jedermann  ein  Hund  und 
ein  Säugetier.  Irrtum  ist  menschHch.  Und  wenn  die  Sache 
anders  aussiebt,  sobald  Barbara  zu  philosophieren  anfangt, 
so  liegt  das  nur  daran,  dass  wir  die  Bogriffe  eben  nicht  in 
unserem  wirklichen  Sprachschatz  hatten.  Was  1  ein  Pudel? 
Was  ist  einfacb?    Was  ist  geistig?    Was  ist  Seele? 

Da  aber  die  Scblussmode  Namens  Barbara  in  der  That 
genau  mit  dem  zusammenfällt,  was  wir  als  Aufmerksam- 
werden auf  die  Merkmale  unserer  Begriffe  (also  der  Worte 
unsrer  Sprache  und  ihres  Sprachschatzes  i  kenneu  gelernt 
haben,  so  wäre  es  doch  möglich,  dass  dieser  erste  Schlu.ss- 
modus  uns  beim  Denken  bequem  oder  behilflich  sein  konnte, 
wenn  wir  auch  aus  allgemeinen  Gründen  gewiss  smd, 
dass  sich  auch  aus  Barbara  nichts  Neues  erschliessen  lassen 
werde.  Auch  Barbara  muss  unfruchtbar  sein.  Aber  sie  ist 
vielleicht  angenehm  und  nur  darum  woUen  wir  sie  näher 
betrachten. 

Es  scheint  wirklich  so,  als  ob  der  erste  Schlussmodus 
am  ehesten  dem  wirklichen  Vorgang  in  unserem  Uehirn 
entspräche.  Wir  haben  in  unserem  Sprachschatz  einen  Be- 
grÜl,  z.  B.  den  Begnü  l'udel.  Richten  wir  aus  irgend  einem 
Grunde  unsere  Aufmerksamkeit  darauf,  dass  wir  verschiedene 
ähnliche  Tiergruppeu  unter  gewissen  Merkmalen  zusammen 
Hunde  nennen,  so  kommen  wir  ohne  weiteres  zu  der  aus- 
einander gelegten  Vorstellung  oder  dem  Urteil  «jeder  Pudel 
ist  ein  Hund* ;  und  richten  wir  femer  unsere  Aufmerksam- 
keit darauf,  dass  wir  diese  weiteren  Tiergruppen  unter  dem 
schon  recht  abstrakten  Kamen  Säugetier  zusammenfassen, 
80  kommen  wir  wieder  ohne  weiteres  zu  dem  Schlusssatze 
„der  Pudel  ist  ein  Säugetier*.   Qona  dasssUve  meint  ja 


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440 


V.  Die  SchliMtfolgeniBg. 


eigentlich  auch  die  erste  S(  hlussrejifel ,  wenn  sie  sagt  :  das 
Prädikat  eines  Priidikats  kann  ich  auch  seinem  Subjekte 
brih  i^en;  ist  der  Hund  ein  Säupetier  und  der  Pudel  ein 
Hund,  so  ist  der  Pudel  ein  Säugetier.  Es  könnte  scheinen, 
als  ob  wirklich  die??e  logisclie  Klarlioit  ü(^m  Denken  zu  gute 
käme,  weil  wir  dabei  einen  Augenblick  vom  Ausganu^sl  n^ijriff 
, Pudel*  ganz  absehen,  um  so  unsere  volle  Autraerksam- 
keit  auf  das  oberste  Prädikat  zu  lenken,  auf  -Säugetier*. 
Zugegeben  (könnte  man  mir  sagen),  der  Gedankengang 
sei  minimal,  sei  kindisch,  aber  ein  Gedankengang  sei 
doch  vorhanden  und  beim  Gange  komme  man  weiter,  man 
schieite  vom  Ursprungsbegriff  zu  einem  entfernteren  Prä- 
dikat fort. 

Das  aber  ist  es ,  was  ich  endlich  und  von  Anfang  an 
leugne.  Immer  und  fest  muss  unserem  Denken  der  Begriff 
und  seine  Entstehung  in  unserem  Gehirn  gegenwärtig  sein, 
muss  ganz  barial  dem  Sprachgebrauche  gehorcht  werden, 
wenn  wir  uns  beim  Schlusssatz  dasjenige  vorstellen  wollen, 
Avas  er  allein  und  ausschliesslich  sagen  kann.  Im  Geschwätz 
dti  Leute  und  der  Philosophen  ist  das  freilich  nicht  der  Fall. 
Im  Geschwätz  der  Leute  und  der  Philosophen  rUckt  das 
Denken  allerdings  vom  vorstellbaren  Begriff  langsam  fort, 
aber  nur,  um  eben  nach  dem  Verlust  der  YorsteUlMurkett 
sich  ins  Bodenlose  zu  Terlieren.  Wer  einen  logisch  gefun- 
denen SatB  ehrlich  gelMrauchen  wül,  miifls  ihn  immer  ersi 
wieder  Eum  Torstellbareii  Begriff  Eurttckrerfolgen.  Die  ganze 
logische  Denkoperation  ist  umMst  gewesen. 

Wir  können  das  an  Barbara  sehr  deutlich  anizeigen. 

Zuerst  in  einer  allgemeinen  Betrachtung.  Es  kann 
„  ""'^^  nimlich  erstens  der  Ifittelbegiiff  wirklich  so  zwischen  Sub- 
gtiwMflh.  jdst  und  PHMikat  des  Schlusssatzes  stehen,  dass  er  daa 
PAdikat  des  ersten  und  das  Subjekt  des  zweiten  ist,  er 
kann  zweitens  eine  Tautologie  zum  Subjekt  des  Sehluss- 
satces,  er  kann  drittens  eine  Tautologie  zum  PriUlikat  des 
Schlusflsatzes  bilden  und  er  kann  viertens  mit  dem  Subjekt 
und  FHidikat  des  Schlusssatzes  zu  einer  einzigen  Tautologie 
zusammenfallen.   Ich  muss,  will  ich  ein  Beispiel  geben. 


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SoUa«  und  Spnbhgebraacb. 


441 


aller  ding'-  <lie  Weltanschauungen  Terachiedener  Menschen  zu 
Hilfe  nehmen. 

a)  Alle  Menschen  sind  Urgamsmen;  alle  Organismen 
sind  sterblich;  also  sind  alle  Menschen  sterblich. 

Vtl  Alle  Menschen  sind  lebcndicfe  Menschen:  alle  leb* 
digen  Menschen  sind  sterbhch;  aläo  sind  alle  Menschen 
sterblich. 

c)  Alle  Mensrhen  sind  endliche  Wesen:  aiU  ♦  ndlichen 
Wesen  siud  srrrtilirh:  also  sind  alle  Menschen  bi-eibiich. 

d)  Alle  Menschen  sind  Staubgeborene;  alle  Staubge- 
borenen sind  sterbhch;  also  sind  alle  Menschen  sterblich. 

Um  mein  Beispiel  kkr  zu  verstehen ,  rauss  man  sich 
vorstellen,  dass  der  erste  SjUogismns  z.  B.  von  einem  Natur- 
forscher eernacht  wäre,  dem  man  entgegen  gehalten  hat, 
dass  Barbarossa  nach  der  Legende  immer  noch  lebe,  und 
der  die  Möglichkeit  dieser  Annahme  entkräften  will.  Der 
zweite  Syllogismus  soll  von  einem  Soldaten  gemacht  worden 
sein,  dem  ein  Gespenst  um  Mitternacht  entgegen  tritt  und 
der  sich's  zum  Bewusstsein  bringen  will,  dass  alle  Menschen 
lebendige  Menschen  seien,  dass  es  keine  gespenstischen 
Menschen  gebe,  dass  also  auch  sein  Gespenst  einen  Pistolen- 
schuss  fühlen  werde.  Der  dritte  Syllogismus  ist  von  einem 
Theologen  gemacht  worden,  der  an  unendliche  Wesen  glaubt 
und  der  sich  oder  anderen  den  Unterschied  zwischen  den 
Menschen  und  solchen  unendlichen  Wesen  klar  machen  will« 
um  nachher  meiiieiwegen  die  Unsterblichkeit  nach  dem  Tode 
zu  behaupten.  Der  Tierte  Syllogismus,  der  freOich  der 
Gipfel  der  Tautologie  ist,  wird  wohl  kaum  anders  als  Ton 
einem  IHehter  vollzogt  worden  sein,  der  sich  aus  irgend-* 
welchem  Chrusde  die  Bedeutung  seiner  Phrase  ,dte  sterh* 
liehen  Hensdien*  klar  machen  woUte*  (Doch  finde  ich  diesen 
Qipfel  der  Tautologie  audh  als  mathematisches  Schulbeispiel, 
wenn  geschlossen  wird:  alle  Dreiecke  mit  entsprechenden 
SelienTerhSUniBsen  sind  Dreiecke  miientsprechenden  Winkeln; 
alle  Dreiecke  mit  entsprechenden  Winkeln  sind  ähnliche  Drei- 
ecke; folglieh  sind  alle  Dreiecke  mit  entsprechenden  Seiten- 
▼erhSUnissen  ähnliche  Dreiecke.) 


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442 


V.  Die  Scbluaifblgenuig. 


Nun  wird  mir  jeder  Mensch  mit  gesundem  Takte  zu- 
gestehen müssen,  dass  der  Naturforscher,  der  Soldat,  der 
Theologe  und  der  Dichter  sich  bei  dem  Schlusssatze  „alle 
Menschen  sind  sterblich"  durchaus  nicht  dasselbe  vorgestellt 
haben.  Je  naLhdem  der  Mittelbegrift"  die  eine  oder  die  an- 
dere Tautologie  war,  je  nachdem  er  ein  wirkliches  Merk- 
mal war  oder  gar  nach  oben  und  unten  die  gleiche  Tauto- 
logie, wird  der  Sclilusssatz  etwa.s  anderes  bedeuten.  Man 
denke  sich  den  Satz  „alle  Menschen  sind  sterblich"  im  Zu- 
sammenhang einer  Rede,  und  der  Naturforscher,  der  Soldat, 
der  Theologe  und  der  Dichter  werden  diesen  Satz  unmög- 
lich in  gleichem  Zusammenhange  gebrauchen  können.  Schon 
die  nächste  .Folgerung"  aus  dem  gleiolien  Schlusasatse  wird 
in  jedem  Falle  eine  andera  sein. 

Der  Naturforeclier  wird  folgern:  alle  HenaeheD  nnd 
sterblich,  also  sind  die  berg«nti1lckton  Helden  wie  Barba- 
rossa nur  .Geschöpfe  der  Sage.  Der  Soldat  wird  folgern: 
alle  Menseben  sind  sterbUch,  also  will  ich  mich  vor  diesem 
Termeintlicbeii  Gespenst  nicht  fDrchten.  Der  Theologe  wird 
folgern:  slle  Menschen  sind  sterblieh,  also  muss  die  ewige 
Seele  in  uns  etwas  Uebermeoschliches  sein*  Der  Dichter  wird 
folgern:  alle  Menschen  sind  sterblich,  also  ist  sterblich  ein 
gutes  Epitheton  omsns  für  den  Menschen. 

Es  gehört  nur  eine  Tolle  Aufmerksamkeit  dasu,  um 
sich  zu  Überzeugen,  dass  dar  verschiedene  Sinn  eines  Schluss« 
satses  oder  eines  Satzes  Oberhaupt  nicht  ein  AusnahmeÜBll 
ist,  sondern  die  unbedingte  Regel,  sobald  man  nur  die  feinen 
Nuancen  als  Unterschiede  empfinden  gdemt  hat  Es  gibt 
unter  dem  Mikroskop  keine  absolut  gerade  Linie.  Dnd  es 
gibt  fOr  unsere  Kritik  nicht  zwei  Menschen,  die  sich  bei 
demselboi  Satze  genau  das  Gldche  denken. 

Ich  habe  diese  trObselige  Wahrheit  selbst  in  eine 
Schablone  gebracht,  um  zu  zeigen,  dass  die  Teischiedenen 
Beziehungen  des  Mittelbegrifi  zu  Subjekt  und  FMdikat  des 
Schlusssataes  den  Sinn  des  Schlusssataes  beeinflussen  und 
dass  diese  Bedehungen  sich  in  grosse  Gruppen  einteilen 
lassen.  Es  wäre  aber  falsch,  nun  zu  glauben,  ich  h&tte  die 


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SoUiiM  und  Spradigebnuch. 


443 


Logik  da  scbnrfsinnig  bereichert  und  der  erste  Schluss- 
modus der  ersieu  Figur  mUsste  nur  in  vier  Unterarten  ein- 
geteilt werden,  um  mit  der  Form  d  s  Schlusssatzes  auch 
seinen  besonderen  Sinn  zu  verraten.  Dei  Spass  Hesse  sich 
machen,  man  brauchte  ^Barbara"  nur  zu  d^klmuren.  Da 
hätten  wir  4  Fälle  und  gleich  Namen  für  sie.  Uebrigens 
ist  (ohue  meine  Deutung  aul  den  Ömu)  die  vierfache  Mög- 
lichkeit in  der  Beziehung  des  Mittelbegriffs  schon  längst 
bemerkt  worden. 

Der  Sinn  des  Schlusssatzes  wird  sich  aber  aus  der 
blossen  Schlussoperation  nie  und  nunmer  ergeben,  weil  wir 
ja  eben  nicht  in  diesen  Schlus-soperationen  denken,  sondern 
in  BegriflFen.  Nie  und  nimmer  wird  eine  noch  so  subtile 
Einteilung  für  die  unendlich  vielen  Abstidungen  hiureiihen 
können,  in  denen  unsere  wirkliche  Erinnerung  die  Merk- 
male ihrer  Begrifte  oder  Worte  verbindet. 

Nun  könnte  aber  ein  Logiker,  der  der  Belehrung  zu- 
gänglich wäre,  auf  meinen  Gedankengang  eingehen  und 
mir  einen  scheinbaren  Einwand  machen.  Wenn  der  ver- 
seliiedene  Sinn  des  Schlusssatzes  aus  den  verschiedenen 
Beziehungen  des  Hittelbegriflb  kerrorginge ,  dann  wäre 
allerdings  die  Logik  Terantworlilick  lu  madien;  denn  im 
Schlnssaafae  sei  der  Miitelbegriff  venchwnnden,  man  könne 
dem  Schlnsssatse  also  die  Abenteuer  des  surQckgelegten 
Weges  nickt  mebr  anseken.  Aber  in  tXLea  memen  vier 
Beispielen  sei  bereits  der  Sinn  des  Begri£b  Mensck  Ter^ 
schieden^  ebenso  der  Simi  des  Begri&  sterblick.  Jeder  Ton 
meinen  Tier  Mftnnem  kabe  seine  besondere  Weltansckanmig, 
seinen  Sprackgebrauck  und  würde  die  Begriffe  ,lfensck* 
und  «sterblick*  von  Tomkerein  Tersckieden  definiert  kaben. 
Die  Logik  kQmmere  sieb  aber  nur  um  die  Form  des  Den* 
keos,  nickt  um  seinen  Inkalt.  Die  Logik  sei  nur  rerant- 
worüiek  fbr  die  Form  des  Scklusssataes  «alle  Menscken  sind 
sterblick'^.  Was  sick  der  einsehie  dabei  Torstdle,  das  sei 
seine  eigene  Sacke. 

Mir  sckeint,  dass  dieser  Einwand  nidits  weiter  wSre  ab 
eine  Töllige  Unterwerfung  unter  meinen  Oedanken.  Denn  die 


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444 


V.  IHe  SchluMfolgemng. 


Form  oder  Hülse  will  ich  den  Logikern  gern  überlassen,  wenn 
sie  mir  nur  zugeben,  dass  Urteil  und  Schlussfolgerung  bereits 
im  Begriff  oder  Wort  enthalten  sei.  Was  mein  idealer, 
der  Belehrung  zugänglicher  Logiker  mir  eben  entgegen  ge- 
halten bat,  das  beweist  mir,  dass  er  bei  allem  guten  Willen 
doch  nicht  im  stände  ist,  die  ganze  Wahrheit  zu  begreifen. 
Denn  er  hSIt  den  lüttdbegriff  immer  noeh  fltar  eine  Hilfs- 
konstruktion des  Denkens,  f&r  einen  dritten  fremden  Begriff, 
den  die  Denkoperation  aus  irgend  einer  geheimen  Schatz- 
kammer freiwillig  hinsa  thue,  um  Subjekt  und  Prftdikat  des 
Schlusssaises  regelrecht  verbinden  wa  kennen.  Das  ist  aber 
nicht  wahr. 

BpcMii*        Wenn  wir  den  Mittelbegriff  aberhanpt  denken  das  heisst 
'"^d^  wenn  wir  uns  auf  das  nShere  ICerlcmal  unseres  Begiüb 
wdtp  überhaupt  besinnen,  so  ist  es  eben  eine  Besinnung  auf  den 
■ehamBc.  ^       Unserem  Worte  Terbinden.  Unsere  ganae 

Weltanschauung,  das  heisst  die  Summe  unserer  Brinne- 
rungen  ist  und  bleibt  in  unseren  Begriffen,  in  unserem  Sprach- 
sehata  enthalten.  Ich  will  ein  Beispiel  geben,  nach  dessen 
Huster  man  tausend  andere  erfinden  mag»  Ja  ich  behaupte, 
dass  dieses  Beispiel,  kritisch  betrachtet,  der  T^pus  alles 
Denkens  in  Henschensprache  ist. 

«Aristoteles  war  der  Lehrer  Alexanders  des  Grossen." 
Bei  diesen  Worten  kann  sieh  der  ungebildete  Bauer  oder 
der  Wilde  auf  einer  Sfldsednsel  so  wenig  denken  als  wenn 
er  unartikulierte  Laute  hdrt.  Unsere  Schulungen  glauben 
etwas  dabei  zu  denken,  weil  sie  sidi  der  Kamen  Aristotdes 
und  Alezander  dunkel  aus  anderen  Verbmdungen  oinneni* 
Sie  fügen  jetzt  die  neue  Yorstellnng  hinzu,  dass  Alexander 
der  Grosse  der  SchQler  des  Aristoteles  gewesen  seL  Eigent- 
lich denken  sie  sich  aber  immer  noch  nichts  dabei.  Wer 
aber  mit  den  beiden  Namen  etwas  mehr  Vorstellungen  TW- 
bindet,  wen  die  beiden  Namen  an  reichlichere  Merkmale 
erinnern,  der  wird  je  nach  seiner  Auffassung  etwas  recht 
Verschiedenes  dabei  denken.  Der  Logiker  wird  zwei  ent- 
gegengesetzte Syllogi^nirn  aufzuzdchnen  haben,  die  zu  dem 
gleichen  Schlusssatze  fuhren  kOnnen. 


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Spmohgebraiicb  und  Wettmidianung.  445 


Anstotelos  war  der  weiseste  Mann  aller  Zeiten, 
der  weiöeüte  Mann  aller  Zeiten  war  der  Lehrer 

Alexanders, 


also:  war  Aristoteles  der  Lehrer  Alexanders. 
Der  andere         ^n^mus  klingt  aber  so: 

Aristoteles  war  der  eitelste  Pedant  de?;  Altertums, 
der  eitelste  Pedant  des  Altertums  war  der  Lehrer 

Alexanders, 


also :  war  Aristoteles  der  Lehrer  Alexanders. 

Ich  bruucbe  wohl  nicht  erst  darauf  aufmerksaiu  zu 
machen,  dass  der  Satz  „Aristoteles  war  der  Lehrer  Ale- 
xanders" in  dem  einen  und  dem  andern  Falle  durchaus  nicht 
dasselbe  besagt.  Lud  nicht  der  Mittelbegrifl'  ist  au  der  Aende- 
rung  des  Sinnes  schuld  gewesen,  sondern  die  Vorstellungen, 
die  man  mit  dem  Xamen  Aristoteles  verbunden  hat. 

Man  wende  mir  nicht  ein,  dass  nicht  leicht  ein  Logiker 
eine  so  widematOrliche  Schlussfolgcrung  vollziehen  werde, 
wie  sie  in  den  beiden  Syllogismen  vorliegt.  Der  GedttikMi- 
gang  kann  ganz  woU  so  geflülit  wordoi  eein,  daes  der 
Logiker  nicht  anders  konnte.  Man  stelle  sich  s.  B.  vor, 
dase  der  Formier  die  Lehrbttcher  Alexanders  kabe  prüfen 
kennen,  bevor  er  wnseto,  dass  Aristoteles  ihr  Yer&sser  ist. 
Er  wird  dann  au  der  zweiten  Prämisse  selbständig  kommen, 
iUbs  nAmück  der  weiseste  Mann  der  Welt,  respektive  der 
eitelste  Pedant  des  Altertums  sein  Lehrer  gewesen  sei.  Im 
wesentlichen  flült  sogar  dieser  entsetiliehe  Syllogismus  mit 
dem  Gedankengang  unseres  Soldaten  susammen,  der  sich 
besinnt,  dass  das  vermeintliche  Gespenst  wohl  ein  gewöhn- 
licher Mensch  sem  werde. 

Unsere  Mundart  —  ich  meine  die  gemätisame  Mund- 
art der  sogenannten  indo-enrofAischen  Menschheit  —  str&ubt 
sieb  ein  wenig  gegen  die  syllog^stische  Form  eines  solchen 
Gedankengangs.  Wir  sind  es  gewohnt,  in  solchen  FsUen 
(wo  nftmlich  der  Mittelbegrüf  mit  dem  Subjekt  auffallend 
tautologiseh  ist)  einen  Belativsats  anzuwenden,  also  hier 


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446 


y.  Die  Schlaasfolgenmg. 


z.  B.  zu  sagen:  -Aristoteles,  welcher  der  weiseste  Mann 
der  Welt  (respektive  der  eitelste  Pedant  des  Altertums)  war, 
war  der  Lehrer  Alexanders  des  Grossen."  Diese  Bemerkung 
nützt  den  Logikern  nichts.  Denn  es  bleibt  ihnen  nichts 
ttbrig,  als  solche  Relativsätze  nach  dem  ersten  Schluss- 
modus  der  ersten  Figur  zu  konstraieren,  wenn  sie  nicht  zu- 
geben woUeD,  dass  wir  ohne  HÜfe  von  Syllogismen  denken 
oder  sprechen. 

Noch  eine  andere  Bemerkung  mOdite  ich  aa  mein 
Beispiel  von  Aristoteles  und  Alexander  knflpfen,  wobei  ea 
sich  vielleieht  empfehlen  würde,  snr  Abwechslung  fltr  Aristo- 
teles das  deutsche  Gymnasium  und  für  AlezMider  Bismarck 
einsufOhien.  («Das  deutsche  Gymnasium  konnte  einen  Bis- 
marck bilden.*)  Doch  ich  will  schulgereeht  fortfahren. 

Viel  häufiger  als  der  Obau  angenonunene  Gedanken- 
gang wird  nftmlich  ein  anderer  Torhanden  sein,  der  den 
Logikern  schon  wieder  recht  su  geben  scheint,  weil  er  uns 
zu  einem  flbenraschenden  Ergebnis  fthrt,  beinahe  zu  «nem 
Scherz,  also  zu  etwas,  was  neu  aus  den  Prlmissen  hervor^ 
zugeben  behaupten  möchte.  Diesen  Gedankengang  mtlsste 
der  Lc^giker  freilich  nach  dem  ersten  Modus  der  dritten  Figur 
(nach  Darapti)  konstruieren. 

Aristoteles  war  der  Lehrer  Alezanders, 

Aristotoles  war  ein  weiser  Mann, 


also:  war  (einmal)  ein  weiser  Mann  der  Lehrer 

eines  Eroberers, 

oder  aber: 

Aristotoles  war  der  Lehrer  Alexanders, 
Aristoteles  war  ein  Pedant, 


also:  war  (einmal)  ein  Pedant  der  Lehrer  eines 

Genies. 

Ich  brauche  wieder  nicht  darauf  aufmerksam  zu  machen, 
dsss  der  immerhin  witzige  Sinn  des  Schlusssatzes  nicht  un- 
mittelbar aus  den  Prämissen  hwyorgehe,  dass  vielmehr  so- 
fort an  Stolle  des  Eigennamens  Alexander  dasjenige  Merk- 


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» 


Sprachgebnach  und  Weltraacbanniiff.  447 

mal  trat,  das  mit  dem  Subjekt  nach  der  Anschauung  des 
Redenden  eine  Antithese  bildet.  Ist  aber  diese  Antithese 
überhaupt  logisch  aus  den  beiden  Prämissen  nach  Darapti 
hervorgegangen?  Das  leugne  ich  ganz  entschieden.  Ab- 
gesehen davon,  dass  kein  einziger  unter  allen  denkenden 
Menschen  bei  solchen  GedankeimiiiiLren  Darapti  vor  Augen 
hat,  weder  als  einen  durch  Sphiii  t nvergleichung ,  noch  als 
einen  durch  Reduktion  bewiesenen  öchlussniodus  (was  ja 
auch  gar  nicht  nötig  wäre),  abgesehen  davon,  dass  die  Form 
Darapti  auf  Urteile  über  Individuen  doch  nicht  recht  passen 
will,  scheint  mir  auch  dieses  Beispiel  wieder  nur  ein  Beleg 
di^r  zu  sein,  dass  all  unser  Denken  nur  psychologische 
Begriffsbildung  ist  und  dass  auch  überraschende  neue  £in> 
fftUe  uns  nicht  anders,  uns  nicht  auf  dem  Wege  des  Er- 
schliessens  in  den  Snn  kommM.  Was  da  uns  einfiel,  das 
nahm  doi  gewöhnlichen  Weg. 

Durdi  neue  Beobadibmgai  oder  Mitteilungen,  jedes- 
fftUs  also  dnreh  Bereichemng  unseres  Wortes  Aristoteles 
sind  wir  dazu  gelangt,  uns  bei  diesen  Bnehstahen  oder  Lauten 
daran  zn  erinnern,  dass  der  Grieche  dieses  Kamens  sehr 
weise  gewesen  sei  und  Alexander  unterrichtet  habe.  Diese 
Erinnerungsmomente  sind  ohne  jede  Schlussfolgerong  mit- 
einander Terhunden  wie  andere  Gedankenassodationen.  Ein 
lebhafter  Geist  wird  sich  rasch  durch  das  eine  Herlonsl  an 
das  andere  erinnern.  Eine  andere  Begiiffiibereicherung  hat 
uns  in  der  Schule  das  Wort  Eroberer  mit  dem  Merkmal 
schlecht  Yorbrnden  lassen,  und  so  mag  auf  induktiTem  WogOi 
unklar  und  unbewiesen,  der  B^riff  Ebroberer  zugleich  das 
Merkmal  eines  schlecht  ersogenen  Menschen  enthalten  haben. 
Will  dieser  Gedankengang  frech  und  bestimmt  in  uns  auf- 
tauchen oder  sagt  ein  anderer  in  unserer  Gegenwart  schul- 
meisterlich etwa  «alle  Eroberer  seien  schlecht  erzogen  wor- 
den*, so  wird  ohne  jede  syllogistische  Denkoperation,  ein- 
fach durch  die  Association  des  Widetspruchs  die  Erinnerung 
auftauchen:  aber  der  weise  Aristoteles  ist  doch  der  Lehrer 
Alezanders  gewesen.  Das  Gehirn  wird  also  seine  Begriffii- 
bereicherung,  die  schlechte  Erziehung  an.  das  Eroberertum 


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448 


V.  Die  Schluasfolgerttng. 


knüpfen  wollte,  einfach  nicht  vollziehen  können.  Genau  so 
wie  das  Urteil,  alle  Schwäne  seien  weiss,  das  heisst  abo  die 
Verbindung  des  Merkmals  weiss  mit  dem  BegriflF  Schwan, 
fallen  gelassen  werden  muss,  sobald  man  schwarze  Schwäne 
erblickt.  Wobei  ich  freilich  nicht  behaupten  will,  dass  ich 
das  Geheimnis  der  Association  des  Widerspruchs  damit  ent- 
rätselt habe. 

Es  yersteht  sidi  Ton  selbst,  dass  der  Gedanke,  es  sei 
einiDal  ein  Pedant  der  Lahrer  eines  Qeoies  gewesen,  ohne 
syllogistische  Denkoperation  ebenso  entstanden  ist 
CeiAiMt.       2.  Celarent. 

„Kein  Reofaieck  ist  ein  Kreis, 
jedes  Quadrat  ist  ein  Bechteck, 

also  ist  kern  Quadrat  ein  Kreis." 
Ich  mUsste  nur  Torangegangenes  wiederholen,  um  die 
üeberflUssigkeit  dieses  Schlussmodus  danuthun.   Der  Be- 
griff des  Kreises  liegt  dem  Begriff  des  Quadrats  so  fem,  dsss 
an  eine  Yergleichung  gar  nicht  gedacht  wird.  Der  eigent- 
liche Sinn  des  Schlusssatses  ist  auch  nicht  sowohl  eine  Ver- 
neinung  ab  vielmehr  die  Feststellung  des  Nichtsusammen- 
denkens.    Ich  erinnere  mich  bei  Rechteck  oder  Quadrat 
gar  nicht  an  Kreisform.  Wo  aber  diese  Erinnerung  in  der 
WirkHchkeitswelt  möglich  ist,  da  rerlftsst  uns  auch  unser 
Schlussmodus.  Man  denke  sich  den  folgenden  Syllogismus: 
Kein  regelmftssigi»  Vieleck  ist  ein  Kreis, 
das  regelmissige  Vieleck  von  unendlich  Tiden  Seiten 

ist  ein  Vieleck, 


also  ist  das  regelmissige  Vieleck  Ton  unendlich 

vielen  Seiten  kein  Kreis. 
Das  ist  aber  doch  sehr  fraglich.  In  der  Elementarmathe- 
matik wird  man  behaupten  dürfen,  dass  ein  regelmässiges 
Vieleck  von  unendlicli  -  iden  Seiten  allerdings  ein  Kreis  sei. 

Wieder  wird  der  Verteidiger  der  Logik  mir  entgegen- 
halten: seine  Wissenschaft  habe  es  nur  mit  der  Form  des 
Schlusses  2u  thun,  der  Inhalt  der  Begriffe  mOsse  von  anders- 


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Celarent. 


449 


woher  vorausgesetet  werden.  Und  wieder  werde  ich  er- 
widern mflasen,  dass  die  Schlussfonn  nur  eine  kttnstiiche 
Meihode  der  Besinnung  auf  den  Begriff  sei,  dass  das  wirk- 
liche Denken  mit  dem  klaren  und  deutiidien  Begriff  schon 
alle  Sitze  mitdenke,  die  in  ihm  enthalten  sind,  dass  eüi 
Mensch  mit  deutlicher  Anschauung  auch  den  Obersatz  nicht 
aussprechen  werde,  nicht  sagen  werde,  dass  kein  Vieleck 
ein  Ereis  sei. 

Der  charakteristische  Zug  des  zweiten  Modus  der  ersten 
Schlussfigur  besteht  also  darin,  dass  (logisch  oder  gram- 
matikalisch ausgedrQckt)  ein  Prftdikat  von  einem  Subjekte 
nicht  ausgesagt  werden  kOnne,  wenn  es  seinem  näheren 
Pr&dikate  widerspricht.  Kann  ich  einen  Eise  nicht  einen 
Planeten  nennen,  so  kann  ich  audi  einen  Chester  nicht  einen 
Pkueten  nennen.  Das  Wesen  Ton  Gelarent  besteht  also 
(psychologisch  ausgedrOi^t)  darin,  dass  ich  mir  bei  einem 
Begriff  einen  zweiten  fremden  Begriff  nicht  mit  Torstelle 
und  dass  ich  dabei  bemerke,  wie  dieser  fremde  Begriff  sich 
ganz  besonders  mit  einem  Merkmal  des  ersten  Begriffs  nicht 
associieren  will.  Alle  schulgerechten  Fälle  von  Gelarent  wer- 
den also  solche  sein,  die  im  wirklichen  Denken  gar  nicht 
vorkommen.  Unser  Gehirn  associiert  nicht  zwei  Begriffe, 
die  nichts  miteinander  zu  thun  haben,  zur  Vergleichung. 
Die  Association  des  Widerspruchs  ist  ein  Ablehnen,  ist 
keine  Vergleichung.  Wo  unser  Gehirn  widersprechende 
Begriffe  dennoch  veigleicht,  wo  es  also  einen  allgemein 
negierenden  Satz  ausspricht,  da  wird  die  kritische  Auf- 
merksamkeit immer  bemerken,  dass  nicht  eine  einfache 
Negation  Torliegt.  Auch  dann  ist  für  uns  die  Schlussform 
von  Celarent  selbstrerstikndlich  überflüssig;  aber  auch  der 
Schlusssatz,  der  dann  immer  dem  Obersat?;  im  Geiste  vor- 
hergegangen ist,  wird  einen  Sinn  nur  haben  fUr  die  un- 
sicheren Grenzbegrift'e  der  Wissenschaft. 

3.  Darii. 

Kommt  es  im  zweiten  Schlussmodus  deshalb  zu  nichts, 
weil  eigentlich  keine  reii'.»*  Negation  in  unseren  Begrifien 
enthalten  ist,  so  kommt  es  im  dritten  Schlussmodus  des- 
Haathner,  Beiträge  zu  einer  Kritik  der  Sprache    III.  29 


450 


y.  Di«  ScUtmfolgermig. 


halb  iiieuiak  zu  etwas  Ordentlii  lu  m,  weil  ein  partikulares 
Urt«il  ebenfalls  niemals  in  einem  Begriff  enthalten  isL 
Alle  Säugetiere  haben  warmes  Blut, 
einigö  Wasserbewolnu  r  sind  Säugetiere, 

nho  hnhen  einige  Wasserbewohner  warmes  Blut. 
Wir  haben  hier  wieder  den  Fall  vor  uns,  dass  die  Um- 
gangssprache sicli  mit  der  wissenscliaftlichen  Klassifikation 
nicht  detkL  In  früherer  Zeit,  als  Was.serbewohner  und 
Fisch  noch  dasselbe  bedeutete,  wäre  der  ganze  Syllogis- 
mus nicht  möglich  gewesen.  Er  wird  erst  müglich,  wenn 
genauere  Beobachtungen  die  Irrtümer  der  alten  Klassi- 
fikation autgedeckt  haben,  und  er  besagt  eigentlich  nichts 
weiter  als:  hier  habe  ich  eine  (Jruiijie  von  Erscheinungen, 
fllr  welche  in  der  Begritlspyramide  der  Wissenschaft  ent- 
weder überhauj)t  ein  Wort  fehlt  oder  welche  sich  mit  unserer 
Selmsucht  nach  einer  symmetrischen  Begritispyramide  nicht 
deckt.  Wenn  ein  Prädikat  nur  von  einigen  Individuen  des 
Subjekts  ausgesagt  werden  kann,  wenn  ein  Merkmal  nur 
auf  einige  Teilvorstellungen  eines  BegrifiTs  passt,  dann  sind 
diese  Individuen  oder  Teilvorstellungen  in  meinem  Gedanken- 
gang noch  nicht  zu  einem  distinkten  Begriff  zusammen- 
gefa.sstf  sind  fUr  unsere  Erkenntnis  noch  nicht  brauchbar. 

Noch  unbrauchbarer  schmt  mir  der  Modus  Darii  in 
den  andem  zahlreichen  FttUen  zu  sein,  wo  der  Sehluaisata 
zu  wenig  besagt. 

Alle  Quadrate  sind  viereckig, 

einige  Parallelogramme  sind  Quadrate« 

also  sind  einige  .Parallelogramme  viereckig. 
Dass  dieser  Schlusssatz  wie  immer  frfiher  gewusst  wird 
als  seiue  Prämissen,  brauche  ich  nicht  erst  zu  bemerken. 
Aber  er  ist  als  Partikularsatz  geradezu  falsch.  Denn  es 
sind  doch  alle  Paralldogramme  viereckig;  und  wer  das 
weiss,  wird  darum  (was  logisch  aus  den  Pk-amissen  nicht 
hervorgeht)  auch  sagen:  mindestens  einige  Parallelo- 
gramme sind  viereckig. 


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451 


Da  man  nun  der  Sclilussform  von  Darii  und  der  parti- 
kularen Form  seines  Schlusssatzes  nicht  ansehen  kann ,  ob 
die  einigen  Individuen  das  Prädikat  nur  oder  mindestens 
verdienen,  so  ist  der  Sinn  dieses  Scbluassatzes  für  den 
Logiker  immer  unklar  und  im  Gedankengang  weiter  nicht 
zu  yerwenden.  Anders  im  wirklichen  Denken,  wo  die  ent- 
sprechende Besimnuig  sich  der  unmittelbaren  Vorstellungen 
bewuBst  wird  und  zu  einer  Begriffsbildung  führen  kann, 
wenn  dss  Merkmal  mindestens  auf  einige  Individuen 
passt,  und  wo  die  Begrififsbildung  aufhört,  wenn  das  Merk- 
mal nur  auf  einige  Individuen  passt. 

4.  Ferio.  Ferlo. 

Der  vierte  Schlussmodus  vereinigt  mit  mathematischer 
Vollständij^keit  die  Sinnlosirjkeiten  des  zweiten  und  des 
dritten  Modus.  Der  Obersatz  gibt  ein  allgemein  negieren- 
des Urteil;  er  ist  also  ein  sprachliches  Bild  des  Nicht- 
denkenkönuens.  Der  Untersatz  gibt  ein  bejahendes  parti- 
kulares Urteil;  er  ist  also  ein  sprachliches  Bild  eines  un- 
fertigen Bei^nitT's,  Der  Schlusssatz  ist  partikular  negierend; 
er  besagt  also  ttlr  uns  das  Kichtdenken  von  etwas  Un- 
fertigem. 

Kein  Käse  ist  ein  Planet, 
einige  Nahrungsmittel  sind  Käse, 


also  sind  einige  Nahrungsmittel  keine  Planeten. 
Unser  Kerl  am  Wirtshaustisch   niüsste   schon  recht 
viel  getrunken  haben,  um  in  seinem  Sprachschatze  solche 
Sprünge  zu  machen. 


Die  Beziehungen  der  Begriffe  int  dritten  und  im  vierten  Algebra 
Schlussmodus  hat  die  Algebra  der  Logik  etwas  schärfer  j^j^ 
fassen  können,  weil  sie  die  Quantität  der  Urteile  durch 
mathematische  Zeichen  hesser  ausdrücken  konnte.  Aber  wie 
die  Algebra  der  Grammatik  (III.  261  f.)  so  ist  auch  die 
Algebra  der  Logik  ewig  unfruchtbar.  Nur  am  Schlüsse 
einer  Gesdiichte  der  logischen  Disziplin,  mit  deren  Ver^ 


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452 


T.  Dia  Sehlascfolgeruiig. 


öffentlichung  ich  noch  zurückhalten  muss,  könnte  ich  die 
neue  Algebra  der  Logik  grOndlich  kritisieren.  Hier  nur 
einige  Ainleutimpfen. 

, Alles  Gescheite  ist  schon  gedacht  worden,"  von  Goethe 
selbsi  näDoJich.  Was  er  (in  der  Geschichte  der  Farbenlehre) 
von  dem  baumeisterlichen  Aristoteles  sagt,  das  gilt  von  allen 
spätem  und  kleinern  Baumeistern  der  Lof^'k:  „Er  erkundigt 
sich  nach  dem  Boden,  aber  nicht  weiter,  als  l)is  er  Grund 
findet.  Von  da  bis  zum  Mittelpunkt  der  Erde  ist  ihm  das 
Uebrige  gleichgültig."  Etwa  zu  der  gleichen  Zeit  hat 
Schleiermacher  das  Ende  der  formalen  Logik  in  seiner 
grüblerisch  feinen  Weise  richtig  erkannt.  Er  wies  auf  die 
Aehnlichkeit  zwischen  dem  dialektischen  Denken  und  dem 
Dialoge  hin,  ferner  darauf,  dass  die  Nationalität  und  die 
Individualität  jeder  Sprache  die  Allf^emeinheit  dr-r  Logik 
(wir  fanden:  «es  gibt  keine  Logik,  es  gibt  nur  Logiken*), 
also  die  Allgemeinheit  des  Denkens  einschränke.  Seitdem 
wird  namentlicli  in  Deutschland  versucht  (seit  Trendelen- 
burg und  besonders  seit  Schuppe,  der  diese  Bewegung  auf 
Descartes  zurückfuhrt),  die  Logik  psychologisch  zu  machen 
und  zugleich  an  Stpll^  der  formalen  Logik,  die  ich  hier 
doch  nur  pietätslo.ser  bekam j)ft  habe  nls  andere  vor  mir, 
eine  Methodenlehre  zu  setzen.  Lintern  und  gründlich  hat 
Wundt,  fein  und  gründlich  iiat  Sigwart  diese  Arbeit  ge- 
leistet. Wenn  nur  nicht  schon  der  halbe  Ketzer  Zabarella, 
der  Arist^teliker  und  Astrologe  und  doch  sehr  klug  war, 
bereits  im  10.  .lahrhundert  gelehrt  hätte,  Methode  sei  ein 
intelektueller  Habitus,  das  heisst  doch  wohl  eine  geistige 
Gewohnheit.  Wenn  nur  Methode  etwas  vor  dem  Wissen 
wäre.  Moltke  glaubte  schwerlieh  alle  Methodenlehren  zu 
treffen,  als  er  sagte:  Strategie  sei  die  Anwendung  des  ge- 
sunden Menschenverstandes  auf  den  Krieg. 

Inzwischen  liat  sich  die  neue  Disziphn  herausgebildet, 
die  Algebra  der  Logik.  Ein  Mathematiker  und  Denker  wie 
Leibniz  gbuibte  noch  sein  Lebenlaug  ahnungsvoll,  es  liesse 
sich  durch  Unterwerfung  des  Denkens  unter  den  mathe- 
matischen Kalkül  eine  Vollendung  des  Wissens  herstellen. 


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Algebra  der  Logik. 


453 


Sein  Traum  von  einer  charakteristischen  Universalsprache 
hängt  gewiss  mit  solclien  übermenschlichen  Wünschen  zu- 
sammen. Die  ungeheuere  Verstandesarbeit,  welche  nun  seit 
Boole  und  Delboeuf,  besonders  durch  l'eirce  und  E.  Schröder 
auf  die  Durcharbeit  dieser  mathematischen  Logik  verwandt 
worden  ist,  kann  keinen  Zweifel  darüber  lassen,  dass  Leibniz 
da  nur  geträumt  habe,  dass  auch  die  Algebra  der  Logik 
nur  formale  Logik  sei,  dass  auch  die  Algebra  der  Logik 
keine  neue  Erkenntnisquelle  biete. 

Lotze  hatte  seine  Logik  mit  dem  Wunsche  geschlossen, 
die  deutsche  Philosophie  möge  yersachen  den  Weltlauf  zu 
▼erstehen  und  ihn  nicht  hIosB  zu  berechnen.  Schröder,  der 
deutsche  Katkolator  der  Logik,  antwortet  darauf  (L  105): 
Könnten  wir  ihn  nur  erat  berechnen,  dann  würden  wir  ge- 
wiss ihn  auch  verstehen,  .soweit  überhaupt  ein  VorstSnÄiis 
auf  Erden  enielbar*.  Der  letste  Nebouats  Uingt  für  einen 
Mathematiker  der  Logik  beschdd«!  genug.  Worin  besteht 
aber  hier  der  (Gegensatz  zwischen  Lotze  und  Schröder? 
Doch  nur  darin,  dass  Lotze  die  abstrakten  Worte  der  Philo- 
sophie, dass  Schröder  die  ausserhalb  der  Gemeinsprache 
lieg^id^  mathematischen  Zeichen  ftlr  geeigneter  hält,  sich 
und  andern  den  Weltüauf  klar  zu  machen.  Es  sagt  also 
Lotze  dgentlich:  die  Begriffe  der  philosophischen  Sprache 
sind  klarer  ab  die  mathematischen  Begriffe;  man  kommt 
mit  maOiemalischen  Abstraktionen  über  die  Einsiditen  nicht 
hinaus,  welche  durch  Spradie  erreichbar  sind.  Und  Schröder 
antwortet  eigentlich:  die  mathematischen  Abstraktionen  sind 
Uarer  als  die  Abstraktionai  der  Sprache, 

An  einer  andern  Stelle  (I.  229)  sieht  sich  jedoch 
Schröder  zu  dem  Eingesf&ndnis  gezwungen,  dass  er  in  seiner 
Darstellung  der  Logik  Ton  den  Freiheiten  und  Lieenzen  der 
Verkehrssprache  nach  Möglichkeit  absehen  müsse,  um  nicht 
in  übexgrosse  Weitlftufigkeiten  verwickdt  zu  werden.  Das 
heisst  wohl:  um  die  logiBchai  Beziehungen  überhaupt  noch 
mathematisch  danteUm  zu  können.  Es  geht  ihm  eben 
audi  wie  StÖhr  bei  seines  Bemühungen  um  die  Algebra  der 
Grammatik  (yergl.  wieder  m.  S.  261).   Er  Torsteht  dabei 


454 


V.  Die  ScbluMfolgerung. 


jedoch  unter  Verkelirssprache  nicht  etwa  die  Gemeinsprache 
im  (it^gensatze  zu  dem  logischen  Spiiulifj^ebrauehe  der  Philo- 
sojilieii;  man  sollte  es  IVeiHch  <rlaubeu,  wenn  er  dazu  den 
Wühhveisen  Hat  ^/ihi  :  vs'iire  Uberhaupt  besser,  wenn  uiuu 
sich  korrekter  Ausdrucksweise  befleissigte/  Er  versteht 
unter  der  Verkehrssprache  vielmehr  die  jeweilige  Mutter- 
sprache des  Logikers,  deren  Sprachgebrauch  sich  in  seinen 
Eigentümlichkeiten  und  Feinheiten  mit  der  allgemeinen 
Logik  nicht  deckt.  Die  Bemerkung  steht  im  Znsammen- 
hange einer  guten,  Ton  mir  übernommenen  Üntersuchung, 
nach  welcher  in  der  deutschtti  Sprache  i.  B.  die  seheinbar 
80  gegensätzlichen  Bindewörter  «und"  und  »oder*  in  ihren 
Bedeutungen  leieht  zasammenfliMMn. 

Nur  geht  es  dem  Mathematiker  der  Logik,  wenn  er 
sieb  Terstöndlieh  machen  will,  ebenso  wie  andern  abstrakt 
denkenden  Menschen.  Aus  Anschauui^n  sind  alle  Abstrak- 
tionen des  Lehrers  hervorgegangen  und  an  Anschauungen 
muss  der  Schüler  erinnert  werden,  wenn  er  dem  Lehrer  soll 
folgen  kdnnen.  Will  man  einem  Kinde  den  einfachsten 
Satz  beibringen,  so  muss  man  ein  Beispiel  von  unmittel- 
baren Sinneseindrücken  nehmen.  Man  sagt:  «Der  Hund  ist 
gross*  und  zeigt  dabei  mit  den  Händen  einen  grossen  Raum 
und  dehnt  wohl  dazu  metaphorisch  das  o.  Will  der  Philo- 
soph einen  sehr  abstrakten  Satz  .anschaulich*,'  das  heisst 
relativ  anschaulich  machen,  so  wählt  er  ein  konkretes  Bei- 
spieL  Will  der  Mathematiker  der  Logik  seinen  formelhaften 
Satz  c^a  +  b  relativ  anschaulich  machen,  so  wShlt  er 
irgend  einen  Satz  der  Sprache,  der  ihm  schon  konkret 
scheint,  wenn  er  nur  in  Worte  gefasst  ist.  Ohne  solche 
Bückbeziehung  auf  die  Sprache  ist  jeder  Logikkalkfll  un- 
denkbar, schon  darum,  weil  die  Zeichen  in  der  Logik  oft 
«men  andern  Sinn  haben  ab  in  der  Mathematik  und  diese 
Verschiedenheiten  erst  durch  sprachliche  Beispiele  klar  ge- 
macht werden  können. 

Wenn  nun  die  Algebra  der  Logik  wie  alles  Denken 
zuletzt  auf  unmittelbaren  Wahrnehmungen  beruht,  wenn  sie 
zun&chst  und  direkt  auf  die  Sprache  exemplifizieren  muss, 


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Algebra  der  Logik. 


455 


wenn  es  ferner  eine  allgemeine,  aus  der  Logik  hervor- 
gegangene, allen  A'^ölkeru  verständliche  Sprache  oder  auch 
nur  einen  gleichen  logischen  Unterbau  ftlr  die  verschiedenen 
VdlkeiBpraelieii  nielit  gibt,  wenn  ach  die  Algebra  der  L<^k 
aÜBO  immer  nur  auf  dne  bestimmte  einzelne  Yolksspradie 
bezieben  kann,  wenn  wir  endlich  eingesehen  haben,  dass 
die  Individualspracben  dw  Völker  Ton  Freiheiten  und  Feitt' 
heiten  und  Eigentümlichkeiten  wimmeln,  das  beisst  dass 
die  Tersdiiedene  Aufmerksamkeit  der  Terscbiedenen  Völker 
den  Weltkatalog  nach  Tenebiedenen  Gesichtspunkten  ge- 
ordnet bat  und  nicht  nur  den  Weltkatalog  oder  die  Klassi- 
fikation der  Dinge,  sondern  auch  den  Satzbau  oder  die 
Auffassung  Y<m  den  Beziehungen  der  Dinge  —  so  werden 
wir  begreifen,  dass  die  Hofbung  eitel  ist,  mit  Hilfe 
mathematischer  Abstraktionen  Tom  Sprachgebrauch  ernst* 
haft  über  die  Mangel  der  Sprache  hinauszukommen.  Ge- 
wiss: ff  es  w&re  besser,  wenn  man  sieh  korrekter  Ausdrucks- 
weise befleissigte.*  Das  kann  man  aber  nicht  über  die 
beschränkten  Grenzen  der  Sprachen  hinaus.  Wo  keine  Logik 
der  Sprache  ist,  da  hat  die  Algebra  der  Logik  ihr  Recht 
yerloren. 

Dazu  kommt,  dass  selbst  mathematische  Elementar- 
begriffe, wie  die  vier  Spezies,  dass  sogar  der  Grundbegriff 
der  Negation  nur  metaphorisch  auf  dem  Gebiete  der  Logik 
Geltung  haben  können.  Man  Terfolge  einmal  diese  unfrei- 
willige Metaphorik  bei  Wundt  (Logik  2.  Aufl.  L  246  u.  f.) 
in  dem  Kapitel  «Der  Algorithmus  der  ürteilsfunktionen*. 
Als  Uebung  im  abstrakten  Denken  ist  die  Algebra  der 
Logik  .yi)pnso  empfehlenswert  wie  dio  Ollendorfische  Methode 
für  die  Einübung  der  Grammatik.  Da  ist  es  vielleicht  nicht 
ohne  unfreiwilligen  Humor,  wenn  ein  Geschichtsschreiber 
der  Logik  seiner  ganzen  SpeziaUvissenscbaft  einen  ähnlichen 
Nutzen  zuschreibt.  Es  ist  F.  Harms,  der  am  £nde  seiner 
Darlegung  sagt:  ,Die  Geschichte  der  Logik  muss  jeder 
kennen,  der  sich  in  fruchtbarer  Weise  mit  ihr  beschäftigen 
will.  Die  Geschichte  der  Philosophie  kann  man  überhaupt 
ansehen  als  die  Experimentalphilosophie.  Und  so  auch  die 


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456 


T.  Die  ScUiinfolgeniiig, 


Geschichte  der  Logik."*  Auch  die  Algebra  der  Logik  lehrt 
mir  ein  Experimeutieren,  besser  eiu  Exerzieren  mit  den  Be* 
griffen. 

Wir  wissen  bereits,  dass  die  hypothetist hen  Schlüsse 
nur  eine  andere  sprachhche  Form  tlir  die  hier  behandelten 
ktlnstlichen  Denkoperationn;  sind.  Ihre  nähere  Betrachtung 
gehört  in  einen  kritischen  Leberblick  über  die  Grammatik. 
aoUius-  Eine  Fortführung  meiner  Kntik  auf  die  sugeuaimten 
ketten.  Schlusskf'tten  wird  man  mir  erlassen.  Wo  das  einzelne 
Glied  nicht  hält,  kann  die  Kette  auch  nichts  taugen. 

Ebenso  darf  ich   es   mir   wohl  ersparen,  das  abge- 
kürzte Schliissverfahren  besonders  zu  behandeln,  so  uner- 
bittlich auch  in  allen  Lehrbüchern  der  Logik  die  schönen 
griechischen  Namen  für  abgekürzte  einfache  Schlüsse  und 
fÖr  abgekürzte  Schlussketten  wiederholt  und  erklärt  und  ein- 
gepaukt werden.   Dieses  abgekürzte  Schlussverfahren  musste 
von  den  Legründeni  der  Logik  sehr  Ii  Llli  beobachtet  und 
in  ein  System  gebracht  werden,  weil  das  wirkliche  Denken 
allerdings  regelmässig  nur  in  solchen  Gedankensprüngen,  wie 
das  Enthymem  und  der  Sorites,  vor  sich  geht.  Das  wirkliche 
Denken  erinnert  sich  bei  einem  Begriff  je  nach  Umständen 
an  ein  näheres  oder  ferneres  Merkmal«  es  vollzieht  also 
umnittelbar,  wenn  man  durchaus  wiü,  ein  Enthymem  oder 
einen  Sorites.  Nicht  aber  sind  diese  Gedankensprünge  ab- 
gekürztes Denken,  sondern  die  Schlttsse  und  Schlnsdcetten 
sind  auseinander  gezerrte,  schabionisierte,  künstlich  Terttn- 
gerte  und  ▼erdttnnte  GedankensprQnge.    Man  könnte  die 
Thfttigkeit  des  Logikers  dabei  mit  dem  Fhotographieren  von 
ÄnschOtz  Tergleichen,  das  doch  z.  B.  die  Bewegungen  eines 
rennenden  Pferdes  in  winzigen  Bruchteilen  Ton  Sekunden 
aneinander  reiht  und  dadurch  Stellungen  der  vier  Fflsse  wahr- 
nehmen lässt,  die  vor  diesen  Photographien  kein  mensch- 
liches Auge  an  rennenden  Pferden  wahrgenommen  hatte.  Man 
muss  sich  freilich  hüten,  das  Bild  wirklich  anzuwenden. 
Denn  im  Denken  werden  durch  den  Einfluss  der  Qewohn- 


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DeduktioB  und  Indnktioii. 


457 


heit,  der  Uebuag  unoidfick  fiele  Zwischenglieder  wirklich 

Obersprangen  oder  doch  gewiss  mit  ungleicher  Schnelligkeit 
erledigt,  während  das  rennende  Pferd  jeden  kleinsten  Brach- 
teil der  Zeit  gleichmässig  ausfüllen  muss.  Wäre  dem  aber 
auch  nicht  so,  so  tbäte  der  Logiker  nicht  gut  daran,  sich 
auf  jene  Photographien  zu  berufen.  Denn  die  Maler  malen 
falsch,  wenn  sie  (wie  das  neuerdings  versucht  wird)  Augen- 
blicksstellungen in  ihren  Bildern  fixieren;  und  so  schildern 
die  Logiker  das  Denken  falsch,  wenn  sie  die  Gedanken« 
Sprünge  für  abgekürzte  Schlussketten  erklären. 

Die  alte  Lehre,  dass  unser  Denken  auf  dem  Wege  von 
logischen  Denkoperationen  aus  künstlich  gruppierten  Urteilen 
neue  Urteile  erschlicsse,  ist  nicht  mehr  zu  halten.  Es  ist 
endhch  an  der  Zeit,  dass  sie  umgestürzt  werde,  nicht 
nur  in  einzelnen  Teilen,  sondern  von  Grund  aus.  Der  Be- 
griff „Schluss"  ist  für  uns  ein  sinnloses  Wort  geworden, 
ein  geträumtes  Dach  für  ein  Haus,  das  keine  Wände  hat. 
Seit  Bacon  und  nach  mehr  seit  Stuart  Mill  müht  man  sich 
üb,  diesem  alten  Gebäude  der  Logik,  einem  Gel)iiude  ohne 
Wand  und  Dach,  den  Induktion^crbluss  als  einen  neuen, 
nützlicheren  Teil  anzufügen.  Es  wird  eine  weitere  Aufgabe 
für  uns  sein,  das  Wesen  der  Induktion  zu  prüfen  und  vor 
allem  zu  ztiu«»n,  dass  sie  mit  der  Logik  ganz  und  gar  nichts 
zu  thun  lial  s  ,  der  sinnlose  Begriff  »Schluss*  mit  ge- 
häufter Sinnlosigkeit  auf  diesen  psychologischen  Vorgang 
angewandt  worden  ist. 


VI.  Die  Induktion. 

Die  Kritik  der  Sprache  führt  Ober  die  herrschenden  De- 
Denkfonnen  und  aus  den  herrschenden  Deukfornien  hinaus: 

und  In- 

die  Kritik  der  Sprache  lehrt,  dass  Logik  nie  und  niinmer  dnktioo. 
zu  einer  Bereicherung  der  Erkenntnis  fühi  eii  kunne.  Unsere 
Anschauung  unterscheidet  sich  aber  darin  von  der  geltenden, 
die  dur(h  Mill  theoretisch  gelehrt  und  besonders  von  eng- 
lischen Naturforschern   bewundert  worden  ist,  dass  diese 


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458 


VI.  Die  InUukiiüU. 


Forscher  melur  oder  weniger  klar  höchstens  die  deduktive 
Logik,  die  alte  Schullogik,  preisgegeben  haben,  um  an  ihre 
Stelle  die  induktive  Logik  als  ein  ebenso  unfehlbares  Werk* 
zeug  der  Erkenntnis  zu  setzen.  Wir  aber  sehen  ein,  dass 
die  Deduktion  wertlos  war,  weil  sie  von  den  Worten  hin- 
weg entweder  zu  den  SinneseindrQcken  zurQck  oder  ins 
Leere  führte,  dass  jedoch  die  Induktion  ebenso  wertlos  ist, 
weil  sie  von  den  SinneseindrUcken  hinw^  nicht  zu  Er- 
kenntnissen, sondern  nur  zu  Erinnerungen  oder  Worten  führt. 
Ich  will  zur  drastiBchen  Darstellung  des  Sachverhalts  ein 
geistreiches  Bild  von  Whewell  benutzen  und  verindem.  Die 
Deduktion  gleicht  einer  Person,  welche  einen  gemalten 
Nagel  an  der  Wand  sieht  und  ein  Bild  in  wirklichem  Rahmen 
an  diesen  Nagel  hangen  möchte;  es  geht  nicbt,  weil  sich 
an  einem  gemalten  Nagel  nur  ein  gemalter  Rahmen  be- 
festigen lässt.  Die  Induktion  jedoch  gleicht  einer  Person, 
welche  ein  Bild  in  einem  gemalten  Rahmen  an  der  Wand 
sieht  und  deren  Vorstellung  sieh  nicht  eher  beruhigt,  als 
bis  den  gemalten  Rahmen  ein  dazu  gemalter  Nagel  fest  zu 
halten  scheint.  Die  Induktion  ist  psydiologisch  feiner;  doch 
aucli  ihre  Beruhigung  ist  ebenso  wie  die  der  deduktiven 
Erkenntnistheorie  schliesslich  nur  eine  Illusion. 

Der  gemeinsame  Fehler  der  deduktiven  wie  der  induk- 
tiven Logik  besti'lit  darin,  dass  beide  in  dem  untilgbaren 
Ruhebedürfnis  des  Menschengeistes  sich  bei  blossen  Worten 
beruhigen;  die  Induktion  ist  insofeme  nur  zugleich  klüger, 
bescheidener  und  ärmer,  als  sie  sich  früher  beruhigt.  Das 
Wort  der  Mensrhensprachc,  das  Wort  als  Merkzeichen  für 
Siniieswahrnehniun^en,  ist  nur  der  Durchgangspnnkt  von 
der  Induktion  zur  Deduktion.  Echte  und  zuverlässige  In- 
duktion endet  im  Worte  da,  wo  das  W  ort  ohne  Th^'^rie 
nur  eine  Erinnerung  sein  will;  die  Deduktion  be^nnit  da, 
wo  die  Erinnerung  aufhört,  wo  die  Tliatsaclien  vom  Worte 
verlassen  werden.  Das  war  so  in  alter  Zeit  und  ist  heute 
noch  SU. 

Wenn  wir  lesen,  dass  die  Griechen  den  Begriti"  der 
Schwere  auf  die  Erscheinung  des  Lichts  anwandten,  dass 


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Indaktion  und  Licht. 


459 


ihnen  das  Licht  i  u.  leichter  Körper  war  etwa  wie  die  Luit, 
dass  sie  diesen  luichten  Körper  vun  der  Eide  himvef^  zu 
dem  Himaiul  .streben  Hessen,  so  sehen  wir  deutlich  den  alten 
Iklissbrauch  eines  Worts.  Und  doch  will  es  mir  scheiueii, 
als  ob  die  Griechen  bei  der  induktiven  Verbindung  der  Be- 
griffe Licht  und  Schwere  keine  viel  unklarere  Vorstellung  ge- 
formt hatten,  als  unsere  beiden  letzten  Jahrhunderte  bei  der 
ebenso  induktiven  Verbindung  der  Begrifte  Licht  und  Qe- 
schwindii^eit.  Es  war  nelmrlieh  ein  geistreicher  Einfall 
Ton  Römer  (1676),  als  er  die  Verspätung  und  VerfrQhung 
der  Verfinsterungen  an  den  Jupitermonden  beobachtete, 
diese  Erscheinung  mit  der  weitem  und  nftbem  Entfernung 
der  Erde  vom  Jupiter  verglich  und  wirklieb  eine  regel- 
mSssige  Beziehung  auffand.  Er  beschrieb  diese  Ereignisse, 
und  da  es  sich  um  Zeitteilchen  handelte,  so  nannte  er  diese 
Lichtverhiltntsse  die  Geschwindigkeit  des  Lichts.  Vorher 
hatte  man  diesen  Begriff  gar  nicht  gekannt;  das  Licht 
hatte  vorher  gewissermassen  gar  keine  Geschwindigkeit, 
weil  man  sie  gleich  unendlich  setzen  konnte.  Ein  Bing, 
das  Uberall  sugleich  ist,  hat  nach  unsem  Vorstdlungen 
keine  Geschwindigkeit.  Als  nun  die  sogenannte  Geschwin- 
digkeit des  Lichts  auf  dreimalhunderttausettd  Kilometer  in 
der  Sekunde  berechnet  war,  bemerkte  man  zuerst  nicht, 
dass  in  dieser  Ziffer  doch  ein  bildlicher  Ausdruck  stak*  Man 
hatte  von  den  Erscheinung^  der  Jupitermonde  und  der 
Schnelligkeit  z.  B.  eines  geworfenen  Steins  oder  einer 
Kanonenkugel  sind  Liduktion  gemacht,  dasheisst,  sich  beim 
Worte  Geschwindigkeit  beruhigt.  Es  stellte  sich  aber  bald 
heraus,  dass  die  Vorstellttng  von  dieser  ungeheuerlich 
sdinellen  «Ortsvei^derung*  der  Lichtkfirperchen  zu  Wider- 
sprüchen fUhrte.  Da  setzte  man  an  die  Stelle  der  Orts- 
verimderung  den  Begriff  der  Wellenbewegung,  da«^  Leisst, 
man  schuf  eine  neue  Induktion,  indem  man  die  Beschrei- 
bung der  T6ne  und  die  Beschreibung  des  Lichts  auf  einen 
gemeinsamen  Ausdruck  brachte  und  durch  diese  Abstraktion 
wie  immer  aus  der  Beschreibung  zu  einer  Erklärung  zu 
gelangen  glaubte.   Man  hatte  abo  eine  Metapher  von  der 


460 


7L  Die  Induktion. 


Geschwindigkeit  der  Schwingimgeii  und  eine  andere  von  der 
Gesdiwindigkeit  der  Ortsyexlnderung.  Man  redete  dabei 
TOn  einem  Aether  als  dem  materiellen  Träger  aller  dieser 
unvorstellbaren  Geschwindigkeiten.  Aber  dieser  Aether  ist 
doch  wohl  im  Grunde  nichts  als  das  tertium  comparationis 
der  Metapher.  Wieder  haben  wir  ein  Wort  vor  uns,  welches 
eigentlich  nichts  ist  als  eine  vorläufige  Bartthigung  über 
Aehnlichkeiten,  welche  an  den  Erscheinungen  des  Lichts, 
der  Wärme,  des  Magnetismus  und  der  Eiektricitit  beoh- 
achtet  worden  sind.  Der  Aether  ist  ein  Ruhepunkt  im 
Denken  geworden  und  was  man  Uber  seine  Eigenschaften 
auszusagen  weiss,  ist  dann  wieder  der  Uebei^ng  durch 
dieses  Wort  hindurch  in  die  Deduktion. 

Noch  besser  jedoch  als  der  Hinwei«?  auf  alten  und 
neuen  Wortaberglauben  scheint  mir  das  Hauptwort  aller 
dieser  Erscheinun^^en  als  Beispiel  dienen  zu  können  für  die 
Selbsttäuschung  der  Induktion,  die  sich  über  den  gemalten 
Rahmen  beruhigt,  wenn  ein  haltender  Nagel  dazugemalt 
ist.  Ich  meine  das  Wort  J^icht"  selbst.  Vom  Lichte 
handeln  dicke  Bücher,  mit  der  L'^ntersuchung  des  Lichtes 
sind  hundert  Professoren  beschäftigt.  Wir  dürfen  darum 
freilich  nicht  verlangen,  auch  zu  erfahren,  was  das  Licht  in 
Wirklichkeit  sei.  Wir  sollten  aber  doch  meinen,  wir  müssten 
eüdlich  wissen,  ob  das  Licht  überhau}<t  irgend  etwas  sei 
oder  nicht.  Da  bep^egnen  wir  aber  einer  Definition,  die 
üpätern  Geschlechtern  wirklich  nicht  erns-thafter  erscheinen 
wird  als  uns  die  griechische  Erzählung  von  der  Leichtig- 
keit des  Lichts.  Es  sei  nämlich,  so  besagt  die  klarste  der 
beliebten  Definitionen,  das  Licht  die  Urbathe  der  Sichtbarkeit 
der  Gegenstände.  Was  ist  da  ge^^chehen?  Olfenbar  hat 
die  ]K>|)uläre  Induktion  seit  Menschengedenken  die  Sichtbar- 
keit der  Welt,  das  heisst  ihre  Farben,  ihre  verschiedene 
Helligkeit  u.  s.  w.,  mit  dem  beciuemeii  W  orte  „Licht"  zu- 
sanwnengefasst  \ind  nun  bestrebt  sich  die  Wissenschalt,  das 
Wort,  das  heisst  die  Erinnerung  an  die  Einzelfälle, 
zur  U  r  8  a  (  Ii  e  der  Einzelfälle  zu  machen.  Für 
unsere  Sprachkritik  ist  es  ausser  Zweifel,  dass  , Licht"  nur 


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Induktive  Begriffsbildimg. 


461 


ein  Wort  sei,  Terursaclii  durch  die  Sichibarkeit  der  Gegen- 
stiade,  dass  man  also  die  Definition  fttr  die  Erkenntnis- 
theorie auf  den  Kopf  stellen  müsse. 

Wir  aber  wissen»  dass  unsere  Sinne  Zofallssinne  sind, 
wir  werden  also  nicht  einmal  dem  neuen  Satse,  dass  die 
Sichtbarkeit  der  Gegenstande  die  Ursache  des  Begri&  Licht 
sei,  irgend  welche  ernste  Bedeutung  beimessen.  Wenn  die 
Wellen  des  Meeres  turmhoch  gegen  die  Felsennfer  schlagen 
und  im  Laufe  der  Jahrhunderte  langsam  die  yerwitterten 
Teilchen  Ton  den  glatten  Felsenw&nden  in  das  Heer  hin- 
unterspülen,  so  wird  die  Felsenwand  die  Welle  definieren 
als  ein  böses  Ding,  welches  sie  beraubt,  der  Meeresboden 
wird  dieselbe  Welle  definieren  als  ein  gutes  Ding,  welches 
ihn  beschenkt.  Die  Welle  selbst  wird  sich  fttr  eine  Welle 
halten.  Jedes  einzelne  Wasserteüchen  wird  TOn  einer  Welle 
nichts  wissen.  Kein  MenschengeLst  kann  sagen,  ob  er  sich 
da  mit  der  Welle  oder  mit  dem  Wasseratom,  mit  der 
Felsenwand  oder  mit  dem  Meeresgrunde  rergleichen  darf. 


Die  Behauptung,  dass  die  Bezeichnung  Induktionsschluss  in- 


duktive 
BegrUb- 


für  den  Gehimvorgang  der  Induktion  sinnlos  sei,  dass  die 
Lehre  von  der  Induktion  ganz  und  gar  in  die  Psychologie  bndnig, 
gehöre,  scheint  ein  Streit  um  Worte  zu  sein,  solange  nicht 
hell  geworden  ist,  dass  Induktion  nichts  weiter  ist  als  die- 
jenige Association  von  Sinnesempfindungen,  durch  welche 
Association  B^piffe  oder  Woiie  entstehen,  beziehungsweise 
in  ihrer  Anwendung  verändert  werden. 

Ein  vollkommener  Induktionsschluss  —  wenn  es  einen 
solchen  gäbe  —  wäre  nichts  weiter  als  der  Ausdruck  der 
Thatsache,  dass  ein  Menschenccehirn  durcli  Beobachtunf? 
sämtlicher  Individuen  einer  Art  dazu  golang-t  ist,  von  dieser 
Art  ein  bestimmtes  Prädikat  auszusagen,  das  heisst  docli 
eigentlich,  sich  bei  dem  Worte  oder  Be<^rifV  dieser  Art  eine 
bestimmte  Eij^enschaft  mit  zu  denken.  Möglich  sind  solche 
vollkommene  Induktionen  überhaupt  nur  bei  den  Be^niffen, 
die  eine  beschränkte  Anzahl  von  Individuen  umfassen.  £s 


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462 


VL  Die  Induktion. 


kann  ein  einzelner  Mensch  wohl  sämtliche  existierende 
Pyramiden  untersuchen,  sämtliche  bisher  entdeckte  Pkmeten 
beobachten.  Der  unbewusste  Vorgang  der  liuluktioii  wird 
nun  darin  bestehen,  da5;s  der  Begriff  Pyramide  mit  ent- 
hält: «oicii  riesige,  vit>rcckige,  sjiitzige  Grabdenkmäler 
der  1 'ha raunen.  Wird  nun  z.  H.  irgendwo  eine  ganz  kleine 
Pyramide  aufgefunden,  so  hat  das  zur  Folge,  dass  dieses 
kleine  viereckige,  spitzige  (iral»denkraal  nicht  mehr  unter 
den  Begriff  Pyramide  füllt,  oder  dass  wir  bei  diesem  Wurte 
aufhören,  uns  Riesengrösse  mit  vorzustellen.  Wird  uher 
irgendwo  z.  B.  das  Fundament  einer  bisher  unbekannten 
Pyramide  aufgefunden,  so  wird  der  bisherige  Begrill'  (nicht 
die  Gewissheit,  auch  nicht  eiuiual  die  Wahrscheinlichkeit, 
sondeni  nur)  den  Wunsch  in  uns  wachrufen,  dass  wir  ein 
Grabgew(Ube  vorfinden  möchten.  Von  einem  Schlüsse  kann 
dabei  nicht  die  Red.-  sein.  Jeder  Schluss  wäre  falsch,  auch 
dann,  wenn  die  Thatsaehen  ihn  bestätigten.  Daun  wäre 
nur  die  neue  lieobiiehtuug  richtig,  nicht  aber  der  Schluss, 
der  uns  aufforderte,  sie  anzustellen.  Der  Fall  liegt  ähnhch 
•  bei  dem  Begriff  der  Planeten,  von  denen  wir  auch  nur  eine 
beschränkte  Zahl  kennen.  Die  Astronomen  haben  dit  hii  a' 
als  einen  Planeten  erkannt,  haben  ihre  Achsendrehung 
nachgewiesen  und  haben  die  Achsendrehung  auch  bei 
einigen  grossen  Planeten  beobachtet.  Damit  ist  in  ihren 
Vorstellungen  die  Induktion  entstanden,  dass  ein  Planet 
sich  um  sich  selber  drehe;  das  ist  natürlich  kein  Schluss, 
sondern  nur  der  Weg  zu  einer  reicheren  Begriffsbildung.  Die 
Alten  benannten  die  ihnen  bekannten  fünf  Planeten  da- 
nach, daes  sie  zwiselien  den  Fixsternen  willktlrlich  umher 
zu  wandern  schienen.  Es  waren  ihnen  Wandersteme.  Die 
neu^  Astronomie  hat  das  annlos  gewordene  griechische 
Wort  beibehalten,  stellt  sich  aber  darunter  eine  Anzahl  Ton 
Himmelskdrpem  Tor«  die  um  sich  selbst  und  um  die  Sonne 
rotieren,  deren  Bahnebenen  unfi^efahr  in  der  gleichen  Fttche 
liegen  u.  s.  w.  Es  ist  richtig,  dass  sehr  viele  yon  diesen 
Umständen  darum  entdeckt  wurden«  weil  man  nach  der 
besseren  Beobachtung  der  Erdbewegungen  durch  Induktion 


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Induktive  Begrilbbildttiig. 


463 


zu  der  «Erwartung"  kam,  jecler  andere  Planet  werde  ähnliche 
Bewegungen  zeigen.  Die  Erwai-tung  war  richtig,  der  Sdiluss 
wäre  falsch  gewesen.  Solange  die  Achsendrehung  nicht 
bei  sämtlichen  Planeten  sicher  beobachtet  ist,  so  lange 
darf  die  Wissenschaft  den  Satz  nicht  aufstellen :  alle  Planeten 
bewegen  sich  um  ihre  eigene  Achse.  Daran  ändert  das 
Kausalitätsgesetz  nichts.  Wohl  lehrt  uns  das  allgemein 
für  wahr  angenommene  TCant-Laplacesche  Sonnensystem» 
dass  jeder  Weltkörper,  den  wir  einen  Planeten  nennen,  sich 
um  seine  eigene  Achse  drehen  niUsse.  Aber  dieses  System 
ist  eben  nur  eine  Hypothese,  das  heisst  der  Gang  der  Be- 
griffsbildung ist  noch  nicht  abgeschlossen;  wir  wessen  noch 
nicht  mit  Sicherheit,  welche  Himmelskörper  wir  Planeten 
nennen  ,s(dlen"  und  welche  Eigenschaften  wir  mit  Sicherheit 
mit  diesem  Begrifl"  verbinden  sollen.  Beobachtete  man  auch 
nur  einen  Planeten  ohne  Achsendr^hiing,  so  wäre  entweder 
das  Kaut-Laplacesciie  System  zu  korrigieren  oder  die  An- 
wendung des  Wortes  IManct  einzuschränken.  Genau  so 
wie  bei  einer  Pyramide  ohne  Gral>gew()lbe.  Und  entdeckte 
man  einen  Planeten,  dessen  Bahn  senkrecht  stünde  zu  der 
ungefähren  Ebene  der  übrigen  Planetenbahueu,  so  wäre 
wieder  entweder  das  System  oder  das  Wort  in  Frage  ge- 
stellt. 

Ganz  ebenso  verhält  es  sich  mit  derjenigen  Induktion 
oder  Begrifl'sbildung,  die  wegen  der  un/.riLhgen  Einzel- 
falle nie  vollständig  werden  kann.  Wie  die  Planeten  bei 
den  Alten  iliren  Namen  von  ihrer  scheinbaren  Wande- 
rung hatten,  so  hatten  die  Kosen  ihren  Xamen  davou,  dass 
man  nur  rote  Rosen  beobachtet  und  unter  ein  Wort  zu- 
sammengefasst  hatte.  Die  Etymologie  (oder  Volksetymologie) 
ist  sinnlos  geworden,  seitdem  und  weil  wir  uns  entschlossen 
haben,  solche  Blumen  weiter  Rosen  zu  nennen,  auch  wenn 
sie  weiss  oder  gelb  sind.  Die  Induktion  filhrk  uns  ferner 
gewiss  zu  der  Erwartung,  dass  jede  Bose  angenehm  rieche. 
Nun  hat  irgend  ein  armer  Teufel  Ton  Gärtner  die  schöne 
Hadame-Rothschüd-Rose  gezüchtet,  welche  nicht  ein  bisschen 
duftet  Unser  Sprachgebrauch  nennt  diese  Blume  trotzdem 


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464 


VI.  Die  biduktioau 


eine  Rose.  Gäbe  es  einen  Induktionsschluss,  so  mtlssie 
nach  Millionen  von  Fällen  auch  die  Rothschild-Rose  duften. 
Wer  von  ihr  nichts  Aveiss,  wird  den  Satz  »jede  Rose  duftet" 
für  einen  tinljedenklidiieti  Induktionssdiluss  halten.  Wissen- 
schaftlich ist  er  wegen  der  einen  Oegeninatanz  unhaltbar. 
Die  S2)rache  aber  halt  ihn  unbekümmert  um  die  Logik 
aufrecht.  Die  Erwartung,  dass  jede  einzelne  Rose  duften 
werde,  wird  durch  den  Sprachgebrauch  erregt.  Wer  nun 
eine  nichtduftende  Rose  findet,  wird  sich  wundem.  Wäre 
die  Induktion  oder  die  Begritfsbildung,  welche  mit  dem 
Worte  Rose  den  Duft  verbindet,  ein  log'ischer  Schluss,  dann 
wäre  die  Rothschild-Rose  in  der  That  ein  Wunder.  Alle 
Wunder  —  soweit  sie  nicht  Sinuestäuschunpen  oder  Be- 
trügereien waren  —  sind  ein  Verwundern  über  die  Unge- 
nauigkeit  der  Sprache  g'ewc^en. 

Die  Aufhebung  und  Vernichtung  eines  Wortgebrauchs 
durcli  einen  einzigen  Ausnahmefall,  durch  eine  sogenannte 
Gegeniubtauz,  ist  allerdings  in  der  wissenschaftlichen  Sj)rache 
die  Recjel,  Und  in  diesem  vorläufigen  Verwenden  aller 
Worte  —  bis  auf  den  Gegenbeweis  durch  eine  einzige  In- 
stanz —  liegt  allerdings  etwas,  was  mitunter  einer  voll- 
ständigen Induktion  nahe  kommt,  das  heisst  einer  vollstän- 
digen Begrifi'sbildung. 

Ein  Wort  fider  ein  Begriff  ist  das  Erinnerungszeichen 
an  die  Aehulichkeit  zeitlich  und  räumlich  getrennter  Sinnes- 
eindrücke. Zur  Erkenntnis  der  Wirklichkeitswelt  oder  zur 
sicheren  Verwertung  künftiger  Sinneseindrücke  wird  so  ein 
Wortzeichen  erst  durch  möglichst  vollkommene  Induktion 
brauchbar.  Habe  ich  tausendmal  täglich,  also  millionenmal 
seit  meiner  Geburt,  bei  Berührung  eines  Körpers  die  Sinnes- 
empfindung des  Widerstandes  gehabt,  so  entsteht  in  mir 
der  Begriff  der  Härte,  der  Undurchdringlichkeit,  oder  wie 
man  sonst  diese  Eigenschaft  der  Körper  nennen  will.  Mein 
eigenes  Gedächtnis  hat  mir  Millionen  Fälle  geliefert  und 
keine  einzige  Gegeninstanz.  Anders  liegt  die  l^ftche  mit 
einem  so  geläufigen  Begriff  wie  dem  der  Sterblichkeit  aller 
Menschen.    Der  einzelne  hat  vielleiclit  in  seinem  ganzen 


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Induktive  Begrifibüdong. 


465 


Leben  zwei  oder  drei  Menschen  sterben  sehen.  Die  Nach- 
richt von  dem  Tode  sehr  vieler  Menschen,  die  seine  Er- 
innerung ihm  sonst  bietet,  verdankt  er  den  Todesanzeigen 
der  Zeitungen  und  Privatmitteilungen,  sowie  dem  Lesen  der 
Weltgeschichte,  also  unzuverlässigen  Quellen.  Trotzdem  ist 
der  Begriff  der  Sterblichkeit  in  uns  aus  ]\IilUaä  Jen  von 
Fällen,  ohne  eine  einzige  Gegeninstanz,  ricJitig  entstanden. 
Es  ist  nämlich  für  die  Erinnerung  des  einzelnen  die  Er- 
innerung des  Menschengeschlechtes  eingetreten.  Seitdem  es 
Menschen  gibt,  haben  immer  die  jttngeren  Geschlechter  die 
alteren  sterben  sehen ,  die  einzelnen  immer  nur  einzelne, 
aber  alle  haben  alle  sterben  sehen.  Schon  eine  Lebens- 
daiMT  Uber  hundert  Jahre  hinaus  ist  eine  ea  auf&Uende  Er- 
scheinung, dass  sie  regelm&ssig  in  der  Erinnerung  eines 
engeren  Kreues  bewahrt  worden  ist.  Bas  Ausbleiben  des 
Todes  wSre  also  ein  solches  Wunder,  eine  solche  Sprach- 
widrigkeit gewesen,  dass  jeder  solche  Fall  einer  G^ainatans 
ganz  gewiss  im  Gedächtnis  der  Menschheit  Terwahrt  worden 
wSre.  Da  uns  aber  aus  allen  Milliarden  Yon  Menschenleben 
nicht  ein  einziger  FaU  von  Unsterblichkeit  glaubhaft  über- 
liefert worden  ist,  so  beruht  der  Begriff  StM-blichkeit  als 
zum  Begriff  Mensch  gehörig  auf  einer  nahezu  ToUkom- 
menen  Induktion,  das  heisst  auf  einer  Unzahl  Ton  Füllen, 
denen  keiiie  Qegeninstanz  gegenüber  steht.  Denselben  Weg 
hat  die  Begri&bildung  auch  bei  den  einfochsten  konkreten 
Worten  eingeschlagen.  Seitdem  die  Menschheit  die  käl- 
teren Zonen  der  Erde  bewohnt,  oder  seitdem  die  bewohnte 
Erde  kSlter  geworden  ist,  hat  sie  den  Begriff  Schnee 
bilden  müssen.  Keine  ausdenkbare  Ziffisr  ist  gross  genug, 
um  die  Sdinedlockw  zu  äUilen,  die  einzelne  im  Laufe 
seines  Lebens  oberflächlich  ges^en  hat.  Unausdenkbar 
grosser  ist  die  Zahl  der  Flocken,  die  seit  der  Existenz  der 
Menschheit  auf  Erden  gefallen  sind.  Gegen  den  B^riff 
aber,  dass  Schnee  kalt  sei,  ist  niemals  eine  Gegeninstanz 
entdeckt  worden.  Wir  werden  also  wohl  ein  Recht  haben, 
mit  dem  Worte  Schnee  Kälte,  ge^rene  Wasserteilchen  zu 
Terbinden.  Die  Menschheit  war  es,  die  durch  Liduktion 
Maatha«!,  Beltiige  zu  einer  Kritik  der  Sprmche.  in.  80 


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466 


VI.  Die  Indnltioii. 


diesen  Begriff  gebildet  hat,  ^Srhnce*  ist  aber  natürlich 
kein  Scbluss ,  sondern  ein  Wort.  Und  der  ganze  Unter- 
schied zwischen  der  kindlichen  alten  Zeit  und  unserer  viel 
gerühmten  Wissenscbaftlichkeit  besteht  nicht  in  einer  bes- 
seren Logik ,  sondern  in  einer  genaueren  Beobachtung. 
Aristoteles  besass  kein  Thernionieter ,  konnte  darum  den 
Gefrierpunkt  des  Wassers  nicht  jedei-zeit  auf  einen  Haar- 
strich genau  bestimmen  und  konnte  darum  auch  nicht  die 
Zubereitung  von  Erdbeereis  lehren.  Aber  sein  Begriff  Schnee 
war  darum  nicht  viel  schlechter  als  der  unsere.  Nur  weil 
er  die  Induktion  filr  eine  Art  des  logischen  Schlusses 
hielt,  redete  er  Unsinn,  sobald  er  «ber  die  Erfahrung  hinaus 
ging,  das  heisst  ein  W^ort  über  die  Geschichte  seiner  Bil- 
dung hinaus  verwandt«.  Er  sah,  dass  das  einzelne  Schnee- 
sttickcheu  ein  durchsichtiger  Eiski  vstall  sei.  Darum  erklärte 
er  den  durchsichtigen  Bergkrystall  für  eine  Art  Eis.  Das 
koiunit  uns  lächerlich  vor.  Wir  sind  aber  jeden  Tag  bereit, 
denselben  Fehler  zu  begehen  ,  sowie  wir  beim  Gebrauch 
eines  Wortes  die  Sinneseindrücke  vergessen,  an  die  es  aUein 
erinnern  will.  Hätte  Aristoteles  gewusst,  dass  die  bewohnte 
Menschenerde  ein  Planet  sei,  so  hätte  er  ganz  gewiss  den 
lächerlichen  Tnduktionsschluss  gezogen ,  auch  die  übrigen 
Planeten  seien  von  Menschen  bewohnt.  Und  dieser  lächer- 
liche Induktiousschluss  wird  heute  noch  von  allen  denen 
gezogen,  welche  behaupten,  der  Mars  sei  von  Menschen 
bewohnt. 

Die  Gelehrten  aber,  welehe  diese  Behauptung  niclit 
geradezu  aufstellen,  welche  aber  doch  die  Frage  zu  beant- 
worten suchen,  unterliegen  demjenigen,  was  das  Wesen  der 
Induktion  auamadit:  der  Verführung  zu  einer  Erwartung, 
eine  Teif&hrung  durcli  Wunsch,  niclit  durch  «Sdiliessen*. 
Und  wenn  wir  die  Physiologie  unseres  Gehirns  besser  ken- 
nen würden,  so  würden  wir  vielleicht  hinter  das  Geheimnis 
kommen,  dass  erstens  das  eigentlich  sogenannte  Denken, 
das  syllogistische  Schliessen  nichts  ist  als  das  durch  Hem- 
mung hMTorgerufene  Bewusstwerden  unsere  Erinnerungs- 
zeichen oder  Worte,  dass  zweitens  der  in  die  Logik  hinein 


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IndttkUve  Begxiffibilduiig. 


467 


gestossene  sogenannte  luduktionsschluss  nichts  ist,  als  die 
durch  Jahrtau ^otkIo  lanfrsam  vor  sich  geliende  Bildung  oder 
Krv«tfdlisation  1 1»«  !i  jener  Worte,  welche  dann  im  soge- 
nannten Denken  gewisseiniflssen  wieder  flüssig  werden,  dass 
drittens  der  Grund  dieser  Wortbildung  oder  Induktion  in 
nichts  anderem  besteht,  als  in  der  Bequemlichkeit  unseres 
Gehirns,  in  der  grösseren  Leichtigkeit  oder  Passierbai keit 
.schon  benutzter  Nervengleise  für  gleiche  Sinneseindrücke. 
In  der  Bequemlichkeit  und  Leichtigkeit  liegt  die  YerflUhrun|^ 
zur  Iiuluktion,  zur  richtigen,  wie  zur  falschen. 

Nur  weil  man  die  Induktion  für  eine  Schlussform  hielt 
und  sie  dämm  einer  phantastischen  Logik  überwies,  geriet 
man  in  die  Verlegenheit,  die  BegritTsbiklung ,  das  eigent- 
liche Wesen  der  Induktion,  anders  und  noch  phantastischer 
erklären  zu  müssen.  Man  behauptete,  durch  Induktion  zur 
Kenntnis  der  Gesetze  und  durch  einen  nie  in  der  Wirklich- 
keitswelt des  Gehimlebens  beobachteten  Vorgang,  den  man 
Abstraktion  nannte,  zur  Kenntnis  der  Begriffe  zu  gelangen. 
Wir  aber  kemu»  keine  Gesetze,  wir  kamen  flberliaupt  keine 
S&tse,  die  nicht  sckon  in  den  Begriffen  enthalten  wären. 
Wir  weirden  ah»  geineigt  aeuHf  den  Begnff  Abstraktnm  ans 
unserem  Sprachschatz  hinaus  su  weifen,  nnd  an  seine  Stelle, 
wenn  die  Stelle  sdion  ausgefüllt  werden  muss,  das  viel  miss- 
brauchte Wort  Induktion  zu  setzen. 

Eine  besondere  Art  der  tuduktiTcn  Wortbildung  ist  die 
Entstehung  unserer  mathematischen  Grundbegriffe.  Der 
Idealbegriff  eines  Hundes,  der  sieh  mit  keinem  emzigen 
Wirklichkeitshunde  deckt,  ist  nicht  so  sehr  Terschieden  von 
dem  Idealbegriff  einer  Geraden,  der  keine  einzige  wirkliche 
Gerade  entspricht  Wir  haben  noch  niemals  parallele  Linien 
bis  ans  Ende  des  Raums  yerfolgt,  und  haben  uns  dennoch 
den  Idealbegriff  parallel  gebildet  Mit  der  Zurflcklahrung 
mathematisdier  Grundbegriffe  auf  unsere  Art  der  Induktion, 
wird  der  theologischen  Lehre  Ton  den  angeborenen  Ideen 
der  letzte  Halt  entzogen. 

Haben  wir  uns  aber  klar  gemacht,  dass  aUe  Erkenntnis 
der  Natur  und  ihrer  sogenannten  Gesetze  begrOndet  und 


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468 


Tl.  Die  Indnküoiu 


aufge8ta})elt  ist  in  un-or.  in  Sprachschatz  oder  deu  Erinne- 
rungszeichen der  Menschheit,  haben  wir  uns  ferner  klar  ge- 
macht, dass  die  Worte  dieses  Erinnerungslagers  von  jeher 
bis  auf  den  heutigen  Tag  durch  eine  unvollendete  und  bis 
au  das  Ende  aller  Dinge  nicht  zu  vollendende  Induktion  ge- 
bildet worden  sind,  so  werden  wir  wieder  uickt  daran  zwei- 
feln können,  dass  eine  Erkenntnis  der  Wirklicbkeitswelt 
durch  solche  nie  zu  vollendende  Werkzeuge  niemals  voll- 
endet werden  kann.  Was  wir  für  Wissenschalt  halten,  ist 
immer  der  jeweilige  Sprachgebrauch.  Der  Sprachgebrauch 
ist  ein  Tyrann,  er  beherrscht  aber  nicht  nur  die  Laute,  die 
unsere  Sprachwerkzeuge  von  sich  geben ,  er  beherrscht 
ebenso  das.  was  wir  unser  Denken  zu  nennen  pflegen.  Wir 
blicken  verächtlich  zurück  auf  den  Sprachgebrauch  oder  das 
Denken  weit  zurückliegender  Völker;  unser  eigenes  Denken 
verachten  wir  nur  darum  nicht,  weil  wir  niclit  wissen,  dass 
es  mir  Sprachgebrauch  ist  So  lachen  wir  Ober  die  Sitten 
und  SostOme  Ton  Indianern,  nicht  aber  Aber  unsere  eigenen 
Sitten  und  unser  eigenes  Eostttm. 

Wir  haben  erfahren,  dass  die  Entwickelung  der  mansch- 
liehen  Sprache  durch  Metapham  oder  Bilder  Tor  sieh  ge- 
gangen ist,  durch  Vergleichung  Ton  Aehnlichkeiten.  Die 
unbewusste  Vergleichung  von  Aehnlichkeiten,  wie  sie  un- 
aufhörlich Ton  unserem  Gehirn  geübt  wird,  ist  auf  ihrer 
einfachsten  Stufe  die  Induktion  oder  Wortbildung.  Ist  diese 
Vergleichung  ganz  ungenau  und  ungewiss,  so  heisst  sie 
Analogie,  und  auch  dieser  phantasioToUe  Vorgang  wird  von 
der  Logik  fbr  sich  in  Anspruch  genommen  und  Annlogie- 
schluss  genannt  Analogie  und  Induktion  f&hren  beide  nur 
zu  Hypothesen,  zu  besser  oder  schlechter  begrOndeten. 
Jedes  Wort  unserer  Sprache  ist  das  Aufd3mmeni  einer  Aehn- 
lichkeit,  ist  eine  Hypothese,  und  aus  Hypothesen  Hast  sich 
nichts  beweisen.  Induktion  fuhrt  nur  zu  Worten,  nicht 
zu  Beweisen.  Sprache,  Hypothesen,  Wissenschaft,  es  sind 
nur  verschiedene  Ausdrucke  für  denselben  Voiigang,  der  uns 
veifUlut,  irgend  etwas  zu  erwarten,  mit  grosserer  oder  ge* 
lingerer  Wahtscheinlichkeit  zu  erwarten. 


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Induktion  und  Abstraktion. 


469 


Wir  sind  auf  uiiserem  Wege  dahin  gelangt,  keinen  ia> 
Unterschied  zu  sehen  zwischen  der  Induktion  und  dem,  was  ^"J'^» 

und  Abs- 

die  Schule  immer  noch  Abstraktion  nennt.  Wir  sind  zu  traktion. 
der  Einsicht  gelangt,  diiss  alle  menschliche  Erkenntnis  in 
Worten  oder  Bej^rifl'en  besteht  und  dass  in  ihnen  alle  die- 
jenigen Erkeiintiii--fornien  enthalten  sind,  die  wir  je  nach 
dem  Grade  unserei-  Bescheidenheit  ErfaLiuiigen  oder  Ge- 
setze nennen.  Es  bleibt  uns  noch  übrig,  uns  mit  der  deut- 
schen Wissenschaft  über  den  Begriff  Abstraktion  auseinander 
zu  setzen.  Man  gilt  ja  nicht  für  gründlich,  wenn  man  vor- 
wärts geht,  ohne  sich  durch  Rückblicke  aufhalten  zu  lassen. 
Man  gilt  für  unhöflich,  wenn  man  seinen  Gegner  im  Duell 
nur  erschlägt  und  üun  mxAA  musk  noch  die  Hand  reicht. 

Die  Qeietestihitigkeit,  welche  man  in  England  und 
Frankreich  Fhüoeophie  zu  nennen  pflegt,  hat  in  diesen 
Lftndem  der  Induktion  grosse  Anerkennung  Tersohafft.  Die 
ftihrenden  Engländer  und  Fnmsosen  aber  haben  keine  Ahnung 
daTon,  wie  obeifl&chUch  sie  sind;  sie  wissen,  dass  die  In- 
duktion nidit  zu  einer  Wissenschaft  führt,  sondern  nur  zu 
einer  Erwartung,  aber  sie  ahnen  nicht,  dass  diese  Liduktion 
nicht  zur  Wissenschaft  ftthre,  sondern  nur  zum  Sprach- 
gebrauch. Die  Schalten jagd,  welche  man  in  Deutschland 
Philosophie  nennt,  beruht  auf  einer  viel  tiefem  Sehnsucht. 
Wenn  wir  wirUich  eine  Wissenschaft,  eine  Erkenntnis  be- 
süssen  (was  ja  auch  die  Bnglftnder  und  Franzosen  behaupten), 
so  hüten  unsere  Erkenntnistheoretiker  ganz  recht  damit, 
dass  sie  neben  der  Induktion  eme  zweite  Erkenntnisquelle  an- 
nehmen, die  Abstraktion.  Ein  kluger  und  ehrlicher  SchQler 
Kants,  E.  F.  Apelt,  hat  diese  Lehre  sorgsamer  als  ein  anderer 
ausgebaute  £^  sieht  scharf,  wenn  er  (in  seiner  «Theorie 
der  Induktion*) '  behauptet:  die  Beweisart  durch  Induktion 
besitze  keine  Selbständigkeit,  sondern  sei  von  leitenden 
Maiimen  abUüigig;  die  Induktion  sei  nicht  der  Weg  zu 
den  notwendigen  Wahrheiten,  sondern  der  Weg  zu  der 
Verbindung  notwendiger  Wahrheiten  mit  den  zufälligen 
Wahrheiten;  sie  sei  das  Band,  welches  das  Mögliche  und 
Notwendige  mit  dem  Wirklichen  Terknflpfe. 


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470 


YL  Die  Induktioii. 


Glaubt  man  an  notwendige  W'aliiheiteu,  an  die  Er- 
kenntnis von  Naturgesetzen,  so  sind  diese  Sätze  richtig,  so 
gibt  es  in  unserem  Gehirn  neben  der  Induktion  noch  eine 
besondere  Abstraktion.  Dann  beweist  die  Induktion  die 
Gültigkeit  eines  Gesetzes  aus  vielen  Fällen,  dann  destilliert 
die  Abstraktion  die  Gültigkeit  eines  Gesetzes  aus  einem 
einzigen  Beispiele. 

Solange  wir  auf  den  Höhen  der  Wissenschaft  bleiben, 
solange  steht  nichts  dem  Gebrauch  dieser  beiden  Begriffe 
entgegen.  Als  Newton  die  grosse  Eingebung  hatte,  die 
Keplerschen  Gesetze  und  das  Fallgesetz  Galileis  als  ein  und 
dieselbe  Erscheinung  zu  erkennen  und  sie  Gravitation  zu 
nennen,  da  glaubte  er  gewiss  ein  Ergebnis  der  geniakten 
Induktion  mit  einem  Ergebnis  der  genialsten  Abstraktion  zu 
Terbinden. 

« 

Idi  füge  eine  spracbliche  Erinn^uug  ein. 
•sohiran*  Selbst  die  Chrundbegriffe  der  bandgreiflicluten  Wissen* 
Schaft,  der  Hecbanik,  sind  tote  Worte,  und  es  ut  bez^dmend 
dafür,  dass  selbst  die  Genies,  die  einen  neuen  Begriff  ein- 
fähren  wollen,  in  der  Wabl  seines  Kamens  ebenso  schwankend 
sind  wie  unklar  in  seiner  Erklärung.  Immer  erst  die  ab- 
Bcbreibraden  Nadifolger  fixieren  die  Grundbegriffe,  sowie 
auch  andwe  Dogmen  nickt  Ton  den  Stiftern,  sondern  von 
den  Schülern  festgesetzt  werden. 

So  ftthrte  Galilei  für  die  augenblicldicke  Ejraftwirkung 
eines  bewegten  KOrpeni  den  Ausdruck  Moment  ein,  erklärt 
dies  aber  an  dem  Beispiel  des  Falles  fast  geschwätzig  (Bis- 
corsi  e  dimostr.  mat.  Xm.  3. 174):  Timpeto,  il  talento,  Pener^ 
gia,  o  TOgliamo  dire  il  momento  di  discendere. 

Er  will  nichts  als  dem  alten  Begriffe  der  Kraft  eine 
zahlmftssigere  Formulierung  geben.  Er  will  streng  mecha- 
nisch sein  und  gebraucht  doch  im  selben  Augenblick  Ton 
der  objektiTen  Kraft  Bezeichnungen  wie  Talent,  oder  gar 
Tugend,  die  auf  einen  subjektiTen  Willen  schüessen  lassen 
müssten. 


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»Schwere*. 


471 


Der  geheime  Orund,  weshalb  selbst  die  robuste  Meehanik 
nebelhafte  Worte  zu  ihren  Onindbegrififen  ernennen  muss, 
li^  in  der  immer  noch  nicht  allgemein  genug  durchsdiauten 
Armut  der  Malhematik.  Mathematik  ohne  materielle  tXnter* 
läge  ist  wie  eine  Ettche  ohne  gefällte  Speisekammer.  Das 
glilnzt  von  den  Winden,  brodelt  im  Wassertopf,  aber  keine 
Maus  kann  satt  werden.  Aus  Nichts  wird  Nichts,  und  aus 
Mathematisdiem  wird  nie  etwas  anderes  als  Mathematisches, 
^Tird  nie  Wirkliches. 

War  also  Galilei  eben  auch  unf&hig,  seine  genialen 
Beobachtungen  sprachlich  tadellos  festiBuketten,  so  war  der 
Philosoph  Cartesius  in  seiner  Kritik  des  Galilei  fonnell  im 
Beoht  und  schreckte  darum  vor  Albernheiten  nicht  zurttek, 
wegen  deren  ihn  heute  jeder  Schulknabe  auslachen  darf. 

.Galilei,  sagte  er  (lettres  II.  91  Seite  391.  Paris  1659), 
hätte  zuerst  bestimmen  mOssen,  was  die  Schwere  sei, 
und  wenn  er  darüber  das  Richtige  wOsste,  so  wQrde  er  auch 
wissen,  dass  sie  im  leeren  Baume  gar  nicht  vorhanden  ist.* 
Der  Schuljunge  Ton  heute,  der  da  Uber  den  grossen  Cartesius 
lachen  kann,  weiss  seit  Newton,  dass  die  Schwere  die 
Gravitation  ist,  und  dass  sie  durch  den  „leeren*  Raum  wirkt, 
Schulungen  und  Professoren  aber  scheinen  nicht  zu  wissen, 
dass  audi  der  Grundbegriff  Gravitation  ein  hilfloses  Wort 
für  eine  gewiss  gewaltige  H3rpotiiese  war,  Newton  sagt 
eben  Schwerigkeit  anstatt  Schwere. 

Es  wird  selbst  dem  grossen  Engländer  vielleicht  nicht 
bewusst  geworden  sein,  warum  er  mit  dem  alten  Worte 
nicht  auskomnien  konnte;  aber  sein  bewunderungswürdiger 
Takt  lehrte  ihn,  dass  es  aus  sei  mit  dem  bisherigen  Grund- 
begri£  Bis  auf  Newton  war  es  die  zuverlässige  Eigenschaft 
jedes  anständigen  Köxpers,  so  und  so  schwer  zu  sein,  so 
und  so  viel  zu  wiegen.  Da  kam  Newton  und  sagte:  die 
Schwere  sei  eine  gegenseitige  Frage  zwischen  Erde  und 
Pfund,  wie  zwischen  Erde  und  Mond  und  zwischen  Sonne 
\md  Erde.  Wenn  nun  ein  Pfund  nicht  mehr  unter  allen 
Umständen  ein  Pfund  war,  dann  war  das  Wort  nicht  mehr 
zu  brauchen.  Der  Mond  war  nicht  so  und  so  viel  Zentner 


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472 


VI.  Die  Indoktioa. 


schwer,  sondern  hatte  zui  Erde  die  und  die  Schwerigkeit. 
Die  Erde  wog  nicht,  sondern  wuchtete  ftlr  die  Sonne  in 
dem  und  dem  Verhältnis.  Diese  ffanze  Begnüsgrui)}^  hatte 
sprachlich  geändert  werden  niusben,  wenn  die  Hypothese 
Newtons  Gemeingut  geworden  wäre.  Aber  wie  immer  in 
solchen  Fällen  bleibt  die  Sprache  das  grobe  Werkzeug  der 
konservativen  Masse  und  der  neugefundene  Grundbegriff 
muss  von  jedem  Nachkömmling  zwischen  den  Zeilen  der 
Sprache  neu  gefunden  werden.  Doch  zurück  zu  unserem 
Gedankengange. 

* 

Der  entselieidende  Schritt  Eepkrs  bestand  durin,  dasi 
er  in  der  Bahn  des  Planeten  Mars  diejenige  Linie  erkannte, 
wdehe  in  der  Geometrie  selion  lange  als  Ellipse  hdaamt 
war.  In  der  Sprache  der  Schallogik  sagt  man  ganz  richtig, 
er  habe  die  elliptische  Form  der  Marsbahn  durch  einen 
Induktionsschluss  entdeckt.  Anf  Grund  Toransgegangener 
Berechnungen  vollsog  er  mit  staunenswertem  Fleisse  die 
Arbeit,  die  relativen  Stellungen  des  Mars  zur  Sonne  ftr 
riele  Punkte  der  Bahn  festzustellen.  Die  Gleichungen  dieser 
Punkte  hatten  etwas  Gemeinsames  und  dieses  Gemeinsame 
entsprach  der  Formel,  welche  in  der  Theorie  der  Kegel- 
schnitte für  die  Ellipse  herausgefunden  war.  Es  war  das 
Ideal  eines  sogenannten  Induktionsschlusses,  als  er  nun  aus 
den  Gleichungen  oder  Merkmalen  einzelner  Punkte  auf  die 
Vermutung  kam:  der  Mars  bewege  sich  in  einer  EUipsen- 
linie  um  die  Sonne. 

Der  entscheidende  Schritt  Galileis  war  —  in  der  Schul- 
sprache  ausgedrflckt  —  eine  Abstraktion.  Er  fknd  sein 
FaUgesetz  nicht  aus  der  Yergleichung  der  in  Ziffern  aus- 
gedruckten Fallgeschwindigkeit,  wenn  er  auch  durch  das 
TOn  ihm  zum  erstenmal  beobachtete  gleich  schnelle  FaQen 
leichter  und  schwerer  KOrper  induktiv  auf  seine  Vermutung 
gebracht  worden  aem  mag.  Er  analysierte  die  einzelne 
Körperbewegung  und  schied  aus  dieser  Bewegung  die  Be- 
griffe der  Gleichmissigkeit,  der  Beschleunigung,  der  Trilg- 


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Indoktiim  imd  Abitraktidii. 


473 


heit  aus,  er  k&m  dadurch  zu  der  Ueberlegung,  dass  es  mit 
dem  Fall  der  Körper  so  und  nicht  anders  sich  verhalten 
müsse.  Das  Hauptverdienst  Keplers  besteht  also  darin, 
dass  er  die  mathematischen  ^Gesetze"  der  Planetenbahnen 
auffand,  das  Verdienst  Galileis  darin,  dass  er  die  mechani- 
sche Bewegung  in  ihre  Begriffe  zerlegte.  .Trägheit* 
war  ein  neuer  Begriff,  wenn  man  ihn  auch  bis  heute  ein 
Gesetz  zu  nennen  pflegt;  die  Keplerschen  Gesetze  waren 
mathematische  Formeln,  also  re(  lit  ei<?entlich  Gesetze,  bis 
^io  durch  Newton  in  den  neuen  Begriff  der  Gravitation  ein* 
gingen. 

Damit  sind  wir  beim  Kernpunkt  der  Frage  angelangt. 
Wir  lassen  uns  von  der  Abstraktion  zu  immer  höhern  und 
höhern  Begriffen  führen,  von  der  Induktion  zu  immer  be- 
stimmteren Gesetzen.  Wäre  diese  Unterscheidung  richtig 
oder  brauchbar,  so  müssten  wir  in  unserem  Gehirn  diese 
beiden  Thäticrkeiten  nach  wie  vor  unterscheiden. 

Die  Emtührung  des  Wortes  Gravitation  ist  der  letzte 
Fall,  dass  die  Weltanschauung  der  europäischen  Menschheit 
durcli  ein  einziges  neues  Apercu  gründlich  umgestaltet 
wurde.  Dem  Worte  Darwins,  der  Entwickelung,  kommt 
eine  gleich  grosse  Bedeutung  nicht  zu ,  weil  es  wohl  ein 
reicher  neuer  Begriff  ist,  aber  zu  einem  Gesetz  noch  nicht 
formuliert  werden  konnte.  Wir  können  das  auch  so  aus- 
drücken, dass  der  Begriff  Entwickelung  zwar  sehr  weit  und 
reich  aber  nicht  mathematisch  begrenzt  sei,  wie  wenn  der 
Entdecker  eines  Schatzes  seineu  Goidhaufen  noch  nicht  ge- 
zählt hat.  In  der  Gravitation  nun  aber  sieht  man  einen 
Begriff  oder  ein  Gesetz ,  je  nachdem  man  der  Erkenntnis 
wegen  ihn  sich  klar  machen  oder  des  Kalenders  wegen  ihn 
anwenden  will.  Diese  Relativität  der  Begriffe  Gesetz  und 
Begriff  wird  vielleicht  klarer  werden ,  wenn  ich  von  den 
ausserordentlich  schwiengeii  Beobachtungen  Newtons  zu 
der  scheinbar  gemeinsten  Beobachtung  des  Menschen  zurück- 
ktiiic.  Da  finden  wir  ein  Wort,  das  dem  Bauemjungen  wie 
seinem  Kultusminister  gleich  geläufig  ist:  das  Jahr. 

Jedermann  wird  mir  zugeben,  dass  das  Jahr,  wie  wir 


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474 


VL  DLe  Induktion. 


Wakr*.  dieses  Wort  ausserhalb  der  Asfaronosiie  und  Eelenderkunde 
hundertflÜtig  gebrauchen,  nichts  weiter  ist  als  ein  Begriff, 
ein  bequemer  Begriff,  mit  dem  wir  einen  Zeitabschnitt  be- 
zeichnen, und  über  den  alle  Menschen  einig  sind.  Wir 
wissen,  dass  der  Anfang  des  Ealendetjahres  nicht  immer 
auf  den  ersten  Januar  gelegt  worden  ist;  wir  wissen,  dass 
die  Fixierung  der  Jahreedauer  oder  Tielmehr  ihre  Einteilung 
in  Monate  und  Tage  noch  in  historischer  Zeit,  ja  bis  in  die 
Gegenwart  hinein  Schwierigkeiten  machte;  aber  gerade  die 
Bemühungen  des  julianischen  und  des  gregorianischen  Kalen- 
ders, das  Kalenderjahr  mit  der  wirklichen  Jahresdauer  in 
TJebereinstimmung  zu  bringen,  lassen  uns  ohnehin  annehmen, 
dass  die  wirkliche  Jahresdauer  der  zu  Grunde  liegende  Be- 
griff war.  Hatte  man  sie  auch  früher  nicht  auf  die  Sekunde 
genau  berechnet,  so  wusste  man  doch,  was  man  sich  unter 
ihr  Yorstellte.  Jeder  Schulknabe  weiss  heute,  dass  das  Jahr 
die  Zeit  eines  Umlaufs  der  Erde  um  die  Sonne  bedeutet. 

Von  einem  Umlauf  der  Erde  um  die  Sonne  wusste u 
aber  die  gelehrtesten  Leute  noch  nichts,  die  etwa  fünfzehn 
Geschlechter  vor  uns  lebten.  Dehnen  wir  diese  kurze 
Spanne  Zeit,  ein  paar  Hundert  von  diesen  armseligen  Jahren, 
noch  ein  bisschen  aus,  denken  wir  uns  ein  paar  tausenJ  Jahre 
zurUck,  und  der  Begriff  Jahr  verwandelt  sich  in  ein  Gesetz, 
dessen  Aufdeckung  sicherlich  verhältnismässig  ungeheure 
Geistesarbeit  erfordert  hat.   Ich  meine  das  so: 

In  irgend  einer  Urzeit,  in  welcher  die  Menschen  nicht 
auf  Eisenbahnen  zum  Mittagessen  fuhren,  aber  im  übrigen 
schon  Menschengehime  hatten,  mUssen  wir  sie  uns  doch 
so  vorstellen,  dass  ihnen  der  Begriff  des  Jahrs  noch  nicht 
aufgegangen  war,  ebensowenig  wie  der  Begriff  der  Minute 
oder  Sekunde.  In  noch  früherer  Zeit,  als  das  Mensclien- 
gehirn  dem  Tiergehim  noch  näher  stand,  mag  ihnen  laug- 
sam der  Begriff  oder  das  Gesetz  aufgegangen  sein,  das  uns 
als  Wechsel  von  Tag  und  Nacht  geläufig  ist.  In  jener 
Urzeit  aber,  in  die  ich  mich  zurückversetze,  kannten  sie 
schon  ganz  genau  diesen  Wechsel,  erwarteten  nach  dem 
Tage  die  Kacht  und  nach  der  X^acht  den  Tag,  hatten  aber 


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475 


in  ihrer  wannen  Heimat  keine  Veranlassung,  auf  die  regel- 
mässige Wiederkekr  der  Jahreszeiten  zu  achten.  Es  waren 
die  Kepler  jener  Urzeit,  welche  ohne  ein  so  lehhaftes  Inter- 
esse der  Not  dennoch  zu  beobachten  anfingen,  dass  die 
Stelle  des  Sonnenaufgangü  sich  eine  gewisse  Zeit  lang  nach 
rechts  und  dann  wieder  nach  links  schob ,  dass  zwischen 
den  Regenmonaten  und  diesem  Spaziergang  der  Sonne  ein 
gewisser  ZusamiiM  nlianj^  bestand.    Ich   denke  mir  nun, 
dass  die  Menschen  durch  das  Gerücht  vernahmen,  diese  Er- 
scheinung verstärke  sich  noch  an  weniger  begünstigten 
Stätten  der  Erde.    Da  werde  es  empfindlich  kalt  an  den 
Tagen,  an  denen  die  Sonne  zu  weit  rechts  aufgehe.  Irgend 
ein  bcwuudL-rnswerter  Kepler  der  Urzeit  mau  nun,  un- 
stillbarem Forschungsdrang  getrieben,  i.  IL  um  ÜLilLieben 
die  kalten  und  warmen  Tage  gezählt  und  dazu  den  Weg 
der  Sonne  gemerkt  oder  verzeichnet  haben.  Gleichzeitig 
rückten  die  sich  vermehrenden  Menschen  in  noch  nörd- 
lichere Gegenden  vor,  wo  sich  der  Wechsel  der  Jahreszeiten 
dem  Interesse  fühlbarer  machte.  Als  sie  da  viele  viele  Tage 
(ein  paar  Dutzend  Jahre  naeli  unaarer  Ausdrueksweise)  ge- 
teilt hatten,  erfanden  sie  f&r  die  kalten  Tag«  den  Begriff 
Winter,  fttr  die  warmen  Tage  den  BegriS  Sommer,  küm- 
merten sidi  noch  nicht  nm  die  Nuancen,  die  wir  Frühling 
und  Herbst  nennen,  und  erfanden  für  den  regebnttssigen 
Turnus  eines  Sommers  und  eines  Winten  zusammen  das 
Wort  oder  den  Begriff:  em  Jahr.   Und  es  konnte  ihnen 
nicht  entgehen,  dass  die  aufeinanderfolgenden  Jahre  un- 
gefähr gleich  lang  waren,  dass  die  Sonne  dabei  nach  rechts 
und  nach  links  wanderte,  dass  endlich  die  Zeitdauer  eines 
Jahres  bequemer  ab  die  eines  Tages  war,  um  das  Leben 
▼on  Mraschen  und  grässem  Twten  danadi  zu  bemessen. 

Um  dieselbe  Zeit  gelangte  der  bewunderungswOrdige 
Kepler  der  Urzeit  unter  stupender  Geistesanstrengung  dazu, 
ein  welterschUttemdes  neues  Gesetz  auleustellen:  Unsere 
QWm  Sonne  geht  nicht  nur  hinauf  und  herunter,  und  das 
aUtftgUch,  sie  wandert  auch  nach  rechts  und  links.  Diese 
Wanderung  Tollsieht  sie  regelmftssig,  also  gesetzlich  in  einem 


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476 


VI.  Die  Induktion. 


Tiinras  Ton  etwas  über  860  Tagen  (wenn  diesem  Kepler 
der  Urzeit  die  nngeheaerliclie  Züfer  360  vorstellbar  und 
mitteilbar  war),  an  diese  horizontale  Wanderung  der  Ekmne 
ist  der  regelmSssige  Wechsel  yon  gutem  nnd  scblechtem 
Wetter  geknüpft;  es  ist  ein  Naturgesetz,  dass  in  einem 
Turnus  von  so  und  so  Tiel  Tagen  die  Witterung  und  die 
Sonne  zu  ihrem  frühem  Stande  zurückkehren.  Dieses  Gesetz 
nannte  der  erstaunliche  Mann  den  Jahreswechsel,  und  ich 
zweifle  nicht,  dass  seme  besseren  Zeitgenossen  sieh  anander 
erschüttert  in  die  Arme  fielen  und  glaubten,  niemals  werde 
die  Menschheit  ein  tiefsinnigeree  Naturgesetz  erkennen;  ich 
zweifle  nicht,  dass  der  Hann  für  seine  Neuerung  Ton  den 
Pfaffen  seiner  Zeit  zu  Tode  grauurtert  worden  ist. 

Und  nun  frage  ich:  welcher  ünterschied  besteht  zwi- 
schen dem  Begriffe  Jahr,  welcher  bei  dem  einen  Volke 
durch  Abstraktion  enthüllt,  und  zwischen  dem  Gesetze  Jahr, 
welches  bei  dem  andern  Volke  durch  Induktion  ^bewiesen* 
wurde?  Die  Abstraktion  konnte  nur  um  Kleinigkeiten  weiter 
getrieben  werden;  die  Induktion  führte  zu  einer  immer  ge- 
nauem Beobachtung.  Wir  sagen  das  so.  Aber  das  grosse 
Naturgesels  des  Jahreswechsels  ist  unter  seinen  Tersehie- 
deoen  Erklärungen  durch  Ftolenütos,  Copemikus  und  Kepler 
doch  immer  nur  ein  Begriff  geblieben,  ein  immer  deut- 
Kcherer  Begriff,  den  wir  in  unserem  wissenscbaftlichen 
Denken  zu  einer  Unmenge  von  sogenannten  Urteilen  und 
Schlüssen  auseinander  legen.  Induktion  führt  genau  wie 
Abstraktion  nur  zu  Begriifen. 

Ich  glaube  das  Beispiel  gut  gewühlt  zu  haben.  £s  muss 
jedem  Leser  einleuchten,  dass  der  neu  entdeckte  Jahres^ 
Wechsel  wer  weiss  wie  lange  den  gebildeteren  Menseben 
jener  Zeit  ein  schwioris^ef;,  nur  durcb  bobe  mathematische 
Kenntnisse  —  das  Zählen  bis  3G0  —  klar  zu  machendes 
Naturgesetz  war,  den  ungebildeten  ein  Mysterium.  Ebenso 
ist  das  Weltsystem,  das  yon  Kant  und  Laplace  auf  Newtons 
Naturgesetz  der  Gravitation  aufgebaut  worden  ist,  heute 
noch  eine  besebwerliche  Wissenschaft  und  kann  doch  viel- 
leicht einem  spätem  Geschlechte  zu  einem  geläufigen  Be- 


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Geaduehte  der  Induktion. 


477 


«^rilF  werden.  Es  ist  kein  Zufall,  dass  in  dem  einen  wie 
dem  andern  Falle  zwischen  der  unfertigen  Ertiihnintr  und 
dem  verwendl>aren  Begrift'  eine  raathematisclie  Formel  steht. 
In  jener  Urzeit  war  die  Belierrscliuug  der  Ziffer  360  ge- 
wiss nicht  weniger  schwierig  als  heute  die  Differentialrech- 
nung. TTnd  in  der  Anwendung  der  Mathematik  auf  die 
Begriffsbüdung  oder  Induktion  dürfte  das  liorren,  was  wir 
auch  nach  meiner  Darlegung  als  «  inen  ruterscUu  i  zwischen 
Induktion  und  Ai)straktion,  zwi^cIiLU  Gtsetz  und  BegriÜ  em- 
pfinden, ich  gestehe  auch,  dass  ich  selbst  einen  solchen 
Unterschied  nicht  zu  empfinden  mich  nur  schwer  zwingen 
kann.  So  sehr  stehe  ich  bei  dieser  Untei-suchung  unter  dem 
Banne  des  Spracligebram  hs,  den  ich  Ijekämpfe. 

Diese  ganze  Frage  ist  aber  neuen  Datums.  Das  Wort  Oe» 
Induktion  ist  alt,  aber  die  Ahnung,  dass  sie  allein  unserer  "^'^^f* 
Erkenntnis  zu  Grunde  liege,  ist  neu.    Die  Behauptung  gar,  duktioa. 
dass  Induktion  mit  Abstraktion  identisch  und  nur  Wort- 
bildung sei,  wird  eben  erst  von  mir  aufgestellt.  Was  Aristo- 
teles über  das  Wesen  der  Induktion  lehrte,  ist  für  uns  so 
wertlos  geworden,  wie  etwa  seine  Träumereien  Uber  Bio- 
logie.  Wenn  er  gar  dem  Sokrates  die  Erfindung  der  Ab- 
straktion und  der  Induktion  zuschreibt,  so  ist  das  für  uns 
ein  leerer  Wortschull.    Es  handelt  sich  bei  Sokrates  —  so- 
weit wir  das  aus  Piatons  Dialogen  ei*sehen  können  —  um 
kindliche  Versuche,  den  Sprachgebrauch  festzustellen,  nicht 
um  Erkenntnistheorie.    Und  Aristoteles  selbst  bewegte  sich 
immer  im  Kreise  seiner  Logik,  in  welcher  die  Induktion 
keine  natürliche  Stelle  hatte. 

Man  muss  beinahe  2000  Jahre  überspringen,  um  wenig- 
stens anf  praktisdie  laduktionm  zu  atonen,  wnui  auch 
dann  nodi  nieht  auf  ihre  ThMoie.  Oalilei  und  Kepler 
fingen  auerst  an,  mit  Bewnssteein  ao  indnktiT  Torzugehen, 
wie  ea  nnbewosat  der  gesunde  MenachenTostand  T<m  jeher 
gethan  hatte.  Baoon  Ton  Yerulam,  der  den  nnrerdienten 
Rnf  gemesst,  die  Theorie  der  Induktion  geschaffen  zu  haben, 
hatte  von  ihrem  sprachlichen  Wesen  keine  YonteUung.  BUts- 
artig  findet  sich  die  Wahrheit  vereinzelt  einmal  bei  Galilei, 


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478 


VI.  Die  Induktion. 


der  auf  den  Einwand ,  die  Induktion  sei  wertlos,  weil  un- 
vollständig, die  merkwürdige  Antwort  gab:  Wenn  die  In- 
duktion alle  möglichen  Fälle  umfas^sen  mttsste,  wäre  sie 
entweder  nutzlos  oder  unmöglich;  uimuiglich  bei  einer  un- 
endlichen Ziihl  von  Fällen ;  nutzlos,  weil  der  allgemeine 
Satz  unserer  Erkenntnis  nichts  Neues  hinzufügen  würde. 

Auch  diese  Antwort  führt  wieder  auf  die  Frage  zurück, 
die  ich  jetzt  so  formulieren  möchte:  Warum  empfinden  wir 
den  auf  induktivem  Wege  hergestellten  Begriff  als  ein  Ge- 
setz? Warum  fügen  wir  in  unserm  Geiste  den  beobachteten 
Fällen  die  Erwartung  ähnlicher  hinzu?  Wie  kommen  wir 
SU  dieser  neuen  Erkenntnis,  Ton  welcher  Oalilei  spricht? 

Der  wirUiehe  Anreger  der  Induktionrtheotie,  John 
Stuart  Hill,  hat  trote  seines  engtiidien  Standpunktes  diese 
Hanptschwierigkeit  wohl  empf^en.  Er  drückte  sich  fol- 
gendermassen  aus:  «Warum  ist  in  manchen  Fällen  ein  ein- 
ziges Beispiel  zu  einer  ToUständigen  Induktion  hinreichend, 
wlUirend  ein  andermal  Milliarden  flbereinstimmender  FsUe 
ohne  eine  einzige  bekannte  oder  vermutete  Ausnahme  nicht 
gestatten,  auch  nur  den  kleinsten  Schritt  zur  Festsetzung 
eines  allgemeinen  Satzes  zu  thun?  . . .  Wer  diese  Frage 
beantworten  könnte,  TerstOnde  mehr  von  der  Philosophie  der 
Logik,  als  der  erste  Weise  des  Altertums,  er  hätte  das 
grosse  Pk-oblem  der  Induktion  geldst* 
Dopp«i*  John  Stuart  Blill  bildete  sich  nicht  ein,  dieses  Ilr- 
•tflne.  gelöst  zu  haben.   Unter  seinem  Emfluss  stehend 

hat  der  Astronom  John  Hetschel  bei  einer  merkwürdigen 
Gelegenheit  praktisch  etwas  gethao,  was  mir  auf  dem  Wege 
zur  Losung  des  Problems  zu  liegen  scheint.  Bei  seinen 
Berechnungen  Aber  die  Bahnen  der  Ton  ihm  beobachteten 
Doppelsteme  gelangte  er  zu  einzelnen  Punkten  einer  solchen 
Bahn,  die  (bei  der  Ungeheuern  Schwierigkeit  genauer  Be- 
rechnungen) sich  nicht  zu  einer  regelmässigen  Kurve  tw- 
binden  Hessen.  Es  ging  ihm  ähnlich,  wie  einst  dem  grossen 
Newton,  dessoi  Berechnungen  über  die  Uondbahn  wegen 
der  groben  Irrtümer  in  seinen  Yorlagen  zn  keiner  aTcr- 
nUnftigen"  Kurve  führten.  Newton  hatte  seine  Arbeit  Ter- 


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Bopp«1ftenie. 


479 


driesslich  liegen  lassen,  weil  bei  ihm  die  Ueberzeugung 
von  der  Wahrheit  seines  Naturgesetzes  noch  nicht  fest- 
stand. Zu  John  Herschels  Zeit  oder  wenigstens  für  einen 
so  bedeutenden  Astronomen  war  die  Gravitation  ein  so 
rntiirlicher  Betriff  geworden,  wie  für  uns  der  Jahreswechsel. 
Er  zog  also  ^mit  kühner  aber  vorsichtiger  Hand"  eine 
Kurve,  die  zwar  nicht  durch  r|ip  gegebenen  Punkte,  aber 
doch  so  nahe  wie  möglich  zwischen  ihnen  hinlief  und 
nahm  an,  dass  durch  diese  ,v»  rriünftige"  geometrische  Linie 
seine  Beobachtiingsfehler  korrigiert  würden. 

Man  hat  diese  kühne  und  vorsichtige  Hand  mit  Recht 
bewundert.  Mir  aber  bietet  Herschels  Verfahren  eine  An- 
regung, die  mir  wichtiger  scheint  als  die  Bereicherung,  die 
die  Kenntnis  des  Himmels  durch  die  Theorie  der  Dop])cl- 
stenie  erfahren  hat.  So  wird  jeder  Gegenstand  vergrössert, 
wenn  man  ihn  zu  nahe  an  seine  Augen  bringt. 

Es  scheint  mir  nämlich,  dass  diese  Entdeckung  der 
Bahnen  der  Doppelst^rne  sich  nur  unwesentlich  von  der 
Entdeckung  der  Marsbahn  durch  Kepler  unterscheide.  Die 
berechneten  Punkte  der  Marsbahn  ergaben  die  Kurve  etwas 
genauer,  das  ist  alles.  Aber  zu  der  Induktion  Herschels 
kam  eben  das  Neue  hinzu,  das  schon  Galilei  von  der  In- 
duktion verlangte:  die  Ueberzeugung  oder  Vermuthung,  dass 
zwischen  den  riclitigen  Punkten  ein  geordnetes,  ein  ver- 
nünftiges Verhältnis  bestehen  müsse.  Und  diese  Ueber- 
zeugung oder  diese  Vermutung  ist  nichts  weiter  als  die 
durch  unzählige  Thatsachen  in  allen  Menschenkopfen  vor- 
handene Annahme,  es  gehe  in  der  Natur  ordentlich,  ver- 
nünftig, gesetzlich  /u.  Früher  sagte  mau  mehr  vernünftig, 
jetzt  sagt  man  mehr  gesetzlich;  es  ist  aber  ein  und  das- 
selbe. Hätte  Herschel  die  irrationalen,  das  heisst  unver- 
nünftigen Punkte  der  Doppelstembahn  nicht  mit  kühner 
aber  vorsichtiger  Hand  nach  einer  geometrischen  Yorstellung 
hin-  und  hergerückt,  er  wäre  nicht  za  einer  Kurve  gelangt, 
welche  jetzt  für  einen  Bestandteil  äer  menschlichen  Er- 
kenntnis gehalten  wird,  welche  das  Zeichen  Ar  eine  Stem- 
bahn  ist  und  welche  nach  Untttändea  ein  Begriff  oder  ein 


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480 


YL  Die  Induktion. 


Gesetz  genannt  werden  kam..  Die  Vorstellung  von  Ur- 
sachen und  von  einer  Ordnung  m  der  Natur,  die  wir  nach 
unserer  Denkgewohnheit  unseren  induktiven  Beobachtungen 
aus  Eigenem  hinzufügen,  diese  Vorstellung  erst  verwandelt 
uns  den  Begriff  in  ein  Gesetz. 
Begriff  Und  wieder  hoffe  ich  diese  Lehre  deutlicher  und  weit- 
voller  zu  machen,  wenn  ich  das  Vorgehen  John  Herschels 
an  ganz  gemeinen  Vorstellungen  nachweise.  Lange  bevor 
die  Menschen  zu  dem  Begriffe  oder  dem  Gesetze  des  Jahres- 
wechsels gekommen  waren,  gewiss  aber  später,  ab  sie  das 
Gesetz  von  Tag  und  Naebt  erkannten,  müssen  irgendwo  die 
Menschen  oder  ein  hervorragender  Q&ai  unter  ihnen  auf 
den  ISnfall  gekommen  sein,  die  Worte  Fräch  nnd  Eiche  zu 
finden.  Wir  wissw  bereits  im  allgemeinen,  dass  B^riffi- 
bildung,  Induktion  und  Abstraktion  dasselbe  ist;  wenigstens 
wissen  meine  Leser,  dass  ich  es  behaupte.  Nun  aber  gibt 
mir  die  vorsichtige  KOhnheit  John  Heraohels  Anlass  zu 
zeigen,  dass  auch  so  einfache  Worte  nicht  anders  entstanden 
sein  konnten.  Es  muss  eine  Zeit  gegeben  haben,  in  der 
der  Begriff  Eiche  noch  nicht  existierte,  nock  nicht  von  dem 
ältem  Begriffe  Baum  losgelöst  war.  Wie  entstand  dieser  Be- 
griff? Der  hervorragende  Mann  jener  Ururaeit  beobachtete 
zwischen  einer  Anzahl  Bäume  eine  gewisse  AnnSkenmg,  z.  B. 
in  der  Form  der  Bl&tter  und  der  FrQchte.  Die  Blfttter  mancher 
dieser  ^ume  sahen  wieder  den  Blättern  anderer  Bäume  ähn- 
lich, die  sich  aber  durch  ihre  Früchte  unterschieden.  TTnd  so 
ging  alles  bunt  durcheinander.  Eine  Kurve  —  die  neue 
Mathematik  wird  mir  dieses  Wort  auch  für  die  Sprachge- 
schichte gestatten  — <,  eine  vernünftige  Linie,  welche  gerade 
nur  diese  Bäume  rerband,  ergaben  die  Beobachtungen  niehi 
Dennoch  entschloss  sich  der  hervorragende  Mann  jener  ür- 
urzeit,  zwar  nicht  durch  die  einzehien  Beobacktongspunkte, 
aber  zwischen  ihnen  hindurch  eine  solche  vernünftige  Kurve 
zu  ziehen  und  .erfand'  oder  benützte  dazu  das  Wort  «Eiche*. 
Ein  ebenso  kühner  Mann  erfand  od«r  benützte  das  Wort 
«Fisch*,  trotzdem  die  Kurve  der  Beobachtungspunkte  nicht 
genau  stimmte.  Es  gibt  kein  Wort,  worauf  diese  Betrachtung 


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B^riff  und  Gesetz. 


481 


nicht  ausgedehnt  werden  kdimte.  Wir  sagen  ,Pferd',  trota- 
dem  die  Kurve  heaUgüch  der  GrOsse,  der  Farbe  u.  s.  w. 
darchaas  nicht  gana  «Temfinftig*  ist 

Bs  scheint  mir  aus  dieser  Untersuchung  herrorzu- 
gehen,  dass  auch  in  solchen  klassischen  Fällen  der  soge- 
nannten Abstraktion  nur  eine  Induktion  vorlag ,  dieselbe 
Induktion,  durch  welche  Herschel  die  Doppelstembahn, 
durch  welche  Kepler  die  Marsbahn  fand.  Aber  noch 
mehr.  Uns  sind  die  Worte:  Eiche,  Fisch,  Pferd  u.  s.  w. 
so  geläufig,  dass  wir  sie  einzig  und  allein  als  Begriffe  auf- 
fassen und  stutzig  werden,  wenn  emer  sie  Naturgesetze 
nennen  wollte.  Idi  hoffe  aber,  Oberaeugend  gewesen  zu 
sein.  So  wie  der  genial«  Entdecker  des  Jahreswechsels  ein 
Naturgesetz  aufgefunden  hatte,  das  uns  nachher  zum  Be- 
griffe wurde,  ganz  ebenso  —  man  achte  wohl  darauf  —  war 
fttr  die  genialen  Entdedcer  aller  Gattimgs-  oder  Artbegriffe 
jede  solche  Entdeckung  zuerst  ein  Gesetz.  Und  ein  ver- 
blüfiPendes  Gesetz  mag  es  gewesen  sein,  als  so  ein  Forscher 
der  Unirzeit  lehrte:  es  geht  in  der  Natur  gar  nicht  so  regel- 
los und  unvemflnftig  zu«  wie  wir  Menschenthier e  bisher  f^e- 
glaubt  haben;  es  gibt  Arten,  d.  h.  Gtesetze,  d.  h.  Bej^riffe. 
John  Herschel  hatte  die  Vermutung,  es  werde  wohl  die 
Bahn  der  Doppelsteme  eine  Ursache  haben  und  darum  auch 
eine  bestimmte  Form.  Der  Entdecker  der  Pferdeart  hatte 
ebenso  die  Vermutung,  es  werde  für  diese  untereinander 
ähnlichen  Tiere  eine  Ursache  und  eine  Form  geben.  Hinter 
der  Doppelstembahn  stand  das  Gesetz:  die  Gravitation. 
Hinter  dem  Artbegriff  steht  das  Gesetz:  die  Abstammung- 
Die  ganze  Geschichte  der  Menschenerkenutnis  ist  die  ewige 
Bemühung,  die  Gesetze,  welche  durch  Gewohnheit  zum  Begriff 
verflüchtigen,  durch  neue  Beobachtungen  wieder  als  Gesetze 
zu  empfinden.  Was  wir  zu  wissen  glauben,  wird  uns  zum 
Begriff;  was  wu*  ganz  bestimmt  nicht  wissen,  aber  gern 
wissen  mdchten,  das  ist  ein  Gesetz.  Es  ist  ein  furchtbarer 
Hohn  auf  die  menschliche  Sprache,  dass  dieselben  Worte, 
die  auf  der  einen  Seite  unter  der  f^ewalti^sten  Anstrengung 
der  besten  Köpfe  bis  zu  der  Bedeutung  von  Natuigesetzen 
Haathner,  Beiträge  zu  einer  Kritik  der  Sprache.  lU.  81 


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482 


VI.  Die  Ifldiiktaoii. 


emporsteigen,  auf  der  andern  Seite  unter  Mitwirkung  der 
Masse  als  leere  Begriffe  wieder  hinabsinken,  um  wo  mög- 
lich den  Kreislauf  von  neuem  zu  beginnen.  Ich  (^ube  eine 
ungeheure  Bag^ennascbine  vor  mir  zu  sehen,  deren  Eimer 
auf  der  einen  Seite  den  Sand  des  Flussbettes  langsam  em- 
porziehen, um  ihn  auf  der  andern  Seite  wieder  in  das  unend- 
b'ch  fliessende  Flussbett  zurück  zu  schütten.  Eine  wahn- 
sinnig gewordene  Baggermaschine. 

Einzig  und  allein  diese  skeptische  Einsicht,  dass  In- 
duktion und  Abstraktion  nicht  wesentlich  verschieden  seien, 
dass  Gesetz  und  Begriff  nur  yerschiedene  Auffassungen 
unserer  Worte  sind,  nur  diese  Terzweifelte  Lehre  kann  das 
Problem,  wenn  nicht  lösen,  so  doch  bei  Seite  schaffen: 
was  eigentlich  unsere  empirischen  Induktionen  dahin  leite, 
dass  sie  su  neuen  Erkenntnissen  werden.  Die  bisheiige 
Lehre  von  der  Induktion  hat  (um  grosse  Gegensätze  zu 
nennen)  die  englische  Forschung  Ton  der  deutschen  getrennt, 
die  Naturwissenschaft  Ton  der  Philosophie.  Nach  meiner 
Auffassung  können  sich  Philosophie  und  Naturwissenschaft 
vereinigen,  freilich  nur  im  Zweifel  an  der  Erkenntnis  selbst, 
in  der  Resignation,  wie  Hamlet  und  Laertes  gemeinsam  in 
das  Grab  Ophelias  springen. 
Tu-  Ich  muss  aber  noch  einmal  einen  Schritt  zurückgehen, 

um  die  falsche  Lehre  der  deutschen  Schullogik  zu  beseitigen, 
8«lüius.  welche  die  Induktion  immer  offen  oder  versteckt  in  ihrem 
prroBsen  Kapitel  von  den  Schlüssen  behandelt.  Ich  schliesse 
mich  der  Ausdrucksweise  dieser  Logik  an,  wenn  ich  sage, 
dass  die  Deduktion,  die  haujitsiichlich  so  <^'<  nannte  Schluss- 
folgerung, immer  zu  anal>i;ischen  Urteilen  tühre,  das  heisst 
zu  Sätzen,  deren  IVadikat  im  Begriffswort  des  Subjekts 
<;rhon  enthalten  war.  Wir  wissen,  dass  dieses  Zugeständnis 
der  Logik  im  Grunde  schon  das  weitere  Zugeständnis  mit 
enthält ,  es  bp«tehe  unser  ganzer  Erkenntnisschatz  nur  in 
Begriffen  oder  W  orten.  Wir  haben  gesehen,  dass  das  Prinzip 
aller  Schlussfolgerungen  darin  besteht:  aus  den  Begriflen 
herausziehen  zu  können,  was  man  vorher  in  sie  hineinge- 
steckt hat,  und  nicht  aus  ihnen  herausziehen  zu  können, 


dnktiou 

DU«] 


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InduktioB  und  SeUim. 


483 


was  mau  nicht  hineingesteckt  hat.  Das  wäre  die  klarste 
Fassung  des  berühmten  Dictum  de  omni  et  nullo.  Dieser 
Grundsatz  aUein  würde  statt  aller  scharfsinnigen  Spielereien 
genügen ,  um  die  alt  ererbten  Sophismen  und  Witze  der 
Logik  aufzuklären.  Ich  wähle  als  Beispiel  den  folgenden 
Scherz: 

Eine  Katze  hat  einen  Schwanz  mehr  als  keine  Katze; 

keine  Katze  hat  zwei  Schwänze; 

also  hat  eine  Katze  drei  Schwänze. 
Mit  dem  ganz*  i  Apparat  des  Kantschen  Scharfsinns  aus- 
f^erüstet  hat  Apelt  nachgewiesen,  dass  dies  ein  Trugschluss 
sei,  weil  der  Syllogismus  gegen  die  beiden  Regeln  Verstösse, 
dass  der  Ohersatz  allgemein ,  der  Untersatz  bejahend  sein 
müsse,  ich  lasse  beiseite,  dass  der  üebermut  dieses  Schlusses 
viel  zu  offenbar  ist,  als  dass  jemals  ein  Mensch  Regeln  nötig 
gehabt  hätte,  um  an  der  dreischwänzigen  Katze  zu  zweifeln. 
Ich  wiU  nur  darauf  aufmerksam  machen,  dass  hier  wie 
immer  ein  Besinnen  auf  das  Entstehen  und  die  Bedeutung 
der  Worte  einfacher  und  sicherer  zum  Ziele  geführt  hätte. 
»Keine  Katze"  in  der  ersten  Behauptung  ist  die  einfache 
Negation  von  einer  Katze,  ein  Nichts.  Hält  man  in  der 
zweiten  Behauptung  diese  Bedeutung  von  .keine  Katze* 
fest,  so  mUsstc  sie  richtig  heissen:  etwas  was  nichts  ist, 
was  auch  keiue  Katze  ist,  hat  keinen  Schwanz;  also  hat 
eine  Katze  wirklich  einen  mehr,  nämlich  Einen  Schwanz. 

Was  seit  2000  Jahren  unter  dem  Namen  von  Sophis- 
men sich  durch  die  Logik  hindurch  schleppt,  ist  nichts  als 
eine  Reihe  von  Wortspielen,  die  auf  einer  kindlichen  Stufe 
des  Geistes  toh  witzigen  Männern  erfunden  wurden  und 
kindliche  Qmlllor  heute  noch  erfreuen.  Wir  werdeu  uns 
darQber  nicht  wundem.  Wenn  nfltilicheB  Denken  nichls  ist 
als  ein  Verbinden  Yon  Worten,  so  muss  unnQtses  Denken 
ein  Spielen  mit  Worten  sein.  Es  gibt  aber  noch  eine  dritte 
Art  der  Beschäftigung  mit  Worten.  Nämlich  das  imbewusste 
Spielen  der  Logik,  welche  an  die  Notwendigkeit  der  gram- 
matischen Sprachformeln  glaubt  und  grammatische  ünter^ 
schiede  fflr  üntorschiede  im  Denken  hllt.  Alle  Einteflungen 


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484 


VI.  Die  Induktion. 


der  Urteile  und  Schltksse  in  kategorisclie  und  hypothetische, 
femer  aber  die  Herleitung  des  sogenannten  Induktions- 
schlusses  aus  dem  hypothetischen  Schlüsse  ist  ein  solches 
nnbewusstes  Spielen  mit  grammatischen  Formeln.  £s  lässt 
sich  jeder  kategorische  SohloBS  in  einen  hjpoÜietisclien  um- 
wandeln, einfach  durch  sprachlidie  Veränderungen,  und 
ebenso  umgekehrt  Nur  daas  wir  bei  sehr  geläufigen  Be- 
griffen, die  wir  ein  Ergebnis  der  Abstraktion  nennen,  die 
hypothetische  Fonn  nicht  gebraui^eii,  dass  wir  bei  aeueren 
Begriffen  oder  Gesetzen,  die  wir  darum  lieber  der  Induktion 
verdanken  wollen,  die  Hypothese  zu  Hilfe  nehmen.  Es 
handelt  sich  also,  so  glaube  ich  ganz  bestimmt,  bei  dem 
Unterschied  zwischen  Abstraktion  und  Induktion  um  ein 
rein  subjektiTes  Verhalten  unseres  Denkens.  Genau  be- 
trachtet, ist  jede  Induktion  unToUstSndig  und  darum  jeder 
Begriff  (oder  Gesetz  oder  Wort)  ohne  Ausnahme  eine  Hypo- 
these. In  der  Urzeit  war  der  Jahreswechsel  eine  kohne 
Hypothese,  ein  nur  Termutetes  (besetz,  eine  unvoDstSndige 
Induktion;  heute,  nachdem  dieses  Gesetz  des  Jahreswechsels 
Tom  ganzen  Menschengeschlechte  ein  paarmal,  ich  meine  un- 
zlUilige  Mal  nachgeprüft  worden  ist,  erscheint  es  uns  sub- 
jektiv als  eine  vollständige  Induktion,  als  eine  Gewissheit, 
als  eine  Abstraktion.  Wir  könnten  auch  sagen,  dass  die 
waiir-  Menschen  Gesetze,  die  einen  hohen  Grad  von  Wahrschein- 
kiikeu  ^^^^^^^  besitzen,  in  den  Schatz  ihrer  Abstraktionen  oder 
Begriffe  aufnehmen,  und  dass  sie  die  Gesetze  mit  einem 
mittleren  Grad  der  Wahrscheinlichkeit  weiterhin  Gesetze 
nennen  und  auf  Induktion  zurückfuhren.  Die  Beurteilung 
des  Grades  der  Wahrscheinlichkeit  geht  durchaus  nicht  so 
mechanisch  vor  sich,  wie  uns  die  Mathematiker  und  Sta- 
tistiker glauben  machen  wollen.  Die  Weltanschauung  eines 
Menschen  oder  einer  Zeit  entscheidet  dartlbar,  ob  etwas 
fUr  mehr  oder  weniger  wahrscheinlich  gehalten  wird.  Die 
Weltanschauung  aber  hängt  vom  Interesse  ab,  ist  subjektiv. 
Es  ist  kein  grosser  Unterschied  zwischen  dem  Walten  der 
unbewussten  Wahrscheinlichkeitsrechnung  in  der  Sprach- 
bildnng  oder  der  Geschichte  der  Wissenschaft  und  der  un- 


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WnlmcbeiiilicihlBeit. 


485 


bewussteii  Wahrscheinlichkeitsrechnung  des  Arztes  am 
Krankenbett.  Dieser  besitzt  (allerdings  erst  seit  wenigen 
Jahren)  statistische  Tabellen  über  den  Ausgang  der  Krank- 
heiten, über  die  Folgen  bestimmter  Medikamente,  über  die 
Bedeutung  des  Alters  u.  s.  w.  Trotzdem  wird  er  sich  im 
Augenblicke  der  Gefahr,  genau  so  wie  sein  Kollege  vor 
50  Jahren,  vor  der  Aufstellung  der  Tabellen,  von  seinem  «ub- 
jektiven  Gefühle  leiten  lassen ,  das  natürlich  durch  Erfah- 
rungen, also  Induktionen,  gelenkt  wird.  Di»'  Geist*  sthütigkeit 
dieses  Arztes  hat  viel  Aehnlichkeit  mit  tler  künstlerischen 
Geistesthätigkeit  des  Erfinders  oder  Entdeckers.  Ein  subjectiv 
beeinflusster  Entschlnss  lässt  ihn  Art  und  Dosis  des  Heil- 
mittels wählen.  Ob  nachher  der  einzelne  Kranke  stirbt  oder 
nicht  —  ja  nicht  einmal  das  kann  der  Arzt  als  sichere 
Wirkung  seinem  Entschlusses  erkennen.  Es  fordert  zum 
Nachdenken  heraus,  dass  ebenso  die  Menschheit  im  grossen 
und  ganzen  weiter  lebt,  unbekümmert  um  das  Geschwätz 
des  einzelnen,  duss  sogenannte  wissenschaftliche  Wahrheiten, 
neue  Gesetze  und  neue  Worte  nach  subjektivem  Ermessen 
des  jeweiligen  Zeitgeistes  geschaffen  und  vernichtet  werden. 
Die  Sprache  begleitet  die  Menschheit  von  Geschlecht  zu  Ge- 
schlecht, wie  die  Aerzte  die  sterblichen  Menschen  von  Tod 
zu  Tod  begleiten,  ohne  etwas  zu  wissen,  ohne  auch  nur 
sagen  zu  können,  ob  jemals  seit  dem  Eingreifen  des  ersten 
Arztes  auch  nur  in  einem  einzigen  Falle  irgend  ein  auf  das 
Eingreifen  folgender  Zustand  des  Kranken  nur  post  hoc  oder 
propter  hoc  eintrat  Welch  ein  Charlaftu  ist  die  Sprache! 
(VergL      Schweninger:  .Aerztlicher  Bericht  1902*  S.  9.) 

Besteht  der  Unterseliied  zwisdien  Abstraktion  and  In- 
duktion aber  nur  im  Grade  der  Wahrscbeinlichkett  oder 
▼iebnehr  in  unserer  festem  oder  schwBdieni  Erwartung 
eines  künftigen  Ereignisses,  so  gehört  die  ganze  Theorie  der 
Induktion  in  das  Gebiet  der  Psychologie,  womit  freilich  nicht 
viel  gewonnen  wire.  Hier  will  ich  nur  feststellen,  dass  der 
Sprachgebrauch,  dass  unsere  subjektiTe  Erwartung  nicht 
immer  von  der  Mathematik  abhängig  ist.  Auch  nicht  yon 
mathematisch  gefundenen  Gesetaen.  Die  absolut  sichere  Er- 


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486 


VI.  Die  Induktion. 


Wartung  eines  regeim  i-si^t  ii  Tages-  uml  Jahreswechsels 
bestand  bei  der  Menschheit  unendlich  lange  noch  bevor  die 
gegenwärtige  Astronomie  begründet  war.  Wir  bleiben  also 
dabei,  dass  Induktion  und  Abstraktion  im  wesentlichen  die- 
selbe Geiötesthätigkeit  ist,  dass  wir  mit  diesen  beiden  Tie- 
griffen  eigentlich  unklar  und  duicheinander  den  Weg  oder 
Rückweg  von  einem  Woit  zu  etwas  in  ihm  Enthaltenen  aus- 
drücken, also  eine  Teilvorstellung  dessen,  was  wir  zusammen 
Gedankenassocifttion  nennen.  Nicht  einmal  mit  den  Bildern 
Aufstieg  und  Abstieg  werden  Induktion  und  Abstraktion 
genau  auseinander  gehalten.  Wenn  wir  uns  einbilden,  einen 
Begriff  der  reinen  Abstraktion  zu  verdanken,  so  wird  es 
doch  bei  der  sogenannten  Si  hlussfolgerung  aus  ihm  wieder 
einen  Untei*schied  machen,  ub  wir  seine  Merkauile  oder  seine 
Teile  auseinander  legen,  ob  wir  aus  seinem  Inhalt  oder 
seinem  Umfang  Schlüsse  ziehen.  Bei  Schlüssen  aus  dem 
Inhalt  werden  wir  melir  das  Bild  vom  Abstieg,  die  Ab- 
straktion, vor  Augen  haben.  Bei  SchlUs.seu  aus  dem  Um- 
fang mehr  das  Bild  vom  Aufstieg,  die  Induktion.  Beide 

Kreislauf  Geistesthätigkeiten  aber,  auf  welche  die  Menschen  um  so 
Wort  ^^^^^  ^^^i  gelehrter  sie  sind,  laufen  für  uns  zusammen 
and    zu  der  einen  bescheidenen  Thätigkeit  der  langsamen  Wort- 

0M6ts.  ))j}jm}g^  welche  die  MeuM^eit  allerdings  die  wachsende 
Somme  üirer  Erfahrungen  bequemer  merkoi  Hess,  welche 
jedoch  wie  ein  rerräterisdier  Ftthrer  dk  HMisehheit  auf  ihrem 
Marsche  swar  ermUdet,  aber  dem  Ziel  nicht  nSher  bringt, 
nicht  der  Erkenntnis  der  Wirklichkeitswelt.  Ein  besondern' 
Spott  dieses  Fortschreitens  zu  immer  neuen  Gesetzen  oder 
Worten  ist  es,  dass  keine  Sammlung  von  Einzelbeobacb- 
tungen,  dass  keine  Induktion  jemals  zu  dem  Neuen,  an 
einem  neuen  Gesetze  oder  Worte,  führen  konnte,  wenn 
die  leitenden  Ideen,  wenn  die  rorgefassten  Maximen  nicht 
längst  sdkon  auf  das  neue  Gesetz  oder  Wort  hingewiesen 
hatten.  Und  diese  leitenden  Ideen  mussten  doch,  umtlber- 
haupt  gedacht  zu  werden,  schon  irgend  wo  in  dem  bis- 
herigen Wortschatz,  in  der  alten  Sprache  Tersteckt  gewesen 
sein,  bis  irgend  eine  armselige  kleine  neue  Beobachtung  die 


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Ereulftuf  von  Wort  und  GeaeU. 


487 


Auinittksaiiikeit  auf  das  Y entock  lenkte.  Wessen  Aufmerk- 
samkeit so  rege«  wessen  Energie  dazn  stark  genug  ist«  um 
die  Spur  su  rerfolgen,  der  wird  ein  grosser  Entdecker,  der 
wird  ein  FOlirer  der  Menschheit.  In  seinem  Entdecker- 
taumel glaubt  er,  und  die  Menschheit  mit  ihm,  auf  dem 
Gipfdl  angekommen  zu  sein;  aber  Schwindel  erregend  sinkt 
der  scheinbare  Gipfel  mit  seinem  Geschlechte  herab  zum  ge- 
meinen Hohn,  und  Schwindel  Mregwid  türmt  die  ewige 
Zeit  neue  Gipfel  filr  neue  Entdecker,  fOr  neue  Führer  der 
Mensdiheit.  Wie  eine  Herde  vegetiert  sie  weiter,  ihre  FOhrer 
aber  sind  es,  die  in  Todesschweiss  und  Unsterblichkeiis- 
Sehnsucht  die  Sisyphusarbeit  yerrichten,  den  Stein  empor 
zu  wSIzen,  der  ewig  hinabrollt.  Ewig  wandelt  sich  die 
Ahnung  zur  Gewissheit  von  Gesetzen,  die  sich  wieder  als 
leere  Worte  enthüllen.  Und  ewig  suchen  die  besten  der 
Menschen  unter  den  leer  gewordenen  Worten,  die  einst  be- 
glückende Gesetze  waren,  nach  Ahnungen  neuer  beglücken- 
der Gesetze.  So  ist  der  geistige  Kreislauf,  der  dem  Kreis- 
lauf auf  der  Erdrinde  entspricht.  £s  Yemichtet  ewig  das 
Tier  die  Pflanzen  und  schenkt  ihnen  dafllr  seine  Exkremente 
su  neuem  Wachstum. 

Alle  Induktion  ist  nichts  als  die  Geschichte  der  persön-  Bew«!«. 
liehen  Glaubensorweckung;  wer  das  einen  Induktionsbeweis 
nennen  will,  der  mag  es  thun.  Beweis,  Demonstration,  ist 
nicht  mehr  persönlich,  ist  immer  für  einen  andern,  ist  ein 
«Zeigen*.  Im  deduktiven  Beweis  zeigt  der  Angekommene 
dem  Neuling  seinen  Weg.  Und  weil  bei  der  Länge  des 
Weges,  den  die  Menschheit  seit  Aeonen  durchgemacht  hat, 
auch  der  schlichteste  Beweis  eine  endlose  Geschichte,  Glau- 
hensgeschichte,  Dogmengeschichte  werden  musste,  sprechen 
wir  in  abgeküi'zten  Worten,  was  wir  dann  Beweisen  nennen. 
Es  ist  aber  niemals  mehr  als  ein  Erzählen.  Der  induktive 
Beweis  erzählt  gut,  da  er  voni  Anfang  anfangt.  Der  de- 
duktive Beweis  erzahlt  schlecht  und  virtuos ,  indem  er  das 
Ende  leidenschaftlich  (bittend,  befehlend  oder  drohend)  vor- 
weg nimmt  und  dann  sprunghaft  die  Mittelglieder  zu  einem 
wiUkUrUchen  Anfang  sucht. 


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488 


VI.  Die  Indnktioii. 


Das  Material  jeder  solchen  Geschichte  können  natür- 
lich nur  Worte  bieten,  die  dann  auch  nichts  weiter  sind,  als 
kurz  ausgedrückte  Hypothesen  für  die  Einheitlichkeit  der 
Naturerscheinungen.  "Wir  haben  das  Wort  „Baum".  Bnd- 
los lange  mag  es  gedauert  haben,  bis  das  blöde  Auge  un- 
serer Ahnen  (auf  einer  vormenschlichen  Stiife  aber  gfewias 
schon)  zu  dem  Begri£f  «Baum"  kam.  Unzählbare  Asso- 
ciationen Ton  Wahrnehmungen  haben  wob  den  Begriff  ins 
Qehim  gehämmert;  wir  zweifeln  nicht  an  unserm  BegriÖ'^ 
wir  glauben  an  den  ^.Baura",  wir  haben  in  endlosem  Weiter- 
ei'fahren  schliesslich  die  ganze  Botanik  um  diesen  Baum 
langsam  lernend  herumgewickelt  und  wundem  uns  nachher, 
dass  wir  ebenso  viel  vom  ^Banii!''  wieder  abwickeln  können. 

Wäre  man  sich  immer  klar  darüber,  dass  man  aus 
dem  schönsten  Satz  induktiver  Weisheit  nicht  mehr  heraus- 
ziehen kann,  als  jnan  vorher  hineinfjfesteckt  hat,  dass  man 
von  einem  durch  Induktio:i  entstündorpn  Worte  nicht  ein 
Fii^erchen  mehr  hernutv  rwickeln  kann,  als  man  voihei 
hmaufgewickelt  hat,  dann  wäre  man  auch  reif  für  die  Er- 
kenntnis, dass  jeder  Satz  nur  hvpothetisch,  jedes  Wort  nur 
vorläufig  —  bessere  Belehrung  vorbehalten  —  zu  verstehen 
ist.  Dann  wflrde  man  auch  endlich  glauben,  dass  unsere 
ganze  Begriffsbildung  noch  in  den  Kinderschuhen  steckt. 

Die  besten  Philosophen  quälen  sich  mit  Fragen  wie 
diti  Wenn  ein  weisser  llabe  entdeckt  würde,  wäre  er  kein 
wirkhcher  Rabe  oder  müsste  man  den  induktiven  Satz  .alle 
Raben  sind  schwarz"  ändern?  Wenn  die  schwarze  respek- 
tive weisse  Farbe  der  Schafe  aus  annoch  unbekannten  Ur- 
sachen notwendig  wäre,  dann  wäre  sie  am  Ende  nicht 
unwesentlich  und  wir  müssten  die  einen  und  die  andern 
„Schafe"  was  denn?  verschieden  be- 
nennen. 

Das  ist  es  ja.  Vorläufig  sind  die  Sätze  von  den 
schwarzen  Raben,  vorliiufig  ist  das  Wort  , Schaf*  auf  der 
Höhe  unserer  Erkenntnis.  Beobachten  wir  einmal  mehr,  so 
wird  die  Sprache  schon  langsam  nachklettern. 


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Hjpothflaen. 


489 


Alle  Naturgesetee,  auch  die  grossten  Enideckimgen,  Hypo* 
sind  immer  nur  Hypotiiesen.  Die  Sprache  ist  ganz  unf^Uiig, 
den  wUichen  Vorgang  zu  fassen;  sie  kann  nur  einen  be* 
sonders  auffallenden,  hervorspringenden  Punkt  feststellen 
und  ihr  Flandern  daran  hSngen.  Seitdem  yollends  das  Wesen 
der  Hypothese  hesser  erkannt  worden  ist«  glauben  die  For- 
seher nicht  einmal  selbst  an  die  Richtigkeit  ihrer  neuen  Er- 
klSrungen.  Es  ist  ihnen  genug,  wenn  sie  in  einer  soge- 
nannten Hypothese  eine  yorlänfige  Definition  gefunden  haben, 
eine  vorläufige  Begriffitbestimmung,  ein  vorrdufiges  Wort« 
mit  dem  sich  schwatzen  lässt  und  das  gleichzeitig  ein 
Kegisterwort  abgibt  für  die  Kaufmanns  wäre  des  Artikels. 
Durch  die  vorläufige  Definition  hoffen  sie  dann  später  su 
der  definitiTen  Definition  zu  gelangen. 

Da  es  nun  fUr  die  letzten  Dinge  jedesmal  zwei  ent- 
pe^rengesetzte  Hypothesen  gibt,  wie  denn  Darwinistischer 
Materialismus  und  der  transcendentale  Realismus  der  Idea^ 
listen  einander  durchaus  gleichberechtigt  sind,  so  spricbt 
die  Vermutung  dafür,  was  wir  Iftngst  schon  wissen,  dass 
wir  mit  der  Sprache  immer  nur  an  die  Oberfläche  der 
Dinge  herantappen  können,  nie  aber  in  ihr  Inneres  dringen, 
und  zwar,  dass  wir  von  unserem  Standpunkt  aus  immer 
nur  an  die  eine  Seite  der  Oberfläche  herankommen.  So  ist 
für  die  Fische  der  Meeressjncgel  von  unten  gesehen  die 
Oberfläche  der  Luft;  sie  sind  die  Materialisten,  die  das 
obere  Element  für  tö(nicb,  für  ubsolut  leer,  für  blossen 
Schein  halten.  Für  die  Vögel  ist  dann  derselbe  Meeres- 
spiegel von  oben  gesehen  die  Oberfläche  des  Wassers ;  sie 
sind  wie  die  Idealisten,  die  sich  im  Unsichtbaren  lustig 
tummeln  und  das  schwerere,  dichtere,  untere  Element  für 
tödlich,  tiir  undurchdringlich  halten. 

Wer  nun  meinen  würde,  man  könnte,  da  doch  die 
menschliche  Sprache  eine  zu  kinzr-  Stehleiter  sei,  dadurch 
emporgelangen ,  dass  man  die  beiden  sprachlichen  Hypo- 
thesen wie  zwei  Tnttleitern  mit  den  Spitzen  gegeneinander 
leimte,  der  wäre  wieder  im  Irrtum.  Erstens  wäre  die  Ge- 
samthöhe dann  leider  noch  kürzer,  als  die  der  einfachen 


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490 


VI.  Die  Induktion. 


senknehten  Leiter,  zweiten«  aber  besitst  eben  der  einzelne 
Kopf  immer  nur  die  eine  Leiter,  den  einen  Standpunkt. 
Und  80  wie  die  mathematische  FUohe  des  ebenen  Meeres- 
spiegels dadurch  nicht  dicker  wird,  dass  man  die  Y<^el- 
und  die  Fischflilche  summiert,  wie  der  Taucherrogel  und  der 
fliegende  Fisch  an  metaphysischer  Kenntnis  den  bloss  flie^ 
genden  Vogel  und  den  bloss  schwimmenden  Fisch  über- 
trifft, so  kann  der  Mensdi  zur  letzten  Erkenntnis  nicht  da- 
durch vordringen,  dass  er  seiner  gewohnten  Sprache  entweder 
Schwimmblasen  oder  einen  Luftballon  umgClrtet.  Er  kann 
mit  Händen  und  Fflss«!  strampeln,  er  knnn  seine  Zunge  in 
allen  Bichtungen  bewegen,  die  Wirklichkeit  sprachlich  er- 
£u8en  kann  er  nicht. 
Hv]  0-  Alle  unsere  Erkenntnis  wird  zum  Zwecke  der  Mitteilung 
und"  Vererbung  niedergelegt  in  Sätzen  oder  Urteilen.  Wir 
Wort«,  aber  wissen  bereits,  dass  alle  Ui-teile,  seien  sie  nun  der 
Ausdruck  von  wiederholten  Beobachtungen,  seien  sie  un- 
mittelbare oder  endlich  mittelbare  Schlüsse,  schliesslich 
immer  schon  in  den  Begriffen  enthalten  waren,  welche  die 
Subjektworte  sind.  In  der  vorgrammatischen  Sprache  der 
Hensehen  mag  in  einem  solrben  Worte  bereits  das  Prädikat, 
der  unmittelbare  Schluss  und  der  Syllogismus  mit  enthalten 
gewesen  sein,  so  wie  im  Keime  der  Eichel  der  ganze  Eich- 
baum steckt. 

In  Bezug  auf  unsere  Sinnesem j)finclungen  ist  deren  Ur- 
sache, die  wir  die  Wirklichkeit  nennen,  eine  Hypothese.  In 
Bezug  auf  diejenigen  Sätze,  zu  welchen  wir  durch  logische 
Schlüsse  gelangt  zu  sein  uns  einbilden,  ueun-Ti  wir  den 
Glauben  an  eine  ihnen  entsprechende  Wirklichkeit  iure  ma- 
terielle Wahrheit.  Und  das  schlechte  Gewissen  der  Logik, 
welche  doch  durch  ihre  mustergültigen  Schlüsse  vor  jeder 
Unwahrheit  bewahrt  bleiben  niüsste,  äussert  sich  darin,  dass 
trotz  aller  logischen  Flau.sen  nach  der  materiellen  Wahrheit 
des  bchlusssatzes  besonders  gefragt  wird,  und  die  Schluss- 
folgerung, insofern  sie  ausnahmsweise  auf  ihre  Ueberein- 
stimmuug  mit  der  Wirklichkeit  hin  geprüft  wird, 
genannt  wird.    Es  scheint  also  ein  Beweis  nichts  anderes 


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Hypothttftn  und  Worte. 


491 


zu  sein,  nk  ein  Schltus,  bei  dem  miastrauisch  auf  dm  Weg 
snrQökgeblickt  wird. 

Wer  meinem  kritischen  üeberblick  Ober  die  Lehre  der 
Logik  gefolgt  ist,  der  wird  mir  zugestehen  mflseen,  dass 
ebenso  wie  der  Torwärtsblickende  Schluss  auch  der  rück' 
wärtsblickende  Beweis  jedesmal  auf  einer  Beobachtung,  also 
auf  einer  Beihe  von  SinneseindrUcken  allein  beruhen  mflsse. 
Das  Wort,  welches  die  Sinneseindrücke  verbindet,  umfasst 
dann  immer  unsere  ganze  Erkenntnis.  Haben  erst  unsere 
Sinne  die  Empfindungen  vereinigt,  welche  wir  von  Schnee- 
flocken  erhalten,  so  wird  in  ziemlich  früher  Zeit  der 
Menschengeschichte  schon  die  Kälte  als  Ui  saclie  der  Schnee- 
büdung  erkannt  worden  sein.  In  ziemlich  frUher  Zeit  wird 
man  unbewusst  den  indirekten  Beweis  gefühi-t  haben,  dass 
die  Kälte  Schnee  verursache  und  nicht  etwa  die  Jahreszeit 
oder  die  Nacht  oder  der  Wind  oder  die  Luft.  Auf  solcher 
Stufe  der  Erkenntnis  ist  es  für  jeden  klar,  dass  in  der 
gleichzeitigen  Kälteempfindung,  also  in  einem  notwendigen 
Begri£fsmerkmal  des  Schnees,  schon  der  Beweis  für  seine 
Ursache  enthalten  war.  Später  wurde  wahrscheinlich  die 
Krfstallform  der  kleinen  Schueeteilf  b^v-djaclitet ,  und  da 
auch  andere,  in  höheren  Hitzegraden  geschmolzene  Körper 
bei  geringerer  Temperatur  zu  harten  Krystallen  zusammen- 
schössen, so  entstand  durch  die  induktive  Begrifisbildung 
allmählich  das  zusammenfassende  Wort  Krystall;  als  Ur- 
sache von  Krvstall  konnte  dann  allgemein  die  Külte  ange- 
nommen und  bewiesen  werden,  wobei  der  direkte  oder  in- 
direkte Beweis  immer  nur  ein  Zurückblicken  auf  die 
Beobachtung  war. 

Ebenso  musste  seit  Menschengedenken  die  Erscheinung 
des  Blitzes  beobachtet  worden  sein.  Seine  besondere  Ur- 
sache erriet  mau  nicht;  man  schob  <?ie  also  der  weitesten 
aller  Hy])othesen,  dem  Gotte,  in  seinen  Wirkungskreis  hin- 
ein. Als  dann  im  18.  Jahrhundert  die  elektrischen  Er- 
scheinungen genauer  boobnrhtet  wurden  und  zwischen  ihnen 
und  dem  Blitze  manche  Aehnlichkeit  auffiel,  versuchte  man 
es,  mit  dem  Worte  Elektnzitätserscheinungen  den  Blitz  mit 


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492 


YL  Di«  Induktion. 


zu  umfassen  und  nannte  diese  Boobacbtung  auch  sofort 
einen  Beweis.  Wir  werden  gleick  sehen,  dass  alle  solche 
bewiesenen  Erklärungen  doch  nur  Hypothesen  sind,  und 
werden  fragen,  was  da»  in  unserem  Sinne  bedeute. 
Geometri-  Für  musterhaft  bewiesene  Sätze,  die  also  keine  blossen 
Bawvto«.  Hypothesen  sind,  gelten  seit  zweitausend  Jahren  die  Lehr- 
sätze der  Euklidischen  Geometrie,  wie  sie  noch  heute  in 
unseren  Schulen  gelehrt  werden.  In  der  Logik  wird  uns 
erzählt,  da?!s  diese  Lehrsätze  als  neue  Wahrheiten  durch 
SchUls«!e  aus  ihren  Prämissen  heraus  t^ezogen  wurden.  In 
der  Tliat  weiss  der  Anränger.  dem  man  zum  erstenmal  ein 
Dreieck  oder  einen  Kreis  zeigt,  noch  nicht,  dass  die  Summe 
der  Dreieckswinkel  zwei  Rechte  betrage,  oder  dass  der  Peri- 
pheriewinkel über  einem  Durchmesser  ein  rechter  Winkel 
sei.  Ueher  die  Logik  hinaus  scheinen  solche  Sätze  ma- 
terielle Wahrheiten  zu  sein,  die  in  den  Begrilfeii  Dreieck 
oder  Kreis  noch  nicbt  enthalten  war^n  und  die  erst  be- 
wiesen werden  müssen.  Aber  auch  die  Existenz  des  Blut- 
kreislaufs gehörte  nicht  zu  dem  Begriöe  des  Menschen, 
bevor  ihn  Harvey  lieobachtet  hatte.  Die  Funktion  der 
Nerven  und  des  Gehirns  gehörte  noch  für  Aristoteles  nicht 
zu  dem  Begriff  Mensch.  Jetzt  sind  alle  diese  Dinge  not- 
wendige Merkmale  dieses  Begritis  und  man  würde  doch 
einen  Anatomen  auslachen,  der  die  Notwendigkeit  der  be-« 
obachteten  anatomischen  Merkmale  in  der  Manier  des  Eu- 
klides  beweisen  wollte,  wie  es  übrigens  Aristoteles  für  die 
von  ihm  gekannten  oder  eingebildeten  Eigenschaften  des 
menschliehen  Körpers  oft  wirklich  gethan  hat.  Vielleicht 
wird  man  einmal  autii  Uber  die  musterhaften  Beweise  un- 
serer Geometrie  zu  lachen  im  stände  sein,  wenn  die  ana- 
lytische Geometrie  dahin  gelangen  sollte,  die  Entstehung 
der  Raumfiguren  so  deutlich  zu  machen,  wie  die  Biologie 
die  Entstehung  der  menschlichen  Organe  deutlich  zu  machen 
sucht. 

Es  geht  also  sogar  bezüglich  der  geometrischen  Be- 
weise der  Zug  der  heutigen  Forschung  dahin,  den  Beweis 
durch  Anschauung  zu  ersetzen,  also  es  dlmniert  die  Er> 


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Oeotaetrilcli«  Bewoise. 


493 


kcnutim,  dass  sogar  uut"  diesem  unkörperliclieii  Gebiete  im 
Begriff  schon  der  Scblns^  oder  Beweis  enthalten  sei.  Schopen- 
hauer hat  den  \'ersuch  gemacht,  den  Pythagoreischen  Lehr- 
satz anschaiüicher  zu  machen,  als  irgend  ein  Bewiis  es 
vermochte.  Die  analytische  Geometrie  vollends  macht  für 
mathematische  Augen  alle  Beweise  des  Euklides  Oberflüssig. 

Was  all  diese  alten  Bewi  In.    so  todsiclier  erscheinen 
Hess,  so  erhaben  über  andere  Beweise  von  Erkliiruncrrn  der 
Wh'klichkeitswelt ,   das   scheint  mir  in   einem  be^  in(l*  i  .  !i 
Umstände  zu  liegen.  Darin  uamlich,  dass  (iie  ganze  WLsseu- 
schaft  der  Geometrie  nicht  Begriffe  zu  erkliiren  sucht,  son- 
dern unmittelbare  Erscheinungen.    Die  Geometrie  ist  eine 
vorsprachliche,  vorbegrili'liche  Wissenschaft:   wohl  iMiden 
wir  zu  praktischen  Zwecken  die  Begriü'e  oder  Worte  Kreis, 
Dreieck  u.  s.  w.;  die  Geometrie  aber  hat  es  unmittelbar  gar 
nicht  mit  diesen  Begriffen  zu  thun ,  sondern  jedesmal  und 
ausschliesslich  nur  mit  dem  Sinneseiudiuck  von  einem  Raum- 
gcbilde.  Ohne  ein  Wort  zu  sprechen  oder  zu  denken,  kann 
ich  eine  Menge  Eigenschaften  des  Kreises,  des  Dreiecks 
beobachten.     Ohne  Worte  können  darum  viele  Tiere  die 
Geometrie  sogar  praktisch  anwenden,  wie  die  Bienen  ihre 
regelmässigen  sechseckigen  Honigzellen  bauen.    Ein  geo- 
metrischer Lehrsatz  wird  durch  eine  Zeichnung  ohne  Worte 
deutlicher  als  durch  ^Vürte  ohne  Zeichnung.    Die  gesamte 
Geometrie  sammelt  eigentlich  die  Sinneseindrücke  des  Raums, 
ohne  sie  zu  erklären,  ohne  sich  um  die  Hypoth^e  ihrer  Wirk- 
lichkeit zu  bekümmern.    Sie  erhebt  sick  nickt  ftb«r  ein 
Gekim,  welches  die  FarbeneindrQcke  auf  der  Netzkaut  wakr- 
nekmen,  yerkinden,  benOtsen  würdet  okne  äek  um  die  Frage 
zu  bekttmmem,  ob  diese  Farbeneindrücke  Ton  einer  Aussen* 
weit  Terursadit  seien.  Oder  nock  besser;  das  geometriscke 
Auge  siekt  die  RaumverklUtnisse  so  immittelbar,  wie  das 
Obr  die  Sckwingungsrerkiltoisse  unmittelbar  kört,  wenn 
Musik  gemackt  wird.  Darum  ist  auck  die  Musik  eine  Tor- 
spracklicke  Kunst  Okne  Gedanken  kann  das  matkematiacke 
Gekim  geometriscke  Vorstellungen  Terbinden,  okne  Gedanken, 
das  keisst  okne  Spracke,  gemessen  wir  die  Musik.  Dass 


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494 


VJ.  IHe  Induktion. 


wir  die  Tonverhältnisse  mit  Worten  bezeichnen,  dass  wir 
die  ^geometrischen  Verhältnisse  in  eben  so  kUnstlieliLii  Lehr- 
sätzen aussprechen  und  mitteilen  können,  das  hat  mit  der 
Musik  und  mit  dem  Räume  nichts  zu  thun. 

Dieser  Umstand  hat  aber  die  äusserst  wichtige  Folge, 
dass  die  geometrischen  Verhältnisse  —  ob  wir  sie  nun  an- 
schauen oder  in  Lehrsätze  fassen  —  nicht  auf  Hypothesen 
benihenf  wie  aUe  diejenigen  Sätze,  welche  den  begrifflichen 
Wissenschaften  angehören. 
Beweis«  Wir  haben  also  bisher  gesehen,  dass  der  Beweis  nichts 
t^Mi  ^^^^^  ^  als  eine  Schlussfolgerung  mit  einer  besonders 
gerichteten  Aufinorksamkeit;  und  wir  haben  weiter  bemerkt^ 
dass  namoiilich  die  mustergtlltigen  Beweise  der  Geometrie 
darum  so  unantastbare  Schlfisse  sind,  weil  sie  nicht  sowohl 
Begriffe  oder  Worte,  sondern  geradezu  die  Anschauungen 
auseinander  legen.  Wenn  wir  nun  an  uns  selber  beobachten, 
dass  uns  diese  Auseinanderlegungen  von  Anschauungen 
▼ollkommen  befriedigen,  weshalb  wir  sie  eben  auch  muster- 
hafte Beweise  nennen,  dass  dagegen  alle  Beweise  der  be- 
grifflichen Wissenschaften  irgend  einen  unbefriedigenden 
Punkt  haben,  so  werden  wir  schon  sprachlich  auf  die  Ver- 
mutung geftlhrt  werden,  dass  aUe  begrifflichen  Beweise 
unTollkommene  Beweise  smd,  das  heisst  Hypothesen.  Unsere 
Lehre  vom  Schluss  aber  wird  durch  diesen  Umstand  einer- 
seits bestätigt,  wlUirend  anderseits  aus  ihm  hervorgeht,  dass 
auch  der  Begriff  Hypothese  ftlr  einen  schärferen  Blick  nicht 
viel  mehr  ist  als  das  Zugesföndnis,  wie  gering  der  Wert 
unserer  Worte  sei. 

Wir  gehen  noch  einmal  davon  aus,  dass  ein  Beweis 
eine  Schlussfolgerung  sei  mit  besonderer  Aufmerksamkeit 
darauf,  ob  der  Zusammenhang  mit  der  Wirklichkeit  nicht 
verloren  gegangen  ist.  Bei  dem  Vorgang  der  sogenannten 
Schlttssfolgerung  besinnen  wir  uns  auf  ein  näheres  Merk- 
mal eines  Begriffs,  das  wir  dann  unter  dem  Namen  einer 
Prämisse  su  einem  Urteil  hreittreten.  .Gelrorener  Wasser- 
dunst ist  Schnee;  Kälte  erzeugt  gefrorenen  Wasserdunst; 
also:  ist  die  Kälte  die  Ursache  des  Schnees.*  Fflr  uns  ist 


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Beweise  Hjpothesen. 


49& 


es  ja  geläufig  geworden,  dass  dieser  Schluss  oder  dieser 
Beweis  zu  unserem  Begriffe  Schnee  nichts  Neues  hiuzu- 
trägt.  Oberflüchlich  betrachtet  sind  die  Worte:  Kälte, 
Wasser,  Schnee  auch  vullkotanien  sichere  und  klare  Vor- 
sleilungeii.  Achten  wir  aber  darauf,  dass  insbesondere  die 
Kälte  etwas  ist,  wovon  wir  durchaus  kein  positives  Merk- 
mal angeben  können,  so  wird  die  Prämisse  , Killte  bringe 
das  Wasser  zum  Gefrieren*  sofort  zu  einer  Hypothese. 

Worin  besteht  das  Wesen  der  Hypothese?  Doch  nur 
darin,  dass  wir  eine  Prämisse  vorläufig  ak  richtig  an- 
nehmen und  sie  so  lange  nicht  verwerfen,  als  formale 
Schlüsse  aus  ihr  unseren  Wahrnehmungen  der  Wirklich- 
keitswelt nicht  widersprechen.  Nun  aber  wissen  wir,  dass 
auch  die  angeblich  sicheren  Prlmissen  nur  auseinander  ge- 
legte Begriffe  sind.  Bei  unserem  Zweifel  an  der  Festigkeit 
unserer  Worte  oder  Begrififo  werden  wir  nun  gleich  ver- 
muten,  daas  sich  kein  monger  Begriff  sni  einer  suTerlfissigen 
Flränusse  auseinander  legen  lasse,  daes  in  allen  begrifflichen 
Wissensdiaften,  also  in  der  ganzen  weiten  Welt  unseres 
Denkens t  alle  PrSmissen  nur  yorlftufigen  Wert  haben,  dasa 
demnach  alle  aus  ihnen  gezogenen  Beweise  doch  nur  Hypo- 
thesen sein  werden.  Jedes  Wort  unserer  Sprache  entbfilt 
in  seinen  Merkmalen  die  Schlüsse,  die  aus  ihm  gesogen 
werden  kannen;  jedes  Wort  enthalt  Beweise,  Gesetae,  jedes 
Wort  enthält  Hypothesen. 

Für  uns  ist  der  Begriff  der  Eansalitftt  oder  der  Ver- 
kettung von  Ursache  und  Wirkung  schon  Ton  früher  her 
eine  Hypothese  gewesen;  jetat  müssen  wir  erkennen,  dass 
jedes  neue  Wort,  in  welchem  man  die  Ursache  einer  Reihe 
▼on  Erscheinungen  auszusprechen  sucht,  nur  eine  Hypothese 
in  zweiter  Potenz  sein  kann.  So  ist  es  eine  rein  mensch- 
liche, eine  vorlftufige  Annahme,  dasa  das  Gefrieren  des 
Wassers  die  Wirkung  tou  etwas  sei.  Unter  dieser  Tor- 
läufigen  Annahme  ist  dann  wieder  die  Aufstellung  desBe- 
grifis  Kälte  eine  neue  Hypothese,  ja  eigentlich  schon  fast 
eine  Überwundene  Hypothese,  da  in  der  positiTen  Natura 
Wissenschaft  ehrlicher  Weise  niemals  Ton  etwas  anderem 


496 


VI.  Die  Induktion. 


die  Rede  sein  dUrfte  als  Ton  Wanne.  Ebenso  ist  es  eine 
Hypothese,  den  BUtx  ak  eine  Wirkung  aufzufassen.  Und 
unter  dieser  Hypothese  wieder  ist  die  Hypothese  Elektrizität 
nur  ein  Wort^  dessen  Bedeutung  gerade  in  unserer  Zeit  der 
NutEbarmachung  ihrer  Erscheinungen  zu  zerflattem  beginnt. 
So  betrachtet  gewinnt  der  Unterschied  swiachen  der  ver- 
achteten alten  NaturwiBEWittchafli  und  der  neman.  einen  selt- 
samen resignierten  Ausdruck.  Erklären  wollte  die  Ersehet* 
nungenAristoteka  ebenso  gut  wie  Newton.  IXeUeberzeugung, 
dass  die  Erscheinungen  eine  Erklärung  lulassen,  eine  Ur- 
sache haben,  ist  ja  eben  die  uralte  Hypothese  des  ICenschen- 
geistes.  Nur  dass  die  alte  Naturwissenschaft  theologisch 
war,  das  heisst  an  Zwecknrsachen  glaubte,  das  heisst  die 
Ursache  der  Wirkung  in  die  Zukunft  verlegte;  und  dass 
die  neue  Naturwissensdiaft  logisch  geworden  ist,  das  hdsst 
an  reale  Ursachen  glaubt,  das  heisst  die  Ursache  in  die 
Vergangenheit  verlegt  Diese  neuere  Hypothese  hat  von 
unseren  Kfipfen  so  unwiderstehlidi  Besits  genommen«  dass 
wir  die  alte  Hypothese  der  Teleologie  eigentlich  gar  nicht 
mehr  verständlich  aussprechen  können.  Wir  nennen  die 
neue  Hypotiiese  geradezu  das  Gesetz  der  UrsächlichkMt  und 
vergessen  darüber  ganz,  dass  der  Begriff  der  Zweekursache 
(welcher  dem  der  Ursächlichkeit  widerspiicht)  doch  durch 
Jahrtausende  bestanden  hat  und  in  der  Volkssprache  der 
optimistisch  Glaubigm  noch  heute  besteht.  Der  Unterschied 
also  zwischen  der  alten  und  der  neuen  Weltanschauung 
oder  Welterklärung  besteht,  wie  wir  schon  aus  dem  Worte 
Weltanschauung  hätten  vermuten  können,  nur  in  emer  Stim* 
mung,  in  einem  Behagen  unsere  Geistes.  Wir  haben  die  Hypo- 
these der  Zweckursachen  aufgegeben,  weil  unser  Forsehungs- 
trieb  bei  diesen  Zwecken,  Absiditen  unbekannter  Wesen, 
keinen  Ruhepunkt  fand;  wir  halten  uns  jetzt  an  die  Real- 
ursachen, wen  wir  fdr  ihre  unbekannten  Träger  Worte 
haben,  weil  uns  diese  Worte  bekannt  Schemen  und  weil 
wir  uns  darum  bei  ihnen  beruhigen.  Die  beiden  uralten 
Schicksalsfragen  des  auf  der  Erde  wandelnden  Menschen 
lauten  heute  wie  einst:  Woher?  Wohin?  Das  Christentum 


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BeweiM  Qjp«tii6MB. 


497 


nihte  von  der  ewig  unfruchtbaren  Marter  des  Wob  er  eine 
Weile  beim  Wohin  aus.  Wir  sind  der  ewig  unfnichtbaren 
Marter  des  Wohin  müde  und  f^lauhen  beim  Woher  auszu- 
ruhen. Wir  sind  wie  Wanderer,  die  einen  unein iiichen  Berg- 
weg emporschreiten,  lange  nach  dem  Gipfel  gespäht  haben 
und  dann  wieder  einmal  zur  Abwechslung  zurückblicken. 
Das  Ausruhen  dieses  BUoks,  dieses  Augenblicks  nennen  wir 
unser  Wissen. 

Ich  bin  aber  weit  davon  entfernt,  um  dieses  Zweifels 
willen  alle  mögliehen  und  unmöglichen  Hypothesen  der 
^^*elterk^a^ung  für  gleichwertig  zu  halten.  Ich  bin  weit 
davon  entfernt  zu  glauben ,  dass  unsere  Naturwissenschaft 
z.  i>.  ohne  Belbstvemichtung  zur  alten  Teleologie  zurück- 
kehren konnte,  oder  da'^«  noch  nur  eine?^i  niodernen  Ge- 
lehrten mit  Recht  Duldung  gepredigt  wpnlt ü  könnte  gegen 
die  Meinungen  der  Vorfahren.  Die  HvjKjthese  von  dem 
Stillstand  der  Erde  ist  endgilUig  aligethan  durch  die  Hypo- 
these unseres  Sonnensystems.  Die  Hypothese  von  der  Strah- 
lung des  Lichts  ist  endgültig  abgethan  durch  die  Wellen- 
hypothese. Die  Teleologie  ist  endgültig  abgethan  durch 
die  Ursächlichkeit.  Insbesondere  ist  die  bcwuiidernswerte 
Hypothese  Newtons,  die  von  der  Gravitation,  eine  unend- 
lich })enihigende  Zusammenfassung  unzähliger  rätaelliafter 
Erscheinungen.  In  dem  Selbstgefühl  seiner  ungeheuren 
üeistesthat  durfte  Newton  wohl  die  von  ihm  gestürzten 
Theorien  als  falsche  Hypothesen  verachten  und  stolz  von 
sich  selber  sagen,  er  erfinde  keine  Hypothesen  (hypotheses 
non  finge).  Er  brauchte,  wenn  er  sich  mit  der  Ge.schichte 
der  Wissenschaft  verglich,  nicht  bescheiden  zu  sein.  Nur 
der  Blick  auf  den  Grad  der  menschlichen  Erkenntnisfähig- 
keit  filhrt  zu  der  bescheidenen  Klage,  dass  auch  die  Gravi- 
tation nur  eine  Hypothese  sein  könne,  ein  vorläufiges  Wort. 
Nur  die  Einsicht  in  das  Wesen  der  menschlichen  Sprache 
kann  zu  dieser  letzten  Resignation  fuhren.  Und  in  Ver- 
bindung damit  ahnen  wir,  dass  der  uralte  Gegensatz  zwi- 
schen dem  Yorwiirte*  und  Rückw'drtsblicken,  zwischen  den 
Wohinfhigem  und  den  Woherfragern  auf  der  Schwache 
Mftnthner,  BciMf»  n  «taar  Kritik  dar  Spiwbt.  m.  8S 


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498 


VI.  Die  iBdaktion. 


des  menschlichen  Dt'iikwerkz*  uii;ei5  beruhe,  weil  wir  ja  doch 
nicht  einmal  wissen,  was  das  Wort  Zeit  uns  bedeute,  deren 
Inhalt  wir  nach  Woher  und  Wohin  auseinanderlegen, 
▲ach  dio  Dass  jedes  Wort  der  MitMiscliiu  hen  Sprache  nur  eine 
^^[|^*  vorläufige  Hypotluv^'^  enthalte,  diese  dä.mmemde  Walnlirit 
tiiMen.  wird  uns  vielleicht  l'assiicher  erscheinen,  wenn  wir  hedenkeu, 
dass  jedes  Wort  einen  engeren  oder  weiteren  Artbei^nif 
darstellt  und  dass  durch  Jahrtausende  der  Streit  darüber 
nicht  aufhörte,  was  diese  Artbegritle  eigentlich  seien.  Für 
Ideen  der  Wirklichkeit  hat  Piaton  die  Worte  oder  Art- 
bep^ffe  ausgegeben  und  die  ganze  christliche  Zeit  des  Mittel- 
alters führte  den  verzweifelten  Kampf  über  die  Frage,  ob 
diese  Ideen  oder  Worte  den  Erscheinungen  der  Wirklichkeit 
irgendwo  vorausgingen  oder  im  Menschengehim  erst  folgten. 
Der  Streit  also  des  mittelalterlichen  Wortrealismus  und 
Nominalismus  ist  wieder  nur  der  Gegensatz  des  W^ohiu  und 
Woher.  Wir  haben  die  Hypothese  des  Realismus  der  Ideen 
aufgegeben  und  leben  unter  dem  beherrschenden  Gedanken 
des  Nomiualismus.  Wird  der  Realismus  der  Ideen  niemals 
wiederkehren  ? 

Es  liegt  mir  himmelfern,  die  Ideen  des  Plat^jn  oder  die 
Teleolügie  des  Aristoteles  unserem  Norainalismus ,  unserer 
Ursächlichkeit  als  gleichwertig  gegenüberstellen  zu  wollen; 
das  wäre  nicht  mehr  Zweifel,  das  wäre  ein  thatsUchlicher 
Rückschritt,  als  ob  die  Menschheit  auf  den  Gebrauch  des 
Feuers  verzichten  wollte,  weil  sie  einmal  ohne  Feuer  lebte. 
Aber  auch  die  herrschende  Ueberzeugung  unserer  Zeit,  auch 
Nominalismus  und  Ursächlichkeit  erscheinen  mir  doch  nur 
als  Torl&ufige  Hypothesen,  und  hei  der  Wendung  des  spiral- 
fSBrm^en  Weges  wird  die  Hypothese  des  Realismus  der 
Ideen  wieder  einmal  auf  einer  höheren  Stufe  aufbauchen. 

Was  ich  bei  diesen  Worten  denke,  das  kann  ich  nur 
durch  em  phantastisdies  Bfld  amdrQcken.  Unsere  Worte 
oder  Artbegriffe,  welche  Flaton  für  die  Ideen  der  ürschei- 
nungen  erklärt  hat,  seheinen  uns  so  surerlässig  au  sein, 
dass  mancher  den  Kopf  schfitteln  mag,  wenn  er  auch  so 
handgreifliche  Begriffe  wie  Erde,  Wasser,  Kiefer,  Mensch 


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Aofllh  die  Bcgriffo  H^rpothesea. 


499 


für  Hypothesen  halten  soll.  Wie  aber,  wenn  wir  uns  einen 
(ieist  vorstellten,  ftVr  den  Millionen  Jahre  der  Entwickeluug 
sind  wie  ein  Tag?  Wie,  wenn  vor  den  Augen  dieses  Geistes 
die  Urstoffe  der  Welt  sich  in  wenigen  Stunden  dieses  Geistes 
gemächlich  zu  der  Erdkugel  I)alleu,  glühen,  erstarren, 
lebendig  werden,  erfrieren,  zurückstürzen  in  die  Sonne  und 
sich  in  ilirei  Glut  neuerdings  auflösen  in  die  Urstoffe  der 
Welt?  Ist  dann  der  Begriff  Erde,  der  Name  der  Form 
eines  flüchtigen  Yiertelstündchens .  auch  noch  mehr  als  ein 
luftiges  Wort?  Ist  dann  der  Xiune  Erde  noch  mehr  als 
die  Hypothese  eines  UebergangszuHtiindes  der  Urstoffe?  Ist 
dann  der  Name  Erde  noch  mehr  als  die  Hypothese 
, sieden",  die  wir  von  einer  Uebergangsform  des  Was- 
sers gebrauchen?  Und  ist  der  Begriff  Wasser,  das  einst 
auf  Erden  nicht  war  und  einst  wieder  nicht  mehr  sein 
wird,  nicht  ebenso  eine  Hypothese  zur  Beruhigung  des  be^ 
schaulichen  Geistes,  der  die  Erde  entstehen  und  vergehen 
sieht,  wie  das  Kind  die  Farben  auf  seiner  Seifenblase,  die 
schonen  Farben,  die  doch  gewiss  Hypothesen  sind?  Und 
ist  das  Wort  Kiefer,  die  während  des  kurzen  ViertelstQnd- 
ehens  des  Erdendaseins  einmal  aus  anderen  Formen  hervor- 
ging, wie  eine  Bisblume  auf  der  Fensterscheibe  einen  neuen 
Kiystall  ansetzt,  ist  die  Kiefer  mehr  ab  eine  Hypothese? 
Und  der  Mensch?  Was  sich  auf  dieser  Erdkruste  loribbehid 
und  krabbebd  formte  und  wandelte,  bis  es  einmal  flüchtig 
so  wurde,  wie  der  beschauliche  Geist  seit  einigen  IGnuten 
Milliarde  von  Menschen  sieht,  ist  er  mehr  als  eine  Hypo- 
these? 

Nur  freilich,  dass  diese  Hypo&ese,  die  wir  Mensch 
nennen,  ein  drolliges  Organ  unter  seinem  Schädel  besitzt, 
das  in  den  lotsten  Sekunden  des  beschaulichen  Weltengeistes 
dazu  gelangt  ist,  selbst  Hypothesen  zu  spinnen,  in  denen 
es  den  Weltengeist  wieder  zu  erkennen  glaubt.  So  spiegelt 
sich  das  Kind  in  der  Seifenblase,  die  es  selbst  gemacht 
hat,  und  m'emand  kann  sagen,  ob  es  mehr  weiss  von  der 
Wirkliehkeitswelt  als  die  Farben,  an  denen  es  sich  freut. 


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500     VII.  Temuni  teduüei  der  iadaktiTeii  Wisiaiiaolttltoii. 


yn.  Tennlni  tedinid  4er  MnktlTeii  WIsBensduifteii. 

WlMwttl.  „Beinahe  jeder  Fortschritt  der  Wissenschaft  ist  be- 
zeichnet  durch  die  Neubildung  oder  Aneignung  eines  tech- 
nischen Ausdrucks.  Die  Umgangssprache  hat  in  Jen  meisten 
Fällen  einen  gewissen  Grad  von  Schla£Qi«t  und  Zweideutig- 
keit, wie  die  Alltagskenntnis  (common  Imowledge)  gew  öhn- 
lieh  etwas  Vages  und  Unbestimmtes  an  ach  bat.  Diese 
Kenntnis  beschäftigt  gewöhnlich  nicht  ien  Yeratand  allein, 
sondern  wendet  skh  mehr  oder  weniger  an  irgraid  ein 
Interesse  oder  setzt  die  Phantasie  in  Bewegung;  und  so 
enthält  die  Unigangssprache,  im  Dienste  snlrben  Wissens 
immer  eine  Färbung  des  Interesses  oder  der  Einbildungs- 
kraft. Doch  sobald  unsere  Erkenntnis  ganz  ex^t  und  rein 
verstandesm'assig  wird,  verlangen  wir  eine  ebenso  exakte  und 
verstandesmässige  Sprache,  eine  Sprache,  welche  gleicher- 
weise Unklarheit  und  Phantastik,  Unvollkommenheit  und 
Ueberflüssigkeit  ausschliesst,  deren  jedes  Wort  einen  festen 
und  streng  abgegrenzten  Gedanken  mitteilen  soll.  Eine 
solche  Sprache,  die  der  Wissenschaft,  entsteht  durch  den 
Gebrauch  technischer  Ausdi-ticke  .  .  .  der  Fortschritt  im  Ge- 
brauche einer  technischen  wissenschaftlichen  Sprache  bietet 
unserer  Beobachtung  zwei  verschiedene  und  aufeinander 
folgende  Perioden;  in  der  ersten  wurden  technische  Aus- 
drücke gelegentlich  p|:ebildet,  wie  sie  sich  zufällig  darboten; 
dagegen  wurde  in  der  zweiten  Periode  eine  technische 
S}>rachf  absichtlich  hergestellt  mit  einem  bestimmten  Vor- 
satz, mit  lukksicht  auf  den  Zusammenhang,  mit  der  Aus- 
sicht auf  die  Herstellung  eines  Systems.  Obgleich  die  ge- 
legentliche und  die  systematische  Bildung  von  technischen 
Ausdrt!(ken  durch  ein  bestimmtes  Datum  nicht  geschieden 
werden  können  (denn  zu  allen  Zeiten  sind  einzelne  W^orte 
in  einzelnen  Wissenschaften  unsystematisch  irebildet  worden), 
können  wir  doch  die  eine  Periode  die  antike  und  die  andere 
die  moderne  nennen." 

Mit  diesen  Worten  leitet  Whewell  in  seiner  »Philosophie 


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WhewelL 


501 


der  indukÜTen  Wiasauchaftoii*  (XLVHI)  seine  Aphorismen 
Ober  die  wissenscliaftiiohe  Spndie  ein.  Bevor  ich  einiges 
ans  diesen  ApboriBmen  iniMieüe,  wdche  Tor  nun  mehr  uIb 
fünfzig  Jahren  eine  Befreiung  von  der  toten  Metaphysik 
des  Aliertoms  lAtten  aabalinen  können  nnd  welche  jeden- 
falls Aensserungen  eines  ungewöhnlich  freien  englischen 
Kopfes  waren,  —  möchte  ich  an  der  Hand  Ton  desselben 
WheweU  «Geschichte  der  indukÜTen  Wissenschaften*  zeigen, 
warum  diese  Entstehungsgeschichte  einer  wissenschaftlichen 
Sprache  ihr  Ziel  rerfehlen  mosste. 

WheweU  ging  ron  der  frappierenden  Beobachtung  aus, 
dass  grundlegende  technische  AusdrOcke  der  Qeometrie  von 
der  griechischen  Umgangssprache  hexgenommen  waren.  Das 
griechische  Wort  fUr  Kngel,  welches  wir  als  »Sphäre*  immer 
noch  bentttsen,  bedeutete  nebenbei  einen  Spielball  der  Slinder, 
der  Kegel  oder  Conus  bezeichnete  einen  Kreisel,  Gylinder 
eine  Waise,  Kubus  war  ebenso  wie  unser  Würfel  zugleich 
der  technische  Ausdruck  der  Geometrie  und  der  für  das 
bekannte  Spielger&t.  Wir  lassen  nun  die  Frage  beiseite,  ob 
in  diesen  besonderen  FiUen  die  Geometrie  ihre  Ausdrucke 
Ton  der  Strasse  aufgelesen,  oder  ob  die  Spiehseugindustrie 
sie  Yon  der  Geometrie  entlehnt  habe«  JedenfeDs  dttifen  wir 
die  Ausnahmestellung  der  Mathematik  nicht  auf  die  anderen 
Wissenschaften  fibertragen.  Die  Definition  der  Kugel  und 
des  Würfels  ist  seit  drei  Jahrtausenden  um  man<^e  l&i- 
n^i  und  damit  um  manches  Merkmal  bereichert  worden, 
aber  die  einfache  Vorstellung  ist  heute  dieselbe  wie  ror 
dreitausend  Jahren,  weil  sie  die  YorsteUung  von  etwas  Ein- 
fachem ist.  Whewells  Unterscheidung  zwischen  Umgangs- 
sprache und  techmsoher  Sprache  trifft  also  für  die  Geo- 
metrie so  ziemlich  zu;  schon  in  der  Geschichte  der  Astronomie 
werden  wir  jedoch  ein  Schwanken  von  einem  Sprachgebrauch 
zum  andern  wahrnehmen  und  die  Wksenschsift  Ton  den 
Organismen  hat  es  bis  zur  Stande  zu  einer  Wissenschaft* 
liehen  Terminologie  nicht  gebracht.  Um  ganz  sicher  zu 
gehoi,  wollen  whr  das  erste  Beispiel  nicht  aus  der  Astro- 
nomie nehmen,  welche  ja  der  Mathematik  zu  nahe  steht, 


502     Vn.  Termmi  teehiüd  der  indukttfeii  Wkmadaaiben. 


und  nicht  aus  dem  Reich  der  Organismen,  deren  Definitioii 
wir  nicht  kennen.  Wir  wollen  ein  mittleres  Reich  aufsuchen 
und  Umgangssprache  und  wissenschaftliche  Sprache  in  der 
Sprachgeschichte  der  Chemie  und  Mineralogie  verfolgen. 
UmMt.  Die  Chemie  beschäftigt  sich  damit,  die  Körper  in  ihre 
Elemente  aufzulösen.  Nichts  einfacher  als  dieser  Sats; 
nur  dass  ich  keinen  Chemiker  und  keinen  Philosophen  zu 
nennen  wOsstOi  uns  sagen  könnte,  was  , auflösen"  be- 
deute und  was  ein  « Element"  sei.  Das  Wort  Element  ist 
zu  Anfang  des  17.  Jahrhunderts  in  unsere  modernen  Sprachen 
eingedrungen,  als  man  die  chemische  Wissenschaft  in  mo- 
dernen Sprachen  zu  beschreiben  anfing.  Es  wurde  das  Wort 
elementa  aus  dem  Lateinischen  herUbergeholt.  Das  Wort 
(eigentlich  =  »Buchstaben")  hat  eine  wüste  Geschichte.  Heute 
noch  wird  gedächtnismässig  nachgeplappert,  dass  Feuer, 
Wasser,  Luit  und  Erde  die  vier  Elemente  seien  oder  einst 
dafür  gegolten  hätten.  In  Wirklichkeit  hat  niemals  ein  Grieche 
daran  gedacht,  die  Körper  wissenschaftlich  oder  im  Labora- 
torium auf  diese  vier  Elemente  zurückzuführen.  Es  war 
bei  den  Griechen  nur  eine  völlig  unklare  Voi"stellung,  dass 
die  Eigenschaften  dieser  vier  weit  verbreiteten  Dinge  zur 
Beschreibung  der  Welt  genügten.  Feuer,  Wasser,  Luft  und 
Erde,  deren  chemische  Eigenschaften  mit  Ausnahme  der 
gröbsten  den  Griechen  ganz  unbekannt  waren,  bildeten  für 
Aristoteles  und  darum  für  weitere  zwei  Jahrtausende  eigent- 
lich nur  bequeme  Vergleichlingsobjekte.  Man  konnte  von 
diesen  vier  Dingen  berjueni  Eigenschaftswörter  bilden.  So 
miichtig  aljer  \\ar  dei-  Sprachaberglaube,  dass  z.  K.  die 
Acrzte  des  Mittelalters  auf  Grund  dieser  vier  Eigenschafts- 
wörter unzählige  Menschen  unibringen  konnten,  indem  sie 
den  Menschenleib  feurig,  wässrig  u.  s.  w.  nannten  und  nun 
nach  dem  Namen  behaurlelten.  Man  wird  es  für  einen 
Sclicrz  halten,  e^-  i'-t  alier  genau  dasselbe,  wie  wenn  man 
einen  Menschen  durum  erschiessien  und  Itraten  wollte,  weil 
er  den  Namen  Hirsch  trüge.  Der  ßegrili  Element  gehörte 
also  im  Grunde  immer  nur  der  wüstesten  UmganL""^ ^]irachc 
an  und  es  war  ein  Irrtum  der  Gelehrten,  wenn  sie  mit  dem 


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VoimndfeBoliall. 


508 


Worte  eiTicn  technischen  Ausdruck  zu  Terbinden  glaubton. 
Erat  nach  Ueberwindung  des  Altertums  war  eine  WisMn* 
Schaft  der  Chemie  möglich. 

Wir  machen  einen  gewaltigen  Sprung  bis  zum  Eode  ver- 
des  achtzehnten  Jahrhunderts.  Da  finden  wir  plötzlich  einen  g^j,^ 
technischen  Ausdruck  vor,  an  dessen  Wert  die  gegenwärtige 
Wissenschaft  kaum  zweifelt,  die  chemische  Wahlverwandt- 
schaft. Goethe  hat  seinem  Roman  diesen  Titel  gegeben, 
weil  er  dfts  Verhältnis  seiner  Menschen  durch  das  chemische 
Bild  gut  darzustellen  glauljte.  Es  sind  zwei  Menschenpaare 
gegeben,  von  denen  Männlein  und  Weiblein  einander  kreuz- 
weise anziehen.  Wer  immer  darüber  nachgedacht  hat,  be- 
gnügte sich  mit  dem  chemischen  Bilde  und  setzte  voraus, 
dass  ,WahlverwmifU';rhnff *  üi  der  Chemie  ein  ganz  be- 
stimmter technischer  Ausdruck  '^pi.  Nun  aber  liegt  dem 
Begriffe  der  Wahlverwandtschaft  nur  eine,  ich  möchte  sagen, 
plumpe  Beobaclitung  zu  Grunde.  Es  war  von  jeher  ge- 
sehen worden,  dass  zwischen  chemischen  Körperu  Be- 
ziehungen bestehen,  die  ihre  Verbindung  beeinflussen.  Noch 
zur  Zeit  von  Newton  nannte  man  diese  Anziehung  chemischer 
Körper  genau  so  wie  die  müchanisch(»  Anzif^hung  Attrak- 
tion, wo  in  heiilen  Fallen  das  Wort  Attraktion  ein  höchst 
ungerniK'^  Bild  hot.  In  der  Mechanik  ersetzte  Newton  das 
allzu  poetische  ßiid  von  einer  Anziehung  durch  das  engere 
Bild  der  Schwerkraft:  in  dt'r  Chemie  machte  man  bald 
darauf  die  Be(i})achtung,  dass  bei  der  Verbindung  von  zwei 
chemischen  Kör])ern  oft  die  Anziehung  des  einen  in  eine 
neue  VerlMudung  besonders  heftig  sei.  GeoflEroy  beschrieb 
diese  Erscheinung  —  erklärt  ist  sie  bis  zur  Stunde  nicht  — - 
und  gebrauchte  zuerst  anstatt  des  Wortes  ,elektive  Attrak- 
tion" das  Wort  Affinität.  Verwandtschalt  (.1718). 

Was  ist  also  hier  in  sprachlicher  Beziehung  vor  sich 
gegangen?  Es  ist  auf  eine  mangelhaft  beot)achtet^  Erschei- 
nung der  Chemie  ein  Begriff  aus  dem  Familienleben  bildlich 
übertragen  worden.  Der  Schüler,  dem  das  Wort  „chemische 
Verwandtschaft **  oder  „  Wahlverwandtschaft zum  erstenmal 
entgegentritt,  empfindet  bei  einiger  Intelligenz  guuz  gut,  dass 


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504  Termini  technici  der  induküveu  Wiaeenechalten. 

maa  ihm  aiistail  emor  Definüsoii  oder  «Iner  ErUirung  nur 
eiae  bttbsdie  Yergleichung  gegeben  babe.  Yerbuigt  man 
Ton  fhum  technischen  Ausdruck,  dass  er  eine  genau  de* 
finierto  Gruppe  Ton  Hrsehduungen  sueammenfasse,  so  ist 
das  Wort  «Verwandtschaft*  kein  solcher  tedmiseher  Aus- 
druck. Im  Augenblicke  der  Erlernung  ist  das  auch  gans 
klar.  Ist  der  Sohffler  aber  inswisehen  Chemiker  geworden, 
hat  er  beim  Worte  Verwandtschaft  Tevgessen,  dass  es  sich 
nur  um  eine  Yergleichung,  nur  um  eine  bildliche  Anwen- 
dung handle,  verwendet  der  Chemiker  im  Banne  seines 
Berufeinterssses  das  Wort  Verwandtschaft,  so  bildet  er  sich 
ein,  daran  einen  technichen  Ausdruck  zu  besitaeo. 

Die  technischen  Ausdrücke  bilden  die  engere  Umgangs- 
sprache jeder  Specialwiasenschaft.  Der  Fachmann  operiert 
mit  ihnen  und  ftbr  ihn  sind  sie  ebenso  bequem  und  ebenso 
fehlerhaft  wie  die  Alltagsworte  in  der  allgemeinen  Um- 
gangssprache es  sind.  Es  mnss  eine  Zeit  gegeben  haben, 
in  welcher  AusdrQcke  wie  Luft  und  Feuer  technische  Worte 
leitgenässischer  Gelehrter  waren. 
v^tMT-  Unter  »Feuer*  stellt  sich  der  einfache  Mann  heute  nodi 
etwas  Tor,  was  brennbare  Stoffe  veniichtet,  weil  er  von 
seinem  Interesse  aus  den  Zustand  seines  Hauses,  seiner 
Kleider,  seiner  Vorrftte  schwinden  sieht.  Diese  populiro 
Anschauung  war  lange  Zeit  auch  die  wissenschaftliche.  Man 
eiklarte  die  Verbrennung  als  das  Ausscheiden  des  Ver- 
brennbaren, des  Ffalogiston.  Die  Chemiker  kannten  damab 
schon  einen  gewissen  Zusammenhang  swischen  der  Orf- 
daiion  und  der  Verbrennung.  Sie  erUftrten  nur  die  Wieder- 
herstellung der  Metslle  aus  ihren  O^den  durch  den  Hinzu- 
tritt des  Phlogiston.  Heute  lehrt  die  Chemie,  dass  bei  jeder 
Verbrennung  Sauerstoff  hinzutritt,  dass  das  Produkt  der 
Verbrennung  demnach  an  Gewicht  zugenommen  hat»  Die 
phlogistiscbe  Theorie,  die  bis  zum  Ende  des  18.  Jahr^ 
hnnderls  geltend  war,  lehrte  also  genau  das  Gegenteil  von 
der  Wshrheit.  Man  hatte  i&r  den  guten  Glauben  in  «Hilo- 
giston'  einen  besonderen  tedinisdien  Ausdruck  erfimden; 
dieser  gehörte  der  Umgangssprache  des  engsten  Chemiker- 


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Spraehe  der  Ghemie. 


505 


kreises  an.    Einftn  klaren  Inhalt  konnte  er  nicht  haben,  dft 

er  das  Geironteil  von  der  Wirklichkeit  lehrte. 

Als  nun  durch  Priestlev  und  Lavoisier  die  neue  Lehre  Sprache 
begründet  worilen  war,  dass  die  Verhrennunjt?  nicht  eine  c^jm^g, 
WrnichtuDg,  sondern  eine  sehr  positive  Verbindung  mit  dem 
SaucrstoflF  sei,  da  hiessen  die  neuen  Chemiker  anfangs  sehr 
charakteristisch  die  Antiphlogistiker.  Dann  aber  überaahm 
LavoisifM-  die  grosse  Arbeit,  eine  neue  Nomenklatur  zu 
schaäen  ttlr  die  zahlreichen  Stoffe,  welche  der  Chemie  be- 
kannt waren  und  welche  jetzt,  nach  den  neuesten  Ent- 
deckungen, anders  als  l)islier  geordnet  werden  konnten. 
Diese  Nomenklatur  hat  ^n-h  in  ihren  äussern  Umrissen  bis 
zur  Gegenwart  erhalten  un  l  Iv  inn  jetzt,  namentlich  auf  dem 
Gebiete  der  chemischen  Grammatik,  wie  ich  sagen  möchte, 
als  ein  Musterbild  technischer  Ausdrücke  gelten.  Von  Jahr- 
zehnt zu  Jahrzehnt  sind  quantitative  Bestimmungen  iiinzu- 
getreten.  welche  den  wissenschaftlichen  Wert  dieser  Nomen- 
klatur zu  erhöhen  schienen.  Ausserlialb  dieser  Klassitikation 
stehen  über  die  Namen  der  Originalkcirper ,  welche  man 
Elemente  zu  nennen  pllegt.  Die  Namen  dieser  (gegen- 
wärtig ungefähr  siebzig)  Elementarsubstanzen  sind  lieiite 
noch  so  wenig  kla.ssiti ziert,  dass  uralte  histori.sche,  poetische 
und  beschreibende  Namen  durcheinander  laufen,  wobei  die 
wissenschaftlichen  Anschauungen  verschiedener  .iaht  lumderte 
ihren  Eintluss  verraten.  Ich  erinnere  nur  an  die  Worte  wie: 
Eisen,  Gold;  Sauerstoff;  Jod,  Arsen:  Fbmr,  Quecksilber, 
Kalium.  Die  neuesten  Beobachtungen,  durcli  welche  Men- 
delejew  im  stände  war,  sämtliche  Elemente  neu  zu  grup- 
pieren Uli  i  sogar  die  Entdeckung  unbekannter  Elemente 
vorauszusagen,  lassen  damut  schliessen,  dass  die  Nomen- 
klatur Lavoisiers  nach  Im ridertjähriger  Geltung  bald  un- 
brauchbar geworden  sein  wird,  dass  man  demnächst  an  die 
Schöpfung  eines  ganz  neuen  chemischen  W()rterbuchs  und 
einer  verbesserten  chemischen  Grammatik  wird  gehen  müssen. 

Dabei  hat  die  Chemie  eine  ganz  ausgezeichnete  Mittel- 
stellung zwischen  den  abstrakten  Wissenschaften  der  Mathe- 
matik und  Mechanik  einerseits  und  der  Naturbeschreibung 


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506  Termini  technici  der  indoktiTen  Wiaaemchaiiea. 

anderMüs.  D«itE  die  Ghamk  beadiiftigt  sich  mir  mit  km,- 
kreten  Körpern,  und  es  ist  die  Zahl  dieser  konkreten  Edrper 
—  so  gross  sie  aach  sein  mag  —  doch  durch  die  Möglichkeit 
der  Blementrerbindungen  heschrftiikt,  eine  EUKsifikatioii  ist 
also  je  naeh  Keuntais  der  Elemente  gegeben.  Ton  unserem 
Standpunkt  aus  ist  freilieh  die  Chemie  am  den  scheinbar  so 
sicheren  Besüs  nicht  xu  beneiden;  denn  wir  sehen  wie  2.  B. 
das  Wort  ,  Metall*  —  sieherlich  ursprünglich  ein  techni* 
sdier  Ausdruck  —  in  den  modernen  Sprachen  bereitB  ein 
Ausdruck  der  Umgangssprache  geworden  ist,  der  gewisse 
wohlbekannte  Körper  Ton  einem  gewissen  Gewicht,  einem 
gewissen  Glanz  und  gewissen  mechanischen  Eigenschaften 
beieichnet,  wir  sehen  wie  die  neuere  Wissenschaft  sich  be- 
mttht,  das  alte  Wort  als  teduischen  Ausdruck  aufrecht  zu 
erhalten,  wie  sie  in  den  Metallbegiiff  die  leichten  Metalle, 
die  Erdmetalle  hineinzupressen  sucht,  wie  sie  im  Gegen- 
satz dazu  den  undefinierbaren  technichen  Ausdruck  Metalloide 
bildet  und  wie  sie  jetzt  eben  dabei  ist,  die  alte  Bezeichnung 
preiszugeben.  Seit  etwas  ttber  hundert  Jahren  hat  die  Chemie 
solche  Fortschritte  gemacht,  dass  das  Feuer  nichts  Wirk- 
liches mehr  ist,  das  Wasser  die  Verbindung  zweier  Luft- 
arteo,  die  Luft  in  Flüssigkeit  yerwandelt  werden  kann  und 
die  Erden  aus  Metallen  und  Luft  bestehen.  Da  mussten 
freilich  auch  alle  Begriffe  flttssig  werden.  Jede  chemische 
Nomenklatur  ist  nichts  weiter,  als  die  Torl&ufige  Anwendung 
einer  neuen  Hypothese  auf  die  Klassifikation  der  Kdrper. 
Von  der  unhaltbaren  Etymologie  der  alten  technischen  Aus- 
drucke soll  gar  nicht  erst  die  Bede  sein:  wenn  man  Ton 
einer  »sflssen  Siure"  sprechen  kann,  so  beweist  das  nur, 
dsas  «Säure*  ein  tedinischer  Ausdruck  geworden  ist,  der 
mit  dem  sauem  Geschmacke  nichts  mehr  zu  schaffen  hat. 
Nur  dass  die  Erfindung  jenes  technischen  Ausdrucks  auf 
den  saueren  Gkschmack  zurückging  und  dass  die  Gruppe 
der  ffSfturra*  immer  unklarer  und  unsicherer  wurde,  frei- 
lich auch  immer  gelehrter,  je  weiter  sie  sich  von  dem 
Merkmale  des  sauem  Geschmacks  entfernte.  Es  ist  nicht 
anders:  die  Klassifikation  der  natürlichen  Kdrper  nach  ihren 


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Ifiacnlogie. 


507 


physischen  Eigenschaften  bereitet  unttbersteigliche  Schwierig- 
keiten; die  geheime  Zusammensetzung  aber,  welche  eine 
natOrliche  Klassifikation  ermöglichen  würde,  werden  wir 
audh  nach  Mendelejew  nienuüs  kennen  lernen.  Und  wenn 
seine  Reihe  nach  Atomgewichten  deutlich  wäre  wie  das 
Einmaleins,  wir  würden  ja  dennoch  nicht  wissen,  was 
„Atom''  und  was  „Gewicht"  bedeutet.  Vielleicht  ist  Atom 
nur  eine  Gewichtseinheit,  vielleicht  ist  Gewicht  nur  eine 
Funktion  von  Warme  oder  von  Bewegung  oder  von  Elek- 
tricität  oder  von  Leben  oder  Ton  wer  weiss  was.  «Alles 
fliesst." 

Die  chemische  Klassitikntion  ist  also  wie  jede  andere  Mine»« 

nur  der  Vernich,  die  uns  bekannten  Aehnlichkeiten  der 
natürlichen  Kürj)er  in  unserem  Kopfe  übersichtlich  zu  ordnen. 
Was  in  der  Wirklichkeit  vorteilt,  das  ist  jedesfalls  etwas 
Andere«?  als  -was  in  unst  rm  Kojjfe  vorgelit.  Denn  die  Natur 
brauclit  sieh  nicht  im  mindesten  um  menschlirhes  Interesse 
zu  bekümmern,  nirht  einmal  um  unser  mensrhiiches  wissen- 
schaftliches Interesse,  <his  doch  wieder  nur  ein  Bequemlich- 
keitsinteresse des  Gedächtnisses  ist:  der  Mensch  aber  bat 
bewu«?st  und  unbewusst  nur  sich  im  Anu'f  bei  der  Ordnung 
seiner  Naturerkenntnis  und  weiss  es  nur  für  «rewrdmlich 
nicht,  wie  subjektiv  seine  berühmte  olijcktive  Wissenschaft 
ist.  Ein  'starkes  Beispiel  dafür  bietet  die  Existenz  einer 
besonderen  W  issenschaft,  die  sicli  Mineralogie  nennt,  neben 
der  wissenschaftlichen  Chemie.  Beide  Wissenschaften  haben 
es,  wenn  man  genau  zusieht,  mit  den  j^leiohen  Körpern  zu 
thun;  beide  wcdlen  doch  nur  die  Summe  aller  unorcranischen 
Naturk()rjier  beschreiben  und  ordnen,  welches  Ordnen  oline 
eine  erklärende  Hypothese  nicht  möglich  ist.  Dass  eine 
Sammlung  von  Mineralien  anders  aussieht  als  eine  Samm- 
lung von  Chemikalien,  beruht  docii  wohl  nur  auf  dem  ver- 
schiedenen Interesse  der  Sammler.  Eine  vollständige  Mine- 
raliensammlung wäre  identisch  mit  einer  vollständigen 
Chemikaliensammlung.  Der  Umstand,  dass  manche  un- 
organische Körper  seltener  v(ukommen  als  andere,  dass 
manche  in  keinem  natürlichen  Laboratorium  erzeugt  werden. 


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508     VII.  Termini  teehnioi  d«r  induktiven  WiflBenMhaiten. 


thut  ja  nichts  zur  Sache.  Rechnet  man  doch  zu  den  Mine- 
ralien die  Stoüe,  die  im  Ol'eii  eines  Vulkans  entstehen.  Und 
rechnet  man  doch  ?a\  den  Tieren  die  Tuubeuvarietäten,  die 
durch  künstliche  Züchtung  hervorgebracht  worden  sind.  So 
mUsste  denn  eine  natürliche  Klassifikation  der  Mineralien 
identisch  sein  mit  der  natürlichen  Klassifikation  der  Chemie. 

Heute  scheidet  sich  Mineralogie  und  Chemie  so,  dass 
die  erste  hauptsächlich  Krystallographie  ist,  die  zweite  die 
Bestandteile  der  Körper  untersucht.  lieber  kurz  oder  lang 
werden  diese  beiden  Disziplinen  zu  einer  einzigen  Wissen- 
schaft zusammengehen  müssen  und  weTin  einmal  zwischen 
Zusammensetzung  und  Krystalllorm  regclmä.>;sige  Gleiehun- 
gen  aufgefunden  sein  werden,  wird  .sicherlich  auch  eine  neue 
mineralogisch-chemische  Sprache  entstehen.  Und  vielleicht 
wird  diese  technische  Sprache  der  Zukunil  in  einer  noch 
späteren  Zukunft  in  die  Umgangssprache  übergehen. 

Dieses  abwechsekide  Borgrerhältnis  zwischen  techni- 
scher Sprache  und  Umgangssprache  lasst  sich  bis  in  die 
ältesten  Zeiten  der  Oesdiichte  der  Mmeralogie  zurfickrer- 
folgen.  Wenn  Aristoteles  etwa  wie  ein  Dorfjunge  unserer 
Zeit  nur  den  Hauptuntorsoliied  swisehen  Steinen  und  Erzen 
aufstellte,  so  hatte  ihm  den  Begriff  der  metallfülirenden  Erse 
sidierlich  die  Technik  der  Metallarbdter  geUeferi  und  die 
Kenntnis  der  Edekteine,  des  Statuemnateaials  und  der  Töpfer- 
erden  verdankte  er  offenbar  anderen  Handwerkern,  die  da- 
mals mehr  als  heute  die  Rohstoff»  ihres  Gewerbes  kennen 
mussten.  Es  ist  ersteunlich,  wie  viele  Jahrhunderte  sich 
die  Welt  mit  diesen  groben  Eintoilungen  begnügte. 

Der  intensive  Bergbau  war  es,  der  dann  immer  wieder 
genauere  und  reichere  Beobachtungen  lieferte  und  eine 
technische  Bergbausprache  zur  Folge  hatte,  die  erst  vor 
etwa  hundert  Jahren  auf  dem  Wege  Uber  die  technische 
Sprache  der  Wissenschaft  tolwdse  Qemeinsprache  ge- 
worden ist. 

KrystaUo»  Dabei  wurde  der  Wert  der  KrystaUform  Abr  eine  BSassi- 
fikation  der  Mineralien  ttbersehen.  Das  Vorkommen  von 
kurios  und  regehnfissig  geformten,  durchsichtigen  Mineralien 


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KiTitellogiapUe. 


509 


war  natüiiich  niemals  übersehen  worden.  Die  Griechen 
hatten  sich  dafür  eine  fabelnde  Hypothese  zurechtgemaclit 
un<I  selbstverständlich  nach  dieser  Hypothese  Worte  gebildet. 
Diese  eckigen  und  durchsichtigen  Mineralien  erklärten  sie 
für  ein  durch  himmlisches  Feuer  besonders  fest  gewordenes 
Eis,  die  schönen,  ^^Tlsse^hcllen  Krystalle  des  Quarzes  nannten 
sie  also  einfach  Ii  ilt*  is.  Krystallos  hiess  auf  Griechisch 
Eis;  so  entstand  das  VV  ort,  von  dem  heute  die  Klassifikation 
aller  Mineralien  hergenotnmen  wird.  Und  ich  zweifle  nicht 
daran,  dass  die  alte  Fnbcl  vom  Eise  noch  heute  dahinter 
steckt,  wenn  man  scheinbar  technisch  aber  vollkommen  un- 
klar von  dem  Wasser  der  Diamanten  redet.  Vielleicht  liefert 
jemand  die  Geschichte  dieses  Begriffs. 

Das  Vorkommen  von  Krystalleu  war  also  von  jeher 
beobachtet  worden ,  nicht  aber  die  Regehnässigkeit  der 
Formen  und  darum  nicht  ihr  Wert  für  die  Einteilung.  Die 
Beobachtung  musste  er.st  genauer  werden,  mau  musste  erst 
die  Neigungswinkel  der  Krystallflächen  messen  lernen,  bevor 
man  die  andere  Beobachtung  machen  konnte ,  was  eigent- 
lich das  Unveränderliche  in  den  veränderlichen  Krystail- 
formen  des  gleichen  Körpers  sei.  Daher  kam  es,  dass  nicht 
nur  der  kühne  und  gelehrte  Caesalpinus  (im  IG.  Jahrhundert) 
sagen  kounte:  „Leblosen  Körpern  eine  bestimmte  unver- 
änderliche Gestalt  zuzuschreiben,  scheint  mit  der  Vernunft 
nicht  übereinstimmend  zu  sein,  denn  es  ist  das  Geschäft  der 
Organisation  bestimmte  Gestalten  su  «raeugen;**  ja  selbst 
noch  Bttffott  leugnete  den  konstanten  Gliankto:  der  Krystalle 
und  erklärte  ihre  Gestalten  für  sweideutiger  als  irgend  ein 
andres  Eennzdehen  der  üniersehetdting  von  Ifineralien. 
Erst  der  grosse  NomenUator  der  Botanik,  erst  Linn^  kam 
mit  Bewusstsein  auf  den  Gedanken,  dass  man  die  Kiyatall- 
formen  zw  Klassifikation  der  Mineralien  bentttien  könnte, 
so  wie  er  die  lange  Tor  ihm  entdeckten  (^eeohlechtrtdle  der 
Pflanzen  zur  Klassifikation  dieser  Organismen  benUtat  hatte. 
Wire  Idnn4  ein  modernerer  Katurphilosoph  gewesen,  er 
lültte  vieUeicht  zwiachen  der  Krystallisation  und  dem  Ge- 
schlechtsleben Aehnlichkeiten  gesucht  und  gefunden;  ein 


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510     VIl.  Tennini  tecbnici  der  mduktirexi  WisaeiuchafteQ. 


geistreicher  Mann  könnte  sogar  Beziehungen  zwischen  dem 
Geschlechtsleben  und  dem  Dimorphismus  der  Krystalle  suchen, 
um  bald  zu  entdecken,  dass  er  im  besten  Falle  nur  hUbsche 
Metaphern  geredet  hätte.  Der  nUchteme  Linnd  bildete  sich 
auf  seine  Lehre  von  der  krystalUnischen  Klassifikation  nicht 
viel  ein.  Lithologia  mihi  cristas  non  eriget,  sagt  er  einmal; 
seine  BeschMdenheü  war  nicht  nnrü^tig,  weil  auch  er 
noch  weit  entfiemt  war  von  einer  geometrisch  genauen  Be- 
obachtung der  Krystalle ,  wdl  er  sich  mit  oberfllchHchen 
Aebnliclikeiten  begnügte  und  z.  B.  den  Alaun  und  den 
Diamant  in  eine  und  dieselbe  Klasse  einreihte.  Erst  gegen 
das  Ende  des  18.  Jahrhunderts  begann  man  regelmassig 
und  pedantisch  die  Krystallwinkel  zu  messen  und  gelangte 
so  zu  der  Ueberzeugung  von  der  Besl&idigkeit  der  wesent- 
lichen Form.  Eine  ungeheuere  alexandrinische  Arbeit  war 
vorher  nötig  gewesen.  Noch  1808  konnte  ein  Franzose  drei 
Quartbände  allein  über  die  Krjstslleracliräiungen  eines  ein* 
sigen  Minerals,  des  Kalkspats,  schreiben,  wdl  dieses  Minersl 
gegen  60  verschiedene  Gestalten  und  gegen  700  Abarten 
aufweist.  Das  Ende  dieses  ganzen  Untersuchungseifers  war, 
dasa  die  Krystallform  als  Grundlage  einer  neuen  Klassi- 
fikation der  Mineralien  angenommen  wurde,  ohne  dass  über 
den  innem  Zusammenhang  dar  mineralogischen  Form  und 
der  chemischen  Zusammensetzung  irgend  etwas  behauptet 
werden  konnte.  Nicht  einmal  zu  einer  eigentlichen  Hypo- 
these kam  es.  Es  war  nur  die  Vermutung  vorhanden,  dass 
wohl  ein  Zusammenhang  bestehen  mOge*  Man  war  sehr 
froh,  als  Mitscherlich  (1822)  den  sogenannten  Isomorphismua 
entdeckte;  aber  auch  diese  Beobaditung,  dass  nftmUdi  ge* 
wisse  Elemente  in  gleichen  YerbindungMi  die  gleichen  Formen 
annehmen,  war  mehr  kurios  ab  erklärend. 

Ein  natOrliches  mineralogisckes  System  ist  darum  bis 
zum  heutigen  Tage  nicht  vorhanden.  Auf  Ghrund  der  krystal- 
linischen  Vorarbeiten  von  Hauy  und  Werner  liatte  Mobs 
(1820)  ein  kOnstliehes  System  aufgestellt,  aber  selbst  noch 
an  der  Möglichkeit  eines  natOrlichen  verzweifelt;  seitdem 
nähert  man  sick  wieder  einer  mehr  chemiseken  Einteilung 


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Boianüc 


511 


der  Mineralien.  Aber  die  erwähnte  SrlioiduDg  in  eine  cberai- 
sclie  und  in  eine  mineralogische  Wks.seiischaft  ist  schon  ein 
äusseres  Zeichen  daflh-,  dass  selbst  in  diesen  Köriiern  der 
leblosen  Natur  ein  auch  nur  annähernder  Zusamuieuhang 
zwischen  Stoff  und  Form  noch  nicht  entdockt  worden  ist. 
Und  so  kann  man  wohl  sagen,  dass  die  technische  Sprache 
der  Mineralogie  bis  zur  Stunde  noch  nicht  einmal  den  Er- 
kenutniswert  unserer  Umgangssprache  erreicht  hat;  erst 
wenn  zwischen  Chemie  und  Mineralogie  durch  eine  brauch- 
bare Hypothese  eine  feste  Brücke  geschlagen  wäre,  erst 
dann  hätte  die  technische  Sprache  der  Mineralogie  den  so 
fragwürdigen  Wert  unserer  Alltags  worte. 

Es  ist  nun  sehr  auffallend,  d&sn  die  technische  Sprache 
der  Mineralogie  noch  hinter  der  der  Botanik  zurücksteht. 
Die  Thatsache  .selbst  äu.ssert  sich  z.  B.  darin ,  dass  es  seit 
hundert  Jahren  die  Sehnsucht  der  Mineralogen  ist,  eine 
solche  Nomenklatur  zu  erreichen,  wie  sie  die  Botaniker  seit 
Linn^  besitzen,  und  dass  die  Namen  der  wissenschaftlichen 
Botanik,  wenn  auch  nicht  systematisch,  sondern  mehr  nach 
dem  Zufall  der  Mode  und  des  Nutzens,  Gemeingut  jedes 
Gärtnergehilfen  und  jedes  Gärtnereibesitzers  geworden  sind, 
wihroKl  hSchstenfl  die  chonisclieii  NomenkUturen,  niefat 
aber  die  minenlogiselieii,  dnreh  Droguenkandlimgen  ab  mid 
in  in  die  Gemeinspradie  eindringen.  Diese  Thatsaebe  isl; 
darum  aufÜillend,  winl  naeb  d«*landlftufigen  Weltansehanung 
die  imorgaiiiscbe  Welt  80?iel  leicbter  au  begreifen  ist  als 
die  organiscbe.  Wir  freilich  wieaen,  da»  die  Erscbdnungen 
dea  Lebens  um  nichts  riltaelToUer  sind  als  z.  B.  die  physi- 
kalischen Erscheinungen  des  Stesses,  wir  wissen,  dass  die 
Uechamk  der  Natur  im  Fortgang  der  menschliehen  Er- 
kenntnis noch  schwerer  erU&rbar  sein  wird  als  die  Organi- 
sationen; wir  werden  uns  also  Über  die  bessere  Nomenklatur 
der  Botanik  nicht  wundem. 

Es  kommt  noch  eins  dasu,  um  das  Pflanienreich  leichter  Bottafk. 
Uassiftderen  su  lassen  ab  das  Mineralreich.  Bei  den  Pflanzen 
wird  das  unbekannte  natOrliche  Systinn  auf  aUe  FSlle  em- 
facher  sein  als  es  das  ebenso  unbekannte  natOrliche  System 


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512  Tenoini  technici  der  induktiven  Wi»ensohaften. 


der  Mineralien  ist.  Es  ist  charakteristisch  für  das  Oe- 
schlechtsleben  der  Pflanzen  wie  der  Tiere,  dass  nur  Imli- 
vidueii  von  grosser  Aehnlicbkeit  (von  der  gleichen  -Art'') 
sich  fruchtbar  miteinander  verl^inden  können.  Wir  können 
auch  in  unsuren  botanischen  Gärten  eine  Kombination  von 
Vergissmeinnicht  und  Eiche  nicht  herstellen.  Das  Geschlerhts- 
leben  der  Mineralien  —  wenn  ich  so  sagen  kann  —  ist 
unendlich  freier.  Es  scheint  beinahe,  als  ob  zwischen  den 
Elementen  in  der  Wirklichkeit  so  viele  Kombinationen  mög- 
lich wären,  als  auf  dem  Papier  mathematisch  ihrer  aus- 
gerechnet werden  können.  Und  da  die  Worte  nur  Erinne- 
rungen an  die  Wirklichkeit  sind,  so  muss  die  Sprache  den 
Zufallserscheinungen  der  Mineralogie  hilfloser  gegenüber- 
stehen, als  den  von  der  Natur  besser  geordneten  Zufalls- 
erscheinungen der  Botanik.  Auch  ist  das  Eindringen  dar 
Botanik  in  das  Interesse  und  damit  in  die  Sprache  der 
Menachm  frlllier  aimwetKiHi  als  das  Eindringen  der  Ene 
und  Steine.  Hbsbr  muaston  die  Mensdien,  lange  bevor  sie 
sich  Werkaeuge  schufen.  Trotadem  haben  wir  auch  an  der 
techniscben  Sprache  der  Botanik  einen  Schata  von  sehr 
aweifelhaftem  Werte.  Eine  Geschichte  der  botanischen  Aus- 
drucke w&re  ein  grosser  und  hübsdier  Beitrag  zur  Geschichte 
des  Menschengeistes. 
jKy-  Die  naive  Art  antiken  FabuHerens  ist  allerdings  flber- 
intiM*.  ^yQ^oQ  £^  äusserstes  Beispiel  solchen  unwissenschaft- 
lichen Denkens  mag  uns  die  griechische  Legende  Ton  der 
Entstehung  der  Hjaainthe  sein ;  Legende  und  Naturgeschichte 
Termochten  die  Griechen  ja  doch  noch  nicht  Toneinander 
zu  trennen. 

Lrgend  eine  uns  unauffindbare  Volksetymologie  mag 
den  Kamen  dieser  Blume  und  den  Namen  des  griechischen 
Allerseelen-Festes,  der  Hyakinthien,  in  Yerbindung  gebracht 
haben;  und  wie  wir  im  Schlafe  einen  Sinneseindruck  zu 
einem  Traum  ausgestalten,  so  bildeten  wohl  die  Griechen 
aus  Volksetymologien  nnd  Zufallsbeobachtungen  ihre  Legen- 
den, Sie  sah^  in  den  Blumenblittem  der  Hyazinthe  die 
Buchstaben  A  I,  welche  zusammen  im  Griechischen  den 


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Botanische  Klassifikation. 


513 


gewöhnlichsten  Ausruf  des  Schmenes  wiedei^eben.  Daraus 
wurde  eine  ganze  Geschichte.  Der  Sonnengott  des  Festes 
der  Hyakmthien  wurde  mit  der  Blume  in  persönliche  Ver- 
bindung gebracht.  Hjakinthos,  nalfflrlieh  ein  EOnigssohn, 
war  der  liebling  Apollons.  Bdm  S^piele  wird  Hjakintlioa 
getötet,  er  stirbt  mit  dem  griechischen  Schmerzensmf  ai 
auf  den  läppen  nnd  aus  seinem  Blute  ISsst  Apollon  die 
Blume  henrorsprieesfliit  welche  diese  Inteijektion  f&r  griechi- 
sdie  Ai^n  xeigt.  Man  denke  sich,  dass  unser  Tolk  den- 
jenigen  unter  den  Fuchsschmetterlingen,  welcher  auf  der 
Unterseite  seiner  Flttgel  gani  deutlich  die  Figur  eines  kleinen 
deutschen  Fraktnr-c  bildet,  in  ähnlicher  Weise  entstehen 
Hesse.  Geradezu  abgeschmackt  wird  die  Geschichte,  wenn 
ein  lateinischer  Dichter  sie  iu  seiner  Sprache  Tortrigt,  wah- 
rend doch  in  der  lateinischen  Sprache  der  Schmensensruf 
ai  unbekannt  ist.  Solche  Albernheiten  finden  sich  hftuiig 
in  Ovids  «Metamorphosen*,  von  denen  —  seltsam  genug  — 
die  Anf&nge  der  modernen  Pflansenmorphologie  ihren  Namen 
genommen  haben. 

Es  dflnkt  uns  ungeheuerlich,  solchen  Fabeki  in  der  Ge-  notMd> 
schichte  der  technischen  Ausdrücke  zu  begegnen.  Und  doch 
war  das  alles,  solange  man  an  die  Fabeln  glaubte,  nicht  skatton. 
anders  als  manche  andere  Nomenklatur  der  Botanik,  die  auf 
den  Glauben  alter  Gelehrter  und  verbreiteter  Volkstradi- 
tionen gegründet  war.  Was  die  Menschen  interessierte,  als 
Nahrungsmittel  oder  als  Arzneipflanze,  das  wurde  besonders 
benannt;  und  der  Glaube  an  die  Holkraft  gewisse  Pflanzen 
mag  oft  heute  noch  so  legendarisch  sein  wie  die  Hyasmthen- 
fobel,  die  annahm,  dass  die  Natur  mit  den  zufftlligen  Schrift- 
zeidien  der  zufftUigen  griechischen  Sprache  operiere.  War  ' 
doch  die  Botanik  in  ihren  Anfingen  und  noch  weit  ins 
Mittdaltor  hinauf  die  griechische  Bezeichnung  für  ein 
Krftuterbuch.  Das  Werk  des  Dioskorides,  welches  der  Thor- 
heit  mittelalterlicher  Naturspekulanten  flir  das  klassisdhe 
Werk  der  Botanik  galt,  beschrieb  etwa  sechshundert  Nutz- 
pflanzen. An  eine  systematische  Nomenklatur  brauchte  man 
bei  solcher  Armut  nicht  zu  denken.  Als  aber  nach  don 
Maniliaer,  B«ltxftc«  sa  «Ui«r  Kritik  dar  Spiaeh«.  m.  88 


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5t4     VIL  Termini  tecbnici  der  iiiduktiven  Wüäemchaften. 


Wiedwenrachen  der  Wksensebftfteii  sehlksslidi  viele  Tsu- 
aende  Yon  Pflaiiaen  l>eobaelitel  und  besehrieben  waran,  wurde 
die  Menge  der  Namen  unbequem.  Es  gehört  svm  Weeen 
der  SfKrachef  durch  ganemsame  BeMidmung  ahnlwher  Er- 
innerungen du  Gedftehinis  lu  enfksten.  Eine  Kksdfikaik» 
der  Pflanzen  wurde  wQnschenswert  Aber  auch  damak 
noch,  im  16.  Jahrhundert,  waren  eineneits  immer  nur 
die  wiridichea  oder  vermeinilicben  NutEpflaaaen  beobachtet 
werden  und  anderNihB  seheiterte  die  Beschreibung  an  dem 
Mangel  dessen,  was  ich  wieder,  wie  bei  der  Chemie,  die 
Ghwnmatik  der  Wissenschaft  nennen  m<klite.  Beisfnelswdse 
waren  die  Beceichnungen  «gesftgt*,  »gesahnt*,  «gekerivt*, 
agewimpert*  u.  s.  w.  fbr  die  Formen  der  Blattnader  nodi 
nicht  ▼orhanden,  weil  die  ihnliohen  Formen  eben  noeh  nicht 
▼eiglichen  waren.  Es  fehlten  die  Worte,  weil  die  Anfme^- 
samkeit  gefehlt  hatte.  Die  Einteilungen  der  Fflaaaen,  die 
aus  ahen  Zeiten  herrOhren,  erscheinen  uns  hindiseh;  so 
wenn  der  Klassiker  IKoskorides  seine  sechshundett  Pflanaen 
in  aromatische,  emfthrende  und  wdneraeugende  untsfechieden 
hatte.  Wir  llcheln  darüber;  wir  liehein  aber  nicht,  wenn 
wir  selbst  immer  noch  nach  den  elementarsten  Gesiehtfr- 
ponkten  von  Btamen,  Strftuchem  und  Kräutern  reden. 

Als  nun  die  unObersehbar  werdende  Menge  der  be- 
kannten Pflansen  eine  Einteilung  in  Arten  und  Unterarten 
notwendig  machte,  da  geschah  was  immer  geschieht:  das 
Bedürfnis  nach  einer  Stütze  des  Gedächtnisses  war  stärker 
als  das  Bedürfnis  nach  wissenschaftlicher  Erkenntnis,  und 
ein  künstliches  System  war  fertig,  bevor  man  an  ein  natür- 
liches System  auch  nur  denken  konnte.  Immerhin  war  es 
ein  geistreicher  Einfall  dee  schon  genannten  Caesalpinus, 
dass  er  zur  Nomenklatur  der  Pflanzen  eine  der  wichtigsten 
Fflaoienerscheinungen  benützte,  die  Fruchtform*  Das  war 
bequem  für  das  künstliche  System,  weil  man  je  nach  der 
Zahl  des  Samens  und  der  Samenbehälter  von  Eins  weiter 
Tordringen  konnte ;  es  war  auch  erfreulich  für  die  Sehnsucht 
nach  einem  natürlichen  System,  weil  die  Wichtigkeit  der 
Frucht  für  die  Pflanze  auf  der  Hand  lag.   Die  Einteüung 


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Botanische  KlaMükatio«. 


515 


nach  Samen  und  Samenbehftliern  war  doch  ein  Fortschritt 
gegen  die  alphabetische  Anordnung.  Was  dem  Caesalpmus 
vor  seil  webte,  das  ist  heute  noch  das  Ideal  einer  systemati- 
schen Pflanzennomenklatur:  ein  Einteilungsgrund,  der  ähn- 
liche Pflanzen  unter  einer  gleich  benannten  Klasse  Tereinigt. 
Und  niemand  scheint  zu  bemerken,  wie  dabei  die  wirkliche 
Natur  der  Sprache  spottet.  Denn  wir  kennen  nicht  das 
natürliche  System  der  Pflanzen;  und  so  ist  uii.sei  Kriterium 
daför,  ob  der  Ein  teil  ungsgnmd  gut  gewählt  war,  immer 
wieder  von  eiuer  laienhaften  und  naiven  Vergleichung  der 
Pflanzen  abhängig. 

Man  kann  fast  jede  wissenschaftliche  Neuerung,  die 
dann  von  der  offiziösen  Wissenschaft  eine  epochemachende 
Entdeckung  genannt  wird,  besser  verstehen,  wenn  man  sie 
mehr  als  Sehnsucht  denn  als  Erfüllung  auffasst.  Die  neuen 
Antworten  sind  nur  neue  Fassangen  der  alten  Frage.  Die 
Hypothesen,  welch«  man  für  Bettungen  ausgibt,  sind  nur 
Hilferui^.  Auch  die  Elasnfikntlon  des  Caeealpinus  war  keine 
Hilfe,  sondern  mir  ein  Hilfernf.  So  vkltf  Uühe  man  Ml 
aneh  gab,  es  fehlte  nach  wie  vor  an  einer  technisdien 
Sprache  der  Botanik,  die  Pflaasenbeschrdbongen  waren  nn* 
TersttadUdi,  weü  jeder  Botaniker  seine  eigene  Sprache 
redete.  So  konnte  es  kommen,  wie  CnTier  enlhlt,  »daas 
es  beinahe  unmöglich  geworden  war,  die  Ton  den  Toren- 
gegangenen  Botanikeni  besprochenen  0ew8cfase  wieder  su 
erkennen,  da  dreissig  oder  vierzig  Botaniker  einer  nnd  der^ 
selben  Pflanse  ebenso  viele  verschiedene  Namen  beigelegt 
hatten*.  Man  achte  dabei  darauf,  dasa  damak  alle  Bota- 
niker der  verschiedenen  Linder  lateinisch  schrieben.  Trota- 
dem  gab  es  keine  gemeinsaine  botanische  Sprache.  Diese 
musste  erst  erfunden  werden.  Eine  AuseinaDdersetiung  Über 
die  erwihnte  Synonymik  derPflaasen  musste  vorausgehen; 
sie  ist  1G23  im  Pinax  thaatri  botaaici  erfolgt.  Es  ist  ein 
Fall,  der  kaum  seines  gleichen  hat  in  der  Geschichte  de^ 
Menschengeisfees.  Wie  nach  der  BibeUnShlnng  der  Kebe 
Gott  dem  Adam  die  Geschöpfe  vorftthrte,  damit  er  sie  be- 
nenne, so  einigten  sich  jetrt  die  Katarforscher  daiflber,  was 


516  Termini  iechnioi  der  uidukti?en  Wi«ien8chaftea. 

sie  fortan  imier  bestimiiittta  Namen  Tentehen  «dlteii.  Es 
ist  der  Ursprung  einer  Sprache  in  historischer  Zeit 
ubb«.  JStwB  hundert  Jahre  erst  nach  den  Aufr&nmungsarbeiten 
dieser  Sjuonjrmik  konnte  der  berühmte  Linn^  mit  seiner 
neuen  umfassenden  Nomenldstur  der  Pflanzen  henrortreten. 
Bis  auf  seine  Zeit  war  die  Sprache  der  Botanik  eine  Art 
isolierende  Sprache  gewesen.  Und  wie  nur  ein  wenig  in* 
teUigentes  Volk  bequem  mit  seiner  isolierenden  Sprache  aus- 
kommt, wie  dagegen  a.  B.  die  Chinesen  EuBBtgriJFe  —  es 
sind  Kunstgriffe  rom  Standpunkt  unserer  Sprache  —  an* 
wenden  mttssen,  um  ihre  viele  Tausende  von  Begriffon  den- 
noch Übernchtiich  durch  ihre  isoliorende  Sprache  auszu- 
drucken,  so  war  es  notwendig  geworden,  die  Unzahl  von 
beobachteten  Pflanzen  endlich  in  eine  systematische  Sprache 
zu  zwingen.  Das  Wesen  unserer  flektierenden  Sprache  be- 
steht doch  darin,  dass  durch  die  Kombination  von  emer  be- 
schrSnkten  Anzahl  Ton  Stammsilben  mit  einer  beschrinkten 
Anzahl  Yon  Bildungssilben  eme  ungeheuere  Menge  von  ein- 
deutigen Ausdrucken  zu  stände  kommt.  Ich  habe  irgendwo 
gesagt,  dass  ein  vollstibidiges  Wdrterbuch  der  deutschen 
Sprache  z.  B.  nidit  nur  das  Verbum  «blflhen*,  sondern 
sämtliche  Konjugationsfonnen  des  Wortes  enthaltoi  mUsste, 
ebenso  sSmtl^e  Casus  des  Wortes  «Blttte*^,  dimtliche 
formen  des  Partizips  «blühend*  u.  s.  w.  u.  s.  w.  Uns  sind 
die  Formen  der  Grammatik  aber  so  gdftufig,  die  Analogie 
bebertacht  uns  so  sehr,  dass  wir  uns  im  Wörterbuche  mit 
einor  einzigen  Form  begnUgen.  Anders  steht  es  mit  einem 
Wörterbuche  der  vorhandenen  Pflanzen.  Die  Natur  arbeitet 
nicht  wie  der  Sprachgebrauch,  der  von  jedem  Verbum  jede 
mögliche  Form  des  Paradigmas  im  gegebenen  Augenblicke 
bildet.  Das  Wörterbuch  der  Botanik  ist  etwa  so  wie  ein 
SpezialWörterbuch  des  Homer,  welches  einzig  und  allein  die 
bei  Homer  Torhandenen  Wortformen  aufnimmt,  diese  aber 
▼oOstindig.  Als  nun  Linne',  mit  dem  erstaunhcben  Fleisse 
eines  unpbilosophiBchen  Kopfes,  daran  ging«  eine  Nomen- 
klatur der  Botanik  zu  schaffen,  hatte  er  vorher  die  weit 
schwierigere  Aufgabe  zu  bewältigen,  fttr  das  neue  Wörter^ 


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517 


bucli  ent  eine  Qrammatik  su  erfinden.  Ist  die  tecbnisclie 
Sprache  der  Bol»mk  dmreli  ihn  ent  za  einer  flektierenden 
Sprache  geworden,  so  musste  er  damit  anfangen,  die  Endnngs- 
sEben  selbst  zu  erfinden.  Qanz  ohne  VolapQk  konnte  es 
dabei  nicht  abgehen.  Dadurch  unterscheidet  sich  ja  die 
Entstehung  der  Sprache  swischen  den  Menschen  von  der 
Erfindung  der  Sprache  durch  einen  Einseben,  dass  ein  Volk 
mit  der  Sprache  seinen  Kenntnissen  oder  Erinnerungen  nach- 
hinkt, dass  der  Einiefaie  gern  sjstematisch  vorgeht  und  fOr 
den  künftigen  Zuwachs  an  Beobachtungen  Torans  sorgen 
möchte. 

Ein  anderes  kommt  Unzu.    Auch  dem  nüchternsten 

Forscher  drängt  sich  zwischen  die  Freude  an  der  Be- 
schreibung die  Sehnsucht  nach  einer  Erklärung.  Jeder 
Forscher  ohne  Ausnahme  hält  den  neuen  technischen  Aus- 
druck, den  er  selbst  fUr  eine  neue  Beobachtung  zuerst  ein- 
geführt hat,  bald  nachher  unfreiwillig  für  etwas  wie  eine 
Erklärung  dieser  Beobachtung.  Könnte  man  mit  seinen 
Gedanken  Uber  die  gewohnte  Sprncb«'  Linausgeliinpen ,  so 
wUrde  ich  sagen:  jeder  neue  technische  Ausdruck  sei  eigent- 
lich nur  beschreibend,  nur  ein  Adjektiv;  dass  man  ihn  als 
Substantiv  gebraiu'he,  sei  schon  der  Anfang  seines  Miss- 
brauchs. Die  Menschensprache  wäre  philosophischer,  wenn 
sie  überhaupt  keine  Substantive  bes'asse. 

Linn^  hat,  als  er  eine  Grammatik  und  Lu<rik  fDr  seine 
Pflanzennomenklatur  schuf,  etwa  tausend  technische  Aus- 
drücke teils  besser  definiert,  teils  neu  aufgestellt.  Es  war. 
ihm  klar,  dass  diese  Adjektive  nur  zur  Beschreibung  der 
Pflanzenerscheinungen  und  nicht  zur  Erklärung  des  Pflanzen - 
lebons  dienen  konnten.  Einen  adjektivischen  Sinn  haben 
nicht  nur  die  eben  erwähnten  Bezeichnungen  für  die  Form 
der  Blattrnnder ,  ?n?tfiem  auch  z.  B.  die  substuntivischeti 
Ausdrücke  für  den  Blütenstand.  Der  Vorgang  im  Kopfe 
Linne's  war  derselbe,  wie  wenn  eiti  Kinl  sprechen  lernt. 
Es  fielen  ihm  AehnHchkeiten  zwischen  Bliiti  nständen  auf, 
die  man  vor  ihm  nicht  so  genau  oder  gar  nicht  beachtet 
hatte.    Von  der  bekanntesten  Blüte  oder  Frucht  nahm  er 


518     Vn.  Tennini  teehmci  der  udnktiTeii  WuMOMliftfton. 


dann  metaphorisch  die  I'e/.PK  Imiing  lür  iihnliche  Gebilde. 
Als  er  aber  erst  selbst  die  ik  uen  technischen  Ausdrücke 
besass,  war  er  doch  wiedt  r  l'i  ufigt,  den  Blutenstand  für 
etwas  7'i  halten,  was  dem  Ptiaazeuleben  wesentlich  sei. 
Er  vertit'l  nicht  in  Abstrusitäten ,  wie  das  Mittehdt'^r  sie 
liebte,  weiches  vielleicht  von  einer  Doldität,  Hispitüt  und 
dergleichen  gesprochen  hatte.  Aber  Spuren  einer  solchen 
Selbsttäuschung  finden  sich  dennoch  in  seinem  Denken,  in 
der  Unklarheit  darüVier,  ob  sein  System  ein  natürliches  oder 
ein  künstliches  sei.  Hat  er  doch  sogar  (er  war  Arzt)  die 
Krankheiten  in  ein  System  von  Worten  bringen  wollen. 

Trotadeni  ist  Linne'  mit  seiner  Nomenklatur  di  i-  Tflanzen 
vielleicht  der  grösste  Sprachbildner  geworden,  den  je 
gegelion  hat.  Nur  darf  man  sein  Ptlanzensystem  mit  semer 
neu»  11  Namengebung  nicht  verwechseln.  Auch  darf  man 
nicht  vergessen,  d&f-s  nicht  die  inneren  Vorzüge  feiner 
Namengebung  so  bewunderungswürdig  sind,  sondern  dass 
der  Erfolg  sie  erst  brauchbar  machte.  Es  war  notwendig 
geworden,  Ordnung  zu  schaffen,  und  da  Linne  im  gegebenen 
Moment  und  mit  ungeheurem  Fleiss  einen  praktischen  Weg 
einschlug,  so  wui  de  seine  zunillige  Nomenklatur  eine  Macht. 
Als  vor  etwa  hundert  Jahren  die  Regierungen  aus  polizei- 
lichen Gründen  Ordnung  in  der  Kenntnis  ihrer  Judenschaft 
herstellen  wollten  und  darum  den  Juden  auferlegten,  sich 
einen  Familiennaiucu  und  uazu  einen  Vornamen  beizulegen, 
wie  es  bei  anderen  Leuten  üblich  geworden  war,  da 
entetand  plötzlich  in  ähnlicher  Weise  eine  neue  Xomen- 
khitur;  von  dem  Geschmack  der  Zeit  und  dem  mehr  oder 
weniger  nationalen  Standpunkt  des  einzelnen  Hausvaters, 
auch  von  seinem  Bildungsgrade  hing  es  ab,  ob  er  sich 
Moses  Mendelssohn,  Moses  Tulpenthal  oder  Moses  Pulver- 
bestandth(?ü  neunte;  auch  die  historischen  und  unjüdischen 
Namen  Müller,  Schmidt  u.  s.  w.  fehlten  nicht.  In  der  ge- 
waltigen NomenkJiLtur  Linnes  finden  wir  die  Müller  und  die 
Schmidt,  aber  auch  die  Mendelssolin ,  die  Tulpenthal  und 
die  Pulverbeatandtheil.  Er  hatte  sich  die  polizeiliche  Auf- 
gabe gestellt  f  jede  einzelne  Pflanze  dadurch  mit  einem 


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519 


Eigennamen  zu  rerseben,  daae  er  ihr  einen  Familiennam«i 
und  einen  Taofnamen  beilegte,  während  frühere  Botaniker 
die  Urnen  bekannten  Pflanzen  eigenilicli  mit  dem  Namen 
mehr  beadirieben  als  benannt  hatten.  Es  gab  Blumen,  sit 
deren  Benennung  oder  vielmehr  Beschreibung  früher  bis  zu 
aeben  Worten  gehört  hatten;  das  waren  beschreibende 
Worte  der  Umgangssprache.  Linn^  setzte  dafür  einen  Fa* 
roilien-  und  einen  Taufnamen,  schuf  dadurch  erat  einen 
techniscben  Ausdruck,  der  dann  wieder  mitunter  in  die 
Umgangssprache  geriet.  Es  versteht  sich  von  selbst,  dass 
der  ungeheure  Erfolj^  der  Linn^?'schen  Nomenklatur  nur 
relativ  ZufallsRache  war.  Er  war  der  weitaus  grösst«  Ken- 
ner und  Sammler  von  Pflanzenarten  und  nahm  daraus  seine 
Autorität  zu  einer  neuen  Klassifikation.  Üie  neuen  Namen 
selbst,  insbesondere  die  Wahl  der  heute  noch  gültigen  Tri- 
vialnanicn  gingen  aus  seinem  individuellen  Geschmack  her- 
vor, der  nichts  mit  seiner  Grelehrsamkeit  zu  thun  hatte;  die 
grösstc  Eleganz  seiner  neuen  botanischen  Sprache  bestand 
in  ihrer  Kürze. 

Es  besteht  aber  ein  innerer  Zusammenhang  zwisehen 
der  Nomenklatur  Linnes  und  seinem  berühmten  Versuche 
emes  k(5nstlicben  Systems.  Für  das  neue  Wörterbuch  der 
Pflan?  II  i  rfiurhte  >  i  »  ine  neue  beschreibende  »Sprache,  eine 
Fülle  ^iMi;ui  (letiniertei  Adjektive;  als  er  nun  dns  Pflanzen- 
reich von  oben  nach  unten  in  Klassen,  Or(Jijiin;::jen .  (Je- 
scUlecliter  und  Arten  einteilte,  brauchte  er  für  dieses  künst- 
liche System  Einteilungsgründe,  welche  er  doch  unmöglich 
anders  woher  nehmen  konnte,  als  von  seiner  neuen  Gram- 
matik, von  den  adjektivischen  Merkmalen.  Ueberdies  w  llt  i 
er  nicht  ein  bloss  künstliches  System  aufstellen ,  sondern 
womöglich  mit  dem  künstlichen  System  das  natürliche 
treiben.  In  seinem  KojyU  Nvar,  was  nicht  erst  bewiesen  zu 
werden  braucht,  eine  vo*  läuiige  Ordnung  der  ihm  bekannten 
Pflanzen  vorhanden,  bevor  er  äusserlich  Ordnung  machte. 
Sein  Ideal  war  ein  natürliches  System;  instinktiv  griff  er 
nach  demjenigen  iius.^erlichen  }\inteilunsrsgrunde,  der  der 
Entwickelung  der  Statur  am  näcii^ten  zu  liegen  schien.  Es 


520     Vil.  Temiai  teehnioi  der  induktiveii  WiweMchafteM. 

lag  auf  der  üand ,  dass  ganz  Unähnliches  verbunden  und 
höchst  Aehnliches  getrennt  worden  wäre,  wenn  er  z.  B,  den 
Blütenstand  oder  die  Form  des  Blattraudes  zum  Einteilungs- 
grunde  genoniraen  hätte.  Wohl  gemerkt:  das  war  nicht 
etwa  logisch  zu  erscUiessen,  sondern  nur  an  der  Wirklich- 
keitswelt zu  beohachten.  Es  liegt  kein  logischer  Grund 
vor,  we!?halb  die  Natur  nicht  verwandte  Pflanzen  mit  gleich 
geformten  Blattrandern  liätte  versehen  sollen.  Vor  ihm 
hatte  man  die  Pflanzenfrueht  zum  Einteilungsgrunde  ge- 
nommen. Linn^  wählte  äusserlicher  und  erfolgreicher  die 
ziffermässigeu  Unterschiede  in  den  Zeugungsorganen.  Zahl 
und  Lage  der  Samenfäden  und  Samenwege  waren  für  jeden 
Schulknaben  leichter  zu  bemerken. 

Die  Klassifikation  des  iUlan.^enreichs  war  eine  soge- 
nannte lojPfi.sche  Arbeit.  Wir  werden  aa  unsere  logischen 
Untersuchungen  erinnert,  an  das  Ergebnis,  dass  der  Begriff 
bereits  das  Ihieil  und  den  Schluss  niitenthalt«,  wenn  wir 
sehen,  wie  Linnö  sich  abquält,  neben  seinem  künstlichen 
System  das  natürliche  System  zu  erkennen.  Linne  sagt  ein- 
mal: .,Die  nattirlichen  Ordnungen  können  nur  aus  der  Be- 
trachtung, nicht  eines  oder  mehrerer,  sondern  nur  aus  der 
Betrachtung  aller  Teile  einer  Pflanze  hervorgehen;  —  die- 
selben Organe  kdmien  für  einen  Teil  des  Systems  sehr 
wichtig  und  wieder  für  einen  andern  Teil  ganz  unwichtig 
aein;  —  das  Gesehlecht  (Qenus)  wird  nicht  von  dem  Cha- 
rakter, sondern  der  Charakter  wird  von  dem  Geschlecht 
bestimmt;  —  der  Charakter  ist  notwendige  aber  nicht  um 
das  Geschlecht  su  bestimmen,  sondern  nmr  es  zu  erkennen/ 
Whewell  tadelt  daran,  dass  Linn^  sich  demnacb  bm  der 
Aufstellung  der  Ordnungen  auf  eine  Art  vorläufigen  In- 
stinktes Terlasse.  Das  ist  ja  aber  das  Wesen  der  Sprache, 
dass  sie  nichts  benennen  kann,  was  der  Mensch  nicJit  Tor- 
her  beobaditei  und  nadi  Aehnlichkeiten  Terglicben  hat.  Die 
AehnUehkeiten  aber  findet  der  menschliche  Verstand  immer 
nur  nach  seinem  persönlichen  Interesse  und  nicht  objektir. 
Immer  geht  der  Aufstellung  eines  Begrifls  das  instinktivo 
Vergleichen  voraus.  Ebenso  hat  die  Sprache  swischen  Hund 


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521 


und  Wolf  unterschieden  f  mcht  aber  zwischen  Mops  und 
Windspiel,  die  sie  beide  zu  dea  Hunden  rechnet.  Linn^ 
hatte  ganz  recht,  als  er  dem  Unbewussten  seinen  Anteil 
gönnte.  Und  er  ist  der  würdige  Vorläufer  Alexander  toq 
Homboldts,  wenn  er  sagt:  «Die  Eigensdiaft  einer  Pflanae 
lernt  man  auf  einem  geheinmisrollen  Weo:e  kennen.  Ein 
erfahrener  Botaniker  wird  auf  den  ersten  Blick  die  f^fianzen 
der  verschiedenen  Weltteile  unterscheiden ,  und  doch  wird 
er  verlegen  werden,  wenn  er  uns  die  Mittel  dieser  Unter- 
scheidung angehen  soll.  So  haben  die  afrikanischen  Pflan- 
zen ich  weiss  nicht  welchen  traurigen,  trockenen,  finstern 
Anblick;  die  asiatischen  scheinen  etwas  Stolzes  und  Hehres 
Xtt  besitzen;  die  aus  Amerika  sdieinen  weich  und  heiter  zu 
sein,  und  die  Alpenpflanzen  haben  in  ihrem  Wachstum  etwas 
Hartes  und  Gehindertes. "  Mau  sieht  deutlich:  Linn^,  der 
die  beschreibenden  technischen  Namen  der  Pflanzenteile  für 
Jahrhunderte  hinaus  geordnet  und  definiert  hatte,  besass 
noch  keine  Sprache,  um  den  Charakter  einer  Pflanze  zu  be« 
schreiben.  Ebenso  gesteht  Linn«?  einmal  brieflich,  dass  ^ 
ihm  unmöglich  sei,  den  Charakter  der  einzelnen  Ordnungen 
an/.ugeben.  Natürlich:  benennen  lässt  sich  nur,  was  man 
vorher  beobachtet  hat,  und  beobachten  konnte  man  nur  die 
brutalen  Ziffern  der  Geschlechtsorgane. 

Die  —  ich  möchte  sagen  —  weise  ünkhirlieit  Linnes 
bezüglicli  des  künstlirhpTi  und  natürlichen  Systems  äussert, 
sich  in  einem  merkwürdigeu  Gespräche,  welches  er  1771 
mit  einem  Schüler  führte.  Dieser  Schüler,  Paul  Dietrich 
Oisoke,  nahm  Anstoss  daran,  dass  Linne  eingestand,  den 
Charakter  seiner  Pflanzf^nklassen  nicht  zu  kennen  und  den- 
noch die  Klassifikation  vorgeuommen  zu  haben.  Es  ging 
dem  ordniin<:>lirl)enden  deutsehen  Kopfe  gegen  den  Strirli. 
dass  eine  (Jruppe  ihren  Namen  von  einem  Merkmale  be- 
kommt ,  (Ins  sich  mit  dieser  Gruppe  nicht  deck*«;  wie  das 
z.  B.  bei  den  Doldengewächsen  der  Fall  ist.  Der  Altin»  ister, 
so  erzählt  Giseke,  hnhf  dazu  gelächelt  und  tjerntm,  nicht 
auf  den  Namen,  sondern  auf  die  Natur  der  Dingi  /.u  achten. 
Das  weitere  Gespräch  zeigt  nun  wirklich,  dass  der  meta- 


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522     ^n.  Tennini  tedinici  d«r  iDitdrtlfeii  WuMnaehafteii. 


pborisdie  Nune  Doldengewächfle  niclit  rwlit  passen  will, 

weil  es  doldentragende  Pflanzen  gibt,  die  man  aus  anschau- 
liciiMi  Gründen  nicht  zu  dieser  Gruppe  rechnen  könne.  Und 
umgekehrt  gehören  zu  ihr  Pflanzen,  die  keine  Dolde  haben. 
Der  ordnungsliebende  Giseke  wollte  nun  aus  solchen  Aus- 
nahmsfäUen  neue  Uebergangsgruppen  gebildet  wissen.  Linn^ 
mag  immer  noch  gelächelt  haben,  als  er  erwiderte:  ^Ah, 
mein  lieber  Freund,  der  Uebergang  von  einer  Ordnung  zur 
andern  ist  ein  Ding,  und  der  Charakter  einer  Ordnung  ist 
wieder  ein  und  zwar  ein  «^anz  anderes  Ding.  Den  Ueber- 
gang kann  ich  wnhl  an<(eben,  aber  der  Charakter  einer  na* 
türlichen  Grup])e  kann  von  niemaml  anf^egeben  werden  .  .  . 
Sie  selbst  oder  ein  anderer  wird  die  Gründe  für  raeine  na- 
türlichen OrdmnvLrf'71  schon  finden,  nach  zwanzig  oder  viel- 
leicht nach  fünfzig  Jahren,  und  dann  wird  er  auch  wohl 
schrri.  dass  ich  recht  gehabt  habe/  So  finden  wir  m  einem 
glücklich  auf  uns  gekommenen  Gespräche,  wa^  üie  in  einem 
Lehrbuche  zu  flnden  wäre:  zugleich  den  Glauben  an  den 
Wert  einer  Klassifikation,  das  heisst  t'inp<  Sprachausschnitts, 
und  die  Ueberzeugunj^  vou  der  Unzulänglichkeit  der  Sprache 
und  ihrer  Worte.  Kurz  nachdem  icli  diese  mj^rkwilrdige 
Aeusserung  Linnes  trelesen  hatte,  hatte  ich  die  Freude  eines 
sehr  lehrreichen  *i>  -[»räches  mit  dem  allen  Virchow.  Mit 
weit  mehr  historischem  Sinn,  als  Linn^  ihn  besitzen  konnte, 
gab  mir  Virchow  auf  meine  Frage  ein  Privatissimum  über 
die  Geschichte  des  Begriffs,  den  man  im  Altertum  .Phlegma" 
nannte,  der  in  der  Neuzeit  einmal  Kolloid  genannt  worden 
ist  und  den  er  selbst  ins  (jriechische  zurück  übersetzte, 
als  er  ihn  als  Nervenglyon  wieder  in  die  Wissenschaft  ein- 
führte. Auch  er  zuckte  die  Achseln  und  lächelte  zustim- 
mend, als  ich  sagte,  das  sei  ein  Adjektiv,  aber  kein  Sub- 
stantiv; aber  auch  er  schien  lächelnd  zu  hoffen,  dass  mau 
oder  er  uach  zwanzig  oder  fünfzig  Jahren  wissen  werde, 
was  das  Wesen  des  vou  ihm  vorläufig  benannten  Nerven- 
glyons eigentlich  sei. 

Dieses  grosse  Beispiel  einer  geschlos-senen  Sprachgruppe, 
Linn^  Klassifikation  der  Pflanzen  nämlich,  ist  ungemein 


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528 


bezeichnend  für  Wert  und  Unwert  aller  Sprache.  Die 
französischen  Naturforscher  sträubten  sich  gegen  die  Kttnst* 

lichkeit  dieses  Systems  und  auch  unser  Haller,  weil  er  vor 
allem  Physiologe  war,  wollte  sieh  die  äusserlich  beschrei- 
bende Sprache  nicht  aneignen.  Dennoch  drang  sie  durch. 
(Es  ist  lehrreich,  dass  der  modernste  Kopi  der  Zeit,  dass 
Rousseau  das  Linne'sche  System  begeistert  aufnahm.  Frei- 
lich war  Kousseau  nebenbei  ein  arger  Pedant,  der  mit 
unerbittlicher  Konsequenz  z.  B.  Notenköpfe  abschaffte,  wie 
Sf)äter  sein  Schüler  Robespierre  Menschenköpfe.)  Man  mache 
sich  iinr  einmal  f^rn  Wert  einer  solchen  Klassifikation  ganz 
klar.  Für  die  Erkenntnis  des  Pflanzenlebens  isf  die  Nomen- 
klatur nl^sol'it  wertlos:  denn  niemals  ist  auf  die  durch  einen 
Namen  zusammengefasste  Gruppe  ein  Verlass,  solanirr»  Hie 
Physiologie  die  natürliche  Znsamraengehörij^'kpit  nicht  be- 
stätigt hat.  Es  kann  höchstens  die  vorläufige  Klassitikation, 
das  heisst  die  Aehnlichkeit  gewisser  äusserer  Teile  dem 
PflanzenphysioloQ'on  die  nabeließ-ende  Aufgabe  stellen,  nach 
der  ra  ixani^cli»  11  Aehnlichke  it  /.ii  forschen.  Dann  hat  aber 
nicht  der  iSanie  oder  das  W  ort  die  Frage  (gestellt,  sondern 
die  wirkliche  Aehnlichkeit  der  Teile.  Sehr  unbt-diutend 
ist  auch  der  Wert  der  Klassifikation  für  das  Gedächtnis 
des  eiuzelnen  Forschers;  trifft  er  auf  eine  neue  oder  auf 
eine  seltene  Pflanze,  so  wird  er  allerdings  sofort  an  eine 
Gruppe  erinnert,  der  er  sie  vorläufig  zuteilen  mag,  aber  er 
hat  von  der  Vermehrung  der  Zahl  keinen  Gewinn  für  seine 
Erkenntnis,  weil  er  doch  im  Grunde  nur  das  Wörterbuch 
vermehrt  hat,  den  Zettelkasten  seines  Gedächtnisses,  höchst 
wahrscheinlich  sogar  nur  den  realen  Zettelkasten  seiner  Ar- 
beiisstube.  Einen  fassbaren  Vorteil  hat  der  Bau  dieser 
Nomeäiklatur  wirklich  nur  zwischen  dfu  Menschen,  welche 
in  diesem  Falle  Fachleute  sind,  so  wie  die  Umgangssprache 
ihren  Hauptwert  zwischen  den  Mpuschcn  eines  Volkes  hat. 
Die  kün.siliihe  Nomenklatur  Linnes  hat  es  ermöglicht,  dass 
ein  Botaniker  jedesmal  weiss,  was  gememt  ist,  wenn  ein 
anderer  Botaniker  eine  Pfiauze  benennt  und  beschreibt;  das 
ist  alles. 


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524     VIL  Teraüiii  techmci  der  indoktiTen  Wiswucliafteii. 

Zoologie.        Die  Physiologie,  Aimtomie  und  Morphologie  der  Ftiau- 
zen  hat  seit  Linn^  —  wie  man  so  5?agt  —  ausserordentliche 
Fortschritte  gemacht.    Alles  in  allein  hat  man  sein  künst- 
liches System  ausgebaut,  sich   einem  natürlichen  System 
aber  durchaus  nicht  genähert.    Soll  icL  »ias  wenige,  was 
ich  von  diesen  Fortschritten  weiss,  zusammenfassen,  so  muss 
ich  sagen:  Arbeitsteilung  und  die  Hilfe  des  Mikroskops  hat 
eine  Menge  Dinge  beobachten  lassen  ,   die  früher  unbeob- 
achtet gebhebeu  waren;  zu  den  tausend  beschreibenden 
Worten  Linnes  sind  viele  andere  getreten,  aber  auch  ein 
neuer  Linn^,  der  freilich  not  thäte,  könnte  nicht  über  eine 
neue  künsÜiche,  beschreibende  Klassifikation  hinaus  gelangen. 
Zuletzt  ist  auch  Physiologie  der  Pflanzen  nur  Pflanzen- 
besdireibung.  Der  Fortschritt  dürfte  am  Ende  aUer  Enden 
darin  bestehen,  daes  der  alte  Botaniker  mit  Hilfe  der  Ad* 
jekiiTe  der  ümgangsspradie  beschrieb  (mit  den  Worten  für 
Farben,  für  Geraehe,  fQr  Geeehmfteke  u.  s.  v.)  und  dass  der 
Pflanzenphysiologe  chemische  Ausdrücke  au  Hilfe  nimmt, 
die  Torlftiifig  nur  der  Umgangssprache  der  Fachmänner  an- 
gehören.  Auch  in  der  Botanik  ist  gegenwärtig  das  yor^ 
läufig  letateWort  der  Erkenntnis  diejenige  Selbettänschung, 
die  wir  als  die  Hypotiiese  des  Darwinismus  kennen.  Die 
klassifikatorische  Nomenklatur  der  Tiere  Termehrt  unsere 
Kenntnisse  nicht  mehr,  als  es  die  technischen  Ausdrucke 
der  Botanik  thun.   Es  ist  jedoch  beachtenswert,  dass  die 
Spedes  Mensch  zu  den  Tieren  gehört,  dasa  also  jeder  For- 
scher seit  der  ältesten  bis  aur  neuesten  Zeit  in  seiner  Menschen- 
eigenschaft ein  persönliches  Interesse  an  der  Zoologie  nahm. 
Von  Hause  aus  kttmt  der  Mensch  —  so  weit  er  sich  sdbst 
kennt  —  die  Organe  und  die  Physiologie  des  Tiers  besser, 
als  die  Organe  und  die  Physiologie  der  Pflanze.   So  trat 
er  besser  ausgerüstet  an  das  Tierreich  heran,  welches  Übri- 
gens in  seinen  grössem  Artoi  wiederum  schärfer  die  Auf- 
merksamkeit weckte,  als  die  Pflanaenarten  es  scu  thun  Ter-» 
mochten.   Löwe  und  Tiger  unterscheiden  sich  aulfaUender 
als  Buche  und  Eiche,  Fisch  und  Vogel  au^aUender  als 
Moos  und  Gras.   Der  Mensch  ist  ja  das  Mass  und  danach 


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Zoologie. 


525 


der  Naraengeber  aller  Dinge.  Dem  Masse  liegt  das  Inter- 
esse zu  Grunde.    Das  Interesse  an  der  eigenen  Herkimf); 

bat  in  neuester  Zeit  die  Hypothese  des  Darwinismus  ver- 
breiten helfen;  das  Interesse  am  eigenen  Leibe  hat  eine 
primitive  Physiologie  der  Tiere  schon  in  urältesten  Zeiten 
entstehen  lassen  müssen.  Die  Geschlechtsorgane  der  Pflan- 
zen z.  B,  wurden  erst  vor  einigen  hundert  Jahren  entdeckt*); 
dass  aber  Menschen  und  y\c\e  Tiere  lebendige  Jungen  ge- 
bären, dass  andere  Tiere  Eier  legen,  aus  denen  sich  Junge 
entwickeln,  das  ist  sicherlich  eine  Beobachtung,  so  alt  wie 
die  Sprache.  So  ist  es  zu  erklären,  dass  schon  Arisiotnles 
—  ungenau  und  konfus  natürlich  —  die  Einteilungsgründe 
kennt .  nach  denen  man  noch  heute  die  grossem  und  all- 
gemein bekannt(  II  Tiere  klassifiziert. 

An  den  einzelnen  Klassen  der  Tiere  lässt  sich  beob- 
achten —  was  mich  zu  weit  lüliren  würde  — ,  wie  die  be- 
schreibenden Adjektive,  welche  an  der  Pflanzenwelt  erst 
durch  Linne  genügend  definiert  wurden,  so  zwar,  dass  sie 
in  die  Umgangssprache  der  Botaniker  aufgenommen  werden 
konnten,  bezüglich  der  Tiere  schon  viel  früher  der  Um- 

*)  Der  Embryo  der  Pflanzen  wurde  erst  im  17.  Jahrhundert  auf 
Onmd  mikrookopiMlier  Beobachtmigen  mit  der  Leiboifiniclit  der  Tiere 
Tergfludieii.  Die  erste  Folge  war,  dass  die  Entdecker  des  pflanzliches 
Embryos,  nämlich  Qrew  und  Malpighi,  die  technischen  Ausdrücke  der 
Geburtshelfer  auf  die  Teile  tier  Pflanzenfrucht  (lbertnij:»^en  und  ?..  B. 
Ton  dem  Mutterkuchen,  der  Nabelschnur,  dem  Amnion  sprachen  und 
die  Samenlappen  mit  dem  Dotter  der  Yogeleier  verglichen.  Die  Tlial- 
Muthe,  da«  bei  den  Fianeen  eine  Befintehtnng  efcattfiuid ,  war  natttr- 
lieh  schon  den  Alten  nicht  ganz  unbekannt.  Jeder  Gärtner  musste 
eine  Ahnung  davon  haben.  Aber  das  eigentliche  Geschlecbtalebon 
der  I'flan/en  blieb  so  unerforsrdt  nnd  la^  dem  christlichen  Mi(t!»!;ilter 
80  fem,  dass  wir  einer  Em^ahnung  der  Pflanzengetjchl echter  zum 
eiataunal  bei  einem  SchriftcfceUer  dee  16.  Jahilmnderte  begegnen  und 
zwar  bei  einem  Dichter.  H«n  gkabt  Hehirich  Reine  an  leee»,  wenn 
man  in  einer  lateinischen  Dichtnng  des  Spaniers  Jovianus  Pontanna 
v^Ti  dpr  lAfltyi  zweier  Dattelpalmen  liest,  die  fünfzehn  Meilen  von- 
einander eatlernt  stehen.  Sehr  büb.^ch  sagt  der  Dichter,  die  männ- 
liche Palme  könne  die  weibliche  erst  befruchten,  wenn  beide  einander 
erbUelRn,  da»  b«mt  wenn  ne  an  H5he  die  fibrigen  Blome  flberragen. 


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Vll.  Termini  technici  der  iaduktiven  Wistenacbaften. 


gangs Sprache  anji^ehörten.  St. hon  die  Jäger  und  Fischer, 
die  Fleischerkuechte  und  Opf'erpricster .  welche  den  Ari- 
stoteles hei  seiner  ißfrossen  Kompilation  unterstüt2ten,  waren 
auf  die  Zahl  und  Stellung  der  Zähne,  auf  Zahl  und  Stel- 
\ang  der  Flossen,  auf  den  iunern  Bau,  das  heisst  auf  Herz, 
Lunge,  Leber,  Gedärme  u.  s.  w.  aufmerksam  geworden. 
Aber  gerade  durcli  die  vielseitigen  Einzelbeobachtungen, 
durch  die  Ahnung  natürlicher  Verwandtschaften  wurde  die 
Einfuhrung  zahlreicher  Trivialnamen  erleiditert,  die  Auf- 
stellung einer  allgemeinen  Klassiiikation  erschwert,  die  für 
Menschenkenntnisse  immer  eine  künstliche  sein  moss.  Man 
möchte  fast  behaupten,  das»  das  persdnüche  Interesse  des 
Menschen  an  dem  Tierreich,  dem  er  selbet  zugehört,  die 
nllchtenie  iabellarische  Benutnmg  sifornisaiger  Kintailnngs» 
gründe  emhwert  Die  Pfluutti  waren  dem  Menseheii  Dinge, 
Objekte,  fremde  Körper,  an  denen  er  gerede  so  weit  Anteil 
nahm,  als  notwendig  ist,  um  sie  seinem  Qettehtnisse  ein- 
prägen SU  wollen,  um  sicli  ihre  Komenldatur  su  ordnen. 
Erst  sehr  spät  erkannte  der  Mensch,  dass  auch  die  Pflanzen 
leMen.  Die  Tiere  traten  ihm  sofort  insofern  als  menschen- 
ähnliche Wesen  entgegen,  weil  er  ein  ihm  verwandtea  Leben 
in  ihnen  sah  und  benannte.  So  dringte  den  Menschen 
sein  Terwandtschaftliches  Interesse  am  Tierreich  Ton  Anfang 
an  zur  Physiologie.  Die  Khissifikation  ist  Ton  dw  Botanik 
auf  die  Zoologie  Übertragen  worden,  die  Physiologie  von 
der  Zoologie  auf  die  Botanik.  Alle  Nomenklatur  kann  nur 
beschreiben.  Die  technischen  Ausdrücke  der  Botanik  musa- 
ten  Naturbeschreibung  bleiben.  An  den  Tieren  beobachtete 
der  Mensch  Ton  jeher  sogenannte  freiwillige  Bewegungen, 
das  heisst  Aeusserungen,  welche  nach  seinem  Selhstbewusst- 
sein  mit  einem  Willen,  mit  einer  Absicht,  mit  einem  Zwecke 
zusammenhingen.  Es  war  dem  Menschen  darum  natflriidi, 
den  Organismus  seines  KOrpers  und  so  jeden  tierischen  Or- 
ganismus lieber  noch  zu  erUftren,  als  zu  beschreiben.  Die 
lltsste  Physiologie,  so  falsch  und  so  lacherlich  mitunter  ihre 
Beobachtimgen  sind,  sucht  dennoch  die  Abeichten  der  Natur 
zu  ihren  falschen  Bdiauptungen.  Aristoteles  «weiss*,  warum 


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Zoologie. 


527 


das  Gehirn  blutleer  ist,  er  , weiss",  warum  die  eine  Körper- 
hälf'te  kälter  ist  als  die  andere.  Und  so  tritt  liülizcitig  in 
der  Geschichte  der  technischen  Ausdrücke  ein  iiegriü  ;iiif, 
den  wir  bis  heute  uiciiL  los  geworden  sind:  der  ZweckbegnÜ. 
Will  man  diesen  Beprilf  ernst  nehmen,  so  ist  er  ein  meta- 
physischer Begriff.  Vom  ersten  Anfang  an  war  die  Physio- 
logie, das  heisst  die  Erklärung  des  Tierlebens  metaphysisch, 
während  die  Naturbeschreibung  der  Mineralien  und  Pflanzen 
ursprünglich  rein  physisch  war.  Die  Gesoliichte  der  tech- 
nischen Ausdrucke  der  Physiologie  ist  ein  tmunterbrochener 
und  nnbewusster  Versuch,  den  metaphysischen  Zweck  ab 
eine  physische  Ursache  zu  verstehen.  Der  neueste  und  in 
uneem  Augen  glämeodste  Yersuch  kk  der  DarwiniimmB. 

Das  Besondere  an  den  teehmschen  Ausdrflcken  der 
Physiologie  hesteht  mm  daiin,  dase  in  sehr  vielen  FSKen 
uralte  Worte  reiche  und  neue  Bedeutung  gewinnen,  so  wie 
die  Beobachtung  einer  Funktion  sich  erweitert.  Ich  hin 
nicht  ganz  ehrlich,  wenn  ich  das  Wort  Funktion  gebrauche; 
denn  ich  meine  eigmilich  die  Thiti(^eiten  bestimmter 
Körperteile,  welche  wiederum  erst  Torgestellt  werden  können, 
wenn  wir  statt  Thätigkeiten  Aufgaben  sagen,  wie  denn  im 
Verbum  ein  Zweck  Terboigen  ist  (Ol.  59).  Da  halten 
wir  aber  wieder  an  dem  Flecke,  Ton  welchem  aus  Linn^ 
nicht  weiter  konnte,  als  er  eingestand,  den  Charakter  der 
Pflansengruppen  nicht  zu  kennen.  Von  dem  Charakter  eines 
tierischen  Organismus  hat  man  von  jeher  eine  Ahnung  ge* 
habt.  Von  jeher  empfiud  man  es  als  einen  notwendigen 
Gedanken,  dass  der  tierische  Organismus  eine  Einheit  sei, 
das  heisst,  dass  die  Thitigkeit  aDer  Organe  einem  gemein- 
samen Zwecke  diene,  das  heisst,  dass  den  Organen  Auf- 
gaben zugewiesen  seien.  Meine  Leser  werden  mir  nach- 
fthlen,  dass  ich  unter  den  »Aufgaben*  der  Organe  nicht  viel 
Deutlicheres  Terstehen  kann,  als  etwa  die  Griechen  sich  bei 
der  Bntstehungsgeschichte  der  Hyanntfae  dachten.  Hinter 
An^ben  müssen  Befalle  stedcen,  also  GOtter;  auch  der 
Darwinismus  ist  mit  den  Au^ben  und  Göttern  nicht  gans 
ibtig  geworden,  wie  wir  noch  sehen  werden. 


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528  Termini  technict  der  indukÜTen  Wüsenschaften. 


Ber  Fortschritt  in  der  phynologisehen  ErkeimlDiB  kann 
also  ebenfalls  nur  in  der  beueni  Beobachtung  oder  Be- 
schreibung bestellen.  Die  Griechen  kannten  selbstrentind- 
lieh  das  €^hini,  die  Muskeln,  das  Blut.  Sur  Gebrauch 
dieser  technischen  AusdrOcke  ist  uns  aber  trotz  der  Hand- 
greifliehkeit  dieser  Körper  völlig  unttbersetsbar,  weil  sie 
die  Thätigkeiten  von  (Jehirn,  Muskeln,  Blut  noch  nicht  be- 
obachtet hatten.  Ihnen  erschienen  zwar  die  Leber  oder  die 
Nieren  und  gar  das  Hen  bereits  als  Organ.  Das  Blut  aber 
war  ihnen  ein  Stoff,  rielleicht  ein  Produkt  wie  der  Harn. 
Als  nun  (1628)  Harvey  den  Kreislauf  des  Blutes  entdeckte, 
blieb  der  Ausdruck  Blut  in  der  Sprache  erhalten,  aber  er 
wurde  plötslich  snr  Beoeichnung  eines  Oigans.  Jede  mikro- 
skopische Untersuchung  seit  der  Entdeckung  des  Kreislaufs 
/  hat  nun  diesen  technischen  Ausdruck  Tertodert.  Das  Organ 
«Blut*  wird  heute  in  ebensorielen  Bflchem  beschrieben 
als  Aristoteles  Worte  brauchte;  und  wir  halten  die  aus- 
führliche Beschreibung  nach  der  Gewohnheit  unseres  Den- 
kem  fftr  eine  Erkl&rung. 
Mwivitiip  Whewell  hoffte  auf  einen  Newton  der  PhjBicdogie,  der 
Mimt.  Schwerkraft  des  Lebens  dinieren  werde.  Der  VeigleiGh 
ist  fein,  aber  er  spricht  nicht  für  die  Möglichkeit  emer 
Naturerkenntnis.  Die  Thätigkeiten  der  tierischen  Organe  sind 
seit  Whewell  freilich  der  göttlichen  Macht  einer  Lebens- 
kraft entzogen  worden.  Man  hat,  so  wie  Newton  die  all- 
gemeine Schwerkraft  im  Laufe  der  Gestirne  ihfttig  sah, 
in  den  Th&tigkeiten  z.  B.  des  Blutlaufs  die  bekannten  physi- 
kalischen und  chemischen  Enicheinungen  wiedergefundim, 
man  hat  femer  elektrische  Erscheinungen  in  Muskeln  und 
Nerven  mit  Sicherheit  beobachtet.  Während  aber  der  Be- 
griff Schwerkraft  für  Jahrhunderte  zu  einer  Beruhigung  des 
menschlichen  Fragens  führte,  eben  weil  man  diese  Kraft 
so  genau  zu  kennen  glaubte,  empfanden  die  Physiologen 
sehr  bald  wieder  das  Unzulängliche  in  der  mecliunisehen 
Erklärung  der  Organismen.  Die  geistige  Armut  des  Mate- 
rialismus Hess  sie  nicht  zur  Ruhe  kommen.  Und  so  ent- 
stand noch  bei  Lebzeiten  des  ebenso  streitbaren  wie  ge- 


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NeoTitaU«mua. 


dankendachen  Du  Bois-Reymond  (mit  der  Spitze  ge^^en 
ihn)  die  neue  Sekte,  die  das  Wort  Neovitalisnius  aut- 
brachte.  Die  Herren  Hindfleiscli  und  Ostwald  haben  voll- 
kommen recht  mit  ihrer  Kritik  des  Begriffs  Materie ;  wenn 
sie  aber  glauben,  die  Erscheinungen  des  Lebens  dadurch 
besser  zu  erklären,  dass  sie  das  unbrauchbare  Wort  Kraft 
(um  nicht  reaktionär  zu  erscheinen)  mit  Energie  über- 
seteen,  so  reden  sie  Worte.  Wären  sie  sich  Ober  den 
Kernpunkt  der  "Frage  klar,  mOssten  sie  der  Lebre  tob  der 
GhraTitatiaii  ebenso  kritisdi  entgegentreten,  wie  dem  Mste- 
rialiimi».  WSm  diese  Ktiker  ErkennlmBilieoretiker  ge- 
wesen, so  bSIite  sie  ihre  Untersncbung  xunSchst  su  einer 
Kritik  der  teebnisdien  Ausdrücke  ihres  Faches  führen 
mOssen.  Und  besftssen  wir  von  den  besten  Kt^pfen  aller 
Wissenschaften  je  eine  Kritik  der  Terminologie  ihres  Speiial* 
faches,  so  wäre  dadurch  langsam  eine  Kritik  der  Sprache 
angebahnt  wwden,  die  auf  umfassende  Vorstudien  sieh  be- 
rufen könnte.  Ein  einzelner  kann  diese  Rerision  aller 
Wissenschaften  unmöglich  leisten,  auch  wenn  ihm  mehr 
Scharfsinn  und  mehr  Kenntnisse  zur  Verfügung  ständen  als 
mir.  Hier  wie  Uberall  kann  ich  nur  tastend  Beispiele  geben 
zu  dem,  was  gründlicher  zu  leisten  wäre. 

So  handelt  es  sich  bei  dem  g^enwärtigen  Kampfe  der 
Phjsiologen  wieder  um  Schlagworte,  die  TOn  den  Gegnern 
Yerschieden  Tcrstanden  werden.  Die  Begründer  und  An- 
hänger des  Neoritalismus  sind  ganz  gewiss  ttber  die  neue- 
sten Materialisten,  Uber  die  Lehrer  der  mechanischen  Wärme- 
theorie und  der  Einheit  der  Naturkiäfte,  hinausgegangen, 
fortschreitend  nach  ihrer  eigenen  Idee.  Dennoch  erschienen 
sie  den  Mechanisten  insofern  mit  Beeht  als  Reaktionäre,  als 
die  geistige  und  politische  Reaktion  sich  immer  und  überall 
jeder  skeptischen  Regung  bemächtigt,  um  aus  dem  Be- 
kenntnis des  Nichtwissens  nichtswürdig,  schamlos  oder 
dumm,  Kapital  zu  schlagen  fttr  den  Glauben  an  die  wohl 
gepfrOndete  Staatsreligion.  Diese  Infamie  darf  uds  aber 
Yon  dem  Bekenntnisse  des  Nichtwissens  nicht  abhalten;  der 
Mut  des  Bdcomteisses  wird  dadurch  nur  noch  grösser. 


M anthnar,  BdiMf«  n  «law  Xiitili  4«r  SptaelM.  m. 


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580  Temlm  tednici  d«r  iadaUbeii  Wiweauchaften. 


Wie  weit  einzeliie  Bakenner  und  Yerfecbter  des  KeoTÜft- 
lismus  selbfli  vom  Oegner  aller  Wahrliaftiglroii  bestochen 
sind,  mag  deren  persönlidie  Angelegenheit  bleiben. 

Auf  dem  gleichen  Boden  wie  die  Neovitalisten  stehen 
die  Neodarwinisten ,  welche  gleiehlalls  fllr  Reaktionare 
gelten  und  dennoch  kritisch  Aber  den  Danrimsmiis  hinaus- 
gelangt  sind. 

D»rwi-  Wer  sieh  mit  der  Geschichte  des  Darwinismus  ein- 
gehend  befassen  will,  der  wird  lächelnd  bemerken,  wie 
seine  technischen  Ausdrücke  schon  lange  vor  ihm  vor^ 
banden  waren  und  eigentlich  nur  dadurch  zu  all^^emeinem 
Ansdien  gelangten,  dtuss  Darwin  selbst  durch  eine  Fülle 
von  Wirklichkeitsbeobachtungen  Vorstellungsmaterial  für 
diese  technischen  Ausdrücke  beibrachte.  Ich  will  die  be- 
kannten Vorgänger  Darwins  nicht  erst  nenn^.  Aber  selbst 
bei  Whewell  ist  ein  Kapitel  überschrieboi  «das  Problem 
von  der  Transmutation  der  Spezies",  zwanzig  Jahre  vor 
dem  Erscheinen  des  Darwinischen  Werkes  über  die  Ent- 
stehung der  Arten.  Die  Erscheinungen  der  Vererbung  und 
der  Anpassung  waren  längst  bekannt,  und  selbst  die  Zucht- 
wahl findet  sich  schon  bei  Geoflfroy  Saint-Hilaire  unter  dem 
Namen  der  elektiven  Affinität,  welche  freilich  aus  der  Chemie 
herübergenommen  war.  Die  wichtigste  That  Darwins  end- 
lich, sein  Kampf  gegen  die  Vorstellungen  der  Teleologie 
findet  sich  bei  diesem  selben  Geofifroy  Saint-Hilaire  viel 
schärfer  und  fester  ausgesprochen.  .,Je  me  garde  de 
pr&ter  ä  Dien  aucune  intention"  sagt  er  einmal;  und  zur 
selben  Zeit  wurde  auch  schon  die  Hypothese  von  der  "Enb- 
stehung  der  Fiscbe ,  der  Vogel  und  der  Säugetiere  (den 
Menschen  eingeschlossen)  aus  kleinen  gallertartigen  Körj)ern 
in  die  Welt  binausgeschickt.  Man  kann  also  sagen,  dB>;s 
die  (iesetze  des  Darwinismus  schon  ausgesprochen  waren, 
dass  aber  noch  ihr  induktiver  .Beweis*  fehlte.  Man  kann 
das  so  sagen.  Man  wird  aber  richtiger  etwa  den  folgenden 
Ausdruck  wählen:  es  hätten  schon  vor  Darwin  einzelne  un- 
genaue Beobachtungen  zu  vorläufigen  technischen  Ausdrücken 
geführt,  die  durch  die  reichereu  Beobachtungen  Darwins  an 


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DunriiliBBiia. 


581 


lebhaftere  Anschammgen  geknüpft  werden  konnten.  Es 
stimmt  bedenklich  gegen  den  bleibenden  Wert  der  Darwini- 
schen Hypothese,  dass  die  furchtbar  schwierigen  technischen 
Ausdrücke  seiner  neuen  Lehre  so  rasch  zu  Worten  der  halb- 
gebildeten ümgaogsspraehe  geworden  sind.  Es  hängt  das 
damit  zusammen,  4as8  der  Käme  dieses  Forschers  selbst 
ein  Wod:  <ler  Umgangssprache  geworden  ist,  dass  der  Dar- 
winismus bekannter  ist  als  seine  Behauptuni^en  :  auf  hundert 
Mensehen,  die  das  Wort  Darwinismus  gebrauchen,  kcnnrnt 
kaum  einer,  der  seine  Lehren  kennt ;  und  es  entspricht  sehr 
gut  dem  Wesen  der  Sprache,  dass  das  Wort  Darwinismus 
metaphorisch  zu  einem  Ausdruck  für  die  Hypothese  ge- 
worden ist,  es  stamme  der  Mensch  vom  Affen  ab.  In  Deutsch- 
land findet  man  Darwins  technische  Ausdrücke  in  allen 
Romanen  wieder.  , Kampf  ums  Dasein"  ist  ein  Modewort 
geworden  und  selbst  die  zurückhaltenden  Franzosen  haben 
das  Wort  struggleforlifeur  in  dem  Sinn  unseres  Streber* 
aufgenommen.  Es  ist  übrigens  för  den  Umschwung  der 
Weitanschanunp ,  in  diesem  Falle  für  die  Geschichte  des 
menschlichen  Gewissens,  beachtenswert,  dass  die  Bezeich- 
nung Streber  noch  eine  Missbilliguiip  entliält,  weiche  in  dem 
neuem  struggleforlifeur  geschwunden  ist. 

Der  letzte  Grund ,  weshalb  die  neuen  Beobachtungen 
Darwins  in  technischen  Ausdiück^'n  festgehalten  werden 
konnten,  die  so  rasch  in  die  Unigangssprache  eindrineren, 
scheint  mir  ein  sehr  schönes  und  merkwürdiges  Hii^^intl 
für  die  Rolle  zu  sein,  welche  die  technisch,  ii  Aii>.drü(ko 
in  der  Geschichte  der  sogenannten  Welterkenntnis  spielen. 
Ich  glaube  nicht,  dass  diese  verzweifelte  Sackgasse  schon 
gesehen  worden  ist. 

Es  dürfte  niimh'ch  zugestanden  werden,  dass  der  Dar- 
^^ini-m^s  erst  möglich  war,  nachdtsm  Lyell  für  die  Ent- 
st(  liunt;  1  r  Erde  ungemessene  Zeiträume  in  Anspruch  ge- 
noninieu  hatte.  Auch  in  anderer  Beziehung  führte  die 
Geologie,  welche  ganze  Schichten  ausgestorbener  Lebewesen 
nachwies.  Schichten,  in  denen  sich  die  gegenwärtigen  Lebe- 
wesen nicht  fanden,  zu  der  Frage  nach  der  Entstehung  der 


4S32     VIL  Tenaini  tMhniol  cUtt  induktiTMi  WM6«Moh«ft«n. 


gegeuwärtij^eii  Arten.  Gab  es  vor  unserer  Zeit  ein  andere 
Schöpfung,  so  entstand  für  den  alten  Glauben  das  Dilemma: 
entweder  eine  iitiihe  von  verscliiedenen  göttlichen  Schöpfungen 
a,\>n  eine  Vermehrung  der  Wunderverlegenheiten  oder  eine 
EntvvK  luug  der  GcgeuwUrt  aus  der  Vorzeit  anzunehmen. 
Doch  dat.  neue  Hilfsmittel  war  immer  die  Äusdelinung  des 
Zeitraums  der  Entvrickelung.  Hatte  man  einst  geglaubt, 
ein  Gott  habe  die  Arten  zu  seiner  Kurzweil  geschaffen,  so 
gelangte  man  jetzt  zu  einer  ungüttlichen  Entwickclung  aus 
langer  Weile.  Ich  muss  an  die.ser  Stelle  wiederholen,  dass 
Darwin  selb.st,  als  er  mit  jj:^  wältige r  Arbeit  die  Met;i]ihysik 
der  Physiologie  auf  die  l'hysik  der  Ürsachen  zurückzuführen 
sucbte,  mit  dem  BegriÖ  der  Endursache  nicht  fertig  ge- 
worden ist.  Was  einmal  GeoftVoy  Saint-Hilaire  mit  glän- 
zendem Spotte  —  gegen  die  Teleologie  von  Cuvier,  wenn 
ich  nicht  irre  —  vorgebracht  hat,  das  liesse  sich  ganz 
wunderhübsch  noch  heute  gegen  den  im  Darwinismus  ver- 
steckten Schopfungsplan  einwenden:  «Bei  so  einer  Art  zu 
schliessen,  wird  man  auch  sagen  können,  wenn  man  einen 
Mann  auf  Krücken  gehen  sieht,  dass  er  ursprünglich  Yon 
der  Natur  dazu  bestimmt  gewesen  sei^  eines  seiner  Beine 
gelähmt  oder  abgeschnitten  zu  erhalten.*  Die  Darwinisten 
vOrden  freilich  nicht  mehr  Ton  einer  KataHieetiminiuig, 
wohl  aber  Ton  einer  Anpassung  reden,  und  mflsston  kon- 
sequent in  den  Kjfleken  einen  Forlsdnitt  sehen  wie  im 
Fahrrad. 

Darwin  ist  sich  niemals  bewusst,  dass  er  den  Begriff 
der  Endursache  nicht  flherwunden  hat;  er  fjiaxbt  ehriidi, 
dass  er  nur  noch  an  des  Spiel  Ton  Ursache  und  Wirkung 
glauht  Wir  wissen  nun,  dass  das  Spiel  Ton  Ursache  und 
Wirkung  nur  ein  abstrakter  Ausdruck  sei  fttr  den  Begriff 
der  Zdt,  der  Zeit,  m  welcher  wir  stehen  und  atmen,  aus 
der  wir  komm«i  und  in  die  wir  untertauchen,  der  Zeit,  die 
uns  nach  wenigen  Stunden  oder  Jahren  t5ten  wird,  die  für 
uns  das  einzig  Wirkliche  ist,  und  die  wir  dennoch  nicht 
kennen.  Es  ist  also  gar  nicht  merkwOrdig,  dass  die  von 
der  Geologie  geforderte  Froheit  im  Zeitverbranch  bei  der 


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533 


Weiterklärimg  zunächst  darauf  fahrte,  die  Endursachen  zu 
Gmuten  der  Ursachen  ahMshaffen  zu  wollen«   Und  da  halten 

wir  wieder,  von  einem  andern  Wege  kommend,  bei  der 
Kritik  des  Neovitalismus.  Die  blosse  Negation  aller  Zwecke 

Endursachen,  die  Negation  aller  progressiven  Tendenzen 
und  jedes  Weltplans  hätte  naturgemäss  zu  keiner  neuen 
Welt«rklärung  geführt,  sondern  nur  zu  der  verzweifelnden 
Resignation:  da  steht  mir  die  Wirklichkeitswelt  gegenüber 
mit  Erscheinungen,  in  denen  ich  gewisse  Aehnlichkeiten  zu 
beobachten  glaube  und  mir  darum  merken  kann ,  da  lasse 
ich  die  Wirklichkeiiswelt  an  mir  vorübei^leiten,  bin  für  ihr 
innerstes  Wesen  vielleicht  sinnenloser  als  ein  Magnetstein, 
und  nenne  die  abrauschende  Zeitfolge  gern  eine  Kette  von 
Ursachen  und  Wirkungen,  ohne  zu  wissen,  was  eine  Ur- 
sache, ohne  zu  wissen,  was  die  Zeit  sei ;  nichts  weiss  ich 
von  der  Wirklichkeit'; weit,  als  dass  sie  ist,  das  heisst  dass 
etwas  auf  meine  zufälligen  Sinne  wirkt;  nichts  weiss  ich 
von  der  Wirklichkeitswelt,  als  dass  Erscheinungen  auf  Ei- 
scheniungen  folgen;  und  nicht  einmal  das  weiss  ich,  denn 
die  Folge  vollzieht  sich  in  der  Zeit,  und  auch  die  Zeit  steckt 
vielleicht  nur  in  meinem  Kopfe.  So  spräche  die  Resignation. 
Denn  die  unendlidir  Zeit,  welche  nach  dem  Dam  im-^mus 
allein  die  Wirklichkeit  erklären  soll,  ist  seihst  nur  ein 
anderer  technischer  Ausdruck,  ein  mathematischer,  für  diese 
selbe  Wirkhchkeit.  Die  Ursachen  wirken,  erzeugen  Wir- 
kungen; die  Gesamtheit  dieser  Kette  ist  füi-  uns  die  Wirk- 
lichkeit oder  die  Zeit. 

Und  da  setzt  der  kritische  Neovit  Lli^mus  ein,  wenn  er 
die  Entdeckung  macht,  dass  das  mathematische  Zeichen  der 
Wirklichkeit,  dass  die  Zeit  sich  begrifflich  gar  nicht  ge- 
brauchen läsüt,  weil  ihr  Vorzeichen  nicht  umzukehren  ist, 
weil  eine  nach  rückwärts  gehende  Zeit  sich  höchstens  denken 
aber  nicht  ausdenken  lässt.  Immer  nur  wiiil  .lus  dem  Kinde 
ein  Mann,  nicht  umgekehrt.  Kein  Wesen  kann  nach  der 
Gebuii  in  den  Mutterleib  zurück.  Und  auch  in  dem  Un- 
geheuern Laboratorium  unseres  Sonnensystems  hat  die  Lehre 
von  der  Umwandlung  der  Naturkräfte  ein  Loch,  weil  die 


534     VII.  Temuni  teohnici  der  indakfcivan  WiaaenHchaften. 


Wärme  sich  niemals  nachweisbar  in  Arbeit  umiormeu  iasst, 
weil  (las  Weltall  ungeheuere  Suiamen  von  Wärme  ver- 
schlingt. So  tritt  aus  .!i  III  schleierhaften  Bepriff  der  Ent- 
Wickelung  die  progressive  Tendenz  oder  ein  Schöptungsplan 
in  neuer  Maske  hervor  und  dieser  Hauptbegiiff  der  neuen 
Weltaii-sc  Lauung  erweist  sich  als  unbrauchbar  für  die  W  issen- 
schai't  und  bleibt  gerade  gut  genu^r,  um  als  ScheidemQnze 
in  der  Umgangssprache  abgegriffen  zu  werden. 

Alle  diese  Beispiele  zur  Geschichte  der  technischen 
Sprache  können  uns  davon  tiberzeugen,  dass  der  stolze  Unter- 
schied, der  heutzutage  zwischen  Naturwissenschaft  und 
Naturbeschreibung  gemacht  wird,  gar  nicht  besieht;  man 
thäte  gut  daran,  das  alte  Wort  Naturbeschreibung  bei- 
zubehalten und  höchstens  noch  von  ein  wenig  Natur- 
geschichte zu  sprechen,  da  man  doch  auch  die  Schicksale 
von  etwa  hundert  Geschlechtern  der  Menschen  mit  dem 
drolligen  Namen  Weltgeschichte  zu  bezeichnen  liebt.  Unsere 
Beispiele  lehren  aber  weiter,  wie  viel  oder  wie  wenig  der 
grosse  Gegensatz  zwischen  Umgangssprache  und  technischer 
Sprache  eigentlich  besagt.  Wir  kehren  damit  zu  W^hewells 
Aphorismen  über  die  Sprache  der  Wissenschaft  zurück,  zu 
den  in  Deutschland  zu  wenig  bekannten  Aphorismen,  die 
er  seiner  Philosophie  der  induktiven  Wissenschaften  Toraus- 
geschickt  hat  Sein  bleibendes  Verdienst  ist,  dus  er  im 
0eiste  seiner  Landsleute  Baeoa  und  W31  olles  aUelmte, 
was  nicht  aus  unserer  Erfahruiig  stammt,  dass  er  nach 
besten  KiSilen  die  Ideologie  des  Mittelalters  bek&mpfte, 
welche  in  Deutschland  nach  dem  Eindrucke  unserer  wdt- 
berOhmten  Philosophie  unausrottbar  scheint 
DMtMii«  Wenn  wir  aber  empfinden,  dass  unsere  deutsche  Philo* 
eopue.  ^^P^^®  ^  englischen  stehe,  so  sind  wir  dam  dennoch 
berechtigt.  Der  schöne  Irrtum  unserer  Ideologen  von  Kant 
bis  Schopenhauer  bestand  darin,  dass  sie  ihre  titanenhafte 
Sehnsucht  nadh  einer  Vollendung  der  Welterkenntnis  wirk- 
lich ftr  eine  Vermehrung  der  Erkenntnis  hielten;  es  waren 
gewaltige  Dichter,  die  im  Lande  ihrer  Sehnsucht  zu  Hause 
waren,  sich  ihr  Geftthl  nicht  rerwirren  Heesen  und  irgend 


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Deutflohe  Philosophie. 


535 


ein  lenclitondes  Bild,  imter  wclcbem  sie  sieh  die  WirUieli- 
keilBwelt  symbolisierten,  soliliessiieh  für  wahre  WirUidikeit 
nalimen.  Wie  der  junge  Chemiker  die  Ifetapher  Ton  der 
WdhlTmrandtsdialfc  erlernt,  nm  nachher  die  Metapher  fltr 
eine  genUgende  ErldSrong  zu  halten,  so  ghrahten  Hegel  nnd 
Schopenhauer  an  ihre  Metaphern  Yoa  der  Begiiilsbewegang 
und  Tom  Willen.  Wae  der  hunderijshrigen  Herrschaft  der 
deutschm  Philosophie  su  Grande  liegt,  das  ist  die  ganz 
richtige  Ahnung,  es  sei  der  mensehliehe  Verstand  ein  dummer 
Kerl  und  die  Welterkenntnis  mttsse  sich  über  die  Kennt- 
nisse des  Verstandes  erheben. 

Biese  Ahnung  scheint  dem  englischen  Nationalgeiste 
Tersagt  zu  sein.  Der  dumme  Kerl  Vorstand,  der  niemals 
Ober  seinen  engen  Horizont  hinausgeblickt  hat,  hält  die 
paar  Lappen  seiner  Kenntnisse  ftr  Erkenntnis.  Die  Eng- 
länder hoben  die  Arbeit  Lockes  nicht  fortgesetzt.  Sie  sahen 
nicht,  dass  der  Inhalt  ihres  berOhmten  Verstandes  nur  das 
Wörterbuch  und  die  Grammatik  der  menschlichen  Sprache 
sei,  und  dass  in  der  Sprache  fttr  immer  und  ewig  nur  Er- 
innerungen bewahrt,  nicht  Kenntnisse  geformt  werden 
können.  Als  Leibniz  auf  den  Satz  Ton  Locke  den  Trumpf 
setzte,  im  Verstände  sei  ausser  den  Angaben  der  Sinne 
nichts  «als  der  Verstand  selbst*,  da  hielt  man  diesen  Purzel- 
baum nicht  nur  in  ganz  Europa,  sondern  auch  in  England 
ftlr  eine  neue  Idee.  Man  konnte  wenigstens  darüber  streiten. 
Eine  Kritik  der  Sprache  blieb  trotz  Eant  ein  unbekannter 
Gedanke.  Den  Wert  des  blossen  Versuchs,  den  ich  unter- 
nommen habe,  ersieht  man  an  dieser  Stelle  wieder,  wenn 
wir  nun  auf  Grund  unserer  bisherigen  Ergebnisse  Lockes 
Satz  betrachten.  Der  Verstand  als  abstrakte  Obergottheit 
wird  ftlr  uns  zu  einem  aberflüssigen  Begriff,  die  Verstandes- 
krifte  als  Untergottheiten  und  falsche  Götzen  verlieren  jede 
Bedeutung,  und  nichts  bleibt  übrig  vom  alten  Inhalt  des 
Verstandesbegriffs  als  eine  a  peu  prfes  geordnete  Summe 
von  Worten,  das  heisst  als  das  an  Worte  gebundene  Ge- 
dächtnis der  Menschheit.  T^nsere  Sinne  gar  haben  wir  als 
Zufallssinne  kennen  gelernt  als  Zufallsbreschen,  welche  die 


$36     VU.  Tetmini  toebnid  der  induktiven  WuienMlinflan. 


Wirklichkeitswelt  in  die  zufällige  Organisation  des  mensch- 
lichen Individuums  gestossen  hat;  und  wir  haben  keine 
Gewähr  dafür,  ob  der  Magneteisenstein  mit  seinem  hochent- 
wickelten Sinn  für  die  Elektricitat  in  seiner  Art  das  Welt- 
geheimnis nicht  besser  miterlebe  als  wir  es  thun  können 
mit  unsern  sehenden  Augen  und  hörenden  Ohren.  So  würde 
der  Lockesche  Satz,  den  ich  so  oft  bemüht  habe,  in  unserer 
Sprache  endlich  heissen:  .Unser  Gedächtnis  entbrllt  nichts, 
als  was  unsere  armen  Zufallssmne  ihm  geboten  liahien." 
TMknl-  Und  nun  frage  man  sich,  was  wohl  von  dem  öegen- 
'fWii^^  satze  zwisclien  der  Umgangssprache  und  der  technischen 
apnche.  Sprache  d^r  Wissenschaften  zu  halten  sei.  Whewell  legt 
in  st'iti!  ri  A|ihünsmen  grossen  Wert  darauf,  dass  Worte  der 
G«  III  inSprache,  wenn  sie  als  technische  Ausdrücke  in  die 
Wissenschaft  eingeTührt  wtlrden,  G;f'ii;ai  definiert  und  von 
jeder  Zweideutigkeit  befreit  weidm  nnissten.  Die  strenge 
Durchftlhrung  dieser  l  'egei  hat  seit  emigen  hundert  Jahr^^n  — 
denn  die  Forderung  ist  älter  als  man  glaubt  —  zu  einer 
teihveisen  Jiefreiung  der  Naturbeschreibung  von  dem  Wort- 
aberglauben des  Altertums  geführt.  Doch  zu  einem  brauch- 
baren Werkzeug  der  Erkenntnis  kann  auch  der  technische 
Ausdruck  nicht  werden. 

Es  hat  Zeit  genug  gekostet,  bevor  einzelne  scharldeii- 
kende  Männer  zu  der  Entdeckung  kamen ,  dass  die  Worte 
der  Umgangssprache  durchaus  nicht  so  klar  und  bestimmt 
seien,  wie  das  gemeiuhin  der  redende  Mensch  wohl  heute 
noch  glaubt.  Das  Gefühl  der  Unzulan ghchkeit  der  Umgangs- 
sprache scheint  mir  (von  Sokrates  abgesehen)  bei  Descartes 
7Aim  erstenmal  lebhaft  aufzutreten.  Das  mag  damit  zu- 
sauiiin  iiliilngeü,  dass  er  zu  den  ersten  Gelehrten  gehört,  die 
seiL  tausend  Jahren  auch  in  ihrer  Muttersprache  schreiben. 
Seitdem  hat  sich  mehr  und  mehr  das  Bedürfnis  entwickelt, 
zwischen  den  Worten  der  Umgangssprache  und  den  techni- 
schen Ausdrücken  zu  unterscliciden.  Jede  wissenschaftliche 
Disziplin  besitzt  ihre  eigene  technische  Sprache,  deren  Ab- 
grenzung harte  Arbeit  gekostet  hat,  und  so  wird  es  allen 
Wissenschaften  schwer  fallen,  zuzugestehen,  dass  auch  der 


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TaohiiiMiM  und  G«meiiupvftdie. 


537 


techuische  Ausdruck  kein  Werkzeug  der  Erkenntnis  sein 
könne. 

Wollen  wir  unsere  Umschau  über  die  technischen  Aus- 
drücke der  Erfahnmgswissenschaften  ziisammenffissen ,  so 
müssen  wir  zu  dem  Bilde  zurückkehren .  das  schon  einmal 
in  flieser  Untersuchung  gebraucht  worden  ist.  Wir  hahen 
gesehen,  dass  z.  B.  die  Arten  der  BlOtenstande,  die  für  uns 
zu  Eintriluiigsgi  ünden  einer  Pflanzenklassifikation  werden, 
einen  adjektivischen  Charakter  erhalten.  Ich  verweise  dazu 
auf  die  Einsicht,  welche  unsere  Kritik  der  Grammatik  in 
das  Wesen  des  Adjektivs  gewährt.  Und  wenn  wir  dazu 
halten,  dass  alle  unsere  Naturerkenntnis  Naturbeschreibung 
bleiben  muss,  dass  das  Gedächtnis  der  Menschheit  oder  die 
Sprache  niemals  über  adjektivische  Merkmale,  das  heisst 
ü})er  bildliche  Vergleichungen  der  Dinge  hinausgelangen 
kann,  so  wird  sirh  schon  theoretisch  ergeben,  wie  auch  der 
technische  Ausdruck  an  denselben  Mängeln  leiden  muss 
wie  jedes  Wort  der  Gemeinsprache.  Wir  haben  iu  anderem 
Ziisatnmenhange  gesehen,  wie  aller  Fortschritt  des  Menschen- 
geistes immer  nur  die  H  iulang  genauerer  Beobachtungen 
ist.  Ob  nun  die  genaueren  Beobachtungen  sich  innerhalb 
einer  gelehrten  Disziplin  wachsend  weiter  erben,  wie  t.  B. 
die  Beobachtungen  des  Mondes,  oder  ob  sich  die  genaueren 
Beobachtungen  innerhalb  irgend  einer  Berufsklasse  forterben, 
wie  z.  B.  die  genauere  Beobachtung  und  Unterscheidung 
Weinsorten,  es  ist  in  beiden  Fällen  eine  Grenze  zwi- 
schen  Umgangssprache  und  technischer  Sprache  nicht  zu 
siehea.  Man  lasse  sich  nicht  täuschen  von  dem  Unter- 
scbiede  an  geistiger  Arbeit,  die  hier  oder  dort  su  den  Be- 
obaditiuigeii  nötig  war.  Wir  schüzen  die  BUdung  des 
Astronomen,  der  den  Hond  genauer  beobachtet  und  ge- 
messen hat  ab  alle  seine  Vorgänger,  höher  ein  ab  die  des 
KeUmiebters,  der  jeden  Wein  einer  Gegend  nach  Lage 
und  Jahrgang  zu  unterscheiden  Webs.  Niemand  wird  die 
Sachkenntnb  des  EeUermebters  emsthaft  eine  wissenschaft- 
liche Dissifklin  nennen;  aber  wir  müssen  endlich  einsehen, 
dass  auch  die  genaueste  Beobachtung  des  Höndes  nur  eine 


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538  Tenniiii  tedmioi  der  iodnktiTMi  Wunenf^sften. 


Beschreibung  seiner  adjektivischen  Erscheinungen  ist  und 
dass  in  aller  Zukunft  die  Beschreibung  des  Mondes  nicht 

vollendet,  die  Erklärung  des  Mondes  nicht  erreicht  werden 
könnte.  Die  technischen  Ausdrücke  des  Kellermeisters  und 
des  Astronomen  sind  gewiss  nicht  gleichwertig  vom  Stand- 
punkte des  Gehirnverbrauchsj  sie  sind  gleichwertig  Tom 
Standpunkte  der  Sprache. 

Der  Kellermeister  oder  Weinkundige  gellt  mit  der  Fülle 
seiner  technischen  Ausdrücke  weit  üVtPr  die  Umganir?=sprache 
hinaus,  weil  die  Feinheit  seiner  Geschmacksempfindung  die 
des  Alltagsraenschen  übertrifft.  Wo  der  ungebildete  Trinker 
nur  etwa  süss  und  sauer  unterscheidet  und  wohl  nachträg- 
lich die  staiken  oder  leichten  Rausch  Wirkungen,  wo  der  ge- 
übte Weinkenner  schon  ein  Dutzend  differenzierte  Ge- 
schmncksemptiudungen  kennt  und  mit  einem  Dutzend  von 
Ausdrücken  bezeichnet,  die  in  seinen  Kreisen  zur  Umqrangs- 
S"|irache  gehßren ,  der  allgemeinen  Volkssprache  gegenüber 
aber  schon  technische  Ausdrücke  sind,  da  geht  der  geübte 
Keliermeister  noch  viel  weiter.  Wie  weit?  Das  ist  nun 
sehr  merkwürdig.  Er  hat  gewiss  noch  eine  Menge  tech- 
nische Bezeichnungen,  die  über  die  Kenntnis  des  fein  or- 
ganisierten Weinschlemmers  hinau-sgehen.  Zuletzt  aber  hat 
auch  die  Zahl  seiner  technischen  Ausdrücke  früher  ein  Ende 
als  die  Zahl  .seiner  WeinVjf  obachtuugcn  oder  Weinerinne- 
rungen. Angenommen,  unser  F'achmann  habe  dreissig  Lagen 
aus  zwanzig  rerschiedenen  Jahrgängen  in  seinem  Keller, 
also  sechshundert  verschiedene  Sorten.  Angenommen  (was 
Wühl  vorkommen  mag),  der  würdige  und  in  seinem  Fache 
gelehrte  Mann  könne  jede  dieser  sechshundert  Sorten  nach 
einer  Probe  von  allen  andern  unterscheiden.  Er  wird  nun 
mit  einer  Anzahl  von  Adjektiven  jede  dieser  sechshundert 
Sorten  beschreiben  können.  Aber  weder  wird  diese  Be- 
schreibung einem  anderen  als  einem  Fachgenossen  ohne 
F'rolie  eine  Vorstellung  von  dem  Weine  geben,  noch  wird 
der  Kellermeister  ajili  nur  annähernd  sämtliche  Sorten  ge- 
sondert beschreiben  können.  Die  Nuancen  der  Geschmacks- 
emphudung  werden  feiner  sein  als  die  Nuancen  der  tech- 


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TMÜraueh«  und  Qwneinipwwh». 


53» 


nischen  Ausdrücke.  Man  achte  nun  wohl  darauf,  wie  sich 
die  Sprache  unseres  Fachmannes  hilft  und  wie  er  sich  mit 
seinen  Schülern,  den  gebildeten  Weintrinkem,  Terstindigt. 
Die  adjektivischen  technischen  Ausdrücke  versagen.  Er 
kennt  aber  den  Geschmack  jeder  der  sechshundert  Sorten, 
welche  nach  Lage  oder  Jahrgang  Terschieden  sind.  Der 
Kellermeister  bildet  also  ans  Lage  und  Jahrgang  für  jedes 
Fnss  eine  Art  Eigennamen«  s.  B.  89er  Deidesbeimer  Lein- 
höhld.  Rahren  ihm  nim  Geeelunack  nnd  Qeruch  dieses 
Weines  die  Nerven  auf,  so  erinnert  er  sich  an  diesen  Eigen- 
namen. Er  verftlgt  Uber  sechshundert  Eigennamen,  wo  ein 
armer  Teufel  vielleicht  hichstens  den  Gesamtbegriff  Weiss- 
wein kennt.  Diese  Eigennamen  werden  aber  im  Verkehr 
unter  Weinkennern  zu  technischen  Ausdrucken,  und  in  der 
Sprache  der  Weinkarten  bedeutet  —  da  es  aus  mancherlei 
Gründen,  schon  wegen  der  Nachfüllung  der  Fässer,  ur- 
sprungsreinen Wein  kaum  gibt  —  nun  der  Eigenname 
„89er  Deidesheimer  Leinhöhle"  für  die  Fachleute  nichts 
anderes,  als  dass  der  unter  diesem  Namen  käufliebe  Wein 
sich  um  nächsten  mit  jenem  Fasse  unseres  Kellermeisters 
vergleichen  lasse. 

Wir  können  diesen  ailtäglichori  Vorgang  allgemein  so 
ausdrücken ,  dass  die  Sprache  den  Ergebnissen  der  ge- 
nauesten Beobachtung  nicht  folgen  könne,  dass  die  tech- 
nische Sprache  auf  dem  Gipfel  ihrer  Ausbildung  zu  dem 
Ursprung  der  8])r!iche  zurückkehren  müsse,  zu  der  instink- 
tiven Vcrgleichung  von  Sinneseiudrückon.  Eine  geschlos- 
sene Gf^sellschaft  von  Fachleuten,  seien  sie  Astronomen  oder 
Weinkeiiner,  besitzt  also  einen  Vorrat  technischer  Ausdrücke, 
die  zu  df^r  ümgan^^sprnche  dieser  gesdilossenen  Gesell- 
sr-haft  L'rli'irfn.  die  filu  r  ;iut  ilci-  jeweiligen  Höhe  der  Sach- 
kenntnis iimiier  wieder  bildliche  Erinnerungen  an  Sinnes- 
eindröcke  sind,  also  nicht  mehr  wert  als  die  Worte  der 
allgemein en  TTragangsspr a  eh e . 

Ich  iMirinte  mir  wohl  die  Mühe  sparen,  zu  bemerken, 
dass  das  Beispiel  vom  Kellermeister  durchaus  kein  Aus- 
uahmstall  ist.    Eben  solche  Spezialkeuutuisse,  an  welche 


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540     VII.  Teimini  technioi  der  induktiven  WiatenBchailen. 

auch  die  technische  Sprache  seiner  Zuiilt  nicht  heranreicht, 
besitzt  der  geübte  Einkäufer  von  Thee,  von  Tabak,  von 
Weizen,  von  BauiiivvoUe  u.  s.  w.  u.  s.  w.  Hundert  üntei"- 
scheiduügen,  die  uns  Laien  nicht  aufgehen,  macht  der  Fach- 
mann, wie  man  sagt,  nach  seinem  Geftihl.  Und  diese 
Nerventeinheit  wird  vom  Händler  teuer  bezahlt.  Das  geht 
noch  weiter;  dieses  Gefühl,  das  sich  sprachlich  nicht  genau 
definieren  lässt,  besitzt  jedermann  innerhalb  seines  ^^lichen 
Berufs.  Wir  sind  es  nur  nicht  gewohnt,  an  die  Sprache 
8o  grosse  und  genaue  Anforderungen  zu  stellen.  Die  letzte 
Genauigkeit  der  Beobachtung  geht  immer  Uber  die  Sprache 
hinaus.  Bte  KOchin  könnte  0s  nidit  sprachlich  ausdrücken, 
was  sie  durch  minimale  ZnriUie  ▼on  Ssh  und  OewOmn 
der  Suppe  an  Wohlgeschmack  au  Terleihen  weiss.  Der 
Tischler,  der  Über  den  Sprachgebrauch  des  Laien  hiaans 
▼erschtedene  Bohrer  und  ihre  Beieichnungen  kennt,  konnte 
es  nicht  sprachlich  ausdrucken,  was  er  doch  im  Geftlhl  hat, 
wie  er  den  Bohrer  je  nach  Hftrte  und  Struktur  des  Holzes 
etwas  anders  ansetzt  und  bewegt.  Endlos  liefen  sich  die 
Beispiele  fortsetzen.  Alle  ergäben  die  Einsicht,  dass  die 
genauer  beobachtete  Wirklichkeit  jedes  Interessenkreises 
eine  engere  Umgangssprache  erzeugt  und  erforderti  die  sich 
für  die  Aussenstehenden  als  technische  Sprache  abzusondern 
scheint,  und  dass  schliesslich  die  Sprache  Überhaupt  versagt, 
wo  die  Wirklichkeit  am  genauesten  beobachtet  wird. 

Dieser  Umstend  hat  nun  im  praktischen  Leben  die  Folge, 
dass  durch  die  Sprache  alletn  eine  bestimmte  Technik  nicht 
auf  die  Kachwelt  gelangen  kann.  Keine  Technik  ist  in 
einem  Buche  zu  erschöpfen.  Wer  dne  Glasfabrik  anlegen 
will,  muss  selbst  Glasarbeiter  sein  oder  geschulte  Glas- 
arbeiter anwerben.  Geht  das  Nerrengeftlhl  einer  solchen 
Literessengruppe  ans  irgend  welchen  Gründen  (aus  Mangel 
an  Bestellungen  z.  B.)  yeiloren,  so  ist  damit  auch  die  Tech- 
nik Terloren  gegangen.  So  ging  die  Technik  der  Glas- 
malerei verloren  und  manche  andere  Maltechnik.  Nicht 
aus  Büchern,  nicht  durch  die  Sprache,  also  durch  die 
Wissenschaft,  konnte  die  tote  Technik  wiedergeboren  werden. 


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^rMsha  und  Bidnrtrie. 


541 


aondeni  nur  durch  neue  Erfahnmgen ,  neue  Einübung  der 
Nerven.  Die  elementarsten  Sinneseindrücke  mussten  die  auf- 
bewahrten Worte  neu  verstehen  lehren. 

Man  glaube  nicht,  dass  diese  Heranziehung  der  ba-  spnoh« 
nalsten  Diu^'e  unter  der  Würde  der  Wissenschaft  sei.  Für  "^Jj" 
die  Geschichte  der  Sprache  ist  der  Bedeutungswandel  der 
Worte  von  ungleich  grösserer  Wichtigkeit  als  der  Laut- 
wandel, der  doch  nur  untergeordnete  Dienste  für  die  Philo- 
If^e  leisten  kann.  Der  Bedeutungswandel  aber  lässt  sich 
an  der  Sprache  der  Technik  und  Industrie  weit  besser  be- 
obachten als  an  der  abstrakten  Sprache  etwa  der  Philo- 
sophie. Di«  Gelehrten  des  Lautwandels  wissen,  ohne  nnch 
Gebühr  mit  Galgenhumor  davon  zu  reden,  dass  ans  jedem 
Laute  eigentlich  jeder  andere  Laut  werden  kann;  so  kann 
sich  aber  auch  im  Laufe  der  Entwickelung  aus  jcdpr  Be- 
deutung jede  iiTi  lpfp  Bedeutung  herausbilden.  Wenn  wir  iu 
einem  gelehrten  Buclie  lesen:  .Man  macht  ans  df^ni  Hypno- 
tismus  mehr  Wesens,  als  d^rn  Wesen  dieser  Erscheinung 
zukommt"  — ,  so  gehört  einiges  Sprachgefühl  dazu,  zu 
erkennen,  dass  in  diesem  Hntze  das  Wort  Wesen  in  fast 
entgegengesetzten  Bedeiituii'j;»  a  gebraucht  wird.  P]inmal  als 
äusseres  Gerede,  das  andere  Mal  als  das  Innere,  das  man 
eben  nicht  kennt.  Auf  dem  Gebiete  der  Tei  bnik  und  In- 
dustrie jedoch  geht  ein  nnaufhorlicher  Bedeutungswandel 
der  Worfp  vor  sich,  der  in  Avr  Mitte  steht  zwischen  den 
stt  1 'l  inden  Worten,  welche  im  Le}»enskampfe  der  Sprache 
veraltet  sind,  und  der  BUduDg  neuer  Worte  für  neue  Dinge. 
Auf  diesem  Ungeheuern  Felde  des  Bedeutungswandels  nun 
kann  man  ganz  deutlich  beobachten,  wie  das  Wort  der  Um- 
gangssprache technische  Bedeutung  gewinnt  und  wie  die 
neue  technische  Bedeutung  das  Bestreben  hat ,  sich  des 
Wortes  der  Umgangssprache  zu  bemächtigen.  Und  diese 
ganze  mächtige  Bewegung  ist  doch  nur  der  ►Schatten  der 
Wirklichkeit.  Jeder  Fabrikant,  der  iu  einem  neuen  Dinge 
einen  neuen  Wert  zu  erzeugen  hofft ,  bringt  etwas  hervor, 
was  vorher  in  der  Welt  der  Wirklichkeit  nicht  oder  nicht 
SU  da  war.  Innerhalb  seines  Interesseukreises  erhält  dieses 


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542     VII.  Tenuini  technici  der  üuiuktiren  Wissensobafteiu 


neue  Ding  gewöhnlich  einen  technischen  Namen.  Kaufen 
die  Leute  ihm  da>s  Ding  nicht  ab,  so  bleiht  es  dabei.  Driui4L 
das  neue  Ding  ins  Publikum,  so  entsteht  ein  neues  Wort 
der  Umgangssprache.  Hat  der  Fabrikant  vergessen,  einen 
technischen  Ausdruck  zu  erfinden,  so  wird  sein  £igenname 
in  die  Umgangssprache  eingeführt.  Der  Maler  Daguerre 
erfand  die  Lichtbilder.  Als  alle  Welt  sich  nach  diesem  Ver- 
imhren  j^otographieren  Hess,  gab  es  das  allgerndn  Terstand- 
liehe  Wort  Daguerreotypie ;  seine  Erfindung  wurde  flberholt, 
das  Wort  Tersltete  und  wurde  wieder  zu  einem  technischen 
Aittdmek  der  C^esdiiekte  der  Photographie.  Oder  man  denke 
an  das  Auersche  GlQhHchi  In  der  Qeschiehte  des  Bekuehtongs- 
wesens  kann  man  diese  Erfahrung  um  so  häufiger  machen, 
als  die  heste  und  wohlfeilste  Beleuchtungsart  das  neue  Ding 
und  seinen  technischen  Ausdruck  sehr  rasch  zum  Graaein- 
gut  machen  kann.  In  meiner  Jugend  war  mir  der  Aus- 
druck UOlykene  so  geläufig  ¥rie  heute  einem  Qrossstadi- 
kinde  das  Wort  Gasfiamme.  Es  war  die  praktisch  gearbeitete 
Stearinkerze,  die  man  nach  ihrem  Fabrikanten  henannte* 
Es  ist  wirklich  so:  alle  Geistesanstrengung  und  aufireibende 
Arbeit  aller  Erfinder  und  Fabrikanten  ist  nur  darauf  ge- 
richtet, die  technischen  Worte  ihres  Interessenkreises  zu 
Worten  der  ün^angssprache  zu  machen.  Denn  erst  wenn 
die  Eigenschaften  des  neuen  Dings  sich  dem  Gedächtnis 
einer  grossen  Menge  eingeprägt  haben,  erst  dann  ist  der 
Absatz  des  neuen  Dings  gesichert  Die  Aufhahme  des  Worts 
in  die  Dmgangssprache  ist  aber  nicht  nur  ein  Zeidien,  son- 
dern auch  ein  Mittel  des  Erfolges. 

Diese  befremdliche  Thaisache  scheint  mir  so  wichtig 
illr  die  Beurteilung  des  Wertes  der  Sprache,  dass  ich  noch 
einen  Augenblick  bei  der  Aufklärung  dieser  Beziehungen 
zwischen  Sprache  und  Industrie  Terweilen  muss.  Es  wird 
iM^nflich  nicht  bestritten  werden,  worauf  ich  eben  hin- 
gewiesen habe.  Die  Au&ahme  neu  gebildeter  technischer 
AnsdrOcke  in  die  Umgangssprache  ist  ein  Zeichen  des  Er- 
folges, wenn  das  neue  Ding  sich  aus  irgend  welchen  GrOnden 
durchgesetzt  hat  und  die  Menschen  nicht  anders  koonten, 


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als  mit  der  Sache  sich  auch  den  Namen  zu  merken.  Die 
AaiViaiirae  des  techiiischen  Ausdrucks  iu  die  Um<^angs- 
sprachf  ist,  riu  Mittel  des  Erfolges,  wenn  die  freiwillige 
oder  unticiwillige  Agitation  eines  kleinen  begeisterten  oder 
sonst  interessierten  Kreises  den  Namen  so  sehr  durchgesetzt 
lia,t,  dass  die  Menschen  nach  dem  Ding  zu  IragLii  beginnen, 
dessen  Nai^icii  ihnen  geläufig  geworden  ist.  Mit  einem  ein- 
zigen Wort  nennt  man  diesen  Vorgang  die  Reklame.  Ein 
dauernder  Erfolg  wird  von  der  Reklame  natürlich  nur  er-  Ä«Wime. 
reicht,  wenn  das  Ding  sich  nachträglich  als  nützlich,  an- 
genehm, bedeutend  und  dergleichen  erweist.  Das  Ding 
kann  nämlich  auch  eine  neue  Dichtung  oder  eine  neue 
Pliüosophie  sein,  wo  dann  eine  ideale  Reklame  Ton  einer 
Nietzsche-Gemeinde  u.  s.  w.  ausgeht  (vergl.  R.  M.  Meyer: 
Z.  Term.  d.  Reklame).  Die  psychologische  That  ist  aber 
doch  dieselbe  wie  bei  der  gesehftfÜichen  Reklame.  Wir 
können  den  Vorgang  niebt  begreifen,  wenn  wir  nidii  in  die 
dunklen  Tiefen  des  Qelunilebens  hinabsteigen.  Für  unsere 
Untersuchung  ist  keine  Biscbeinung  wertlos;  es  gibt  auch 
eine  FiBycbologie  der  geschäftlichen  Reklame. 

Wir  mfissen  uns  nimlieh  sagen,  dass  die  Binfllhrung 
des  Namens  durch  das  Ding  gewissermassen  die  aktive  Ein- 
übmig  des  neuen  Wortes  ist.  Die  EinfÜhrong  des  Dings 
durch  den  Namen,  die  Wirkung  der  Reklame  also,  ist  eine 
passiTe  EinUbung.  Man  Tergleicbe  damit,  dass  der  einfache 
Mensch  seine  Oesundheit  durch  aktive  Uebung  seiner  Mus- 
keln erhält,  wie  z.  B.  der  FOrster  durcb  stetige  Bewegung 
im  Freien;  eine  ähnliche  KriUtigung'erzeugt  die  schwedische 
Heilgymnastik  durch  passive  Mnskelbewegungen.  Eine  Ma- 
schine bringt  z.  B.  die  Beine  in  Bewegung  und  kriftigt  so 
die  Beinmuskehi  am  Ende  auch.  Beim  Uebergang  eines 
technischen  Ausdrudcs  in  die  Umgangssprache  handelt  es 
sich  um  die  Einflbung  der  Nerven,  um  die  Wiederholung  eines 
Worts,  für  welcbes  schliesslicb  die  Nervenbahnen  so  dres- 
siert sind,  dass  das  Wort  sich  bei  einer  bestimmten  Asso- 
ciation TOn  selber  aufdritogt  Siegt  das  Ding  durdi  seinen 
Nutzen  (z.  B.  das  Telegramm),  so  wird  das  schwierige  und 


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544     VIL  Termini  teohaici  der  iadoktiven  Wimenschaften. 

fremde  Woii  aktiv  eingeübt.  Will  ein  Fabrikant  seiner 
Ware  durch  Reklame  zum  Siege  verhelfen,  so  bläut  er  das 
Wort  dem  Publikum  passiv  ein.  Da  bereitet  ein  Fabrikant 
Namens  Blooker  einen  Kakao,  für  den  er  auf  die  einfachste 
Weise  den  technischen  Ausdmck  „Biookers  Kakao*  erfindet. 
Ich  kenne  das  Ding  nicht,  ich  verfUge  also  auch  nicht  Uber 
seinen  Namen.  Da  lässt  der  Fabrikant  den  tecbniachi^ 
Ausdruck  an  alle  Giebel,  an  alle  Wände,  an  alle  S&iilen  in 
grossen  Bnclistaben  adireiben  und  tausend-  und  abertansetid- 
mal  zwingt  er  mich,  durch  die  bezahlte  Arbeit  der  Maler, 
die  Schriftzeidien  „Blookem  Kakao  ist  der  beste*  zu  lesen. 
Wir  wissen«  dass  zwisehen  dem  Anblick  der  SchriftaeicheD 
und  dem  Sprachzentrum  die  innigste  Yerbindung  besteht. 
Wir  wissen  femer,  dass  das  blosse  YorBteUen  von  Worten 
Bewegungsgeftkhle  in  unserm  Sprachorgan  auslöst,  ohne 
welche  die  Einttbung  eines  Wortes  durch  blosses  Hören 
nicht  möglich  wftre.  Diese  scheinbar  pedantische  Erinne- 
rung war  nötig,  um  uns  die  Möglichkeit  einer  solchen  pas- 
siven Einttbung  zu  beschreiben.  Ohne  unser  Zuthun,  gegen 
unsem  Willen  vielleicht,  haben  wir  tausendmal  das  Be- 
wegungsgeftlhl  des  Urteils  »Blookers  Kakao  ist  der  beste' 
wiederholt.  Die  Assodation  zwischen  der  Vorstellung  Kakao 
und  diesem  Urteil  wird  endlich  yollzogen,  wenn  das  Kapital 
des  Fabrikanten  uns  Jahrelang  bearbeitet  hat;  das  Wort  ist 
uns  eingeblftnt,  das  Wort  mit  dem  in  ihm  enthaltenen  Ur- 
teil. Und  eines  Tages,  da  ich  in  einem  Laden  Kakao  kaufen 
will  und  gefragt  werde,  welche  Marke  ich  haben  möchte, 
antworte  ich  unter  dem  Zwange  der  passiyen  Einübung 
oder  der  Reklame:  »Biookers  Kakao*.  Denn  er  ist  ja  der 
beste,  denke  ich  unfreiwillig,  trotzdem  ich  es  nicht  glaube. 
Durch  die  jahrelange  Reklame  hat  sich  der  Begriff  .Bioo- 
kers Kakao*  unbewuast  in  meine  Umgangssprache  einge- 
schlichen. Ist  die  Ware  gut  und  bleibt  sie  gut,  so  wird 
auch  das  Wort  bleiben.  Das  Urteil  .Blookers  Kakao  ist 
der  beste*  war  die  Hypothese,  unter  welcher  das  technische 
Wort  ein  Wort  der  Umgangssprache  wurde. 

Und  nun  firage  ich  einen  aufmerksamen  Leser,  ob 


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Hypothesen. 


545 


die  Gesehiohfte  der  technischen  Ansdrttd^e  in  den  '^asen-  h^po- 
achaften  gar  so  sehr  Teraehieden  sei  t<«  der  Geschichte  ^^^'^ 
dieser  technischen  Ausdrucke  der  Industrie.  Man  moss  nur 
fiBsthaHen,  dass  es  da  und  dort  eine  Hypothese  ist,  welche 
geglaubt  wird  und  das  neue  Wort  anführen  hüft  So 
aungenbrecherisch  die  Lautgruppe  auch  sein  mag,  wir  be« 
halten  sie  im  Gedlehtnis  und  in  der  Uebung,  solange  wir 
an  die  Hypothese  glauben,  das  hmast  an  das  Urteil,  welches 
im  Worte  enthaltsn  ist.  Solange  die  Medizin  fttr  eme 
Wissenschaft  gilt,  werden  die  technischen  Ausdrücke  der 
Medisin  einen  hübschen  TTebergang  bilden  zwischen  den 
tecshnisehen  AusdrOcken  der  Industrie  und  denen  der  Wissen- 
sehaft. Um  mir  weit  ausholende  Auseinandersetraingen  m 
sparen,  will  ich  die  Beieichnnng  Rheumatismus  nicht  snm 
Beispiele  wählen,  obgleich  es  ein  gutes  Beispiel  wäre.  Es 
steckt  eine  Hypothese  dahinter.  Da  haben  wir  aber  ein 
Yolksheilmittel  gegen  Bheumatismus,  das  mit  dem  gans 
barbarischen  Namen  Opodeldok  unbedingt  der  Umgangs- 
sprache angehört.  Die  Herkunft  ist  unbekannt,  es  findet 
sich  schon  bei  Paracdsus.  Bs  ist  auf  Grund  der  Hypothese 
des  Nutsens  eingettbt.  Man  rergesse  niemals,  dass  hinter 
jedem  Worte  alle  Urteile  stecken,  die  in  seinen  Merkmalen 
Hegen.  Alle  diese  Urteile  sind  Hypothesen.  Die  alten,  oft 
Teralteten,  oft  Tergessenen,  jedesftdls  unbewusst  gewordenen 
Hypothesen  stecken  in  den  Worten  der  Umgangssprache. 
Die  neuen  Hypothesen  stecken  in  den  technischen  Aus- 
drücken. Können  sich  die  neuen  Hypothesen  nicht  er- 
halten, so  verschwindet  der  technische  Ausdruck  wieder  und 
bleibt  nur  in  der  Geschichte  einer  bestimmten  Wissenschaft 
erhalten.  Wird  die  Hypothese  Gemeingut,  so  geht  der 
techmsche  Ausdruck  in  die  Umgangs5;prache  über.  Regeln 
ttber  die  Gestaltung  der  technischen  Ausdrücke  lassen  sich 
nicht  au£rtelien.  Aber  namentlich  die  von  Eigennamen  ge- 
nommenen Worte  sind  sehr  lehrreich  für  den  Instinkt,  mit 
welchem  die  Sprache  die  neuen  Hypothesen  behandelt. 

Da  wurde  eines  Tages  beim  Legen  des  transatlanti- 
schen Kabels  ein  gallertartiger  Schleim,  der  aus  der  Meeres- 
M Aatbn er,  Beifarlg»  sa  fltaiir  Kritik  der  SpiMh«.  m.  85 


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546     ^11-  Temiiiii  lechnioi  der  mdnhtiven  WiMsdiaften. 


tiefe  kam.  b(  obachtet»  von  Huxley  beschrieben  und  Bathy- 
bius  UaeGkelii  benannt.  Bathjbius  vertritt  einen  griechischen 
Satz,  der  ,was  in  der  Tiefe  lebt"  bedeutet.  Der  technisch« 
Ausdruck  w:ii  ilso  eigentlich  eine  ausfülu  lirlie  Beschreibiiiig, 
die  für  den  isLundigen  den  Sinn  hatte:  „Ein  Lebewesen  aas 
der  Meorestiefo,  desaen  verwandtschaftliche  Beziehungen 
lum  Tierreich  vrir  uns  nach  den  Lehren  Haeckels  erklären." 
Man  sieht,  in  dem  Qenitiv  llaeckelii  war  auf  eine  Hypo- 
these Bezug  genommen.  Hätte  sieh  das  alles  bestätigt  oder 
wilre  die  Bathybiusmaase  z.  B.  ein  Volksnahrungsmittel  ge- 
worden ,  die  UmgangSBprache  der  Kulturvölker  wäre  um 
das  Wort  Bathybius  vormehrt  worden.  Es  vergingen  aber 
keine  zwanzig  Jahre,  da  behaupteten  andore  Gelehrte,  das 
neue  Dii^,  der  Bathybius  Haeckelü  sei  nur  ein  Zufalls- 
produkt,  ein  Niederschlag  aus  der  Vermischung  von  See— 
Wasser  und  AlkohoL  Das  Wort  mUsate  mit  der  Hypothese 
Terach  winden. 

Da  beschrieb  vor  kurzem  Professor  Röntgen  eine  neu 
entdeckte  Art  von  Strahlen,  die  er  als  eine  besondere  Sorte 
von  Kathodenstralilen  einführte.  Monatelang  spukten  die 
Kathodenstrahlen  durch  alle  Zeitungen.  Es  fehlte  nicht 
viel,  so  wären  die  , Kathodenstrahlen*  bei  dieser  Gelegenheit 
in  den  Sprachschatz  der  Halbgebildeten  eingedrungen.  Nur 
wenige  Leute  wussten.  dass  der  Ausdruck  Kathodenstrahlen 
eine  Hypothese  Faradays  in  sich  fasste,  die  heute  in  der 
Hauptsaebe  der  Geschichte  der  Elektricität  angehört.  Die 
llnbekanritschaft  mit  di-r  Hypothese  vcrschloss  dem  Worte 
den  Zutritt.  Dage<(eii  drängten  sieh  die  ü}»erall  ausf^estellten 
Wirkun|?en  der  neuen  Sorte  der  Kathodeuätraklen  dem  l'ubli- 
kum  auf  und  luich  dem  Namen  ihres  Entdeckers  wurden  sie, 
ent^etjen  seinei-  eigenen  Bezeichnung  X-Strahlen,  Röntgen- 
strahlen genannt  und  sind  im  Begriff,  durch  den  Sprach- 
schatz der  Halbgebildeten  hindurch  in  die  Umgangssprache 
überzugidien  (T.  lOrjV 

Eine  lläulung  "iei-  Beispiele  ist  für  bereite  Leser  über- 
flüssig. Ich  glaube  jetzt  den  Unterschied  /.wischen  den 
Worten  der  Umgangssprache  und  den  technischen  Aus- 


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Ujpoihaaen. 


547 


drücken,  einen  sehr  bewesflichen  Unterschied,  in  der  Hand 
zu  hakuii,  so  <rni  man  Quecksilber  in  der  Hand  halten 
kann.  Das  rinnt  in  feinsten  Fäden  zwischen  den  Fingern 
hindurch.  Alle  unsere  Worte  uäuüich  sind  —  ich  will 
nicht  müde  werden  immer  wieder  mit  dem  AHC  anzu- 
fangen —  Eriuneruügen  an  eine  (xriippe  ähnlicher  Sinnes- 
eindrücke. .)e  nachdem  wir  uuscie  Aut'mcrksumkeit  uun 
auf  die  Formel  im  ganzen  richten  oder  auf  einzelne  Ueber- 
einstimmungen  in  den  verglichenen  Fällen,  nennen  wir 
unsere  Erinnerungen  entweder  Worte  oder  Urteile.  Das 
ist  die  psychologische  Wahrheit.  Die  alte  Logik  lehrt, 
ans  dem  Worte  oder  Begriffe  gehe  das  Urteil  berror.  Wir 
sagen,  das  Wort  umfasse  alle  Urteile ,  die  man  schembar 
daraus  hervorsiehe.  Und  jetzt  erkennen  wir,  dass  Worte 
der  Gemeinsprache  diejenigen  sind,  deren  mitomfasste  Ur- 
teile uns  als  sichere  Wahrheiten  erscheinen.  Technische 
Ausdrucke  der  Wissensdiafk  aber  sind  diejenigen  Worte, 
deren  mitumfasstes  Urteil  uns  eine  Hypothese  ist  Ich 
möchte  dem  Leser  die  kleine  Sprachaufgabe  überlassen, 
diesen  Satz  so  umzuändern,  dass  er  auch  auf  die  tech- 
nischen Ausdrucke  der  Industrie  passt.  Innerhalb  der 
Wissenschaft  gestattet  er  die  weiteste  Ausdehnung.  Die 
Beaeichnungen  der  Farben  x.  B.  (rot,  blau  u.  s.  w.)  sind 
Werte  der  Umgangssprache,  weil  nur  Ausnahmskfipfe  die 
Annahme,  es  seien  die  Farben  der  Körper  wirklich  (das 
Urteil  also,  das  in  ihnen  steckt),  für  eine  unsichere  Hypo* 
tiiese  gehalten  haben.  Für  einen  Kaat,  fftr  einen  Helmholts 
werden  rot,  blau  u.  s.  w.  teehnisehe  Ausdrucke  in  der  Phy- 
siologie des  Auges. 

Haben  wir  nun  gar  die  Ueberzeugung  gewonnen,  dass 
alle  wissenselukftlichen  Erkenntnisse  Hypothesen  sind,  so 
▼erschwindet  für  unsere  Sprachkritik  der  letzte  Unterschied 
swischoi  Wwten  der  Umgangssprache  und  technischen 
AnsdrQckeo.  Und  wir  können  nicht  ohne  ein  stilles  Lachen 
die  schönen  Sitze  lesen,  mit  denen  Whewell  beinahe  dich- 
terisch die  technischen  Sprachen  der  Wissensehaften  be- 
singt, welche  mit  ihrer  wert?oUen  wissenschaftlichen  Fracht 


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54 ö      Vii.  Termini  technici  der  mduktiven  Wiwenschaften. 


durch  du  Meer  der  Zeiten  hindurch  segeln,  wBhrend  die 
OemeixuprBchen  in  Yergessenh^  Tersinken.  Man  habe 
immer  noch  in  besttndigem  Gebrauch  die  griechischen  Aus^ 
drOcke  fOr  Geometrie,  Astronomie,  Zoologie  und  Hediiin. 
WheweU  veigisst,  dass  im  Leben  dieser  etwa  siebsig  Men- 
schengeschlechter eine  Hypothese  die  andere  ahgeUfst  hat, 
dass  die  meisten  technischen  Ausdrücke  wahrend  dieeesr 
Zeit  raseh  entstanden  und  rasdi  vergangen  sind  und  dass 
die  scheinbar,  das  hnsst  ihren  Lauten  nach  gleichgebliebenen 
technischen  Ausdrücke  von  Geschlecht  zu  Oeschledit  einen 
Bedeutungswandel  durchgemacht  haben,  der  die  in  ihnen 
enthaltenen  Urteile  oft  genug  in  das  Gegenteil  Teikefaiie. 
Mit  demselben  Rechte  kdnnte  man  den  uuTerinderiidien 
Menschengeist  bewundem,  wenn  alte  Mauern  noch  stehen, 
die  einst  dem  Dienste  der  Venus  Zuflucht  gewährt  haben 
und  heute  eine  Kapelle  der  Muttergottes  umscUiessen  oder 
gar  politische  YolksYersammlungen  behexbergen. 

Mit  unserem  Satze  haben  wir  auch  das  Mass  gefunden, 
mit  welchem  wir  den  Stoh  der  Modemen  auf  die  bessere 
technische  Sprache  ihrer  Wissenschaften  messen  künnen. 
Man  rUhmt  an  dieser  neuen  Sprache  vor  allem  die  S^ste* 
matik.  Es  ist  aber  nicht  wahr,  dass  unsere  Erkem^nis 
sich  Tertieft  hat;  nur  vermehrt  haben  sich  unsere  Kennt* 
msse.  Die  FllUe  unserer  Naturbeobaohtungen  ist  grOaser 
und  grosser  geworden,  und  Uber  die  KOpfe  unserer  Tor> 
«^ilrip^or  hinweg  sind  wir  zu  neuen  und  neuen  Gruppen  ron 
Beobachtungen  gelangt,  die  wir  bequem  mit  neuen  und 
neuen  technischen  Ausdrücken  im  Gedächtnis  zusammen- 
halten. Aber  nach  wie  vor  zerfallen  diese  Worte  in  solche, 
deren  mitrerstandene  Urteile  wir  ftU*  wahr  halten,  und 
solche,  deren  mitverstandene  Urteile  uns  noch  Hypothesen 
sind.  So  sind  unsere  Wahrheit >  ri  die  schlimmem  Irrtümer, 
wie  sie  sich  in  den  Worten  der  Umgangssprache  ausprägen; 
und  die  Hypothesen  in  den  technischen  Ausdrücken  geben 
keine  Erkenntnis.  Unsere  Optik  bietet  einen  Wald  von 
Beobachtungen,  wenn  wir  sie  mit  den  paar  Spässen  der 
Griechen  rergleichen.  Aber  der  Schein  der  Farbenwirklich- 


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549 


keit  tftuflclit  die  ümgwigBspniehe  liente  wie  vor  Jahitausen- 
den,  und  die  tecbnMehwi  Ausdrilcke  wie  Fvrbeiilneehimg, 
Pekrisation  n.  s.  w.  entkalten  Hjpoäieeeii,  die  mehie  er- 
USren,  die  sogar  seUMii  noch  der  ErUizuiig  bedfirfen. 

WheweU  gibt  sich  in  seinen  Aphorismen  Aber  die 
wiseenschaiftliehe  Sproebe  grosse  MOhe,  Begehi  ftlr  die 
Neabildung  ieehnischer  Ausdrücke  aufzustellen.  Er  weiss, 
wann  Worte  der  Umgangssprache  in  die  wissenschatUkhe 
Sprache  aufsonehmen  seien  mid  wann  nicht;  er  weiss  fcurckt- 
bar  vielf  nur  nicht,  dass  die  Qeschichte  der  wissenschaft- 
lichen Sprache  seiner  spottet.  Denn  nie  ist  ihm  ein  Zweifel 
gekommen  an  dem  Werte  der  wissenschafUiehen  Sprache, 
selbst  dann  nicht,  wenn  er  die  Mängel  der  Umgangssprache 
erkannt  hat.  Im  elften  Aphorismus  lehrt  er,  dass  tech- 
nische Ausdrücke,  welche  eine  tlieoretisclie  Ansicht  mit 
enthalten,  zulässig  seien,  soweit  ihre  Theorie  bewiesen  sei. 
Er  ahnt  aJso  nicht,  dass  jede  theoretische  Ansiebt  eine 
Hypothese  ist  und  dass  eine  solche  Hypothese  in  den 
Worten  auch  dann  steckt,  wenn  der  Wortlaut  es  nicht 
Terrät.  Er  lässt  grossmUtig  gewisse  Zufallsworte  zu,  deren 
Laute  sich  nicht  auf  die  innewohnende  Hypothese  beziehen ; 
er  weiss  nicht,  dass  jeder  Gelelirte  auch  bei  den  Zuialls- 
Worten  die  Hypothese  seiner  Zeit  mit  yerstehen  wird. 

Ich  will  diese  Verbindung,  die  zwischen  Hypothesen  oravi- 
und  Worten  durch  die  Qeschichte  der  Sprache  oder  der 
Welterkenntnis  geht,  an  einem  Begriffe  noch  klarer  zu 
machen  suchen,  der  mit  Recht  als  Ausdruck  gilt  itlr  die 
genialste  Beobachtung  des  Menschengeistes.  Ich  meine 
wieder  den  Begriff  der  Gravitation,  welcher  gewöhnlich  das 
Gesetz  der  Gravitation  genannt  wird.  Wenn  wir  statt  Gravi- 
tation Schwerkraft  sagen,  so  verrSt  uns  die  Sprache  eigent- 
lich schon  das  Qrundf^ebrechen  des  Begriffs.  Auch  das  Wort 
Gravitation  ist  natürlich  ein  Abstractum  vom  lateinischen 
Worte  gravis  (schwer);  im  Deutschen  ist  man  mit  dem 
Fetisch  Kraft  bei  der  Hand  und  glaubt  wieder  einmal  die 
Erscheinung  der  Schwere  besser  zu  verstehen,  wenn  man 
die  Kraft  zur  Ursache  der  Erscheinung  macht. 


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550  Tennitii  toehnict  dtr  iadiiktiveQ  Wiaseiuehafleii. 


Gewisse  Thatsachea,  welche  heute  als  Erscheinungen 
der  Schwerkraft  und  zwar  als  JSndheinungen  des  Luft- 
gewirlits  1>ekanut  sind,  wurden  von  Axistoieles  an  bis  in. 
die  Mitie  des  17.  Jahrhunderts  hinein,  bc  einer  besonderen 
Gruppe  von  Aehnlichkeiten  zusammengefasst.  Jedermann 
wuaste,  dass  die  Flüssigkeit  aus  einer  Flasdie  nicht  auslief, 
wenn  man  sie  mit  dem  offenen  Ende  in  eine  Flüssigkeit 
steckte.  Man  bemerkte,  dass  die  Wirkm^ai  4es  Hebers  und 
der  Pumpe  ganz  ähnliche  Erscheinungen  darbot<jn  und 
snchie  mu  h  einem  sprachlichen  Ausdruck.  Man  nahm  ihn 
von  der  Hypothese,  dass  in  der  Natur  eine  Scheu  oder  ein 
Entsetzen  vor  dem  leeren  Raum  bestehe.  Man  verlegte 
also  das  menschliche  Gefühl  der  Fui  rht  in  die  Flüssigkeiten 
hinein.  Ob  man  sich  nun  bewusst  war,  nur  eine  Metapher 
zu  bilden  oder  ob  man  diese  Furcht  der  Flüssifrkeiten  wört- 
lich nahm,  jedest'uils  gab  es  den  technischen  Ausdruck 
horror  vacui  als  besehreil)cn<le  Bezeichnunt;  dieser  Hypo- 
tiiese.  ^S(»lan[;e  die  Hypothese  geglaubt  wurde,  gehörte  das 
W(»rt  zur  technisebeii  Sprache  der  Mechanik  und  damit  zur 
Umgangssjuaclie  der  W a^iserbautechniker.  So  sicher  jeder 
von  ntiv  ;innininit.  dass  ein  Thier,  welches  er  nach  einigen 
Mcrknialen  einen  Jlund  nennt,  bellen  werde,  so  sicher 
;4^hinl>te  man,  Wassei-  dnrdi  Verdünnung  der  Luft  nuf  be- 
liebige Höhen  leiten  zu  können.  No*  Ii  1044  glaubte  Mer- 
senne.  da-ss  er  durch  einen  i^nosscn  Heber  Wa<^ser  werde 
iibcr  einen  hohen  Berg  li  ilt  ii  können.  Diese  Eischeinung 
Hess  sii  h  aht.'i-  in  Wirklu  Lkeit  nicht  beobac  hten,  das  Wasser 
stiet;  niemalh  höher  als  34  Fus»?  und  so  kam  man  dazu, 
das  Gewicht  des  Wassers  mit  einer  Wirkuntr  der  Luftsäule 
zu  vergleichen  und  diese  Wirkung  der  Luft  metaphorisch 
ihr  (lewic  ht  zu  nennen.  Metaphorisch,  denn  diese  Wirkung 
entsprach  nicht  dem  natürUchen  Sinueseindruck  eines  Ge- 
wichtes in  der  Hand. 

Um  jene  Zeit  waren  geistreiche  Mechaniker  damit  be- 
schäftigt, mit  Hille  der  neuen  und  rasch  wachsenden  Rech- 
nungsmethodoü  die  verschiedenen  Erscheinungen  der  Statik 
und  der  Dynamik  auf  gemein.same  Formeln  zu  bringen. 


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^1 


Man  kann  wohl  sagen,  dass  es  sich  darum  handelte,  die 
Erscheinungen  der  Schwere  und  die  der  Bewegung  zu- 
sammenzufassen. Was  die  medumisdiie  Weltanschauung 
heute  die  Erhaltung  der  Energie  nennt  und  auf  Chemie, 
Winne  n.  s.  w.  ausdehnt,  das  war  am  Ende  des  17.  Jahr- 
Inmderts  für  «He  He^aaik  im  engem  Sinne  unter  dem 
Namen  «Erhaltung  der  lebendigen  Kruft*  sdion  behauptet 
worden.  Das  erstaunliche  Verdienet  Newtons  sollte  nun 
darin  besteben,  diese  bjpothetisclie  Zusnmmenfiwsung  der 
Bewegung  und  der  Schwere  Ton  den  irdischen  Erscheinungen 
auf  die  Bewegungen  der  Himmelakdrper  auszudehnen.  Die 
sogenannten  <3^es6tse  dieser  Bewegungen  hatte  Kepler  for- 
muliert. Auch  Kepler  Tersncbte  natOrlicb  zu  erUftren,  was 
er  besdurieben  hatte.  Eine  Aehnlichkeit  zwischen  Schwere 
und  Bewegung  fiel  ihm  aber  nicht  entfernt  ein,  und  so  gab 
er  zur  Eridftrung  Worte,  die  nicht  einmal  technische  Aus- 
drficke  werden  konnten,  weil  ihnen  eine  feste  Hjpo&ese 
nicht  zu  (gründe  lag. 

Der  berOhmto  Descartes  hatte  den  traurigen  Mut,  aus 
den  Phantastereien  Keplers  dne  solche  bestimmte  Hypothese 
auszulesen  und  mit  ihrer  HiUe  das  Weltgebäude  zu  er- 
Uftren,  das  Kepler  so  gut  besdurieben  hatte.  Es  ist  die 
Hypothese  der  Wirbel,  welcbe  damals  die  gelehrte  Welt 
eroberte,  ein  techniscfaier  Ausdruck  wurde,  in  die  ümgangs- 
^^Mche  überging  (ich  habe  sie  in  den  Lustepielra  Moliferes 
gelunden),  um  schliesslich  in  die  Rumpelkammer  derOeistee- 
geschicbte  geworfen  zu  werden.  Ganz  gewiss  bat  die  Angst 
▼or  der  Kirche  bei  der  Ausgesteltung  dieser  Theorie  mit- 
gewirkt; aber  an  die  Wahrbeit  seiner  Hypothese  glaubte 
Descartes,  dieser  ausgezeichnete  Mathematiker,  wShrend  die 
Mechan&er  in  Italien,  England  imd  Holland  zu  gleicher 
Zeit  der  Aehnückkeit  zwischen  himmlischer  und  irdischer 
Mechanik  schon  hart  auf  der  Spur  waren.  In  demsdben 
Jahre  1644,  da  sein  intimer  Fnsund  Mersenne  zum  letzten- 
mal das  Monstrum  horrer  vacui  produzieren  wollte,  ver- 
(fffiButUchte  Descartes  seine  Wirbelhypothe»e ,  bei  der  der 
horror  vacui  eine  grosse  fioüe  spisito.    Wir  haben  also 


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552     VII.  Temim  toehaid  d«r  mdokitivai  Wi—MchtllBa. 


den  beackienswerten  FaU  Yor  oub,  das»  der  meisierliohe 
Beobachter  Kepler  die  beeehriebenen  Plaoetenbew^gmigai 
gern  erklirt  hSite,  aber  keinen  Ausdruck  dalttr  fand,  ir«il 
ihm  kein  einziger  seiner  phantastischen  SinflUle  anch  nur 
den  ToUen  Werfe  einer  Hypothese  am  haben  schien;  dass 
dagegen  der  systematischere  Kopf,  der  Descartes  war,  mit 
der  ersten  der  besten  £rklärung,  die  er  als  Hypothese  an^ 
stellte,  auch  den  Ausdruck  Wirbel  fand  und  einftthrte. 
Diese  Hypothese  und  damit  der  Ausdruck  Wirbel  gewaon 
ein  solche  Ansehen,  dass  selbst  in  England  und  bis  zum 
Tode  Newtons  Descartes'  Wirbel  gelehrt  worden,  ab  ob 
Newton  nicht  vorher  diese  Anschauung  gestürzt  hätte. 

Newton  soll  das  Hauptwerk  Descartes'  in  Händen  ge- 
habt, anfangs  auf  jede  Seite  «error*  an  den  Rand  ge- 
schrieben und  dann  nicht  weiter  gelesen  haben.  Das  ist 
sehr  glaublich.  Wenn  Leibniz  später  die  Philosophie  Des» 
cartes'  das  Vorzimmer  der  Wahrheit  nannte,  so  hatte  das 
nur  dann  einen  Sinn,  wenn  Leibniz  im  Braitae  der  Wahr- 
heit war.  Die  Geistesthat  Newtons  war  viel  oi^inelLN*. 
Und  ich  zögere  beinahe,  dieses  ungeheuere  Ereigois  vom 
Standpunkte  der  Sprachgeschichte  zu  betrachten. 

Es  lagen  schon  da  und  dort  Versuche  vor,  himmlische 
nnd  irdische  Mechanik  zu  vergleichen.  Was  aber  dem 
Tienmdzwanzigjährigen  Newton  durch  den  Kopf  ging,  das 
war  ein  verblüflfendcs  Apercu.  Newton  wusste  wie  alle 
Welt,  dass  und  wie  Körper  aus  der  Luft  auf  die  Erde 
fallen.  Das  geschah  auch  aus  g^rosser  Hohe.  Wie  weüt 
hinauf  erstreckte  sich  wohl  diese  Anziehungskraft "r*  Am 
Knde  gar  bis  zum  Monde  hinauf?  Liesse  sich  am  Ende 
die  Bewegung  des  Mondes  ähnlich  berechnen  wie  der  Fall 
t  inps  geworlenen  Steines?  Das  Apercu  ist  bewunderungs- 
würdig. We?m  der  Erfinder  de"^  Telegraphen  auf  den 
Einfall  kan».  i  s  Ims'-p  sich  vielleicht  die  WirkunL'  der  Elek- 
tricität  von  einem  Zi rumer  ins  andere,  von  einem  Hause  ins 
andere  Ubertragen,  so  verlängerte  er  nur  den  Draht,  so 
machte  er  nur  einen  Schritt  weiter.  Und  wir  «olsen  in 
uuseru  Tagen,  wie  die  Verlängerung  der  Telephoudrähte 


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Giavitatkn. 


553 


um  an  paar  Humderfc  ICeflen  nur  8cliriltwei«e  vor  sich  geht 
Der  Omsk  Newtona  maohie  nicikt  emeii  ScfaritA,  sondern 
einen  Sprung,  als  er  die  Bewegimg  des  alton  Mondes  da 
oben  mit  dem  Falle  einee  geworfenen  Steines  TergUclu  So 
wenig  sicher  war  Newton ,  dass  er  seine  HypoÜheae  Tor- 
Iftufig  fallen  liess,  als  seine  Rechnung  (nach  ungenauen  An- 
gaben der  Geographen  angf  stcllO  dreizehn  Fuss  anstatt 
fUnfsehn  Fuss  Fall  in  der  Sekunde  ergab.  Hätte  Newton 
aber  auch  nicht  selbst  noch  die  bessern  Messungen  der 
Geographen  erlebt,  hätte  er  nioht  mehr  selbst  seine  grosse 
Hypothese  verölfenÜichen  können,  sein  Apercu  w&re  dennoch 
die  Aeusserung  eines  Genies  gewesen. 

Als  er  nun  die  Hypothese  anq^staltet  hatte,  was  lag 
da  Air  die  Welterkenntnis  Neues  vor?  Wie  man  eines 
Tages  in  gewissen  pflanseuäbnlichen  MMresgeschöpfen  Be- 
wegung wahlgenommen  und  sie  darum  unter  den  Begriff 
der  Tiere  eingereiht  hat,  so  fielen  für  Newton  und  seine 
Schüler  die  Bewegungen  des  Mondes  mit  denen  fallender 
Erdkörper  zusammen  und  er  dehnte  darum  den  Begriff  der 
Schwere  auf  die  Planetenbewegungen  aus.  Wir  haben  ge- 
sehen, dass  es  bereits  eine  Metapher  war,  als  der  Begriff 
der  Schwere  auf  die  Luft  ausgedehnt  wurde.  Jetzt  gab 
es  eine  neue,  in  einer  Beziehung  noch  kühnere  Metapher. 
Ein  ungeheueres  Ge^vicht  der  Mondkugel  oder  der  Sonnen- 
kugel konnte  man  sich  freilich  handgreiflicher  vorstellen 
als  ein  Gewicht  der  Luft;  insoweit  war  die  Ausdehnung 
der  Schwerkraft  auf  die  Planeten  kein  so  kühnes  Bild  wie 
die  Ausdehnung  dieses  Beg^it^'s  auf  die  Luft.  Es  kam  aber 
etwas  ganz  Neues  hinzu.  Seit  Menschengedenken  verstand 
man  unter  dem  Gewicht  ungefähr  den  Druck  des  Körpers 
auf  seine  L^nterlage,  was  wieder  nur  ein  Bild  war  von  dem 
Drucke  eines  Körpers  auf  die  menschliche  Hand.  Mit  einem 
andern  Bilde  stellte  man  sich  vor,  dieKi  li  zu  In  lir  fallenden 
oder  sfhwfMt'u  Kör])er  an.  Nun  traten  plötzlich  VVeltkiirper 
in  den  l'i  leirh  der  irdischen  Anziehungskraft.,  die  ihrt  rseits 
wieder  Anziehungskräfte  besitzen  mussten,  wenn  die  ganze 
Hypothese  einen  Wert  haben  sollte. 


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554  Tttmini  ieebmei  der  indiiktitren  WtnenMsliftftea. 


Man  mache  sioih  den  Sinn  der  Worte  DUr  recht  an- 
schaulich und  man  wird  darüber  staunen  mflssen,  dass  die 
Kontamination,  das  „  Wipprhen die  Konfusion  der  Bilder, 
eigentlich  immor  fortbesteht  Mm  sagt  heute  nodi,  der 
Fall  (dessen  Gesetze  man  so  genau  kennen  wül)  sei  die 
Bewegung  eines  Körpers  g9fffsn  die  Erde  hin,  und  zwar  sei 
er  die  Wirkung  der  Schwere.  Nun  ist  aber  doch  der  Fall 
eines  Körpers  nur  eine  Erscheinungsform  dessen,  was  man 
bald  seine  Schwere,  bald  sein  Gewicht  nennt  Vielleicht  wird 
die  Sachlage  noch  klarer  wenn  ich  sage:  die  Schwere  gilt 
für  die  Ursache  des  Falls,  insofern  man  hinter  der  Schwere 
oder  dem  Gewicht  eine  besondere  Naturkraft  voraussetzt; 
personifiziert  man  dagegen  den  Fall,  das  heisst  die  Bewe- 
gung zu  einer  Kraft,  so  kann  mnn  sie  ebensogut  als  Ur- 
Sflcbe  Aor  Schwere  oder  de^  Gewir-hts  ansehen.  Das  «;ind 
keine  guten  Bilder,  die  sich  ohne  Schiidicfung  des  Eindrui  ks 
anf  den  Kopf  stclh  n  lassen.  Nun  uher  wurde  das  Bild  von 
der  Schwere  vollends  auf  den  Kopf  i^esfelU,  als  durch  die 
ge7}iale  Veru;lrichung  Newtons  die  Iviehtung  des  Fa\h  zu 
einei«  Nrhcuumstande  crennu  ht  wurde.  Schon  vorlier  i^e- 
braucbtcn  rÜe  Astronomen  unklar  die  Worte  Gravitation  und 
Attraktion,  um  den  Eintluss  der  Plfinet.en  im  Soimfnsystem 
zu  erklären;  bald  dachte  man  an  etwa«?  wie  den  Masrnetis- 
mus,  bald  an  eine  Emanation  dei  Erde.  \vel(  he  die  Körper 
zu  zurilckzwantr.   Als  aber  s(  lili<  sslich  das  sogennnnte 

(.ie>tiz  der  Gravitation,  wonaeh  alle  Körper  im  sftnaden 
Verhältnisse  ihrer  Massen  und  im  nmi]fc1< ehrten  VerbiiltDi»se 
des  Quadrats  ihrer  Entfemuiigen  einander  anziehen,  auf- 
gestellt war,  da  glaubte  man  oines  der  Welträtsel  trelöst, 
eine  der  wichtigsten  ErscLeinuni,o  n  des  Kosmos  erklärt  zu 
haben.    Und  man  glaubt  es  noch  heute. 

Nun  Verrät  aber  schon  der  sprat  hlithe  Ausdruck  die 
neue  Verletrenheit.  In  diesem  Gesetze  ist  die  Bewei^ung 
falleiuler  Körper  genau  beschrieben  und  sehr  srhön  verall- 
gemeinert, aber  immer  noch  wird  die  Gravitation  durch 
Attraktion  erklärt,  und  da  die  beiden  abstrakten  \\  orte 
gleich  hypothetisch  sind ,  könnte  man  ebensogut  die  At- 


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555 


tralctioa  'durch  die  Gravitatioii  erkUtreo.  Es  kftngt  toU- 
kommen  toq  dor  metaplioriBckeii  Phairtasie  des  Beobaditen 
ab,  ob  er  die  gebeimnisTaUe  Kraft  in  die  Atbraktum  oder 
in  die  CkaTitaition  hineioTerseteen  will,  wie  es  von  seiner 
Pbantaaae  abhing,  ob  der  Fall  die  Ursaebe  der  Scbwere 
war  oder  umgekelut.  Man  spricht  Ton  Gravitation,  wenn 
man  so  etwas  wie  eine  Anriehong  beobachtet,  aber  man 
jqpricht  ebenso  Ton  Attrakfebn,  wenn  man  so  etwas  wie 
QraTitation  oder  Schwere  beobachtet.  Alle  diese  Vorstel- 
lungen gehen  schliestlich  anf  den  Sinneseindroek  eines  die 
Menschenhand  wuchtig  belastenden  K5rpers  zuiflck.  Und 
es  ist  fhr  unsere  Anschauung  höchst  lehrreich,  dass  Newton, 
als  er  in  seinen  Prinzipien  (ID,  4.  Proportion)  seine  Ent- 
deckung mitteilen  wollte,  dafSr  von  dem  Adjektiv  gravis 
ein  Verbura  bilden  musste  und  sagen,  der  Mond  gravitiOTe 
gegen  die  Erde.  Es  war  statt  einer  Erklärung  eine  geniale 
bildliche  Beschreibung. 

Diese  sprachkritische  Anschauung  Uber  Newtons  Gross-  N«ino&. 
that  ist  etwas  gan£  anderes  als  das  Unvermögen  Hegels, 
Newtons  Verdienst  zu  begreifen.  Hegel  sträubte  sich  da- 
gegen, sich  dem  Mechanismus  des  Weltalls  zu  unterwerfen ; 
darum  stellte  er  den  Phantasten  Kepler  Uber  Newton.  Wir 
mQssen  in  der  ganzen  überwältigend  schönen  Geschichte 
der  langsamen  Entdeckung  der  Gravitation  zwischen  dem 
Fortschritt  der  Beobachtungen  und  dem  Fortschritt  der 
BegriflQserweiterung  einerseits  unterscheiden  und  anderseits 
beides  zusammenhalten.  Der  scheinbare  Lauf  der  Planeten 
war  schon  von  allen  Anhängern  des  Ptolemäischen  Welt- 
systems im  ganzen  richtig  beobachtet  worden;  Kopemikus 
fligte  die  Berechnung  des  wirklichen  Laufs  hinzu.  Kepler 
beobachtete  in  dessen  Beschreibungen  die  Aehnlichkeit  der 
geometrischen  Formeln  und  konnte  so  den  Begriff  der 
Ellipse  auf  diese  Bewegungen  ausdehnen.  In  noch  be- 
wundenrngswürdigerer  Weise  dehnte  Newton  die  Formeln 
der  Fallgesetze  auf  diese  elliptischen  Bewegungen  aus.  Es 
war  voiläutig  die  letzte  Beu^rififeerweiterung  auf  diesem  Ge- 
biete und  wir  beugen  das  Haupt  fast  andächtig  vor  solcher 


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556     Vn.  Tennini  techaici  dttr  indnUiT«!  Wimwimehaften. 


Menschengrösse.  Wenn  man  aber  die  Keplersclien  Gesetze 
als  blosse  Tbatsachen,  das  GraTifcationi^esetz  als  ihre  Er- 
klärung ansiebt,  so  steht  man  eben  im  Banne  der  letzten 
Hypothese.  Vor  Newton  waren  die  Keplerschen  Gesetze 
Erklärung;  sie  sind  zu  Worten  der  Umgangssprache  ge- 
worden, soweit  sie  in  den  Kalender  hineinpassen.  Ebenso 
t^eht  es  mit  dem  Gravitationsjresetz.  Wird  aber  einmal  der 
Begriü  der  Gravitation  mit  noch  anderen  Erscheinungen 
( Elcktricität  oder  was  weiss  ich)  verbunden  werden,  so 
wird  auch  die  Newtou.sche  Gravitation,  die  heute  eine  Er- 
klärung heisst,  in  die  lieihe  veraltender  technischer  Aus- 
drücke zurücksinken. 

Die  poeÜHche  Heroenverelirung  thut  recht  daran, 
Newton  zu  huldigen.  Herrlich  ist  die  Grabschrift,  die  Pope 
verfasst  hat: 

^Nühito  and  Nature's  laws  lay  liid  in  night; 
Güd  Said:  ,Let  Newton  be',  and  all  was  Light." 

Sprachkritik  jedoch  duldet  keine  unfreie  Bewunderung. 
Die  freie  iiewunderuug  des  vollendetsten  Menschen;^ es 
resigniert  nirgends  trauriger  als  vor  dor  Unsterblichkeit 
dieses  Mannes.  Und  nicht  lustiger  öjiuU,  sondern  traurigste 
P^insicht  in  das  Nichts  soll  es  sein,  wenn  ich  das  Wesen 
dieses  höchsten  unter  den  bisher  entdeckten  Naturgesetzen 
zu  erkennen  suche  aus  dem  albernsten  S])asse,  der  alltäg- 
lich mit  begriffstützigen  Schülern  getrieben  wird.  Wenn 
so  einer  nicht  sogleich  eine  logisch  saubere  Definition  zu 
bilden  vermag,  so  höhnt  man  ihn  wohl  mit  den  Worten: 
»Opodeldok  ist,  wenn  man  Kuckeiischmerzen  hat."  Ich 
fordere  Ernst  iüi  dieses  Citat.  Die  saubere  Definition  sollte 
wohl  etwa  heisseni  «Opodeldok  ist  ein  IleihmUel  gegen 
Rheumatismus.  **  Mein  Leser  muss  aber  einsehen  gelernt 
haben ,  dass  alle  Begrifle  dieser  Definition  unklare  Erinrie- 
ruijgtn  der  Umgangssprache  sind,  dazu  Erinnerungen  au 
unklare  und  unhaltbare  Hypothesen.  Niemand  weiss,  was 
Krankheit  und  was  Heilung  sei,  niemand  weiss  etwas  vom 
Rheumatismus;  womöglich  noch  unfassbarer  ist  der  Begriff 
des  Mittels,  welchen  mein  Leser  hoffenÜich  nicht  etwa  durch 


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Nswtoit. 


567 


düu  nebelhaften  Begriff  des  Zweckes  wird  erkl&ren  wollen. 
Opodeldok  ist  wie  jede  andere  Lautgruppe  der  Sprache  zu- 
letzt die  im  Sprachzentrum  festgehaltene  Erinnerung  an  irgend 
welche  Sinneseindrücke;  die  Definition  des  Wortes  also 
wie  jede  andere  Definition  ist  nur  das  Bewusstwerden  einer 
unbewussten  Gedankenassocintion.  Und  so  ist  der  unlogi- 
sche Schüler  weit  philosophischer  gewesen  als  sein  logischer 
Lehrer,  wenn  er  auf  dessen  Frage  die  letzten  zugiinglicheu 
Elemente  des  Bewusstseins  aufdeckte  und  gestand,  dass  er 
mit  der  Lautgruppe  „Opodeldok''  nichts  weiter  f^sociieren 
könne  als  die  wüste  Erinnerung  an  etwas,  was  man  Rücken- 
schmerzen zu  nennen  pflegt.  ,  Opodeldok  ist,  fällt  uns  ein, 
wenn  man  Rückenschmerzen  hat."  Darüber  kann  d<'r  Men- 
schengeist und  die  Menschensprache  nicht  hinaus.  Auch 
ein  Newton  nicht. 

Vorher  sprach  man  von  einem  horror  vacui.  „Horror 
vacui  ist,  wenn  Flüssigkeiten  im  Heber  empor8t«igen.* 
Newton  entdeckte  die  Gravitation.  , Gravitation  ist,  wenn 
etwas  schwer  ist  oder  fällt/  Und  wenn  einst  ein  neuer 
AnsnsJbmemeDSch  mit  den  medianiscben  Erscheinungen  des 
Gewichts  clemisdie  oder  ekkfarisehe  Erscheinimgen  su  einem 
lidliem  Begriff  Tsrbunden  and  beispielsweise  den  Namen 
TtAaacvmm  dafür  anfgeetellt  und  zam  ehxfarelitovoUen 
Schander  derlGlwelt  beschrieben  haben  wird,  so  wird  der 
neue  techsiscbe  Ausdruck  wieder  nur  eine  beschrftnkto  Zeit 
für  eine  neue  SrUftrung  des  Weltalls  ausreichen  und  der 
philosophisiie  Dummkopf  von  Schüler  wird  audi  das  er- 
USrande  Wort  der  Zukunft  nicht  besser  definieren  kdnnen, 
als  durch  des  Menschengeistes  letites  Verstummen,  durch 
die  tiefsinnige  Tautologie:  .Polarismus  ist,  wenn  etwas  ein 
Verhältnis  su  etwas  Anderem  hat.* 

Wiissen  und  Worte. 

Der  Materialismus  hat  das  gewaltige  Verdienst,  die 
theologischen  Mauern  eingerannt  su  haben.   Dazu  gehört 


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558 


Vin.  Wiöä*!u  and  Worte. 


Matari»'  ein  dickor  ScUidel,  und  wirkUeli  ist  die  Beaclirihiklikeifc  des 
liams.  Materialismua  fast  elienso  gross  wie  die  setner  Gegner.  Als 
praktiscber  LebensgmndsKfas  ist  der  Hsfe^alismus  eine 
Sdil&nheit,  als  Weltanschauung  ist  er  die  platte  Dummheit. 

Denn  so  Tiel  mfissen  wir  nachgerade  gelernt  haben, 
dass  ans  die  gesamte  äussere  Welt  nur  aus  den  £mpfin- 
dangen  unserer  Seele  bekannt  ist,  dass  der  Stoff  oder  die 
Materie,  die  der  Aussenwelt  zugrundeliegen  soll,  keine  ge- 
wissere Hypothese  ist,  als  die  einer  gCttUchen  Menschen- 
seele, dass  also  f&r  jeden  Einzelnen  seine  Innenwelt  das  Ge- 
wisse, das  Unmittelbare  ist,  seine  Aussenwelt  das  Ungewisse, 
das  Mittelbare.  So  psradoi  es  klingen  mag,  so  wäre  die 
Physik  die  nebelhafteste,  die  Psychologie  (das  heisst  Er- 
kenntnislehre, das  heisst  Metupbysik)  die  greifbarste  Wissen- 
schaft, wenn ... 

Ja  wenn!  Die  Physik  ist  nur  in  ihrer  Lehre  an  Worte 
gebunden  nicht  in  ihren  Erscheinungen.  Wortlos  ^pfinden 
wir  die  Macht  der  Natur,  wortlos  begreifen  wir  und 
siffemlos  messen  wir  mechanische  und  akustische,  optische 
und  elektrische  Bewegungen.  Wohl  hat  noch  kein  Leben* 
diger  einen  Beweis  gefunden  für  das  Dasein  der  Aussen- 
welt, aber  physisch  gehdren  wir  selbst  su  ihr,  die  Fluten 
des  Alls  durchströmen  uns,  wir  sie,  und  der  Kern  unseres 
Wesens,  das  ist  unser  Leben,  ist  ein  Teil  dieser  unbe- 
wiesenen Natur. 

Die  Psychologie  aber,  die  uns  so  unmittelbar  bekannt 
scheint,  haftet  an  unseren  Worten,  ist  ein  Denken  in  Worten, 
ist  also  nur  das  Erbteil  des  Menschengeschlecihis,  ist  viel- 
leicht nichts  weiter  als  die  Uebung  der  Hebungen,  die 
Gewohnheit  der  C^wohnheiten,  ein  Wortgebäude,  aus  Laut- 
seichen entstanden,  mit  denen  die  Nervenbahnen  sidi's  be- 
quem machen  wollten.  Unser  ganzes  Denken  ist  vieUeicht 
nur  mit  dem  elenden  Tropfen  Oel  zu  vergleiclien,  mit  dem 
die  Maschine  sich  automatisch  schmiert,  daniit  alles  glatter 
geht.  Und  wie  uns  in  schweren  Stunden  aufreibender  Ge- 
dankenarbeit der  ganze  Materialismus  als  ein  gemein«  r  Traum 
erscheint,  so  kann  auch  das  Wortgeb'aude  unseres  Denkens 


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Stoff. 


559 


am  Ende  doch  im  Sinne  anderer  MoDSchen  der  unrukige 
Traum  der  Miiterie  sein. 

Der  liest  ist  Zweifel.    Nur  wer  an  etw;is  glaubt,  z.  B. 
au  den  Wert,  der  VVoite,  könute  Verzweif  lung  sagen. 

Die  Be^riffsgeschichte  des  Wortes  ,St<)fi"  in  Verbindung 
mit  einer  detaillierten  Darstellung  des  Laut-  und  des  Be- 
deutungswandels von  „Stüä",  , Materie",  „Subsiaiiz  „Sub- 
jekt", »Substraf  u.  s.  w.  müsste  eine  ganze  Geschichte  des 
Materialismus,  und  da  diese  Weltanschauung  nicht  ohne 
ihre  Gegensätze  zu  verstehen  ist,  eine  Geschichte  der 
Philosophie  werden.  Doch  schon  wenige  Notizen  werden 
uns  helfen,  den  Grundbe^iff  der  materialistischen  Hypothese 
kritisch  zu  betrachten. 

Das  Wort  „Stoff"  kommt  erst  im  Neuhochdeutschen  Stoff, 
vor.  Wahrscheinlich  stammt  es  von  dem  lateinischen  stuppa 
(Werg);  damit  mag  das  deutsche  «stopfen*  zusammen- 
hängen, aus  diesem  wieder  wurde  m  den  romaaisdien 
Sprachen  «stoffo*,  „6U>ße*,  und  dieses  Wort  kehrte  ins 
Beutsche  ab  Stoff  surllck.  bt  diese  Wortgewhichte  richtig, 
so  der  Sioffbegriff  etjmologisdi  und  sachlich  vieUeicht 
auch  schon  in  »steppen*  vor.  Der  Steppstich  ist  die  Arbeiti 
welche  dem  FttUsel,  dem  Futter  die  Form  gibt  und  wir 
hätten  da  schon  den  metaphysbchen  Gegensatz,  der  von 
Aristoteles  bis  heute  unaufhörlich  bearbeitet  worden  ist: 
den  Gegensatz  zwischen  Stoff  und  Form  einerseits,  zwischen 
Stoff  und  Kraft  anderseits. 

Im  Franzastschen  bezeichnet  Stoffe  nicht  den  meta- 
pihysischen  Begriff  der  Materie,  weil  die  Franzosen  daftbr 
in  ihrer  Gemeinsprache  das  Wort  matidre  haben.  Stoffe 
bedeutet,  was  wir  im  Deutschen  Zeug  nennen;  nur  etwa 
der  Hutmacfaer  Tersti^t  unter  ^ffe  auch  die  Rohmaterialien 
(hinter  dem  metaphysischen  Begriff  steckt  aber  immer  die 
Vorstellung  Ton  einem  Rohmaterial)  und  bildlich  sagt  man 
auch  wohl  il  y  a  en  lui  T^ffe,  er  hat  das  Zeug  dazu.  Im 
Deutschen  ist  neuerdings  erst  an  Stelle  des  technischen 


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560 


VIII.  Wkscm  und  Worte. 


Ausdrucks  .Matorie*  das  sdiebb«:  Tenlindliefaere  Wort 
«Stoff*  getreten.  Das  aber  natllrliefa  in  dem  Augenblicke 
tedmiseh  wurde,  ab  man  Materie  damit  ttbersetate. 

Es  ist  mir  nicht  gegenwSrtig,  wekber  Ton  den  Scho- 
lastikern das  Wort  materies  fllr  das  Sltere  Wort  Suhstans 
einführte*  Subetans  wied^,  noch  besser  Substrat  oder  Sub- 
jekt in  der  alten  Bedeutung,  war  eine  mechanische  lateini- 
sche Üebersetsung  von  &iBOXti|uvov,  womit  Aiistoteles  vor- 
sichtig und  nichtssagend  ein  primitiTes  Ding-an-sidi  be- 
seichnete,  das  was  den  Dingen,  wie  wir  sie  durch  unsere 
Sinne  wahrnehmen,  su  Grunde  liegt,  das  Unwahmehmbare, 
das  ObjektiTe  an  den  Dingen.  Die  ganse  swsitausen^jabrige 
Entwickelnng  steckt  darin  Terborgen,  wenn  wir  s.  B.  in 
dem  Satse  «der  Schnee  ist  weiss*  die  suhjdttiT  wahrge- 
nommene Erscheinung,  auf  die  wir  eben  unsere  Auimerk- 
samkeit  richten,  das  Prädikat  nennen,  das  objektive  Ding 
jedoch  das  Subjekt  Eine  andere  Bichtung  der  Anfinerk- 
samkeit  erkennt  den  Sdmee  als  einen  besonderen  Zustand 
des  Wassers.  Wieder  eine  strenge  Aufmerksamkeit  hat  das 
Wasser  in  .Wasserstoff  und  Sauerstoff  zerlegt  Immer  aber 
bleiben  für  uns  die  letzten  Elem^ite,  die  wir  beobachten 
kSnnen,  der  objektive  Stoff,  den  wir  darum  zum  Subjekt 
unserer  ^Uze  machen.  Wer  diese  psjchologiscke  Thatsache 
richtig  versteht,  der  hat  den  tiefsten  Widerspruch  in  allen 
materialistischen  Weltanschainingen  erkannt.  Ich  möchte 
sagen,  dass  der  Materialismus  eine  vorpsychologisch o  Welt- 
anschauung ist.  Und  wenn  —  wie  ich  glaube  —  Kants 
Kritik  der  r«men  Vernunft  nicht  mehr  und  nicht  weniger 
ist  als  die  grosse  That,  welche  alle  Metaphysik  und  Be- 
griffsphilosophie  vom  Throne  stürzte,  um  Erkenntnistheorie, 
das  heisst  Psychologie  an  ihre  Stelle  zu  setzen,  so  sollte 
der  Materialismus  nach  Kant  nicht  mehr  ernst  zu  nehmen 
sein.  Wie  man  den  Antisemitismus  einen  Sozialismus  des 
dummen  Kurls  genannt  hat,  so  wäre  der  Mateiialismus  die 
Philosophie  des  dummen  Kerls  zu  nennen.  Wie  man  aber 
vielleicht  eine  Nebenerscheinung  des  Antisemitismus  dereinst 
schfttsen  lernen  wird,  dass  er  nämlich  durch  seine  Angriffe 


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Atombflgiiff. 


561 


auf  die  jüdisclun  lieliL^ionsl  iK  hör  auch  an  den  PimdameTiten 
d*  v  Dojimatik  liittelte,  so  sdll  «  s  dem  Materialismus  un- 
vergessen bleiben,  dass  er  von  Epiknros  bis  auf  die  Ge^^en- 
wart  immer  die  roheste  Form  des  Aberglaubens  bekämpft 
hat.  Für  die  Aufklärung  der  ITalbtrehildeten  hat  der  Mate- 
rialismus sehr  Tiel  ^ethan ;  wir  können  aber  tr(3tzdem  nicht 
darüber  hinwegkommen,  dass  der  Materialismus,  wenn  er 
sich  für  Welterkenntnis  ausgibt,  ebenso  tief  wie  irgend  ein 
idealistisches  System  in  Wortaberglauben  verrannt  ist. 

Aus  der  Geschichte  des  Materialismus  ist  nichts  so  be- 
lehrend wie  die  Geschichte  des  Atorabegriffs.  Es  liegt  im 
Wesen  des  menschlichen  Verstandes,  zu  diesem  Scheinbegriff 
zu  gelangen.  Das  Kind  zerlegt  s(>in  Spielzeug  und  fängt 
nachher  zu  weinen  an.  Der  philosophische  Mensch  zerlegt 
die  Dinge  so  lange,  bis  nur  Stoff  übrig  bleibt,  dann  zerlegt 
er  den  Stoff,  solange  er  kann;  ist  er  fertig  geworden,  so 
schreit  er  „Atom"'.  Sicherlich  besteht  ein  praktischer  Unter- 
schied zwischen  den  Atomen  des  Demokritos,  die  dann 
wieder  von  Gassendi  aufgenommen  wurden,  und  die  man 
sich  kindlich  in  seltsamen  Formen  ausmalte,  und  den  Atomen 
unserer  Naturforscher,  die  man  sich  swar  eboifalls  in  geo- 
metrischen Figuren  ausmalt^  die  aber  doch  der  mathemati- 
schen Berechnung  zugänglich  gemadit  worden  sind.  Ifil 
den  alten  Atomen  konnte  man  keinen  Hund  hinter  dem 
Ofen  herrorlockm;  mit  ffilfe  der  neuen  Atomistik  Terdienen 
die  chemischen  Fabriken  MiUionen.  Das  ist  ein  sehr  er* 
frenlicher  ünterschiedi  aber  ein  philosophischer  ist  er  nicht. 
Nach  wie  TOr  Tersteht  der  ungebildete  wie  der  fonchende 
Materialist  unter  Atom  die  letzten  und  kldnsten  Bestand- 
teOe  der  Welt,  der  physischen  wie  der  geistigen  Brschei- 
nungen.  Nach  wie  vor  stellen  sich  Laien  wie  Oekhrte 
unter  Atomen  etwas  Tor,  was  den  unsichtbaren  und  sauber- 
hallen Zwergen  des  mittelalterlichen  Ab«r^aub«)s  ent^richt. 
Nach  wie  vor  sind  die  Atome  ein  sprachlicher  Ausdruck 
IQr  die  Grense  unserer  Sinneswahmehmungen.  Die  Grenze 
Ist  durch  die  Erfindung  und  Ausbildung  des  Mikroskops 
weiter  hinausgeschoben  worden,  das  heisst  das  Beich  der 

XftiitIiii«T,  Mtrig«  n  «law  Britik  dar  SptMb«.  IIL  86 


562 


Vm.  WiMen  und  Worte. 


unbekannten  Atome  beginnt  etwas  ferner  als  es  froher  be- 
gonnen bat.  Geblieben  ist  der  tbdriebte  Selbstbetrug,  die 
Welt  durch  die  Atome  erUftron  sn  wollen,  das  beisst  die 
Erscheinungen  unserer  Sinnesorgane  durch  einen  abstrakten 
Begriff,  Ton  welchem  wir  durchaus  nichts  Anderes  wissen, 
als  dass  er  etwas  NegatiTes  bezeichnet  und  swar,  dass  wir, 
was  er  bez^hnet,  mit  unseren  Sinnesorganen  sieht  fassen 
kdnnen.  Man  sage  sich  das  einmal  ganz  ehrlich.  Ebenso 
gut  kannte  ein  Monarch  fttr  sein  e^nÜiches  Reich  die 
Lander  erklären,  die  jenseits  seines  Reiches  liegen.  FOr 
uns,  die  wir  wissen,  dass  alle  Welterklftmng  nur  Welt- 
beadireibung  ist,  werden  die  philosophischen  Ansprüche  des 
atomistischen  Materialismus  noch  armseliger*  Denn  diese 
Lehre  beschreibt  die  NaturerscheinungNi  wohl  oder  Abel  so 
lange  als  die  Sinnesorgane  uod  deren  Yerstlrkungen  hin- 
reichen; wo  die  Wissenschaft  dann  nichts  mehr  sehen  und 
fohlen  kann,  wo  also  jede  Besehreibung  aufhl^rt,  da  greift 
sie  zum  negatiTen  Begriff  des  Atoms  und  nennt  das  die 
ErUirung.  Eine  Hypothese  ist  wieder  einmal  zum  techni- 
schen Wort  geworden. 
Materia-  Vom  Standpunkte  der  Spi  achkritik  ist  also  der  Unter- 
schied  gar  nicht  so  gross  zwischen  dem  Wortaberglaoben 
Philo-  des  modernen  naturwissenschaftlich on  Materialismus  und 
'^^^^'^  dem  Wortaberglauben  derjenigen  Nachzügler,  welche  aus 
der  Geschichte  der  Philosophie  und  der  logischen  Begriffs- 
bearbeitung irgend  eine  neuscholastische  Naturphilosophie 
sich  und  ihren  jQngern  zurechtgebaut  haben.  Waren 
doch  alle  grossen  Philosophen  von  Piaton  bis  auf  Kant 
Männer,  welche  die  Naturwissenschaften  ihrer  Zeit  be- 
herrschten und,  einer  architektonischen  Neigung  ihres  Geistes 
folgend,  sich  bei  einigen  letzten  Abstraktionen  beruhigten, 
die  sie  dem  Wortschatze  ihrer  Zeit  entnahmen  und  mit 
künstlerischer  Harmonie  wie  zu  einem  Stickmuster  ordneten. 
Ihre  Grösse  bestaml  in  ihrem  architektonischen  Drang.  Die 
Neuscholsstiker,  die  sich  nach  ihnen  heute  noch  Philosophen 
zu  nennen  lieben,  stehen  darum  so  abgrnndtief  unter  diesen 
hervorragenden  Geistern,  weil  sie  yon  der  Naturkenntnis 


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Haterialiamus  and  PhüoMphie. 


563 


dttr  Gegenwart  absehen  oder  nichts  wiBsen  und  ihre  Ge- 
bäude aus  toten  Symbolen  und  toten  Abstraktionen  ver- 
gangener Zeiten  erriehten,  wie  Immemuains  Münchhausen 
Häuser  errichten  wollte,  au  denen  er  aus  Luft  gepresste 
ZiegA  nahm.  Die  Streitigkeiten  dieser  Philosophen  um  die 
toten  Begriffe  des  Aristoteles  und  um  die  sehlechtesten  Be- 
gziffe  Ton  Kant  erinnern  mich  immer  an  die  Schmersen, 
welche  Leute,  denen  man  ein  Bein  abgeschnitten  hat,  in 
den  Nerrenenden  des  abgeschnittenen  Gliedes  empfinden 
sollen.  So  quüt  sich  die  Menschheit  mit  den  Schmeraen 
ihrer  amputierten  Vergangenheit.  Viel  wertvoller  sind  uns 
natürlich  die  Gedanken  der  Naturforscher,  die  am  Ende 
einer  gewissen  Naturbeschreibung  sum  Yersuche  einer  Natur- 
erklilrung  kommen.  Nicht  Schelling  und  H«gel,  nicht  Tren- 
delenburg und  Schopenhauer  oder  gar  der  denkende  Dieter 
Nietasche  sollten  darum  die  Philosophen  des  19.  Jahrhunderts 
genannt  und  mit  Piaton  und  Kant  verglichen  werden,  son- 
dern Männer  wie  Darwin,  der  die  letxte  Abstraktion  wenig- 
stens aus  dem  Sprachschätze  seiner  Gegenwart  schöpfte. 
Wenn  aber  kleine  Gesellen  wie  Moleseliott  oder  gar  Büchner 
mit  den  toten  Begriffen  Atom  und  Stoff  einen  neuen  Handel 
beginnen  woUten,  so  war  ihr  Treben  für  die  kritische  Be- 
trachtung widerwärtig.  Nur  als  Kanonenfutter  im  Kampfe 
gegen  das  Dogma  sind  solche  Rekruten  zu  braueben. 

Unsere  Materialisten  berufen  sich  mit  den  Begriffen 
Stoff,  Atom  und  allem  ihren  übrigen  Wortaberglauben  gern 
auf  die  grossen  Denker,  auf  den  abseits  stehenden  Spino/a, 
der  als  der  erste  und  beinahe  als  der  letzte  die  absolute 
Kausalität  im  Weltgetriebe  lehrte,  auf  die  drei  gewaltigen 
Kritiker  Locke,  Hume  imd  Kant.  Sie  scheinen  nicht  zu 
wissen,  dass  Spinoza  die  Welt  der  Notwendigkeiten  deut- 
lich ab  die  eine  Seite  der  Welt  erkannte  und  dass  die  drei 
Kritiker  nacheinander  immer  deutlicher  die  Unfähigkeit  de« 
Verstandes  und  seiner  Sinnesorgane  für  die  Welterkliirung 
erkannten.  Was  sie  uns  hinterlassen  haben,  das  ist  die 
Aufgabe,  die  einstigen  Fragen  der  Metaphysik  zu  Fragen 
der  P^chologie  umzugestalten,  wie  ich  glaube  und  lehre, 


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564 


YUL  Wissen  und  Worte. 


SU  Fragen  der  Sprache.  Wie  wir  in  der  Ethik  dahin  ge- 
langen inüF;5;on .  da»  Gewissen,  anstatt  uns  darauf  zu  be- 
rufen, auf  «eine  Entstehung  und  auf  seine  Bedeutung  in  der 
8]>mcbe  zu  prüfen,  so  mOssen  wir  die  letzten  Abstraktionen 
der  modernen  Naturphilosophie  auf  ihre  Entstehung  und 
ihre  Bedeutung  hin  erst  prüfen,  bevor  wir  sie  Oberhaupt 
anzuwenden  wagen.  Was  uns  am  Materialismus  allein  sym- 
pathisch  ist,  seine  Abkehr  von  Wundererklämng  und  seine 
Gegenständlichkeit,  seine  Freiheit  von  Kirchenknechtechafk, 
rlns  ist  in  der  Weltanschauung  des  Idealisten  Kant  als  etwas 
Selbstverständliches  mitenthalten*  Nur  darf  man  diese  be- 
rechtigte Einseitigkeit  aus  Hass  gegen  die  Kirche  nicht 
Überschätzen,  und  das  ist  vielleicht  der  schlimmste  Fluch 
dieses  jahrhundertelangen  Kampfes  gegen  Voltaires  Infäme, 
dass  der  Kampf  gegen  Dummheit  und  Heuchelei  auch  die 
besten  Kämpfer  schliesslich  dumm  und  verlogen  macht. 
Als  ob  die  Gleichheit  des  Bodens  dies  zur  Folge  haben 
mOsste.  Es  wäre  Zeit,  die  Infftme  von  oben  herunter  zu 
bekämpfen. 

Kraft  Der  Streit  um  den  Materialismus  wird  am  hefbigsten 

StOfff  Gebiete  f^eführt,  wo  man   hüben  und  drüben  die 

Märchen  über  (jehirn  und  Seele  /.um  besten  gibt.  Unsere 
Materialisten  mu.ssten  freilich  au  ihre  Unfehlbarkeit  glauben 
lernen,  wenn  sie  sahen  wie  man  ihnen  ein  Gebiet  der  Natur 
nach  dem  andern  überliess  und  ihnen  schliesslich  nur  noch 
den  menschlichen  Geist  streitig  machte.  Wenn  es  aber 
richtig  war,  dass  der  Materialismus  den  menschlichen  Leib 
mit  seinen  mecbanisüheu ,  chemischen  und  physiologisehen 
Erscheinungen  befriedigend  orklartp,  dann  war  \Mrklich  die 
Herleitung  des  Denkens  aus  dem  berühmten  StofV  nur  eine 
Frage  der  Zeit.  In  Wahrheit  aber  ist  der  Materialismus 
auch  den  mechanischen,  chemischen  und  physiologrisrhen 
Erscheinungen  gegentJber  die  letzte  Erklärung  heut-»?  noch 
ebenso  schukiig  wie  er  es  vor  zweitausend  Jahren  war. 

Newtons  Gravitationslehre  hat  in  genialer  Weise  die 
Formel  vereinfacht,  unier  welcher  wir  uns  die  Anziehung 
der  Körper  und  ihrer  gedachten  kleinsten  Teile  vorstellen 


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Kiaft  und  Stott'. 


565 


kdimm;  an  Slelle  der  abentouerlich  gefonnten  Atome,  wie 
nuui  ne  sich  toh  DemokritoB  an  bomiroiert  hatte,  koonten 
jetst  fonnloee  matfaematMche  Fmikte  treten  tmd  die  ZÜfer 
aJlein  kam  stu  ihrem  HeGht  Gerade  aber  in  diesen  mathe- 
matischen Punkten  der  mo^rnen  Atomenlehre  TeiflDchtigte 
sich  der  Sfoffb^griff  T^Uig  nnd  das  Atom  wurde  aar  un- 
endlich Ideinen  Krafteinheit,  die  durchaus  an  keine  noch  so 
minimale  Stoffeinheit  mehr  gebunden  gedacht  werden  musste. 
Die  Trennung  aller  Ursachen  in  Kraft  und  Stoff  ist  eine 
sinnlose  Bentttsung  alter  Worte;  denn  wenn  man  alle  Iirsdiei- 
nungen  oder  Wirkungen  auf  die  bekannten  KrSfte  surUck- 
geftthrt  hat,  bleibt  Ar  den  Stoff  nicht  das  kleinsto  Feld  der 
Wirksamkeit  mehr  flbrig.  Die  Trennung  der  Begriffe  Kraft 
und  Stoff  ist  dem  naiven  Empfinden  gani  geläufig;  wenn 
mir  ein  Ziegelstdn  auf  den  Kopf  fUlt,  so  unterscheide  ich 
seinen  Stoff  und  seine  Kraft  Ton  dem  Stoffe  und  der  Kraft 
eines  fallenden  Regentropfens.  Aber  nur  das  brutale  Em- 
pfinden macht  einen  solchen  Unterschied  awischen  dem 
mechanischen  Stoss,  dessen  Kraft  nach  den  Fallgesetaen  be- 
rechnet wird,  und  den  sogenannten  stofflichen  Eigenschaften 
des  Ziegelsteins,  welche  doch  wieder  nur  Aeusserungen 
chemischer  Kiftfte  sind.  Die  Atome  des  Ziegelsteines  hätten 
mir  kein  Loch  in  den  Kopf  sehlagen  kdnnen,  wenn  nicht 
chemische  Kräfte  ihnen  gerade  diese  Erscheinung  gegeben 
hätten.  Die  Gravitation  Newtons  bni^  nur  die  am  allge- 
meinsten Terbreiteto  Anxiehung  der  Kdrper  auf  die  ein- 
fachste Formel  und  scUiesst  die  besondem  Fälle  der  ehemi- 
schen Anziehung  Torläufig  aus,  weil  die  Formel  nicht  passt 
Das  ganie  18.  Jahrhundert  quält  sich  darum,  für  die  chemi- 
schen Euräfte  ein  ebenso  httbeches  Wort  zu  finden,  wie  es 
in  der  Gravitation  fbr  die  allgemeinsto  mechanische  Kraft 
sich  dargeboten  hat,  und  wir  sind  heute  noch  Über  den 
bildlichen  Ausdruck  der  Verwandtschaft  (frflher  Affinitili, 
fiXtoi,  rapport)  nicht  hinausgekommen.  Und  wenn  es  dem- 
nächst gelingen  sollte,  in  der  Elektricität  die  Kraft  zu  ent- 
decken und  dem  Kalkül  zu  unterwerfen,  welche  sowohl  die 
Gravitetion  zwischen  Fiistemen  ab  die  chemischen  Ver- 


566 


VUI.  WiMen  und  Worte. 


ftndenmgen  emander  berOhreiider  EUmenie  bewirkt,  so  wire 
doch  wieder  nur  das  Spiel  der  Kr&fte  auf  einen  einfacheren 
Ausdruck  geVracht,  der  Stoff  wftre  neben  der  Eraft  nur 
nocb  aberflOflsiger  geworden.    Der  Begriff  «Stoff*  bliebe 
nach  wie  yor  der  brutale  Ausdruck  f&r  die  Thatsache,  dass 
wir  uns  an  den  Körpern  Stessen,  dass  uns  ein  Ziegelstein 
ein  Loch  in  den  Kopf  schlagen  kann.  Die  Wissenschaft 
konnte  es  immer  nur  mit  Kriiften  zu  thun  haben  und  es 
ist  spasshaft  xu  lesen,  wie  im  Anfange  des  19.  Jahrhunderts 
schliesslich  die  Wissenschaft  selbst  auf  diese  brutale  That- 
sache  gestossen  wurde  und  neben  den  Atomen,  die  mathe- 
matische Punkte  blieben,  MolekQle  annahm,  als  die  kleinsten 
Stoffteilchen,  ohne  welche  man  sich  die  greifbaren  Stoffe 
nicht  erklären  konnte.   Man  kann  wohl  sagen,  dass  die 
Atome  der  vornewtonischen  Zeit  weit  eher  unsem  Mole- 
külen entsprach«!  als  unsere  mathematischen  Atomen;  auch 
nehmen  unsere  MolekQle,  gleich  den  alten  Atomen,  in  der 
Vorstellung  der  Forscher  schon  wieder  die  niedlichsten 
Formen  an,  man  gruppiert  die  ausdehnungslosen  Atome 
ganz  anmutig  zu  geformten  MolekQlt  n.  glaubt  sie  sich  da- 
durch geometrisch  TorzusteUen ,  während  man  ausdrücklidi 
zugibt,  dass  diese  geometrische  Vorstellung  der  Wirklich- 
keit unmöglich  entsprechen  könne.    Die  Bewunderer  des 
modern  on  Materialismus  berufen  sich  darauf,  dass  mit  Hilfe 
dieser  Molekulartheorie  und  dieser  Atomistik  eine  ausser- 
ordentlich grosse  Anzahl  neuer  Stoffe  hergestellt  worden  ist. 
Aber  alle  die  neuen  Stoffe  beweisen  nicht,  dass  es  auf  der 
Welt  neben  den  angenommenen  Ursachen,  die  wir  Kräfte 
nennen,  noch  einen  besonderen  Stoff  gebe.  Wir  haben  sehr 
viele  Beobachtungen  gesammelt  und  nüf/en  sie  aus.  Die 
obersten  Sammler,  welche  scheinbar  unabhängig  und  auf 
der  üühe  der  Wissenschaft  für  die  chemischen  Fabriken 
thdtipr  sind,  nennen  sich  Forscher  und  Gelehrte.  Von  einer 
Erklärung  ihrer  Beobachtungen  sind  sie  aber  so  weit  ent- 
fernt, dass  es  fraglich  ist,  ob  sie  die  Gesamtheit  ihres  techni- 
schen Wissens  eine  Wissenschaft  nennen  dürfen.    Der  Er- 
finder des  Telephons  war  ein  weit  scharfsinnigerer  Mann 


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Kraft  und  Stoff. 


567 


als  es  die  Tfttuende  sind,  welche  Beine  Erfindung  gebrauchen; 
doch  weder  der  Erfinder  noch  der  telephonierende  Laden« 
jfini^ing  weiss,  was  Elehtridtftt  sei.  Wir  leben  ja  auch 
ohne  sa  wissen,  was  das  Leben  sei 

Einer  der  erfolgpreichsten  Chemiker  unserer  Zeit«  Eekiüd, 
den  die  Grossikaiifleute  der  chemischen  Industrie  mit  Recht 
ab  ihren  Heroe  gefeiert  haben,  weil  seine  neue  Benzoltheorie 
Qeld  ins  Land  brachte,  hat  in  semem  Lehrbuch  mit  der  yoII- 
endeten  Klarheit  des  ersten  Beobachters  zwischen  Thatsache 
und  Hypothese  unterschieden.  Er  weiss,  dass  nur  die  Pro- 
portionsiahlen  den  Wert  von  Thatsachen  haben,  dass  alle 
Angaben  Uber  stoffliche  Atomgewichte  auf  Hypothesen  be- 
ruhen. Und  doch  hat  gerade  sein  Bild  von  der  geometri- 
schen Anordnung  der  Atome  sich  in  den  Köpfen  festgesetzt, 
und  weil  das  Geschäft  dabei  blüht,  so  preisen  es  die  Schüler 
allerorten.  Wie  in  diesem  Falle,  so  ist  es  bei  ehrlichen  Ver- 
suchen der  Welterklärung  immer  geschehen.  Der  naive 
Mensch  steht  vor  dem  Stoff  wie  der  Ochse  vor  dem  Berg; 
der  Stoff  ist  ihm  die  brutide  Thatsache  und  die  geheimen 
Kräfte  dos  Stoffs  sind  unsichtbare  Götter,  die  ihm  so  lange 
hypotiietisch  vorkommen,  bis  sie  ihm  Vorteil  bringen.  Ist 
die  simple  Thatsache  des  Stoffs  aber  erst  analysiert,  das 
heisst  in  Kräfte  zerlegt  (denn  jeder  Stoff  ist  nur  die  Be- 
sultierende  von  Kräften),  so  werden  die  Kräfte  zu  wissen- 
schaftlichen Thatsachen  und  ihr  Stoff  wird  zur  Hypothese. 

So  ist  das  Atom  als  der  Bee^riff  eines  unendlich  kleinen 
StofFteilchens,  gerade  durch  und  für  den  Materialismus  über- 
flüssig geworden.  Was  für  den  Chemiker  und  überhaupt 
für  den  Is'aturforscher  an  den  Dingen  der  Stoff  ist,  das  ist 
ihre  Masse;  das  Atom  ist  eigentlich  nur  das  minimale  Ein- 
heitsmass  der  Masse.  Ks  ist  ebenso  unwirklich  wie  es  das 
ünendlichklcinp  ist,  wodurch  man  einen  Millimf^ter  messen 
wollte.  Auch  bei  den  Massen  i^t  nur  ilir  \  >  ihaltnis  eine 
Thatstjclre.  ünd  da  — ■  wie  Frieilru  h  l^anL^e  >ehr  fein 
hervorgehoben  hat  —  selbst  das  (nrileii  und  Fassen,  ge- 
schweige denn  än--  Sehen  und  Hören  nur  diM  rii  iif  iingreif- 
baren  und  unfassbareu  Kräfte  im  Menscheugehim  bewirkt 


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568  ^<  WiaMn  und  Woite. 

wird,  ilii  also  der  Stoff  sich  nicht  nur  für  die  Wisse u. sc ii alt 
lu  Kräfte  auflöst,  sondern  auch  im  naivsten  Menschen  die 
Vorstellung  jedes  Stoffs  nur  durch  Kräfte  erzeugt  wird, 
da  endlich  seihst  der  brutale  Begriff  dei  Masse  ein  mathe- 
matischer Begriff  geworden  ist,  geht  es  für  die  unbefangene 
Erkenntnis  nicht  länger  an,  als  Ursache  der  uns  geläufigen 
Erscheinungen  den  Gegensatz  von  Krait  und  Stoff  anzu- 
nehmen. Die  Ursache  kann  —  da  wir  doch  Ober  unsem 
Sprachgebrauch  nicht  hinauskommen  —  nur  entweder  ein 
unbekannter  Stoff  mit  verschiedeneu  unerklärt<*ii  Eigen- 
schaften sein  oder  ein  unbekannter  Zusammenhang  ver- 
schiedener unerkUutci  Kiuiit'.  Wenn  wir  iiuu  alle  Eigen- 
schaften der  Kör]»er,  und  das  thut  doch  die  Naturwisseu- 
schiitt ,  auf  Naturkräfte  zurückgeführt  haben,  so  bleibt  in 
der  weiten  Welt  unserer  Vorstellungeu  für  den  Stoff  kein 
Schlupfwinkel  übrig.  Denn  was  man  sich  unter  Stoff 
denkt,  ist  ja  doch  nur  der  körperliche  Rest,  nachdem  von 
einem  Körper  alle  Eigenschaften  hinweggedacht  worden 
sind ;  dieser  körperliche  Best  existiert  aber  gar  nicht,  denn 
der  Körper  ist  nur  der  Inbegriff  seiner  AmtUdien  Eigen- 
schaften (vergl.  m.  7).  Wenn  man  ans  einer  SiunmA  dbnfc- 
Cche  Addenden  herausstreicht,  so  mag  man  die  Null,  die 
sieh  dann  ergibt,  meinetwegen  eine  Summe  nennen;  in 
der  Wirklichkeitswelt  gibt  es  keine  Null,  gibt  es  keinen 
Stoff.  In  der  Ualheinaiik  kann  man  aber  wenigsten» 
deutlich  zwischen  der  Kuli  und  dem  Unendlichen  unter- 
scheiden« Die  Null  an  den  Körpern,  der  Best,  welchen  wir 
den  Stoff  nennen,  erhSlt  in  der  Wortmacberei  des  Mate- 
rialismus gans  Ton  selbst  das  Flrftdikat  unendlich.  Der 
0nmd  ist  in  der  psychologischen  Entstehung  des  Begrifb  za 
suchen.  Das  wäre  ganz  deutlich,  wenn  die  ^rache  nicht 
in  ihrem  schlechten  Gewissen  immer  neue  Abstraktionen 
für  die  Abstraktion  Körper  gebildet  hatte.  Was  dem  Begriff 
.Stoff"  2a  Gründe  liegt,  ist  immer  die  naive  YorsteUnng 
Ton  einem  Körper,  an  dem  man  sich  stossen  kann.  In 
froherer  Zeit  wurde  die  Luft  nicht  an  den  Körpern  ge- 
rechnet.  Heute  weiss  man,  dass  die  brutale  Körperlichkeit 


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Knft  oad  Stoff. 


569 


eiiieB  Dings  eine  andere  w&re  auf  der  OborflSdie  dee  MondeB 
und  auf  der  der  Erde,  auf  Erden  eine  andere  je  nach  der 
Entfemimg  vom  Mittelpniikte  der  Erde,  eine  andere  je  nach 
der  Temperatur  u.  s.  w.  Unsere  VorBteUung  Tom  Kllrper- 
lichen  ist  uns  aber  seit  Jahrtausenden  so  geläufig  geworden, 
dass  wir  uns  immer  noch,  trofadem  die  Ettrperwdft  in  ein 
Spiel  Ton  Ei^Aen  aufgelflst  worden  ist,  die  Krftfte  als  an 
etwas  extra  Körperliches  angebunden  YOrstellen.  Und  es 
ist  eigentlich  vdUig  gleich,  ob  wir  das:  »Etwas*  oder  »ein 
Körperliches"  nennen.  Das  Wort,  an  welchem  wir  uns  ein 
Abstraktum  yon  allen  Körpern  vorstellen  oder  vielmebr  ein 
Bild,  ist  Materie  oder  Sto£f  oder  Etwas,  und  dieses  Etwas 
ist  für  den  Materialismus  das  Ding-an-sicb,  der  unendliche 
Stoff,  das  Körperliche,  das  verborgene  Pferd,  welches  der 
Bauer  in  der  Dampfmaschine  vermutet,  wie  Friedrich  Lenge 
einmal  gesagt  hat. 

Der  Wortaberglaube  in  den  Begriffen  Kraft  und  Stoff 
driuigt  sich  bei  unmittelbarer  Beobachtung  der  Naturvor- 
gänge so  sehr  auf,  dass  sogar  Du  Bois-Reymond  in  bessern 
jüngern  Jahren  (Untersuchungen  über  tierische  Elefctricität 
1848,  Vorrede)  das  Trüj^erische  in  diesem  Gegensatze  er- 
kannt hat.  „In  den  Begriffen  von  Kraft  und  Materie  sehen 
wir  wiederkehren  denselben  Dualismus,  der  sich  in  den 
Vorstellungen  von  Gott  und  der  Welt,  von  Seele  und  Leib 
hervordrängt.  Es  ist,  nur  verfeinert,  dasselbe  Bedürfnis, 
welches  einst  die  Menschen  trieb,  Busch  und  Quell,  Fels,  Luft 
und  Meer  mit  Geschöpfen  ihrer  Einbildungskraft  zu  be- 
völkere. Wa^  i^t  cfowonnen,  wenn  man  s-u^f .  es  sei  die 
gegenseitige  Anziehungskraft,  wodurch  zwei  Srotfteilcben 
sich  einander  nähern?"  Der  Geschichtsschreiber  des  Ma- 
terialismus bemerkt  zu  dieser  Stelle  sehr  geistreich:  „Unser 
Hang  zur  Persomlikation  oder ,  wenn  man  mit  Kant  reden 
will,  was  auf  dasselbe  hinauskommt,  die  Kat<  f^orie  der  Sub- 
stanz nötigt  uns  stets  den  einen  dieser  Begritie  als  Subjekt, 
den  andern  als  Prädikat  aufzufassen.  Indem  wir  das  Ding 
Schritt  für  Schritt  auflösen,  bleibt  uns  immer  der  noch 
nicht  aufgelöste  Kest,  der  Stoff,  der  wahre  iieprääentant 


570 


TIU.  Wiaan  und  Worte. 


des  Dinges.  Ihm  schreiben  wir  daher  die  entdeckten 
EigenschafiMi  su.  So  enthttUt  noh  die  grosse  Wahrheil 
,kein  Stoff  ohne  Kraft,  keine  Kraft  <^e  Stoff'  als  eine 
bkime  Folge  des  Satses  ,kein  Subjekt  ohne  PtSdikat,  kein 
Prädikat  ohne  Subjekt*;  mit  andern  Worten:  wir  können 
nicht  anders  sehen,  als  unser  Auge  suttsst;  nicht  anders 
reden,  als  uns  der  Schnabel  gewachsen  ist:  nicht  anders 
aujffassen,  als  die  Stammbegriffe  unseres  Yeistandes  be- 
dingen.* 

Aber  diese  Darlegung  beweist  nur,  dass  sowohl  Lange 
als  Du  Bois  Reymond  nicht  ganz  die  Sprache  ihrer  Zeit 
red^,  nicht  wie  ihnen  der  Schnabel  gewachsen  ist,  sondern 
wie  den  Leuten  Torschiedener  Zeiten  Tttschiedene  Schnabel 
gewachsen  sind.  Das  TerhSltnis  von  Subjekt  und  Prädikat 
kann  irgendwie  umgekehrt  werden,  nicht  das  von  Ciraft 
und  Stoff.  Die  gegenwärtige  Naturwiss^chafti  das  heisst 
die  Sprache  unserer  Zeit,  rersucht  sämtliche  Eigenschaften 
der  Dinge,  wo  doch  kein  stofflicher  Best  zurttokbleibt,  in 
Kräfte  aufzulösen,  das  heisst  mathematisch  auszudrücken. 
Wer  konsequent  die  Sprache  unserer  Zeit  reden  will,  der 
darf  darum  gar  nicht  mehr  Tom  Stoff  reden,  sondern  nur 
noch  Ton  Kräften.  Wer  Kraft  und  Stoff  wie  Prädikat  und 
Subjekt  behandelt,  der  vermischt  unwissentlich  die  Sprachen 
verschiedener  Zeiten;  er  könnto  ebenso  gut  sagen:  die  Sonne 
dreht  sich  nach  den  Gesetzen  der  Gravitation  in  einer  ellipti- 
schen Bahn  um  die  Erde.  Ich  aber  möchte  hinsufllgen, 
dass,  nachdem  der  Kraftbegriff  allein  vom  Stoffbegriff  noch 
flbrig  geblieben  ist,  die  Kritik  des  Kraftbegriffe  einzusetzen 
hat  bei  dem  allgemeinem  Begriffe  der  Kausalität;  das  ist 
die  letzte  der  alten  Kategorien,  welche  vrir,  auch  wenn  wir 
noch  so  radikal  denken,  aus  unserm  Verstände  nicht  heraus- 
zubringen vermögen.  Der  Stoff  begriff  jedoch  ist  unter  aller 
Kritik. 

Der  Materialismus  lehrt  seit  alter  Zeit  die  ünzeisiörbar- 
keit  des  Stoffs  oder  der  Materie;  die  vorurteilslosere  Natur- 
wissenschaft unserer  Tage  hat  die  ttbwkommene  Vorstellung 
nur  in  unserer  Sprache  ausgedruckt«  als  sie  neuerdings  das 


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Kraft  und  Stoff. 


571 


Wort  ▼on  der  Erhaltung  der  Energie,  das  heiast  der  Eräfte 
snfbrndiie.  Denn  nachdem  alle  Erscheinungen  am  Körper» 
liehen  in  Erftfte  aufgelöst  waren,  konnte  diks  Unzerstörbare 
nur  noch  in  den  Kräften  gesucht  werden.  Qana  von  selbst 
schlich  sich  dann  für  den  körperlicheren  Ausdruck  Vn- 
serstOrbarkeit  das  abstraktere  Wort  Erludiung  ein;  und 
in  dem  Worte  Eneigie  verrltt  sich  die  Ahnung ,  dass  man 
die  Mehnahl  der  KMe  noch  einmal  auf  verschiedene 
Formen  einer  einzigen  Kraft  surfickführen  werde,  wie 
denn  auch  die  Zahl  da*  waltmden  Katurkiftfte  schon  jetzt 
bedeutend  geringer  ist  als  die  Zahl  der  mehr  als  siebzig 
Elemente,  in  welche  man  nach  Erkenntniszwecken  den  Stoff 
einteilen  musste.  Hier  sehen  wir  aber  auch  sofort  den 
Orund,  warum  auch  die  freiesten  Köpfe  bei  Behandlung 
solcher  Fragen  die  Sprachen  verschiedener  Zeiten  durch- 
einander mischen  müssen.  Es  sind  nämlich  die  verschie- 
denen  Disziplinen  gewissermassen  nicht  gleichzeitig  fort- 
geschritten und  so  nicht  gleichzeitig  auf  der  Höhe  des 
kritischen  Denkens  angekommen.  Die  allgemeinste  mathe- 
matische Naturbetrachtung  hält  bei  der  Erhaltung  der 
Energie  und  blickt  auf  die  siebzig  und  mehr  Elemente  als 
auf  ein  vorläufiges  Stadium  zurück;  der  Forscher,  welcher 
für  chemische  Fabriken  arbeitet,  kann  wiederum  mit  den 
letzten  Prinzipitn  nicht  viel  anfangen  und  muss  sich  noch 
an  die  Elemente  halten.  Wir  können  noch  weiter  gehen 
und  sagen ,  flass  der  praktische  Arzt  noch  vielfach  an  die 
Beobachtungen  und  damit  an  die  Sprai  he  der  Alchimisten- 
zeit, der  praktische  Jurii^t  an  die  Thatsacben  und  damit  an 
die  Sprache  noch  älterer  Epochen  gebunden  ist.  Alle  diese 
Leute  glauben  dabei ,  die  Bildung  der  Gegenwart  in  sich 
aufgeuommen  zu  haben  und  die  Sprache  der  Gegenwart 
zu  reden.  Sie  reden  hucL  nnt  dem  ordinären  Büchner  von 
Kraft  und  Stoff.  Beide  Worte  siüd  aber  Gespenster;  die 
Braven,  die  mit  ihueu  kämpfen,  wissen  es  nur  noch  nicht. 


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572 


YIIL  Wimh  u&d  Worte. 


Natur-  Der  blosse  Hinweis  genügt,  um  das  Zugeständnis  zu 
JoJJidL  Begriff  , Naturgesetz*  eine  Metapher 

sei,  ein  hübsches  Bild,  das  ganz  vortrefflich  in  die  mytho- 
logische Welterkl'arung  des  Altertums  hineinpasste.  Wurde 
doch  die  Natur  selbst  personifiziert,  entweder  in  einer  ein- 
zigen Qestalt  oder  in  mehreren  Gottheiten ;  und  diese  Ksiur 
gehorchte  den  Vorschriften  eines  noch  mächtigeren  Gottes, 
woraus  sich  dann  die  auffallenden  Regelmfewigkeiten  dar 
Natur  ergaben.  So  würde  ein  Reisender,  wenn  er  in  einttu 
fremden  Staate  in  Handel  und  Verkehr  auffallende  Orduimg 
wahrnähme,  auf  das  Vorhandensein  von  Gesetzen  schliessen. 
Dasu  kommt,  dass  man  bis  zur  Stunde  nicht  aufgehört  hat, 
unsere  Stnatsr^eseiae  in  letzter  Instanz  auf  göttliche  Ge- 
bote un  l  V(  rbote  zurOckzufUhren  und  dass  diese  Gdttlich- 
keit  der  Menschensatzungen  im  Altertum  sogar  noch  all- 
gemein gegflauht  wurde. 

Da  ist  es  nun  beachtenswert,  dass  der  Begriff  Natur- 
gesetz sich  bei  Piaton  und  Aristoteles  eigentlich  noch  nicht 
▼(«findet.  Ein  einziges  Mal  findet  sich  bei  Platon  und  em 
einsiges  Mal  bei  Aristoteles  (Eucken :  Grondbegriffe,  2.  Auf- 
lage, S.  174)  das  Wort  »Gesetz*.  Aber  beide  Stellen  machen 
auf  mich  den  Eindruck,  s]s  ob  die  Anwendung  des  Gesets- 
begriffs  auf  die  RegelmSssigkeiteii  der  Natur  eben  als  ein 
neues  und  treffendes  Bild  Tom  Verfasser  selbst  gefllhlt 
wurde.  Aristoteles  macht  das  ganz  deutlich,  denn  er  sagt: 
«wie  ein  Geseia*.  Nach  dem  Sprachgebrauch  der  Alten 
würden  wir  also  z.  B.  sagen  müssen:  die  «Gemischen  Ele^ 
mente  Terbinden  sich  untereinander  in  so  ordnungsmassigen 
Reihen,  als  ob  sie  äussern  Gesetzen  gehorchten.  Die  Bild- 
lichkeit des  Ausdrucks  wurde  also  sehr  stark  empfunden, 
auch  da  noch,  wo  das  Wort  Natuigesetse  oder  viebnehr 
«Vertrüge  der  Natur*  schon  als  technischer  Ausdruck  vor- 
kommt wie  bei  Lueretius. 

Dieses  Bewusstsein  der  Bildlichkeit  ist  der  eine  Grund, 
weshalb  die  Natmrgesetze  in  der  Wissenschaft  des  Alter- 
tums noch  eine  bescheidene  Bolle  spielten;  dazu  kommt 
aber  der  weit  wichtigere  Grund,  dass  Naturgesetze  als  Bild 


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NfttnigMekie  bildliclL 


573 


oder  Begriff  immer  nur  die  wahrgenommenen  Regelmässig- 
keiten  der  Natur  erklaren  wollen  und  sollen  und  dass  dem 
Altertum  yerhältnismässig  sehr  wenige  solcher  Regelmässig- 
keiten bekannt  oder  geläufig  waren.  Von  den  Regelmässig- 
keiten des  sozialen  Lebens  hatten  die  Alten  noch  keine 
Ahnung;  darum  musste  ihnen  auch  der  Begriff  sozialer  Ge- 
setze völlig  fremd  bleiben.  Aber  auch  die  bei  uns  land- 
läufigen Regelmässigkeiten  der  Physiologie  waren  von  ihnen 
noch  nicht  beobachtet  worden ;  sie  konnten  darum  das  Bild 
YOm  Oesetz  auch  nicht  auf  das  Leben  der  Tiere  und  Pflanzen 
anwenden.  Als  regelmässig  erkannten  sie  deutlich  bloss 
die  Vorgänge  der  Mechanik  z.  B.  die  Bewegung  der  Steine; 
da  allein  schien  die  Natur  Verträge  abgeschlossen  zu 
haben,  einem  fremden  GesetE,  einem  fremden  Willen  zu 
gehorchen. 

Ich  bemerke  dasn,  dass  der  Streit  der  Analogisten  und 
Anomalisten,  der  die  ganze  Sprachphilosophie  der  Alten 
durchzieht  f  bei  ihnen  auf  die  Frage  zurttckgebt,  ob  die 
Worte  natOrlich  oder  durch  einen  Oeset^eber  geschaffen 
worden  seien.  Man  sieht  sofort,  dass  diese  ganze  An- 
schauung unserem  Denken,  also  unserem  Sprachgebrauche 
widerstrebt  Wir  suchen  die  Gesetze  in  der  Nntur,  erblicken 
also  in  Kator  und  Oesetz  keinen  Gegensatz.  Die  Alten 
stellten  —  immer  bfldlich  —  der  Natur  einen  äusseren  Ge- 
setzgeber gegenüber. 

Der  FoH^ang  des  Denkens  ftihrte  im  Mittelalter  dazu, 
dass  das  Bildliche  aus  dem  Begriff  Gesetz  so  oder  so  Yer- 
schwmden  musste.  Die  blühenden  Personifikationen  des 
Altertums  hOrten  auf.  Ans  der  Natur  wnrde  der  nüchterne 
Inbegriff  aller  wirklichen  Dinge  und  aus  dem  Gesetzgeber 
aber  ihr  wurde  der  allmächtige  €k»tt  der  christlichen  Dog- 
mattk.  Da  Terflog  das  poetische  Bild  und  ganz  prosaisch 
wurde  Gott  der  wirkliche  Gesetzgeber  der  Natur.  Diese 
Vorstellung  ist  schon  im  ersten  Kapitel  der  alten  Bibel 
▼orgebüdet.  Gott  schuf  Sonne,  Hond  und  die  Sterne,  den 
Tag  und  die  Nacht  zu  regieren.  Wie  ein  absoluter  Mo- 
narch, der  sich  um  alles  selbst  bekümmert,  erscheint  da 


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674 


VIII,  Witwen  und  Worte. 


Gott.  Und  es  wird  auch  sofort  Idar,  warum  das  ganze 
Hittelalter  sich  bei  solchen  Anschauungen  Aber  kein  Wunder 
wunderte.  Die  wenigen  RegelmSssigkeiten  der  Natur  waren 
eben  niclit  innere  Naturgesetze,  sondern  äussere  Gesetze 
Gottes,  die  der  allmächtige  Gesetsgeher  mit  ToUem  Recht 
in  jedem  Augenblick  aufheben  konnte,  wie  ein  absoluter 
Monarch  sich  auch  um  seue  eigenen  Gesetzbücher  nicht  zu 
bekOmmem  braucht.  Gott  hatte  der  Sonne  befohlen,  in 
regelmässigem  Laufe  zu  leuchten.  Es  stand  eher  gar  nickte 
im  Wege,  dass  er  einmal  der  Sonne  befahl,  stQl  zu  stehen. 
Dieser  Fortgang  der  Weltanschauung  also,  der  chnalliche, 
Temichtete  das  Bild  vom  Gesetze  dadurch,  dass  er  das 
Gesetz  für  Wirklicbkeit  nahm. 

In  entgegeugesetzter  Richtung  bewegte  sich  derjenige 
Fortgang  des  Denkens,  der  bei  Spinoza  schliesdich  dazu 
führte,  Gott  und  Natur  einander  gleich  zu  setzen.  Und  es 
kann  gar  kein  Zweifel  darüber  besteben,  dass  gerade  die 
weiter  beobachteten  Regelmässigkeiten  der  Natur  zu  dieser 
neuen  Empfindung  von  der  Natur  ftlhrten.  So  war  auch 
Spinoza  der  erste,  der  sich  in  seinem  tbeologiscb-politiscben 
Traktat  gegen  den  WunderbegriiF  kebrte.  Das  ist  beinahe 
selbstverständlich  bei  dem  tapferen  Manne.  Hatte  man 
tausend  Jahre  laii«^  immer  mehr  Regelmässigkeiten  der 
Natur  beobachtet  und  dazu  keine  einzige  Unregelmässigkeit, 
so  lag  die  Vermutung  nahe ,  dass  der  Natur  die  Gesetze 
gar  nicht  von  einem  fremden  Willen  vorgeschrieben  waren, 
dass  die  Natur  sicli  ihre  Gesetze  selber  rrab,  dass  Staat  und 
Gesetzgeber  ziisammenlieleu ,  wie  in  der  neuen  Republik, 
in  Spinozas  Niederlanden,  wie  in  einem  idealen  Rechtsstaat. 
Stand  aber  der  Natur  kein  äusserer  Gesetzgeber  t^egenüber, 
fiel  Gott  und  Natur  zusammen,  so  gab  es  auch  keinen 
fremden  Willen ,  der  die  Regelraässigkeit  durchbrechen, 
der  ein  Wuuder  bewirken  konnte. 

Der  Gebrauch  des  Wortes  Naturgesetz  wurde  nun  zwiu- 
immer.  häuti*,'er,  aber  sein  bildlicher  Sinn,  seine  wahre  Be- 
deutung ging  verloren.  Wieder  und  wieder  stehen  wir 
vor  einem  Beispiel,  das  die  \V  ahrheit  meiner  Lehre  bezeugt 


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GeeeUe  m  den  Worten  enthalten. 


575 


Das  Gedächtnis  der  Menschen  hatte  Aehnlichkeiten  gemerkt, 
wie  z.  B.  den  Lauf  der  Gestirne.    Diese  auffallende  Kegel- 

niiissigkeit  wollte  der  Wissensdrang  der  Menschheit  sich 
erklären  uiui  glaubte  die  Erklärung  in  der  mythologischen 
Gestalt  und  dem  bildlichen  Begriff  der  Gesetze  zu  finden.  War 
ein  äusserer  Gesetzgeber  da,  so  war  die  Regelnlässigkeit  zu 
verstehen.  Nun  verschwand  die  mythologische  Gestalt,  das 
Bild.  Der  Begriff"  Gesetz  aber  blieb  und  wurde  —  und  wird 
bis  zu  dieser  Stunde  —  geheimnisvoll  als  etwas  der  Natur 
Innerliches  aufgefa&st.  Die  Gewohuheit  der  Sprache  lässt 
uns  glauben,  dass  dieser  neue  Gesetzln  gi  ilF  immer  noch  die 
\\ HiirgeMommenen  Regelmässigkeiten  ^erkläre*.  Aber  er 
erklärt  gar  nichts.  Der  neue  Begriff  Gesetz  oder  Natur- 
gesetz ist  nur  ein  anderes  Wort  für  eben  die  unerklärten 
Regelmässigkeiten,  ein  leeres  Wort,  das  mit  seiner  Bildlich- 
keit und  Sinnlichkeit  jeden  Sinn  verloren  hat.  Höchstens 
dass  in  dem  Begriff  .Gesetz"  die  Nuance  mit  eingeschlossen 
ist:  die  beobacliteten  Regel inässigkeiten  kehrten  bisher  so 
ununterbrochen  wieder,  dass  wir  auch  an  ihre  ktlnftige 
Wiederkehr  glauben.  Was  wir  also  Naturgesetz  nennen, 
ist  nichts  weiter  als  unsere  Seelenstimmung  gegenüber  den 
in  uns  entstaudeaen  induktiven  Beirriffen  (»der  W^orten. 
Wenig  genug,  aber  zugleich  alles,  was  v.  u  haben. 

Ich  habe  vorhin  neben  einander  von  liegelmässigkeiteu  tieseue 
der  Natur  und  von  Aehnlichkeiten  unserer  Sinneseindrücke  ^^Qr^^n 
gesprochen.    Ich  wollte  damit  andeuten ,  dass  die  neuere  eat- 
Weltanschauung,  wie  sie  seit  Locke  und  Kant  auf  die  Er- 
kenntnis  der  Wirklichkeit  verzichtet  und  sich  auf  Kenntnis 
unserer  sulijektiven  Sinneseindrücke  zurück^itht ,  an  dem 
Begriff  der  Naturgesetze  nichts  geändert  hat.    Haben  wir 
eben  ganz  begriffen ,   dass   unsere  imponierenden  Gesetze 
nichts  weiter  sind  als  ein  anderer  Ausdruck  für  unsere  in- 
duktiv entstandenen  Begriffe  oder  Worte,  so  ist  es  doch 
ganz  gleichgültig,  ob  wir  uns  dieser  Entstehung  aus  Sinnes- 
eindrücken bewusst  sind  oder  ob  wir  an  ein  direktes  Wahr- 
nehmen   ler  Dmge  glauben.    Regelmässig  war  der  Lauf 
der  Sonne  auch  damals,  als  wir  von  der  Scheinbarkeit  der 


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576 


VlIL  Wimen  und  Worte. 


Bewegung  noch  nichts  wnssten.  Die  Bogcnmiattti  Katar- 
geeclse  beieichncn  ebenso  keine  andere  BegelmSasii^eit, 
seitdem  wir  wissen,  dass  nur  ^n  Wiederacheitt  6»  Wirk- 
lichkeiiswelt  in  unserem  Denken  ist 

Der  FortschriH  gegen  fraher,  der  uns  auf  die  Natur- 
wissenschaften unserer  Tage  so  famulusra&ssig  stolz  sein 
ISsst,  besteht  einzig  und  allein  in  der  grösseren  Genauigkeit 
der  Beobachtungen.  Die  Prtzisionsinechanik  bildet  den  Haupt- 
unterschied zwischen  der  Mechanik  der  Alten  und  unserer 
Mechanik.  Wenn  einige  Wissenschaften  ganz  neu  aufgetreten 
sind,  wie  z.  B,  die  Chemie  mit  ihren  mathematischen  Ge- 
set7,en .  so  ist  auch  das  nur  der  Ausdruck  fllr  die  Ke<^el- 
mässin;kt'it  feinen^r  und  schärferer  Beobnchtunfren.  Ohne 
Zweifel  hat  die  Anwendung  der  Mathematik  auf  die  Natur- 
wissenschafton ihre  sogenannten  Gesetze  weit  hübscher  und 
brauchbarer  zugleich  gemacht;  das  menschliche  Interesse 
wie  die  interesselose  Freude  werden  mehr  befriedigt  als 
früher;  aber  darum  liort  das  Naturgesetz  nicht  auf  ein  über- 
flüssiges Wort  zu  sein.  Es  schadet  nicht  viel,  wenn  die 
Gelehrten  und  die  Abfas-ser  von  Schulbüchern  von  Zeit  zu 
Zeit  unbewusst  in  die  alte  antliropomorphe  V(»rstellungs- 
welt  zurückvertalleu  und  unklar  von  den  Gesetzen  so  reden, 
als  wären  sie  Untergottheiten  zwischen  der  Allniutter  Natur 
und  ihren  einzelnen  Erscheinungen.  Wie  gesagt,  so  poetische 
Bilder  schatten  nicht  mehr  grossen  Schaden.  Die  Gelehrten 
ahnen  ja  doch,  wir  aber  wissen  es :  dass  die  Einzelerschei- 
nungen sich  zu  ihren  sogenannten  Gesetzen  ebenso  ver- 
halten wie  unsere  Einzelwahrnehniungen  zu  unseren  Be- 
griffen. So  wenig  unsere  Einzelwahmehmungen  die  Wir- 
kungen oder  die  Folgen  von  ihrem  Begriffe  sind,  so  wenig 
gehen  die  Erscheinungen  aus  den  Gesetzen  hervor.  Nicht 
die  Gesetze  gehen  voraus,  sondern  die  Thatsachen.  Nicht 
die  Thatsachen  gründen  sich  auf  Gesetze,  sondern  die  Be- 
quemlichkeit unseres  Denkens  gründet  Gesetze  auf  That- 
sachen. wie  nie  Begritie  auf  Wahrnehmungen  gründet.  Die 
Gesetze  sind  nicht  das  Vorausgehende,  sondern  das  Nach- 
kommende.  Und  das  einzig  und  allein  in  unserem  Gehirn. 


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G«Mtie  in  dm  Worten. 


577 


Und  ich  stohe  nicht  an,  den  Begriff  Gesetz  damit  aus  der 
Reihe  unaerer  leibhaftigen  Worte  auszustreichen,  wenn  ich 
sage :  so  wie  Platon  und  mit  ihm  die  sogenannten  Realisten 
des  Mittelalters  zu  den  wahrgenommenen  Einzel  dingen  sich 
die  allgemeinen  Begriffe  Iconstruierten  und  sie  als  etwas 
Reales,  als  Erzeuger  der  Einzeldinge  auffasstcn,  sie  ge- 
wisserniassen  als  zeugende  Gottheiten  der  Dinge  in  die 
Ewigkeit  hinausprojizierten,  genau  ebenso  konstruieren  sich 
unsere  Naturforscher  —  bewuss^t  oder  unbewusst  —  zu  den 
wahrgenomniencn  regelmässigen  Naturveränderungen  Be- 
griffe dieser  Veränderungen,  nennen  diese  Begriffe  GesetM 
und  sind  geneigt,  sie  zeitlich  als  Regierer  Tor  die  Aende- 
niTigen  zu  setzen,  wenn  sie  sie  auch  nicht  geradezu  myHiisch 
in  den  Kaum  hinausprojmeren. 

Sind  wir  so  erst  ganz  einig  darüber,  dass  unser  ganzes 
menschliches  Wissen  in  unseren  Wahrnehmungen  besieht, 
unser  Denken  oder  Sprechen  einzig  und  allein  in  der  be- 
quemen Ordnung  dieser  Wahrnehmungen  (durch  Begriffe 
oder  Worte,  welche  ähnliche  Wahrnehmungen  zusammen- 
fassen), so  werden  wir  bescheiden  weiter  sagen,  dass  wir 
Gesetze  diejenigen  Begriffe  zu  nennen  pflegen,  die  besonders 
regelmässige  Naturbewegungen  oder  Aendeningen  zusam- 
menfassen. Geqpenster,  die  pfinktlich  zur  gleichen  Stunde 
erscheinen.  Wir  nennen  die  Begelmäasigkqiten  in  der 
Mechanik,  die  wir  bis  auf  die  Ueinsfeen  Bruchteile  beob- 
achten gelernt  haben,  €tesetze,  wie  wir  die  Begelmissig- 
keiten  in  der  Biologie,  die  noch  sehr  schlecht  beobachtet 
sind,  ebenfalls  Q«setze  nennen.  So  haben  wir  doch  auch 
in  Bezug  auf  die  Dinge  selbst  festere  Begriffe  wie  Eisen 
n.  s.  w.,  wir  haben  daneben  fliessendere  Begriffe  wie  Tier. 
Darum  scheint  mir  der  Streit  daraber,  auf  welche  Verände- 
rungen der  Begriff  Gesetz  anzuwenden  sei  und  auf  welche 
nicht  (Sprachgesetze  z.  B.),  um  der  Relativität  des  Qeaetz- 
begriffe  willen  ein  reiner  Wortstreit  zu  sein.  Was  man 
jetzt  Soziologie  nennt,  weist  ganz  gewiss  Aehnlichkeiten 
oder  Regelmässigkeiten  auf;  ob  man  diese  Iirschemung  nun 
statistische  Gesetze  oder  bescheidener  Tendenzen  nennt,  das 
MftvtbB«r»  Beitilc«  m  ein«  Kritik  4«r  Spn^  m.  37 


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578 


ViU.  WiMeu  und  Worte. 


macht  die  Beobachtungen  selbst  weder  besser,  not  Ii .  chlechter. 
Erst  wenn  ein  Staatsmann  die  mangelhaften  Beobachtungen 
der  Statistik  für  gute  Beobachtungen  hält,  für  eben  solche 
Gesetze  wie  die  Gesetze  der  Mechanik,  und  weiui  er  auf 
Grund  dieser  veruieintlichen  Naturgesetze  höchst  wirksame 
Staatsgesetze  sich  erfindet,  erst  dann  kann  ein  Schaden 
entst-ehen,  erst  dann  kann  die  Siuulosigkea  des  Begriffe 
^Gesetz"  zu  sinnlosen  Gesetzen  führen.  Diese  Möglichkeit 
ist  in  der  Gegenwart  freilich  alltäglich  geworden,  ist  aber 
durchaus  nichts  anderes  als  die  Thorheit  eines  mittelalter- 
lichen Staatslcukers,  der  abstrakte  Begriffe  für  wirklich 
hielt,  aus  ihnen  logische  Schlüsse  zog  und  z.  B.  ganz  logisch 
aus  dem  Begriffe  der  Gottheit  die  Notwendigkeit  ableitete, 
Ketzer  zu  verbrennen.  Der  lebendige  Mensch  schaudert  vor 
dem,  was  er  Greuelthaten  ueuut;  die  Natur  kann  darüber 
nur  lachen  wie  über  jeden  anderen  Missbrauch  der  Sprache. 

Alle  diese  Beispiele  aus  ungleichen  Zeiten  und  Ge- 
bieten, diese  ganze  Kunstgeschichte  des  Bildes  „Gesetz*, 
kann  uns  uebeubei  lehren,  was  in  der  Kritik  der  Sprach- 
wissenschaft vielleicht  nicht  scharf  genug  ausgesprochen 
war:  diiss  wir  ilie  Geschichte  der  einzelnen  Worte  erkenntnis- 
theoretis(  h  nur  dazu  l>rauchen  können,  den  Nebel  überhaupt 
wiihrzunehmen,  der  jedes  einzelne  Wort  »tisch  umgibt. 
Wir  'glauben  oft,  Wortgeschichte  betriedige  nur  unsere 
"Neugier.  Da  haben  wir  aber  das  Wort  -Gesetz",  das  von 
den  besten  Schriftstellern  irrlichtelierend  gebraindit  wird, 
weil  es  unsichtbar  von  den  Gespenstern  verschiedener  Jahr- 
tiuisende  umgeben  ist.  Die  Gespenster  der  Ursächlichkeit 
und  der  Notwendigkeit  sind  auch  für  uns  noch  hieb-  und 
stich-  und  kugelfest.  Das  Gespenst  der  Gesetzmässigkeit 
aber  verschwindet,  sobald  wir  es  fest  und  furchtlos  ange- 
blickt haben. 

* 

Es  gibt  keine  leibhaftigen  Gesetze  Es  gibt  keine  Ge- 
setze der  Geschichte.  Es  gibt  auch  keine  Gesetze  der 
Sprachgeschichte,  nur  einen  ZufaUsstrom  von  mikroskopi- 


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579 


sehen  Laut-  und  Bedentungswuidliiiigen,  deren  Analogien 
man  GesetiW  genannt  hat»  Dag  hat  uns  die  Kritik  der 
Sprachwissenschaft  gelehrt« 

Und  schon  vorher  haben  wir  erfahren,  dass  die  Sprache  zoiui. 
oder  das  Denken  nur  ein  Zufallsbild  von  der  WirUichkeits- 
welt  enthalten  kann,  weil  wir  von  der  WirUichkeiiswelt 
nur  wissen,  was  die  Siebe  unserer  Zufallssinne  passieren 
konnte.  So  ist  all  unser  Denken,  das  Spiel  der  Associationen, 
in  doppelter  Beriehnng  ein  Zufallsspiel  dieser  Assodattonen 
(n  547)  und  die  Begriffe  Zufall  und  :&otw6ndigkeit  asso- 
eiieren  sich»  was  wir  dann  su  grammatischen  und  logischen 
Verbindungen  beider  Begriffe  bentttaen.  Und  wir  mflssen 
einen  Augenblick  innehalten,  wir  müssen  den  Begriff  «Zu- 
fall* genauer  betrachten,  der  aus  einer  eigentlich  negatiTen 
Abstraktion  zu  einem  positiv  anmutenden  Worte  geworden 
ist,  mythologisch  verwendbar  und  nun  bereit,  mit  seinem 
G^ensatse  verkuppelt  zu  werden. 

Das  Wort  Zufall  ist  sichtlich  eine  Vebersetsung  (sie 
findet  sich  erst  im  spftten  Ifittelhoehdeutfich)  des  lateinischen 
Wortes  accidens.  Dieses  ist  wieder  eine  üebersetzung  des 
griechischen  oDp,p«ßipioc.  Der  ursprüngliche  Sinn  hat  sich 
im  heutigen  FranzOsisch  noch  da  erhalten,  wo  accident  im 
scholastasch-gelehrten  und  auch  im  scholastisch-medizini' 
sehen  Sprachgebrauche  das  bedeutet,  was  in  der  deutschen 
Philosophie  hilflos  die  Accidens  heisst.  Für  unsem  Zufall 
haben  die  romanischen  Sprachen  das  Wort  hasard,  welches 
—  wenn  wirklich  von  der  arabischen  Bezeichnung  für  Würfel 
hergenommen  —  ein  sehr  guter  bildlicher  Ausdruck  für  den 
ZufaU  ist. 

Sieht  man  aber  genauer  zu,  so  steckt  in  dem  scholasti- 
schen Worte  Accidenz  doch  eine  der  unklaren  YorsteUungen, 
die  wir  mit  dem  ZufaUsbegriffe  verbinden.  Die  Accidenz 
steht  nftmlicfa  im  Gegensatze  zu  der  Essenz  eines  Dings; 
und  der  weise  Aristoteles  hat  sich  darunter  wirklich  nicht 
viel  Anderes  gedacht  als  das  Zufällige.  Es  ist  «wesentlich*, 
dass  ein  Hund  anatomisch  so  und  so  gebaut  ist;  es  ist  «un- 
wesentlich* das  heisst  doch  wohl  zufällig,  ob  er  schwarz 


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580  VUX.  Winea  und  Worte. 

oder  braun  oder  weiss  ist.  Der  Zufallsbeyfriff  ist  also  etymo- 
logisch (wenn  wir  mechanische  Uebersetzun;_'*en  der  Wort- 
teile unbeachtet  lassen)  aus  dem  Accidenzbej^riff  hervor- 
g^angen,  aus  dem  Gegensatze  zum  Wesentlichen.  Zufällig 
ist  das  Unwesentliche.  Aber  im  Laufe  der  Zeit,  als  die 
Notwendigkeit  alles  Geschehens  dem  Menschen  eine  not- 
wendige VorsteUung  wurde,  gewann  der  Zufallsbegriff  die 
Bedeutung  eines  Gegensatzes  zum  Notwendigen.  Das  konnte 
aber  nur  den  Dummen  genügen.  Die  bes.scm  Köpfe  sahen 
bald  ein,  dass  auch  die  unwesentliclien  Eigenschaften  und 
Ereignisse  notwendig  seien,  weuu  wir  auch  ihre  zwingenden 
Ursachen  nicht  kennen  oder  nicht  beachten.  So  crewanu 
der  Zutailsbegriff  seine  relative  Bedeutung;  zufällig  war  im 
Gegensatze  zum  Notwendigen  das,  dessen  Notwendigkeit  wir 
nicht  sahen.  Und  zuletzt,  ila  doch  alle  Notwendigkeit  aus 
zwingenden  Ursachen  nur  eine  menschliche  Bezeichnnnj^  i.st. 
hergenommen  von  unserm  Bewusstsein,  eine  Handlung  ge- 
wollt und  sie  durch  unser  Wollen  verursacht  zu  haben, 
geriet  der  Zufall  in  einen  dritten  Gegensatz  gegen  die  Ab- 
sicht l.rlikcu.. 

Wir  haben  also  im  Zufall  eiueu  Begriff'  vor  uns.  der 
erstens  nur  notrativ,  nur  als  Gep;ensatz  von  etwas  anderem 
verstanden  wercien  i\ann  liSegatiou  iat  nie  an  sich  da,  ist 
immer  nur  zwischen  den  Menschen,  wie  Kant  sclion  lehrte), 
und  der  zweitens  überhaupt  nicht  verstanden  werden  kann, 
weil  er  so  ungenauen  Abstraktionen  wie  der  Wesentlichkeit, 
der  Notwendigkeit  und  der  Absichthchkeit  entgegengesetzt 
ist.  \Vie  kommt  es  nun,  dass  jeder  Schuljunge  sich  ein- 
bildet, bei  diesem  verwirrten  Begriü"  etwas  Klares  zu  denken  ? 

Auf  die  Antwort  werde  ich  geführt  durch  eines  der 
feinsten  Kapitel  in  L.  Geigers  ,  Ursprung  und  Entwickehmg 
der  menschlichen  Sprache  und  Vernunft".  Geiger  ist  frei- 
lich selbst  nicht  ganz  sicher.  Er  weiss  noch  nicht,  dass  wir 
mit  Hilfe  der  Sprache  über  die  Sprache  nicht  hinaus  ge- 
langen, dass  wir  mit  unserm  Denken  nicht  aus  unserm  Kopfe 
hinauskommen,  dass  alle  mögliche  Spekulation  doch  immer 
nur  Psychologie  ist.  Aber  er  ahnt  doch  den  Irrtum  Kants, 


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ZufiftU  und  AnfinerkHunkeit. 


581 


wenn  er  (1.285)  sagt:  «Der  Grundintum,  ab  ob  es  wider- 
Bimtig  wftre,  vom  Zwecke  (der)  die  ErünluruDg  prüfenden 
ZergUedemng  sie  selbst  zmn  Werkzeuge  su  nehmen,  die 
Verwecliselimg  des  VemnnftobjektoB  mit  dem  Venmnftsnb- 
jekte,  bat  die  Kritik  des  Denkens  in  eine  unlBeliche  Ver- 
wirrung geführt,  und  den  Versuch  derselben  in  der  Aus- 
führung fast  giushch  scheitern  lassen.*  Wer  sich  die  Mflhe 
nimmt,  diesen  schwierigen  SsAz  sich  auseinander  su  legen, 
der  wird  graeigt  sein,  an  Stelle  der  Kritik  der  Vernunft 
eine  Kritik  der  Sprache  lu  setzen.  Und  unwillkOrlieh  geht 
Geiger  sofort  dazu  über,  den  Zufallsbegriff  sprachlich  und 
psychologisch  zu  erklftren.  Der  Kürze  wegen  will  ich,  was 
er  bei  diesem  Begriffe  neu  bemerkt  hat,  gleich  in  meiner 
Sprache  wiedergeben;  denn  Geiger  weiss  wieder  nicht,  dass 
seine  metaphysische  Untersuchung  nur  sprachlicher  Art  ist. 
Seine  riditige  Bemerkung  aber  scheint  mir  zu  sagen,  dass  z«fdi 
wir  etwas  erst  dann  zuMlig  nennen,  wenn  unsere  Aufmerk-  ^«^^^1 
samkeit,  unsere  Aufinerksamkeit  auf  den  kausalen  Zusammen-  imU- 
hang  nlmlich,  hingelenkt  worden  ist.  »Zufallig  kann  eine 
Thatsache  nur  in  Beziehung  zu  einor  andern  heissen»  Ton 
wdcher  sie  Terursacht  werdtti  konnte.*  Wenn  wir  das 
Wort  Zufall  auf  eine  BSgenschaft,  auf  eine  Situation,  auf 
ein  Ereignis  anwenden,  so  ist  vorher  jedesmal  durch  die 
Katar  oder  durch  den  Menschenverstand  der  Schein  erweckt 
worden,  dass  diese  Eigenschaft,  diese  Situati<m,  dieses  Er- 
eignis einen  bestimmten  Umstand  zur  Ursache  habe.  Unsere 
widerspreehende  Gewissheit  oder  unsere  Uebwzeugung,  dass 
dem  nicht  so  sei,  nennen  wir  nun'  mit,  wenn  wir  Zufall 
sagen.  Es  unternimmt  z.  B.  jemand  eine  Reise  am  Freitag 
und  erieidet  einen  Unfall.  Ein  Chinese,  der  den  Freitag- 
Aberglauben  gar  nicht  kennt,  würde  nie  auf  den  Einfall 
kommen,  diesen  Unfall  einen  ZufsU  (dieses  acddent  eine 
Accidenz)  zu  nennen.  Nftmlich  nicht  in  Beziehtmg  auf  den 
Wochentag.  Es  ist  also  der  BegiiflP  Zufall  eigentlich  nur 
eine  Temeinende  Antwort  auf  die  Behauptung  eines  be- 
kannten Zusammenhangs  zwischen  dem  znf&lligen  Ereignis 
und  ^nem  andern  Umstände.  Eine  echte  Negation. 


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582 


YIII.  VViasea  \uxd  Worte. 


War  nun  der  Unfall  eine  Entgleisung  der  EisenbaluL, 
so  kann  die  Antwort,  sie  sei  zufällig  gewesen,  ganz  ricltt% 
entweder  die  Weseutlicbkeit,  oder  die  Notwendigkeit,  oder 
die  Absicbtlichkeit  leugnen.  Und  die  redenden  Menschen 
wissen  nicht,  duss  da  Abgründe  zwischen  den  Bedeutungen 
des  gleichen  Wortes  liegen. 

Da  hat  sich  ein  Eisenbabnuiifail  ereignet.  Die  alte 
Mutter  eines  Getöteten,  eine  Frau  aus  einem  entlegenen  Ge- 
birgsdorf,  die  noch  nie  eine  Eisenbahn  gesehen  bat,  sagt: 
„Die  Eisenbalm  ist  eine  Erliadung  des  Teufels.  Wer  auf 
der  Eisenbabn  fährt,  kommt  um."  Weim  sie  den  Aristoteles 
im  Kopie  hätte,  so  hätte  sie  das  so  ausgedrückt:  Es  gehört 
zum  Wesen  einer  teuflischen  Ertindung,  dass  die  Leute 
durch  sie  uiukuumien.  Die  Antwort  lautet:  Nein,  es  ist  ein 
Zufall  gewesen,  das  beisst  es  gehört  nicht  zum  Wesen  der 
Eisenbahn,  dass  die  Fahrgäste  umkommen. 

Der  biidungsstolze  Zeitunffsleser  sagt:  ,Der  Brücken- 
'  pfeiler  an  der  Unglüi  k^.sLelle  wai  zu  schwach;  er  ist  seit 
Jahren  bei  jedem  Anschwellen  des  Wassers  unterwaschen 
worden  und  so  war  es  nach  den  Naturgesetzen  notwendig, 
dass  der  Zug  in  den  Abgrund  fiel."  Die  Antwort  lautet: 
Nein,  ph  war  doch  ein  Zulall,  das  heisst  die  Xatnriresetze 
in  Lürtu  und  zugegeben,  du'^s  jede  Lockerung  des  i'feilei*s 
und  die  Unaufnierksamkeit  des  Wächters  und  die  Dunkel- 
heit der  Kaclit  und  die  besondere  Schwere  des  Zuges  jedes 
für  sich  einen  zm-eicbendpn  Grund  gehabt  habe,  so  bleibt 
es  für  die  einzelnen  Verunglückten  dennoch  ein  blosser  Zu- 
fall, dass  der  Unfall  gerade  in  dieser  Stunde  stattfand  und 
gerade  diese  und  keine  andern  Menschen  traf.  Denn  es  be- 
steht kein  Kausalzusammenhang  zwischen  dem  lockernden 
Frost  des  letzten  Winters,  zwischen  dem  Gewitterregen  des 
gestrigen  Tages  und  zwischen  dem  Krankheitsfall,  dessen 
telegraphische  Mitteilung  diesen  oder  jenen  Eeisenden  gerade 
in  diesen  Zug  brachte. 

Oder  der  Streekenwächter  sagt:  „Ich  habe  zehn  Mi- 
nuten vor  dem  Unfall  die  Strecke  untersucht,  es  war  alles 
in  Ordnung;  es  muaa  ein  Verbrechen  Torliegen,  es  muss 


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Zolidl  und  Aufinerknnilnit 


583 


jemand  absichtlich  eine  Schiene  ausgehoben  haben."  Der 
Sachverstindige  antwortet:  Nein,  es  war  doch  ein  Zufall 
und  keine  verbrecherische  Absicht;  denn  wir  fanden  die 
Schiene  durch  die  Hitze  verbogen  oder  dergleichen. 

In  allen  drei  Fällen  ist  also  das  Wort  Zufall  die  Ne- 
gation eines  andern  unklaren  Begriffes  gewesen.  Und  ich 
benütze  die  Gelegenheit  darauf  hinzuweisen,  wie  die  Begriffe 
Weaen,  Notwendigkeit  und  Absicht  ineinander  übergehen 
können.  Das  alte  Weib  hält  die  Todesgefabr  ftlr  eine 
wesentliche  Eigenschaft  der  Eisenbahn,  weil  die  Tötung  in 
der  Absicht  des  Teufels  liege.  Aber  auch  der  Theoretiker, 
welcher  die  Notwendigkeit  jenes  Unfalls,  die  Notwendigkeit 
an  jenem  Orte  und  zu  jener  Stunde,  aus  den  Naturgesetsen 
ableitet,  verirrt  sich  leicht  2a  der  Vorstellung,  dass  ein  nn- 
endliches  Wissen  alles  h&tte  voraussehen  können,  dass  diese 
Voraussicht  in  den  noch  nickt  genügend  bekannten  statiBti- 
schen  Gesetzen  Terboi^en  sei,  und  von  da  ist  es  nicht  mehr 
weit  zu  dem  Glanben  an  ein  persönlich  wirkendes  Fatum. 
In  dem  Begriffe  euies  Gesetzes  ist  immer  eine  heimliche 
Absicht  versteckte 

Wir  wollen  aber  den  drei  BegrifliMi,  denen  der  Zu<* 
fallsbegriff  entgegengestellt  wird,  noch  eme  kleine  Stufe 
weiter  nachzugraben  snchen.  Da  will  es  beinahe  schei- 
nen, als  ob  die  AbsichÜichkeit,  die  Wesentlichkeit  und 
die  Notwendigkeit  drei  weit  auseinander  liegenden  Welt- 
anschauungen angehörten,  so  dsss  ihr  gleichzeitiger  Ge- 
brauch nebeneinander  zu  den  merkwürdigen  Brscheinungen 
gehört,  als  ob  Torsiniflutliche  Tiere  für  die  Bühne  eines 
l^ngeltangels  abgerichtet  worden  wliren.  Warum  sollen 
wir  uns  aber  auch  darüber  wundem?  Leben  doch  gleich- 
zeitig auf  der  Erde  Seesteme,  Elefanten  und  Menschen, 
Filze  und  veredelte  Rosen.  Die  Untersuchung  aber  zeigt, 
dass  —  in  der  Gteschichte  der  Sprache  oder  des  Denkens  — 
das  Wesentliche  nur  eine  Vorstufe  des  Kotwendigen  war. 

Vor  Jahrtausenden,  als  der  Begriff  der  allgemeinen 
Naturnotwendigkeit  auch  in  den  besten  Köpfen  noch  nicht 
vorhanden  war  und  dennoch  seine  Ahnung,  da  hslf  sich  die 


Üigiiizeü  by  i^üOgle 


584 


VIII.  WiMen  uid  Worte. 


philosophische  Sprache  so,  dass  die  regelmässigen  und  uicht 
wegzudenkenden  Eigenschaften  eines  Üings  unter  dem  Worte 
für  sein  Wesen  mit  gedacht  wurden.  Als  der  Begriff  der 
Notwendigkeit  aufkam,  da  hätte  man  den  Begriff  der  Wesenfc- 
licbkeit  einfach  fallen  lassen  sollen. 
Not-  Der  Betriff  der  Notwenditrkeit  wi«^derum  das  heisst  die 

k«it^   etwa  seit  dreihundert  Jahren  autgekonimcne  Ueberzcugung. 
dass  alles  auf  der  Welt  ohne  Ausnahme  auf  einen  zureichen- 
den Grund  und  dieser  wieder  auf  eine  andere  Ursache  und 
so  ins  Unendliche  zurückzufuhren  sei,  dieser  Begriff  ist  doch 
nur  ein  bildlicher  Ausdruck,  des  menschlichen  Verstan  lo^- 
In  jede  regelmässige  Folge  von  Ursache  und  Wirkung  das 
heisst  von  einer  Aendernng,  auf  die  regelmässig  eine  andere 
Aenderung  folgt,  verlegen  wir  Menschen,  ohne  es  zu  wissen 
und  ohne  es  zuzugestehen,  das  Bild  eines  (nb sichtlich)  han- 
delnden Menschen.  Die  Ursache  bewirkt  die  Folge,  in  un- 
serer Sprache,  in  unserem  Denken.    Von  der  Wirklichkeit 
k«'nnen  wir  nur  die  Zeitfolge  oder  was  wir  so  nennen.-  Es 
steckt  also  auch  in  dem  Begriffe  der  Notwendigkeit  schliess- 
lich das  sprachliche  Bild  einer  Absicht,  die  nur  eine  mensch- 
liche Absicht  sein  kann,  weil  wir  doch  alle  Sprachbilder 
nur  von  uns  selbst  abstrahieren  können*   Unsere  heutige 
Sprache  denkt  freilich  bei  Absicht  immer  nur  an  den  Seelen- 
Torgang  in  einem  handelnden  IndiTiduam.   Was  das  sei, 
was  wir  Absicht  oder  Wollen  nennen,  wissen  wir  flbrigens 
nicht.  Es  ist  der  Begriff  des  Wollens  auch  nur  eine  psydio- 
logische  Tkatsacbe.   In  alter  Zeit,  viele  hundert  Jahre  vor 
dem  Aufkommen  des  Begriffs  der  Notwendigkeit,  glaubte 
man  Absicht  auch  bei  der  Entstehung  der  Welt,  bei  der 
Entstehung  des  Staates,  der  Sitte,  der  Sprache  u.  s.  w.  vor- 
aussetzen zu  müssen.    Es  war  also  vor  langer  langer  Zeit 
der  Begriff  Zufall,  der  Gott  Zufall,  beinahe  ein  posiÜTer 
Gegensatz  gegen  den  absichtlich  bildenden  Schöpfer;  es  war 
zur  Zeit  der  Herrschaft  dee  Aristoteles  der  Begriff  Zufall 
ein  reiatiTer,  aber  immer  noch  ein  ziemlich  poeitiver  Gegen* 
satz  gegen  das,  was  man  das  Wesentliche  nannte;  seit  dem 
Aufkommen  des  Glaubens  an  die  Notwendigkeit  alles  Ge- 


Teloologie. 


585 


sclieheiu  isi  der  Zufall  zu  einem  negativen  und  relatiTen 
Gegensate  dieser  Notwendigkeit  geworden;  und  errt  unsere 
SpmclikrHik,  welche  eellMit  den  Begriff  der  Notwendig^eii 
in  ein  armes  mensehUcbee  Bild  anfldst,  kann  den  Zuialls-» 
begriff  eikennen  ab  ein  fast  bedentimgsloses  Wort,  mit 
wdcbem  der  besser  ünterrichtete  dem  seUecbter  Untemch- 
teten  sagen  will:  Du  riditest  deine  Auimerksamkmt  falsch 
ein,  du  lenkst  deine  Auftnerksamkext  auf  einen  falschen 
Eausaliusammenhang,  auf  eine  subjektiTe  Assodaiion. 

Laasen  wir  nun  den  Begriff  der  Wesentlichkeit  als  eine  T«ieo- 
Zwischenstufe  beiseite,  so  bleibt  fUr  den  Zufallsbegriff  im 
Sprachgebraucli  immer  die  Frage  besl^hen,  ob  er  als  Gegen* 
Satz  zu  etwas  Absichtlichem  oder  su  etwas  Notwendigem 
verwendet  worden  sei.  Die  moderne  Wissenschaft  ist  nicht 
wenig  stolz  darauf,  dass  sie  sowohl  die  Absicht  als  den  Zu- 
fall aua  der  Natur  entfernt  habe.  Es  kann  keine  gröbere 
Selbsttftuschung  geben.  Dass  die  Absicht  oder  der  Zweck, 
gelehrt  ausgedruckt  die  Teleologie,  nach  der  Pensionierung 
eines  persönlichen  Gottee  Überall  den  neuen  kleinen  Gott- 
heiten oder  Naturgesetzen  heimlich  und  unbewusst  zuge- 
schrieben worden  ist,  sehen  wir  an  hundert  FSllen  unserer 
Untonuchung.  In  allen  Lehren  Ton  der  natfirlichen  Ent- 
stehung der  Welt  steckt  tief  verborgen  und  in  hundert  Ver- 
kleidungen der  Glaube  an  eine  überweltliche  Absicht  Dieser 
Glaube  ISsst  sich  nie  und  nimmer  ans  dem  menschlichen 
Denken  entfernen,  weil  er  sich  aus  der  armen  menschlichen 
Sprache  nicht  entfernen  l&sst;  nicht  nur  die  Gfftter,  sondern 
auch  die  andern  Begriffe  seiner  Sprache  hat  der  Mensch 
nach  seinem  Bilde  geschaffen,  nach  dem  Bilde  seiner  eigenen 
Handlungen  hat  er  sich  das  Naturgeschehen  vorgestellt,  und 
wie  er  als  Ursache  seiner  eigenen  Handlungen  seineu  Willen 
im  sogenannten  Bewusstsein  vor&nd,  so  hat  er  —  seitdem 
ein  Regentropfen  fiel  und  der  Mensch  ihn  fallen  und  die 
Erde  benetzen  sah  —  das  vorausgehende  Ereignis  stets  als 
eine  Ursache  mit  einer  unbewussten  Absicht  verstanden. 
Der  Leser  ruft:  «Aber  der  Th^pfen  ist  doch  auch  wirklich 
die  Ursache  der  Nisse      Ich  aber  antworte:  Das  ist  ein 


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586 


VlII.  Wiasün  und  Worte. 


Bild,  das  dn  Ton  deineiL  nMittebUi^eii  Handlungen  her^ 
nimmstk 

ünd  nun  erst  der  Zufall!  Wo  fangt  er  an  und  wo  hSrt 
er  auf  im  Naiui  geschehen,  wie  es  unsere  Wissenschaft  auf- 
zufassen gezwungen  ist?  Der  Materialismus,  der  in  ein- 
seitigem Hasse  den  Glauben  an  eine  absichtsvolle  persön- 
liche Schöpfung  zu  zerstören  sucht,  ist  geradezu  «j^enötif^t, 
die  ganze  Welt  mit  der  Summe  ihrer  sogenannten  Natur- 
gesetze einen  richtifren  Zufall  zu  nennen,  einen  Fall  unter 
unzähligen  autleni  möglichen  Fällen.  Diese  grosse  und 
richtige  Vorstellung,  aus  der  ich  vielleicht  erst  meine  Lehre, 
dass  unsere  Sinne  Zuiall.^sinne  seien,  gewonnen  habe,  dieses 
gewaltige  JJild  von  einer  Unzahl  möglicher  Welten,  ist 
schon  den  ältesten  Materialisten  geläufig.  Epikuros  hat  es 
kiai  ausgesprochen.  Und  historisch  gehen  die  Begriffe 
Optimismus  und  Pessimismus,  die  jetzt  zu  blossen  Stim- 
mungen verblasst  sind,  auf  die  Vorstellung  von  der  besten 
unter  allen  möglichen  Welten  und  auf  einen  mehr  witzigen 
als  logischen  Gegensatz  dazu  (da  man  sich  doch  bei  der 
„schlechtesten"  Welt  gar  nichts  denken  kann)  zurück.  Dock 
auch  hier  sehen  wir  wie  der  Begriff  Zufall  seinen  Sinn  vw- 
ändert  hat. 

Als  der  alte  Materiulinmus  sich  einer  noch  lel)endicren, 
geglaubten  Religion  gegenüberstellte  und  die  zufällige,  natür- 
liche Entstehung  der  Welt  gegenüber  der  Lehre  von  einer 
absichtlich  geschaffenen  ausbildete,  da  sollte  Zufall  nicht 
viel  anderes  heissen.  als  was  wir  jetzt  , naturnotwendig* 
nennen.  Die  (iriechen  stritten  ju  auch  —  wie  eben  erst 
erwähnt  —  darüber,  ob  die  Worte  dnrrh  einen  Gesetzgeber 
oder  natürlich  entstanden  seien.  Derselbe  Streit  betraf 
die  Welt,  den  Staat  u.  s.  w.  Die  alten  Materialisten,  welche 
den  Zufall  lehrten,  meiuteu  eigentlich  die  natürliche  Ent- 
wickelung,  nur  dass  ihnen  der  Begriff  der  Entwickelung 
und  der  naturgesetzlicheu  Notwendigkeit  noch  nicht  auf- 
gegangen war.  Als  dann  der  Wortrealismu'^  aufkam  und 
zwei  Jahrtausende  vor  Uegel  bereits  die  Entstehung  der 
Welt  aus  Begriffen  gelehrt  wurde,  da  wurde  der  Zuiaii  zur 


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JDm  WirUiclM  saftUig. 


587 


Bezeichnung  des  Nebenaädilichen ,  des  Unwesentlichen,  des 
Unlogischen,  dessen  also,  was  in  den  Worten  —  d.  h.  nach 
uns«r^  Lehre:  den  Hypothesen  oder  Gesetzen  —  nicht  mit'* 
bezeichnet  war.  Per  neuere  Realismus  glaubt  nun  frei  ge- 
worden zu  sein,  wenn  er  den  Zufall  als  einra  relatiTen  Be- 
griff erkannt  hat.  Ich  habe  oben  schon  gesagt,  da«  er  ein 
relativer  und  negativer  Begriff  ist  und  dass,  wenn  man  erst 
die  Unhaltbarkeit  der  positiven  B^priffe  erkaant  hat,  zu 
denen  er  einen  Gegensatz  bildet,  das  Wort  ganz  gegen- 
standslos wird. 

Es  iribre  denn,  dass  man  jedesmal  Zufall  benennt,  was  Das 
die  betreffende  Wissenschaft  nicht  mehr  weiss.  In  diesem  J!!^' 
Sinne  yerliert  sich  jede  Wissenschaft  in  ZufSüligem,  und  es  ftui«. 
ist  kein  Spiel  mit  Worten,  wenn  ich  nun  behaupte:  Alles 
Wirkliche  ist  znfäDig. 

Kur  muss  man  sich  davor  hflten,  beim  Versinken  in 
diesen  Abgrund  mythologisch  zu  werden  nnd  den  Zufall  fttr 
irgend  etwas  positiv  Wirkendes  zu  halten.  Was  wir  nicht 
wissen,  was  vnr  uns  vorstellen,  unsere  Bilder  von  der  Welt, 
nur  das  ist  unser.  Was  wir  nicht  wissen,  das  ist  unsere 
Wissenschaft,  das  ist  notwendig.  Was  wir  wissen  möchten, 
das  Wirkliche,  das  ist  zufällig. 

Einstimmig  wird  die  Astronomie  für  das  Muster  aller 
Wissenschaften  gehalten;  und  wirklich  wird  die  Astronomie 
von  keiner  andern  Wissenschaft  an  Zuverlässigkeit,  an  Be- 
rechenbarkeit und  an  Eleganz  der  Form  erreicht.  Da  sei 
der  Zufall  ausgeschlossen,  meint  man.  Aber  zuverlfissig  sind 
diese  Ziffern  und  Formeln  doch  nur  für  die  paar  Tausend 
odw  Millionen  Jahre  (man  kann  im  Ernste  fragen:  Was  ist 
das  gegen  die  Ewigkeit?),  in  welchen  die  Planeten  sich  so 
wie  heute  um  die  Sonne  drehen,  oder  vielmehr  nur  für  die 
paar  Tausend  Jahre,  in  denen  diese  Bewegungen  ungefähr 
so  wie  jetzt  beobachtet  worden  sind.  Alle  diese  Berech- 
nungen und  Formeln  haben  keine  Gültigkeit  für  die  voraus- 
gegangene Zeit,  in  welcher  —  wie  Kant  und  Laplace 
sagen  —  die  Planeten  sich  von  der  Ungeheuern  Nebelmasse 
der  Sonne  losgerissen  haben  und  nach  unausdenkbaren  Be- 


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588 


VIII.  Winen  und  Worte. 


Tolutionen  erst  im  Kampfe  ums  DaseiB  »m  Himmel,  wie 
man  es  pfpnannt  hat,  sich  selbst  die  bequemsten  Gleise  ge- 
funden haben,  die  sie  jetst  befahren.  (Sehr  merkwfirdig  ist 
bei  Kant  die  Scheu  vor  grossen  Zeiträumen;  er  spricht  be- 
züglich der  Entstehung  der  Planeten  zuerst  von  Jahrhunderten 
und  meint  dann,  es  gehörten  dazu  Tielleieht  tausend  od^ 
mehr  Jahre.)  Wüssten  wir  etwas  von  den  Kräften,  die  da- 
mals spielten,  so  würde  die  Entstehunfj;  der  Planeten  und 
die  Bildung  ihrer  Bahnen  zur  Wissenschaft  gehören.  So 
aber  sind  wir  genötigt,  die  Masse,  die  Entfernung  und  darum 
die  Bahnen  der  Planeten,  also  die  ganze  Astronomie,  lu- 
fällig  zu  nennen.  Die  Weltfornu  l,  welche  die  Entstehung 
des  Sonnensystems  aus  dem  Chaos  geben  wollte,  w9re 
wieder  zufällig  gegenüber  der  Entstehung  des  Chaos. 

Im  Verhältnis  zu  der  Sicherheit  der  Astronomie  sind 
die  Lehren  des  Darwinismus  fast  luftige  Hypothesen.  Deut- 
lich tritt  fast  nichts  hervor  als  die  überzeugende  Annahme, 
dass  es  bei  der  Entstehung  der  Indinduengruppen,  die  man 
Arten  nennt,  natürlich  zugegangen  sein  müsse  und  dass  man 
die  unveränderliche,  niemals  in  Wirklichkeit  Torkommende 
identische  Abfoige  der  (Geschlechter  Vererbung,  die  lang- 
same Veränderung  aber  Anpassung  nennt.  Es  braucht  keiner 
weitem  Ausführung,  dass  jeder  eineeine  unter  den  Milliarde 
Ton  Fällen,  welche  unter  den  Gesetien  Darwins  zusammen- 
gefiasst  werden,  einen  »Zufall*  sur  Ursache  hat.  €ht}sse 
(Gruppen  dieser  Zufälligkeiten  kann  man  dann  Klima,  Nah- 
rung u.  8.  w.  nennen.  Sie  sind  das  allein  Wirkliche  oder 
Zufällige. 

loh  könnte  das  viel  allgemeiner  und  filr  alle  Wissen- 
schaft Tiel  entsetadM^er  noch  andere  ausdrücken.  Die  Wissen- 
schaft Ton  der  Wirklichkeitswelt  konnte  sich  mit  einer  Be- 
schreibung begnügen,  indem  sie  möglichst  ttbersichfUch  einen 
Katalog  der  gegenwärtig  anfällig  Torhandenen  Erscheinungen 
aufteilte.  Jeder  Versuch  einer  Welteridärung  wird  Über 
die  Beschreibung  hinausgehen  und  eine  Geschichte  der  Er- 
scheinungen zu  ergründen  suchen.  Besissen  wir  dafür  aber 
auch  die  nötigen  Kenntnisse  —  wovon  wir  himmdweit  eai- 


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Dm  Wirkliobe  infiUJig. 


589 


fernt  sind  —  besässen  wir  die  Geschichten  des  Planeten- 
systems, der  Erde,  der  Tiere  und  Pflanzen,  der  Wärrae, 
der  Elektricität  u.  s.  w.,  so  würde  erst  recht  die  zufällige 
Entstehung  des  zufällig  Vorhandenen  in  die  Augen  springen 
müssen.  Denn  jede  Ursache  ist  ein  Zufall,  auch  fUr  ihre 
Folge.  Und  man  wäre  versucht,  in  künstlerischen  Rhythmen 
zu  lachen,  wenn  man  hört,  dass  in  jüngster  Zeit  innerhalb 
des  kleinsten  Teils  der  Weltengeschichte,  nämlich  in  der 
kurzen  Menschengeschichte,  versucht  worden  ist,  besondere 
Gesetze  aufzusti'llen.  Wie:  dass  auf  die  Demokratie  der 
Milit'ardespotismus  folge  und  dergleichen. 

Gesetzmässigkeit  ist  die  jüngste  Mythologie,  die  der 
Mensch  in  die  Natur  hineingelegt  hat;  es  ist  der  Grundirrtum 
der  modernen  Naturwissenschaft,  dass  sie  Notwendigkeit  und 
Gesetzmässigkeit  miteinander  verwechselt.  Beide  Begriffe 
sind  menschliche  Bilder  menschlich  ursächlicher  oder  mensch- 
lich zeitlicher  Auffassungen  der  Natur.  Die  Gesetzmässig- 
keit ist  aber  eine  veraltende  Metapher,  gut  genug  für  Labo- 
ratorien und  andere  Küchen,  elend  für  die  Welterklärung. 
Auch  die  Notwendigkeit  ist  eine  menschliche  Metapherf 
aber  sie  ist  bis  auf  weiteres  so  unausweichlich  wie  die 
beiden  ältesten  Hypothesen  der  Moaschheii:  Wirklichkeits- 
welt  und  ürsachbegriff. 

Die  Sprache  also  mitsamt  ihren  allgemeinsten  Forrau- 
lieiningen  in  Ghrammatik  und  Logik,  mit  ihren  Worten  oder 
Hypothesen  ist  eine  siifällige  Erscheinung.  Zufällig  im 
Gegensätze  zu  dem  mensdilichen  Bilde  der  Gesetzmässig- 
keit. Zufällig  aber  auch,  insofern  wir  ihre  Notwendigkeit 
ergründen  möchten.  Noch  einmal:  Was  wir  wissen  möchten, 
das  Wirkliche,  das  ist  zufiÜlig;  was  wir  nicht  wissen,  was 
wir  darum  mit  unserer  menschlichen  Bildersprache  um- 
nebeln, das  ist  unsere  Wissenschaft.  Wirklich  ist,  was  kein 
Gespenst  ist;  und  «Zufall"  ist  eine  von  allen  Zufällen  der 
Wortgeschichte  umnebelte  Negation  der  Gespenster  Ab- 
sichtlichkeit, Wesentlichkeit  und  Notwendigkeit. 

m 


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590 


VUI.  WiMen  und  Worte. 


Oaiwir  Die  Lehre  Darwins,  dass  die  Z  v  (  <  kiiiä>siii;kLit  der 
Organismen,  ohne  jede  göttliche  AUwuisIieit ,  durch  An- 
passung und  Verer])ung  zu  erklären  sei,  diese  Lehre  ist 
uns  nicht  mehr  als  eine  geniale  Hypothese.  Die  unvor- 
sichtip^en  Darwinlaner,  welche  namentlich  in  Deutschland 
auf  diesH  Hypothese  eine  neue  Wissenschaft  zu  hauen  ver- 
sucht nahen,  mussten  sich  von  Darwins  eigener  Methode 
lossagen.  Sie  mussten  wieder  Begritfsromaniils  treihen.  Es 
ist  aber  ein  undankbares  Geschäft,  ihre  irnnierhiu  kühnen 
Luftschlösser  zu  bekämpfen,  wenn  man  es  erleben  nniss, 
dass  die  von  Darvrin  hinausgeworfene  Teleolofrie  in  lang- 
samer Arbeit  wieder  hineingeschmngo^elt  wird,  wie  wir  es 
bei  den  letzten  Kono;ressen  der  Naturforscher  erleben 
konnten.  Dogmatismus  hüben  und  drüben.  Und  vielleicht 
ist  Haeckel  der  wortabergläubischere ,  der  unbelelirbare 
Dogmatiker. 

Man  hat  Darwins  Eiitwickelungsgesetz  ironisch  mit 
einem  Manne  verfi^liehen ,  der  nm  einen  einziLfen  Hasen  zu 
schiessen  unendlich  viele  Schüsse  nach  allen  Richtungen 
*tihgeben  müsse.  Das  Bild  wäre  al)er  wohl  ganz  ernsthaft 
zu  verwenden.  Man  muss  nur  auch  Ernst  machen  mit  der 
Vorstellung  unendlich  langer  Zeiträume  für  die  Entwicke- 
lung;  und  man  rauss  Ernst  machen  mit  der  Einsii  ht,  dass 
jeglicher  Zweckbegriii'  sich  an  eine  menschenähnliche  In- 
telligenz knüpfen  mü.sse.  Sowie  die  neuesten  Reaktionäre 
wieder  den  Zweckbegriff  in  die  Naturbetrachtung  einführen, 
müssen  sie  ohne  Gnade  etwas  wie  einen  menschenähnlichen 
Gott  mit  einem  Ungeheuern  Menschengehirn  an  den  Anfang 
stellen.  Es  ist  nicht  anders.  Die  beiden  ewigen  Fragen 
lauten:  Woher?  Wohin?  Die  Frage  woher  geht  nach  der 
Ursache,  als  nach  der  Vergangenheit,  welche  wir  uns  vor^ 
stellen  können,  auch  wenn  der  Begriff  der  Ursache  eine  blosse 
Hypothese  und  wenn  der  B^iff  der  Zeit  nur  eine  mensch- 
bebe  Orientierung  sein  sollte.  Die  Frage  wohin  jedoch  geht 
nach  dem  Zweck,  den  wir  ims  immer  und  überall  als 
eine  menschliche  Absicht,  als  ein  zukünftiges  Ereignis  Tor- 
steilen  müssen.  Wenn  der  Schütze  sein  Gewehr  anlegt,  so 


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Tdieologie. 


591 


ist  die  Kraft  des  Schusses  aus  Ursachen  zu  erklären;  die 
Richtimg  aber  oder  der  Zweck  des  Schusses  einzig  und  allein 
aus  der  Absicht  des  Schützen.  Das  Eintreten  P.  N.  Goss- 
manns  für  eine  neue  Teleologie  (»Elemente  der  empir. 
Tel.")  könnte  erkenntnistheoretisch  weiter  ftihren;  vielleicht 
ist  aber  der  Begriff  f,Teleo]o^e'^  nur  sprachkritisch  feiner 
untersucht. 

Die  Schwierigkeit,  welche  der  Darwinismus  zu  erklären 
wünschte,  lässt  sich  mit  einem  Worte  aussprechen:  woher 
kommt  die  Einheit  des  Organismus?  Die  alte  theologische 
Naturwissenschaft  stellte  noch  ganz  andere  Fragen:  wie  die 
Einheit  von  Seele  und  Leib,  wie  die  Vereinigung  von  Gottes 
Gflte  und  der  Schlechtigkeit  der  Menschennatur  zu  er- 
Icl'aren  sei?  Seele  und  Leib,  Gute  und  Schlechtigkeit  sind 
überflüssige  Worte  geworden ;  es  fragt  sich  nur,  ob  die  Ein- 
heit des  Organismus  nicht  ebenfalls  ein  blosses  Wort  sei. 
Und  in  der  Einheit  ist  ja  eben  die  Zweckmilssigkeit  des 
Organismus  mit  enthalten. 

Goethe  und  nach  ilim  Virchow  haben  bereits  den  Ge-  T«ico* 
danken  ausgesprochen,  dass  das  Lebendige  kein  Einzelnes 
sondern  eine  Mehrheit  sei.  Aber  bei  ihnen  ist  die  Ver- 
einigung von  Atomen  oder  Zellen  zu  einem  Indinduum  doch 
noch  eine  Art  Wunder,  zu  dessen  Erklärung  allzuleicht 
ein  Gott  bemfiht  werden  kann.  Wir  kommen  etwas  weiter, 
wenn  wir  die  Einheit  oder  Zweckmässigkeit  eines  gr^tssem 
Ganzen  betnuditen,  auf  welches  der  Begriff  des  Indiriduums 
oder  des  Organismus  scheinbar  nur  bildlich  angewendet 
werden  kann.  Blicken  wir  auf  den  Staat  oder  auf  die 
Stadt,  so  sehen  wir  ein  sehr  zweckmässiges  Ghmzes,  das 
dennoch  Ton  centrifugalen  Kzftften  beherrscht  wird.  Man 
stelle  sicli  eine  moderne  Grossstadt  Tor.  Man  wird  nicht 
mit  emster  Miene  behaupten  woUen,  dass  ein  Oberbflrger^ 
meister  den  Plan  zu  ihrem  gegenwärtigen  Bltthen  gefasst 
habe.  Es  gibt  in  der  gansen  Stadt  keinen  Menschen,  der 
im  Dienste  der  Allgemeinheit  Gas-  und  Wasserrohren, 
Telephondrfthte,  Pferdebahnschienen  u.  s.  w.  n.  s.  w.  gelegt 
hätte.  Es  gibt  immer  nur  Menschen,  welche  ihren  Vorteil 


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592 


Vm.  Wim  and  Worte. 


wolit4t;ü.  Durch  Gas,  durch  Wasser,  durch  Elektricität  und 
Pferdebahnen  sind  Millionen  verdient  worden.  Ist  bei  diesen 
grossen  Untoruehmungen  mitunter  aucli  die  Kraft  des  Ehr- 
geizes vorhanden,  so  gehören  zu  den  Bequemlichkeiten  der 
Grossstadt  oine  Menge  Dinge  —  von  den  BedQrfnisanstalten 
angefangen  Ins  zu  dem  Institut  der  Stiefehvichser  —  bei 
denen  von  irgend  einer  höhern  Absicht  nicht  die  Hede  sein 
kann  und  die  dennoch  mehr  als  bildhch  eine  Einheit,  einen 
Organismus  zu  stände  bringen.  Nicht  der  Oberbürgermeister 
s(jnderM  iigend  ein  Vorarbeiter  legt  die  Röhren  einer  Be- 
dürfnisanstalt, und  dennoch  gehen  diese  Röhren  ordentlich 
zwischen  elektrischen  Kabeln  und  Gasröhren  hindurch, 
flogen  sich  den  Verhältnissen,  nicht  viel  anders  als  die 
Kanäle  von  den  Nieren  zwischen  Muskeln  und  Nerven  und 
Blutgefässen  den  Weg  gefunden  haben,  den  wir  den  rich- 
tigen nennen.  So  ist  eine  Stadt  ebenfalls  ein  Organismus, 
so  gut  wie  ein  Bienenkorb  oder  ein  Ameisenstaat,  den  wir 
tftppisch  einen  Ameisenhaufen  nennen,  wie  vielleicht  ein 
darüber  hin  fliegender  Adler  unsere  Grossstadt  einen  Men- 
schenhaufen nennt.  Und  es  gibt  bekanntlich  im  Tierreich 
soldie  organisierte  Staaten  (z.  B.  die  Siphonophoren) ,  in 
denen  die  einzelnen  Glieder  körperlich  zusammenhängen, 
als  ob  die  Ameisen  eines  Baues  durch  ein  Netz  von  Nerven- 
fäden.  als  ob  alle  Menschen  einer  Stadt  durch  ein  Netz  von 
Nabebchnüren  zusammenhingen.  Wur  Menschen  einer  Stadfc 
oder  eines  Staats  hängen  aber  doch  zusammen,  nicht  nur 
durch  Gas-  und  Wasserleitungen,  durch  Theater  und  Be- 
dürfnisanstalten, durch  öfifentliehe  Bahnen  und  Telephon- 
drähte, sondern  vor  allem  durch  die  gemeinsame  Spradie 
oder  das  gemeinsame  Gedächtnis. 

Die  alte  Teleologie  bewunderte  ausser  der  Zweckmässig- 
keit im  einzelnen  Organismus  auch  noch  die  Zweckmässig- 
keit in  der  Einrichtung  der  Welt:  es  sind  viele  Bdcher  und 
sogar  gereimte  Bücher  darüber  geschrieben  worden,  wie 
hübsch  die  Pflanzen  zum  Frasse  der  Wiederkäuer,  diese 
wieder  zum  Frasse  der  reissenden  Tiere  da  seien  und  die 
ganze  Welt  für  ihren  Herrn,  den  Menschen.   Diese  alten 


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Tdeologie. 


593 


Yont^ttngen  hatten  alle  die  gröwte  Mtlhe,  eicli  mit  der 
0ate  Gottes  ansemander  sa  aetoen;  seitdem  in  der  Katur 
keine  OOto  melir  angenommen  wird,  ist  diese  atatistisdie 
Zweckmässigkeit  zwischen  den  einxeben  Tierarton  ebenso 
leicht  yerstftndlich  wie  die  Abhängigkeit  der  menschlichen 
Handlungen  yon  statistischen  Thatsachen. 

So  ist  der  statistische  Ausgleich  in  der  Oekonomie  der 
Welt,  das  Zusammenfliessen  der  egoistischen  Bestrebungen 
zu  dem  Bilde  einer  städtischen  Organisation  gans  wohl  zu 
begreifen  als  eine  rein  mechanische  Wirkung,  als  eine  Folge 
Ton  echten  Ursachen,  das  heisat  von  ürsachen  ohne  Zweck; 
und  in  derselben  Weise  könnte  man  sich  die  scheinbare 
Zweckmisstgkeit  der  organischen  Individuen  ans  blossen 
Uivachen  Torstollbar  machen.  Fehlt  es  doch  auch  weder 
da  noch  dort  an  Störungen,  welche  einer  yorbedachten  All- 
weisheit kein  gttnstiges  Zeugnis  ausstollen  würden.  Wie 
die  Röhren  im  Untergrunde  einer  Stadt  einander  wohl  ein- 
mal unzweckmSssig  kreuzen,  wie  sie  plaimn  oder  Tcrrosten, 
wie  die  elektrischen  DriUito  einander  nngflnstig  beeinflussen, 
so  gibt  es  auch  im  organischen  Individuum  Unzweckmissig* 
keiton,  die  man  dann  Krankheiten  nennt.  Zu  einer  solchen 
VorsteUung  von  dem  Mechanismus  der  oiganisierten  Materie 
wollte  aber  auch  schon  der  alte  Materialismus  fUiren;  seme 
mechanische  Naturerklftrung,  so  lobenswert  die  Absicht  war, 
wurde  nur  darum  immer  wieder  so  unbefriedigend  und 
albern,  weil  die  offenbare  das  heisst  dem  naiven  Menschen" 
verstände  so  selbstverstftndlich  scheinende  Zweckmissigkeit 
der  Organismen  entweder  geleugnet  oder  heimlich  irgend 
einer  namenlosen  Gottheit  zugeschrieben  wurde.  Hier 
unterscheidet  sich  der  Darwinismus  gründlich  von  dem 
&Item  Materialismus.  Der  Zufall  des  ültem  Materialismus 
war  etwas  ganz  anderes  als  der  Zufall  des  Darwinismus. 
Gegen  den  titeren  Zufallsbegpriff  konnte  schon  Cicero  — 
oder  der,  den  er  abschrieb  —  den  Einwand  erheben,  dass 
man  doch  sonst  nicht  annehme,  es  sei  die  Dias  durch  ein 
zufälliges  Zusammensdilltten  von  Buchstaben  entstanden. 
In  diesem  Falle  war  der  relative  Begriff  Zufall  der  Gegen- 
MftatliBtr,  B«lti«g*  n  «law  Kriltk  dar  BpiMhe.  m.  88 


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594 


Tin.  Wmnb  und  Worte. 


satz  zu  der  Annalime  einer  dicbtemchen  Absicht,  also  eines 
sehr  planvollen  Zwecks.  Ebenso  ungereimt  wäre  es,  eine 
Dynamomaschine  oder  auch  nur  eine  so  einfache  Maschine 
wie  es  eine  Stecknadel  ist,  dnrch  Zufall  entsfcanden  so 
glauben. 

Der  relatiTe  Zufall,  durch  welchen  der  Darwinismus 
die  Welt  der  organischen  Formeln  entstehen  Iß^,  ist  ein 
Fall  anderer  Art.  Man  wird  darüber  nicht  im  Zweifel  sein, 
wenn  man  an  die  Maschinen  denkt,  bei  denen  die  Fach- 
leute wirklich  im  Zweifel  sind,  ob  ihr  Entstehen  dem  Zufall 
oder  einer  Absicht  zu  danken  seL  Es  sind  das  gewisse 
Steittwerkzeuge  einfachster  Art,  deren  Schftrfe  ebenso  gut 
durch  kUnstlidien  wie  durch  natOrlichen  Bruch  su  er- 
klftren  wire. 

Um  die  phantastisehe  Entstehung  der  Dias  (durch  Zu- 
sammenschttttung  von  Buchstaben)  des  alten  Zufallsbegiilfe 
za  entUeiden,  müsste  man  annehmen,  dass  ein  mathemati- 
scher Kopf  mit  den  Buchstaben  des  Alphabets  eine  unendliche 
Reihe  Ton  Permutationen  und  Variationen  TomShme;  ohne 
Frage  w&re  einer  dieser  FftUe  dann  die  Dias,  ein  anderer 
der  Faust,  wieder  ein  anderer  die  Kritik  der  reinen  Ver- 
nunft. Einer  dieser  Variatioosfllle  wftre  die  Kritik  der 
reinen  Vernunft  mit  ihren  DruckfeUem  u.  s.  w.  u.  s.  w.  Ich 
sehe  davon  ab,  dass  der  experimentierende  Mathematiker 
wahrscheinlich  die  Bedeutung  der  Blas,  des  Faust,  der 
Kritik  der  reinen  Vernunft  gar  nicht  erkennen  wUrde,  weil 
doch  in  seinen  unzähligen  VariationsfiUlen  s&mtlidke  Bttcher 
aller  Bibliotheken  der  Erde  und  ausserdem  unendlich  viele 
blödsinnige  oder  halb  blödsinnige  Buchstabenfolgen  enthalten 
wären.  Es  wäre  bei  diesem  phantastischen  Ezperiment 
jede  einxelne  Buchstabenfolge  mathematisch  notwendig  und 
darum  berechenbar;  ein  Zufall  könnte  sie  nur  uneigentlich 
im  Verhältnis  zu  den  andern  Fällen  heissen.  Anstatt  Zu- 
fall müsste  man  vielmehr  von  einem  besondem  Fsll,  von 
einem  Fall  unter  andern  Fällen,  von  einer  Möglichkeit  unter 
andern  Möglichkeiten  sprechen. 

So  ist  die  organische  Welt  nach  Darwins  Erklärung 


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T«lMikigie. 


nichi  süflll^  sondwn  notwendig  eiitatuideii  und  nun  bnucht 
nur  an  die  unsSldigen  andern  in(igHclien  Welten  au  denken, 
die  eben  so  notwendig  hätten  entstehen  kSnnen  (wenn  z.  B. 
der  EoUenatoff  andere  Eigeneebaften  bitte),  um  auch  die 
gegebene  oiganiacbe  Welt  als  einen  beeondem  Fall,  als 
einen  Fall  unter  andern  Fillen  aufsufaaaen.  Es  ist  der 
Phantasie  gar  nieht  schwer,  sich  solche  andere  Fälle  aus- 
xudenken.  Wir  brauchen  uns  nur  andere  Planeten  oder 
Planeten  anderer  Himmielsraume  organisch  belebt  Toneustellen 
und  nichts  hindert,  uns  dort  fleischfressende  bewcgUche 
Bäume,  also  Raubtiere  mit  Blättern  und  dergleichen  aussu- 
malen,  wenn  auch  natOrlich  jede  solche  Phantasie  an  die 
bekannten  Formen  der  Erdenwelt  gebunden  ist  Niemand 
kann  behaupten,  dass  die  oiganisierte  Welt  der  Erdober- 
fläche die  eimdge  zweckmässige  wäre;  im  Kampf  ums  Da- 
sein mflsste  sich  eben  auf  den  andern  naneten  eine  Welt 
entwickelt  haben,  in  welcher  bewegliche  Eaubtierbäume 
ihren  Plate  hätten. 

Damit  sind  wir  schon  auf  einer  Stufe  angelangt,  auf 
welcher  die  Zweckmässigkeit  der  Organismen  (von  oben 
.  gesehen)  zu  einem  aber&Qssigen  Worte  wird.  Ich  glaube 
wenigstens,  bereits  von  dieser  Stufe  die  beiden  entgegen- 
gesetzten Spitzen,  die  Notwendigkeit  und  die  Möglichkeit, 
wie  Punkte  der  ebenen  Fläche  zu  erblicken.  Eine  und 
dieselbe  Organisation  erscheint  als  notwendig,  sobald  wir 
Einige  von  den  begleitenden  Umständen  wissen,  dieselbe 
Organisation  erschwit  als  die  eine  tou  unzähligen  Möglich- 
keiten, wenn  wir  die  Umstände  nicht  kennen  oder  Ton  ihnen 
absehen. 

Wir  brauchen  nur  an  die  Millionen  Jahre  zu  denken, 
während  welcher  die  Organismen  auf  der  Erde  sich  ent- 
wickelt haben.  Und  alle  gegenwärtigen,  wirklichen,  also 
auotwendigen*  Formen  erscheinen  uns  als  ein  Fall  unter 
vielen  andern  möglichen  Fällen.  Der  Torsintflutliche 
Archäopteryx  eben  so  gut  wie  manches  abenteuerlich  ge- 
formte Elemwesen  wäre  fdr  unsere  Phantasie  eine  schwindel- 
hafte Möglichkeit,  wenn  diese  Bfldungeu  nicht  im  Stein- 


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596 


Tin.  WiMn  uttd  Worte. 


abdruck  oder  unter  dem  Mikroskop  gesehen  worden  und 
dadurch  zu  Wirklichkeiten  das  heisst  suf&Uigen  Notwendig- 
keiten geworden  wären. 
Zweck  Der  Darwinismus  hat  dae  nicht  geringe  Verdienst,  eiae 
iiegrur.  ^Q2ahl  Yon  BüdungsveränderungMi  beobachtet  oder  gesam* 
melt,  die  Aehnlicbkeii  solcher  Bildungsveränderungen  bemerkt 
und  fUr  die  Gruppen  solcher  Aehnlichkeiten  unter  dem  Namen 
Ton  Bildungsgesetsen  neue  Worte  aufgebracht  zu  haben.  Es 
ittsst  sich  seitdem  manches  bester  fibersehen.  Wir,  die  wir 
geneigt  sind,  jede  Beachtung  von  Aehnlichkeiten  für  Ab- 
straktionen des  menseUichen  Verstandes  zu  halten,  denen 
in  der  Natur  nichts  genau  entspricht,  vermuten  sofort,  dass 
zwischen  den  zweckmässigen  und  nicht-zweckmässigen  Bil- 
dungsgesetzen  kein  nachweisbarer  natürlicher  Unterschied 
sein  werde.  So  kommen  wir  von  einer  andern  Seite  dazu, 
Darwins  Zweckbegriff  als  eine  mythologische  Figur  zu  be- 
greifen. Die  Darwinisten  finden  etwas  von  Entwiekelnng 
also  hehnlicherweise  von  Fortschritt  und  ZweckmSsfflgkeit 
darin,  wenn  z.  B.  die  Erstarkung  der  Yordem  Eztremititen 
die  hintern  sehwftdit  oder  umgekehrt.  Die  Ahnung  einer 
mechanischen  Ursache  wird  zur  Voraussetzung  eines  Zwecks; 
die  Beschreibung  will  Srklftning  sein.  Es  gibt  danebsB 
andere  Bildungsgesetze,  welche  Darwin  mit  einem  unver^ 
f&nglichen  Worte  «die  Korrelationen  des  Wachstums*  ge- 
nannt hat,  wie  z.  B.  wenn  Katzen  mit  blauen  Augen  häufig 
taub  sind,  wenn  G^rginen  Ton  einer  bestimmten  Farbe 
geschlitzte  Kronenblfttter  haben.  Da  in  aoldien  E%Uen  weder 
irgend  ein  Zweck  aufzufinden  noch  der  biologische  Vorgang 
irgendwie  zu  ahnen  ist,  so  werden  diese  Fille  nicht  zu  den 
zweckmässigen  gerechnet  Die  Beschreibung  Terzichtet 
freiwillig  darauf,  Erklärung  zu  heissen.  Mir  aber  will  es 
scheinen,  als  ob  der  Kritiker  der  Sprache  beim  üeberblick 
Uber  diese  beiden  Gruppen  von  Bildungsgesetzen  mit  lachen- 
der Lust  den  Zweckbegriff  wie  eine  Rakete  des  mensch- 
lichen Verstandes  aufsteigen,  leuchten  und  verpaffen  sehen 
mtlsste.  Legt  man  dem  Kampf  ums  Dasein  der  Orga- 
nismen einen  Zweckbegriff  nnter,  dann  mOsste  man  auch 


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ZwMklMgnff. 


5d7 


don  Kampf  ums  Dasein  am  Himmel  einen  Zweckbegriff 
unterscliieben.  Dann  wäre  die  äusserst  Ter  wickelte  Bahn 
der  Erde,  welche  in  ihrer  Hanpirichfcung  von  ihrem  Ver- 
hältnisse zur  Sonne,  in  geringem  Richtungen  von  ihrem 
Verhältnisse  zu  den  PL-ineton,  in  minimalen  Richtungen 
sicherlich  von  fernen  Fixsternen  abhängt,  dann  mOsste  diese 
wirkliche  das  heisst  notwendige  ErdVtalm  ebenso  zweck- 
mässig heissen  wie  die  im  Kampf  ome  Dasein  entstandene 
Einrichtung  des  menschlichen  Auges.  Nennen  wir  aber 
die  wirkliche  Erdbahn  nicht  zweckmSsaig,  so  dürfen  wir 
anch  dsa  Auge  nicht  zwedanässig  nennen.  Man  komme 
mir  nicht  damit,  dass  das  menschliche  Auge  durch  Ver- 
erbung und  Anpassung  SO  geworden  ist,  wie  es  ist»  Auch 
die  Erdbahn  hat  sich  anpassen  müssen  und  wer  weiss  wie 
viele  Planeten  Busammengestarst  sind  in  der  dunklen  Tiefe 
der  Zeiten,  weil  sie  sich  nicht  anpassen  konnten.  Und  die 
Fortdauer  der  sogenannten  Anziehungskraft  ist  um  nichts 
erklärbarer  als  die  Fortdauer  der  Kräfte  und  Formen,  die 
wir  Vererbung  nennen.  So  wird  uns  die  ZweckmSssigkeit 
des  Darwinismus,  welche  sich  auf  der  einen  Seite  als  ein 
moderner  ZnfaDsbegriiF  enthflUt  hat,  auf  der  andern  Seite 
zu  einer  menschlichen  Anschaunngswdse  der  Notwendigkeit. 
Notwendigkeit,  Zufall  und  Zweck  fallen  zusammen,  wie  das 
Ding  Eirsche  dn  und  dasselbe  Ding  ist,  welches  wir  das 
eine  Mal  eine  Frucht,  das  andere  Mal  rot  und  sftuerUch, 
das  dritte  Mal  ein  nützliches  Nahrungsmittel  nennen. 

Wollen  wir  Emst  damit  machen,  die  uralte  Vorstellung 
Ton  einer  allweisen  Schöpfermacht  aufzugeben,  so  mOssen 
wir  auch  endlich  den  sublimierten  Zweckbegriff  der  Dar- 
winisten fUlen  lassen.  Dazu  gehört,  dass  wir  entweder 
das  Wort  Entwickelung  nicht  mehr  gebrauchen  oder  aus 
diesem  Worte  die  Vorstellung  Ton  einem  Fortschritt  weg^ 
lassen.  Eine  Thatsache  ist  es,  dass  diese  wirkliche  Welt 
das  heisst  die  uns  allein  bekannte  organisierte  Erdkruste 
nicht  starr  ist.  Stair  wire  sie,  wenn  sie  in  ewigem  Eise 
fröre,  starr  wftre  sie  ebenso,  wenn  diese  organisierte  Erd- 
kruste in  dem  Bestände  dieses  Augenblicks  mit  all  ihren 


598 


YIIL  Wumh  tud  Worte; 


Blnmen  uud  Tieren  unmftndorlicli  bliebe.  Unser»  Weit 
verändert  sieh.  Diese  übern 'ältigende  FlUle  UDunterbroehoner 
Verändeningen  bildet  aber  fUr  onsere  Sinne  kein  GhaiM^ 
sondern  unsere  Sinne  nehmen  in  den  Veiikndeningen  eine 
B^eUnässigkeit  wahr,  welche  wir  gesetzlich  nennen.  Und 
wir  haben  eben  entdeckt,  dass  diese  Oesetz mäesigkeit  oder 
Notwendigkeit  uns  unwillkürlich  als  Zweckmässigkeit  er- 
scheint, sowie  uns  die  notwendige  Frucht  des  Kirschbaums 
nützlich  erscheint,  weil  wir  sie  essen  können.  Diese  Oe* 
setzmässigkeit  oder  Notwendigkeit  aller  Veränderui^pen  im 
Weltall  steckt  natürlich  nur  im  menschhchen  Kopfe.  Wir 
wissen  nicht,  was  in  der  Wirklichkeit  diesem  Begriffe  der 
Notwendigkeit  oder  Zweckmässigkeit  entsprechen  mag; 
denn  wir  können  uns  zur  Not  von  dem  Zweckbegriff  be- 
freien, auch  wir  aber  nicht  von  dem  Begriff  der  Ursache. 
Von  der  Stimmung  unserer  Betrachtung  hängt  es  ab,  ob 
wir  diese  Ordnungsvorstellung  in  unserra  Kopfe  als  Not- 
wendigkeit, als  Zweckmässigkeit  und  Vollkommenheit  oder 
als  Schönheit  empfinden.  Nur  die  Vorstellung  einer  Ord- 
nung das  heisst  einer  Wiederholung  von  ähnlichen  Erschei- 
nungen finden  wir  scheinbar  objelitiv  in  unserm  Kopfe  vor. 
Und  die  letste  Frage  der  Welterklftrung  wäre  die:  Wie  ist 
diese  Vorstellung  der  Ordnung  in  unsem  Kopf  hineinge- 
kommen? Ist  sie  objektiT  oder  subjektiv? 
Oldaus.  Anstatt  scholsstisch  mit  diesem  Begriffe  Ordnung  xu 
spielen,  will  ich  an  eine  aUtägliche  Thatsache  des  Bewusst^ 
seine  erinnern,  um  mir  selbst  m  deutlicher  Ahnung  zu 
bringen,  wie  es  doch  wohl  die  menschlichen  Zufallssinne 
sein  mOgen,  welche  eine  snbjektiTe  Ordnung  in  die  Welt 
hineintragen. 

Oft  gehe  ich  nach  Hittemacht,  mflde  und  still,  nadi 
gethaner  Arbeit  duzch  den  Wald  nach  Hause.  Dann 
bemerke  ich  verhSltnismilssig  viel  Ton  dem,  was  meine 
Sinne  wahrnehmen.  Und  doch:  achte  ich  nur  auf  meinen 
Zufallssinn  des  GehOrs,  so  ist  es  gewiss,  dass  (um  in  der 
Sprache  der  Akustik  xu  reden)  uns&hlige  Schwingungs- 
richtungen  einander  kreuzen.   Da  kann  auf  der  Erde  und 


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Otdnnag. 


599 


in  dem  fernsten  Rollen  der  Gestirne  keine  Welle  sein, 
deren  letzte  Ausläufer  niclit  mein  Ohr  träfen.  Ich  aber 
höre  nicht  den  Donner  der  Sonne,  nicht  die  Brandung  der 
Nordsee,  nicht  einmal  den  dumpfen  nächtlichen  Schritt  der 
Grossstadt.  Ich  höre  auf  dieser  nächtlichen  Wanderung 
aher  deutlich  jedes  Wehen  des  Windes  in  den  Kieferkronen, 
ich  höre  das  Rascheln  jedes  welken  Blattes  auf  dem  Boden, 
ich  höre  den  Flug  des  Nachtschmetterlings,  das  Zirpen  der 
träumenden  Vögel,  ich  köre  von  fern  her,  aus  den  Nach- 
bardörfern, das  Anschlagen  der  Hunde,  ich  höre  rechts  und 
links  aus  weiter  Feme  das  Geräusdi  der  Eisenbahnzüge, 
ich  h5re  mdne  eigenen  Schntte.  So  höre  ich  aus  den  sich 
kreuienden  millionenfachen  Schallwellen  einige  Dutzend 
heraus,  die  kräftig  genug  sind  für  meine  Nenren  und  die 
meinen  Nerven  bekannt  sind.  Und  nun  bei  Tage.  Ich 
stehe  in  der  Grossstadt  an  einer  Strassenecke,  um  auf 
meine  Pferdebahn  zu  warten.  Hier  umsdiwirren  mein  Ohr 
Yei^bem  die  Millionen  einander  kreuzender  Schallwellen, 
von  denen  ich  ihrer  Schwäche  wegen  nichts  wahrnehme. 
Aber  auch  von  den  SchaUweUen,  die  bei  Nacht  durch  ihre 
Stärke  mich  verletzen  würden,  umtoben  mich  gleichzeitig 
tausende.  Hunderte  von  Menschen  gehen  an  mir  Torttber 
und  ich  würde  jeden  einzelnen  Schritt  hören,  wenn  es 
Nacht  wäre*  Dutaende  von  Wagen  wUrden  mich  mit  ihrem 
widen^rtigen  Qerassel  martern.  Idi  aber  vernehme  das 
GesamtgeräuBch  der  Grossstadt  gar  nicht  oder  doch  nur 
wie  das  Summen  eines  Bienenschwarms.  Ich  sehe  Yon  dem 
Gesamtbilde  der  Grossstadt,  in  welchem  von  meinem  Stand- 
punkte aus  tausend  Maler  tausend  verschiedene  Motive  er- 
blicken können,  nichts  was  nicht  zufallig  meine  Aufmerk- 
samkeit erregt.  Ich  sehe  aber  auf  mehr  als  hundert  Schritte 
weit  plötslidi  das  farbige  Zeichen  meiner  Pferdebahn. 
Ist  die  Behauptung  wirklich  zu  kühn,  dass  die  Ordnung, 
welche  der  Menschengeist  in  die  Wirklichkeitswelt  hinein- 
▼erlegt,  nidits  anderes  sei,  als  diese  Aufmerksamkeit  meiner 
Sinne  auf  das  Farbenxeichen  meiner  Pferdebahn.  In  den 
furchtbaren  Wirrwarr  der  Grossstadt,  einen  Wirrwarr, 


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eoo 


TUL  WiiMn  und  Worte. 


welcher  Chaos  ist  ftlr  den  Spatzen,  der  nur  nach  Pferde- 
kot späht,    und  der  Notwendigkeit  wäre  für  jemanden, 

der  die  Beweggründe  aller  Menschen  dieser  Grossstadt 
kannte,  bringt  meine  Pferdebahn  plötzlich  Ordnung  hinein, 
ftlr  mich:  ich  erwarte,  dass  sie  mich  zu  meinem  Ziele 
ftlhre,  dass  sie  meiner  Altsicht,  meinem  Zwecke  dienlich 
sei.  Fflr  meinen  Kcv>isnius  teilt  sich  der  Menschenstrom, 
teilen  M'h  die  WHi,'rni eihen,  meine  Pferdebahn  wird  zum 
Mittelpunkt  des  Treibens,  wie  mir  die  Kirsche  nützlich 
scheint.  Und  merkwürdig:  die  Pferdebahn  bringt  mich 
wirklich  an  mem  Ziel. 

Aber  der  Fahrplan  der  Pferdebahn  ist  ja  vorbedacht? 
Gewiss,  mir  unbekannte  Herren,  Geschäftsträger  der  Pferde- 
bahnaktionärp,  haben  sich  mit  V*'rtretem  der  Polizei  ein- 
mal zusammengesetzt  und  haben  einen  Fahrplan  ausgear- 
beitet. Die  Vertreter  der  Aktiengesellschaft  wollten  mög- 
lichst viele  Groschenstücke  einnehmen.  Die  Vertreter  der 
Polizei  wollten  den  Kampf  ums  Dasein  des  Strassen- 
verkehrs möglichst  vor  Störungen  behüten.  Die  G  m  sehen - 
absiclii  hat  nichts  damit  zu  thun,  dass  die  I'iVrilrbahn  mich 
meinen  Weg  führt;  je  mehr  Groschen  an  den  ötrasaenecken 
auf  einen  Wagen  dieses  Farbenzeichens  warten,  desto  mehr 
Wagen  dieses  Zeichens  werden  kommen,  sowie  die  Blüten 
einer  Pflanze  grösser  und  zahlreicher  werden,  wenn  sie 
mehr  Nahnmg  erhiilt.  Der  Plan  der  l'olizeiverf reter  ist 
aber  auch  nichts  nnderes  als  eine  Voraussieht  derjenigen 
Hemmunge»!  untl  Aiijiassimgen,  welche  auch  ohne  Polizei 
notwendig  gekommen  wären.  Auch  ohne  Polizei  würden  die 
Pferdebahnwageu  für  gewöhnlich  nicht  in  einander  hinein 
fahren. 

Die  scheinbare  Zweckmässigkeit  der  Welt  ist  im  ganzen 
und  grossen  ohne  Polizei  zu  stände  gekommen.  Die  Falle, 
in  welchen  Züchter  planvoll  neue  Organismen  schaffen, 
sind  selten.  Aber  die  scheinbare  Zweckmässigkeit  der  W^elt 
ist  doch  nur  unser  egoistisches  Zurechtfinden  in  dem  regel- 
mässigen Chaos  der  Wirklichkeit,  und  die  Regelmslssigkeit 
dieses  Chaos  ist  doch  nur  die  Wiederkehr  der  unzähligen 


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Evolution. 


601 


Egoisineii,  die  als  Zellen,  als  Indmduen  und  als  Qnippea 
oder  Aktiengesellschaflen  einzig  und  allein  selbst  leben 
wollen.  Die  Termeinfliche  Ordnung  das  beiast  das  Sidi'» 
zozeebtfinden  in  der  Orosssiadt  wird  dureb  Erdbeben,  dnrcb 
Sencben,  dnrcb  Kriege  gestört;  meine  Pftnrdebabn  kommt 
dann  -riellefcbt  niebt.  Die  Ungeheuern  Bevolutionen,  welche 
die  Ordnung  der  Natur  gestört  haben  mOgen,  kennen  wir 
nur  nicht.  Wir  hatten  uns  an  die  Begdmässigkeiten  der 
beobachteten  paar  tausend  Jahre,  nennen  sie  Entwickelung 
und  jedor  wartet  auf  das  Farbenzeichen  seines  Wagens.  So 
stehe  ich  an  der  Ecke  und  höre  nicht,  wie  in  jedem  Hause 
rings  um  mich  her  irgend  ein  Liebender  Schwflre  ruft, 
irgend  ein  Sterbender  röchelt.  Wenn  es  Nacht  wftre  und 
im  Walde,  so  würde  ich  das  alles  hören.  Dann  wOide  es 
bis  zu  meiner  Aufmerksamkeit  dringen.  Die  Ordnung  der 
Welt,  die  uns  bald  als  Notwendigkeit,  bald  als  Zweck- 
massigkeit erscheint,  ist  Orientierung  unserer  Aufmerksam* 
keit.  Was  in  WirkHchkeit  die  Wiederkehr  ähnlicher  Er- 
scheinungen yeranlasst,  das  Geheimnis  der  Weltordnung 
kennen  wir  nicht.  Wir  dürfen  aber  nicht  sagen:  es  ist 
ein  Geheimnis  da,  welches  wir  nicht  enträtseln  können. 
Wir  wissen  nur  von  der  subjektiven  Ordnung  in  unserm 
Kopfe;  wir  wissen  nicht  ob  wir  das,  was  dieser  Ordnung 
objektiv  entspricht,  noch  unter  der  Menschenvorstellung 
Ordnung  be<^reifen  können.  Wir  können  die  Wirklichkeit 
mit  diesem  Menschenworte  nicht  fassen.  Der  Mensch  hat 
die  Ordnung  in  die  Natur  Liiu  iiigc  tiageii,  durch  seine  arme 
Sprache.  Nachher  verzweifelt  er,  wenn  er  seine  Ordnung 
in  der  Natur  nicht  iiuden  kann  (III.  (3). 

Entwickelung  oder  Evolution  ist  das  Avissenschafthche  Evoluaon. 
Schlagwort  geworden  fQr  jeden  Versuch,  geschichtliche 
Veränderungen  zu  erklären.  Die  Verdichtung  des  Urnebels 
zu  unserem  Sonnensystem,  die  Gestaltung  der  festen  Erd- 
kruste, das  Emporkommen  des  i^lianzeiireichs  und  des  Tier- 
reichs auf  dieser  Erdkruste,  die  Geschichte  der  Menschheit 


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602 


VIII.  Wi»en  und  Worte. 


und  innerhalb  dieses  Gebietes  wieder  die  Gesdiiehie  der 
Sprache,  der  Eunsfc,  der  Sitte,  des  Rechts,  der  ReUgioa, 
alles  ist  seit  einiger  Zeit  Bntwickdimg  oder  fiTolution,  so  wie 
es  vor  einigen  hundert  Jahren  Schöpfuug  oder  Erscheinung 
Gottes  war.  Entwickelung  oder  ETolntion  ist  daneben  auch 
das  Modewort  der  (»opnlftren  Wissenschaft  geworden  und 
stellt  sich  immer  wieder  ein,  wo  deutlichere  Begriffe  fehlen. 
Wer  heutzutage  die  Ideen  zur  Philosophie  der  Geschidite 
der  Menschheit,  wie  sie  etwa  Ton  Voltaire  und  Ton  Herder 
dargelegt  worden  sind,  in  der  Sprache  unserer  Zeit  mit- 
teilen wollte,  der  kdnnte  gar  nicht  umhin,  immer  und 
immer  wieder  das  Wort  Entwickelung  oder  Brolntion  zu 
gebrauchen,  trotzdem  Voltaire  und  Herder  Tom  Darwinismus 
und  seiner  Anwendung  auf  die  Gesdiichte  noch  nichts 
wussten. 

Zwingt  man  aber  einen  gelehrten  Biologen  oder  einen 
sozialistischen  Volksredner,  den  ihnen  gemeinsamen  Begriff 
Entwickelung  zu  definieren,  so  wird  der  eine  wie  der 
andere  in  nicht  geringe  Verlegenheit  geraten.    Es  enthält 

uänilich  auch  dieses  Wort  eine  kleine  Ni^benbedeutung,  die 
icli  nicht  anders  als  mythologisch  nennen  kann.  Wir  denken 
nämlich  alle,  wenn  wir  Entwickelung^  oder  Evolution  saften, 
an  ein  Fortschreiten  von  niedrit^ercn  schlechtem  Formen  zu 
köherüii  bessern  Forinen.  Wenn  der  sozialistische  Volks- 
redner es  als  Ziel  der  Entwickelunj?  hinstellt,  dass  der 
Individualismus  der  Vergangenheit  einem  SozialismuN  der 
Zukuiilt  i'latz  machen  werde,  so  ücliwebt  ihm  uiul  uns  die 
ZukiniH  als  eine  höhere,  bessere  (lestaltung  vor.  Aber 
auch  lu  r  P)iologe,  der  die  Entwickeluii;^-  z.  B,  des  Meiihcben 
aus  der  emlachen  Zelle  lehrt,  versteht  uuter  dem  jeweilig 
späteren  Orjj^anismus  jedesmal  den  höheren  oder  besseren. 
Da  ist  also  in  dem  liegritt'  der  Entwickelung  eine  Wert- 
vergleichung mitverstanden,  ohne  dass  wir  wüssten,  woher 
wir  den  Massstab  für  solche  Schätzungen  gewonnen  hätten. 
Wir  werden  darum  gut  thun,  aufmerksam  zui^usehen,  zu 
welcher  Zeit  der  bildliche  Kegriff  Entwickelung  diese  mora- 
lische Nebenbedeutung  bekommen  habe. 


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BvoluiuNt 


603 


Das  dentsdie  Wort  ist  alt,  unil  das  lltere  lateiiiisehe 
Wort  war  eine  Metapher,  die  «rsprOngUch  deatfich  Ter- 
riet,  was  de  bildlich  darstellen  wollte.  Wir  haben  diese 
Worte  im  FranaSsischen  ab  ^Tolution,  d^Telo^p^nieBt, 
besonders  aber  als  ezplication  noch  deutlich  Tor  uns. 
Diesen  standen  eiidSrend  inTolntioo,  enveloppement  und 
complication  gegenüber.  Die  Begriffe  wurden  in  der  Logik 
angewandt,  so  oft  sich  die  Ahnung  einstellte,  dass  die 
logischen  Operationen  nur  auseinander  legen,  was  vorher 
in  die  B^fnlfo  hineingelegt  worden  ist.  Schon  Cicero 
nennt  einmal  die  Definition  (wenn  ich  in  wirklichem  Deutsch 
fibersetsen  soll)  die  Auswickehmg  dessen,  was  in  das  Wort 
hineingewickelt  worden  war.  Durch  solche  wOrtliche  Ueber* 
setaung  tritt  das  Büd  wieder  deutlich  zum  Vorschein.  Als 
Jakob  Böhme  den  Begriff  in  die  deutsche  Sprache  ein- 
führte, sagte  er  «Auswickelang*.  Erst  vor  etwa  100  Jahren 
wurde  bei  uns  En t Wickelung  gebriluchlM^er,  während  in 
Frankreich  das  Wort  expHcation  (Auseinanderfaltung)  f&r 
die  logische  Erklärung  Üblich  blieb,  und  Evolution  nach 
englischem  Vorbilde  das  bedeutete,  was  wir  Entwiekelung 
nennen.  Ich  will  von  jetst  ab  immer  Evolution  sagen,  weil 
es  das  Modewort  aller  Kultursprachen  geworden  ist 

Der  modmen  Bedeutung  fing  das  Wort  sich  am  Aus- 
gang des  Mittelalters  au  nihem  an,  ab  man  ausserhalb 
der  Logik  das  Verhältnis  zwischen  Gbtt  und  Welt  neu  zu 
erklären  suchte.  Der  ausserweltliche  Schöpfer  der  Welt, 
der  Gott,  der  nur  von  aussen  stiess,  begann  zu  verblassen 
und  der  monistische  Qedanke  dämmerte  unUar  herauf. 
Man  fing  an  die  Entstehung  von  Pflanzen  und  Tieren  schibf  er 
zu  beobachten,  man  bemerkte,  dass  in  der  Pflanzenknospe 
die  kOnftige  Pflanze  schon  zusammengewickelt,  zusammen- 
gefaltet (involviert,  compUsiert)  bei  einander  lag,  dass 
sie  nicht  neu  geschaffen  zu  werden  brauchte,  sondern  nur 
auseinandergewickelt,  auseinandergefaltet  (evolviert,  ex- 
pliziert). Es  lag  also  nahe,  das  Bild  von  der  Pflanzen* 
knoepe  anf  die  Entstehung  der  Welt  aasuwenden,  die  von 
nun  an  nicht  sowohl  geschaffen  ab  vielmehr  aus  dem  Gott 


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604 


yUL  WiNMi  und  Worte. 


heraus  entwickelt  wurde.  Diese  Metapher  hatte  fQr  gott- 
gläubige Christen  ursprünglich  <;o  wenig  Anstössiges,  dass 
sie  sich  sogar  bis  zum  heiligen  Augustinus  zurückyerfolgeii 
lässt.  Dabei  ist  freilich  nicht  zu  yergessen,  dass  die  Evo- 
lution in  diesem  Sinne  noch  nichts  mit  einem  Fortschreiten 
der  einmal  entstandenen  Welt  zu  höheren  Qestaltangen  su 
thun  hatte,  dass  diese  Evolution  vielmehr  nur  in  bequemer 
Weise  der  endlosen  Fraige  nach  dem  Warum  der  Dinge  ein 
£nde  zu  machen  suchte.  Als  die  alte  Antwort  ,Gott  habe 
alles  geschaffen,  was  da  ist"  nicht  mehr  genügte,  da  freute 
man  sich  der  wohlfeilen  neuen  Antwort:  ^ Alles  was  ist,  sei 
iinplicite  schon  in  Gott  dagewesen".  Das  Bild  ron  derEvO' 
lution  ging  nur  auf  das  Weltganze  in  seinem  Verhältnis  zu 
Gott.  Sofort  freilich,  seit  Giordano  Bruno  wenigstens,  fingen 
die  Denker  an,  das  Bild  auch  auf  das  Einzelne  anzuwenden, 
und  so  ging  aus  der  Metapher  von  der  Auswickelung  lang- 
sam der  Darwinismus  hervor. 

Aber  es  dauerte  noch  lange,  bevor  die  Evolution  klar 
und  deutlich  das  Fortschreiten  zu  etwas  Besserem  mit^ 
bedeutete.  Die  Unver'änderlichkeit  der  Arten,  die  alten 
platonischen  Ideen  oder  die  Zwecke  des  Aristoteles,  waren 
dem  Menschengehim  so  fest  eing^raben,  dass  selbst  die 
Ahnung  einer  VerwanrUscliaft  aller  organische  Formen  die 
Vorstellung  von  festen  Typen  nicht  zerstören  konnte.  Noch 
bei  Goethe,  den  man  so  gern  einen  Vorläufer  Darwins  nennt, 
ist  der  Üe1)ergang  eines  Typus  in  den  andern  nicht  als  ein 
Fortschreiten  gedacht  sondm  als  eine  Verwandlung,  eine 
Metninorphose.  Die  Frage  der  Entwickelung  betraf  fast 
nur  die  Formen;  man  möchte  sagen,  es  sd  eine  künstle- 
rische Frage  gewesen.  Wirklich  hat  erst  Darwin  das  Bild 
Ton  der  Pflanzenknospe  auf  alles  Einzelne  angewandt  und 
ungefähr  gelehrt,  dass  die  sogenannten  höheren  Arten  sich 
aus  den  niedem  herauswickeln,  nicht  weil  sie  vorher  hinein- 
gewickelt waren,  sondern  wdl  die  ,  Anlage*  vorhanden  war. 
Man  achte  wohl  darauf,  dass  die  Metapher  von  der  Heraus- 
wickelung damit  ihre  ganze  Bildlidikeit  verloren  hatte. 
Evolution  war  eine  bildliche  Erklärung,  wie  das  Weltganze 


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Fortoehiitt. 


005 


aus  Gott  hervorgehen  möge.  Mit  dieser  Vorstellung  hat 
Darwin  nichts  mehr  zu  thun.  Er  findet  aber  das  Wort 
Evolution  Tor  als  eine  verblasste  Metapher,  lässt  das  Bild- 
liche fallen  und  glaubt,  und  mit  ihm  ^^riaubt  die  ganze 
Welt,  einen  neuen  Begriff  zu  besitzen,  in  Gott  lag  die 
Wek  zusamnien gefaltet,  wie  die  Keimblättohen  im  Samen; 
darum  konnte  die  Welt  aus  Gott  herroigehen.  Nun  wird  , 
das  Wort  «herrorgehen'  schon  für  einen  beofreiflichen  Vor- 
gang gehalten  und  Darwin  lässt  die  höhere  Art  aus  der 
niedera  hervorgehen,  trotzdem  sie  nicht  in  dieser  zusammen- 
gefaltet lag.  Und  auch  der  moralische  Begriff  des  Fort- 
schreitens zum  Ploheren,  zvan  Bessern  schleicht  sich  jetzt 
in  das  Wort  Evolution  ein.  So  wird  auch  der  Begriff 
»Evolution*  wieder  von  seiner  eigenen  Geschichte  umgeben, 
unabweisbar  und  dennoch  verschleiernd. 

Darwin  selbst  ist  zu  vorsichtig  und  zu  ehrlich,  um  so  Fort- 
metaphysische  Begriffe  offen  zu  gebrauchen.  Seine  ganze 
Lebensarbeit  aber  liegt  darin  —  so  paradox  nu  ine  Be- 
hauptung auch  scheinen  mag  —  ebenso  Moral,  Mythologie 
oder  wie  man  die  Sache  nennen  mag  auf  die  Natur- 
geschichte anzuwenden,  wie  eigentlich  Kant  Moral  oder 
Mythologie  auf  die  Erkenntnistheorie  angewandt  Imt.  Kant 
hatt«  seine  abstrakte  Moral  zu  dnem  Muss  für  alle  denken- 
den Wesen  gemacht  und  eben5;o  seine  Formen  der  Welt- 
erkenntnis zu  einem  Muss  des  Geistes.  In  ähnlicher  Weise 
verstand  es  sich  für  Darwin  von  selbst  — >  wenn  er  es  auch 
nirgends  ausdrücklich  lehrt  —  dass  der  menschliche  Geist 
das  Ziel  der  Entwickelung  sei;  und  als  seine  Aufgabe  sah 
er  es  an,  die  Entwickelung  des  einfachsten  Organismus  zum 
Menschengeiste  hinauf  zu  erklaren.  Scheinbar  aus  Natur- 
gesetzen, heimlich  aus  Zweckursachen.  Das  Protoplasma, 
die  Zelle  (oder  wie  man  das  Zeug  nennen  will)  musste 
sich  zum  Menschen  entwickeln.  Darwin  sagt  nirgends,  dass 
er  ein  Materialist  ^  i;  aber  es  Tcrsteht  sich  ihm  Ton  selbst, 
eine  mechanische  Welterklärung  zu  suchen.  Er  sagt  nir^ 
gends,  nach  welchem  Massstabe  das  Menschengehirn  wert- 
voller sei  als  die  Lebenskraft  der  Amdbe;  aber  es  ist  ihm 


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606 


VUX.  WiaM  and  Worte. 


selbstverständlich,  ilass  er  viel  erklärt  zu  habeu  «;l;iul>t, 
weiiü  er  die  Entwickelunf?  des  hüheni  Organismus  aus  dem 
aiedem  erklärt  hat.  Das  ist  ja  eben  «^ie  hil  )ii>f  juenz  aller 
materialisti^ichen  Theorien,  dass  sie  den  (iegensatz  von 
Natur  und  Geist  zwar  leugnen,  aber  keine  Sophistik  ver- 
schniiUui.  um  der  Natur  den  Adel  des  Geistes  zu  verleihen; 
so  wie  unsere  ulteu  Demokraten  ewig  Gieiciiheit  predigen, 
aber  i'iir  sich  pei*sönlich  gern  das  Aufrücken  in  eine  höhere 
Gesellschaftsklasse  durchsetzen  mwhten.  T>arw}n  war  nicht 
so  tölpelhaft  wie  unser  Büchner,  der  iiiiuü  i  n\  iiiirend  rief: 
„Es  gibt  nichts  Geistiges,  es  gibt  nur  Kraft  und  Stoff! 
Seht  wie  geistreich  ich  die  Kraft  als  den  Geist  d«'^  Stoti's 
hingestellt  habe."  Darwin  ist  ein  unendlich  feinerer  Be- 
obachter. Aber  auch  seine  Lehre  liesse  sich  in  dem  Wider- 
8]>ruch  darstellen:  ,Es  gibt  in  der  Natur  nichts  Höheres 
und  nichts  Niedrigeros,  Denn  das  Höhere  entwickelt  sich 
aus  dem  Niedrigem." 

Hätte  unsere  Zeit  das  Bildliche  im  Begriff  der  Evo- 
lution festhalten  können,  sie  hätte  dem  Begriff  die  Neben- 
bedeutung des  Wertes  niemals  gegeben.  Denn  in  der  Aus- 
wickelung der  Pflanzen  aus  dem  Keim  liegt  nichts,  was 
zu  einer  Vergleichung  der  Werte  Veranlassung  gibt.  Die 
Wertschätzung  ist  immer  und  unter  allen  Umständen  ein 
Verhältnis  der  Dinge  zum  menschlichen  Interesse,  nus  dem 
Keim  aber  entwickelt  sich  die  Pflanze  und  aus  der  Ptlanze 
die  Frucht,  die  wieder  Keime  enthält.  Nicht  einmal  die 
Reife  bildet  einen  Schlusspunkt,  sondern  ebensogut  einen 
neuen  Anfangspunkt.  Es  ist  eine  frevelhaft  menschlich« 
Auffassung,  die  seit  Spinoza  nicht  hätte  zu  Worte  kommen 
sollen,  dass  die  Evolution  der  Organismen  cum  Menschen, 
die  Naturgeschichte  also,  eine  Fortbewegung  nach  aufwärts, 
nach  oben,  nach  dem  Himmel  zu  sei.  Das  ist  ebenso 
frevelhaft  menschlich,  wie  die  alte  Lehre  es  war,  unsere 
Menschenerde  sei  der  Mittelpunkt  des  Weltalls  und  die 
Sonne  drehe  sich  um  uns.  Aus  dieser  unveränderlichen 
Menschenreligion  heraus  ist  der  Fortschritt  zum  Bessern, 
der  Zweckbegriff  also,  in  die  natuigeschichtUche  Evolution 


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Fortschritt. 


607 


hineingekoiuiiien.  Aus»  dieser  religiösen  Sehnsucht  heraus 
soll  der  Begriff  der  Evolution  auch  noch  der  Sehnsucht 
nach  einer  Zukunft  »lieaen,  nach  neuem  Recht,  nuch  neuer 
Sitte,  üeber  die  Zukunft  aber  wissen  wir  noch  weniger 
als  über  die  Vergangenheit.  Wollen  wir  ernsthaft  den  alten 
Aberglauben  abschütteln,  so  ist  der  neue  Begriff  der  Evo- 
lution für  uns  nichts  weiter  als  ein  neues  zusammenfassen- 
des Wort,  das  eine  unklare  Ahnung  bezeichnet,  wie  wohl 
unsere  Welt  im  Einzelnen  geworden  sein  mag.  Dann  aber, 
wenn  wir  den  moralischen  Zweckbegriff  nicht  mehr  mit 
dem  Worte  verbinden,  ist  es  ein  schlecht  gewähltes  Wort, 
bat  es  die  letzte  Spur  seiner  alten  Bildlichkeit  verloren 
lind  bedeiit-et  nicht  mehr  als  sein  ehemaliges  Sjnonjm:  ex- 
}>lication.  Es  ist  der  noch  ganz  unfertige  Versuch,  die  Ge- 
schichte der  Natur  durch  Anpassung  und  Vererbujisr  zu 
, explizieren",  zu  erklären.  Diese  beiden  Begriffe  (Anpassung 
und  Vererbung  nämlich"^  durcli  das  Wort  Evolution "  zu- 
sammen zu  beirreifen,  ist  eine  Unklarheit  mehr,  eine  voll- 
kommen nutzlose  Unklarheit,  weil  sie  nicht  den  kleinsten 
Aman  Ii:  einer  neuen  Hypothese  gibt.  Evolution  ist  ein 
überfiübMges,  ein  unntttzes.  ein  sinnarmes  Wort. 

Wie  gesagt:  das  alte  Bild  vom  Pflanzenkeim  })asste 
noch,  als  man  die  Welt  aus  Gott  herauswickelte.  Von  Ur- 
anfantf  mochte  die  Welt  implicite  noch  znsanimenLrewickelt 
in  Gott  gelegen  haben.  Stark  verwässert,  aber  imuur  noch 
fllhlhar  ist  das  Bild,  wenn  wir  verstandesgem'ass  etwa»  zu 
ex[  lizit  ren  suchen.  Wir  wickeln  aus  dem  Begritf  in  Sätzen 
heraus,  was  wir  in  sf  iicken  liineingewickelt  haben. 
Ganz  verschwunden  ist  das  Biid  jedoch,  wenn  ^v^r  ausser- 
halb unseres  Denkens  die  Veränderungen  der  Welt  immer 
noch  als  Evolution  zu  fassen  versuchen.  Worte  leben  nur, 
wenn  sie  SvrnVmlc  sind,  und  Evolution  ist  ein  totes  Synilnd: 
Worte  i>edeuten  etwas  nur  dann,  wenn  sie  erkennbare 
Zeichen  sind,  und  Evolution  hat  aufgehört  etwas  zu 
zeichnen. 

Diese  Ablehnung  richtet  sich  aber  nicht  so  sehr  gegen 
Darwin  selbst  als  gegen  die  philosophischen  Begründer  des 


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608 


VIIL  Wisaen  und  Worte. 


8p«M«r.  Darwinifliniis.  Darwin  selbst  ist  ein  wackerer  Feind  von 
Abstraktion,  ist  noeh  kein  Darwinist.  FOr  gewdknlkli  ent- 
spricht er  so  sebr  mnnem  Ideal  eines  Forscheis,  dass  er 
überhaupt  keine  Schlttose  dekt,  kerne  allgemeinen  l&kbi» 
aufstellt.  Für  gewOhnUch  lesen  wir  seine  Blleber  so,  ab 
ob  sie  gar  nicht  durch  Sprache  Temiittelt  wiren,  als  ob 
dieser  Heros  des  Apercu  mit  uns  zwischen  Bergen  Ton 
Einzeldingen  umherginge  und  stumm  mit  seinem  Finger  auf 
Aehnlichkeiten  zeigte,  die  vor  ihm  noch  kein  Mensch  be- 
obachtet hatte.  Nicht  eine  neue  Philosophie  thut  sich  uns 
da  auf,  sondern  nur  einerseits  die  Gewissheit,  dass  die  alten 
Klassifikationen  und  die  alten  Abstraktionen  auf  unvoll- 
ständigen Beobachtungen  beruhen,  und  anderseits  die  Ahnung, 
dass  eine  übermenschliche ,  vollständige  Kenntnis  aller  wir- 
kenden Ursachen  den  fabelhaften  Begriff  der  Zweckursache 
endlich  würde  vernichten  kOnnen.  Erst  der  philosophische 
Darwinismus  hat  (teils  vor  Darwin)  die  Lehre  von  der  Evo- 
lution aufgestellt;  raeine  Kritik  dieses  BegriflFs  wendet  sich 
also  nicht  gegen  Darwin,  sondern  gegen  den  jüngsten  Mjtho- 
logen,  gegen  Herbert  Spencer. 

Herbert  Spencer  hat  das  unleugbare  Verdienst,  eine 
last  uniihersehbare  Menge  von  wissenschaftlichen  Thiit-^acheu 
unter  einem  einzigen  Gesichtspunkt  vereinigL  zu  haben. 
Was  i]i  III  i'ier  Zeit  der  Arbeitisteilung  unmöglich  schien, 
das  hat  ci  utit  unerhörtem  Fleisse  bewältigt.  Mag  man  ihn 
dafür  mit  Aristoteles  auf  eine  Stufe  stellen. 

Selbstverständlich  sind  die  zahllosen  Beobachtungen, 
die  in  der  Zeit  zwisclien  beiden  Müuueru  von  Naturforschern 
gemacht  worden  sind,  nicht  umsonst  gewesen.  Das  Wissen 
Spencers  verhält  sich  zu  dem  Wissen  des  Aristoteles  wie 
das  eines  Professors  der  Astronomie  zu  der  Kalenderweis- 
beit  eines  guten  Pfarrers.  In  einem  aber  ist  Spencer  dem 
stupenden  Kompilator  des  Altertums  ganz  gleich,  dass  er 
den  allgemeinsten  Begrifl"  für  den  obersten  Gesichtspunkt 
hält,  dass  er  also  die  Gesamtheit  unstu  -  r  \N  elterkenntnis 
aus  den  leersten  Worthülsen  herausschälen  möchte.  Auch 
er  unterliegt  dem   Fluche  aUes  Phiiosophierens  ^  gerade 


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I 


erst  aus  gedroschenem  Stroli  nahrhafte  Brotöucht  gewinnen 
sn  wollen.  Herbert  Spencer  tftusoht  Aber  die  Scholastik 
saner  obersten  Gnmds&tKe  durch  die  Überwältigende  Falle 
Ton  Beispielen,  die  er  ans  der  leblosen  Natur,  aus  der 
Biolc»gie  und  aus  der  Soziologie  herbei  schleppt  W^lhrend 
aber  Darwin  ftlr  gewöhnlich  nur  Beispiele  gibt  und  die 
Schlüsse  dem  Leser  ttberlSsst,  schreitet  Spencer  Aber  seine 
Beispiele  hinweg  Ton  Abstraktion  zu  Abstraktion,  von  scho- 
lastischen Worten  zu  acholaatiachen  Sätzen,  üeber  hundert 
Seiten  braucht  er,  um  sein  ETolutionsgesetz  zu  formulieren, 
und  gelangt  endlich  (.G^mndlage  der  Philosophie*,  deutsch 
Ton  Vetter  S.  401)  zu  folgender  Definition,  deren  sich  kein 
Logiker  des  Mittelalters  zu  schlmen  h&tte:  «Entwiekelung 
ist  Integration  des  Stoffes  und  damit  Terbundene  Zer- 
streuung der  Bewegung,  wfthrend  welcher  der  Stoff  aus 
tmet  unbestimmten,  unzusammenhftngenden  Gleichartigkeit 
in  bestimmte,  zusammenhängende  Ungleichartigkeit  Aber- 
geht, und  wihrend  welcher  die  zurAckgehaltene  Bewegung 
eine  entsprechrade  Vmfonnung  erfahrt.*  Für  meine  Leser 
yerrfit  dieser  letzte  Schluss  Ton  Spencers  Weisheit  wohl 
sofort  das  durchbohrende  Gefühl  ihres  Nichts.  Damit  mir 
aber,  der  ich  mich  frei  gemacht  habe  Ton  der  toten  Sprache 
ilterer  Philosophen,  nicht  dieser  Engländer  als  der  be- 
rufene Sprecher  zeitgenössiseher  WissenschafUichkeit  ent- 
gegengehalten werde,  muss  ich  mich  der  schwierigen  und 
undankbaren  Aulgabe  unterziehen,  auch  die  ETolutions- 
philosophie  als  ein  sehnsüchtiges  Wortgebände  ihres  Be- 
gründers nachzuweisen.  Ich  brauche  mich  dann  mit  dem 
Evoltttionsgeschwltze  nicht  mehr  abzugeben,  das  aus  dem 
Munde  yon  Spencers  Nachtretem  im  2.  u.  s.  w.  Gliede 
unsere  Akademien  und  Uniyersitäten,  unsere  Festsäle  und 
VolksTersammlungen  erfüllt  und  nach  dem  Glauben  der 
Zeitungsschreiber  und  Zeitungsleser  so  etwas  wie  die  Lösung 
des  Weltrfttsels  entibtält 

Da  ist  nun  gleich  das  erste  Wort  Ton  Spencers  De-  in««- 
finition  hinreichend,  um  sie  für  meine  Leser  dör  bewussten  sntion. 
Wortmacherei ,  ja  eigentlich  der  Flunkerei  rerdächtig  zu 

ICftHtliatr,  Baitrlie  n  elmr  Kritik  dar  Spnohe.  m.  39 


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610 


Vm,  Wiswii  und  Worte. 


machen.  Wir  wisaen,  dass  jede  vollständige  Deänition  eine 
Tftutologie  Min  mius.  Wir  wissen  also,  dass  eine  Tauto- 
logie herauskommen  wirrl ,  wenn  Spencer  in  sechs  Zeilen 
erklärt,  weiche  Art  von  Integration  er  Entwickelung  oder 
Evolution  nennt.  In  nnserem  Falle  aber  ist  die  Flunkerei 
noch  handgreiflicher,  und  die  ganse  Definition  stellt  sich 
als  ein  loj^nscher  Betrug  heraus.  Denn  der  von  Spencer 
eingeführte  13egi  iiV  der  «Integration'  ist  selbst  nur  wieder 
ein  anderes  Wort  für  ganz  genau  dasselbCf  was  Integration 
erst  in  fünf  scholastischen  Zeilen  werden  soll :  für  Evolution 
oder  Entwickelung.  Selbstverständlich  meine  ich  nur  einen 
logischen  Selbstbetrug ;  denn  ein  Mann  von  den  Fähigkeiten 
Herbert  Spencers  setzt  sein  Leben  nicht  an  einen  Spass, 
er  schreibt  nicht  zehn  von  Arbeit  strotzende  Bände,  um 
wttüger  als  eine  Tautologie  zu  beweisen.  Wir  werden  sehen, 
dass  auch  Spencer,  trotz  seines  bessern  Einblicks  in  das 
Wesen  der  Sprächet  doch  auch  der  alten  tleberschätaung 
der  Sprache  zum  Opfer  fjpfaUen  ist.  Und  mit  einem  un- 
aussprechlichen Gefühl  schaudernden  Ekels  frage  ich  mich 
in  (liesein  Augenblicke  wieder,  worin  ich  selbst  der  Narr 
der  Sprache  bin,  während  ich  sie  zu  meistern  suche.  Aber 
standhaft  wie  ein  Esel  im  Homerischen  Bilde  will  ich 
meiner  Aufgabe  treu  bleiben  und  hier  versuchen  das  Spiel 
aufzudecken,  das  mit  dem  Worte  Integration  getrieben  wind. 

Wenn  Integration  Uberhaupt  etwas  bedeutet,  so  wiU 
es  diejenige  Veränderung  bezeichnen,  durch  weiche  Unzu- 
sammenhSngendes  zu  etwas  Zusammenhängendem,  Unbe- 
stimmtes SU  etwas  Bestimmtem,  Unordnung  zu  Ordnung, 
ein  Haufe  von  Teilen  zu  einem  Ganzen  wird.  Man  gehe 
die  Darstellung  Spencers  von  einem  Ende  bis  zum  andern 
durch,  man  wird  immer  finden,  dass  bei  ihm  Integration 
ursprünglich  die  Zusammenballung  von  Teilen  zu  einem 
Ganzen  bedeutet  wie  z.  B.  die  Zusammenballnng  des  Ur- 
nebels  zu  den  einzelnen  Himmelskdipwn  unseres  Sonnen- 
systems ,  dass  Integration  dann  später  bildlich  solche  Yer- 
einheitlichungen  in  der  Biologie  und  Soziologie  bedeutet. 
Ware  Spencer  also  so  klar  wie  Darwin  und  zugleich  so 


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Inkjgzatioa. 


611 


naiv  wie  Darwin,  so  würde  er  ebenso  wie  Diirwin  die 
Schwierigkeit  des  Zweckbegriffo  Übersehen  und  banal  ge* 
sagt  haben:  ich  verstehe  unter  dem  Worte  Evolution  den 
Fortsehritt  des  Stoffs  zu  einem  immer  höheren  Zusammen- 
hang, zu  immer  höherer  Bestimmtheit,  zu  einer  immer 
höheren  Ordnung,  kurz  xu  einem  höheren  Ganzen.  Spencer 
ist  kritisch  genug,  um  su  wissen,  dass  er  so  mythologische, 
moralische  Begriffe  wie  aFortsehritt*  und  «höher*  anstands- 
halber Termeiden  mOsse.  Bewusst  oder  instinktiT  ergreift 
er  das  gans  ungehrftachUche  Fremdwort  ,|Iiitegcatum*, 
welches  nur  die  Yeremheitlichung  besagt^  glaubt  damit  der 
Evolution  einett  allgememem  Begrüf  ftberordnen  su  kOnnen 
und  so  ETolution  philosophisch  au  definieren.  Es  hilft  ihm 
nichts*  Kein  Mensch  kann  mit  seiner  Sprache  ans  seiner 
Vorstellungswelt  heransspringen,  denn  Sprachschata  und 
Weltanschauung  ist  eins  und  dasselbe.  Was  Spencer  de- 
finieren will,  der  Begriff  der  Erolution,  enthUt  unweiger- 
lich, wenn  auch  noch  so  heimlich,  die  Nebenbedeutung  des 
Fortschritts  su  etwas  Besserem.  Und  mag  man  den  Begriff 
Integration  noch  so  abstrakt  &ssen,  auch  ihm  haftet  dieses 
freTelhaft  menschliche  Werturteil  unweigerlich  au. 

Selbst  wenn  wir  unter  Integration  nichts  weiter  Ter- 
stehen  wollen  als  die  Vereinheitlichung  uneinigen  Stoib,  so 
drängt  sich  dem  Tororteilslosen  Denken  die  Frage  auf:  bei 
wem  denn  die  Entscheidung  sei  darflber,  ob  etwas  eine  Ein- 
heit sei  oder  nicht?  Wir  sind  es  gewohnt  die  Organismen 
der  Erde,  Tiere  und  Pflanzen,  Einheiten  zu  nennen.  Schon 
da,  wo  die  Sprache  ihrer  Sache  am  gewissesten  su  sein 
glaubt,  regt  sich  der  Zweifel,  ob  einerseits  nicht  z.  B.  alle 
Menschen  gleich  wie  Zellen  sind  gegenüber  der  sozialen 
Einheit,  der  Menschheit,  und  ob  anderseits  das  Kind  im 
Mutterleib,  die  Frucht  an  der  Pflanze  selbstindige  SSnheiten 
sind  oder  zu  dem  mütterlichen  Organismus  als  Teile  ge- 
boren. Bis  in  Fragen  des  Rechte  greifen  diese  Bedenken 
hinein.  Noch  viel  ungewisser  darflber  sind  wir,  wann  und 
warum  ein  Stein,  ein  Metallstflck  ein  Ganzes,  eme  Einheit 
genannt  zu  werden  verdiene.  Sicherlich  dann,  wenn  mensch- 


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612 


ynL  Wmmii  tmd  Worte. 


liebes  Interesse  es  abgesondert  bat.  Aber  wann  und  wunm 
in  der  liatur?  Und  sind  die  einzelnen  Planeten  unseres 
Sonnensystems  auch  gewiss  und  natürlicli  1  >  ondere  Ein- 
heiten, besondere  Ganze  zu  nennen?  Vielleicht  ist  dem 
gar  nicbt  so ,  vielleicht  treibt  ein  unbekanntes  Ganze  diese 
imsere  Erde  mit  den  übrigen  Planeten  im  Aetber  um  die 
Sonne  herum  nur  für  unsere  Augen,  fUr  uns  mit  Nerven 
und  Gehirn  ausgestattete  Arten  der  Scbimmelde<^e  der 
Erde,  die  wir  uns  —  um  den  übrigen  Schimmel  essen  so 
können  —  das  Sehen  angewöhnt  haben  und  die  Augen  und 
die  Übrigen  Sinne  nnd  die  wir  uns  dazu  —  um  das  Ess- 
bare besser  unterscheiden  zu  können  —  das  Qed&chtnis  oder 
die  Sprache  angewöhnt  haben  und  die  wir  mit  Hüfe  dieser 
Magd  unserer  Begierden,  der  elenden  menschlichen  Sprache, 
diese  Erde  und  die  andern  Planeten  spielend  Einheiten 
nennen.  Noch  einmal:  wer  lehrt  uns  Einheiten  zusammen- 
fassen? Nur  unsere  Sprache,  das  ist  der  Ausdruck  unseres 
▼om  Interesse  geleiteten  Gedächtnisses,  lässt  uns  das  Chaos 
der  Welt  zusammenfassen,  bestimmen,  ordnen,  in  ganzen 
Einheiten  merken.  So  werden  wir  uns  jetzt  schon  sagen 
und  damit  aber  Spencer  hinaus  gelangen:  dass  die  Ent- 
wickelung  der  Dinge,  die  viel  gerOhmte  ETolution,  freiHch 
auch  als  Int^pration  bezeichnet  werden  könne,  weil  sie  nicht 
ein  ErfSshrungsbegriff  aus  der  Wirldiehkeitswelt  ist,  sondern 
eine  Bequemlichkeit  unseres  Denkens  oder  unserer  Sprache, 
je  nach  dem  Stande  unserer  Beobachtungen  zu  benennen, 
was  wir  nicht  begreifen*  Wohl  hat  Spencer  recht,  aber 
ganz  anders  als  er  es  rersteht:  wir  begreifen  die  Natur 
nicht,  wir  legen  in  sie  die  Entwickelung,  das  Streben  nach 
höheren  Zwecken  erst  hinein,  und  wenn  wir  bescheiden  sein 
wollen,  so  nennen  wir  diese  unsere  letzte  arme  Beligion  das 
ewige  Streben  zum  Ganzen:  die  Integrstion.  Ordnen  wollen 
wir  die  Natur,  um  in  ihr  nicht  unterzugehen;  aber  Ordnung 
ist  nicht  wirklich,  Ordnung  ist  nur  eine  Sehnsucht  der 
menschlichen  Sprache.  AhnungsToU  hat  einmal  Spinoza  den 
Begriff  der  Ordnung  neben  die  morslischen  Begriffe  gestellt, 
die  von  uns  sind,  nicht  von  Natur. 


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Intogrfttioii. 


61S 


Mit  dieser  Auflösung  des  6egri£fs  Integration  scheint 
mir  die  ganze  scholestieche  Definition  Spencers  yemichtet 
7A\  sein.  Aber  er  gebraucM  noch  weiter  Begriffe,  die  auf 
der  eisigen  Höhe  solchen  Denkens  ihren  Sinn  verloren  haben. 
*  Er  lehrt,  dass  die  Evolution  zugleich  eine  Sammlung  des 
Stoffs  und  eine  Zerstreuung  der  Bewegung  sei.  Er  denkt 
dabei  z.  B.  an  die  Entstehung  eines  Planeten,  wo  zugleich 
der  Stoff  sich  2U  einer  Kugel  zusammenballt  und  dabei  z.  B. 
Wärme  erzeugt,  welche  —  Wärme  ist  ja  Bewegung  —  fort- 
wirkend andere  Veränderungen  hervorbringt.  Er  wendet 
dieses  Bild  der  Evolution  dann,  wie  gesagt,  sehr  hübsch 
niif  andere  Konzentrationen  von  Stoff  und  Fortwirkungen 
der  Bewegung  an,  auf  Biologie  und  Soziologie.  Wer  aber 
sagt  uns,  was  Stoff  ist?  Wer,  was  Bewegung?  Es  sind  das 
für  uns  mythologisch  gewordene  Begriffe,  mit  Hilfe  deren 
die  alte  Mechanik  sich  in  der  Wirklichkeitswelt  zurechtfand 
und  sogar  Maschinen  erfand  und  berechnete;  aV)er  gerade 
in  unseren  Tagen  ist  die  Mechanik  selbst  im  Begriff,  die 
alten  Worte  preiszugeben,  weil  immer  nur  eines  durch  das 
andere  erklärt  werden  kann,  weil  weder  ein  Stoff  noch  eine 
Bewegung  an  sich  in  der  Welt  der  Wirklichkeiten  wahr- 
zunehmen ist.  Man  schickt  sich  an,  von  «Energie*  zu 
sprechen  und  Stoff  und  Bewegung  nur  noch  als  Tcrschiedeue 
Erscheinungsformen,  als  Blendwerke  der  Energie  aufzufassen. 
Ich  fürchte,  wir  werden  mit  dem  Worte  Energie  nicht  weiter 
kommen  als  die  alte  Mechanik  mit  dem  fiist  gleichbedeuten- 
den Worte  «Moment*.  Worauf  es  mir  hier  aber  ankommt, 
das  ist  der  Hinweis  darauf,  dass  Spencer  bei  seinem  obersten 
Gesetz  nicht  umhin  kann,  Worte  ohne  Legitimation  zu  ge- 
brauchen, Worte,  die  körperlos  und  haltlos  in  unserem  Ge- 
dächtnis oder  unserem  Sprachschatz  schweben,  gleich  wie 
Gdtter  einer  sterbenden  Religion,  und  die  so  wenig  frei* 
willig  ins  Exil  wandern  wollen  wie  abgesetzte  Götter  und 
abgesetzte  Könige. 

Spencers  Definition  ist  so  leer  und  abstrakt,  dass  ihr 
Wortlaut  uns  erlauben  würde,  sie  nun  für  abgethan  zu  er- 
klären.   Das  aber  wäre  ungerecht,  denn  Spencer  selbst 


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614 


Vm.  WiiNB  und  Wott«. 


denkt  sich  allerlei  bei  seinen  Abstraktionen  und  wir  mllssen 
seinen  Gedankengang  ein  wenig  zurUckyerfolgen.  Er  weiss 
natürlich  so  gut  wie  ich,  dass  der  Begriff  der  «Kraft*  Stoff 
und  Bewegung  mit  umfasst,  und  es  ist  nur  der  heimüdie 
Wunsch,  SU  seiner  Definition  zu  kommen,  was  ihn  irre 
macht.  Wenn  er  auch  nicht  erkannt  hat,  dass  die  Er- 
haltung der  Energie,  was  er  „ Fortbestehen  der  Kraft nennt, 
etwas  Selbstverstänflliches  ist,  noch  weniger  als  eine  Tauto- 
logie, nämlich  nichts  als  die  Weisheit:  .Wir  brauchen  keinen 
Unsinn  zu  denken,"  —  so  stellt  er  doch  das  Fortbestehen 
der  Kraft  sehr  gut  als  unsere  äusserste  und  allgemeinste 
Kenntnis  von  der  Wirklichkeit  hin  und  formt  den  Satz  nocb 
besser  um,  wenn  er  von  dem  Fortbestehen  der  Beziehungen 
zwischen  den  Kräften  spricht.  £r  hält  da  freilich  für  einen 
logischen  Schluss,  was  fjerade  nur  eine  Tautologie  ist;  aber  der 
Ausdruck  ist  vortrefflich.  Nun  aber  vollzieht  sich  in  seinem 
Kopfe  dasjenige,  was  regelmässig  den  Saltomortale  von  der 
Wirklichkeit  sum  Denken,  Ton  unserer  wirklichen  Erkenntnis 
zum  System  ausmacht.  Er  hat  den  allgemeinsten  Ausdruck 
fUr  die  Wirklichkeit  gefunden  und  kann  dem  Wunsche  nicht 
widerstehen,  hinter  der  Welt  den  Gott  zu  suchen,  die  alten 
Mythen  unserer  Sprache  hinter  den  Gesetzen  der  Wirklichkeit. 
£r  sieht  das  Spiel  der  Kräfte  in  der  Natur  und  er  lebt  mit 
seinem  Selbstbewusstsein  in  der  menschlichen  Gesellschaft 
mit  ihren  Rechten  und  Sitten.  Er  hat  wie  jeder  andere 
die  Sehnsucht,  das  Oeheimnis  zu  begreifen,  wie  die  Kräfte 
der  Anziehung  und  Abstossung,  wie  Chemismus  und  Elek- 
tridtät  sich  su  den  moralischen  Gesetsen  der  menschlichen 
Gesellschaft  «entwickelt*  haben.  Sr  sieht  den  Gott  nicht, 
der  in  dem  Begriff  Entwickelung  -versteckt  ist.  Er  hält  den 
Begriff  Entwickelung  ffir  die  Bezeichnung  Ton  etwas  Wirk- 
liebem und  macht  den  Kopfsprung  von  der  Erhaltung  der 
Energie  zur  ETolution.  Man  achte  genau  auf  den  Ueber- 
gang.  Er  hat  sich  belehren  lassen,  dass  das  oberste  Gesetz 
der  Wirklickkeit  das  Fortbestehen  der  Beziehung  zwischen 
den  Kräften  ist.  Dieses  Gesetz  wiD  nur  besagen,  dass  die 
Welt  im  Innersten  nicht  mehr  und  nicht  minder  wird,  wäh- 


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SpndM  md  WiiUiolikiii.  615 

rend  die  Erscheinungsformen  der  Kraft,  Stoff  und  Bewegung 
nftmlich,  sich  da  und  'lorl:  anders  verteilen.  Diese  Anders- 
yerteilungen  von  Stoff  und  Bewegung  sind  das  Blendwerk, 
das  wir  Wirklichkeitswelt  nennen.  Diese  Andersverteilungeu 
sind  wahrscheinlich  nicht  regellos.  Wahrscheinlich  hat 
Darwin  recht,  wenn  er  aufmerksam  durch  ihre  erdrückende 
Falle  geht  und  überall  auf  merkwürdige  Aehnlichkeiten  hin- 
weist. Sie  sind  würdig  gemerkt  su  werden,  nnd  die  Mensch- 
heit hat  es  schon  vor  Darwin  gethan.  Die  ganze  Geschichte  Spraob« 
des  Menschengeistes  ist  die  Summe  des  Gedächtnisses  solcher  ^^iruiob' 
Aehnlichkeiten;  imd  die  ganze  Oeschichte  der  Natur  ist  kelt. 
vielleicht  das  wirkliche  Kprrelat  dazu,  nämlich  die  Summe 
der  Aehnlichkeiten,  die  das  unbewusste  Gedächtnis  gemerkt 
hat,  die  Erblichkeit.  So  dämmert  uns  etwas,  was  uns  der 
Natur  zu  nähern  scheint,  wie  Nebel  mitunter  die  Gegen* 
stände  nähert.  Herbert  Spencer  aber  will  so  wenig  wie 
andere  Denker  vor  ihm  sich  mit  diesem  Nebel  begnügen; 
nichts  weiss  er,  absolut  nichts  anderes  weiss  er,  als  dass 
die  Beziehungen  zwischen  den  Kräften  fortbestehen  und 
das,  was  wir  wahrnehmen,  nur  Andersverteilungen  dieser 
Kräfte,  das  heisst  ihrer  Stoffe  und  Bewegungen  sind.  Sehn- 
süchtig will  er  aber  die  Welt  yerstehen  und  sucht  ein  Ge- 
sets  für  diese  Andersverteilungen.  Während  er  es  aber 
noch  zu  suchen  vorgibt,  hat  es  ihm  der  augenblickliche 
Stand  des  Menschengeistes  schon  diktiert.  Für  dieses  Ge- 
setz,  das  er  erst  sucht,  liefert  ihm  der  zeitgenössische  Sprach- 
schatz als  umfassendsten  Ausdruck  da.s  Wort  Evolution.  Eto* 
lution  ist  nichts  weiter,  als  das  Suchen,  als  die  Frage  nach 
demselben  Gesets,  das  Spencer  sucht.  Das  würde  Spencer 
zugeben,  wenn  ihn  die  Kritik  beim  Nacken  fasste  und  mit 
der  Stirn  auf  das  Wort  stiesse.  Weil  er  aber  diese  Macht 
nicht  fllhlt,  gibt  es  einen  Augenblick,  wo  er  die  Frage  mit 
der  Beantwortung  ▼erwecliselt  und  wo  er  das  fragende  Wort 
ETolution  für  das  gesuchte  Gesetz  der  Andenrerteilun* 
gen  hält. 

Darum  ist  sme  Definition  so  scholastisch  geworden 
und  darum  ist  ihr  ehrlicher  Sinn  etwa  folgender:  wirklich 


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Ü16 


VUL  WÜMn  und  Worte. 


ist  nichts  als  das  Fortbestehen  der  Beziehungen  zwischen 
den  Kräften;  was  wir  wahrnehmen  sind  die  Andersvertei- 
luugen  von  Stoff  und  Bewegung,  dieser  Erscheinungsformen 
der  Kräfte.  Weil  eine  Kraft  aber  auch  das  Produkt  von  Stoif 
und  Bewegung  ist,  so  wirkt  selbstverständlich  jede  Anders- 
verteilung des  Stoffs  uuf  die  Bewegung  uml  u[iiL'"t'kelirt;  wir 
können  auch  sagen,  dass  jede  Vereinheitlichung  von  Stoff 
Differenzierung  der  Bewegung  erzeugt  und  umgekehrt ;  diese 
Tautologie  nennen  wir  aber  das  oberste  Gesetz,  die  Evo- 
lution, weil  wir  doch  den  Wunsch  haben  zu  ünden,  was 
wir  suchen. 

Wer  sucht  der  findet.  Und  wenn  er  nicht  findet,  was 
er  gesucht  hat,  so  beruhigt  er  sich  bei  dein  (  rsten  besten 
Gefundenen.  Wnni  die  Polizei  einen  Verbrecher  lange  ge- 
sucht hat ,  so  greitt  sie  nach  dem  ersten  besten  und  wirft 
%m  das  begangene  Vorbrechen  an  den  Hals.  So  ist  es  in 
der  Geschichte  der  l'iiilosophie  schon  öfter  gegangen.  Klas- 
sisch ist  das  Beispiel  von  Kant,  der  auszog,  das  oberste 
Moralprinzip  zu  linden.  Unverrückbar  stand  es  in  seinem 
Kopfe:  das  gesucht»'  «»berste  Moralprinzip  müsse  so  beschaffen 
sein,  dass  es  allgemein  gültig  wäre;  dann  machte  er  eines 
Tages  den  Saltomortale  und  verwech.selte  die  Aufgalie  mit 
der  Lösung  und  glauljte  sein  Gesetz  gefunden  zu  haben  als 
er  als  obersten  (irrundsatz  aussprach:  dein  Moralprinzip  muss 
allgemein  gültig  sein  können,  dann  ist  es  das  oberste  Moral- 
prinzip. Niemand  wagte  zu  lachen.  Und  so  hat  in  unseren 
Tagen  niemand  gelacht,  als  Herbert  Spencer  auszog,  das 
oberste  Gesetz  der  Andersverteilungen  zu  finden,  und  zu  der 
Tautologie  gelangte,  das  oberste  Gesetz,  das  Evolution  heissen 
soll,  ist  das  Gesetz  der  Ändersverteilungen.  Au(h  Spencer 
ist  ein  armer  sprechender  Mensch,  ist  woitaberglaubis(;h, 
ist  im  Sinne  der  Scholastiker  ein  «Bealist** 

Der  mittelalterliche,  scholastische  Realismus,  den  ich 
zur  Unterscheidung  jedesmal  Wortrealismus  nenne,  lehrt, 
dass  die  UniTersalien  oder  Begriffe  irgend  etwas  Wirkliches 


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Wortrealiflmxis. 


617 


seien,  dass  z.  B.  den  aufwärts  Yenülgemeinerten  Begriffen  wort- 
Schimmel,  Pferd,  VierfÜssler,  Tier,  Organismus,  Ding  in  der 
Wirklichkeitswelt  etwas  entspreche,  was  kein  Individaum 
und  doch  ein  Schimmel,  eia  Pferd  u.  s.  w.  wirklich  und 
wirksam,  dingUch  sei.  Der  moderne  Realismus  lehrt  jedem 
IdeaEsmos  gegenüber,  dass  nur  dasjenige  wirklich  sei,  was 
vnr  mit  unsem  Sinnen  wahmelimen  kOnnen,  dass  alle  andern, 
hoberu  Begriffe  nur  Abstraktionen  seien,  nur  in  unserem 
Seelenleben  vorhanden,  er  lehrt  den  Primat  des  Materiellen. 
Dieser  moderne  Realismus  kommt  also  dem  mittelalterlichen 
Kominalismus  sehr  nahe  und  scheint  darum  dem  scholasti- 
schen Wortrealismus  entgegengesetzt  zu  sdn.  Die  Sprach- 
kritik kann  sieh  in  vielen  Fällen  damit  b^^ügen,  den  alten 
und  den  neuen  Realismus  als  Gegensätze  aufzufassen.  Doch 
ein  schärferes  Zusehen  kann  uns  lehren,  wie  fliessend  und 
q»ielend  so  entgegengesetsfce  Begriffe  ineinander  Übergehen« 
Als  Vorbereitung  zu  dieser  schärferen  Betrachtung 
wollen  wir  einmal  zusehen,  wie  sich  unser  neuer  Realis- 
mus oder  Nominalismua  ungefähr  zu  der  eben  angeführten 
Skala  von  Begriffen  stellt.  Den  Begriff  Ding  wird  er  leicht 
preisgeben  als  eine  fast  inhaltlose  Abstraktion.  Die  weitern 
Begriffe,  Tom  Organismus  herab  bis  zum  Pferd,  wird  er 
doch  nicht  so  ganz  als  flatus  rocis,  als  blosse  Lufterschütte- 
rungen ansehen  wollen,  wird  ihnen  zwar  nicht  gerade  die 
Wirksamkeit  platonischer  Ideen,  aber  doch  formenbildende 
Krftfte  zuschreiben,  das  heisst  nicht  dem  Worte  oder  Be- 
griffe, sondern  einem  hinter  diesem  steckenden  Etwas,  was 
entweder  im  Sinne  Goethes  die  Begehnissigkeit  in  der  Natur 
oder  im  Sinne  Darwins  die  Erblichkeit  in  der  Natur  als 
Folge  hat.  Derselbe  Eompnuniss  wird  für  den  Begriff 
Schimmel  geschlossen,  von  der  Umgangssprache  yon  jeher, 
weil  diese  immer  darwinistiseh  war  und  den  strengen  Unter- 
schied zwischen  Spedea  und  Varietät  nicht  kannte,  neuer- 
dings auch  Ton  den  Darwinisten.  Aber  drOben  das  Ihdi- 
yiduum  Schimmel,  das  Ton  seinem  Herrn  RHana*  gerufen 
wird,  hat  zugleich  einen  Namen  und  eine  Bealitftt.  Unser 
modemer  Realismus  weiss  noch  nicht,  dass  es  immer  noch 


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618 


Yin.  Witten  und  Woite. 


scliül astischer  Wortreal isiiuis  ist,  auch  nur  das  Individuum, 
das  (lo(  h  nur  ein  Strombett  ist  für  in  der  Zeit  und  im  Raum 
abfliessende  Molekularbeweguiifj^en,  ein  Reales  zu  nennen. 
Ganz  vor  kurzem  hat  Virchow,  allerdings  nur  in  Sorge  um 
seine  geliebte  Zcllularpathologie,  selbst  den  Bogrift"  de';  It^- 
dividuum---  nfnninalistisch  kritisiert  und  Leben,  Seele  und 
was  drum  und  dran  hängt  einzig  und  allein  seinen  lieben 
Zellen  zugesproclien ,  die  sit  h  als  die  unter  das  Mikroskoj) 
gebrachten  Leibnizscheu  Monaden  entpuppten.  Der  Nomi- 
nalisnius  Virchows  tritt  also  der  Welt  entgegen  un<l  kriti- 
siert sie  von  Gott  bis  herunter  zur  Zelle;  vor  der  Zelle 
jedoch  macht  er  Halt  und  bekehrt  sich  ihr  gegenüber  zum 
Wortrealisnius. 

Unsere  Erkenntnistheorie  muss  noch  einen  kleinen  Schritt 
weiter  gehen  umi  fragen,  wo  denn  der  Realismus  der  Zellen 
anfange,  die  wir  mit  bewaffneten  oder  unbewaffneten  Sinnen 
wahrnehmen.  Ob  ausser  uns  oder  in  uns.  Sind  die  Zellen 
wirklich  Individuen  und  zwar  Individuen  ausser  uns,  so  hat 
der  Realismus  etwas  Festes,  woran  er  sich  in  der  Physio- 
logie halten  kann,  wie  er  in  den  Molekülen  etwas  Festes 
zu  haben  glaubt,  woran  er  sich  in  der  unorganischen  Welt 
hält.  Doch  in  der  unorganischen  Welt  bereits  zwingt  ihn 
die  Schwierigkeit  der  Naturerklärung,  die  immer  noch  körper- 
lichen Moleküle  in  die  idealen  Kraftzentren  der  Atome  auf- 
zulösen und  so  die  materialistische  Welterklärung  in  einen 
energetischen  Idealismus  hinUberzuleiten.  Dieselben  Kraft- 
mntaren  nimmt  die  Wissenschaft  natürlich  auch  in  der  organi- 
schen Zelle  an,  weil  sie  auch  im  lebenden  Körper  noch 
niemals  andere  Atome  als  die  der  unoi^Hfanisdien  Elemente 
nachgewiesen  hit:  las  Denken  kann  dabei  nicht  stehen 
bleiben,  es  muss  hinter  der  Zellseele  eine  Protoplasmamele, 
hinter  der  Protoplasmaseele  eine  Unznhl  von  Atomseelen 
suchen,  und  weil  zu  den  unorganischen  Kräften  noch  diejenige 
Kraft  kommt,  welche  so  oder  so  die  Erscheinungen  des  Lebens 
▼erunacht,  wird  die  Physiologie  des  modernen  Realismus  zu 
einem  energetischen  Idealisnms  zweiter  Potenz. 

Man  sieht,  die  ganze  Untersuchung  Iftoft  auf  die  Frag» 


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Indindnam. 


619 


hinaus:  Was  ist  ein  Individuum ?  Der  raodeine  Realismus 
erfasst  alle  Art-  und  Gattungsbegriffe  als  blosse  Worte, 
schiebt  die  Frage  nach  der  Entstehung  dieser  Arten  und 
Gattungen  zurUck  und  erklärt  mit  dem  scholastischen  Nomi- 
nalismus das  Individuum  allein  fUr  wirklich.  Unser  naives 
Bewusstsein,  unser  Stolz  sträubt  sich  mit  Lebenskraft  ja 
mit  Todesangst  dagegen,  anzuerkennen,  dass  selbst  der  Be- 
griff der  Individualität  sich  nicht  länger  wie  bisher  fest- 
halten lasse.  Die  Zoologie  gibt  schwindelerregende  Bei- 
spiele dafür,  dass  die  Individualität  im  Tierreich  anders  sein 
könne  als  diejenige  Individualität,  die  wir  Menschen  einzig 
und  allein  in  unserem  Selbstbewusstsein  vorfinden.  Wenn 
der  Seestem  zerschnitten  wird  und  so  durch  die  Willkür 
des  Zerschneiders  zwei  Seesteme  entstehen,  wenn  die  Si- 
phonophore  viele  Individuen  zu  einem  Staate  vereinigt,  der 
doch  wieder  eine  Art  Individualität  hat,  wenn  im  Generations- 
wechsel so  zahlreicher  Tiere  das  eine  Individuum  ganz  oder 
teilwdse  aufgebraucht  wird  um  ein  anderes  Individuum  zu 
bilden,  wenn  der  Bandwurm  oder  der  Schmetterling  durch 
Formen  hindurchgeht,  die  sich  TOneinander  stärker  unter- 
scheiden als  ein  Mensch  und  eine  Schlange,  dann  begreift 
der  Beobachter,  dass  der  mensdiliche  BeffaS  Individuum 
nicht  auf  jedes  Tier  angewendet  werden  kann.  Und  hat 
der  Bienenstaat,  der  Ameisenstaat  nicht,  trotz  der  körper- 
lichen Trennung  der  einzelnen  Tierchen,  manche  Aehnlich- 
keit  mit  der  Siphonophore?  Und  der  Menschenstaat?  Wird 
nicht  durch  die  Thatsache  der  Vererbung  das  Individuum 
fortgesetzt,  also  der  Begriff  der  Individualität  doch  wieder 
umgeformt? 

Es  ist  also  nicht  ganz  leicht  mit  dem  Denken  aufzu- 
hören, wenn  man  die  Individuen  als  einzige  Realitäten  auf- 
gefasst  hat.  Aufwärts  und  abwärts  flieset  die  Grenze  der 
Individualität.  Real  ist  uns  die  Zelle  nur,  weil  unsere  Sinne, 
auch  die  bewaffneten,  sie  nicht  teilen  können;  die  Zelle  ist 
das  hypothetische  Atom  der  Physiologie. 

Sehen  wir  nun  von  der  objektiven  Individualität  ab 
und  fragen  wir  nach  dem  subjektiven  QefUhl,  welches  jeder 


620 


Viii.  WiiMi  und  Worte. 


Mensch  nur  für  sich  selbst  eniithiiili  t:  icli  bin  ein  Indi- 
viduum. Wer  dieser  Empfindung  nicht  glauben  wollte,  wer 
seinen  eigenen  Körper  nicht  als  eine  Individualität  be- 
trachten, sondejii  ihn  auch  praktisch  als  blosse  Form  auf- 
fassen wollte,  als  ein  fremdes  Strombett  für  unaufhörlich 
wechselnde  Moleküle  und  Molekularbewegungen,  der  würde 
verrückt  scheinen  und  es  wahrscheinlich  auch  sein.  Wenn 
ich  esse,  liebe,  denke,  kämpfe,  so  handle  ich  als  Individuum, 
kümmere  mich  den  Teufel  um  meine  Erkenntnistheorie  und 
halte  den  Schein  der  Individualität  für  Wirklichkeit.  Dafür 
keiase  ich  auch  ein  verständiger  Mensch.  Dabei  durch- 
schaue ich  aber  heimlich  diesen  Schein  und  weiss,  dass  das 
Selbstbewusstsein  oder  der  Schein  der  Individualität  mit 
meinem  Gedächtnis  irgendwie  zusammenhängt,  dass  ich 
mich  ab  Individuum  fühle,  weil  mein  Gedächtnis  die  Em- 
pfindungen aufeinander  folgender  Zeitteilchen  verbindet, 
weil  mein  Gedächtnis  das  Strombett  von  jedem  Punkte  bis 
in  die  Nähe  der  Quelle  zurückverfolgt  (vergl.  1.  606). 

Wenn  das  alles  wahr  ist,  dann  ist  der  moderne  B^nlis- 
mus  doch  nur  eine  vorläufige,  ihrer  vorläufigen  Kolieit 
sich  ganz  gut  bewusste  Weltanschauunrr.  Ueal  sind  nmr 
IndiTiduen;  Individuen  aber  sind  ausserhalb  unserer  Spradid 
oder  unseres  Denkens  oder  unseres  Gedächtnisses  unauf- 
findbar, wir  kennen  also  kein  Reales.  Selbst  die  einzelnen 
Menschen  sind  objektiv  nur  runde,  räumlich  von  der  übrigen 
Welt  abgeschlossene  Organismen,  die  Zeit  ihres  Lebens  einen 
bestimmten  Namen  tracron  — ;  subjektiv:  Individualgedächt- 
nisse,  die  übrigens  auf  nichts  sicherer  und  lieber  reagieren 
als  auf  den  Namen,  den  sie  objektiv  bei  den  Mitmenschen 
besitzen.  £in  Sterbender  reagiert  noch  im  Koma  auf  Nen- 
nung seines  Namens. 
Impfln«  Und  nun  sehen  wir  einmal  zu,  ob  es  mit  den  Wahr- 
^la^  nehmungen,  die  all  unserer  Welterkenntnis,  all  unseren 
Ti4a«n  Vorstellungen  auch  von  Menschenindividuen  doch  zu  Grunde 
liegen,  anders  bestellt  ist.  Sofort  fällt  es  uns  ein,  dass 
unsere  Sinnesorgane  uns  wieder  keinen  Aofschluss  geben 
Uber  irgend  etwas  Reales.   Wir  müssen  versuchen,  diese 


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fiditeiuitiuiCheoretiMlier  NominaliBmiis. 


621 


Yergleiclmiig  swiscben  HenschemndiTiduen  nnd  den  ein- 
fadisten  Sinneswalinielimimgen  festanihaltea,  so  paradox 
und  schwierig  sie  ist  Ein  Ton  erklingt,  eine  Farbe  lenchtet 
Unmöglich  fllr  unsere  Sinnesorgane,  das  Individuum  ds  oder 
das  Individunm  rot  (beide  Empfindungen  sind  nur  unend" 
lieh  Ueine  Bestandteile  unseres  Ichbewusstseins)  anders  zu 
fühlen  als  durch  die  Th&tigkeit  des  Gedächtnisses,  welches 
die  und  die  Schwingungen  als  ähnlich  oder  regelmissig 
Tergleicht,  sie  durch  sein  (des  Gedächtnisses)  Strombett 
fliessen  lässt,  von  irgend  einem  Punkte  dieses  Strombett 
flberblickt  und  es  durch  eine  Erinnerung  ausaeidmet»  Wir 
besässen  unser  Ichbewusstsein  nicht,  wenn  unser  Gedächtnis 
oder  unsere  Sprache  nicht  Milliarden  Ton  solchen  Em- 
pfindungsindividuen  To^gletchend  klassifisiert  hätte;  aber 
auch  diese  letzten  Empfindungsindividuen  geben  uns  nicht 
die  Wahrnehmungen  von  etwas  Realem,  sondern  selbst 
schon  blossen  Schein.  Unser  modemer  Realismus  wird  also 
notwendig  Aber  sich  selbst  hinausgeführt  zu  dem  Einge* 
slAndnis,  dass  er  keine  wirkliche  Realitilt  erkenne,  dass  er  zu 
einem  neuen  Idealtsmus  führe,  sagen  wir  nur  zum  energe- 
tischen Idealismus.  Unser  modemer,  ein  Jahrhundert  lang 
so  stolzer  Realismus  muss  also  am  letzten  Ende  eingestehen, 
dass  er,  so  weit  es  auch  unsre  naturwissenschaftlichen  For- 
schungen seit  dem  Mittelalter  gebracht  haben,  dennoch  bei 
den  beiden  Endpunkten,  beim  Ichbewusstsein  des  Menschen 
wie  bei  den  niedersten  Sinnesempfindungen,  ohne  Wortaber- 
glauben nicht  behaupten  kann,  etwas  WirUiches  zu  er- 
kennen. Der  moderne  Realismus  hat  die  Nichtrealitöt  der 
Art-  und  Gattungsbegriffe  eingesehen,  ist  aber  —  solange 
er  nicht  Sprachkritik  geworden  ist  —  in  der  Auffassung 
des  letzten  Wirklichen  Wortrealismus  geblieben. 

Der  scholastische  Nominalismus  stellte  sich  dem  scho- 
lastischen Wortrealismus  tapfer  gegenüber,  aber  er  konnte 
das  letzte  Wort  nicht  finden,  weü  er  an  die  Reslität  der  aoW 
Individuen  glaubte  und  die  ZufäUigkeit  der  ^e  nicht  ^^^IT 
ahnte.   Was  ich  lehre,  das  wird  vielleicht  ein  Nominalis- 
mus redivivus  genannt  werden.   Doch  er  hat  nach  seiner 


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622 


VIII.  WuMB  QDd  Worte. 


Wiederenreckung  die  Schule  von  Locke  und  ITumc  und  Kant 
nicht  Tergessen  und  ist,  befreit  von  irdischen  kirchUchen 
Sorgen,  ein  reiner,  erkenntmstheoretischer  NominaUflmns. 

Hätte  dieser  Norainalismus  schon  gesiegt,  so  wäre  es 
nicht  nielir  möglich,  dass  kluge  Menschen  heute  noch  zwi- 
schen Theorie  und  Praxis,  zwischen  Denken  und  Leben 
unterschieden.  Das  mag  eine  lustige  Theorie  sein,  die  je- 
mals der  Pk-aads  widerspricht.  Es  ist  als  woUte  man  Ge- 
setze aufstellen,  die  eingeetandenermassen  der  Erfahrung 
widerspriUshen.  Und  doch  waren  und  smd  die  grOssten 
M&nner  der  gWtesten  Praxis  dem  Wortaberglauben  unter- 
worfen. Ich  denke  dabei  an  die  Staatsmftnner,  deren  Stärke 
doch  natnrgemäsB  darin  liegen  muss,  dass  sie  die  Wirklich- 
keit erkennen,  dass  sie  nicht  Ideologen  oder  W4»trea]isten 
sind.  Man  denke  aber  einmal  an  die  beiden  Riesen  unter 
den  handelnden  Personen  des  19.  Jahrhunderts,  an  Napoleon 
und  Bismarck,  die  beide  mit  Recht  als  Besieger  der  Ideo- 
logie gelten.  Das  allmählich  wachsende  Lebensziel  beider 
Männer  könnte  man  dahin  zusammenfassen,  dass  sie  beide 
den  Namen  Cäsar  oder  Kaiser  wieder  zu  einer  Macht  machen 
woUten,  Napoleon  mehr  für  sich  selbst,  Bismarek  mehr  for 
seinen  König  und  sein  Land.  Sehen  wir  dabei  ab  von  all 
dem  Unheil,  welches  der  Wortaberglaube  an  die  Staats« 
formen  für  Julius  Cäsar  selbst,  der  Wortaberglaube  an  den 
Titel  Cäsar  fUr  die  Kaiser  des  deutschen  Mittelalters  zur 
Folge  hatte.  Napoleon  machte  das  Wort  mit  unerhörter 
Kraft  zu  einer  Realität,  ging  aber  am  Ende  daran  zu  Gründe, 
dass  er  wortabergläubisch  an  einem  andern  Begriffe  hing, 
an  dem  geographischen  Begriff  »Europa*,  dass  er  sich  nicht 
Cäsar  fOhlte,  solange  jemand  in  „Europa*  ihm  nicht  ge- 
horchte. Man  kann  in  Napoleons  Briefen  Belege  daf^ 
finden,  wie  der  Zufallsbegriff  „Europa*  seine  Entschlösse 
lenkte,  ihn  in  den  Feldzug  gegen  Russland  trieb.  Selbet- 
TerständHch  war  Europa  daneben  auch  eine  Realität  durch 
die  höfischen  und  ökonomischen  Beziehungen  zwischen  Russ- 
land und  den  Westmächten;  aber  darüber  hinaus  wurde 
Napoleon  durch  den  Begriff  beeinfiusst.    Und  der  noch 


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ExkenntnialheofetiMher  NomiaalunniM. 


628 


grössere  Nominal  ist  Bismarck,  der  seine  Erfolge  sein  ganzes 
Leben  lang  dem  Wirklichkeitssinne  verdankte,  mit  welchem 
er  die  wirklichen  Knochen  der  deutschen  Soldaten,  den 
wirUichen  Charakter  seines  Königs,  die  wirkliche  Hand- 
lungsweise seiner  innern  und  äussern  Gegner  in  Rechnimg 
zogf  erfuhr  seinen  einzigen  Misserfolg  dadurch  und  fiel  viel- 
leicht  indirekt  darflber,  dass  er  einen  einzigen  seiner  Qegner, 
den  Lenker  der  römischen  Kirche,  nicht  als  einen  Menschen 
Ton  Fleisch  und  Blut,  sondern  als  einen  Begriff  bekftmpft 
hatte. 

Wibre  einmal  der  eEkenntnistheoretische  NominaUsmus 
und  mit  ihm  die  Sprachkritik  in  die  geistige  Gewohnheit 
des  Volkes  oder  wenigstens  der  führenden  Männer  Ober- 
gegangen, dann  würden  die  letzten  Beste  von  Ideologie  aus 
dem  Kalkül  der  Staatsmänner  Terschwinden,  dann  würde  ein 
Genie  wie  Bismarck  nicht  mehr  dem  Irrtum  yerfallen  können, 
er  handelte,  wenn  er  mit  Kanonen  g^^n  den  Namen  Bom 
oder  gegen  das  Ahstraktum  Papsttum  schiesst.  Solange 
die  Sprachkritik  nicht  das  Denken  geklärt  hat,  wird  man 
immer  wieder  einmal  glauhen,  es  sei  etwas,  wenn  man 
einen  Gegner  in  ef&gie  aufhängt  anstatt  ihn  körperlich  beim 
Kragen  zu  kriegen.  Man  weiss  es  heute  noch  nicht,  dass 
solche  wortrealistisehe  üeberbleihsel  in  den  Köpfen  der  ge- 
waltigsten Männer  an  den  Bildzauher  der  Araber  erinnern, 
die  ein  Opfer  tödlich  zu  Torwunden  versprechen  oder  glauben, 
wenn  de  auf  seinem  Bflde  das  Herz  mit  einer  Nadel  durch- 
stodien  haben.  So  viel  Uber  den  praktischen  Nutzen  des 
erkenntnistheoretiscfaen  Nominalismus  oder  einer  Kritik  der 
Sprache. 

Wie  gefährlich  der  Streit  um  Worte  fOr  die  Praxis 
des  Lebens  sei,  das  haben  immer  am  besten  die  Engländer 
eingesehen,  deren  freiere  Philosophen,  welche  niemals  Pro- 
fessoren, oft  Staatsmänner  waren,  das  Beste  zur  Bekämpfung 
des  WortreaUsmus  beigetragen  haben.  Schon  Johannes  von 
Salisburj  (im  12.  Jahrhundert),  ein  Schüler  Abailards,  spottet 
der  dialektischen  Spitzfindigkeiten.  Man  f&hrt  ihn  gewöhn- 
lich als  einen  Gegner  der  Nominalisten  auf.   Er  machte 


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624 


Vm.  WImmi  und  Worte. 


sich  aber  eigentlich  über  beide  Parteien  lustig.  Als  er  nach 
einem  thatigen  Leben  nach  Frankreich  zurückkam  und  dort 
die  alten  Kommilitonen  immer  noch  auf  demselben  Flecke 
fand,  schrieb  er:  „Die  Welt  ist  gealtert  in  der  Bearbeitung 
der  Frage  nach  den  Gattungs-  und  Artbegriffen;  an  diese 
Frage  ist  mehr  Zeit  verwandt  worden  als  das  Haus  Cäsar 
an  den  Gewinn  der  Weltherrschaft  setzte,  mehr  Geld  ver- 
schwendet als  Krösus  besnss;  sie  fesselte  yiele  Leute  so 
ausschliesslich  ihr  ganzes  Leben  lang,  dass  sie  weder  das 
eine  noch  das  andere  fanden." 

Es  ist  ein  hübscher  Zufall  der  Sprache,  dass  zur  Zeit 
der  Renaissance  die  Wortrealisten  die  Antiken,  die  Nonuna- 
listen  die  «Modernen''  hiessen.  („Moderni"  stammt  gewiss 
von  modo*,  spätlateinisch  so  viel  wie  ^jetzt,  heute*,»  und 
heisst  also  wahrhaftig  ,die  heutigen In  veränderter  Wort- 
bedeutung sind  heute  alle  modernen  Menschen  Nominalisten, 
ohne  es  zu  ahnen.  Wieder  wie  zu  den  Zeiten  Occams  oder 
noch  genauer  wie  zu  den  Zeiten  Abailards  sucht  sich  die 
denkende  Menschheit  TOn  dem  Ballast  der  Abstraktionen 
zu  befreien;  insbesondere  die  abstrakten  Begriffe  aus  der 
Aesthetik  und  der  Ethik,  also  alle  bisher  g^laubten  Ge> 
setze  der  Kunst  und  des  Staatslebens  werden  kritisierend 
zersetzt  und  die  Umwertung  aller  Werte  i^f  ^lurch  Nietzsche 
ein  beliebtes  Schlagwort  geworden.  An  der  Bezeichnung 
ffWert*^  erkennt  man,  dass  d«:  Ansturm  in  erster  Linie  der 
Gruppe  von  Vorstellungen  gilt,  die  man  zuletzt  unter  dem 
Namen  der  praktischen  Philosophie  zusammengefasst  hat. 
Unter  dem  Jammergesdirei  der  Kirche  und  der  alten  Staats- 
theoretiker hat  die  nominalistische  Auflösung  all  dieser 
Abstraktionen  und  der  in  ihnen  verstedcten  Woturteile  be- 
gonnen. Aber  immer  wieder  scheute  man  zurttck  vor  der 
viel  wiehtigmren  AnflABung  der  theoretischen  Begriffe,  vor 
einer  radikolen  Kritik  der  menschlichen  Erkenntnis  und  £r- 
kenntnismöglichkeit.  Ja  die  offizielle  Wissenschaft  protzt 
hochmütiger  als  je  auf  den  Wert  derjenigen  Uni  Versalien 
oder  Allgemeinbegriffe,  die  in  unserem  Zeitalter  den  Namen 
der  Naturgesetze  angenommen  haben.   Wie  der  alte  Kon* 


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ErkemitiliRtheoreliaolMr  NominaltaimM. 


625 


zeptualismus  di6  psychologische  Entstehung  der  Begriffe  in 
der  Menschenseele  zugab,  aber  in  den  Dingen  selbst  den* 
aoch  etwas  Reales  suchte,  das  geiiAU  den  Begriffen  enir 
'Sprechen  sollte,  so  sind  heute  unsere  besten  Forscher  —  he- 
wusst  oder  unbewusst  —  einig  über  die  rein  subjektive 
Entstehung  und  Bedeutung  der  Menschensprache ,  aber  die 
^Gesetze,  welche  sie  in  dieser  Menschensprache  geformt 
haben,  halten  sie  trotz  alledem  für  etwas  in  der  Wirklich- 
jEeit  Vorhandenes,  sie  halten  die  Naturgesetze  für  Befehle, 
welche  die  Natur  sich  selber  gibt,  wenn  schon  kein  Gott 
me  gegeben  hat  Und  unendlich  schwer  ist  es,  die  An- 
■schauung  festrahalten  oder  gar  mitiutefleD,  dass  diese  Natur* 
gesetze  ebenfalls  nur  Abstraktionen  des  Menschengehims 
^d  und  das,  woTon  diese  Gesetze  vielleicht  ein  Spiegel- 
bild, vielleicht  verworrene  Erinnerungen,  vielleicht  Eari* 
Naturen  sind,  auf  keinen  Fall  etwsa  Wirkliches ^  sondern 
nur  Benehungen  sind,  fttr  welche  die  Menschensprache  Worte 
flicht  besitsL  Wir  haben  ein  zusammenfassendes  Wort  fOr 
-eine  Gruppe  von  Erscheinungen,  welche  wir  auf  den  Magne- 
tismus zurQckfllhien.  Wir  können  uns  der  Vorstellung  nicht 
verschliessen,  gewiss  nicht,  dass  die  Beziehung  der  Aehn- 
lichkeit  zwischen  diesen  Erscheinungen  auf  irgend  etwas  in 
der  Natur  zurückgehe;  aber  es  ist  menschlicher  Hochmut 
zu  glauben,  dass  es  in  der  Natur  etwas  geben  mUsse,  was 
insbesondere  unserm  Begriff  Magnetismus  entspreche.  So 
hatte  man  bis  vor  hundert  Jahren  in  der  Chemie  der  Ver- 
lirennung  den  Begriff  Phlogiston  und  glaubte  so  lange,  dass 
diesem  Begriff  etwas  entspreche.  Nicht  viel  anders  steht 
<es  um  den  Hauptbegriff  des  mittelalterlichen  Streites,  um 
den  Aribegriff.  Durch  Jahrtausende  musste  man  hinter 
ihm  etwas  Wirkliches  sehen  und  es  war  nur  ein  Gradunter- 
achied,  ob  die  krassen  Wortrealisten  von  Piaton  bis  auf 
Schopenhauer  in  den  Arten  etwas  Wirkliches  sahen  oder 
ihre  Gegner  sich  mit  Worten  abmühten,  es  irgendwo  in  die 
Individuen  zu  verstecken.  Als  Darwin  uns  lehrte,  dass 
Arten  entstehen  k(hinen,  da  musste  der  starre  Artbegriff 
Tergehen.  Aber  nur  scheinbar  wurde  der  Standpunkt  des 

II*utlitt«r,  Biitttg«  m  ftiii«r  Eiililt  d«r  Sftteh«.  m.  40 


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626 


Vm.  WIm  vaä  Worte. 


Mittelalters  dadurch  überwunden;  unsere  Darwiniston  werdeik 
sich  schwerlich  darüber  belehren  lassen,  dass  ihre  Oosotae- 
der  Vererbung  und  Anpassung  wieder  nur  Worte  sind,  hinter 
denen  wir  Zeitgenossen  nur  so  lange  etwas  WiiUiches 
suchen  können,  als  wir  vorübergehend  unter  dem  Banne- 
dieser  Worte  stehen. 

Der  reine  nnd  konsequente  Nominalismus,  der  niemak 
Ton  Nominalisten  ao^gesproehen  wurde,  der  ihnen  wahr^ 
scheinlich  nur  von  boshaften  Gegnern  in  den  Mund  gelegt 
worden  ist,  die  Lehre,  dass  sftmtliche  Begrifie  oder  Worte- 
des  menschlichen  Denkens  nur  Luftausstossungen  der  Men* 
schenstimme  seien,  der  konsequente  Nominalismns,  nach 
welchem  die  Erkenntnis  der  Wirklichkeit  dem  Henschen-^ 
gehim  ebenso  versagt  ist  wie  dem  Chemismus  einer  Stein-^ 
Oberfläche,  dieser  reine  Nominalismus,  der  trotz  aller  Natur- 
wissenschaften an  der  Erkenntnis  des  Falls  oder  der  Farbo 
oder  der  Elektridttt  ebenso  ruhig  verzweifelt  wie  an  der 
Erkenntnis  des  Bewusstseins»  dieser  erkenntnistheoretischo 
Nominalismus  ist  keine  beweisbare  Weltanschauung.  Er 
wlre  kein  Nominaltsmus,  wenn  er  sieh  selbst  fttar  mehr  aus- 
geben wollte  als  flElr  ein  GefEdil,  für  die  Stimmung  des 
menschlichen  Individuums  gegenüber  der  Welt.  Und  sogar 
ist  uns  ein  ZuMidedenken  dieser  Lehre,  ja  nur  ein  suliieden- 
stellendes  Sich-Tersenken  in  diese  Stimmung  versagt,  weil 
alles  Denken  in  den  Worten  der  Sprache  stattfindet  und 
das  Denken  sich  selbst  auflöst,  wenn  uns  die  Nebelhaftig- 
keit  der  Worte  klar  geworden  ist.  Ein  Sich-Tersenken  in 
die  blosse  Stimmung  ist  wohl  eine  Weile  mOgHch;  dann 
aber  sucht  der  Grübler  immer  wieder  wie  ein  Lyriker  dock 
die  Stimmung  in  einem  armen  Worte  festsnhalten  und  musa 
ins  Leere  greifen,  wenn  er  nicht  mehr  an  das  Wort  glaubt» 
Der  reine  Nominalismus  macht  ein  Ende  mit  dem  Denken 
und  mit  dem  Dichten  und  fühlt  darüber  hinaus,  mit  einem 
neuen  Schauder  der  Menschheit,  dass  Farbe  oder  Ton,  di» 
Ueberbleibsel  seiner  Weltbeirachtung,  ein  Spielzeug  für 
Kinder  sind,  das  die  Zu£ülssinne  dem  Menschen  in  die 
Wiege  gelegt  haben.  Mit  Worten  lässt  sich  wirklich  nur 


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8kep«»  und  Ujatik. 


627 


streiten,  nicht  schaffen;  nur  alter  Glaube  bekämpfen,  nicht 
Deuer  Glaube  beweisen.  , Meinungen  allgemeingültig  zu 
widerlegen  ist  möglich;  Meinungen  allgemeingültig  zu  be- 
gründen ist  unmöglicli''  (S.  Philipp,  Vier  skeptische  Thesen). 

Dieser  äusserste  Skeptizismus,  der  doch  wohl  die  eine  skep^u 
Seite  meiner  ganzen  Lehre  ist,  lässt  mich  wieder  die  leise 
Furcht  empfinden,  nicht  ohne  Lächeln  empfinden,  es  könnten  • 
die  aufmerksamen  Verfechter  des  kirchlichen  Dogmatismus 
auch  aus  der  Sprachkritik  Wortwaffen  schmieden,  so  wie 
sie  noch  immer  aus  jeder  skeptischen  Lehre  Gründe  gegen 
die  aufklärende  Wissenschaft  geschöpft  haben. 

Ich  lasse  den  ethischen  Skeptizismus  beiseite.  Den  hat 
der  idte  Huet  (De  la  faiblesse  de  l'esprit  humain  S.  242)  mit 
einem  prächtigen  Worte  abgethan;  ^Autre  chose  est  de 
TiTre,  autre  chose  de  phüosopher.  Lorsqu'il  s'i^t  de  con- 
duire  sa  vie  .  .  nou8  cesBons  d'^ire  philosophes  .  .  .  Nous 
devenons  idiots,  simples,  credoles,  nous  appeUons  les  choses 
par  leurs  noms." 

Aber  die  erkenntnistheoretischen  Skeptiker  «nd  im 
Kampfe  mit  dem  philosophischen  Dogmatismus  immer  wieder 
negative  Dogmatiker  geworden,  während  sie  Kritiker  bleiben 
wollten.  Nur  die  ganz  grossen  Skeptiker  waren  sngleich 
Mystiker.  Gegen  die  negativen  Dogmatiker  hatten  geist^ 
reiche  Verfechter  des  alten  Glaubens  leichtes  Spiel,  weil  ein 
lieb  gewordener  Kinderglaube  schöner  scheint  als  ein  unfer- 
tiger neuer  Glaube,  der  ebenso  tyrannisch  auftritt.  Ich  habe 
mich  bemüht,  in  meinen  Darlegungen  auch  die  versteckteste 
Neigung  zur  Mystik  jedesmal  zu  unterdrücken,  so  sehr  ich 
auch  für  heilige  Sonntagsstunden  die  grossen  Mystiker  lieben 
mag,  die  stammelnd  beredten  «Stummen  des  Himmels".  Hier 
aber,  wo  ich  notgedrungen  von  dem  Verhältnisse  zwischen 
Sprachkritik  und  dem  Begriffe  Religion  reden  muss,  möchte 
ich  einige  Sitze  des  edlen  Meisters  £ckart  voraufschicken. 
«Biner  unserer  ältesten  Meister,  der  die  Wahrheit  schon 
lange  und  lange  vor  Gottes  Geburt  gefunden  hat,  den  dünkte 


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628 


Vni.  Wissen  und  Worte. 


es,  dass  alles,  was  er  von  den  Dingen  sprechen  könnte,  etwas 
Fremdes  und  Unwahres  in  sich  trfl^e;  rlarum  wollte  er 
schweigen.  Er  wollte  nicht  sagen:  (rebt  mir  Brot,  oder 
gebt  mir  zu  trinken.  Aus  dem  Grunde  wollte  er  nicht  von 
den  Dingen  sprechen,  weil  er  von  ihnen  nicht  so  rein  sjn  echen 
könnte,  wie  sie  aus  der  ersten  Ursache  entsprungen  wären; 
darum  wollte  er  lieber  schweigeTi  und  seine  Notdurft  zeigte 
er  mit  Zeichen  der  Finger.  Du  nun  er  nicht  einmal  von 
den  Dingen  reden  konnte,  so  schickt  es  sich  für  uns  noch 
mehr,  dass  wir  iillzunial  .schweigen  müssen  von  dem,  der  da 
ein  Urspning  aller  Dinge  ist.*"  Und  wieder;  „Das  Schönste 
was  der  Mensch  von  Gott  sprechen  kann,  das  ist,  dass  er 
vor  Weisheitsfülle  schweigen  kann."  Und  wieder:  „Die  Seele 
ist  eine  Kreatur,  die  alle  genaimten  Dinge  empfangen  kann; 
und  ungenannte  Dinge  kann  sie  nur  empfangen,  wenn  sie 
so  tief  iü  Gott  empfaugeu  wird,  dass  sie  selbst  namenlos 
wird." 

ich  meine  es  kaum  viel  anders;  nur  die  Sprache  ist 
etwas  verschieden,  weil  sechs  Jahrhundei-te  duzwischen  liegen. 
R  Ugion         Die  abstrakte  Religion  (ohne  Kirche  und  ohne  Dog- 
SpnMlie  leeres  Wort;  das  entsprechende  Wesen  gibt 

es  nicht  in  der  Welt  der  Wirklichkeit.  So  wenig  es  ..den* 
Menschen  gibt  über  oder  neben  der  Milliarde  wirklicher 
Menschen,  so  wenig  gibt  es  „die"  Religion  neben  oder  über 
den  Religionen.  Und  auch  die  Religionen  gibt  es  nicht, 
sondern  doch  wohl  nur  Menschengruppen  mit  bestimmten 
ä'peu-pr^s  gleichen  Glaubensvorstellungen. 

Die  Religion  wird  also  wohl,  da  sie  niehts  ist  als 
eine  gemeinsame  Geistesrichtung  von  Menschengruppen,  ein- 
zig und  allein  auf  Worten  beruhen;  und  es  ist  zu  erwägen, 
ob  die  staatbildeoden  Tiere,  die  keine  so  aasgebildete  Sprache 
haben  wie  wir,  nicht  eben  darum  so  kooseiratiY  sind,  weil 
sie  kaum  haben,  was  wir  Religion  nennen. 

Ist  nun  die  Religion  ein  Glaube  an  Uberheferte  Worte, 
so  scheint  es  mir  gewiss,  dass  einzig  und  allein  eine  Kritik 
der  Sprache,  also  eine  Untei*snchung  der  Worte,  den  Be- 
griff der  Religion  ernstlich  und  fSff  immer  aus  der  wisens- 


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Rdigion  und  Spradie. 


629 


scliaftlichen  Weltanschauung  zu  entfernen  vermag.  Denn 
alle  Yeniichtung  und  Verweirfnng  der  Eixdie  mnnte  bisher 
den  angeblich  überkirchUchen  Religionebegriff  bestehen 
lassen;  und  alle  nm  historische  Kritik  ernst  Religion  kehrt 
schliesslich  an  irgend  einem  mystischen  Wort,  einer  Art 
Ueberreligion  zurttck,  bei  welcher  sich  dann  das  Gemflt  be- 
ruhigt Gans  abgesehen  Yon  der  geistigen  Knechtschaft, 
mit  welcher  Leute  wie  Hegel  und  selbst  Kant  sich  mit  der 
kirchlichen  Religion  abgefimden  haben. 

Wie  es  eine  theologische  Richtung  gibt,  welche  den  ^hmu. 
historischen  Obristos  aufgibt  und  dennoch  den  Begriff  oder 
das  Wort  .Chiistentum*  festhSlti  so  ist  überhaupt  dem  Wort 
rein  historisch  nicht  beizukommen.  Eine  Spniehkritik,  die 
nur  historisch-philologisch  wftre,  könnte  eben  den  ganzen 
Fetischismus  der  Sprache  bestehen  lassen.  0ie  Philosophie 
kann  ohne  SprachkritiV,  ohne  diese  letzte,  sich  selbst  zer- 
störende That  des  Denkens,  wohl  bis  zum  Atheismus  ge- 
langen; vom  Religionsbegriff  sieh  befreien  kann  sie  nichti 
wie  die  beiden  tiefiunnigen  Atheisten  Spinoza  und  Schopen- 
hauer lehren. 

Spinoza  nämlich  war  gar  nicht  gotÜos;  wie  das  ja  Ton 
selbst  klar  ist,  da  er  doch  das  Wort  besass  und  mdir  als 
das  Wort  an  seinem  Deus  ohnehin  nicht  zu  haben  schien. 
Wie  immer  man  sich  zu  der  Frage  steUei  ob  nftmlich  Spi- 
noza seinen  Pantheismus  nur  als  Coulisse  Ar  Atheismus 
benutzt  oder  ehrlich  an  seinen  Deus  sive  Katura  geglaubt 
habe  —  immer  muss  man  erkennen,  dass  er  ohne  Mytho- 
logie nicht  auskam.  Auch  wenn  er  den  Deus  nur  als 
Maske  gebraucht  haben  sollte,  schrieb  er  doch  seine  Natura 
mit  grossem  N  und  madite  sie  so  zu  einem  mythologischen 
Wesen,  wie  z.  B.  amor  noch  etwas  Wirkliches  bezeichnet, 
Amor  aber  den  «Gott*  der  Liebe.  Und  so  unfrei  steht 
Spinoza  diesem  Worte  gegenüber,  dass  er  in  der  Aus- 
malung des  weisen  Seelenfriedens,  der  Cbttesliebe,  ganz 
und  gar  nicht  hinter  Augustinus  zurQcksteht,  der  die  Welt 
verachtet  und  nur  ein  Leben  in  und  für  Gott  lebenswert 
fand.  Wenn  wir  nun  bedenken,  dass  wir  heute  nicht  mehr 


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680 


VIIL  WiMeii  und  Worte. 


das  Altertum,  sondern  das  Hittelalter  sam  lebendigen  Femde 
haben  (das  Altertum  ist  tot),  dass  die  uns  feindliche  Welt- 
anschauung nicht  die  kindlich-weltUche  des  AiistoteLes, 
sondern  die  gottselige  des  h.  Augostinns  ist,  so  werden 
wir  bei  aller  Ehrfurcht  TorSpinosa  bekennen  mflssen,  daas 
er  uns  Ton  der  Theologie  nicht  zu  befreien  vennoehte.  Er 
war  der  erste  und  wohl  der  beste  der  Hfinner,  welche  die 
blutrOnstige  Macht  seiner  Kirche  erkannten;  das  Wort  musste 
er  lassen  stahn.  Es  ist  in  aller  Logik  tief  Theobgie  be- 
grOndet,  was  allein  beweisen  wttrde,  wie  thCricht  Logik  ist. 
BoiiftpM*  Schopenhauer,  dessen  Atheismus  fest  und  unTerschleiert 
erscheint  und  in  dessen  System  der  Dens  des  Spinosa  kein 
Obdach  mehr  findet,  macht  dennoch  seinen  ünterschied  zwi- 
schen Kirche  und  Religion,  wobei  ich  ganz  beiseite  lasse,  als 
nicht  hieher  gehSrig,  daas  Schopenhauer  sonst,  der  Staats- 
mann gewiasermassen,  der  konserratiTe  Mann,  die  Reli- 
giosität als  Yolkszaum  sehr  hoch  stellt  und  sie  Ton  der 
Wissenschaft  schonend  behandelt  wissen  will,  wie  er  denn 
auch  selbst  in  seinem  glänzenden  Dialog  «Aber  Religion' 
den  Streit  unentschieden  Iftsst.  Aber  auch  als  unpolitischer 
Denker,  als  Diener  der  Wahrheit,  ist  und  bleibt  Schopen- 
hauer im  hergebrachten  Gleise,  weil  er  ein  Diener  des  Worts 
ist  Die  Kirche  sei  Terabscheuungswflrdig,  weil  sie  Handel 
treibt  mit  dem  metaphysischen  Bedürfnis  des  Menschen; 
aber  das  metaphysische  Bedürfnis  selbst  sei  da  und  habe 
die  Menschen  zu  allem  Guten  und  Schönen  getrieben,  z.  B. 
zur  Philosophie* 

Dieses  metaphysische  BedOrfnis  lasst  ihm  die  Religion 
in  einem  heiteren  Lichte  erscheinen  nnd  sogar  das  Christen- 
tum. Kun  aber  darf  man  nicht  Tergessen,  dass  Schopen- 
hauer darum  nicht  religionslos  war,  weil  er  kein  Ohrist 
mehr  war.  Christ  war  er  freilich  nicht,  so  wenig  als  Goethe 
einer  war.  Während  aber  Gbethe  sich  bei  seinem  über- 
legenen Nichtwissen  beschied,  baute  sich  Schopenhauer  aus 
christlicher  Heikordnnng  und  buddhistischer  Seelenwande- 
rung ein  neues  Wortgebäude  zusammen,  das  darum  nkht 
weniger  Religion  ist,  weil  ausser  dem  Stifter  nicht  viele  wort- 


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Beli^on  und  Sprache. 


631 


wörtlich  daran  glauben.  Auch  wende  man  nicht  ein»  diese 
indische  Lehre  von  einer  Fortezistenz  nach  dem  Tode  sei 
nicht  seine  Religion,  sondern  seine  Weltanschauung  gewesen. 
Wir  wissen,  dass  Weltanschauung  eben  auch  nichts  ist,  als 
die  Summe  der  in  den  Worten  niedergeschlagenen  ererbten 
und  erworbenen  Anschauungen,  mit  denen  die  neuen  Ein- 
<lrücke  der  WirklichkeiUwelt  sich  vertragen  müssen  ,  wenn 
sie  sich  erhalt^än  wollen.  J)ies,  das  relative  Apriori,  ist 
■eben  auch  lleligion;  nur  dass  diij  einst  so  he n. sc h süchtige 
Religion  bescheiden  geworrlf;i  ist  und  das  Leben  dem  Leben 
übeiiübbt,  das  nietnphysi.sche  ]ie<liirfnis  aber  am  liebsten  den 
.ganzen  Menschen  gefangen  nehiiif  ii  möchte. 

Dieser  tiefe  Mystizismus  Schopenhauers  ist  eme  neue, 
eine  gottlose  Religion,  Jibt  r  doch  wieder  R^  Ii^k  h.  Es  ge- 
schieht ihm  ganz  recht,  dass  er  dafür  von  Spiritisten  und 
andern  „Occultisten"  wie  ein  Heiliger  verehrt  wird;  die 
müssen  sich  freilich  gerade  an  seine  schwächsten  Stelleu 
halten,  wie  Schmeissfliegen  au  die  Wunden  der  Pferde. 

Diese  Theologie  seines  metaphysischen  Bedürfnisses  ist 
schon  versteckt  nachzuweisen  m  dem  Grundgedanken  seines 
Systems,  in  der  unzähligcmai  erklärten,  bewiesenen,  be- 
jubelten und  hinausgekrähten  Entdeckung,  dass  das  -Ding- 
an-sich"  unser  wohlbokannter  Wille  sei.  Ich  zeige  in  an- 
derem Zusammenhang,  Avie  Schopenhauer  eigentlich  nichts 
weiter  behaupten  durfte,  als  dass  der  angeblich  wohlbekannte 
TVillc  und  irgend  eine  nnfi:oblich  unbekannte  Naturkraft 
(z.  B.  (xravitation )  im  Grunde  nur  zwei  gleirherAveise  un- 
ver.ständliche  Worte  seien ,  dass  sie  vielleicht  ein  uud  das- 
selbe bedeuten,  dass  es  aber  vermessen  sei,  das  eine  Wort 
eher  als  das  andre  auf  beide  anzuwenden.  Er  hatte  sein 
Werk  mit  gleichem  Recht  „Die  Welt  als  Schwerkraft  und 
Vorstellung"  oder  ^üie  Welt  als  Elektrizität  und  Vor- 
stellung" nennen  können.  Er  sah  aber  in  der  Natur  Zwecke, 
im  Leben  einen  Zweck,  ihm  imponierte  das  krabbelnde 
Leben  mehr  als  die  heilige  Stille  der  Pflanzenwelt,  darum 
glaubte  er  die  Bezeichnung  vom  Höchsten,  vom  Menschen, 
uekmeu  zu  müssen  und  schuf  einen  neuen  Woitfetisch, 


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632 


YUl.  Witsen  und  Worte. 


seinen  , Willen",  der  sich  dann  in  nichts  von  Spinozas 
Dens,  und  wenig  genug  vom  Gott  des  gebildeieren  Pöbels 
unterschied. 

£.  von  "Was  nun  bei  Schopenhauer  die  natürliche  Folge  seiner 
Spekulation  war,  der  Hervorgang  einer  neuen  Theologie  aus 
gottloser  Logik,  das  wird  zur  sophistischen  Spekulation  bei 
Eduard  von  Hartmann,  dessen  „Unbewusstes*  sich  ganz  be- 
denklich dem  Gott  des  ungebildeteren  Pöbels  nähert.  Der 
Fall  ist  typisch  für  das  Hervcni^t  hen  von  religi(>s>-meta- 
phjsischen  Begriffen  aus  dem  Missbrauch  der  Sprache. 

Zuerst  erkennt  der  Philosoph  das  Recht  der  Wissen- 
schaft an.  in  den  Dingen  Alleinherrsclitnn  zu  sein,  die  sie 
kennt;  das  ist  durchaus  nicht  etwa  modern,  das  war  immer 
so.  Moses  und  Platou,  Jesus  und  AnL''ustiniJs,  Lutii(  r  und* 
Descartes,  Spinoza  und  Kant  Hessen  ihr  niL  tiij)liysis(  hes 
Bedürfnis  erst  da  einsetzen,  wo  sie  von  ihrou  ( nll»  i dings 
äusserst  ungleichen)  Naturkenntnissen  verlassen  wurden^ 
dann  bleibt  das  übrig,  was  wir  —  je  nach  der  Zeit  — 
nicht  wissen,  und  solange  es  für  dieses  Nichtwissen  noch 
ein  übliches,  positives  Wort  gibt,  solange  schreitet  die 
TheoloL'ie  hinter  der  Wissenschaft  her,  wie  der  Pfarrer 
hinter  dem  Lehrer,  der  Küsterdienst  versieht.  Man  achte 
darauf,  wie  auch  in  der  Bezeichnung  ,Die  Philosophio 
des  Unbewussten"  dieses  »Unbewusste"  plötzlich  den  Cha- 
rakter eines  positiven  Begriffs  erhält.  Eigentlich  ist  es 
rein  negativ  und  also  mythologisch  nicht  zu  verwenden- 
(1.  577).  Mag  man  es  auf  ein  Subjekt  oder  ein  Objekt, 
auf  den  Deus  oder  die  Natura  beziehen,  mag  man  es 
mit  dem  ^Bewusstseinslosen"  oder  mit  dem  -Ungewussten* 
gleichsetzen,  immer  bezeichnet  es  natürlicherweise  etwas 
Unbekanntes,  die  Grenze  unsres  Wissens  oder  die  Grenze 
des  Gewussten.  ein  Nichtding  also.  Aber  mit  ihrer  unheim- 
lichen metaphorischen ,  mvtbenbildenden  Kraft  suggeriert 
die  Sprache  dem  Leser  des  Worts  ^das  Unbewusste*  sofort 
einen  positiven  Sinn,  das  Unerkennbare  hat  ein  neues  Män- 
telchen  erhalten  und  der  Fetisch  eines  neuen  Kultus  ist 
fertig.   Jeder  dieser  Atheisten  tritt  darum  am  Ende  als- 


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Beligion  und  Sprache. 


m 


Religionsretter  auf  und  möchte  gern  als  Keligionsstifter  er- 
scheinen. 

Woraöf^licli  noch  deutlicher  ergibt  sich  die  Uritalu<;keit  Spencer, 
der  Metaphvsik,  ohne  Sprachkritik  aus  dem  Zirkr  llidim  der 
Religion  /ai  kommen,  dunn,  wenn  dem  ünerkeuubaren  gar 
kein  Mäntelciien  mehr  umgehangen  wird,  wenn  es  mit 
aflektierter  Negation  und  Einfachheit  eben  das  ^Unerkenn- 
bare* genannt  wird  und  trotzdem  die  Sprache  (und  ihr 
unterworfen  der  Philosoph)  metaphorisch-religiöse  Deutungs- 
vcrsuche  macht;  die';  ist  der  Fall  bei  Herbert  Spencer,  der 
freilich  an  vielen  bullen  die  öüeutliche  Meinung  bittet,  ihn 
für  kernen  Umstürzler  zu  halten  ,  der  aber  doch  wohl  mit 
seinen  «Grundlagen  der  Phiiusüj  hie*'  Emst  zu  machen  glaubt. 
So  nahe  er  häufig  der  Wahrlieit  kommt,  dass  dns  Denken 
oder  die  Sprache  nichts  sei  als  das  GedächtIli^  ler  Mensch- 
heit und  des  Individuum^,  dass  also  mit  Hilte  der  Sprache 
nichts  erschlossen  werdf n  kunne,  als  was  wir  schon  wissen» 
er  strebt  dennoch  nach  tim  r  Versöhnung  der  Wissenschaft 
(an  die  er  glaubt)  mit  der  lieügion  (die  er  glaubt  oder  die 
zu  glauben  er  glauben  machen  möchte).  Seine  Religion  ist 
eine  äusserst  sublimierte,  homöopathisch  verdünnte :  aber  sie 
will  immer  noch  Religion  sein;  sie  opfert  ihren  Namen  nicht. 

Spencer  ist  so  tolerant,  dass  er  in  seiner  Grundlegung 
der  Philosophie  (übers,  v.  Vetter  S.  561)  zu  folgendem 
feierlichen  Ergebnis  kommt:  das  „unaustilgbare  Bewusst- 
sein,  in  welchem  Religion  und  Philosophie  mit  dem  geraeinen 
Menschenverstände  eins  sind,  stellte  sich  zugleich  als  die 
Grundlage  heraus,  auf  der  alle  exakte  Wissenschaft  aufge- 
baut ist**.  Diese  bemerkenswerte  Höflichkeit  gegen  den 
common  sense  geht  scheinbar  und  etwas  heuchlerisch  (viel- 
leicht aber  nur  englisch)  durch  das  ganze  Denken  dieses 
Mannes.  Snchf  er  doch  gleich  zu  Anfang  die  Wissenschaft 
damit  zu  vertiidigen  (S.  18  u.  f.),  dass  sie  nur  eine  höhere 
Entwickeiung  des  alltäglichfn  Wissens  sei,  womit  er  voll- 
kommen recht  hat,  wobei  er  nur  nicht  sieht,  dass  es  eben 
wohl  ein  reicheres  Wissen,  aber  niemals  eine  «höhere" 
Wissenschaft  gibt. 


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634 


VllL  Wiaaen  und  Worte. 


In  seinem  Versöhnungsversuch  geht  er  von  einem  argen 
Schnitzer  aus.    Weil   m  den  historischen  Berichten  der 
Grundsatz  gelten  mag,  dass  an  jeder  allgemein  angenom- 
menen Behauptung  irgend  ein  Körnchen  Wahrheit  sei,  dass 
Rauch  nie  ohne  ein  Fünkchen  Feuer  sei ,  darum  glauht  er 
schliessen  zu  müssen,  ,,däss  die  Religionen ^  obgleich  auch 
nicht  eine  dereelben  wirklich  wahr  .sein  mag,  doch  alle 
wenigstens  Schattenbilder  einer  Wahrheit  sind".    Der  Aus- 
druck ist  äusserst  vorsichtig,  bis  zur  Thorheit  vorsichtig. 
Er  hält  sich  und  seinen  Anhängern  die  Möglichkeit  iigend 
einer  allein  selig  machenden  Religion  offen;  er  will  ferner 
nicht  etwa  ein  Stückchen  Wahrheit,  und  wenn  es  noch  so 
klein  wäre,  sondern  nur  ein  Schattenbild  aus  ihnen  allen 
herausziehen.  Sodann  ist  sein  Vorgehen  der  lauterste  Wort- 
dienst.   Als  ob  man  aus  einem  Begriff  jemals  herausent- 
wickeln könnte,  was  man  nicht  vorher  hineingewickelt  hat, 
und  als  ob  umgekehrt  zwischen  Denken  und  Spreclien  ein 
Unterschied  wäre,  „beweist*  er  mit  grossem  Aufwand  von 
«unendlich"  und  ähnlichen  Worten,  dass  jede  positive  Re- 
ligion  unmöglich   .gedflcht*  werden   könne,   dass  sowohl 
Atheismus,   als   Theismus,   als   Pantheismus   auf  Voraus»- 
set/.un^en  beruhe,  die  «in  Gedanken  nicht  wiedergegeben 
werden  können".   (Nur  dass  alle  diese  Dinge  mit  Worten 
gesagt,  das  hcisst  gedacht  worden  sind  und  noch  werden.) 
Wenn  aber  keine  einzige  religir»se  Lösung  des  Weltproblems 
befriedirre,  wenn  der  Forscher  trotzdem  nach  einem  Köm- 
chen \Vahrheit  in  den  Irrtümern  suchen  müsse,  so  l)leibe 
als  Gemeinsames  aller  Religion  der  Gedanke  übrig:  es  ist 
ein   Prol)lem    vorhanden.     Mit    andern    Worten.  Spencer 
geht  davon  aus,  dass  auf  eine  bestinnnte  Frage  unzählige, 
einander  widersprechende  Antworten  gegel)en  worden  seien, 
er  lehrt  sodann ,  dass  zwar  nicht  in  einer  der  Antworten, 
wohl  aber  in  ilmen  allen  etwas  Wahrheit  stecke,  und  endet 
mit  der  Entdeckung,  dass  dieses  Stückchen  Wahrheit  in 
der  hohen  Weisheit  stecke:  es  ist  eine  Frage  da.  Spencer 
formuliert  sehr  hübsch  den  Standpunkt  der  fortgeschritten- 
sten christlichen  Theologie  mit  dem  Satze:  ,Zu  denken, 


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Beligioa  und  Spmdie. 


635 


dass  Gott  so  sei,  wie  wir  ihn  uns  denken  können,  ist 
Gotteslästerung* ;  er  hat  recht,  wenn  er  darin  ein  Einge* 
stUndnis  sieht,  dass  das  Wesen,  welches  sich  im  Umversuin 
offenbart,  unerforschlich  sei.  Das  ist  die  Lehre  unseres 
MeiBten  Eckaxt,  das  wird  vielleicht  die  letzte  WissenschAft 
Barnacks  sein. 

Es  liegt  im  Wesen  der  .Wissenschaft",  dass  sie  vom 
Vorstellbarwi  *um  Unvorstellbaren  fortschreitet ;  Wissenschaft 
ist  Erfahrung  oder  Sachkenntnis  in  Begriffen  oder  Worten 
und  eigentlich  beginnt  die  Unvoratellbarkeit  schon  mit  dem 
einfachsten  Begriff.  «Baum*  ist  schon  unvorstellbar.  Das 
alles  weiss  Spencer,  aber  er  weiss  nicht,  dass  alle  Worte 
oder  B(  [rrifTo,  alle,  symbolisch  oder  metaphoiisch  sind,  und 
liUt  bloss  die  abstraktesten  Worte,  die  fiussersten  Univer- 
salien, für  symbolisch,  für  unrealisierbar.  Darum  wendet 
er  wieder,  wie  bei  der  Religion,  Sophismen  und  Wort- 
kiimpfe  auf,  um  nachzuwei?;on,  worüber  heute  die  forschende 
W  elt  einig  ist:  dass  nämlich  die  Wissenschaft  ungelöste 
Fragen  übrig  lässt  oder  vielmehr,  dass  sie  Überall  auf  un- 
lösbare Fragen  stösst,  auf  Probleme.  Es  wäre  gar  nicht 
nötig  gewesen,  Widersprüche  in  den  Begriffen  Kraft,  Stoff, 
Bew^ung  u.  s.  w.  nachzuweisen,  es  wäre  nicht  nötig  ge- 
wesen, abermals  mit  dem  (f&r  mein  Sprachgefühl)  durch- 
aus theologischen  Wort  «unendlich"  zu  spielen.  Es  liegt 
für  jeden  Kopf,  in  den  die  Grundbegriffe  der  modernen 
Mechanik  und  Biologie  hineingegangen  sind,  klar  und  sicher 
da,  dass  wir  den  TielgerQlimten  Kosmos,  die  WirUicbkeits* 
weit,  durchaus  und  grfindlich  begreifen  wfirden,  wenn  wir 
auch  nur  das  klmnste  Teilchen,  ein  Sandkorn  oder  ein 
Moosbl&tichen,  durchaus  begriffen  h&H»n,  dass  wir  aber  die 
Ursachen  der  Welt  so  wenig  kennen  —  wie  dieses  Sand- 
korn oder  dieses  Moosblättchen.  Wir  wissen  alle,  das  wir 
nichts  wissen,  dass  uns  das  Wesen  unserer  Yorstellungs- 
akte  ebenso  unerkennbar  ist,  wie  das  Wesen  der  vorge- 
stellten Dinge,  das  «Ding-an-sich*  ebenso  unerkennbar,  wie 
das  Gesetz  seiner  Wirkung  auf  unser  Gehirn.  Spencer  aber 
schielt  bei  solchen  Erörterungen  immer  nach  der  Religion 


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636 


TIU.  WiflMn  und  Worte. 


(weil  er  sie  schonen  möchte)  und  nennt  da«  ewige  Pro- 
blem mit  Worten  wie:  -letzte  Ursache*,  «das  ünendliche'*, 
dii«:  ..Absolute".  Und  tjanz  und  <^ar  theologisch  fährt  er 
fort  iS.  80  u.  f.):  , Zwischen  dem  Schaifenden  und  dem  Ge- 
schatl'enen  niuss  ein  Unterschied  bestehen ,  der  alle  Unter- 
schiede zwischen  den  verschiedenen  Abteilungen  des  Ge- 
schaffenen weit  übertrifft.  Das,  was  imverursacht  ist  (ich 
kann  mir  etwas  .Unverursachtes'  nicht  vorstellen),  kann 
nicht  mit  d^m,  was  verursacht  ist,  verglichen  werden;  die 
beiden  BegriÖe  stehen  sich  schon  durch  ihre  Namen 
als  unvereinbare  Gegensätze  gegenüber.'' 

So  treibt  Spencer  hier,  wo  es  gerade  auf  die  Grund- 
lagen ankommt,  einen  frevelhaften  Missbrauch  mit  der  armen 
Sprache;  er  quält  da.s  ewige  Problem  aller  Forschung 
in  scholastische  Worte  hinein,  um  eine  scholastische  Deu- 
tung herausdenken  zu  können,  um  am  Ende  triumphierend 
auszurufen:  alle  Erkenntnis  sei  relativ,  aber  es  gebe  über 
der  Erkenntnis  etwas  Nichtrelatives  (wofür  wir  freilich  kein 
Wort  haben  als  das  »Absolute")  und  das  habe  die  Religion 
immer  geahnt,  das  sei  das  .grosse  Verdienst*  aUer  Reli- 
gion, auch  in  ihren  frühesten  und  rohesten  Formen.  Jd 
dieser  Dankbarkeit  gegen  alle  sonst  mangelhaften  Religionen 
(bei  deren  Aufzählung  er  vor  dem  Protestantismus  kläglich 
Halt  macht  [S.  HS])  hat  der  berühmte  Entwickelungsphilo- 
soph  nicht  einmal  gegen  den  Teufel  und  seine  Hölle  etwas 
einzuwenden.  .Fttr  die  grosse  Menge  .  .  •  Irt  es  selbst  heut- 
zutage noch  nötig,  dass  zukflnftige  Pein  und  zukünftige 
Lust  in  lebhaften  Farben  ausgemalt  werden  (S.  116).* 

Wohlgemerkt,  zu  dieser  Abdankung  entschliesst  er  sich 
nicht  als  Politiker,  als  Menschenverächter  wie  Schopenhauer 
etwa,  sondern  weil  er  in  aUer  Religion  ein  Schattenbild 
der  Wahrheit  erblickt,  die  grosse  Lehre  nämlich:  dass  ein 
Problem  da  sei. 

Wissenschaft  und  Religion  sollen  das  Gleiche  sagen, 
weil  sie  beide  lehren:  «unerforschlich  sei  das  Wesen,  wel- 
ches  sich  im  Universum  offenbart*.  Wort  für  Wort  ein 
theologischer  Missbrauch  der  Sprache,  oder  vielmehr  der 


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fieligioii  und  Sptadie. 


637 


übliche  Gebrauch  der  ewig  logischen  imd  darum  ewig  theo* 
logischen  Sprache. 

In  „unerforschlich*  liegen  die  Metaphern  von  Ewigkeit 
nnd  KegaiioD  versteckt;  denn  eigentlich  können  wir  doch 
nur  sagen,  das  Wesen  sei  Ton  uns,  von  mir  und  dir,  nicht 
begriffen;  «lieh"  will  aber  schon  an  der  Schwelle  sagen,  ein 
Zauher  hindere  den  Zutritt,  das  Begreifen,  für  alle  Ewigkeit 
«üniTersum*  ist  ein  leeres  Wort,  das  hur  darum  voll  aus- 
sieht, weil  wir  damit  gerade  wieder  das  „ Unendliche"  sym* 
boUsieren,  das  mit  einem  andern  «Unendlichen",  dem  Raum, 
ausgeiUlt  ist ;  an  Sonntagen  denken  wir  dabei  an  die  Erde 
und  ein  Dutzend  Nachbaisteme,  an  Wochentagen  an  unsem 
Körper  und  die  Thfttigkeit,  die  mittelbar  zu  sdner  Emflkh« 
rung  ftlbrt.  Und  wie  ehrlich  dumm  ist  das  Wort  «offen- 
bart*! Bs  setst  Torans,  dass  das  ,  Absolute' t  das  sich  offen- 
barti  eine  handelnde  Person  ist,  es  setzt  also  eigentlich  den 
ganz  fleischfarbenen  Gott  des  Köhlerglaubens  Toraus. 

Xun  aber  erst  das  «Wesen*.  In  diesem  Schafetoi  Tom 
Windhauch  eines  Wortes  seigt  sich  der  Bankerott  der 
Spencerscfaen  Darlegung  oder  besser  noch:  der  Fluch  der 
Sprache,  der  jeden  trifft,  der  mit  so  elendem  Werkzeug  er- 
kennen, oder  gar  Wissenschaft  nnd  Unerkennbares  Tenöhnen 
will.  Und  doch  wollen  wir  das  Wort  «Wesen*  nidit  schelten. 
Ihm  verdanken  wir  es,  wenn  wir  deutlich  sehen,  wie  Reli- 
gion nnd  Wissenschaft  auf  ganz  Terschiedenem  Boden 
tappen,  wenn  sie  auch  beide  sagen  und  denken:  »Das  Wesen 
der  Dinge  ist  unerforschlich/  Fflr  die  Wissenschaft  ist 
der  Sata  ganz  und  gar  nur  ein  Yerstummen,  ein  Aufhören 
mit  Fragen  und  Antworten.  Abgesehen  daTon,  dass  sie 
nicht  leicht  «uneif  erschlich  *  sagt,  dass  «ignorabimus*  immer 
etwas  von  Pk'ophetenton  an  sich  hat,  yersteht  sie  unter  dem 
«Wesen*  der  Dinge,  unter  dem  «Ding-an-sich*  doch  ja  nur 
das  Aber  oder  hinter  ihrer  Erkenntnis  Liegende.  .Das  ¥rahre 
Wesen  ist  unerforschlich*  ist  ihr  eine  blanke  Tautologie, 
nftmlich  etwa:  was  ich  nicht  erkannt  habe,  das  habe  ich 
nicht  erkannt  Das  «Wesen*  der  Dinge  im  Sinne  der 
Wissenschaft  ist  jenseits  der  Wissenschaft,  also  für  sie  nicht 


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* 


638  ^UI.  Winen  und  W<»rto. 

vorhanden,  also  ein  positives  Wort  für  eine  Negation.  Sie 
kennt  nur  ]k'zieliun*;en  der  Kräfte,  dais  , Wesen wenn  es 
etwas  Beziehungsloses,  das  Absolute  sein  will,  existiert  ein- 
fach nicht  fUr  sie.  Mit  dem  Satze,  den  sie  mit  der  Reli- 
gion gemeinsam  haben  soll,  will  die  Wissenschaft  nichts  als 
verstummen.  Er  ist  das  Ende  der  Wissenschaft;  will  der 
Forscher  noch  w  eiter  etiras  fiBgeo,  so  schwatzt  er  eben  wie 
ein  Tttlgärer  Prediger. 

^Dns  Wesen  der  Dinge  ist  unerforschlich !"  vom  Theo- 
logen pathetisch  ausgesprochen,  welch  ein  andrer  Sinn !  Wir 
wissen  schon,  dass  in  »unerforschlich*  die  Metapher  der 
Ewigkeit  steckt.  Aber  auch  das  .Wesen"  suggeriert  uns, 
wenn  der  Prediger  es  gebraucht,  sr)fort  eine  Person,  die 
hinter  den  Dingen  steckt,  eine  Persönlichkeit,  etwas  höchst 
Positives,  ja  eigentlich  etwas,  das  uns  mehr  imponieren  will, 
als  die  Dinge  selbst,  das  uns  am  liebsten  unser  Leben  auf 
Erden,  und  das  jenseitige  dazu,  ordnen,  befehlen,  gut  und 
schlecht  machen  mfk-hte.  £ki  ist  nicht  wahr,  dass  Religion 
und  Wissenschaft  dasselbe  meinen.  Selbst  wenn  die  kühnste 
Wissenschaft  noch  die  letzte  Frage  formuliert,  wird  sie 
achselzuckend  gestehen,  keine  Antwort  zu  wissen.  Wenn 
aber  auch  noch  die  abgeblassteste  Religion  die  Frage  zu- 
lässt,  wird  sie  eine  Antwort  bereit  haben,  oder  sie  hiesse 
nicht  mehr  Religion. 

So  erklärt  die  vorhandene  Weltanschauung  erst  ihre 
Satze;  nicht  umgekehrt.  Wie  ich  ja  auch  lehre,  dass  es 
der  Schluss  ist,  der  die  Prämissen  erklärt  und  nicht  um- 
gekehrt. Wie  der  Satz  seine  Worte  erklärt  und  nicht  um- 
gekehrt. Denn  die  Sprache  ist  Gedächtnis ;  aus  der  Summe 
des  potentiellen  Gedächtnisses  geht  Wort  undSats  henror; 
nicht  umgekehrt. 

Aus  der  Weltanschauung  des  Engländers  Spencer  er- 
klärt siih  sein  Wunsch,  Wissenschaft  und  Religion  in  der 
gleichen  Formel  uusklingen  zu  lassen,  also  die  Bdigion  zum 
hundertsten  Male  zu  retten,  das  Wort  wenigstens.  Als  For- 
scher versucht  er  nichts  anderes,  als  was  Aristoteles,  mit 
dem  Wissen  seiner  Zeit  ausgerastet,  schon  versucht  hatte 


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Kritik  der  Spndie. 


und  was  jeder  Systembändiger  oder  Philosoph  seitdem  Ter- 
sachi  hat;  das  Sein,  wie  es  sich  in  seinem  Gehirn  .spiegelt, 
mit  dem  Sein  draossen,  mit  der  begreiflichen  Wirklichkcits^ 
weit  in  Einklang  zu  bringen.  Das  Sein  im  Gehirn  ist  aber 
niclits  als  das  Denken  oder  die  Spraehe;  sie  je  nach  dem 
Stande  der  Beobachtungen  in  Einklang  zu  bringen  mit  sich 
selbst,  mehr  kann  der  Philosoph  nicht  woUen.  Und  solange  er 
an  sie  glaubt,  solange  er  den  grossen  Abstraktionen  nicht  die 
Masice  vom  Totenkopf  gerissen  hat,  solange  er  diesem  Symbol 
niehi  ins  Qesicht  lacht,  solange  narrt  es  ihn  mit  seiner 
Mythologie,  und  der  Begriff  findet  immer  neue  Worte,  sich 
an  sie  zu  klammem,  wenn  die  alten  morsch  geworden  sind. 
Die  Sprache  ist  nicht  stols;  sie  wird  sich  noch  an  die  physi- 
kalischen UniTersalien  «Kraff^  oder  «Stoff*  halten,  wenn  der 
Gott  den  Weg  der  Götter  gegangen  ist.  Erst  die  Sprach" 
kritik,  erst  die  Einsicht  in  den  Unwert  der  Worte,  wird 
dem  Religionsbegriff  die  letzte  Stütze  nehmen.  Die  Sprach- 
kritik erst  wird  lehren,  dass  der  Glaube  sieh  immer  und 
Überall  deijenigen  Worte  bemächtigt  hat,  die  unser  bisschen 
Wissen  fortgeworfen  hat. 

Alle  Religion  ist  alte  Wissenschaft.  (L  161.) 

Ist  also  all  unser  Wissen  und  Glauben  nur  in  den  Worten 
der  Sprache,  in  den  Ton  den  Unter»  und  Obertönen  ihrer 
Geschichte  umschwebten  Worten,  so  ist  der  reinste  Religions- 
begriff kein  Wasen  und  auch  kein  Glauben,  sondem  ein 
Erleben  im  Leben  des  Glücklichen,  der  das  Geftthl  der  Ehr- 
furcht kindlich  empfindet,  das  ihm  Religion  ist  Dieses  Er- 
leben ist  nicht  mitteflbar,  kennt  keine  Bttcher  und  kerne 
Dogmen,  b^flgt  sich  mit  Liedern.  Den  Dienern  am  Wort 
sind  die  edlen  Pietisten  immer  Ketzer  gewesen.  Der  pie- 
iistische  Ketzer  drängt  mit  sehnsüchtiger  Seele  Ober  das 
Wort  hinaus  nach  einer  sprachlosen  Verbindung  ?on  Seele 
zu  Seele. 

Etwas  von  diesem  edlen  Pietismus  steckt  Terborgen  in 
einer  Klage,  welche  oft  gegen  die  Sprache  laut  geworden 
ist  und  welche  nicht  mit  einer  erkenntnistheoretisdien  Sprach- 
kritik Terwechselt  werden  sollte.  Am  schärfsten  Tielleicht 


640 


Vm.  WiMWn  and  Worte. 


ist  (linse  Klage  ausgesprochen  in  dem  bekannten  Epigramme 
Schillera: 

Warum  kann  der  lebendige  Geist  dem  Qeiat  nicbt  encbeinen? 
Spricht  die  Seele,  «o  «pvicht,  ach!  achon  die  Seele  nicht  mehr.* 

Aehnlicli  ist  die  Selinsiicht  nach  einer  unmittelbaren 
SerlenRpracbe  un zäh lijjeui.il  ausgesprochen  worden,  von  Byron 
bis  Maeterlinck,  und  nachgesprochen  und  nachgeseufzt.  Ver- 
zerrt ist  das  schöne  Gefühl  von  Grabbe,  als  dieser  Goethe 
und  Byron  zugleich  tibertrumpfen  wollte.  Da  sagt  der 
Grabbesche  Mephisto  zum  Grabbeschen  Faust:  „Nur  was  ihr 
in  Worte  könnt'  fassen,  könnt  ihr  denken."  Faust  lernt, 
die  ganze  Menschheit  sei  nur  Geschwätz;  aber  der  posierende 
Mephisto  Grabbes  versteigt  sich  dabei  zu  der  Absurdität,  «die 
Sprache  sei  grösser  als  der  Mensch." 

In  reiner  Form  begegnen  wir  dem  schönen  Gefühl  oft 
und  oft  bei  Goethe.  Wie  aber  diese  pietistisch-dichterische 
Kritik  der  Sprache  eigentlich  sentimen talisch  ist,  meine  er- 
kenntnistheoretische  Sprachkritik  jedoch  hoffentlich  naiv,  so 
ist  —  wie  wir  immer  wieder  erfahren  haben  —  Goethe 
innerst  durchdrungen  von  der  Wertlosigkeit  der  Schillerschen 
Klage,  von  der  Unvereinbarkeit  zwischen  Sprache  und  Er- 
kenntnis. Harte  Urteile  über  die  Worte  stehen  an  einer 
bedeutenden  Stelle  seines  „Wilhelm  Meister*.  Und  vielleicht 
hat  er  den  geheimen  Sinn  der  Wanderjahre  verraten  durch 
den  Untertitel  „Die  Entsagenden".  Es  widerspräche  nicht 
dem  Goetheschen  Sprachgebrauch,  der  einmal  das  Wort  »sich 
entscheiden"  etwa  in  der  Bedeutung  von  «die  Scheide  ver* 
lassen*  wagt,  wenn  «entsagen*  so  viel  biesse  wie  „auf  die 
Sprache  verzichten".  Denn  es  ist  wobl  ein  Grundgedanke 
der  Wanderjahre:  ,Thun  ohne  Reden  muss  jetzt  unsere 
Losung  sein".  Wusste  Goethe  ara  Ende,  dass  er  damit  eine 
Lieblingsidee  der  griechischen  Skeptiker  aufnahm  ?  Sie  leiteten 
aus  unserem  Nichtwissen  die  Pflicht  ab,  sich  im  Urteile 
zurückzuhalten,  ja  sich  jeder  Behauptung  zu  enthalten.  Und 
für  diese  Enthaltung,  ftir  diese  letzte  Resignation  (resignare 
im  Sinne  Ton  Terzichten  ist  eine  seltsame  Metapher,  die 


Üigiiiztiü  by  <-3ÜOgIe 


Lachen  und  Sprache. 


641 


Tom  «Entsiegeln*  einen  weiten  Weg  genommen  bat)  Hatten 
die  Qrieehen  MUnmenreiee  neben  anderen  Bexeiehnnngen 
«ucb  die:  Aphasie.  Der  letzte  Venicht  des  Denkens  war 
■auch  Urnen  ein  Entsagen,  ein  Absagen,  ein  Verziebl  auf 
das  Wort. 

« 

Reine  Kritik  ist  im  Grunde  nur  ein  artUraliertes  Lacben.  Lachen 
Jedes  Lachen  ist  Kritik,  die  beste  Kritik.  Wenn  durch  Zu-  gjjjj^ 
fall  oder  Kunst  zwei  Dinge  zueinander  gebracht  werden« 
die  durchaus  nicht  zueinander  passen,  so  lacht  der  natfü> 
liehe  Mensch.  Zum  Lachen  mOsste  ein  Mensch  reizen,  der 
versuchen  wollte,  etwa  die  Erde  an  einem  Felsenzipfel  an- 
zufassen, um  sie  so  der  Sonne  näher  zu  bringen.  Tragi- 
komisch wäre  der  Clown,  der  im  Cireiis  bis  zur  Spitze  einer 
freistehenden  Leiter  emporkletterte  und  dann  versuchen 
wollte,  seine  Leiter  zu  sich  emjior  zu  ziehen.  Er  würde  das 
Schicksal  der  Philosoj)hen  teilen  und  herunterfallen.  Wer 
die  Nftivetät  verloren  hat,  lacht  auch  den  Clown  nicht  mehr 
aus.  Wer  sie  behaltLii  hat,  der  muss  auch  über  die  Sprach- 
künstler lachen .  die  auf  Wortleitern  in  die  Höhe  kletlern 
möchten  und  glauben,  sie  könnten  während  des  Aufstiegs 
das  W'ort  von  der  Erde  lösen.  Und  die  Gefahr  dieser 
Schrift,  das  Abgeschmackte  des  Versuchs  besteht  nur  dann, 
dem  Lachen  einen  artikulierten  Text  unterlegt  zu  haben, 
so  dubs  es  i'iir  die  Masse  herauskommen  köuute  wie  ein 
Lachen  in  der  Oper. 

Aber  gariz  unmöglich  wäre  es  doch  nicht,  Kritik  der 
Sprache  sprechend  zu  üben.  Die  Sprache  in  ihrer  systema- 
tischen Ent\vi(kelung  ist  eine  Pyramide  geworden,  welche 
breit  und  rol;  auf  der  Erde  lastet  und  in  eine  verwitterte 
Spitze  ausgeht,  die  je  nach  dem  Geschmack  des  hinauf- 
gestiegenen PyrumidenfÜhrers  und  l^yi  umiilenerklürers  den 
Namen  Gott,  Begritf,  Idee,  Materie  oder  Kraft  erhält.  Wer 
die  verwitterte  Spitze  mitsamt  den  Fremdenführern  herunter- 
holen will ,  der  muss  sein  Handwerk  von  den  Maurern 

lernen  f  die  die  Ziegel  zusammengeklebt  haben.    £r  muss 
Xavthner,  Beitrage  zu  einer  Kritik  der  Sprache.  III.  41 


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642 


VIII.  Wissen  und  Worte. 


entweder  niichlcletteni  und  das  gemeinste  aller  Emistwerke 
abtragen  von  dem  Yenritterten  höchsten  Stein  bis  herunter 
zum  sandigen  Gnmd,  oder  er  muss  den  sandigen  Grund 
blosslegen,  bis  der  plumpe  Bau  in  sieh  selbst  ausammen* 
stürzt.  Beides  kann  nicht  die  Kraft  eines ,  Einzelnen. 
Pharaonenmacht  und  l^daveiisinn  von  Idlicmen  hat  den 
stumpfen  Eoloss  getürmt,  absolute  Macht  und  unbedingte 
Nachfolge  nur  könnte  in  jahrelangem  Bemühen  das  nieder- 
trächtige Denkmal  wieder  stOrzen.  Weil  aber  der  Einzelne 
schwach  ist  imd  ungeduldig,  darum  nimmt  er  den  ExplosiT-» 
stoff  des  Lachens  zu  Httlfe,  das  Bauwerk  fliegt  auf  und  es 
ist  schlechter  Lehm  gewesen,  und  in  seinem  geheimnis* 
vollen  Innern  vergessene  Götzen,  bemalte  SErge,  balsamierte 
Mumien  und  Moder:  die  Gespenster  unsrer  eigenen  Yer- 
gangenbeit. 

Wer  also  in  seinem  Denken  das  Denken  kritisierte, 

das  heisst  mit  HOlfe  der  Sprache  die  Sprache  selbst  unter- 
suchen wollte,  gleicht  eigentlich  einem  Physiologen,  der  leben- 
digen Leibes  sein  eigenes  Gehirn  blosslegen  und  damit 
experimentieren  wollte,  was  schon  dainim  seine  Schwierig- 
keiten hätte,  weil  der  Forscher  durch  die  schweren  opera- 
tiven Ein^ifFe  in  seinen  Fähigkeiten  doch  herabgestimmt 
werden  nüisste.  Und  so  bleibt  dem  Verfasser  nichts  weiter 
übri«?  als  na  h  dem  Beispiel  des  weisen  Münihhausen  um 
den  Baum  der  Erkenntnis  so  lange  und  so  scLnell  herum 
zu  laufen,  bis  er  sich  selbst  beim  Schöpfe  zu  fassen  kriegt. 
Als  Opfer  hat  er  Sckmerz  zu  leiden ,  als  Sieger  kann  er 
nicht  eininal  lachen.  Die  niederste  Erkenntnisforni  ist  in  der 
Sprache;  die  höhere  ist  im  Lachen;  die  letzte  ist  in  der 
Kritik  der  Sprache,  in  der  hiuimelstillen ,  himmelsheitem 
Resignation  oder  Entsagung. 


Kritik  Während  der  langen  Jahre,  in  denen  die  Grundgedanken 


der 
Bpraolie. 


dieses  Versuchs  sich  meiner  beumcbtigten  und  mich  zu  der 
wirkHch  harten  Arbeit  zwangen,  ihre  Wahrheit  unaufhör- 
lich am  Leben  und  an  wiissetischaftlichen  Studien  zu  er« 


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&itik  der  Spradie. 


643 


proben,  wilbrend  dieser  Jahre  gab  es  verzweifelte  Stunden 
und  Tage  genügt  &n  denen  es  mir  wertvoller  und  weiser 
erschien,  den  Acker,  den  ich  baue,  selbst  zu  dttngen,  oder 
ein  Kirschbftttmchen  zu  pflanzen,  oder  den  ersten  besten 
ITumI  zum  vernünftigen  Lehrer  der  Lebensführung?  zu  wählen. 
Nichts  erschien  dann  thörichter  als  der  letzte  Versuch,  mit 
Worten,  die  niemals  einen  Inhalt  haben  können,  endlos  von 
nichts  zu  sprechen  als  Ton  der  eigenen  Unwissenheit  Ge- 
rade aber  solche  schwarze  Stunden  und  Tage  endeten  häufig 
mit  dem  spornenden  Gefühl:  jawohl  es  ist  der  letzte  Ver- 
such, es  ist  das  letzte  Wort,  und  weil  es  nicht  die  Lösung 
des  Sphinxrätsels  sein  kann,  so  ist  es  wenigstens  die  er- 
lösende That,  welche  die  Sphinx  zum  Schweigen  zwingt, 
weil  es  die  Sphinx  vernichtet.  Traurig  blicke  ich  auf  solche 
Stimmungen  erhöhten  Selbstgefühls  zurück.  Was  können 
wir  in  der  Sprache  des  heutigen  Tages  denken  oder  sagen 
Aber  die  Sprache  des  morgenden  Tages?  Ewig  wandelt  die 
Sonne  ihre  Bahn.  Derselbe  Sonnenball,  der  heute  unter- 
geht, geht  morgen  auf.  Dasselbe  Rot,  das  ich  jetzt  das 
Abendrot  nenne,  wird  nach  wenigen  Stunden  todähnlichen 
Schlafes  das  Morgenrot  heissen.  Was  heute  die  letzte  Ant- 
wort schient  wird  morgen  eine  neue  Frage  sein;  und  die 
Frage  wird  wieder  zur  Antwort  werden  in  der  Sprache  von 
uns  thörichten  Mensches*  Dennoch  will  ich  auszuführen 
suchen,  warum  mir  eine  Kritik  der  Sprache  in  guten  Stunden 
die  letzte  Antwort  schien.  So  erziblen  wohl  zehiqihrige 
Kinder  Ton  den  IrrtQmem  ihrer  frfihem  Jahre  und  dttnken 
sich  gross. 

Wer  einsam  geworden  ist  unter  seinen  Mitlebenden, 
weil  er  zu  einer  andern  Sprache  oder  einer  andern  Welt- 
anschauung gelangt  ist,  wer  aus  der  Art  gesehlagen  ist, 
der  hatte  es  schön  und  leicht,  sein  einsames  Denken  den 
andern  miteuteilen,  wenn  es  ein  Yerst&ndnis  zwischen  den 
Mensehen  gäbe,  wenn  die  Träumer  oder  Narren  recht 
hätten,  die  Ton  einer  Telepathie  zwischen  den  Menschen 
reden.  Wenn  es  eine  solche  unmittelbare  geistige  Berüh- 
rung zweier  Menschengehime  gäbe,  so  brauchte  ein  Ein- 


644 


VIIL  Winea  and  Worte. 


sanier  nur  »ieu  anderen  Einsiuuen  bei  der  Hiiiirl  zu  er- 
greifen, wie  es  Buauch  ist  unter  Liebeiulen,  und  der  Andere 
empfinge  eine  Ähnun^r  von  dem  neuen  Denken  des  Einen. 
£s  wäre  ihnen  gemeinsam  geworden,  was  man  das  Denken 
nennt. 

Was  man  aber  das  Denken  nennt,  das  ist  nur  eitel 
Sprache.  Auch  der  Einsame,  der  selbst  sein  neues  Denken 
in  sieh  erzeugt  hat,  hat  nur  die  Illusion  einer  nenen  Welt- 
anschauung und  weiss  es  selbst  nicht,  dass  er  nur  Worte 
anders  verbuidet,  Worte  ohne  Inhalt,  und  wenn  er  im  \  cr- 
traueu  aui  die  S{irache  die  Worte  zur  Mitteilung  benützen 
will,  so  kann  er  nichts  beweisen,  nicht  eiunial  überzeugen, 
höchstens  ülieireden  wie  ein  Schwätzer  vor  Gericht. 
Worte,  in  Worte  «^efasst,  das  ist  Anfang  und  Ende  aller 
Philosophie.  Vor  das  Gericht  geschlepjit  wird  die  lebendige 
Wirklichkeit,  die  bald  Gott  heisst  und  bald  Natur  und  ihren 
wahren  Namen  nicht  verrät.  Diese  That,  die  die  Welt  der 
Wirklichkeiten  ist,  suchen  die  Männer  zu  verstehen  und  zu 
erklären,  zu  verteidigen  oder  zu  verdammen,  die  die  grossen 
Philosophen  heissen.  Sie  erklären  und  verstehen,  sie  ver- 
teidigen und  sie  verdammen  wie  Schwätzer  vor  Gericht. 
Worte  sind  ihre  Werke,  Worte  in  Woi*te  gefasst.  Da  musste 
auch  einmal  der  letzte  Versuch  gemacht  werden,  zu  ver- 
2dchten  nicht  nur  auf  Verteidigung  und  Verurteilung,  son- 
dern auch  auf  jedes  Erklären  und  Verstehen.  Es  musste 
der  letzte  Versuch  gemacht  werden,  das  nackte  Wort  zu 
betrachten  in  seiner  ganzen  Bldsse,  eine  Kritik  zu  wagen 
der  Sprache,  das  Wort  zu  sehen,  das  Wort  des  Inhalts  und 
das  Wort  der  Fassung. 

Sofort  trat  über  die  Schwelle  dieser  Betrachtung  die 
Einsicht,  dass  wir  irren,  wenn,  wir  glauben  und  sagen,  es 
sei  die  Weiterkeuntnis,  wie  wir  aie  im  kindlichen  Hochmut 
SU  besitzen  glauben,  irgend  etwas  in  der  Welt  selbst^  irgend 
etwas  Wirkliches,  ein  Gedanke,  den  wir  durch  das  Mittel 
der  Sprache  ausdrücken.  An  der  Schwelle  stand  die  Ein- 
sicht, dass  die  jeweilige  Welterkenntnis  einee  Menschen 
immer  nur  einzig  und  allein  die  Sprache  selbst  war,  die 


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Kritik  Opnät». 


e45 


Sprache  dieses  Menschen  imd  seines  Volkes.  .Toder  einzelne, 
Ton  Kant  aufgefangen  bis  zum  Blödsinnigen,  hielt  für  seine 
Welterkenntnis  die  kleine  Summe  seiner  ererbten  und  er- 
worbenen Eiumeningen.  Er  mnssfce  sie  für  seine  Erkenntnis 
halten,  weil  er  nichts  anderes  kannte  und  kennen  kcnmte* 
Und  es  waren  schon  die  b^ten  M&nner  der  Menschheit, 
welche  die  Oberkommene  Ordnung  dieser  ererbten  und  er- 
worbenen Erinnerungen  ehrlieh  und  fleissig  neu  zu  ordnen 
unternahmen. 

Duidi  die  Jahrtausende  hindurch  gelangte  bis  su  un» 
eine  einfache  Ordnung  unseres  Wissens  tou  dem  Dingen. 
Der  Mensch  sah  die  Welt  und  f&hlte  sich  selbst;  er  suchte 
die  Welt  zu  begreifen  und  suchte  sich  selbst  su  begreifen. 
Kur  selten  in  AmnahmekOpfen  dSmmerte  der  WortUang 
auf,  der  eine  Befreiung  schien  Ton  allem  Irrtum:  dass  nie* 
mand  sagen  könne,  ob  er  selbst  in  der  Welt  enthalten  sei 
oder  die  Welt  in  ihm.  Aber  auch  dieser  spielend  lockendo 
W(«tldaiig  half  den  besten  Köpfen  nicht;  denn  sie  wussten 
nur  fühlend  einsam,  was  sie  wissend  fbhlten,  und  mussten 
spredien  um  auszudenken  und  auszusprechen,  zwischen  den 
Mensehen,  was  sie  einsam  zu  denken  geglaubt  hatten.  Es 
gibt  keine  Sprache  in  der  Einsamkat.  Wo  aber  der  Eine 
mit  dem  Andern  zusammentrat,  da  schied  sich  Einer  vom 
Andern,  da  schied  sich  das  Ich  von  der  Welt  und  der  alte 
Gegensatz  zwischen  Natur  und  Geist  bHeb  fortbestehen  im 
Denken  und  Sprechen  bis  auf  den  heutigen  Tag.  In  Natur- 
wissenschaften und  in  Geisteswissenschaften  ordnete  die 
Menschheit,  die  es  zu  Jeder  Zeit  so  herrlich  weit  gebracht 
hatte  wie  heute,  weil  jede  Zeit  ihre  eigene  Gegenwart  ist, 
ihre  ererbten  und  erworbenen  Erinnerungen. 

In  unzähligen  Bfichem,  voll  von  Worten,  ist  unsere 
heutige  Welterkenntnis  aufgespeichert  für  Mit*  und  Nach- 
welt, geordnet  in  Naturwissenschaften  und  Geisteswissen- 
schaften. Es  kümmert  uns  nicht,  dass  diese  Einteilung 
nach  Natur  und  Geist  einmal  Tendtet  sein  wird,  wenn  wir 
genug  wissen  werden,  um  nicht  mehr  zu  wissen,  was  Natur 
ist  und  was  Geist.   So  würden  unsere  Kataloge  unbrauchbar 


646 


YIII.  Wissen  und  Worte. 


werdent  wenn  einmal  unser  Alphabet  abgelöst  würde  durch 
ein  neues  Alphabet.  £s  ist  nur  vorläufig,  dass  der  Weli- 
katalog  eingeteilt  ist  nach  Natur  und  Geist 

Das  kümmert  uns  nicht;  aber  uns  kUmmei-t  seit  einiger 
Zeit  die  aufdämmernde  Ahnung  Ton  etwas  Entsetzlichem, 
dass  nämlich  kein  mzigcr  Mensch  vollständig  die  Worte 
versteht,  welche  unsere  Bibliotheken  füllen.  Jedes  Wort 
hat  eine  Geschichte,  eine  Geschichte  seiner  Formen  und 
eine  Geschichte  seiner  Bedeutungen.  So  wie  die  tiefe  Wir- 
kung der  Musik  auf  uns  nicht  erklärt  werden  kann  durch 
die  blossen  Verhältnisse  der  Töne  allein,  wie  erst  das  Mit- 
erklingen  sller  Obertöne  uns  so  ergreift,  als  Musik  uns 
ergreift,  ebenso  sind  die  Worte  der  menschlichen  Sprache 
nicht  zu  Terstehen  ohne  ihre  Geschichte.  Der  Zufall  der 
kleinen  persönlichen  Erfahrung  bestimmt,  was  der  Einzelne 
bei  den  Worten  sich  vorstellt.  Die  Sprache  ist  kein  Besitz 
des  Einsamen,  weil  sie  nur  zwischen  den  Menschen  ist; 
aber  die  Sprache  ist  auch  zwei  Menschen  nicht  gemeinsam, 
weil  auch  bloss  zwei  Menschen  niemals  das  Gleiche  bei  den 
Worten  sich  vorstellen.  Die  Worte  der  Geisteswissen- 
schaften haben  ihre  Geschichte,  die  in  dunkle  Zeiten  zurück- 
reicht. Ebenso  reiclim  die  Worte  der  Naturwisseiocliaften 
zurUck  und  wieder  zurttck.  Aber  nicht  nur  die  Worte 
haben  eine  Geschichte,  auch  die  Dinge  der  WiikUchkeit, 
auf  welche  die  Worte  sich  beziehen,  haben  eine  Entwicke- 
lung  gehabt. 

So  ist  das  Entsetzliche  gewiss,  dass  kein  sterblicher 
Mensch  die  Worte  seiner  Spradie  jemals  Tersteben  könnte 
mit  all  ihrem  historischen  Gehalt,  weil  seine  Lebenszeit 
und  seine  Fassungskraft  nicht  hinreichen  wUrden  zur  Auf- 
nahme dieses  Ungeheuern  Wissens,  dass  aber  auch  dann, 
wenn  es  einen  solchen  Menschen  gäbe,  seine  Worte  keine 
Wirklichkeit  bezeichnen  könnten,  weil  die  Wirklichkeit  nicht 
stQl  steht.  Wie  der  Mond  kreisend  auf  die  kreisende  Erde 
fUlt,  ohne  sich  ihr  dauernd  zu  nähern,  so  umkreist  das 
Wort  der  Menscbensprache  die  kreisende  Wirklichkeit  und 
kommt  ihr  nicht  näher.   Nicht  einmal  die  Geschichte  der 


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Kritik  der  Sprache. 


647 


Hensclilieit  kana  das  Wort  erfassen  uiid  wied«tim  ohne  die 
Oeechichte  seiner  selbst  bleibt  das  Wort  unfassbar. 

Man  hat  seit  hunderten  ron  Jahren  an  dieser  An- 
schauungswciäe  gebosselt  und  gebestelt.  Ibn  hat  es  lang- 
sam aufgegeben,  in  den  Katastrophen  allein  die  Geschichte 
der  Menschheit  zu  sehen,  in  Kriegen  und  Schlachten,  man 
hat  begonnen,  die  Knllaigeflchidite  der  Keuschheit  m 
«chreiben  und  die  Geschichte  der  Wissmchafben.  Aber 
wenn  es  einem  Überlegenen  Menschen  einmal  gelingen  sollte, 
eine  Geschichte  der  Wissenschaften  so  m  schreiben,  dass 
es  die  Geschichte  der  Mmscliheit  wire,  so  wäre  es  doch 
nur  eine  annselige  Geschichte  der  menschlichen  Sprache. 
Denn  was  wir  die  WiaaeDSchaften  nennen,  ist  ja  doch  nur 
heute  wie  zu  jeder  Zeit  das  Wort,  welches  nach  der  That 
erscheint. 

Wie  weit  entfernt  eine  solche  ideale  Geschichte  der 
Menschlieit,  eine  solche  ideale  Geschichte  der  Sprache  den- 
noch von  einer  Erkenntnis,  Ton  einer  Lösung  der  Welt^ 
rätsei  w&re,  das  fallt  erdrückend  Über  uns  zusammen,  wenn 
wir  in  diesem  dunklen  Schacht,  der  das  Denken  heisst, 
noch  eine  Stufe  weiter  zu  graben  suchen.  Alle  Worte 
unserer  Sprache,  sie  sind  ja  doch  nur  die  Erinnerungs- 
zeichen an  die  Vorstellungen,  die  uns  unsere  Sinne  ver- 
mittelt haben.  Was  aber  haben  unsere  Sinne  mit  der  Er- 
kenntnis der  Wirklichkeit  zu  schaflFen?  Vielleicht  haben 
andere  Tiere  andere  Sinne.  Vielleicht  steht  der  leblose 
Krystall,  der  sinnlose  nach  unserer  Sprache,  dem  Welt- 
rätsel unmittelbar  näher  als  wir.  Welcher  unbekannte  Zu- 
fall der  Eutwickelung  mag  der  Menschheit  gerade  ihre 
Sinne  geschenkt  haben?  Wenn  wir  das  deutlich  begreifen, 
dass  die  fünf  Thore  unserer  Sinne  zufällige  Schöpfungen 
sind,  wie  Breschen,  die  feindliche  Kugeln  iu  eine  Mauer 
geschossen  haben,  so  erkennen  wir  erst  völlig  den  Jammer 
unseres  Mühens  um  Erkenntnis.  Irgend  eine  feindliche  Be- 
rührung liat  in  Urzeiten  den  Arten,  welche  wir  Tiere 
nennen,  den  ersten  Anstoss  zu  der  Tendenz  gegeben,  Augen 
und  Ohren  auszubildeu,  auf  dereu  Fuuktioneu  die  grösste 


048 


VUL  Winen  und  Worte. 


Kaase  dessen  aufgebaut  waa  wir  unsere  Weltetfceoniaift 
nennen.  Was  in  WirUichkeit  vorgeht^  und  was  wir  heute 
mit  der  Sprache  d«r  Mechanik  Bewegung  nennen,  das 
kennen  wir  so,  wie  es  an  die  beiden  Bresehen  des  Sehens, 
und  Hdrens  herantntL  Man  erfOUe  «ich  doch  gaus  mit 
der  Resignation:  es  sind  suiUlige  Sinne.  Es  gibt  in  der 
Wirklichkeit  Erscheinungen,  die  wir  uns  erst  in  die  Sprache 
dieser  Sinne  ttberaetien  müssen,  um  sie  ttbechaupt  wahr^ 
nehmen  su  kennen.  Unsere  Welt  ist  die  Sinnenwelt  und 
unsere  Sinne  smd  Zu&Ilsenengnisse.  Was  sichtbar  ist- 
und  was  hOrbar  ist'  in  dem  grossen  Unbekannten  und  was« 
sonst  auf  unsere  andern  Zufollssinne  witkt,  das  haben  wir 
uns  gewdhnt  au&unehmen  und  unsere  Welt  su  nennen.. 
Aber  Jshrtausende  hindurch  blieben  die  Erscheinungen  am 
Magneteisenstein  und  sm  Bernstein,  Eischeinungen,  die  doch, 
die  Welt  so  weit  erfidlen  wie  Schall  und  Licht,  den  Mensdien 
nicht  wahrnehmbar,  bis  er  sie  sehen  und  hören  lernte.. 
Wenn  ein  anderer  ZufSaU  in  der  Urseit  der  Lebewesen 
ihnen  den  Anstoss  su  einer  Tendenz  gegeben  hfttte,  ein 
Sinnesorgan  fttr  Elektricitat  su  entwickeln,  so  wttrde  die^ 
Menschheit  eine  elektrische  Welt  kennen  und  wftre  dann 
vielleicht  nach  Jahrtausenden  und  aber  Jshriausenden  daia 
gelangt,  diejenige  Erscheinung  zu  entdecken,  die  uns  als. 
Licht  so  wohlbekannt  ist.  So  ist  es  der  ZufsU,  der  mit 
der  Menschhnt  gespielt  hat.  Nichts  ist  Erkenntnis  im 
menschlichen  Denken,  was  nicht  Torher  in  den  Sinnen  war». 
Und  nichts  kommt  in  die  Sinne  hinein,  was  nidit  sulUlig- 
die  Form  dieser  Sinne  ansunehmen  im  stände  ist.  Viel 
trauriger,  als  Goethe  es  dachte,  ist  sein  Wort  wahr: 

.Wär*  nicht  dna  Auge  sonneubaft, 
Die  Sonne  kOnnt'  63  nie  erbUcken." 

Nur  was  an  der  Sonne  ai^nhafb  ist,  das  kann  das  Auge- 
sehen, das  Sonnenhafte  bleibt  unsichtbar.  Und  nicht  einmal 
in  Worten  ausdrucken  können  wir  ganz,  was  wir  da  meinen*. 

Unsere  offizielle  Wissenschsft  begnfigt  sidi  mit  den 
sichtbaren  und  hfirbsren  Erscheinungen  derjenigen  Natur--^ 


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Kritik  der  Sprache. 


64» 


krifte,  die  offenbar  etwas  anderes  diid  ak  Licht  and  SehaB. 
Sie  glau1>t  sie  zu  kamen,  wie  wir  fremde  Poeeien  aus  Veber- 
seteungen  «i  kennen  glauboi.  Der  Gedanke  ist  ihr  noch 
kaum  gekommen,  dass  am  Ende  nicht  nur  die  hörbaren 
und  sichtbaren  Erscheinungen  der  unbekannten  Elektricität^ 
dass  am  Ende  gar  alles,  was  uns  umgibt  als  Schall  und 
Liditf  nur  die  stammelnde  Uebersetzung  unserer  Sinne  ist 
ans  einer  fremden,  fremden  Welt. 

Nur  vor  einer  einzigen  Erscheinung  hält  die  offizielle 
Wissenschaft  denn  doch  erschreckt  oder  ehrfurchtsvoll  inne 
und  gesteht,  sie  nicht  zu  verstehen:  vor  der  Erscheinung 
des  Lebens.  Und  wie  Kinder  streiten  die  ehrlichsten  Ge- 
lehrten darüber,  ob  man  von  einer  besonderen  Lebens- 
kraft sprechen  dürfe  oder  nicht.  Vor  kurzem  ist  da.s  ur- 
alte Wortgefeclit  neu  aufgenommen  worden.  Und  nur,, 
wer  durchdrungen  ist  von  der  Zufälligkeit  unserer  Sinne 
und  ihrer  Erkenntnisse ,  nur  der  kann  sich  truurif,^  ausser- 
halb de.s  Kampfes  stellen.  Glücklich  die  Streitenden.  Sie 
wissen  nicht,  dass  das  Leben  eben  auch  etwas  ist,  wofür 
wir  kein  Sinnesorgan  La^Hjn.  genau  wie  die  Elcktricität. 
Was  w^ir  an  unserem  eigt  ncn  Leibe  als  Reiz  und  als  Em- 
pHndung  kennen .  dafür  ist  unser  einziges  Sinnesorgjui  das 
dumpfe,  taubstumme  Gemeingefühl.  das  wir  nicht  befragen 
können.  Und  was  weiter  die  kleinsten  Lebenserscheinungeu 
sind,  die  organischen  Veränderungen  im  StoflF,  oder  in  der 
Enercrie,  oder  iu  der  Form  des  Lebewesens  (Stoff'.  Energie 
und  Form  werden  doch  wohl  nur  verschiedene  Worte  sein 
für  dieselbe  Sache),  sie  wandern  trotz  allen  Mikroskopen 
nicht  früher  in  unsere  Sinne  himin,  als  bis  sie  die  Zufalls- 
erscheinung der  Sichtbarkeit  angenommen  haben.  Warum 
wollen  wir  nun  der  guten  Sprache  es  versagen,  auch  diese 
Erscheinungen  zusammenzufassen?  Für  die  Erscheinungen 
des  Lichts  und  des  Schalls  brauchen  wir  keine  AI»  fr.iktion 
und  so  haben  auch  die  Worte  Licht  und  Sch  ill  keine 
abstrakte  Form.  Was  soll  aber  die  gute  Sprache  anlangen, 
wenn  sie  die  unemllichen  Erscheinungen  des  Lebens  mit 
einem  einzigen  Worte  bezeichnen  will?    Sie  sag^  Vitalität 


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650 


YIII«  WiMen  und  Wotte. 


wie  sie  ElekfcriciiSI  gesagt  hat  uad  meint  es  nicht  bdae, 
Sie  meint  es  auch  nicht  böse,  wenn  sie  im  Hunde  aller- 
jflngster  Lebensforscher  das  neu  aufgearbeitete  Wort  «Neo- 
Titalismus*  gebildet  hat  Wir  dürfen  es  nur  nicht  für 
eine  höhere  Eingebung  halten.  Wir  mflssen  nur  wissen, 
dass  die  tie&innigste  Sprache  nur  das  Stammeln  eines 
Kindes  ist. 

So  steht  denn  die  Menschheit  mit  ihrer  unstillbaren 
Sehnsucht  nach  Erkenntnis  in  der  Welt,  ausgerüstet  allein 
mit  ihrer  Sprache.  Die  Worte  dieser  Sprache  sind  wenig 
geeignet  zur  Mitteilung,  weil  Worte  Erinnerungen  sind  und 
niemals  zwei  Menschen  die  gleichen  Erinnerungen  haben. 
Die  Worte  der  Sprache  sind  wenig  geeignet  zur  Erkenntnis, 
weil  jedes  einzelne  Wort  umsdiwebt  ist  von  den  Neben- 
tönen seiner  Geschichte.  Die  Worte  der  Sprache  sind  end- 
lich ungeeignet  zum  Eindringen  in  das  Wesen  der  Wirk- 
lichkeit, weil  die  Worte  nur  Erinnerungszeichen  sind  für 
die  Empfindungen  unserer  Sinne  und  weil  diese  Sinne  Zu- 
fallssinne  sind,  die  von  der  Wirklichkeit  wahrlich  nicht 
mehr  erfahren,  als  eine  Spinne  Ton  dem  Palaste,  in  dessen 
Erkerlaubwerk  sie  ihr  Netz  gesponnen  hat. 

So  muss  die  Menschheit  ruhig  daran  verzweifeln,  je- 
mals die  Wirklichkeit  zu  erkennen.  Alles  Philosophieren 
war  nur  das  Auf  und  Ab  zwischen  wilder  Verzweiflung  und 
dem  GlQcke  der  ruhigen  Qlusion.  Die  ruhige  Yerzweif- 
lung  allein  kann  —  nicht  ohne  dabei  Uber  sich  selbst  zu 
lächeln  —  den  letzten  Versuch  wagen,  sich  das  Verhältnis 
des  Menschen  zur  Welt  bescheidentUch  klar  zu  machen 
durch  Verzichten  auf  den  Selbstbetrug,  durch  das  Ein- 
geständnis, dass  das  Wort  nicht  hilft,  durch  eine  Kritik  der 
Sprache  und  ihrer  Geschichte,  Das  w&re  freilich  die  er- 
lösende That,  wenn  die  Kritik  gettbt  werden  könnte  mit  dem 
ruhig  Terzweifeinden  Freitode  des  Denkens  oder  Sprechens, 
wenn  sie  nicht  gettbt  werden  mOsste  mit  scheinlebendigen 
Worten, 

In  einer  Stunde  solchen  Gefühls  habe  ich  meinen  Ver- 
such begonnen  und  nur  immer  verzögert,  dem  Begleiter  auf 


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KikÜk  der  Sprache. 


651 


meinem  Wege  zuzurufen,  was  icli  ihm  jetzt  zu  spät  sage, 
und  was  mein  tiefstes  Gewissen  zu  raeinen  Worten  oder 
Gedanken  sagt,  die  Worte  Dantes  ^Paradiso  Ii): 

,0  voi  che  eiete  in  pioeioletta  barca, 

Desideroai  tl'aseoltar,  sep^iti 

Dietro  al  mio  le^no  che  canfando  varca, 

Tomate  a  riveder  Ii  voälri  liti. 

Hon  vi  mettete  in  pelago;  chö  fonei 

Perdendo  me,  rinuurrwle  «mamtL 

L'Mqoft  <^*io  preudo,  giammai  noa  ti  Mone/ 


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Re  gl 


s  t  e  r. 


A. 

A  =  A-b  III.  m 

Abel  II.  m  III.  m 

Abstammungstheorie ,  Geschichte 
der  II.  ßlO.  —  Abstammung  und 
Sprache  II.  625. 

Abstraktion  L  Ai^  II.  429.  III. 
—  Abatruktionen  II.  687. 

Adelung  II.  liLL  fILL  III.  UML 

Adh^mars  ,R«:voIution8  de  la  mer* 

II.      tiüä  f. 

Adjektiv  II.  222.  III.  M f.  — Gegen- 
sätzliche A^iekt.  III.  m—  Art- 
bildende  Adjekt.  III.  lüL 

Adverbium  Iii.  102.  f.  —  Adverb, 
u.  Ca£us  III. 

Aehnlichkeit  L  SSL  ■i2L  —  Aehn- 
lichkeit  u.  Sprache  L  323* 

Aeon  II.  QM. 

Aeethetik  L  3Ö.  —  Aesthetik  der 

Tiere  L  IQA. 
Aether  L  2M. 
Affen.«p räche  II.  322. 
Afßuitilt  III.  ISL 
Agglutinierende  Sprachen  II.  2äh^ 

—  Deutsche  Agglutination  II. 

im. 

Aha -Theorie  II.  MIL 

Akkusativ  III.  22. 

Älberluä  L  52  f. 

d'AIembert  III.  143. 

Algebra  der  Logik  III.  HL  4M  f. 

Allheit  III.  114. 


Allwissenheit,  Gesetze  und  II.  2^ 

ui.  aaL 

Alphabets,  Invasion  des  II.  .558. 
Alter  dca  Menschenge&chlechta  II. 
651. 

Altem  der  Worte  L  41L 

Amöben,  Weltbild  der  L  3f>Q. 

Analogien,  alte  II.  122^  —  Falsche 
Analoffie  II.  82^  —  Geläufige 
Analogien  II.  138.  —  Unbe- 
wuBste  Analogie  II.  186. 

Andresen  II.  305.  III.  2L 

.Angeboren"  II.  354.  718. 

Anomalie  II.  123. 

Anschauung  und  Wort  III.  280. 

—  Anschauung  durch  Worte 
L  113.  —  Keine  Anschauung  L 

m 

Ansuhatz  III.  &L 
Anthropomorphismus  III.  831. 
Apelt  III.  4M.  4fi3. 
Apnerception  III.  2Ö2.  334.  — 
Unbewusste  Appercepiion  L  487. 
Apriorisch  =  angeboren  II.  718. 

—  Apriorität  11.  717.  III.  2Ö4* 

Archiniedes  L  413.  III.  IfiL 
Aristarchoe  II.  122  f. 
Aristophanes  II.  130. 
Aristoteles  L  83.  225.  435.  53iL 

632.  II.  4Ü  f.  IHl  12iL  lai  f. 

m  413  r.  731.    III.  4.  Ü4. 

21Ü  f.  aiLL  4LL  423.  512.  608. 
Artbegriffe,  Spiache  und  II.  705. 


Register. 


653 


III.  2S8.  —  Art-  oder  Grad- 
unterschied II.  379. 

Artikel,  bestimmter  und  unbe« 
fltimmter  III.  22^ 

Artikulation  II.  333.  32ß.  439. 

Assoziationen  L  SRÖ.  —  Aasozia- 
tionen  und  Interesse  L  — 
Assoziationen  und  Sprache  L 
422»  —  Aäsoziationsgesetze  L 
4M.  M2.  —  Assoziation  beim 
Dichter  L  444.  —  Assoziation 
beim  Gelehrten  L  447.  —  Asso- 
ziation beim  Redner  L  -14.5.  — 
AlK>s  Denken  Spiel  von  Asso- 
ziationen II.  547. 

Astronomie  II.  181. 

Atomistik  III.  Ifi2»  —  Atombegriff 
III.  ML 

Aufgabe  unlösbar  II.  732. 

Aufmerksamkeit  L  343.  493.  513. 
—  Aufmerksamkeit  leistet  Ar- 
beit L  496.  —  Aufmerksamkeit 
und  Gedächtnis  L  493—554.  — 
Aufmerksamkeit  L  .5 IB.  —  Auf- 
merksamen Denken  L  501.  — 
Aufmerksamkeit  und  Interesse 
L  42S.  —  Aufmerksamkeit  und 
Logik  L  522.  —  Aufmerksam- 
keit und  Wille  L  5Ö4.  52Ü.  - 
A  ufmerksamkeit  und  Zivilisation 
L  504.  —  Missbrauch  der  Auf- 
merksamkeit L  525. 

Auguatinus  L  22Ü.  III,  604. 

Auslösung  L  2äiL 

Aussen  und  innen  L  261. 

Australneger,  der  gelehrte  II.  SiiiL 

Avenarius  III.  881. 


B. 

Bacon  L  83.  III.  HL 

Bailly  II.  Efifl  f. 

Bain  L  22ix  22S  f. 

Barbara  III.  ^ 

Barbarensprachen  II.  42. 

Baumnamen  IL  642.  —  Birnbaum 
II.  211. 

Becker,  K.  F.  III.  lülL  IM. 

, bedeuten'  II.  222.  —  Bedeutungs- 
wandel L  II.  257—287.  — 
Laut-  und  Bedeutungswandel 
II.  259.  —  Minimaler  Bedeu- 
tungswandel IJ.  261. 

Begleitumstände  II.  150. 


Begriff  und  Ding  III.  225.  —  Be- 

griff  und  Wort  III.  2fi5  ff.  — 
egriffe  und  Bilder  III.  2M.  — 
Begriffe  und  Urteil  III.  2öS.  — 
BegrifTaumfang  und  -Inhalt  III. 
284.  292.  ~  .Begriff«  III.  287, 

—  Begriflsidcale  III.  201.  mi. 

—  Einl^'ilung  der  Begriffe  III. 
310.  —  Begriff  und  GeseU  III. 
480. 

Beispiele  II.  IB^ 
Belletristik  L  44. 
Benfey  n.  45.  .5(>  f.  614. 
Bequemlichkeit,  Gesetz  der  II. 
25 

Berkeley  L  lüL  452.  II.  492. 
Beschreibung  III.  842. 
Betonung  11.       53Ü.  III.  m. 
Bewegung  III.  iQh^  —  Worte  Be 
wegungserinnernng  L  4ßQ.  467. 

—  Sprache  ist  Bewegung  L  18.S. 

—  Geist  und  Körper  sind  Be- 
wegung L  469. 

Beweis  III.  487.  —  Geometrische 
Beweise  III.  492.  —  Beweise 
Hypothesen  III.  494. 

Bewusstscin  L  555  —  582.  —  Be- 
wusstsein  und  Erinnerung  L  515. 

—  Bcwusstsein  und  Schlaf  1.563. 

—  Bewasstsein  und  Sprache  L 
.'»71.  —  Bewusstes  Denken  L  45  s. 

—  Geschichte  des  Bewusstseins 
L  565.  —  Worte  im  Bewusstseiu 
L  m 

Bibel  II.  33.  50  f. 

Bichat  L  55L 

Biese  IL  i22  ff. 

Bilder  (Erinnerung)  L  502. 

Bilderschrift  II.  552. 

Biologie  und  Sprachwissenschaft 

II.  m 

Bismarck  II.  122.  HI.  Ififi.  412. 
622. 

.Blatt"  II.  iäL 
.blau«  II.  699. 

Blickpunkt  des  Gedächtnisses  III. 

252. 

Blödsinn  II.  679. 
Böhme  L  4M.  in.  g{LL 
Bopp  II.  52  f  Sa.  in.  235,  252. 
616. 

Botanik  III.  511.  —  Botanische 

Klassifikation  III.  513. 
Brahe  L 

Bräuche  II.  525. 


654 


R«gi8t«r. 


B|M,  Michel  II.  m  m  21£  f. 

.m  391.  462. 
Bridgnian,  Laura  L  395. 
Broca  L  M8. 
Brosses,  de  II.  3fiIL 
Bruchmann  11.  47fl  f. 
Brugmann  II.  8^       lüL  2M. 
Brücke  L  EU. 
Bruno  L  SiL  III. 

Buchdenken  II.  &7Ü.  —  Vowtel- 
hm^loses  Buchdenken  II.  590. 

Buchdrutka,  Plinflusa  des  II.  h&l. 
—  Vernichtung  aller  Bücher 
II.  öfiL  ~  Der  Buchgelehrte  II. 
571.  —  Die  Buchkultur  II.  530^ 

Büchner  III.  m  üÜfi. 

Buchstabenschrift,  Mängel  der  II. 
fi7fi. 

Buckle  II.  12- 

Buffon  L  m  III.  m 

Bürger  II.  m 

Busse  L  25fi» 

Butler  L  iAh. 


C. 

Calvin  L  22fi. 

Cäealpinus  III.  ^02.  514. 

Cäsar,  J.  II.  132. 

Celarent  III.  MB. 

Chemie,  Sprache  der  III.  505. 

Chinegtioi  bei  uns  II.  832.  —  Chi- 
nesisch II.  25.  —  Gram- 
matik und  Loff'xk  der  Chinesen 
II.  33L  —  Cbiut-i^ieche  Schrilt- 
sprachc  11.324.  —  Innere  Sprach- 
forni  der  Chinesen  II.  338.  — 
ChineBische  Schule  II.  326-  — 
Chinesische  Zukunft  II.  583. 

Christentum  und  Sprachwissen- 
schalt  II.  M. 

Chronologie  II.  (M. 

Cicero  II.  112.  m  III.  m  m 

Cohen,  IL  III.  ML 

Common  sense  und  Vererbung  II. 

727. 
Comte  L  3D6. 
Condamine,  La  II.  6.38. 
Condillac  IL  3ÄI  f. 
Copula  III.  25- 

Cossmann,  P.  N.  II.  721.  III.  51IL 
Curtius,  G.  II.  84.  JM,  im  f.  235. 

f>.30.  045. 
Cuvier  II.  aSL  III. 


D. 

Dagnerre  III.  ■'»42. 
Dante  L  125  f .  53S. 
Darii  lU.  m 

Darwin  L  fi4  f.  3M  f.  m  H.  23. 

22  f .  sfifi  f .  m  721.  m.  m 

2afi-  1,604  f.  —  Darwinismus  II. 
721.  III.  m  530.  —  Darwi- 

niBmuB  und  Sprache  II.  394.  — 
Darwiuismus  und  Sprachwissen- 
schaft II.  22. 

Definition  III.  233  f.  —  Deanition 
und  Aufmerksamkeit  299. 

Deiktisch  L  42.. 

Delboeuf  L  öTL 

Delbrück,  B.  II.  640.  734  f. 

D«'mokrit08  L  3DÖ.  IL  41öi 

Demosthenes  IL  319. 

Denken  L  HL  m  —  SÜUes 
Denken  L  —  Wirkliches 
Denken  L  2iL  -  Wortloses 
Denken  L  llü  —  Denken  und 
Sprechen  L  lt>4— 216.  U.  ßS. 
676.  III.  2fiiL  —  Denkgc'wobu- 
heit  L  —  Denkge^etze  III. 
273.  ^51)  ff.  —  Denkgesetxe 
Tautologien  III.  364.  —  Denken 
ohne  iSprache  L  l(i8.  —  Denk- 
muschine  III.  184. 

Descartes  L  53.  175.  221.  m 
243.  Aia.  ßM  f.  iL  691.  711. 
III.  2SL  53iL  ^ 

Deutsch,  was  ist?  IL  156. 

Deutsche  Philosophie  III.  534^ 

DezimalBystem  III.  139. 

Dichtersprache  IL  l2iL 

Dienende  Stellung  der  Philosophie 

Diener  am  Wort  L  163. 
Differentialbegriff  III.  IM  f. 
Ding  an  sich  L  303. 
Dinge  und  Worte  III.  M  f. 
Diodoros  TL  598. 
Dioskorides  III.  513. 
Dodge  IL  m 
Doppelsterne  III.  478: 
Dove  L  ÜÜ. 

Dreisinnigen ,  Assoziationen  der 

L  m 

Dritten,  Satz  vom  ausgeschlosse- 
nen III.  325. 

Druckfehler  und  Sprechfehler 
IL  3£4.  —  Drucksprache  II. 
5M. 


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Regüier. 


655 


Da  Bois-Reymond  L  21iL  2ii5^ 

sas.  u.  m  III.  m 

Duchenne  L  4^>6. 
Duns  ScotuB  III.  3()G. 
Dnodezimalsystem  II.  635. 


E. 

Eckart,  Meister  L  7B.  III.  23^. 

Edda  L 
Edkina  II.  25. 

Eigennameo  II.  4'27.  — ■  Eigen- 
namen unbestimmt  III.  87. 

Eigenschaft  und  Wirklichkeit 
III.  93. 

Einheitabegriff  III.  142^ 

Ein-  und  mehreilbige  Sprachen 
II.  232. 

Einsamkeit  L  gg, 

Einöbung  L 

Einverk'ibende  Sprachen  II.  298. 

—  Deutsche  Einverleibung  II. 
3öfi. 

Einzelding  III.  223. 
Eiszeit  II.  653.  —  Periodische  Eis- 
zeiten II.  df^^. 
Element  III. 
Ellipse  III.  2ötL 
Elster,  E.  II.  423. 
Ende,  das  L  480. 
Enge  des  Bewusstaeins  L  90.  &fi2. 
Englisch  II.  SIL 

Entdeckung  dea  Neptun  III.  403. 

Entlehnung  III.  132. 

Entstehung  der  Sprache  II.  389 
bis  465.  —  Entstehung  der 
Sprache  durch  Gesetzgeber  L  LL 

Entwickelung  II.  2ü2.  III.  ßÜL  — 
Entwickelungsbypothese  II.  391. 

—  Abkürzung  der  Entwicke- 
Inngszeit  L  fif. 

Epikuros  III.  äI2.  Ö8ü. 
Erasmus  II.  166. 
Erbfrack,  der  L  bL 
Erblichkeit  und  Anpassung  II.  431. 
Erdmann,  B.  II.  SSSx 
Erdmann,  J.  E.  L  48.^. 
Erdmann.  K.  0.  L  4£5. 
Ererbte  Disposition  II.  710. 
Erfahrung  und  Denken  II.  714. 
Erfindung  L  14-  II.  •^•'»S 
Erhaltung  der  Energie  L  212x  2^ 
Erinnerung,  Sprache  ist  II.  240.  — 
Jede  Erinnerung  Aktion  L  417. 


Erkenntnistheorie  L  628.  —  Logik 

und  Erkenntnistheorie  III.  408. 

—  Erkenntnis  und  Wirklichkeit 
L  616.  —  Erkenntnisgrund  ist 
das  Wort  III.  m  —  Erkennt- 
nisgrund und  falscher  Begriff 
III.  afiL 

Erlernung  der  Muttersprache  II. 
42fL 

Erraten  des  Sinnes  III.  2ML 
Erwartung  II.  32Ü. 
Esqm'rol  L  531. 
.essen"  III.  QtL 

Ethnologie,  Sprachwissenschaft  u. 
II.  603—671. 

Etymologie  II.  198—230.  —  Gren- 
zen der  Etymologie  II.  212.  — 
Moderne  Etymologie  II.  202.  — 
Wert  der  Etymologie  II.  1311 

—  Etymologie  der  Alten  II.  IM. 

—  Etymologie  und  Menschwer- 
dung II.  680.  —  Et3*mologi8che 
Möglichkeiten  II.  697. 

Eucken  III.  512. 
Euler  II.  ÜÜL 
Euphemismus  L  ü£> 
Evolution  III.  6ÜL 
Exposition  III.  232. 


F. 

Farben  und  Farbenworte  II.  641. 
701. 

Farbeneinteilung  menschlich  II. 
704. 

Fechner  L  233.  253  f.  2Mx  842. 

III.  SQ.. 
.Feder"  II.  28L 
Fehler  II.  L4L 
Ferio  III.  45L 
Ferner  L  m 
Fetische,  Wort-  L  15Ü. 
Feuer  III.  SQ4. 
Fichte  I.  600.  III.  376. 
Fick  II.  52^  til^ 
Firdusi  II.  ZL 
Fixe  Ideen  L  .'ilO. 
Fixierung  der  Sprache  II.  13i 
Flechtig  L  39fi.  419.  544.  624. 

II.  113. 
.flechten«  II.  698. 
Flexion  III.  43.  —  Flexion  aus 

Richtungaworten    III.  — 

Flexioofilosigkeit  II.  äÜÜ. 


€56 


Register. 


Fluch  der  Sprache  L  SL 
Flüche  L  SlL 
Folgerung  III.  aaL 
Fontane  I. 
Fürstcmann  II.  22h 
Forster,  G.  II.  12. 
Fortschritt  III.  ÖM^ 
Fortschritt  im  Denken  L  488. 
Fortschritt  sprachlos  L  589. 
Fraas  II.  G53. 

Fragestellung»  neue  II.  446. 
Franke,  0.  II. 

Fremde  L  IM^ 

Fremder  Sprachen ,  Verachtung 

II.  2a. 

Fremdsilben  II.  fiSL 

Fremdwörter  unbildlich  II.  525. 
—  Fremdwörter  nur  kultur- 
historisch erkennbar  II.  629. 

Freytag,  G.  L  12fi.  11.  2lL 

Fulgentius  II. 


I». 

Gabelentz,  v.  d.  II.  23,  122.  311  f. 

m 

Galenos  III.  ML 

Galilei  L  fiSü.  II.  81.  III.  42Ü  f. 

Gall  L  22Il 

Galvanismus  L  195. 

Garner  II.  322. 

Gassendi  L  iä2.  fi^ 

Gattungs Worte,  individueller  Ge- 
brauch der  II.  202. 

Gay-Lusaac  III.  IfiL 

Geljilrdensprache,  Laut-  und  II.  ft81. 

Gebetwoi-te  L  156. 

Gebhardt  II.  bAL 

Gedilchtnis  L  LüL  292.  402—492. 
IJ.  730.  —  Gedächtnis  für  Be- 
ziehungen L  123.  ~  Gedächt- 
nis und  Bewu8st.-*ein  L  415.  424. 
Ahhi  547.  —  Gedächtnis  und 
Ich  L  5SL  —  Gedächtnisfehler 
L  42Ü.  —  Falsches  Gedächtnis  L 
472.  —  Gedächtnis  und  Sprache 
L  3B6.  4Ü8..  —  Automatisches 
Gedächtnis  L  420.  —  Gedächtnis 
und  Gewohnheit  L  557.  —  Kau- 
salität ist  Gedächtnis  II.  723.  — 
Gedächtnis  aktiv  L  412.  —  Er- 
erbtes und  erworbenes  Gedächt- 
nis II.  713.  —  Gedächtnis  und 
Erblichkeit  L  HL  —  Auflösung 


des  Gedächtnisses  L  541.  — 
Geschichte  des  Gedächtnisses  II. 
708.  —  Organ  des  Gedichte 
nisses  L  543.  —  Gedächtnis,  und 
Sinne  L  405.  —  Tiergedächtnis 
L  üü. 

Gedankenzeichen  II.  -575. 

Gefühle  L  SIL  —  Gefühlswert 
L  12Ü. 

Gegenwart  III.  35- 

Gehen,  das  II.  IL  III.  60. 

Gehirns,  Geschichte  des  II.  706. 

—  Differentialrechnung  des  Ge- 
hirns L  479.  —  Gehirnpbjraio- 
logie  L  209. 

Geiger,  l.  L  5S3.  II.  12S.  ISä  f- 

m  222  ff.  696  f.  III.  m 
Geist  der  Sprache  II.  20. 
Geistiffe.s  II.  L 

Geisteswissenschaft ,  Natur-  oder 

II.  a. 

Gei.streich  L  137. 

Gemeinsprache  II.  161. 

Genie  und  Nachahmung  L  5M^ 

—  Verrückte  Genies  L  539. 
Genitiv  III.  15. 

Geoffroy  St.  Hilaire  III.  530. 
Geruchsprache  unmöglich  L  412. 
Geschichte  II.  12.  —  (Jeschichte 
und  Sprachwisseoschail  II.  671. 

—  Geschichte  der  Sprachwissen- 
schaft II.  33—118. 

Geschlecht  III.  2i  f. 

Geschwindigkeit  des  Sprachwan- 
dels II.  ^ 

Gesetze  L  52.  II.  122.  III.  Sli  — 
Kreislauf  von  Wort  und  Gesetz 

III.  18fi.  —  Gesetze  in  den 
Worten  III.  575.  —  Gesetz  und 
Notwendigkeit  II.  212. 

Gesichtspunkt  III.  3fiL 

Gespenster  III.  338. 

Gewohnheit  L  bhh± 

Gleichheit  lU.  im 

Goethe  L  8ß  f.  K)2  f.  m  H.  42. 
64.  2L  m  157  f.  4S5  f .  ^  f. 
520.  III.  21ia.  aiL  ilÄ.  452. 
6<)4.  640. 

Götter  sind  Worte  L  152.  —  Worte 
sind  Götter  L  153. 

Göttlicher  Ursprung  II.  353. 

Grammatik  L  m  IT.  Ui  —  Philo- 
sophische Grammatik  III.  2tLL 

—  Grammatik  und  Logik  III.  L 
Grasaerie,  de  la  III.  2i 


Register. 


657 


Gravitation  L  ß2fi»  III.  152.  4ÜL 
549. 

Griechen  II.  40.  lül. 

Grillparzer  L  (>44. 

Grimm,  J.  II.  22.  53  f.  HR  f.  IfiL 

257.  305.  354.  SIL  HI.  lÜL 
Grund  III.  Satz  vom  Grunde 

III. 

Grundbegriffe  L  281. 
Gutzkow  L 


IL 

Haberlandt  L  250. 

Haeckel  L  2li  242  f.  m  II. 

4ÜÖ.  üia.  Hl.  54fi.  bäiL 
Hall,  St.  L  m 
Haller  III.  ÖS.  523. 
Hamann  L  Sül  f.  041  f.  II.  49  f. 

iSfi.  735. 
UarmB  III.  ih^ 
Hamack  III.  635. 
Hartmann  L  525  f.  II.  4S.  4M. 

III.  Ö32. 
Harvey  III.  528. 

Hauptmann,  G.  L  113.  II.  120-  3152. 

Haupt-  und  Nebensatz  III.  19<i. 

Hebbel  III.  425. 

Hebräisch  II.  2aL 

Heer,  0.  II.  ßfiL 

Hegel  L  23.  fi5  f.  m  022.  II.  48. 

üü.  142.  ISO.  III.  3L  lJß2.  282. 

312.  3M.  •'■55. 
Hehn  II.  fil2. 
Heine  II.  645.  III.  525. 
Heiterkeit  L  83. 
Heliotropiemus  L  .352. 
flelmhollz  L  115.  3D1L  342.  63ß. 

II.  AM.  ÜM.  III.  lüH. 
Holvetius  L  433. 
Herbart  L  515.  522. 
Herder  L  2112.  II.  42  f .  3M  f ■  43fi. 
Hering  L  4Ü2.  452.  546  f. 
Herodotos  II.  4Ö4. 
Herschel  III.  423. 
Hesiodos  II.  122. 
Heyse,  P.  II.  142.  355. 
,hie*  III.  121. 
Hlonipa  II.  112. 
Hobbes  L  4Ü2.  635. 
Höffding  L  5fiü. 
Holtzmann  II.  S2. 
Homeros  L  84  f.  14S.  H.  24.  35  f. 

85.  122.  28Ü.  422. 
Mauthner,  Beiträge  zu  einer  Kr 


.hörich«  III.  222. 
Hugo,  V.  L  12L 
Humboldt.  A.  v.  III.  52L 
Humboldt,  W.  v.  II.  56  ff.  1Ö5  f • 

225.  538. 
Hume  L  a£  238..  435.  631.  II.  422. 

III.  128. 

Hundesprache  II.  37 ß.  —  Mytho- 
logie des  Hundes  II.  300. 
Hyazinthe  III.  512. 
Hyperästhesie  L  322. 
Hypnose  L  42. 

Hypothesen  und  Worte  III.  482. 

428  f.  545. 
Hysteron-Proteron  III.  248. 


Ibsen  III.  242.  333. 

Ich  L  522.  —  Ich  der  Kinder 
L  602.  —  Entstehung  des  Ich 
L  fi05.  —  Ich  gemeinsames 
Objekt  III.  IB.  —  Ich  und  die 
Welt  L  602.  614.  —  Icbgefühl 
L  595—616.  —  Ichgefühl  eine 
Tausch  ung  L  606.  —  Doppel- 
Ich  L  602. 

Identität,  Satz  der  III.  366. 

Ignorabimus  L  265. 

Indianer  II.  300. 

Indikativ  II.  465. 

Individualität  L  491.  —  Indivi- 
duum III.  fil9.  —  Individual- 
Psychologie  L  20^.  —  Emp6n- 
dungsindividuen  III.  620. 

Individualsprachen  L  fi,  182.  — 
Beispiel  individueller  Sprach- 
en twickelung  II.  173. 

Induktion  III.  Inl  ff.  —  Deduk- 
tion und  Induktion  III.  457.  — 
Induktion  und  Licht  III.  4.">9. 
—  Induktive  Be^riffsbildung 
IIT.  kil.  —  Induktion  und  Ab- 
straktion III.  4fi9.  —  Geschichte 
der  Induktion  III.  477.  —  In- 
duktion und  Schluss  III.  482. 

Innere  Sprachform  II.  fiL  —  In- 
nere Sprach  form  ist  der  Sprach- 
gebrauch II.  IL 

Instinkt  und  Wunder  II.  322.  — 
Instinkte  L  6L  II.  370. 

Integration  III.  609. 

Interesse  L  357.  389.  —  Interesse 
der  Amöbe  L  263.  —  Interesse 

der  Sprache.   III.  42 


658 


Register. 


und  Gedächtnis  L  Sfil.  —  In» 
tereue  und  Artbegriff  III.  13. 

Interjektionen  II.  441. 

leoHerung,  deutsche  II.  304. 

Iterativum  III.  13, 


J. 

Ja  und  Nein  III.  322. 
Jacobi,  F.  L  m  a2L  fiÜ 
Jaeger.  G.  II.  fiI2. 
Jahr  m.  474, 
Jerusalem  L  3M^  U\.  SSI. 
Jhering  II.  6M.. 
JodI  L  26a  .m  56£L 
Jolly  L  12.  >ASL 
Journalisten  I^  189. 
Judentum  L  1.'>7. 
pjudicium*  III.  317. 
Junggrammatiker  II.  SS.  SiL  lÖiL 
257. 


Kant  L  EL  238.  Ä  21L  ■'>8fi. 
ÖSL  II.  8.  ai.  iS.  fia.  22.  Öfi.. 
181.  m        4il2  f.  711.  716  ff. 

721. 780.  III.  L  m  2aL  am 

380  f.  42&^  588.  (305.  61  (t. 
Kataclirese  II.  529. 
Kausalbegriff  L  fi2L 
Kansalität  und  Zweck  III.  252. 
Keilschrift  II.  SU. 
Kekul^  III.  IQh.  5fiL 
Keller.  G.  III.  SIL 
Kenntnis  der  eigenen  Sprache  L 18, 

—  Kenntnis  fremder  Sprachen 
L  20, 

Kepler  III.        398  f. 

Kemer,  J.  L  21fi. 

„Kpuschlaram*  II.  ISL 

Kindersprache  L  601.  II.  278.  808. 
401.  —  Spracherfindung  der 
Kindpi-  II.  4öi,  —  Bitte  des 
Kindes  II,  462.  —  Kindersprache 
und  Geisteskrankheit  II.  424.  — 
Kind  und  Hühnchen  II.  iQQ,  — 
Mutter  und  Kind  II.  — 
Zeitbegriff  der  Kinder  II. 

—  Z  u  t  a llslaute  der  Kinder  II.  il2. 
Kirchhoff  III.  343. 

Kjerulf  II.  f. 

Klassifikation  der  Sprachen  II.  288 


bis  3ÄL  —  Klassifikation  L  31L 
347.  —  Gegenwärtige  KJassi- 
fikatioD  II.  2SS.  —  Morpho- 
logi-sche  Klassifikation  II.  289. 

—  Klassifikation  nach  der  Schät- 
zung II.  313. 

Klassen,  gleiches  Sprachgefühl  bei 
verschiedenen  LI.  3ö2. 

Kleist,  E.  V.  III.  5& 

Kleist.  H.  V  L  52^  II.  m 

Klingklaug-Theorie  II.  448. 

Kluge  II.  m  2üi  fi2ä. 

Knigge  II.  160. 

.Koch"  II.  fiAiL 

Konfutse  II.  2&  f. 

Konjunktionen  III.  192. 

Konkrete  oder  abstrakt«  Bedeu- 
tung II.  238. 

Kontamination  II.  515. 

Konvention  II.  553. 

Koordinatensystem,  geistiges  III. 

m 

Kopernikus  L  292.  iäL. 
Kömer  II.  fiL 

Kraft  L  m  II.  442.  —  Kraft  und 

Stoff  III.  IfiL  5fi4. 
Krankheit  II.  ^ 
Kreifibilder  der  Logik  III.  BBL  42D. 
Kritik  der  Sprache  L  102,  11.  315. 

III.  535.  fi3a.  fi42x  —  Kritik  der 

Sprache,  einzige  Wissenschaft 

L  tiSfL 
Krug  L  648. 

Krystallographie  !IT.  .5 08. 

Kultursprachen  III.  223. 

Kunst,  Nachahmung  der  II.  541. 

—  Kunst  immer  Sinnenreiz 
L  93i  —  Sprache  als  Kunst- 
mittel L  8L 


L. 

Lachen  und  Sprache  III.  641.  — 

Weinen  und  Lachen  II.  455. 
La  Mettrie  L  WL 
Landauer,  G.  L  &8. 
Lange  L  2aL  m  III.  Ml  f- 
Langeweile  III.  125. 
Laplace  L  229. 11.8l>.  181.  III.  163. 
Larochefoucauld  L  389. 
Lasswitz  L  257. 
Latham  II.  632. 

Lauteleroente.  Wandel  der  II.  214.- 
Lautsprache  II.  556. 


Register. 


659 


Lavoiftier  L  2M.  ifia.  III. 
Lazarus  IL  I^L  4M. 
Leben  L  282. 

Lebensdauer  der  Sprachen  11.  647. 
Legende,  die  IL  tiQ3. 
Lehnwörter  II.  622. 
Leibniz  L  263.  322.  II.  325.  351  f. 

4ai  f.  filL 
Lepsius  II.  25. 
Lersch  IL  197. 
Leskien  IL  8L  äiL 
Lesaing  L  2L  102.  120  f .  320. 

II.  m  III.  5ä  f.  lüL 
Lichtenberg  III.  IM 
Liebe  L  31L 
Liebermann,  M.  L  äi. 
Liebmunn  L  242.  285. 
Lindau,  P.  L  filL 
Linguistik  und  Historie  II.  608. 
Linnt  IL  m  HL  28fi^        51fi  f. 
Lippert  L  583. 

Littrd  II.  167. 

Locke  L  1Ü5.  LZ5.  22L  SIL  iä2. 
5M.  II.  8.  428  f.  ^  m  717. 

III.  288.  380. 

Logik  II.  —  Logik  und  Syntax 
III.  2M.  —  Moral  und  Logik 
III.  32Ö.  —  Lof^iken  IT.  ßfL  III.  3. 
—  Logik  der  iSprux^he  IL  fiS.  — 
Sprache  und  Logik  II.  filfl^  — 
SprachwiBsenechaft  und  Logik 
II.  iS. 

Lokalisation  L  22fi. 

Lombroso  L  532.  53L 

LoUe  L  213.  IH.  3Ü3i  m 

Löwen  des  Mark  Aurel  L  145. 

Lucretius  II.  läL  HL  522. 

Lüge  L  2a. 

Luther  L  44.  122.  II.  H12.  182.  — 
Luther«  BibplObersetzung  II.  5ß2. 
Lyell  L  ai2.  II.  ßi9  flF. 


Macanlav  L  82. 

Mach,  E.  L  Söfi.  III.  L  84.  18Ö. 

18:..  83r). 
„machen*  III.  ti2. 
Macht,  Worte  eine  L4L  142—146. 
Major  und  minor  II.  683. 
Malerei  L  M. 
Männersprache  L  54. 
Marlitt  L  12(). 
Marmontel  III.  58. 


Marschall,  Leutnant  D.  18ät 
Marty  IL  im.  702. 
Materialismus  L  228.  IH.  558.  — 
Materialismus  und  Philosophie  HL 

5d2. 

Maeterlinck  L  IKt  f . 

Maupertuis  II.  358. 

Mauthner,  L.  L  2S0. 

Meiner,  J.  B.  HL  2Ü1. 

Mendelejew  III.  517. 

Mendelesoho,  M.  L  32L 

Merkmal  III.  fi4. 

Merscnne  L  402. 

Metagrammatik  L  '27  L 

Metapher,  die  II.  465—549.  — 
Metnphorik  II.  3Ü.  —  ünbe- 
wusate  Metapher  II.  477.  —  Me- 
tapher und  Anpa^ung  IL  14fi. 

—  Metapher  und  Apperc!»ption 
II.  478.  —  Metapher  und  Asso- 
ciation II.  544.  —  Metapher  und 
Situation  HL  342.  —  Meta- 
phorische Krweiterung  II.  505. 

—  Hyperbeln  in  der  meta- 
phorischen Erweiterung  IT.  .'ir>7. 

—  Metaphorische  Neubildungen 
IL  274.  —  Metapher  und  Poesie 
L  m  122.  —  Natürliche  Me- 
taphern des  Raums  IL  469.  — 
Metaphorische  Scballnachah- 
mung  Tl.  470.  —  .Verblassen" 
der  Metapher  II.  503.  —  Meta- 
pher und  Vergleich  ung  L  116. 

—  VVarnungsschrei  und  Me- 
tapher II.  435.  —  Metaphern 
werden  und  vergeben  II.  511. 
~  Metapher  und  Witz  IL  5Ö4. 

—  Geschichte  der  Philosophie, 
Selbstzersetzung  des  Metapho- 
rischen L  4S9. 

Metersystem  II.  636. 
Meyer,  R.  M.  III.  543. 
Meynert  L  23fi. 

Mikroskop  L  342.  —  Mikroskopie 
der  Sprache  II.  lia. 

Mill  L  m  435.  IH.  mZ  ilxL  47K 

Millet  III.  5a. 

Million  II.  ßß4. 

Milton  L  SSR.  fit?. 

Mineralogie  III.  .'")07. 

Missverstehen  durch  Sprache  L  47 
bis  64.  —  Sich  selbst  missver- 
stehen L  63. 

MisteU  IL  28.  230. 

Mitleid  II.  543. 


«60 


Register. 


MiUcherlich  III.  MiL 
Mitteilungfiinöglicbkeit,  Entdek- 

kuDg  der  II.  416. 
Modale  Konsequenz  III.  389. 
Modi  III.  72. 
Mohamed  L  142. 
Mobs  III.  aüL 
Moleschott  III.  5fi3. 
Holiere  II.  iL 
Mommsen  II.  ML  &LL 
Monolog  II.  4(>(i. 
Morphologie  II.  288. 
Moses  I.  1^ 

Müller,  Friedr.  II.  2S.  gSS.  ßMf. 
Müller,  Max  L  LlIL  H.  Lßü.  IM  f. 

221  f .  2S5  f .  4iLi  f.  HL  622. 

III.  104. 
Mundarten  II. 
Münk  L        2S1L  IfiiL 
Musik  L  2h. 

Mythologie  II.  484.  —  Etymologie 
und  Mythologie  II.  195. 

Nachahmung  II.  539. 
Naegeli  L  2äiL 
Namen  der  Flüsse  III.  9Ü. 
Nampnaberglaube  L  14fi. 
Napüleoa  L         III.  622, 
Nuturalismus  L  lÖiL  II-  IM. 
Naturgesetze  bildlich  III.  572. 
Negation  II.  1^  III.  m 
Neovitalismus  III.  528. 
Newton  L  52_  23L  232. 623.  II.  ISL 
:i*l7.  IIJ.   LüiL  MLL  ilL  Ml^L 

551  f.  bbL 

Nichtverstehen  L  48 
Nietzsche  1.27ii.  :VJ'.>  f.  ÜLL  III.  ÜS, 
12fl. 

Noirö  ll.  ßI2.  711.  734. 
Nomen  und  Verbum  II  .SOI. 
Nominal-  und  Realdefinition  III. 
3ÜS. 

Nominalismus  III.  621. 
Nordau  L  539. 
Notwenrligkeit  III.  ^^4 . 
Nuancier uug  der  Bogrifl'tJ  L  20 Q. 
Nutzen  der  Sprache  L  64. 

0. 

Oberländer  II.  650. 
Occam  L  S2i  f .  III.  34ft. 


Offiziöse  Sprache  II.  516. 
Oktavensyeteni  III.  141. 
Onomatopöieder  Betonung  II.  531. 

—  Onomatopöie  und  Etymologie 

II.  nM. 
Ordnung  lU.  m 
Organismas  L  21. 
Ort-  und  Zeitsinn  III.  US, 
Orthographie,  phonetische  II.  581. 
Ort^jnamen  11.  221. 

Osthotr  n.  m  f.  ui. 

Ovulius  iL  2L  III.  ^ 


F. 

P&nini  II.  SL  1^  f.  aiL  ^ 

ParallelismuR  L  229.  254—274.  — 
Parallelismus  ein  Wort  L  231 . 
Parenthese  III.  223. 
Pascal  L  öflS. 

Passivum  L  2m  III.  32.  —  Pas- 
sivum  barbarisch  III.  2M. 

Paul,  Hermann  II.  Iß  ff.  142.  IM  f. 
269.  484.  älÄ  f .  5fiL  ÜIL  fi2S. 
668.  III.  Ifi.  222, 

Paul,  Jean  II.  AI2  f.  734. 

Paulspn  L         III.  214, 

Pturiiudin  II.  fiü4. 

Pflanzengedächtnis  L  249.  —  Pflan- 
zenseele L  242. 

Philipp,  S.  III.  ti2L 

Philosophie,  Möglichkeit  der  L  MS 
bis  ÖäL  —  Der  Philosoph  L  fi4S. 
-  Philosophien  L  651.  —  Philo- 
sophie und  Sprache  L  647. 

Phonetik  II.  284. 

Phonograph,  der  II.  573.  ~  Phono- 
graphische, natürliche  Schrift 
II.  521, 

Phrenologie  L  225,  ZSL 

ifustt  L  13. 

Physiologie  oder  PsycholopripL  22L 
II.  äL  —  Physiologitiche  Deu- 
tung L  518. 

Piaton  L  US,  22^  223,  II.  32  f. 
129,  m,  4fiö  f.  m  III.  IL 
281  f.  42R,  Ä22. 

Plural  III.  SL 

riutarchos  II.  188, 

Poesie  oder  Wortkunst  L  92. 

Poesie  und  Brgriffe  L 105.  —  Poesie 
und  Liebe  L  103.  —  Logik  und 
Poesie  L  88,  —  Poesie  und 
Malerei  L  Ifi2, 


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Register. 


661 


Politik  II. 

PoUe  III. 

Fösche  II.  iiaa. 

Pott  II.  21Ö.  298. 

Prädikat,  das  Neue  wird  III.  21d. 

Prädikat  in  Namen  III.  216. 

PranÜ  II.  155. 

Präposition  III.  110, 

Präsens  III.  68. 

Preyer  L  UÜ.  113»  602.  II.  m 

iia  f  .  dlS  f . 
Projizieren  L  r^lfi. 
Protisten  L  842.  —  Protisten«eeIe 

L 

Psyche,  Geschichte  der  L  5M. 

Psychologie,  Unujoglichkeit  der 
L  219.  —  Psychologische  Hand- 
lung II.  lüi. 

Psychologische  Terminologie  L  21A 

Pythogoras  III.  IBfi  f.  145  f.  188  f. 
314. 


Quintilianus  L  423.  H-  132.  471  f. 
i2L 


B. 

Rad  II.  648. 

.radeln'  II.  141. 

Rangordnung  III.  45. 

Raak.  K.  C.  II.  22. 

Raum.  Zeit  und  Kausalität  III.  Uä^ 

—  Raumdimensionen  III.  38* 
Ray  II.  2m 

Realität  der  Sprache  L  41—47. 
Reallogik  III.  ääfi. 
rebus  L  149. 

Rechnen  eine  Erfindung  III.  153. 
Redekunst  L  13ä. 

Redeteilo  III.  5 
Reduktion,  logische  III.  428. 
R^e  L  272. 
Reflextheorie  II.  453. 
Regeln  III.  70, 

Regnaud  L  m  II.  83,  218.  III.  43. 

Reid  L  493.  423. 

Reinke  II.  723. 

Reize,  akustische  L  345. 

Reklame  HI.  513. 

Relativitilt  L  312. 

Religion  und  Sprache  III.  628. 


—  Religion  und  Wissenschaft 
L  15E.  —  Alle  Religion  alte 
Wissenschaft  L  161-  —  Natur- 
wissenschaft und  Religion  L  622. 

Renan  II.  354  f. 

Reuter,  F.  II.  ULL 

Revolution  der  Sprache  III.  82. 

Rhythmus  II.  595. 

Ribot  L  m  Aiii  515.  .542.  54f.. 

Richtung.Hiidverbien  III.  108. 

richtig?  wer  spricht  II.  1()8.  — 

—  nichtige  Aussprache  II.  132. 

—  Die  richtige  Sprache  eine 
Abstraktion  II.  153. 

Rickert  L  253.  HI.  304. 
Riehl  III.  239. 
Römer  II.  181.  199. 
Röntgen  L        III.  543. 
Rousseau,  J.  J.  II.  4L  353.  423. 
G12. 

Ruhebebedürfnis  L  353. 
Runen  II.  53iL 


& 

Sajnovcz  II.  22. 
Sanders  II.  168. 

Sanskrit  II.  35.  —  -Was  ist  Sans- 
krit?* II.  15L 
Sassetti  II.  5L 

Satz  III.  42.  —  Sätze  und  Worte 

II.  14L 
Schallnachahmung  II.  ML 

scheinen  L  268. 
Schelling  L  052. 
Scherer  L  133.  II.  43.  82  f.  825. 
Schiller  L  33.  123.  11.  158. 
Schlaf  I.  5(>4. 
Schlegel,  Fr.  v.  II.  52.  83. 
Schierel,  W.  v.  II.  295  f.  Öll. 
Scbluicber  II.  87,  99.  113  f.  2^5. 

332  f.  333.  ßüiL  016.^ 
Schleiermacher  L  323,  III.  332. 

452. 

Schlussfolgerung  III.  379  S.  — 

Unmittelbare  Schlüsse  III.  879. 
388.  —  Wertlosigkeit  des  Scblies- 
sens  III.  393.  —  Psychologie  des 
Schliessens  III.  899  —  Gesetze 
des  Schliessens  III.  483.  -  Mög- 
liche Schlussweisen  III.  432.  — 
Schlnss  und  Sprachgebrauch  III. 
440.  —  Scbluösketten  III.  456. 
Schmerz  L  312.  —  Erinnerung  an 


662 


Register. 


Schmerz  L  320.  —  Schmerz  und 

Sprache  L  314.  —  Scbraerzen- 

sinn  L  315. 
Schmidt,  Erich  L  328. 
Schmidt,  Juhannes  II.  IM  ff-  tiM. 

fiia.  fi22. 
.schon"  und  ,er8t*  III.  122. 
SchopenhuuLT  L  83.-  Sfi.  12i  22L 

381.  :MH).  485.  SäL  iiSfi.  589. 

II.  L  4fii  f.  öäL  Ml.  fiia.  ßiL 

692  f.  711  f.  72U.  734.  III.  m 
248.  2M.  m  aSÄ  f .  m  i22  f. 

630. 

Schräder  II.  ßSL  643  f. 

Schrift  und  Schriftsprache  II.  54Ü 

bis  fiü3.  -  Schriftsprache  L  15}^. 

II.  HL  III.  m  -  I'äycbologit! 

der  schriftlichen  Sprache  II.  585. 

—  EinfnhrunfTdcTSchrift  II.  12^ 

—  h^munziualion  der  Schrift 

II.  SfiSi  —  -Zur  Geschichte  der 
Schria  II.  oäL  —  Schrift  und 
Lautverschiebung  II.  .'><>1.  — 
Schriflliche  Sprache    II.  .')79. 

III.  2ML  —  Das  Genie  in  schrift- 
loser Zeit  11  Ü2L  —  Schrift  er- 
setzt Qreisenweisheit  II.  594.  — 
Schrift  und  schlochte  Littenitur 
II.  ÜÜ2.  —  Techuik  der  Schrift 
II.  596.  —  Der  vorschriftliche 
Gelehrte  II.  SIL  ~  VorHchrift- 
liehe  Zeit  II.  522.  —  Ein  Vor- 
zug der  Schriftsprache  II.  328. 

—  Wert  des  Schrifttums  II.  fifiü. 
Schröder,  E.  III.  HL  ISS.  135. 

453. 

Schuhpit,  IL  III.  152. 

Schuclmrdt  II.  92. 

Schnitze.  E.  L  24fi.  242. 

Schuppe  III.  34S.  aSL  452. 

SchwatzvergnUgen  L  140. 

Schweigen,  das  L  71.  III 

Schweninger,  E.  III.  485. 

Schwere  III.  470. 

.Schwester*  II.  27(;. 

Seele  und  Leib  L  219—254.  — 
Geschichte  des  Seelenbegriffs 
L  224.  —  Versteckte  Seelen- 
vermtiRen  L  28').  —  Seele  und 
Bewusaisein  L  h60.  —  Seelen- 
blindheit L  22SL  —  Sitz  der 
Seele  L  241.  —  Seele  nur  ein 
Wort  L  23fi.  —  Seele  und  Sinne 
1. 290—320.  —  Seele  und  Sprache 
L  2SiL  —  Seelensituation  III. 


2.^4.    —    Unvereinbarkeit  der 
Seelensituationen  III.  241. 
„sehr"  L  12L 

„sein*  II.  50R.  —  sein  —  heissen 
III.  Iß. 

Selbstbewusstsein  L  572.  5fi5. 
Selh«tetymologie  II.  Iflg. 
Selbstmord  der  Sprache  L  214. 
Sextus  Emp.  IL  124.  IM.  730. 
Shakespeare  L  115  f.  II.  511  f. 

III.  4JÄ 
Sichtbarkeit  der  Dinge  II.  674. 
Sievers  II.  aS3. 

Sigwart  L  25li.  III.  4.       TS.  22fi, 

299.  315.  32fi..  SIL 
,Sinnp,  mehr  als  fünf  L  :V24.  — 

Beschränkung  der  Sinne  L  3o6. 

—  Entwickelung  der  Sinne  L  Hfiß. 

—  Das  Sieb  der  Sinne  L  310. 

—  Sinnestäuschungen  L  306. 
Situation  III.  LLL  —  Worte  und 

Situation  II.  2fifi.  ~  Situation 
und  Sprache  III.  225  ff.  — 
Situation  und  Kindersprache 
III.  226.  —  Situation  und  Apper- 
zeption III.  229.  —  Gemeinsame 
Situation  III.  23fi.  —  Situation 
bei  Sprecher  und  Hörer  III.  243. 

Skepsüi  II.  640.  —  Skepsis  und 
Mystik  III.  g2L 

Sokrates  L  S5  f .  CiL  II.  13Ö.  ISL 
490.  III.  2iiH.  477. 

.Solipsismus  L  1)12. 

Sollen  im  Urteil  III.  m 

Sonne  und  Himmel  II.  644.  — 
Sonne  und  Mond  II.  644. 

Sophokles  L       U.  Bh.  m 

Spencer,  H.  L  32.  222.  2aL  42Ü. 
632.  II.  73,  655.  Ul.  13L  lA^ 
169.  608.  033. 

Spinoza  L  259.  3^  43fi.  483» 
II.  354  f.  488  f.  53L  Hl.  S&L 
Sfia.  524.  (112.  628 . 

Sprache  eine  Spielregel  L  24^ 

Sprache  und  Industrie  III.  541. 

Sprache  und  Sozialismus  L23— 41. 

—  Auch  Erkenntnis  sozial  L  22. 
Sprache  ?  was  ist  L  3.  —  Sprach- 
gefühl II.  Ü5.  aüL  —  Si.rach- 
gefUhl  und  Sprachgebrauch  U. 
536.  —  Sprachgebrauch  L  2^)1. 

—  Sprachgebrauch  und  Sj>ruch- 
gebrauch  11.  2G2.  —  Sprach ptj- 
schichte  II.  L  —  Sprachgeset^e 
11. 83.  —  Sprachindustrie  II.  MiL 


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Register. 


663 


—  Spracbkategorien  II.  24.  —  1 
Sprachenmischunff  II.  <320. 

—  Sprucbrichtigkeit  II.  118  bia 
176.  —  SchiJne  Sprache  L  12iL 

—  Sprachvermögen  L       II.  2. 

—  Sprachvt-'nvundtHchaft  II.  lUL 

—  Was  ist  SprachwisBenschaft? 
IT.  1 — S2.  —  Grenzen  der  Sprach- 
wiMCMSchaft  II.  784.  —  Spracb- 
wissenachaft  die  einzige  Geietc«- 
wiasenschaft  II.  12,  —  Sprach- 
zentrum L  400.  —  Sprachzweck 
int  Suggestion  Fl.  461.  —  Spre- 
chenlemen  II.  402. 

,8ta'  II.  2m. 
Staat,  der  L  OL 

Stammbaume  der  Völker  II.  ßÖL 

Steiuthal  L  LUL  4^  ML  II.  5i  f. 
LI  f .  lÜL  I2i  saß  f .  f .  m 
4.'>4.  m  III.  2.  24.  m 
33fi.  ML 

Stenographie  III.  löfL 

Sterne,  C.  II.  033. 

Stewart,  D.  L 

.stilvoll«  II.  2Öfi. 

StimmunpT  L  lUL 

Stirner  L  ÜÜL  III.  8M. 

stoflf  III.  m 

Stehr,  A.  III.  L  2Mx 

StrauBä.  D.  F.  L  153=  528. 

Stricker  L  222.  4fi2.  528.  II.  285. 

Stumpf.  C.  L  25L  704. 

Subjekt  und  Objekt  L  221.  —  Sub- 
jekt überflüssig  III.  2Ü5..  —  Psy- 
chologisches Subjekt  III.  2.'>ß. 

Subjeküvität  L  ÜÜiL  374—402.  — 
Subjektivität  der  Kategorien  III. 
ILL 

Substantiv  II.  225.  III.  83  ff.  — 
Substantiv  und  Adjektiv  III.  2. 

—  Subs^tantiv  und  Verbum  III.  2. 
Syllogismen  III.  891.  —  Die  syl- 

logisti sehen  Figuren  III.  410. 

Synonyme  L  ^9, 

Syntax  III.  18^  ff.  —  Syntax  des 

Redners  III.  IStL 
System  der  Wissenschaften  II.  4. 
Systeme  L  644. 


T. 

Taine  L  220.  5SSL  H.  42L 
Talent  L  5ÖL 
Taubstumme  L  176. 


Tautologie  III.  SÜL  324. 
Technische    und  Gemeinsprache 

III.  bM. 
Teleologie  L  fiS.  III.  585.  521* 
Telephongedächtnis  L  453. 
Temperatursinn  L  369. 
Tempora  II.  510^ 
Tepi  II.  128. 

Termini  technici  III.  SM  ff. 
TertulUan  L  225. 

Thaies  L  ß53. 

Theologische  Ansicht  II.  466. 
Thomas  v.  Aquino  L  226. 
Tiere,  Associationen  der  II.  54t). 

—  Begriffe  der  Tiere  II.  äfiÜ. 

—  Begriffe  bei  Tieren  und  Men- 
schen II.  677.  —  Lernen  der 
Tiere  II.  445.  —  Logik  der 
Tiere  II.  368.  —  Tierund  Mensch 
II.  SM.  —  Sprache  zwischen 
Tieren  und  Meuachcn  II.  442. 

—  Tier-  und  Menschenspracbe 
IL  351—388.  —  Naturgesetze 
bei  den  Tieren  II.  fi(i7.  —  Tiere 
und  Pflanzen  L  244.  —  Sprache 
der  Tiere  L  5i7L  Tierverstand 
IL  711.  —  Tiere  und  Werkzeuge 
II.  3ß2i  —  Worte  über  Tiere 
II.  691. 

Todessehnsacht  L  654. 
Tochtersprachen  II.  622. 
Tönung  des  Wissens  L  381. 
Tonwuudel  II.  283. 
Tote  Begriffe  II.  350,  —  Tote  Spra- 
chen IL  34L  —  Toter  Sprachstoff 

II.  344.  —  Tote  Symbole  L  112. 

III.  52.  —  Tote  Worte  II.  340. 
Trägheit  und  Gedächtnis  TT.  731. 
Transitiv  und  intransitiv  III.  12  f. 

80.  —  Transitivum  und  Willens- 
freiheit III.  TL 

Traum  L  45Ü.  522.  —  Die  Welt 
ein  Traum  L  619. 

Trendelenburg  IL  425.  III.  §92. 
438.  452. 

Tretmühle  L  83. 

Tropen  TT.  475. 

Tugenden  L  45. 

Tyndall  L  2Ö5.  31iL  MS.  3iiS. 


Ueberweg  III.  224.  39ß.  4.^0. 
Uhde  L  24.  IL  5iL 


664 


Register. 


Uhrpnglfiichnis,  das  L  262. 

Umlang  und  Inhalt  III.  SM. 

Unbeetimmtheit  des  grammati- 
gehen  Sinnes  III,  1 — 55.  —  ün- 
bestimiutheit    der  Zeitformen 

III, 

Unbewussten,  Philosophie  des  L 
577.  —  Unbewufißte  Vorstel- 
lungen L  5ß2. 

,und',  .aber*,  .oder*  III.  liLL 

Unpersönliche  SäUe  lU.  Mü. 

Unwahrheit  L  fi^Ü. 

Urheimat,  die,  dfr  Arier  II.  6^2. 

ürphänomen  L  ii\A± 

Urrasiermesser,  das  II.  613. 

Ursacbbegriifs,  AprioritAt  des  II. 
719. 

Ursprache  II.  3ä2»  43fi. 

Urteil  III.  all  tr.  —  Lebendiges 
Urteilen  III.  aii.  —  Urteil  und 
Satz  III.  aiiL  —  Einteilung  der 
Urteile  sprachlich  III.  32L  — 
Urteile  psychologisch  III.  H23. 

—  Synthetische  Urteile  III.  320. 

—  Analy tische  Urteile  III.  323. 

—  Erzähknde  Urteile  III.  Ä  — 
Urleil  und  a  priori  III.  341. — 
Partikulare  Urteile  III.  343,  — 
Konstanz  der  Urteile  III.  .347. 

Urvolk,  Legende  vom  IL  fifi7. 
Urzeit  II.  1 25.  —  Schlüsse  auf  die 
.Urzeif  II.  G41. 


T. 

Varro  IT.  39.  128  f.  194. 
Vauvenargues  L  370. 
Verbalinjurie  L  143. 
Verbum  L  m  IL  225.  III.  55  f. 

—  Verbum  immer  unwirklich 
TU.  ti3.  —  Verbum  oder  Nomen 
II.  689. 

Vererben,  Erwerben  und  IL  724. 
Vergessen,  das  L  ^^'3 
Vergilius  L 

Vergleichung  L  lliL  IL  UA.  — 
Phantastische  Vergleichungen 
II.  317.  —  Psychologie  der  Ver- 
gleichung IL  486. 

Veruer  IL  93 

Vernunft,  Gedächtnis  und  II.  708. 

—  Vernunft  in  der  Sprache  II. 
t)95.  —  Veratand  L  124.  —  Ver- 
stand und  Vernunft  L  IHfL  IL 


692.  —  Verstand,  Sprache,  Ver- 
nunft L  583—595.  —  .Ge- 
schichte' und  .Vernunft"  IL 
733.  —  Geschichte  der  Vernunft 
oder  Sprache  IL  688.  —  Ver- 
nunft etwas  Gewordenes  II.  686. 
—  Ursprnnpr  und  Geschichte  von 
Vernunft  IL  G7 1—73.3.  —  Ur- 
sprung von  Vemuntl  IL  728.  — 
Verstilndnis  der  ersten  Worte 
II.  418. 

.verwandt'  IL  114.  —  Chemische 
Verwandtschaft  III.  5Ü3*  —  Ver- 
wandtschaft IL  bL  aoa. 

Verworn  L  342  L  352  f. 
Vico  TL  422.  4M.  495  f.  672. 
Vielheit  III. 
.vielleicht*  IIL  24ß. 
Vikariierende  Nerven  L  289. 
Virchow  L  12Ö,  IL  ß65  f .  IIL  22S. 

512.  üia. 

.Vilrier*  IL  3fifi. 
Vogel,  H.  W.  II.  701. 
Vogt  L  256. 

Vokativ  und  Imperativ  III.  52. 
Vülkelt  IIL  3Ö4. 
Völker,  Sprachen  und  IL  605. 
Völkerpsychologie  L  2üfi 
VülkerwanUeruDgen  II.  615  f.  626. 
Volksetymologie  II.  ISL  22L  — 

Macht  der  Volksetymologie  IL 

226. 

Voltaire  L  153  f.  IL  12. 
Vorsilben   ITT.  IIL  —  Vorsilbe 
.er*  und  ,ver*  III.  112  f. 


W. 

Wachstum    der  Sprache  durch 

Uebertragen  IL  467. 
Wagner.  R.  L  20.  IL  2iL 
Wahle,  R.  L  (m 
Wahnsinn  L  5'2fi.  —  Gedächtnis 

und  Wahnsinn  L  529.  —  Genie 

und  Wahnsinn  L 
Wahrheit  L  68«.  III.  Hlft.  860. 
Wahrnehmen  ohne  Schliessen  III. 

405. 

Wahrscheinlichkeit  III.  4M. 
Walter  v,  d.  Vogelweide  L  I. 
Wanderburschen,  Zwölf  II.  817. 
Wann  starb  das  Latein?  IL 
Warme  L  297.  —  Wärmesinu  L 
330. 


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Register. 


665 


Wauwau-Theorie  IT.  450. 
Wechselwirkung  L  2ü2. 
Wechßsler,  E.  II.  22h. 
Wegener  II.  460  f.  IM.  üä. 

225.  220  fi  -  2Ii2. 
,weU«  III.  m 

Weinen  II.  4^  —  Staunen,  Wei- 
nen, Lachen  Jl.  45.'>. 

Weiee,  Chr.  III.  m 
Wellensdnvingungen,  Theorie  der 

L  m 

Weltanschauung  III.  —  Welt- 
anschauung und  Sprache  L48ä. 

—  Weltanschauung  und  Sprach- 
gebrauch III. 

Weltkatalog  II.  62. 

.werden"  U.  509. 

Wemicke  L  2Ü2  f. 

Wert  der  Sprache  L  64—86. 

Wesen  III.  293. 

Wesen  der  Sprache  L  3—28. 

Westphal  L  5LL 

Whewell  III.  m  m 

Whitney  L  12.  SiL  IM.  H.  247  f. 

23S  f .  1150.  445  f.        f.  m 

606,  ßm 
Wideinpruch  II.        HT.  m  — 

Satz  dea  Widerspruchs  III.  368. 
WiUensfreiheit  II.  5^ 
, Wippchen*  II,  513.  —  Wippcben- 

lose  Sprache  11.  5{W.  —  Sprache 

nie  ohne  Wippchen  II. 
Wirkliehe,  das.  zufällig  ITl.  äSL 

—  Erkenntnis  und  Wirklichkeit 
L  616—642.  —  Denken  und 
Wirklichkeit  L  m  —  Wirk- 
lichkeit und  Worte  III.  225.  — 
Wirklichkeit  und  Sprache  III. 
615.  —  Hypothese  einer  Wirk- 
lichkeitswelt L  620.  —  Wirk- 
lichkeitewelt  L  ßSL  —  Sprache 
und  Wirklichkeit  IT.  22. 

Wiasen  —  gesehen  haben  L  262. 

—  Wissen  ohne  Sprache  L  203. 

—  Bereicherung  des  Wissens 
III.  3ÜL  -  Wissen  und  Worte 
III.  5&I  ff. 

Witz  L  m  n.  265.  m 
Wölfl;  Chr.  L  m 

wolff,  j.  II.  m 

Worte  L  iSL  —  Wort  and  Wort- 
klang III.  2m  —  Wortaber- 
glaube L  146—164.  —  Wort- 
bildungslehre L  425.  II.  31  — 
Wörterbücher  II.  22Ö.  —  Ge- 


schichte der  Worte  L  13.  — 

Kategorie  des  Wortes  II. 

Wortfolge  III.  IM. 
Wortkunst  L  86—142.  III.  6L  — 

Arten  der  Wortkunst  L  97.  — 
Wortreal ismus  III.  617. 
Wortstilmme  II.  243. 
Wort«treit,  ein  L  öi.  128^ 
Wulfila  II.  m 

Wandt,  W.  L  2ÜL  m  238.  aiL 

m  520.  m  II.    im  235  f. 

473.  5M.  III.  181.  452.  455. 

Wurzeln  II.  SS.  2.S0— 257.  —  Was 
ist  eine  Wurzel?  II.  230.  — 
Einfachheit  der  Wurzeln  Tl.  252. 
—  Wurzeln  und  Grammatik 
II.  255.  —  Relative  Wurzeln 
II.  ^3.  —  Semitische  Wurzeln 
II.  2afi.  253.  —  Stämme  und 
Wurxeln  II.  245.  —  Wurzeln 
vorhistorisch  Tl.  250. 

Wuttke  II.  m  593  f. 


X. 

X-Strahlen  L  läiL 
Xenophanes  II.  484  f. 

Z. 

Zabarella  III.  455. 

Zahl,  Verbum  and  Nomen  HI.  154. 

—  Zahl Worte  III.  132 ff.  —  Zahl- 
worte als  Adjektive  III.  185. ' — 
zahlen  eine  Erfindung  III.  132. 

—  Zahlen  unwirklich  III.  146. 
— Zahlenverhältnisse  unwirklich 
III.  IßÖ.  —  Zahlenverh&ltnisse 
metaphorisch  III.  150.  —  Zahl 
und  Natur  III.  1I&  —  Zeit  der 
Zahlengeschichte  II.  063.  —  Zahl 
und  Zählen  III.  m.  —  Zälilen 
L  189. 

Zamcke  II.  83. 

Zeichnung,  Sprache  und  L  46. 

Zeiten  III.  36.  —  Zeit  in  der 
Grammatik  III.  62.  —  Zeit  und 
Redeteile  III.  7A.  —  Zeit  und 
Gedächtnis  III.  130.  —  Zeitfol^ 
im  Syllogismus  III.  418.  —  Zeit- 
licher Horizont  II.  205.  —  Zeit- 
loses PrSsens  III.  44<  —  Das 
Zeitmoment  L  4.*^2.  —  Zeitdauer 
der  Sprachgeschichte  II.  662. 


666 


Register. 


Zerstreutheit  L  508. 
Ziehen  L  208. 

Ziffern  keine  Begriffe  L  532. 
Zola  II.  2M. 
Zoologie  III.  524. 
Zufall  II.  m  III.  5m  —  ZufaU 
und  Anfmerksamkeit  III.  .'>S1. 

—  Zufallsgeschichte  II.  685.  — 
Drei  Potenzen  des  Zutalla  L  366. 

—  Zufall  in  der  Sprache  II.  ITfi 
bis  m. 


Zufallflsinne  LM..  Iß.  225.  ä2Q  bis 

Zufall  und  Welterkenntnis  11.410. 

Zweckbegriff  III.  526.  —  Zweck 
im  Verbum  III.  .59. 

Zahl,  2  die  erste  III.  ISL  —  Zwei- 
mal «wei  =  i  III.  145.  —  2  und 
du  III. 

Zweifel,  Frage  und  II.  1.^5. 
Zwischen  den  Menschen  L  28. 
II.  m  725. 


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